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Cheoingifche

Quartalfchrift.

5

In Verbindung mit mehreren Gelehrten

beraudgegeben

von

D. v. Kuhn, D. Bukrigl, D. v. Himpel, D. fober, D. finfemmanm unb D. fumh, Profefloren bec kathol. Theologie an der f. Univerfität Tübingen.

Achtundfünfzigſter Jahrgang.

Erſte s Quartalheft.

Tübingen, 1876.

Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung.

Oud von Q. Laupp in Tübingen.

L Abhandlungen.

1. Ueber Spitidjtencolfifton.

Bon Profefior Dr. Linfenmann.

1. Das Vroblem.

Es weht uns bie Quít vergangener Jahrhunderte an, menn wir die neueſte Literatur der Tatholifchen Moral⸗ theolegie durchblättern. Wiederum ift der Streit entbrannt über bie Syiteme der Probabilität; wiederum werden auf dialeftiiher Waage bie verjchiedenen Grade der „Wahr- ſcheinlichkeit“ gemefjen; nod) fubtiler werden die alten Dis ftinktionen fortgeführt, unb nod) immer ift die alte Klage, bag man einander nicht richtig ver[tebe.

Welchen Grad von Wahrfcheinlichteit muß eine Meinung haben, damit fie mit gutem Gewiſſen einer wahrjchein- licheren und ficherern vorgezogen werden fünne? Und welches ift bie richtige Auslegung der Theorie, welche Bierüber der

]*

4 Linfenmann,

heil. Alphons von Liguori aufgeftellt hat? Ueber bie[e zwei Hauptfragen befteht bie neuefte Controverfe zwifchen ben Alphonfianern und den Jeſuiten, welch' letztere doch felbft auch nichts Anderes fein wollen als echte Alphonfianer, nur daß fie ba und dort in untergeordneten Entfcheidungen fid) von der Meinung des Meiſters entfernen zu dürfen glauben. Die Wortführer der erfteren find einige Theo— flogen aus der Gongregation der Nedemptoriften, welche in einer febr. umfangreichen und einläßlichen Vertheidigungs- Schrift *) bie ftrengere Lehre des heil. Alphons gegen eine larere Ausdeutung derjelben im vulgären Probabalismus in Schuß nehmen und aufrecht erhalten wollen; direkt ift ihr Angriff gerichtet gegen den gelehrten Jeſuiten Bal- lerini, welder das Gompenbium der Moraltheologie von P. Gur wiederholt neu aufgelegt und mit mehreren jelbftändigen Anmerkungen begleitet Bat ?). Ballerini aber und bie Anhänger des gemäßigten Probabalismus [απ

1) Vindiciae Alphonsianae seu Doctoris ecclesiae S. Al- phonsi de Ligorio doctrina moralis vindicat& a plurimis op- pugnationibus. Cl. P. Ant. Ballerimi, soc. Jesu in Collegio Romano professoris, cura et studio quorundam theologorum e congregatione SS. Redemptoris. Tom.I—II. Ed.2. Paris etc. 1874. Auch bieje zweite Auflage ift bereit8 vergriffen.

2) Compendium Theologiae moralis P. J. P. Gury, 8. J. Ab auctore regognitum et Antonis Ballerins ejusdem societa- tis in Collegio Romano professoris adnotationibus locuple- tatum. Ed. 3. Tom. I. Rom. 1874. Ueber verjdjiebene andere Ausgaben be8 Gompenbium von Gury, ſowie fiber einfchlägige Literatur berichtet der „Literarifche Handweiſer“, Jahrgang 1875 "Nr. 6 und 7. Außerdem werde ich in der hier folgenden Abhand⸗ [ung vornemlich noch Bezug nehmen auf bie anonymen Artikel über „Probabilismus und probabiliftifche Syfteme” im ,,ftatbolit^ Jahrg. 1874. I. ©. 45 ff., 143 ff., 283 ff. 548 fT, 682 ff.

Ueber Pflichtencollifion. 5

ih da8 Necht nicht nehmen, auch nad) der Erhebung des heil. Alphons zum Doktor der Kirche beffen Meinungen eben nur al8 Meinungen zu refpeftiren und nöthigenfalls ihnen auch eine bejjere Meinung entgegenzuftellen, ſowie den gemäßigten Probabilismus als die naturgemäße und vernünftige Tolgerung aus ber Doktrin des Meifters zu behaupten. |

Man greift fid) unmilffüfr(id) an bie Stirne und fragt fid), ob es denn nicht endlich einmal des alten Streites genug wäre, und ob e8 denn nicht andere Aufgaben für die theologische Ethik gäbe, zumal in unferer Zeit, bie ja wahrhaftig genug ber eigenen Plage fat, daß man nicht τοῦ einmal die Sanfgeijter einer vergangenen Zeit herauf. beihwören folite.

Indeſſen gibt e8 eben in allen Wiffenfchaften ro» bfeme, welche den Fachgelehrten nicht eher loslaſſen, als bie eine mirffidje Löſung gefunden ijt. Vor einem folchen Problem ftehen wir audj hier; was bisher in bem vier- bundertjährigen Streit herausgearbeitet worden ift, it

höchſtens einem Nothdach zu vergleichen; vollbefriedigt wird

davon Niemand, dem e8 wirklich um vernünftige Erfennt- ni zu thun ijt. Daß aud) Moraliften wie Martin, Brobft, Simar bie probaliftifche Qüfung der Frage, trot der heutigen opinio communis der lateinifchen Cafuiften, für bebenf- (if) und höchſtens wie ein Nothdach anfehen, Habe ich fon anderwärts gezeigt ") und ich erinnere hieran, damit ἐδ nicht fcheine, ich ftehe ganz allein, feitmürt8 von der ganzen Strömung der firdjfidjen Doktrin, und darum zum voraus unberechtigt und unfähig, den wahren geheimen Gedanten,

1) Unterfuchungen über die Lehre von Geje& und Freiheit. 2. Art. Du.:Schrift 1871. ©. 222 ff.

6 Linfenmann,

die wahre Quelle der probabififtijdjen Zöfung und Erlöfung zu erfajjen. '

Wenn bie Frage des BProbabilismus wirklich eine Principienfrage ift, fo muß es allerdings aud) jegt nod) und fo lange der Mühe werth fein, ihre Qüfung zu ver- fuden, als die allgemein befriedigende Worm der Löſung nicht vorliegt. Man könnte fich vielleicht Heutzutage auf einen Compromiß einlaffen, bie Alten einftweilen in Ver⸗ wahrung nehmen und zu einer wichtigern Tagesordnung übers gehen. Aber bie Stimmführer wollen e8 nicht, und fo [εἰ e8 denn! Schließlich muß bod) auch wieder aus der Behandlung von allgemeineren Grundlehren etwas abfallen für bie Erfenntniß von partifulüren Zeit» und Streitfragen.

Vielleiht ijt e8 doch einen Serjud) wertb und fómnte das Intereſſe unferer Leſer für den am fid) wenig befriedigenden Gegenftand doch noch einmal erwecken ob man wicht der ganzen Streitfrage von einer anderen Seite beifommen fünnte. Vierhundert Jahre haben nicht aus⸗ gereicht, um die Frage, fo wie fie geftellt worden, zu löſen. Sollte e8 nicht erlaubt fein zu fragen, wie man vor diefen 400 Jahren die Gewiſſensfälle gelöst, welche heute wieder den Zankapfel zwifchen Yefuiten und Redemptoriften und ihren beiberjeitigen Gönnern abgeben? Sind die Beidht- väter glücklicher oder unglüdlicher daran gemejen, ehe man ihnen gefagt Dat, daß man ber wahrjcheinlichen Meinung folgen dürfe felbft gegen bie wahrfcheinlichere unb ficherere Dder hat εὖ damals mod) nicht fo viele Meinungen und nod) nicht fo vielen Streit um Meinungen gegeben ?

Dean liebt e8 in neuefter Zeit, bie richtigen Geſichts— punkte zu verrüden, bie 9(ufmerfjamfeit des Publikums auf Nebenfragen Hinzulenten, bie Hauptfrage in den Hinter-

Ueber Pflichtencolliſion. 7

grund zu ſtellen; hiegegen muß zum voraus Einſprache er- hoben werden. Es Heißt der Wahrheit ausmeichen, wenn man die Sache fo darftellt, als Handle ἐδ fid) im ganzen Streit nur um die Gemeinpläße lex dubia non obligat; lex non sufficienter promulgata non obligat; in dubio melior est conditio possidentis. Vielmehr ijt die Baſis unb der Eckſtein des modernen Probabilismus mod) ebenfo wie zur Zeit des Dominifus Goto und Bartholo- mäus von Medina die Doftrin: licitum est sequi opinionem probabilem minus tutam relicta proba- biliori et tutiori. Nur etwa darüber ijf man mad) und nah zu einer DVerftändigung gelommen, daß bie opinio tutior nicht ibentijd) [εἰ mit der opinio securior; mit anderen Worten, daß, menn man aud) bie opinio pro lege herkömmlich, gleichſam conventionell, bie opinio tutior nenne, diefelbe barum bod) nicht unter allen Umſtänden bie mo— τα [ὦ ficherere (securior) fei; daß mam aljo unter Um⸗ ftänden πιοτα {ὦ ficherer der Sünde entgehe durch ver- nünftigen Gebraudj ber Freiheit, af& durch Außerlichen An⸗ ihluß an ben Geſetzesbuchſtaben.

Syenem Haupt und Grundfag des Probabilismus gegenüber befinde id) mid) aber in einer Pflichtencolfifion. Als katholiſcher Theologe habe id) bie herrfchende Doktrin und die Auftoritäten ber katholiſchen Wiffenfchaft zu reſpek⸗ tire; und id) müßte meine Stellung fchwer mißfennen, wenn ich meine eigene Meinung Höher Halten wollte als die durch Jahrhunderte fortgeſetzte Ueberlieferung der ka⸗ tholiſchen Schulen und gar als die Auktorität des heiligen Alphons von Liguori, deſſen Lehre in ſo eminenter Weiſe die Billigung der höchſten kirchlichen Auktorität vor ſich bat. Auf der andern Seite aber ſteht nicht blos im All⸗

8 Linfenmann,

gemeinen die Pflicht, felbftändig über das, was Andere vor ung gemeint und nur αἱ Meinung ausgefprochen haben, nachzudenken ; fondern ἰῷ bin als Menſch unb Chrift vom erften Erwachen ber Vernunft an in Pflicht genommen für die unverbrüchlichen Gefege ber logifchen Erfenntniß; und barnad) ift mir zum wenigften „jehr wahrfceinlih”, baf bie Lehre: eine weniger wahrfcheinliche Meinung dürfe der wahrfcheinlicheren vorgezogen werden, einen Verſtoß enthalte gegen das Vernmftgefeg, wornach man der bejjeren ὅτε fenntniß folgen und mad) beftem Wiffen und Gewiffen jo- wohl in [pefulatipen als in fittlichen Fragen entjdjeiben müffe.

Es ijt nur wiederum ein Umgehen der Hauptfrage, wenn man neueſtens, was die [ein[te Differenz zwiſchen den Vindiciae Alphonsianae und Ballerini bildet, fid) auf bie Unterfuchung be[djrüntt, ob bie opinio, welche man irof ber entgegenftehenden opinio probabilior et tutior befolgen dürfe, richtiger af8 opinio probabilis ſchlechthin, ober aí$ opinio minus oder certe, ober vere probabilis gefaßt werden müſſe. Das find nur bie Splitter, um bie man fid) ftreitet; am Balken ftößt fid) feine der ftreitenden Barteien.

Sd) stehe afjo vor einer Golfifion der Pflichten. Auf der einen Seite [tebt bie 9(uftoritüt der SDoftrim, auf ber anderen das Gefeß bes verftändigen Denkens. Ich könnte an meinem Denken irre werden; denn nicht nur bim id) mir ber Möglichkeit des eigenen Irrthums wohl bewußt und anerkenne eine Pflicht, die eigene Einficht zum Opfer zu bringen; fondern ἰῷ ftehe auch vor ber Thatjache, daB zahlreiche Theologen von großer Gelehrjamfeit und Schärfe des Urtheils an dem Cafe, der mir logiſch undurchführbar erſcheint, feinem oder bod) faſt feinem Anftoß genommen

Ueber Pflichtencolliſion. 9

haben. Was mir an ihren Erflärungen über diefen Sat fophiftifch zu fein und dem eigentlichen Streitpunft nur auszumweichen fcheint, das erfcheint gelehrten und, erniten Männern als eine vofígiltige Widerlegung ber von ber Vogif entnommenen Einwendungen. Aber wenn id) mid) nun auch auf Seite ber Auftorität (ber Theologen) fchlage, jo finde ich doch feinen. ganz fihern Boden. Denn jeit e8 Probabiliften gibt, gibt es auch geiftig ſehr hervorragende und in der Firchlichen Wiffenfchaft Hochangejehene Gegner der Lehre von der Berechtigung der „weniger wahrſchein⸗ lichen“ Meinung im Gonffift mit einer „wahrfcheinlicheren“. Und felbft die Vertreter de8 probabilismus moderatus Liegen fie wicht bi8 auf diefen Tag miteinander felbft im Streit über den wahren Gedanken imb die richtige Aus» legung ihres Syitems

Nun würde mich zwar die herrfchende Doktrin falls jie nämlich nicht mie der moderne politifche Liberalis⸗ mus die Freiheit nur für fid) und nicht aud) für Andere gelten läßt auf ganz leichte Weite be8 Bedenkens ent. ledigen. Denn keinenfalls dürfte mir von Seite der Pro- babiliften verwehrt werden, mid) für die ihnen entgegen- gefette Qebre zu entjcheiden, da e8 am einem guten Grunde hiezu nicht fehlt; andererſeits dürfte ich mich auf fo viele unb [o gewichtige Gewährsmänner hin dem Proba- bilismus zuwenden. Wie fo(f alfo hier noch ein Gewiſſens⸗ bedenken übrig bleiben? Es ift ja, was zur vollen Frei⸗ heit der Aktion gehört, aud) bie Anficht al8 annehmbar auf- geftellt worden, daß man fid) in dem alle, wo zwei mat ſcheinliche Meinungen einander gegenüberftehen, das eine» mal nad) ber einen und das anderemal nach ber anderen richten dürfe. Und zwar würde id) in diefem Yalle gerne

10 Sinfenmann,

bon ber Grlaubnig Gebrand) machen, welche mit Recht, wie ich dies früher felbjt betont habe, ber neuere Probabilis- mus gewährt ἢ, nämlich, nicht gar zu ängftlich nad) weiteren Gründen ober (Graben ber Wahrjcheinlichkeit zu forfchen und zu grübeln, fobald einmal ein rechter und pers nünftiger Grund für eine Handlungsweife fid) ge- funden hat. So will ἰῷ aud) felbft an biefer Stelle nicht Gründe wägen unb nicht Gewährsmänner zählen und ab- ihägen, um mid) für Ballerini oder feine Gegner zu ent- fcheiden, weil dies eine völlig unabfehbare Arbeit wäre. Dennod fann ἰῷ mid) bei ber Gifaubnip, jede ber beiden Meinungen nach Belieben zu befolgen und mid) um den etwaigen Vorzug der einen Meinung vor der andern nicht weiter zu fümmern, unmöglich beruhigen; mein Denfen und Erwägen verlangt gebieterijd) einen Abjchluß, einen Entſcheid auf vernünftigen Grund Hin. Wenn mir ber Probabilift jagt: bu darfft frei zwilchen zwei Meinun- gen wählen, fo fagt mir die Vernunft: bu mußt bid) endlih für bie eine oder andere und zwar barum ente fcheiben, weil e8 Gewiffensfache ijt, nicht blindlings auf Gerathewohl zu handeln und nicht gemijjerma[[er um eine fittliche Entſcheidung das Loos zu werfen. Einem Bater, welcher über die fünftige Beftimmung feines Sohnes in Zweifel ift, ift e8 freilich, abjtraft gefprochen, erlaubt, den Sohn entweder in ein Gymnaſium oder in eine Realfchule,

1) €» fagt der Ungenannte im ,,fatbolif" ©. 54: „Bei folcher Verſchiedenheit der Meinungen brauche ich nicht gerade abzumägen, ob fid) für oder gegen bie betreffende Meinung Mehr ober Wich- tigere3 jagen läßt, jonbern nur, ob die Meinung, welche id) be- folge, wohlbegründet ijt". Ueber dad Wahre an biejer Aufftellung babe ich mich früher außgefprochen in meinen Unterjuchungen 3c. ©. 257 f. 261 f.

Veber Pflichtencollifion. 11

in eine Kunſtſchule oder eine Muſikſchule w. f. m. zu, ſchicken; aber darf er wohl, weil er wur fehwer zu einer Enticheidung kommt, furgmeg, wie man im Wolle bei ung jagt, ba$ Hälmchen ziehen laſſen? Nicht die Freiheit in abstracto, fondern die Vernunft in concreto muß hier üt Anſpruch genommen werden. Man muß fid) barüber Rechen haft geben fünnen, marum man δαδ eine dem andern bor» zieht. Der Probabiliſt fagt: mo feine Verpflichtung nad gewiefen werden fónne, ober bie vorgefchobene Berpflichtung uur εἶπε zweifelhafte fei, da trete bie Freiheit in ihr Recht, unb die Freiheit jchließe ihrem Begriff nad) das Müſſen aus. Hier kommt num aber Alles darauf an, ob man fid) die Yrei- heit afe Willkür vorftellt oder als eine burd) das Gefeg ber Vernunft geordnete Selbftbeftimmung. yd) bim frei, dies beißt: mein einziges Gejeg in dem gegebenen alle ijt meine vernünftige Ginfid)t; und diefer zu folgen, ift Pflicht.

Der Probabilift fagt mir, daß e8 mir frei ftehe, Pro⸗ babifift ober Probabiliorift zu jein. Das möchte an und für fid) von ganz geringer Wichtigkeit fein, und ich fünnte mit Taujenden mein Urtheil hierüber in Anftand Τα εἰ, wenn die ganze Streitfrage nur rein [pefufatio an mid) Derantüme ; allein mir in meiner Berufsitellung wird fie zu einer eminent praftifhen: welches Syſtem habe id) a(8 Lehrer ber Theologie zu vertreten? Abftraft gefprochen, bin id) auch jeßt noch von ber Freiheit begünftigt. Ich Habe feine firdjidje Genjur zu befürchten, ob id) nun Ballerini oder den Ulphonjiiten, Martin oder Müller zuftimme ; aber zu einer innerliden Zuftimmung mus e8 bod) fom- men; fei ἐδ nun, bap ich das eine oder andere Syſtem oder feines von allen annehme; oder [εἰ e8 daß ich felbit mein Urtheil juSpenbire, jo muß bod) mein Gedanten-

12 Zinfenmann,

.proceB hierüber einen Abſchluß nehmen; id muß mid) nadj beítem Wiffen und Gewiſſen entfcheiden und aus⸗ Iprechen. Ich befinde mich aljo jebenfalí8 vermöge der Berufsftellung in einer Pflichtencollifion.. Ich habe bae Recht, die bisherigen Meinungen zu kritiſiren und mache davon Gebrauch wie einften® der heil. Hieronymus, ber auch nicht ber Anficht war, bap man die Meinungen mie die Weine nad) dem Alter tariren miüfje; aber dieſes Recht ift mir durch fchwere Pflichten begrenzt.

Der Berfaffer der mehrerwähnten Artikel im „SRa- tholik“ gebraudjt (S. 287) folgendes Beifpiel: Iſt c8 gegen ein natürliche ober pofitives Sittengefeß, von einem Darlehenskapital Zinfen zu nehmen? Diefe Frage wurde zu gewiffer Zeit mit ungefähr gleich gemidjtigen Gründen bejaht und verneint. Der Probabilift jchließt Hieraus, daß ba8 Gejeg, im Allgemeinen unentgeltlich zu leihen, unter obwaltenden Umftänden zweifelhaft fei, und dag man folg- fid Zins nehmen dürfe; nun werde man aber body nicht daraus fchließen wollen, daß man unter fo bewandten Um⸗ ftänden Zins nehmen müfje; daß alfo Pflicht gegen Pflicht ftehe, ober eine Pflichtencoffifion eintrete. In diefer abftraften Faffung der Frage beiteht allerdings feine Pflicht, Zinfen zu nehmen. Aber fo abftraft Tiegen die Fälle im wirklichen Zeben nicht. “Derjenige, der fid) wirklich die Frage über Erlaubtheit des Zinſennehmens ftefft, Tann in Wirf- fidjfeit je nach Umſtänden entweder einen Alt wahrer Nächftenliebe ober einen Akt überflüffiger Großmuth, tbó» richter Verſchwendung oder forgenlofen Leichtfinnes voll- ziehen, indem er auf feinen Anfprud) auf Zins verzichtet ; jedenfall8 aber ift er nur dann von Wilffür und Leichtfinn freizufprechen, wenn er fich je(bft über den Grund feiner

Ueber Pflichtencollifion. 13

Handlungsweife 9tedjenjdjaft gegeben Hat. Es ijt nur ein Schritt weiter von ber abftraften zu ber confreten Behand- lung desjelben Problems, wenn ich bie Frage jo ftelle: wenn für und gegen bie Erlaubniß be8 Zinsnehmens wirt. fije Wahrfcheinlichfeitsgründe beftehen, darf banm der Lehrer ber Moral, oder darf ber Beichtvater, ober ein verftändiger Schiedsrichter fid) gegen beiderlei Meinungen indifferent verhalten; [teft er nicht vielmehr vor einer Pflichtencol- iion? Hat er nicht einen Entfcheib zu treffen zwijchen dem Recht des Mutuatars und dem be8 Mutuators? Es ijt die Frage niht: darf ich zu Gunjten de8 Mutuators entfcheiden, joubern vielmehr bie: muß ich nicht zu bejfen Gunſten entjcheiden, wenn ich ihm nicht Unrecht thun will ? Am letzteren Punkt fcheint allerdings die Differenz zwifchen der hier vertretenen und ber vulgärsprobabiliftifchen Auffaffung zu verfchwinden, weil die legtere überall den Vorbehalt madht, bap e8 nicht erlaubt jei, probabilijtijd) zu entjdeiben, wann und wo e$ fid) um Rechte Dritter, welche verletst werden Könnten, handelt. Daraus geht aber nur bervor, daß aud) ben Probabiliften ein Problem ale- bald unter dem Gefichtspunft ber Pflichtencollifion erfcheint, fobald fie von ber vein fpefulativen, mehr nur der Schul: gymnaſtik angehörigen, Frageftellung zu den confreten Ver- hältniffen ober zur praftifchen Anwendung herabfteigen. ALS bie Pharifäer mit dem Zinsgrofchen zu Jeſus famen, da fragten fie auch fcheinbar ganz harmlos und ipefulativ: Iſt e8 erlaubt, bem Kaifer Zins zu geben oder niht?_ In Wirklichkeit aber handelte e8 fid), wie bie Sragenben fo gut mußten aí8 ber Antwortende, nicht jo einfah um erlaubt oder nicht erlaubt. War e8 erlaubt, dem Kaiſer Zins zu zahlen, fo war e8 aud) Pflicht. Co

14 ginjenmaun,

bat der Herr entfchieden: „Gebet mithin, was des Kaifers ift, bem Kaiſer“. Das war eine Pflichtencoflifton !

2. Woher die Pflidtencollifion ?

Es mag Gíüdíidje geben, benen das Leben ftetó mit bie freundliche Seite zugemwenbet, oder denen vermöge einer härteren Gemütbsanlage die Entjcheidung ſchwerer Lebens- fragen nie fehwere Stunden oder fchlaflofe Nächte bereitet fat; ihnen wird Manches in ber kirchlichen Morallehre, namentlich bezüglich ber Inſtruktion der Beichtväter und Seelenführer, unverftändfich bleiben und bie casus con- scientiae der Lehrbücher werden ihnen mie müßige Schul- fragen vorfommen.

Wir wollen uns audj ein Sauptbebenfen gegen bie Methode ber cafuiftifchen Moral nicht verhehlen, fondern dasfelbe uns Klar vergegenwärtigen. Sollte nicht, [0 dürfen . Wit billig fragen, die chriftliche Offenbarung oder con ereter geſprochen follte nicht das Wort Gottes in ber heiligen Schrift unb die Lehre der Kirche im Katechismus, in Predigt und chrijtlicher Lehre ausreihen, um dem Gläubigen in jeder Tage des Lebens die Nichtfchnur für fein jittliches Verhalten an die Hand zu geben? Was wäre das aud) für eine Religion und Religionslehre, welche nicht ausreichte, die Gewilfen zu normiren und zu θὲς ruhigen? Wozu wäre dann unjer Gíaube gut, wenn er uns nicht Lehrte, wie wir unfer Leben einrichten und unfere Seele in Sicherheit bringen jollen? In der That, wer aufrichtigen unb einfügen Herzens das Wort des Gíau- ben8 aufnimmt wie ein Kind und fid) der Führung und Leitung Gottes in feiner Kirche überläßt, der muß in feinem Glauben aud) die Gewähr haben, den rechten We

Ueber Pflichtencolliſion. 15

zu finden im Dunkel diefes Erdenlebens. So verjtehen bie Theologen aud) das Wort der heiligen Schrift: „Die Leuchte deines Leibes ift dein Auge. Wenn nun dein Auge εἰπε fad) ift, wird dein ganzer Qeib licht fein; wenn aber bein Auge ſchlecht geworden, wird beim ganzer Körper finfter fein“. (Matth. 6, 22. 23; vergl. ἐμ, 11, 34—36.) Wenn der innere Sinn für bie Aufnahme der Wahrheit und des göttlichen Lichtes im guter Verfaflung ijt, [0 wird über das ganze Meenfchenwefen und über alle ragen des Lebens Qidjt verbreitet. Schon das Gefeß des alten Bundes bat feine Klarheit und Verftändlichkeit im fich felbit: „Das Gebot, welches id) bir heute darlege, ift nicht zu θοῷ für - bid unb mit zu ferne gerüdt, und nicht an den Himmel geſetzt, daß du fagen könnteſt: Wer von uns vermag zum Himmel aufzufteigen, daß er es herabbringe zu uns und wir ἐδ hören unb im der That erfüllen? Auch ijt e8 nicht über das Meer hiniibergelegt, bag bu vormenben und jagen fönnteft: Wer von und vermag über das Meer zu fchiffen und e8 bis zu und zu bringen, daß wir c8 hören und thun Tönnen, was befohlen ift? Vielmehr ijf ber Aus- ipruch fehr nahe bei bir, in deinem Munde und in deinem Herzen, jo daß du ihn erfüllen kannſt“. (V. Mof. 30, 11—14.) Bon der Weisheit aber, die wir uns als eine Gabe des Himmels zur Erfläruug des Geſetzes und des göttlichen Willens denfen müfjen, Heißt e8: „Lichthell und nimmer permeífenb ift bie Weisheit, und leicht wird fie wahrgenommen von denen, welche diejelbe lieben, und gefunden wird fie von ben nad) ihr Suchenden. Sie fommt zuvor denen, die nadj ihr begehren, um ihnen voraus ere fennbar zu werden. Wer frühzeitig für fie mad) ijt, wird niht Mühe haben, weil er fie an feiner Schwelle figen

16 Zinfenmann,

findet. Sie zu beherzigen ift Vollendung der Klugheit, und wer nicht jchläfrig wird ihrethalben, wird ſchnell fummer- 108 fein. Denn fie jelber geht, um die ihrer Würdigen aufzufuhen, umher, mb auf ben Straßen erjcheint fie ihnen freunb(idj und in jeglicher Beihauung begegnet fie ihnen“. (Weish. 6, 13—17.)

Nach dem Gefagten follte man annehmen dürfen, daß von einer Pflichtencolfifion ober von einer perplexitas conscientiae , wie ältere Moraliften fid) ausdrücken !), bei einem unterrichteten und erleuchteten Gíünbigen, ja über- haupt bei einem Panne von normaler geiftig-fittlidher Ver⸗ fajjung midjt die Rede fein könne; und wir katholiſche Theologen müſſen uns mod) auf den Einwand gefaßt halten, daß ἐδ nicht fo viele Gewilfensfälle und probable Meinun⸗ gen imb peinfide Diftinktionen und fopDijtijdje Geſetzes⸗ verdrehungen gäbe, wenn nidht fo viele Gejege oder Sakungen wären, welche von ber Kirche den Gläubigen wie verfänglihde Siege über Haupt und Naden geworfen worden jeiem. Entweder, jo fcheint e8, find bie Gewiffen dur innere Demoralijation, ober fie find durch peinfiche Anhäufung von Gefegen perpler geworden unb in Berwirrung gerathen.

And Biſchof Martin bejpridjt die Pflichtencollifion unter dem Gefichtöpunft der conscientia perplexa; er verfteht unter (egterem „denjenigen Gewiffenszuftand, wo der Menſch fid) gleidjjam zwifchen zwei zu gleicher Zeit nicht zu erfüllende Pflichten in die Mitte geftefft fiet, der⸗ geftalt, bap er die eine Pflicht zu verlegen glaubt, menn er die andere erfülle und mithin zu jündigen fürchtet, was er

1) 3. 3. bie Summa Astexani a. 1480. Lib. II. tit. LXIX.

Ueber Pflichtencollifton. 17

auch wählen möge” !). Nah ihm gibt e8 nun allerdings „eine Pflichtencollifion im Grunde gar nicht“ ; die Pflichten» collifion ift „nur Schein, entfpringend aus ber Befangen- heit und Beſchränktheit des menschlichen Geiſtes, der fid borfpiegelt, auf Mehreres, das fid) ausschließt, zugleich ver- pflichtet zu fein, ba er e8 doch nicht ijt". (A. a.O.) (8 fehlt bienad) dem Menfchen nur zuweilen an der Schärfe be8 Geiftes, um von diefem Schein fi) loszuwinden. Wir können nod) eine weitere Goncejfion machen. Die Fälle, in denen bie Gewiffensbeängftigungen, wie wir fie im Auge haben, vorfommen, find in Wirklichkeit viel fef» ter, als es bei einem Einblick in die cafuiftifchen Lehr: büder, in denen bie abnormen ethifchen Erfcheinungen bet Reihe nach) zur Sprache kommen, fcheinen könnte. Die gewöhnlihen Leute iu ihren gewöhnlichen engbegrenzten Pflihtenkreifen, an welche feine über den Durchſchnitt Din. ausgehenden Anforderungen geftellt werden, fehen ihre Lebens/⸗ bahn deutlich genug vorgezeichnet, und felten wird es für fie eine Frage geben, bie nicht der reblid)e gläubige Sinn aus bem Katechismus beantworten fónnte. Und was na» mentlich auch bie Kirchengebote anlangt, fo ift e8 eine voll» ftändig falfche Vorftelung, als ob biejefben foweit fie ih auf bie Maſſe der Gläubigen beziehen fo zahlreich unb fo fchwer zu verftehen und zu erfüllen wären, daß fie dem chriftlihen Volle die Urjache zahlreicher Gewifjens- beängftigungen werden müßten. Was Pflichtencollifionen veranlaßt, das ift viel eher bie Art umb Weile der modernen Gefeßgebung auf bürgerlihem und ftantlihem Gebiet und zwar, ganz abgejehen von bem Inhalt der Geſetze, wegen

1) Lehrbuch der fatb. Moral. 5. Aufl. 1865. ©. 128. Theol. Duartalfgrift. 1876. Heft I. 2

18 Linfenmann,

der Form der Gefete, welche vielfach für die Laien unver- ſtändlich unb für bie Richter felbjt verfänglich ift, günftig zum Theil mur für diejenigen, deren jpezielles Intereſſe in ber Gefeßgebung zum Ausdrud gebracht werden wollte, wie e$ bei der modernen Geíbarijtofratie und dem in ihrem Dienft ftehenden Advokatenthum der Fall ift. Solche Gefeke, über deren Anwendung drei verjchiedene Gerichtshöfe drei verjchiedene Meinungen haben fónnen, erzeugen Pflichten- coffijionen , und zwar nicht blos den Schein davon, mie Biſchof Martin annimmt.

Es wird fid) aber überhaupt bei Betrachtung des Men⸗ fchenlebens , wie e8 fid) im Großen unb im Kleinen vor uns abjpieít, bod) faum feſthalten (ajfen, dag alle Pflichten- collifion nur ein Schein fei, mit andern Worten, daß fie nur in einer fubjeftipen Zäufchung berube, bap nur Mangel an fittliher oder aud) intelleftueller Bildung fie hervor- rufe. Vielmehr {πὸ e8 die Verhältniſſe ſelbſt, im welche ber Menſch Hineingejtellt ijt, bie Rüdjichten auf die menfch- liche Gefelfjd)aft, denen jid) Keiner ganz entziehen darf, welche ihm Gewijjensnöthen bereiten. Könnten wir zu eins facheren bürgerlichen und gejellichaftlichen Zuftänden zurück⸗ fehren, fónnteu wir alle firdjfidjen unb bürgerlichen Gefeß- bücher durch den Defalog erfegen, fünnte man bie bürger- fidem und firdjiden Gemeinſchaften in patriarchaliſche Samilienperbünbe zurücdbilden, in welchen ftatt der Geſetze die Sitten herrfchten, jo würden die Beidhtväter gar wenige Gewiſſensfälle zu löſen haben. Aber das Kindesalter ber Menfchheit läßt jid) nidjt mehr aurüdbringen; mit dem Verluſt ber Baradiefesunjchuld beginnen aud) jene tragischen Verwicklungen be8 Menjchenlebens, aus welchen eben bie Gonffifte verjchiedener Verpflichtungen entjpringen.

Ueber Pflichtencolliſion. 19

Martin leitet feine Lehre, daß bie Pflichtencollifion nur Schein fei, aus einer Prämiffe ab, welche vollftändig richtig ift; im legter Inſtanz, fagt er, feien alle Pflichten im Willen Gottes begründet; der Wille Gottes aber könne fi felbft niemals iberjpredjen. Daraus folgt allerdings, daß fein fittliches Gebot dem andern widerfprechen oder nur mit Verſündigung gegen ein anderes befolgt werben fünne; denn dies Diebe (ott den Gejeggeber mit fid) felbft in Widerſpruch bringen. So ftellt fid) uns bie Cadj bar, wenn wir den Bereich der men[djfidjen Pflichten unter dem Geſichtspunkt der Ordnung und Harmonie und jedes Pflicht: verbältniß a(8 Ausfluß der lex aeterna betrachten. Und diefe Betrachtung ift nicht unbered)tigt; aber man muß nod) einen Schritt weiter gehen. Dieſe ideale fittliche Ordnung und Harmonie ijt durch den Abfall der Geijter von Gott jit dem Beginn der Weltgefchichte durchbrochen. Wäre bie Störung diefer Ordnung eine rein fubjeftive, bie fid) lediglich in der einzelnen Menfchenfeele immer wieder neu mit jeder perjönlichen Sünde vollzöge und würde erft durch bieje perjönliche Einzelfünde die Trübung ber fittlichen Grfenntnunig im Menſchen bervorgebraht, dann wäre allerdings jede Pflichtencolliſion nur rein jubjeftio , hervorgehend aus ber Trübung des Einzelbewußtſeins.

Allein die Sünde mit allen ihren Folgen für die menſchliche Geſellſchaft iſt objektiv vorhanden; der Einzelne ift durch ein Verhängniß der folgenjchwerften Art in bie Sünde des Gefchlechts Hineingezogen ; er tritt in eine Welt ein, in welcher Unordnung, Begriffeverwirrung und fittliche SBerfin[terung herrſcht, ihn von allen Seiten umgibt, feine erften Lebensregungen beftimmt; ber Menfch irrt in einer faft nothwendigen Folge des Irrthums Anderer; der Irr⸗

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90 Linſenmann,

thum iſt nicht blos ſubjektiv in ihm ſondern objektiv außer ihm. Der Irrthum, die Ungerechtigkeit der Welt hat ſich ein Reich aufgebaut, dem der Einzelne als Bürger ans gehört und bem er verhaftet ijt.

Ein Gegenbild von der geftörten Ordnung im der geiftigsfittlichen Welt bietet uns fogar bie unbefeelte Schöp⸗ fung, von welcher ber Apoftel jagt, daß fie harre auf das Dffenbarwerden der Söhne Gottes, daß fie befreit werden ſolle aus ber Knechtſchaft des Verderbens; denn wir willen, daß die ganze Schöpfung feufzet und in Wehen liegt (Röm. 8, 19—22). Die Natur ijt verfchwenderifh und karg zugleich ; fie probucirt taujenb nnb taufend Keime und gönnt ihnen nicht Leben und Entfaltung. Ein Tropfen Wajjers ober ein Sonnenblid würde Dinreidjem, um ein Gejdjüpf am Reben zu erhalten; aber er wird ihm nicht gewährt, während Millionen anderer Lebenskeime an der Ueberfülle zu Grunde gehen. Unendlich reiche Kräfte der Natur bleiben ungenükt, und ebenjo viele Thiere und felbjt Menſchen geben aus Mangel nnd Hunger verloren. Die Natur ijt feindlich gegen fid) felbjt, fie vernichtet ihre eigene Schönheit und liebt Tod, Verwüſtung, Verödung und Ruinen; ihre bevor- zugte Arbeitsftätte ijt bie Fäulnig, der Moder. Und e8 gibt nichts Graujamere8 als bie Natur; nicht nur daß fie bie Menſchen mit fteten Gefahren bedroht, bie unjchuldigen pie bie jdjufbigen; fie ift graufam gegen Alles was Gefühl und Schmerzempfindung hat. Die Thiere verurtheilt fie zum harten Dienfte be8 Menjchen, und ohne Schmerz fünnen jie ihre Beftimmung nicht erfüllen, bem Menjchen lebend oder todt zu Nutzen zu fein; fie gibt bie Thiere felbft εἰπε ander preis und nicht etwa im fchonender Weife, fondern zu deren größter und ausgefuchtejten Qual; gibt e8 ja Raub-

Ueber Bflichtencollifion. 21

tiere, bie fid) förmlich an ber verlängerten Qual ihrer Beute weiden. Ueberall ift ſogar im der umbefeelten Greatut Angft und Schreden, Verfolgung und Feindfchaft und grau» famfte Zerftörung. Ja e8 wäre der Trage werth, ob wohl ber Menſch fo graufam hätte werden können gegen feine Mitmenschen, wenn er midt an der unbefeelten Creatur gelernt Hätte hart zu fein und mit bewaffneter Hand gegen die Schrednifje der Natur fid) zu wehren ?

Wir fünnten [djo hier vorgreifend auf gewiſſe Collifio- uem aufmerfjam madjen , welche dem Menſchen aus feinem Bflihtverhältniffe zur niedrigern Greatur entfpringen. Wenn man fragt, ob dem Menfchen Fleifchgenuß erlaubt fei, obgleich derjelbe nur mit Dual und Tödtung der Thiere erreichbar ijt, [0 wird zwar ein moderner Probabilift hierin Feine rage der Pflichtencollifion erfennen ; er wird entgegen: balten, daß dürfen unb müjjen nicht zujammenfallen ; e$ beftehe Freiheit, aber Feine Nothwendigkeit, Thierkoft zu genießen. Ich aber fage, wenn die menſchliche Natur nicht von ber Vorſehung jelbjt auf animalifche Nahrung bis auf einen gewiſſen Grad angemiejen wäre, menn e8 alfo nicht eine gemijje Nothwendigkeit für bie Menfchheit gäbe, jid) derfelben zu bedienen, fo dürfte nicht die Pflicht der Scho- nung gegen die mit Schmerzgefühl begabten Gefchöpfe außer Acht gelaffen werden. Treilih hat man fid) gewöhnt, bieje Art von Pflichtencollifion etwa mit Ausnahme der Sinbu'$ als eine längft gelöste zu betrachten; neu wäre nur etwa bie Frage, ob man zu Zwecken der wiſſenſchaftli⸗ hen Beobachtung lebende Thiere gebrauchen dürfe, obfchon dieß nicht ofne Schmerzempfindung gefchehen Tann. Mit einem bloßen „ich darf“ ift wohl hier nicht auszulommen.

Und bod) ift das Naturleben ja nur ein Vorfpiel zu der

22 Linfenmann,

großen und ſchweren S ragübie des Menjchenlebens felbft. Der himmlische Vater felbft mußte, um. gegen die fündige Menfchheit barmherzig fein zu fónnen, ungerecht fein gegen feinen neugebornen Sohn, da er auf Ihn, den Unfchuldigen, die Strafe der Sünde des Menfchengefchlechte® legte! Und it nicht, fo mie unfre Erfenntniß der göttlichen Geheimniffe eben einmal befchaffen ift, der ftete Wettftreit zwifchen Gottes Erbarmung und Gottes Gerechtigkeit eine fortgejegte Golfifion göttlicher Gedanken und Pläne? So wenig ijt «8 wahr, daß Pflichtencollifion ein bloßer Schein [εἰ und nur in ber fub. jeftiven Einbildung eine8 verworrenen Gemüthes exiftire ! Wir leiten alfo die Golffijion der Pflichten von ber durch die Sünde bewirften Störung ber fittlichen Ordnung ab. Allerdings kann diefelbe nur aus einem Irrthum in der Erfenntniß hervorgehen ; denn in Wirklichkeit ift in jeder Lage des Lebens nur das Pflicht für mid, mas Gottes Wille ift, und Gottes Wille kann nicht mit fid) felbft in Widerfpruch treten; wenn id) afjo erkenne, was im gegebenen Falle Gottes Witte ift, jo ijt mein Weg flar vor mir; bleibt mir ber Weg nod) bunfef, fo ift meine mangelnde Erfenntniß daran Schuld. Aber an meiner mangelnden Erfenntniß ſelbſt ift nicht febiglid) der Mangel an Energie des Geiftes, nicht lediglich ber jchlaffe Wille Schuld, fondern ber vers worrene Sujtanb der Verhältniffe außer mir, die allgemeine Zerrüttung der Vorjtellungen von Recht und Unrecht, die Dunfelheit, welche über allen Wiffensgebieten lagert. Gibt ἐδ ja [ogar Fälle, in denen man e$ für fittlich gut erklären kann, den Irrthum des Nebenmenfchen zu fehonen unb ihm jelbjt in ethifchen Dingen den Schleier nicht vom Ange zu nehmen! So fehr ijt der Irrthum aufer uns eine Macht geworden und [o verworren find die menfchlidhen Pflicht-

Ueber Pflichtencollifion. 93

verhältniffe, daß die Enthüllung ber Wahrheit fogar fchäd- fier zu fein fcheint, als Wahn und Täufchung !

Seit die Einheit der erften Ordnung und Harmonie in der geiftigen Melt zerriffen worden ijt, geht durch das ganze Meenjchenleben hindurch ein Dualismus, eine zweifache Reihe von Pflichten, melde für unfre mangelhafte menschliche Erfenntniß den menschlichen Willen nad) zwei verjchiedenen Seiten hin zieht und in 9(mjprud) nimmt. In der Idee der fittlihen Ordnung ijt bie Beftimmung des Menſchen nur eine; im ber geftörten SOrbnung aber erfcheint fie al8 eine zweifache, als zeitliche und ewige, als irdifche und Himmlifche Beitimmung; und e8 ijt fd)on mehr als gewöhnliche natürliche Weisheit dazır erforderlih, um die Pfüchten beider in Einklang mit einander zu bringen. In der ewigen Idee der fittlichen Ordnung find Natur und Geift im Deenichen zu einer vollfommenen Einheit zufammenge- geſchloſſen; in ber geftörten Ordnung haben Leib und Geijt je ein eigenes Rechtsgebiet; der Geiſt muß ruhen, bap der Leib zu feinem Rechte komme, und wiederum müſſen mir den Leib abtübten und ifm wehe thun um des Geiſtes willen. |

Ganz befonders aber ijt nod) ein Verhältniß in Betracht zu ziehen, von dem ἐδ fchwer zu jagen ijt, mie e8 fid) unter Borausjegung der urfprünglichen Harmonie der Welt ge- italtet haben würde, das aber einen Dualismus der empfind« fihften Art in die Moral hereinbringt, nämlich bie Doppel: ftellung, welche bem Menſchen vermöge feiner Eigenfchaft als Sattungsweien zufommt. Aus diefer feiner Stellung inmitten ber menfchlichen Gefellichaft, welcher er als lebendiges Glied angehört, entfteht bem Menſchen eine zweifache Reihe - von Pflichten, von denen fid) bie eine auf feine individuelle

24 Linfenmann,

(rifteng und feine perfünfid) eigenen Rechte, die andere auf feine Stellung zu dem Ganzen ber menschlichen Geſellſchaft bezieht; Pflichten der Individualethik und Pflichten der Socialethik.

Die Doppelreihe von Pflichten ſelbſt wird wohl der urſprünglichen Ordnung und Beſtimmung des Menſchen an⸗ gehören; aber daß die beiden Reihen feindlich auseinander⸗ gehen und zwiſchen ihnen ein oft ſchroffer Zwieſpalt klafft und daß hieraus oft die ſchwerſten Verwicklungen der menſch⸗ lichen Pflichtverhältniſſe entſpringen, das iſt wiederum Folge nicht blos einer individuellen und leicht beſieglichen Verſtan⸗ desirrung, ſondern der ganzen Weltlage und der allgemeinen Störung und Trübung der Weltharmonie.

Und dieſer Riß geht durch das ganze Menſchenweſen hindurch. Schon um das Kind das noch nicht ſein eigen Recht behaupten Tann, ſtreiten ſich die Eltern, die ihre elter- (ide Gewalt geltend madjen, das bürgerliche Recht, wel; ches vermittelft der Vormundſchaftsbehörden bie Geredjtjame des Kindes jelbft gegen die Eltern wahrt, der Staat, welcher im Rinde ben fünftigen Bürger Deanjprudjt, die Kirche, welche ihm das höhere Bürgerfchaftsrecht des Reiches Gottes fiderítelfen will. Es gibt ftreng genommen feinen Moment unfers Lebens, für den mir nicht eine zweifache Rechenfchaft abzulegen haben, indem wir uns fragen, fürs erfte mie wir uns jefbft und unfer perfönlich-fittliches Qeben gefördert, unb fodann, mie mir ber menfchlichen Gefellfchaft gedient haben.

Es (üft fid) faum ein Grundbegriff unjrer Ethik feft- jtellen, ohne daß auf diefen Dualismus refleftirt wird. “Die Grundvorausfegung ber Ethik, die Selbftbeftimmung, wie wird fie nicht einge[d)rünft durch bie Thatfache, daß ber Menſch in allen Stadien feines Lebens und feiner Entwid-

Ueber Pflichtencollifton. 95

(ug beftimmt und beeinflußt ift durch bie Gefellfchaft ! Bon den Eltern empfängt er Geftalt und Anlage, die Gt» ziehung formt den weichen Thon in fefte Geftalt, die Lebens⸗ Ichickfale geben ihm fein Gepräge. Unter bie ebelften Güter des fittlichen Lebens zählt die Freiheit, und bod) mie vielen Zwang muß ber Menſch erleiden, um zur wahren Freiheit unb Sittlichkeit zu gelangen! Der Menſch tritt in δαδ Reben ein mit Anfprüchen auf Güter und Genüffe, ohne die er feine Beitimmung nicht erreichen fann; und er findet diefe Güter [don occupirt und findet Andere in ihrem rechtlichen Beſitz, und er muß fie εὐ} erftreiten. Iſt ber Menſch in Schuld gefallen, fo faftet auf feiner Seele bie Verantwortung, und doch Hat er ein volles Recht, bieje Ver⸗ antwertung mit denjenigen 3i theilen, bie eine fociale Mit⸗ fhuld an feiner Sünde haben, und während er einen Theil feiner Schuld auf Andere wälzt, findet er fid) jelbft wieder verantwortlich für die Sünde Anderer, mit denen er in fütlih-focialer Gompfication fteht.

Der Charakter der Individualethik, jagt man, jpredye fif) au8 in bem memento mori, wogegen die Socialethik gebieterijd) da8 memento vivere fordere. Diefe beiden Marimen Tießen fid) unfchwer in Einklang miteinander bringen; oft aber iff das Verhältniß ein umgefehrtes, fo daß bie geordnete Selbftliebe mir die Pflicht der Selbft- erhaltung auferlegt, während die Gefellfchaft, [εἰ «8 Familie oder Staat oder Rirche, meine Selbftaufopferung, mein Blut und Martyrium fordert oder zu fordern jcheint ; ἐδ weht ja ein fo idealer Hauch um das Dichterwort vom fügen Tod fürs Vaterland! So ftreiten ſich bie Pflicht der Selbfterhaltung unb die Pflicht der Selbfthingabe, Welt- dienst unb Weltflucht, Pflichten be8 privaten und Pflichten

26 Zinfenmann,

des Öffentlichen Lebens in tauſend einzelnen Augenblicken um den Vorrang. Tas Cvangelium ſelbſt befiehlt uns zu lieben auch den Feind, unb befiehlt uns zu haffen fogar Vater und Mutter um des Namens Jeſu willen, und bod) bejtebt unverbrüchlich ba8 vierte Gebot des Defalogs, welches uns die Pflichten der Pietät, wie fie au& den natürlichen Verwandtſchaftsbanden entfpringen, an ba$ Herz legt. Man wende und nicht ein, daß ſolche Scwierigfeiten nur im biblifchen Ausdrucd liegen und burd) ein geiftiges Verftändniß gehoben werden. Letzteres ift allerdings wahr. Aber welches ijt jedesmal das richtige geijtige Verftändnig? Darum handelt es id.

Co ſchwer find bie Pflichtverhältniffe, welche uns aus unfrer Stellung in der Gefellfchaft ent[priugem, zu entwirren, daß nicht einmal die Grenzen zwifchen Tugend und Lafter leicht unb ficher zu ziehen find. Etwas Großes in fittfidjer und focialer Bedeutung ijt die Liebe zur Ehre, und υετα lich ift, mem feine Ehre gleichgiltig ijt; wo aber beginnt der verwerfliche und verderbliche Ehrgeiz? Edel und durd) das Beifpiel Ehrifti geheiligt ijt die „Arbeit“ ; fie ijt, richtig verjtanden, ein Synbegriff von Tugenden; fie ijt Selbjtüber- windung, Stärke, Geduld, aufopfernde Liebe, und fie ift bie Duelle von Tugenden und Segnungen mandjeríei Art; fie ijt eine Befchügerin gegen Unordnung und Unzufriedenheit und eine Bändigerin wilder Triebe in Fleifch und Geijt; unb bod) gibt e8 eine Arbeit, die nur burd) ihr Uebermaß zum Laſter wird, ein Arbeiten welches die geiftige Seite des Menfchen- weſens [djübigt, die Empfindung für höhere Ideale ab- ftumpft, den Auffchwung der Seele zu ihrem höheren Ziele niederhält. Es gibt eine geiftige Ruhe, Muße und 3Bejdjaus lichkeit, welche nur von berb realiftifch angelegten Naturen

Ueber Pflichtencolliſion. 27

als ſchnöder Müffiggang aufgefaßt werden fann. Wo θὲς ginnt in ber Muße ber Müffiggang, wo in ber reblichen Arbeit ba8 llebermap ? Sod) mehr bereitet und Sorge jene uns auferfegte Nothmwendigkeit, welche die Alten in das Wort gefaßt haben: primum vivere, deinde philosophari. Erwerben und Verbrauchen, &parjamfeit und Wohlthätigfeit, Geiz und Berichwendung find Gegenfüge, aber Erwerben, Cpar[amfeit, ängftliche Sorge um des Lebens Nothdurft, Hängen am Grmorbenen, Geiz auf der einen Seite, auf ber andern Wohlthätigkeit, Sorglofigfeit, Leichtfinn, Ver⸗ \hwendung find nad) Ausfehen und Gewand wie Zwillings- ſchweſtern; nur ein feiner Beobachter und tieferer Pfycholog lent fie vor einander. Güter, die jchon dem wahren Weiſen ber alten Welt entbehrlich und verächtlich fehienen, erhalten einen Werth, wenn es fid) darum handelt, mit ihnen die Grifteng der Familie, der Gemeinde, des Staates, br Kirche zu gemwährleiften, und göttliche Gebote wie 3. 3B. da8 Gebot: Du jolft nicht tóbten, hören auf zu verbinden, wenn der Zuftand oder die Sicherheit dev menjchlichen Gefell- ſchaft e8 zu erfordern fcheint. Die edelften Triebe führen den Menſchen, wenn er ihnen nachgeht, an einen Bunkt, wo unmerflich die Grenzen von gut und böfe ineinander greifen. Eiternliebe wird zur Schwäche, Pflege des Familienfinnes erzeugt Familienſtolz; bräutliche Liebe, um einen Hitegrad gefteigert, entbrennt zu finnlicher 3Begier. Das Streben nad) der Schönheit und die Freude an Gottes fchöner Welt führt zur Weichlichkeit unb Augenluftl. Der Trieb nad Wahrheit unb Erkenntniß wird ein Feind des Findlichen Glaubens; der Eifer für die höchften Güter thut nur einen Schritt bi8 zum Fanatismus, und die Tugend, wenn mir uns ihrer bewußt find, fchlägt über in Tugendſtolz. So

28 Linſenmann,

ſehr ſind in dieſer verworrenen Welt ſelbſt die Tugenden ſich gegenſeitig im Wege, und ſo ſchwer iſt es, in dieſem Leben den goldenen Mittelweg zu finden! Unſere Verſuchun⸗ gen ftammen nicht blos aus bem Hange zu den Dingen die und verboten find, fondern aud) von den Ansprüchen der Gebote, von dem Kampf zwifchen Pflicht und Pflicht.

3. Zur Illuſtration.

Wenn der letzte Zweck dieſer Abhandlung blos eine Auseinanderſetzung mit den neueſten Vertretern des Pro- babilismus wäre, ſo läge es nahe, jetzt auf die Beiſpiele einzugehen, durch welche die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der probabiliſtiſchen Doktrin beleuchtet zu werden pflegt; und da der Verfaſſer dieſer Abhandlung die probabiliſtiſchen Löſungen der modernen Moral im Großen und Ganzen nicht beſtreitet, vielmehr ſich wiederholt zu Gunſten eines richtig verftandenen Probabilismus erklärt hat, fo wäre ber Nachweis zu führen, daß die befagten Beifpiele aud) ohne den Apparat der probabiliftifchen Doktrin zu [ofer wären, indem man fie unter den Gefichtspunft ber Pflichtencollifion oder der perplexitas conscientiae brüdjte. Allein ſolche Beweis⸗ führung würde im günftigften Wall den Eindrud madjen, wie wenn eine mathematifche Aufgabe nad) zwei verjchie= denen Methoden ober Anfägen gelöst wird, wobei jedesmal ein gleich richtiges Reſultat erzielt wird. Es iff aber nicht ber Zweck biefer Abhandlung zu ermeijem, wie leicht jid) bie fdjmeren Probleme der Moral durch einfache Formeln und S[riome löſen lajjen, fondern gerade umgefehrt zu zeigen, wie viele [dere Aufgaben der Sittenlehre übrig bleiben, für deren Löſung die probabiliftiichen Talismane :

Ueber Pflichtencollifion. 99

lex dubia non obligat; melior est conditio possi- dentis u. |. m. unzulänglich find.

Es gibt zwar, mie neuerbing8 wieder entfchieden θὲς tont worden ijt, fein Gebiet jittlicher Verpflichtungen, auf welchem die Grundſätze des Probabiliemus nicht Anwendung finden Tönnten; denn nicht blog bezüglich des pofitiven, fondern auch bezüglich des natürlichen Sittengefeges wird Anwendung von bem Sat gemadt: lex dubia oder lex non sufficienter promulgata non obligat '). In Wirf-

1) In biejer Beziehung ftehe ich nicht an, meine frühere Dar- ftelung (Du.-Schrift 1871 ©. 267 ff.) zu modificiren. Ich batte an diefer Stelle nicht meiter darauf Rüdficht genommen, daß e8 auch bezüglich des natürlichen Gejege8 eine Unwiſſenheit gebe, auf Grunb deren dasſelbe als zweifelhaft oder ungenügend promulgirt bezeichnet werden Iónme. Die Probabiliften bejteben barauf, daß unter dem Geſetz, welches unter Umjtänden als ba8 Spätere ber Freiheit al3 bem Früheren meiden müfje, auch ba8 natürliche ver: ftanden werden müſſe. Damit wird aber bie Stellung ber τον babilijten nicht verbefjert, jondern erjchwert. Man jagt, e8 fónne δ. 39. Jemand vermöge einer unbelieglichen Unwiſſenheit bezüglich be8 Gebotes der Wahrhaftigkeit die Meinung haben, daß eine Dienftlüge erlaubt fei; in ſolchem Falle fei er durch ba8 Gebot ber Wahrhaftigkeit nicht verpflichtet, weil e8 für ihn nicht exiftire, während auf der anderen Seite jid) ihm bie Pflicht präfentire, burch bie Lüge einem Anderen einen Liebesdienft zu leiften, ein Unglüd von ibm abzumebren u. ἢ. m. Hier ift zu unterjcheiden. Es ift denkbar, obgleich id) e8 nicht fo πεῖ zugeben möchte, daß Jemand im guten Glauben handelt, wenn er fid) einer Dienftlüge bedient; wo wirklich bie unbefiegliche Unwiſſenheit vorhanden i[t, ba ift fein. Geſetz für ben Betreffenden vorhanden. Aber bie Sach: lage, um welche e$ jid) bei ber Augeinanderjegung über ben Pro⸗ babilismus bandelt, ijt eine völlig andere. Hier nämlich bejtebt ber Boraudfegung gemäß nicht pure Unwiſſenheit bezüglich be8 Geſetzes, fondern ein Zweifel; neben der opinio pro libertate ftebt eine opinio pro lege; bieje opinio pro lege ſtützt fid) wieder der Vorausſetzung gemäß auf Wahrjcheiulichfeitägründe. Kann man

32 ginjenmann,

großen Bewegungen auf bem Gebiet des geiftig-fittlichen Bolkslebens fid) im den feinen Aufwallungen des indivi- duellen Seelenlebend ab, und DBeifpiele, welche hieraus genommen find, müjjem auch zur Illuſtration größerer Ver⸗ bältnijfe dienen können. Aa man möchte glauben, daß nad) der ganzen modernen Arbeitsmethode dieſes Induk⸗ tionsverfahren, bieje8 Beobachten und Grperimentiren am Heinen Stoff, den Vorzug haben müſſe. Die Welt ijt jufammengejegt aus Kleinem unb Einzelnem; dies ift das Reale; ba8 Große und Allgemeine ijt das Ideale, Ab- jtrafte. Die Beobachtung, will fie eraft fein, muß beim Nealen beginnen; je mehr jie zum Großen und Allgemeinen fortid)reitet, deſto unficherer wird fie, deſto unzulänglicher find ihre Synftrumente, ihre Schäßungen gehen in'6 Un⸗ gefähre, die Entfernungen zwifchen unjerem Standort und den Beobadhtungsgegenjtänden find bem Auge unberechen⸗ bar, die Phantaſie gewinnt Spielraum und wird verwegen in Hypotheſen und Combinationen. Und doch liegt in bem Induktionsverfahren eine andere Täufchung jebr nahe. Yu Wirklichkeit ijt nicht mur jede Weltbetradhtung vom Großen 3. B. von der aftronomifchen und allgemein phyjifalifchen Beobachtung ausgegangen und zum Kleineren herabgejtiegen, fondern man mußte erjt aus der Beobachtung des All- gemeinen lernen, das Kleine richtig zu betrachten, zu deuten unb einzureihen. G8 ift nicht zufällig, daß man guerjt durch das Zefejfop die Räume des Himmel! gemejjen und erft Dernad) mit dem Mikroſkop die organijden Zellen . unterfuht Hat. Grít muß bie große und überfichtliche Weltbetrachtung uns ehren, die ragen zu ftellen, auf welche mir von den fleinen Vorgängen und Elementen des Lebens eine Antwort haben wollen. Die fogen. exakte

Ueber Pflichtencollifion. 33

Forſchung follte nicht vergejjen, wie Vieles fie im Grunde erft von der fpefulativen, befchaulichen Weltbetrachtung hat lernen müffen. Und dies gilt nicht bfo8 von ber eraften Natur- foridjung, fondern aud) von der Menſchenkunde und Geſell⸗ Ihaftswilfenfchaft. Die Einzelthatfachen der Statiftif haben faum einen Werth, menn nicht eine höhere und univerfellere Betrachtungsweiſe fie unter die richtigen Gefichtspunfte bringen und geiftig verwerthen lehrt.

Gewiſſe Dinge aber laffen fid) gar nicht am Seinen θὲς obadjte und ftubierem. Man kann das Meer nicht an einem Weiher und ben Sturm nicht im Glafe Waffer und ben Frühling nicht in ber Studierftube beobachten; ebenſowenig len man gewiffe Tugenden des Menfchen durch das Gitter des Beichtftuhls Dinburd) ergründen und viele Pflichten des großen Lebens nicht in der entlegenen Dorfgemeinbe.

Es ift barum nicht etwa Mißachtung des Kleinen ober gar des Wirkens im Kleinen, ber Sorge für bie Kleinften Vorgänge im der Paftoration, jondern e8 ijt nur ber nüdjte Zweck der Illuſtration und Belehrung, wenn wir im iolgenben einige Beiſpiele vorführen aus jenen Vorgängen im fittlichen Leben, welche fid) zumeift dem Einfluß bes Seelſorgers und Caſuiſten entziehen und von deren rechter Ordnung bod) Wohl und Wehe vieler Menjhen im πᾶς türlichen unb im fittlihen Verſtande des Wortes abhängt.

Werfen wir zunächſt einen 3B(id auf die engeren Kreife des gefellichaftlichen Lebens, auf die Ehe unb bie Familie, fo begegnen uns zahlloje Pflichten, pflicht- Mjulbige 9tüdjidten und Erwägungen, über die wir une nicht fo ſchlechthin durch Keuntnißnahme von bem cafuiftie hen Traftate de usu licito matrimonii, oder von dem Ehevertrage, auch nicht durch Vergegenmwärtigung einfacher

Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft I. 3

34 Linjenmann,

Kotehismus-Wahrheiten über da8 Mein und Dein Klar zu werden vermögen. Jedermann weiß, daß der Friede und das Gíüd der Ehe noch von vielen andern Dingen ab- hängt, als nur von ber Erfüllung vertragsmäßiger Pflichten. Und δοῷ ift das Glück und der Friede einer Ehe von fo großer Bedeutung, daß vor ber Rückſicht darauf viele andere Rücfichten, ja Pflichten weichen müſſen. Aber welche find e8, bie meiden müffen? Es gibt finnliche und geiftige Befriedigungen, bie ein Ehegatte dem anderen zu gewähren Dat. Und doch befteht ein Widerſtreit zwifchen Geift und Fleiſch. Das einemal ijt Entfagung Pflicht, ein andermal it fie ein Unrecht, weil fie Böfes erzeugt, innere Abneigung, Argwohn, Giferjud)t. Im täglichen Verkehr wird es bem Manne ſchwer werden zu ermejfeu, wo feinem Weibe gegen über Grnjt und Feſtigkeit, wo Nachgiebigfeit und Milde nothwendig fei; Feſtigkeit wird zur Nechthaberei und Härte, Milde zur Schwäche. Und bei einer Meinungsverfchieden- heit, wer [αὐ ung, mo e8 bejjer [εἰ zu fehweigen, oder befjer [εἰ zu veden? Allzu großes Vertrauen wird vom andern Theil gern als Gleichgiltigkeit gedeutet; Mißtrauen dagegen unb Wachſamkeit erzeugt den Weiz und die Luft zum DBerbotenen. Die Frau hat nicht nur Recht und Pflicht, dafür beforgt zu fein, daß jie ihrem Manne gefalfe, fom» dern fie Dat aud) bie Bamilie des Mannes zu repräfen- tiven; fie muB fid) gefellichaftlichen Rückſichten bezüglich der Mode, der Theilnahme an gejellfchaftlichen Vergnügun- gen, an Werfen ber öffentlihen Wohlthätigkeit u. f. w. unterziehen. So ijt aud) der Dann feiner Frau manche Aufmerkſamkeit, manchen Aufwand fchuldig, er muß manche Bitte gewähren, ja manchmal felbft einen geheimen Wunfch nur errathen, um nicht fid) der Vernadhläffigung der Frau

Ueber Bflichtencollifion. 35

ffuíbig ober verdächtig zu machen. Und dies Alles in einer Ehe, die eine gut geordnete und glückliche iff. Wie aber erft dann, wenn der eine Ehegatte die Leidenfchaften des anderen entjtehen, wachjen, zerftörend um fidj greifen fiet, bie Ausbrüche berje(ben ertragen muß, und wenn er fid Hineingeftellt fiet zwifchen die Pflicht der Schonung, Duldung und Entfagung und zwiſchen bie Qtüdfidjt auf eigenes Leben und Gefundheit, auf Ehre und Vermögen ber Familie? Eine Frau, die ihren Mann untreu weiß, nicht blos feiner ehelichen Liebe, fondern vielleicht feinen Amts- pflichten , jeiner Religion, feinem Beruf, feinem Staats dienft darf fie bagu [d)meigem oder darf fie reden, darf fie blos dulden oder muß fie handeln ?

Zu den ſchweren Aufgaben der Ehegatten gehört bie Herftellung des richtigen Verhältniſſes zu bem beiderfeitigen Verwandten Nicht alle Schwiegermütter erfahren von ihren Schwiegertüchtern jene Liebe und Treue, wie einftens Noemi von der Ruth, und mander Sohn muß mitanjchen, wie fein alter Vater fi) abhärmt über ba8 harte Herz ber Schwiegertochter. Hat ber Mann angejehene und εἰμ πῇ» reihe Brüder oder Schweftern, fo üben fie leicht auf die Fa— milie den Druck ihrer Auftorität und Ueberlegenheit, den bie Frau als Surüdjegung, als Gewaltthat empfindet; Dat er aber arme und unglüdliche Sippfchaft und ift er veranlaßt, fie zu unterftügen, fo empfindet e8 die Frau αἷδ einen Raub an ihr und ihren Kindern. Gar viele Ehen haben von Anfang an bieje offene Wunde, daß die Herzen geteilt. find zwifchen " der Sorge für bie eigene Familie und die Rückſicht auf Ver: wandte. Der Mann muß hart fein können gegenüber un- billigen Anfprüchen feiner eigenen Eltern und Gefchwijter, und er muß auch wieder fejt fein können gegen den Neid der

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36 Linfenmann,

Frau und ihrer Sippe. Und dasfelbe gilt natürlich von ber Frau. Wie Manches gefchieht in diefer Beziehung im ge- heimen, was offen und aufrichtig gefchehen folíte; und wie, Manches, was mit Wiſſen des andern Theils geſchieht, wäre vielleicht im geheimen befjer gefchehen. Wer mag dies zum voraus wiljen ?

Iſt dann die Ehe mit Kindern gejeguet, fo find zwar zumeift bie Kinder ein Unterpfand neuer Vereinigung unb Liebe zwifchen Vater und Mutter; aber nicht immer. Manchmal ſchon Hat die Entfremdung der Gatten von εἰπε ander in der Zeit begonnen, wo ein Gatte fid) des Herzens des Kindes zu bemächtigen unb im biejer Liebe fein ganzes Glück zu finden anfing; und wiederum hat mande Frau angefangen ihren Gatten zu θα ει, als fie vermuthete, er liebe ihr Kind weniger als fie felbft e8 liebe. Es gibt eine Eiferfucht der Gatten in Hinficht auf die Liebe des Kindes, und e8 gibt in der Liebe ein llebermaB; aber mo beginnt e8? Sind ed dann der Kinder mehrere, -fo find fie faum wohl irgendwo alle gleichgeartet; man löſe und num das Räthſel: wie ift e$ zu machen, daß man alle Kinder gleich und doch wieder jedes nad) feiner befonderen Art befanble ; daß man affe Kinder gleich liebe, während bod) die Liebe fid) richtet nad der Art und dem Maß ber Gegenliebe ?

Mit dem Gefagten haben wir auch [don an bie ( τε ziehungsfrage gerührt, eine Trage, welche den Päda- gogen und Erziehern immer heißer macht, je mehr. man darüber reffeftirt. Wir wiſſen ganz gut, daß der Erzieher das einemal Grn[t und Strenge, das anderemal Milde und Schonung vorwalten laffen muß; aber was im einzelnen Talle ba8 echte fet, ijt mir fein Beichtvater im Stande zu jagen. Wohl Heißt e8 in ber Heil. Schrift: „Wer bie

Ueber Pflichtencollifion. 37

Ruthe fpart, hafjet feinen Sohn” (Sprüd. 13, 26); aber der Apoftel befiehlt aud): „Ihr Väter, erbittert eure Kinder nicht, damit fie nicht entmuthigt werden“. (Koloſſ. 3, 21; Epheſ. 6, 4). Ich Habe Lehrer gefannt, deren ultima ratio das Meerrohr war, und folche, bie niemals einen Stod gejdjmungen haben, und aus beiden Schulen find tijtige unb untüchtige Schüler hervorgegangen. Und nicht blog um die Huthendisciplin handelt es (id). (8 gibt Eltern, welche den Kindern zu Schweres zumuthen an geiftiger ober Törperlicher Anftrengung, fie burd) übertriebene Strenge zu geiftigen Kretinen machen, ihnen bie Rindes- jahre verfümmern, Spiel und Scherz verbieten; und e$ gibt Eltern, welche bie Kinder geiftig und fürper(id) ὑεῖς wechlichen, ihnen jede harte Zumuthung erfparen, fie fpie- [eb in's Leben einführen möchten. In Wirklichkeit hat ber Geiſt feine Rechte und der Leib, ijt Anftrengung wie Schonung, Arbeit wie Spiel nothwendig. Aber wo ijt bie rechte Mitte?

Diele Eltern üben heroifche Tugenden und tbun um der Kinder willen, was fie um ihrer felbjt willen nicht ge» tban haben würden; fie dulden, eutbehren, arbeiten bis an die Grenze des Möglichen, ja oftmals bis über die Grenzen des Erlaubten hinaus. Iſt e8 recht, wenn ein Vater über feine Kräfte arbeitet und entbehrt, um einem ungerathenen Sohne aufzuhelfen, wenn er vielleicht feine anderen Kinder um be8 einen willen verkürzt? Es ift gewiß [d)mer, die Liebe jelbit in ihrer Grenzenlofigkeit zu tadeln und ber Sünde zu zeihen; aber dennoch ijt jedes Uebermaß ein lintedjt. Es [tebt Pflicht gegen Pflicht.

Sn einem hohen Grade peinlich wird oft der Conflikt zwifchen den der Familie fchuldigen Rückſichten und ben

38 Linfenmann,

Pflihten einer amtíiden Stellung. Der Gore flikt ift im Wefentlichen Kein anderer, als wie er bem ge: meinen Marne im täglichen Verkehr begegnet, wenn er dem Wetter und dem Sturme trogen und Hite und Kälte er» dulden muß, um feine tägliche Pflicht zu erfüllen, unbelüm- mert um etwaige Angſt und Sorge ber Seinigen, weil er bod) wieder Alles um der Seinigen willen thut; es iff nur Scheinbar, menu in höheren verantwortungsvolleren Stellungen bie Intereſſen des Amtes und bie der Yamilie weiter aus⸗ einander zu gehen ſcheinen; aud) der Staatsmann, der Soldat hat ſchließlich eine heimatliche Stätte und ein häus⸗ liches Cynterejfe und wird oft genug, menm fein Beruf ihm Schwer wird, wie Schiller’8 Tell fprechen Tönnen: An cud) nur benft er, liebe Kinder! Der Unterjchied ift meiftens nur der, daß eine amtliche Stellung ftärfer bindet und den Zwiefpalt zwifchen Amt und Haus [derer empfinden Täft. Man verfege fid) einmal in die Lage eines Bureaubeamten, eines Lehrers, eines Richters, der feiner Berufspflicht ge- nügen foff, während ihm zu Haufe ein Kind ober die Meute ter feiner Kinder ſchwer Trank Tiegt, vielleicht fogar von der nöthigen Pflege verlaffen liegt! Er weiß wohl, wo im Augenblid fein Pla ijt; aber wie er feine Gedanken be- herrfche, wie er feinem Beruf die volle Aufmerkfamteit fchenfe, wie er männlich feinen Kummer nieberbriüd'e, damit er nicht feiner Pflicht fehle, das weiß er nid). Große Obliegenheiten fünben fid) in ber Negel deutlich genug am; der Soldat fenut feine Pflicht, wenn man die Kriegstrom- mel jchlägt, unb verläßt Haus und Hof, um der Fahne zu folgen. Wenn eine ſchlimme Seuche burdj Städte umb Dörfer wüthet, fo fennt ber Arzt feine Verantwortlichkeit und ſucht bie Gefahr auf. Der Beamte im Sturme ber

Ueber Bflichtencollifion. 39

Revolution kennt feinen Poften und darf nicht eher am bie Seinigen denken, als bi8 er feiner Pflicht entlaſſen ijt; aber ehe es zu fo Klaren Lichtpunkten im Berufsleben Tommt, bringt mancher Tag kleinere Verwicklungen der heikelſten Art, in denen e8 ſchwer ijt zu beurtheilen, ob bie Intereſſen der Geſellſchaft weniger verlegt werden durch pedantifche Strenge burcaufratijdjer Pünktlichkeit oder durch eine ver⸗ nünftige Selbjthilfe. Iſt beum das Amt, der Staat, Alles, das Individuum nichts? Wenn im einem öffentlichen Ge⸗ Düube, das zugleich die Wohnung des Beamten enthält, ein Feuerbrand ausbricht, fo dürfte e8 fchwer fein zu ent» ífeiben, ob ber Beamte eher für die Sicherheit der Seinigen vor der Gefahr be8 Verbrennens oder Grítiden8, oder ob ee eher für die Rettung wichtiger Dofumente unb anver⸗ trauter Güter beforgt fein dürfe; und zwar liegt die Schwwie- τίρ εἰς der Entfcheidung in folhem Falle am allermeiften in ber Unmöglichkeit, augenblicklich den vollen Ueberblick über die Sachlage zu gewinnen. Nicht viel anders liegt die Schwierigkeit, welche unter Umftäuden einem Manne das Amtsgeheimniß auferlegt. Der ftrenge Moraliſt weiß zwar wohl, daß das Amtsgeheimniß verbindlich bleibe, wenn auch aus der Veröffentlichung ein merf(ider Schaden nicht entftehe, wohl aber etwa ein perfönlicher Vortheil zu ziehen fein fónnte. Wie aber, wenn die öffentliche Meinung [05 wohl als bie Gonnipeng der mafgebenben Behörden dem Amtsgeheimniß gemwifjermaßen den Charakter der ftrengen Verbindlichkeit nehmen, wird fid) ein Angeftellter burd) ba8- jelbe dennoch binden laſſen, wo er vielleicht den Seinigen oder feinen Freunden einen wejentlichen Dienft würde ers weifen, oder von ihnen einen Schaden würde abwenden Innen? Mag man in folhem Falle die Frage immerhin

40 Zinfenmann,

jo ftellen: ijt e8 erlaubt, das Amtsgeheinmnig zu brechen um irgend eines Liebeswerfes willen, fo geht uns bod) der richtigere Einblid in das Problem erft auf, wenn mir fragen: gibt ἐδ eine Pflicht, welche höher fteht als bie Rüdjiht auf das hohe Gut des öffentlichen Vertrauens, meídje8 an die Wahrung des Geheimnifjes von Seiten ber Angeftellten gefnüpft it? Wir haben hier bfo8 die Fragen zu ſtellen; wir geben nicht aud) zugleich die Antwort.

Leicht ergibt fid) aud), wie eine gewöhnliche Lebens⸗ erfahrung zeigt, auf Seite des Kindes ein Gonjfift zwifchen der pflichtmäßigen Sorge für bie eigene Eriftenz unb ber Pflicht gegen die Eltern, Geſchwiſter u. f. m. Auch für ba8 Rind gilt, daß Jeder fid) felbft der Nächfte ift und bap Niemand fein eigenes Seelenheil in Gefahr fegen darf um eines Andern willen. Es gibt ja auch unbillige und ungerechte Anfprüche der Eltern an bie Kinder, ja e8 gibt verbrecherifche Eltern; mie weit geht in diefem alle für die Kinder die Pflicht des Gehorfams, des Stillſchweigens, der Schonung? Mancher Sohn muß auf eine Laufbahn, auf welche ihn Neigung und Fähigkeit hinzuweiſen fcheint, verzichten aus Nücficht auf die Noth einer armen Mutter ober Schweiter; mande Zochter Schlägt einen Cheantrag aus, weil fie ihren alten Vater nicht verlaffen Tann. Es fann eine jolche Entfagung als edeljte Tugend anerkannt werden, fie kann aber auch Pflicht fein.

An größere Verhältnijfe werden wir erinnert, wenn wir bon jener Ausartung des Pflichtgefühls in Beziehung auf Familienbande, welche man mit bem Ausdrude Nepo- tismms bezeichnet, Erwähnung thun. Unfere heutigen Ges ſchichtsſchreiber blicken mit wahrem Tugendſtolz auf jene Zeiten zurück, mo in gemijjen höheren Gefellfchaftsjchichten

Ueber Pflichtencollifton. 41

in Kirche und Reich ber Nepotismus geblüht habe. Und bodj müjfet wir einer ſolchen fittlichen Entrüftung und folcher Tugendftrenge, auch mo fie nicht etwa blos affeftirt wäre, einige Bemerkungen entgegenhalten, und zwar nicht alfen um der modernen Welt die erborgte Maske der Jugend abzunehmen und zu zeigen, wie aud) jet noch vom unterften Beamten und Befoldeten an bis in bie Sphären ber höheren Diplomatie faum Einer fein eigene8. Intereſſe hinter dem Synterefje feines Dienftes ganz vergipt, jonberm ein Cyeber feine Stellung, feinen Einfluß und feine Macht für fid) und die Seinigen möglichjt auszunügen ſucht. Man braucht dies nicht gerade im Sinn des [d)fimmjten Egoismus auszulegen. Wir möchten vielmehr, fo parabor & erfcheinen mag, behaupten, daß der Nepotismus ein ge» wiſſes Recht für fid) habe und einer Anfchauung der Dinge entipreche, welche wenigitens relativ richtiger ift al8 bie moderne Kant-Hegel’fche Doktrin von der Staatsmoral. Der Nepotismus wird Teineswegs vom fittlichen Bewußt⸗ fein aller Völker und Zeiten verurtheilt. Ein neuerer Kul⸗ turhiftorifer, Alfred o. Kremer, fagt: „Das was man in unferer modernen Sprachweife Nepotismus nennt, Ver⸗ wandtengunft, und wogegen jo viel vorgebradht wird, ob» gleich e8 in ber menfchlichen Natur begründet ijt, galt den Arabern immer al8 etwas ganz Selbftverjtändliches, ja als eine durch bie. Heiligkeit der Familienbande auferlegte mos ralifche Verpflichtung“ D. Der Araber, ber fo denkt, ftellt fi freilich nicht auf den Standpunkt des modernen Staat®- begriffó ; er verſteht e8 noch nicht, daß ber Gingelue mit allen feinen Rechten und Intereſſen fid) abfolut bem All⸗

1) Kulturgejchichte des Orients. I. €. 49.

42 Linfenmann,

gemeinen nur hinzugeben und im Allgemeinen aufzugehen hat. Shm ijt nicht der Einzelne, die Familie u. f. m. blo8 um be8 Staates willen da, fondern bie Negierung, die öffentlichen Einkünfte und Güter find um ber Unter: thanen willen ba, und wer ji, auf die Muße des Privat- lebens verzichtend, den Geichäften des Staates widmet, dem fol aud) für fid) und die Ceinigen ein Antheil an den Ehren und Gütern, über bie das Gemeinweſen verfügt, ab: fallen; man braucht jich eine ſolche Ausbeutung einer hohen Cteffung nod) nicht notwendig mit Gewaltthat, Parteilich- feit, Beugung des 9tedjte, Diätenjägerei u. f. w. verbunden zu benfen ; ἐδ kann ohne affe formale Verlegung des echtes geichehen, daß eim Minifter unter verfchiedenen möglichen Bewerbern um. einen Dienft feinen Nepoten für den taug- fidjíten erkennt; jeber Negierende muß außer ber objektiven Tüchtigkeit feiner Unterbeamten aud) noch ba8 befondere Ver- trauen auf bie Perfon des Beamten in die Wagfchale Tegen dürfen; uud wenn er bieje8 Vertrauen auf folche lenkt, bie ihm durch natitrliche Bande verpflichtet find, fo ift dies weder unpolitifch, nod) fchlehthin unmoraliih. Wenn der 3Bijdjof oder Bapft in fein engeres Vertrauen und im feinen engeren Rath. einen Nepoten zieht und ihm eine Stelle überträgt, auf welche fein Anderer einen pofitiven Anfpruch hat, fo kann dies für den Bifchof wie für die Verwaltung der Diöceſe wohl er- jprießlich fein und man bürfte mit bem Vorwurfe eines un- fittlichen Nepotismus nicht fo ſchnell fertig fein.

Iſt es ſchon fehr fchwer, bem Kleinen Haushalt einer Familie vorzuftehen und die Pflichten gegen fid) ſelbſt mit den Pflichten gegen die Angehörigen auszugleichen, jo ift dies noch viel jchwicriger im großen Haushalt eines Staate- mefen8, in Staatsverwaltung unb politi. Es ift Leicht,

Ueber. Pflichtencolliſion. 43

fid fittlih zu entrüften über ben Machiavelliſsmus; für den Moraliſten ſcheint e$ auf den erften Bli gar feine Möglichkeit zu geben, dieſer verrufenen Theorie eine berechtigte Seite abzugewinnen; zwiſchen ber Privatmoral und ber Staatsmoral fann, fo [dent ἐδ, eine Pflichten- collifion objektiv nicht ftatthaben. Wir wollen aud) an diefer Stelle, um allen Mißverftändniffen vorzubeugen, ausdrücklich conjtatiren, daß wir nie und nirgends zugeben, man dürfe fi) zum Nuten und Wohle des Staatsweſens über bie ewigen Forderungen von Wahrheit, Recht unb Gerechtigkeit auch bem geringften Unterthen gegenüber Diu» wegíegen ; oder ἐδ nne der Staatszwed ein Mittel heiligen, welches im fid) unjittfid) ift. Niemals werden wir ge und Berrath in der Diplomatie, Bruch des beftehenden Völkerrechts und Aehnliches aus dem Grunde entfchuldigen, weil für ba8 Gemeinmejen daraus ein großer Nuben ent: fpringen könnte; ja die Vorausfegung felbft von einem folhen Nutzen werden wir a(8 unzutreffend zum voraus verwerfen. Kein nod) fo großer materieller Vortheil fünnte jo groß fein, daß man um feinetwillen die höheren idealen Güter der menfchlichen Sefelljchaft, ba8 Vertrauen in das Manneswort, in die Heiligkeit der Verträge und den Schub der echte befchädigen dürfte; Untreue aud) in der Politik ihlägt ben eigenen Herrn; nur Kurzfichtigkeit kann εἴς warten, daß aus fchlimmer Saat gute Früchte für einen Staat hervorwachſen können.

Und dennoch werden wir be8 Machiavellismus nicht jo leichten Kaufes ledig; etwas von ihm Haben wir im Kleinen, jo oft bie Frage erörtert wird, ob man fid) aus einem dringenden Grunde, 3. 88. um ein wichtiges Geheim- miB zu bewahren, ober einen großen Schaden ‚ohne Nachtheil

44 Zinfenmann,

eines Dritten zu verfüten, der Nothrede, der Zweideutig⸗ feit im Ausdrud oder des innern Vorbehalts bedienen dürfe. Es Dat fehr ern[te Moralijten gegeben, welche in ſolchem Falle erlaubten, von der erkannten Wahrheit im Ausdrude abzumweichen, und welche jid) dagegen verwahrten, daß man einer folchen Nothrede den Namen Nothlüüge gebe. Demnach dürfte man wohl aud) im der Politik nicht jede Lift und jeden Hinterhalt verurtheilen? Ja man könnte faft für bem Madjiavellismus eingenommen werden, wenn man jieht, von welcher Seite er mit bem größten Tugendeifer angefeindet wird. Eine Theorie, worüber Moraliſten wie Voltaire und Spofitifer wie Friedrich II. fid) ſittlich ent⸗ rüften, verdient doch noch einmal unterfucht zu werden. Dhne Umjchweife. Es gibt fein anderes Sittengefek für den Staatsmann als für den Privatmann; aber e$ gibt eine doppelte Pflichtenreihe, welche aus ber ‘Doppels jtellung des Menfchen als Einzelweſen und als Glied des großen Ganzen refultirt; e8 gibt in Folge deffen eine In⸗ dividualethif und eine Socialethik und barnad) gibt e8 aud) einen Unterfchied zwifchen dem, was bem Einzelnen ale Individuum, und dem was dem Menfchen als Vertreter gemeinfchaftlicher Rechte und Intereſſen erlaubt ift. So parabor e8 klingen mag, ἐδ gibt bod) für bie Socialethik einen anderen Dekalog und einen anderen Katechismus als für bie Individualethik. Das fünfte Gebot: du ſollſt nicht tödten, ijt aus der Lehre der Socialethif gejtrid)en, ſobald wir ein Hecht ber Nothwehr, der Todesſtrafe, be8 Kriegs anerkennen. Und die Begriffe von mein nnd bein mijjeu von ber Sorialethit anders gefaßt werden als im gewöhn⸗ lichen Katechismus, menn wir ein Eroberungs⸗ und Beute: recht, ba8 Recht der Beftenerung unb der Grpropriatior u. f. m.

Ueber Pflichtencollifton. 45

dem Staate zuerfennen wolien. Und wie wird nicht bie in» bipibuelíe Freiheit in Niederlaffung, Erwerb u. A. bird) ſtaatlichen und gefellfchaftlichen Zwang beeinträchtigt. Jene drei berühmten Pflichten de8 modernen Staatöbürgers: Stenerzahlen, Soldatjein und Stilffchweigen, ftimmen oft wenig überein mit dem angeftammten perfönlichen Necht, und bod) gibt es eine berechtigte Staatsraifon, welche bie individuelle Freiheit in der amgedeuteten Weife befchräntt. Es muß aljo doc Fälle geben, in welchen bie Rückſicht auf ba8 Intereſſe de8 Ganzen in Gonffift fommt mit ber Pfiiht, den Einzelnen in feinem perfönlichen Recht zu ſchützen. In einer idealen Ordnung der ftaatlichen und bürgerlichen Verhältniffe würde freilich eine ſolche Collifion nit eintreten, vielmehr würde der Regent wie ber Oteglerte die nothwendige Erfenntniß befigen, um bie confurrirenden Pflichten in die rechte Unterordnung und Harmonie zu bringen. Allein diefes ideale Verhältnig befteht in Wirk: lichkeit nicht; e8 ift überall erit ein Suchen und Taſten nad) der rechten Staatsordnung; ja ἐδ ftehen verfchiedene Theorien mit ganz verfchiedenen Anfprüchen einander feind- (id) gegenüber; man wird fid) in der Theorie noch lange über bie alfgemeinfte Grundfrage ftreiten, ob das Recht der Cocietüt dem Recht des Individuums, oder das Necht des Individuums dem ber Societät vorgehe; ob der Staat um be8 Einzelnen willen, ober der Einzelne um be8 Staates willen da fi. Da es eine glatte Antwort Hierauf nicht gibt, jo exiftirt für bem Politiker oft genug eine Pflichten: collifion nicht blo8 jubjeftio, b. D. in einer momentanen perfönlichen Unkenntnig ber rechten Unterordnung der cone furrirenden Pflichten, jonbern fie erijtirt außer ihm in den Zuftänden und in der unvollfommenen gefelffhaftlichen

46 Linſenmann,

Ordnung ſelbſt; er iſt oft genug durch das beſtehende Ge⸗ ſetz ſelbſt verhindert, dem Einzelnen recht zu thun. Jeder Krieg bringt zahlloſe Pflichtencolliſionen mit ſich; er geht auf Zerſtörung und Vernichtung aus, anſtatt zu erhalten und zu ſchützen. Um dem Feind zu ſchaden, muß der Kriegsherr dem eigenen Lande die ſchmerzlichſten Wunden ſchlagen; er muß das Leben der eigenen Soldaten, den Frieden der eigenen Unterthanen, den Wohlſtand des eigenen Landes daran ſetzen; er iſt bis auf einen gewiſſen Grad verantwortlich für die Greuel des Krieges im Feindesland, für Verwüſtung, Mord und Brand und namenloſes, lang nachwirkendes Elend. Sicher, ein gewiſſenhafter Fürſt wird nicht einfach caſuiſtiſch fragen: darf ich Krieg führen, ſondern er wird nur Krieg führen, wenn er muß; und es gibt eine Moral, welche es ihm zur Pflicht macht, Krieg zu führen, obgleich er mit dem falten „c’est la guerre“ Manches gejchehen Laffen und Manches anordnen muß, was im Katechismus ber Individualethik verboten ift. Und in einem unb demjelben Krieg wiederholen fid) immer wieder diefelben Gewiffensfragen: wie weit man gehen dürfe in ber Aufopferung der eigenen Leute, in der Verwüſtung des feindlichen Landes u. f. m. Wie fann man Angefichts ſolcher Ereigniſſe behaupten, daß es keine objektive Pflichten⸗ colliſion gebe! Man denke ſich einen Offizier, der die Strenge des Geſetzes an armen, hilfloſen und unſchuldigen Bürgern zu vollziehen beauftragt iſt, und hundert ähn⸗ liche Fälle.

Jede Frage über neue Geſetzgebung involvirt eine Pflichtencolliſion; denn jedes neue Geſetz hebt alte Rechte auf, ift alſo im gewiſſem Betracht eine Rechtsver⸗ letzung; und die alten Rechte ſelbſt find oft in ihrem Ur«

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iprung Rechtsverlegungen ; denn was man Nechte nennt, das find Vorrechte, wodurh Einzelne vor Anderen bevorzugt werden, und die Bevorzugung ift Verlegung der Gleichheit Aller, und fie erfcheint ja oft genug als ein fchreiendes Un⸗ recht, weil bie Vevorzugung nicht lediglich nur auf Grund von geijtigsfittlichen VBorzügen des Individuums erfolgt, fon« bert oft auf Grund von zufälligen Vorzügen, von Geburts⸗ adel, ererbtem Reichtum u. j. m. Die Entitehung ber Standesunterfchiede im Staate ift nicht one mannigfache per» fönlihe Beeinträchtigung erfolgt; bie gefeßliche Aufhebung derfelben wiirde wiederum beftehende Rechte verlegen und ein altes Linrecht durch ein neues gut maden. Eine freifiunige Berfaffung thut dem angejtammten Recht der Dynaftie Ab» (tud, wie vor Zeiten die Ausübung der abjoluten Gewalt mit Verlegung zahlreicher Sonderrechte und alter bürger- licher Freiheiten verbunden war.

Nene Pflichtencollifionen entjtehen aus der Conkurrenz verſchiedener Gejege und Gefeggeber. Davon liegen in ben heutigen kirchlichen Wirren bie peinlichjten Beweife vor; ftaat- (ie und firdj(id)e Gefege machen ſich im Gewiſſen ber a: tholifen ben Vorrang ftreitig und e8 wird nicht zu leuguen fein, δα} es bie deutſchen Kirchenfürjten bi8 auf bieje Stunde ſchwere innere Beängftigungen foftet, ob fie berechtigt feien, ihre Priejter den bürgerlichen Strafen, der Armuth unb dem Hunger auszufegen, die Gemeinden der Secljorger beraubt werden zu fajfen u. |. w. Iſt aud) ber Staat nicht Alles, [ὁ hat da8 ftaatlid)e Gefe meuigiten8 einen Anfpruch auf Auf» torität und verpflichtende Kraft, folange nicht mit Rückſicht auf höhere unb heiligere Verpflichtungen ihre Befolgung mo: ralifch unmöglich wird. Ob diefer fegtere Fall eingetreten darin bejteht eben die peinliche Frage, fofern nicht die höchſte

48 Zinfenmann,

Auftorität gefprochen. Sehr belehrend dürfte weiterhin für unferen Zwed ein 3Blid in bie Theorie unb Praris der öffentlihden Rechtspflege fein. Wir heben nur einige Gefichtspunfte aus bem Gebiet des Strafrecht$ her- vor. Es ijt und Modernen, denen gemijje Humanitäts- ideen von Tugend an eingeimpft worben, mie ein Ariom, daß man eher die Freifprechung vieler Schuldigen zulaffen, als bie Beitrafung eines Unjchuldigen risfiren dürfe; ja man Tann e$ als einen Grundſatz ber Individualethik aus- ipredjen, daß Keiner einer Strafe unterworfen werden dürfe, deifen Schuld unermiejen ijt. Aber ebenfo mauerfeft ftebt bie Horderung der Socialethif: es liegt im Intereſſe des Gemeinwohls und ift Pflicht ber Nechtspflege, daß fein Verbrechen ungefühnt bleiben jolle, foweit e8 mit menfch-

lichen Mitteln möglich ijt. Diefe Forderung ift eine fehr ernfte und von gang bedeutenden Confequenzen begleitet. Man mag im Einzelnen einer Theorie über den Zweck der Strafe Dulbigen, welcher man will, a(8 Momente im Wefen der Strafe wird man bod) immer zwei Dinge feithalten müfjen, nemlich die Sühnung be8 ber Geſellſchaft ange- thanen Unrechts und bie Abfchredung. Ferner wird jid nicht wohl leugnen lafjen, daß audj in Fragen der Krimi⸗ naljuftiz das Intereſſe ber Gefellfchaft über bem Jutereſſe des Einzelnen fteht, daß man fid) alfo zum wenigften nicht von ber Ausübung der Strafjuftiz abhalten laſſen darf durch die Erwägung, c8 möchte durch ein Strafurtheil ein Unfchuldiger betroffen worden; man ijt jogar weiter ge- gangen und hat aus dem hier berührten Intereſſe der Ge» ſellſchaft als folcher die Nothwendigkeit der Folter abgeleitet, obgleih man wiſſen mußte, daß möglicherweife vollftändig Unfchuldige der Juſtiz geopfert wurden. Ja man fann

Ueber Bflichtencolifion. 49

diefen Standpunft gar nicht ganz verlaffen, ivenn man nicht auch auf die Unterſuchungshaft verzichten will, in welcher mancher Unfchuldige fdjmere Dual erduldet. Unſer humanes Gefühl aber fträubt fid) dagegen und fträubt jid) mod) mehr gegen ben Gedanken, daß auf Grund von üuferrt aber trügerifchen Schuldbeweifen ein Unfchuldiger zum Ver- brecher geſtempelt und der peinlichen Strafe überantwortet werde; umd e8 ift nicht bloße Gefühlsweichlichkeit, fondern t$ liegt fittliche Berechtigung darin, menn man annimmt, baB durd) die ungerechte Verurtheilung eines Einzigen bod) auch der Gefellfchaft größerer Schaden gefchehe als durch die eventuelle Straflofigkeit mehrerer Schuldigen. Das Anfehen der Juſtiz leidet vielleicht mehr Kinbuße durch eine einzige ungerechte Verurtheilung; die fittlichen Begriffe werden mehr verwirrt durch den Schein allzu großer Härte, als burd) zu große Milde oder Aengftlichkeit, man wirft ein vielleicht fehr ungerechtes Mitleid auf andere Ver⸗ uttbei(te, man hält die Richter micht ferner mehr für Stelfvertreter des gerechten Gottes. Schon im Proceßver⸗ fahren ftehen zwei diametral auseinander gehende Auf: foflungen da: bie eine führt conjequent zur Folter; bie andere Bat jenes merkwürdige englifche Proceßverfahren er» zeugt, welches nicht nur dem Angejchuldigten erlaubt, auf eine Frage bie Antwort zu verweigern, wenn bieje ihm ſelbſt nachtheilig fein fünnte, fonberu geradezu gejtattet, ver- fängliche Fragen zurückzuweiſen, welches afjo Ernſt macht mit der alten Nechtsregel: in dubio favendum reo. Nicht weniger ftehen fid) verfchiedene an fid) bered- tigte Anfchauungen gegenüber bezüglich des Urtheilsſpruches jelbft wie bezüglich des Strafvollzugs. Man hat bie Ausübung ber Juſtiz unter jene Gebiete gezählt, auf welche Theol. Quarialſchrift 1876. Heft I. 4

50 Linſenmann,

der Probabilismus zum voraus keine Anwendung finden könne; nicht nur, daß man nicht die wahrſcheinliche Meinung einer anderen wahrjcheinlicheren vorziehen dürfe, fondern ἐδ [εἰ überhaupt im Zweifelfalle ſchlechthin nadj der Forderung des Geſetzes zu handeln; eine noch fo wahrfcheintiche Meinung gegenüber bem Gefeße dürfe für den Richter nie- mals leitend fein. Mit diefer Theorie reiht man aber Düdjften8 aus in Sachen des Strafvollzugs nadj gefülftem Urtheil, nicht aber in Sachen des Urtheilsfpruches (elbjt. In Saden bed Strafvollzugs gibt e8 nur ein Gefek, weiches eben auf dad Verbrechen eine beftimmte Strafe fett; der Richter muß bieje Strafe guerfennen, ob er fie ihon vielleicht für allzu Hart ober aud) für allzu gelinde halten möge; und bod) gibt aud das Strafgefeg bem ub. jeftiven Ermeffen in vielen Fällen einen gewilfen Spiel- raum, indem e8 einen Rahmen feitftellt für Ausmeſſung des Strafmapes. Der Gedanke, audj mur einen Tag im Strafgefängniß zubringen zu müſſen, ift jedem nicht ganz rohen Menjchen ein entjeglicher Gedanke, und wie εὐ, wenn c8 fih um Monate und Jahre handelte? Sollte c8 wohl einem gewiffenhaften Richter fo leicht von der Seele weg gehen, ob er dem Sculdigen, wie ba$ Strafgeſetzbuch es offen läßt, Jahre, Donate, ober auch nur Tage mehr oder weniger zulege? Immerhin kann man hier mit einigem echt jagen, day Freiheit und Gefeß fid) gegenüber. ftehen. Dagegen in Sachen des Urtheilsipruches (tet Gefeß gegen Geſetz; bier gibt e& nicht blo8 eine opinio pro libertate, fondern aud) ein ejet pro libertate, [o paradox dies den Probabiliften flingen mag und fo wenig bieje Aus- brudémcije in ihre Argumentation paßt. Die nähere ὅτε klärung liegt in Folgendem: Es ijt allerdings Geſetz,

Ueber Pflichtencolliſion. 51

oder jagen wir Grunbjag, daß für ben Richter üt erfter Linie der objektive Beweis des Thatbeſtandes maßgebend ift; er muß fchuldig ſprechen, wenn ber juridifche Beweis formell genügend erbradjt ijt, obfchon er fubjeftiv mit größter Wahrjcheinlichkeit den Angeklagten für unjchuldig hält und manden Grund haben mag, au der Wahrhaftig- feit der Zeugen und Zeugeneide, air der Gewiſſenhaftigkeit der Sachverjtändigen u. j. m. zu zweifeln; und er muß einen Angeflagten, objchon er ifm mit einer gewifjen mo: ralifchen Meberzeugung für jdjufoig hält, jreijpred)en, wenn das Beweismaterial zu einer juribijdjen Ueberführung nicht genügt. SYnjoferne trifft.aud Hier wieder zu, baf ber Richter nid) auf fubjeftipe Meinung hin, fondern nad) ber Strenge des Gefeges zu urtheilen habe. Aber die Unzu— länglichkeit diejer Auffalfung ijt in der Theorie und Praxis der Rechtspflege beutfid) geworden; mau hat erkannt, daß der Nichter nod) nicht über jedes Gewifjensbedenken oder jede Pflichtencollifion Hinmweggehoben ijt, wenn man von ijm verlangt, daß er einzig mad) dem objektiv erbrachten - juribijdjen Beweis das Schuldig fpreche ; vielmehr begimit das Gewiſſensbedenken von neuem, jo oft der Richter dar- über im Zweifel ijt, ob der befagte Beweis wirklich evbrad)t [εἰ oder nicht. Darüber gehen eben die Meinungen unb Aus⸗ iprüche jowohl der Einzelnrichter als der Serichtshöfe oft genug auseinander. Man ijt zu der GrfenutuiB gelommen, daß man doch ber fubjektiven Meinung des Richters ein Recht einräumen müffe; ja man hat.fogar, was die Schuld- frage anlangt, der Annahme Raum verjtattet, daß der un⸗ befangene Rechtsſinn von Laien (Gejchworenen, Schöffen) richtiger unb unbefangener nach fubjektiver Ueberzeugung ur» theile, als der Fachjuriſt, der in den Netzen juriftiicher | 4*

59 : Zinfenmann,

Caſuiſtik befangen fei. Seit man in dem Inſtitut der Ge- jchworenengerichte der fubjeftiven Weberzeugung Raum ge- geben hat, muß man ein Recht gleicher Art auch dem Einzel- ridjter zuerfennen, und man wird ἐδ in höherem Grabe fónnen, je höher gebildet, je unabhängiger und fittlich reiner ber Richterſtand eines’ Landes dafteht. Und barum müffen wir auch hier darauf beftehen, daß dem Richter troß des ,, Θ ἐς ſetzes“, das, ihm feine Handlungsweiſe vorfchreibt, zahlloſe Pflichtencollifionen nicht erfpart bleiben. Die Doppelreihe von Pflichten zieht fid) Aber mod) weiter durch alle anderen Obliegenheiten der Rechtspflege Din; überal wo εδ fid) barum handelt zu ermitteln, wie die befte Art der Strafe gefeßlich feftzuftellen, wie die Gefängniffe einzurichten, wie ber Ge» fangene nad) feiner Individualität zu behandeln, wie für ente lafjene Strafgefangene zu forgen [εἰ u. f. w., überall fteben wir, wenn man ἐδ ern[t nimmt, vor einer Collifton von Pflichten; überall werden auf ber einen Seite Rückſichten ber Milde und Schonung, auf der anderen Rückſichten der Strenge und ber ftriften Gerechtigkeit, Bier Rüdfichten auf das Yndi- viduum, bort Rüdjichten auf die Gefellfchaft ftehen.

Endlich ſoll nur noch eines Pflichtverhältniffes gedacht werden, welches ebenfalls Heutzutage mehr zu denken gibt, als die theologische (απ εξ annimmt. Wir meinen die pflicht« und berufsmäßige Ausübung ber Heilkunde. Auch auf diefem Gebiet glaubt der moderne Probabilismus Alles gejagt und alle Schwierigkeiten gelöst zu haben, wenn er bie Ausnahme feititellt, bag hier nicht probabiliftifch, fonbern nur tutioriftiich verfahren werden dürfe. Das wäre freilich eine goldene 9tegef, und es wäre damit ebenfo den Aerzten wie der [eibenben Menfchheit gedient. Wenn wir indeffen ge- recht fein wollen, fo müffen wir aud) zur Ehre des ärztlichen

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Standes anerfennen, daß unfere Aerzte diefe Regel bes folgen; denn nicht nur wäre e8 unredjt, an ihrer Ge: wiffenhaftigfeit zu zweifeln, fondern fie unterftehen auch der Controle ber höheren Behörden und des öffentlichen Lir- theils; und Schließlich müßte ein Arzt bod) feinen eigenen Bortheil fchlecht verftehen, wenn er nicht lieber mit „sicheren“ Mitteln feine Patienten Deilte, a(8 mit blos „wahrfcheins lichen“ erperimentirte. Man braucht aud) gar nicht Theologe zu fein, um zu wilfen, .daß man am kranken Menfchen nicht etwa aus bíoBem Forjchungstrieh erperimentiren dürfe,

wo aud) mur mit einiger Zuverjicht bewährte Methoden mb Mittel angewendet werden fünnen ἢ. Es ijt aud nicht einmal an jenen Inſtituten, bie man ποῷ am eheften meicinifche „Verjuchsftationen” nennen fünnte, nemfid) an Univerfitäts- und ähnlichen Kliniken zu befürchten, bap ba- felbft in gewiffenlojer Weife „erperimentirt“ werde. Denn aud) bie Profefforen und Affiftenzärzte filllen ihre Jahr⸗ bücher bod) lieber mit Berichten über gelungene Kuren mit bewährten Mitteln, a(8 mit den Liften todter Opfer ge: fährliher Experimente; ‚und fie zeigen ihren Schülern bod)

1) Als ich in meiner früheren Abhandlung über Probabilis⸗ mus (a. a. Ὁ. ©. 271 ἢ) eine bierauf bezüglicde Bemerkung machte, glaubte ich zu der Annahme berechtigt zu fein, daß man mir nicht bie brutale und verbrecherifche Lehre infinuire, als dürfe der Arzt um des wiflenfchaftlichen Experiments willen ein Denfchen- leben preisgeben oder gefährden. Selbft wenn meine Darftellung bieje Ausdeutung nicht ausbrüdlidj ausfchließen würde, hätte ich den Anſpruch machen können, daß etta mipbeutbare Worte im befieren Sinn audgelegt werden. Wenn jolde Rückſichten nicht mehr gelten zwiſchen Schriftitelern, die nur durch bisputable Meinungen von einander getrennt find, [o kann ich mich mit Dar- fellungen über meine Lehre, wie fie der Anonymus im „Katholik“ (. a. D. ©. 556 f.) gibt, nicht ferner außeinanderjegen.

M

LI

54 Linfenmann,

gewiß lieber, wie man Kranke heilt, als wie man fie frünfer macht ober dem Tode überliefert. Aber wer and unr aus jener Entfernung, welche zwifchen ber Theologie unb bem medicinifchen Studium zu beftehen pflegt, einen Blick in den heutigen Stand der Heilfunde wirft, ber muß wiffen, wie (efr von Jahr zu Jahr unter Theoretifern und Prat- tifern ber Glaube an und das Vertrauen auf bie foges nannten ficheren Mittel dahinſchwindet. Weder Waſſer⸗ nod) Feuerkuren, weder Blutentziehungen noch PBurganzen halten Stand vor der methobdifchen Prüfung; mit Aus nahme weniger afut mirfenber Mittel gegen ganz engbe- grenzte akute Krankheitsſymptome gibt es vielleicht fein einziges Heilverfahren, von welchen man mit Zuverficht behaupten Tann, daß e8 auf Patienten verjchiedener Gom. plerion, verschiedenen * Alters und Gefchlehts oder ver- ſchiedener Lebensweiſe mit gleicher Sicherheit angewendet werden könne; immer mehr bricht fid) bie Anſchauung Bahn, daß bie Kranken nicht nad) beftimmten Gattungen von Krankheiten nad) vorausbeftimmten Recepten, fondern bag fie nach ihrem individuellen Wefen behandelt werden müjfet. Die Fragen, ob man ein befchädigtes Glied εἴς halten ober amputiren, ob man ftarfe oder Leichte Dofen geben, ob man fehmerzverhindernde Mittel, 3. 3B. bie Chloroformmarkofe anwenden, ob und in welcher Doſis man Morphium geben, ob man Blut entziehen, ob man bei ſchwerer Geburt den faijeridjnitt machen dürfe, alle bie[e und hundert ähnliche Fragen müſſen in jedem einzelnen Falle neu beantwortet werben; jede ftellt den Arzt vor eine Pflichtencollifion, in welcher ἐδ jid) um ein Grperi» ment handelt, wovon Dunbertfü(tige8 Wohl oder Wehe ab. hängt. Und nun frage ih: follte ein Arzt nie ein neues

Ueber Pflichtencollifion. 55

dem heutigen Stand der Forſchung mit Gewiffenhaftigfeit entnommenes Heilmittel anwenden dürfen, folange mod) irgend ein altes von der Tradition feit Dippofrate8 ge= beiligtes Recept für eine ähnliche Krankheit exiititt, oder tidtiger, jofange nicht alle im früherer Zeit einmal für fier angejehene Arzneien und Methoden durchprobirt (inb ? Bergeffen wir nicht, daß es fid) Hier überall um Zweifel—⸗ fälle Handelt, nicht um Krankheitsfälle, in denen der Arzt feiner Sache ficher ijt, daß aljo der Vorausjegung gemäß der Arzt guten Grund hat zu befürchten, daß bie jogeit. ficheren Mittel den gewünfchten Erfolg nicht haben möchten! - Es bleibt ein» für allemal dabei, die Frage ift [αἱ geſtellt, wen man fragt: jteht e8 dem Arzt frei, ein neueres, nod) weniger erprobte8 Heilverfahren einzujchlagen? Entweder it er verpflichtet, das eine, ober er ijt verpflichtet, das andere zu wählen. Wir find aber in Wirklichkeit allefammt, fo oft wir des Arztes bedürfen, Gegenftand eines Experi: ments; ber einzige Arzt, ber nicht experiinentirt, ift der Tod.

4. Söfung und $dhuf. |

Wir können uns begüglid) unfrer legten Aufgabe, eine Löſung für die manigfachen Verwicklungen menſchlicher Bflichtverhältniffe anzugeben, fura faſſen. In vielen Fällen ift e$ dem praktischen Blick des verftändigen Mannes doc) nicht fo ganz ſchwer, wenigftens annähernd zu ermitteln, welche von zwei Pflichten oder Stüdjidgten für den Moment die höhere und Heiligere fei. Man pflegt zur SOrientitumg des Verftandes auf diefem Gebiete gemijje allgemeine Regeln aufzuftellen wie 3. 8. daß Pflichten in. Beziehung auf das Seelenheil den Rückſichten auf geringere Güter umd Sorgen, daß die Nechtspflichten den Liebespflichten, daß bie

56 Zinfenmann,

Derufspflichten den Brivatangelegenheiten, daß die Pflichten gegen nähere Angehörige denen gegen Fremde vorgehen. Dieſe Regeln, die hier weder erſchöpfend aufgezählt noch einzeln erklärt werden ſollen, ſind nun aber ähnlich den Sprichwörtern, die in der Anwendung auf den einzelnen Fall wieder eine Art von Räthſel bilden und einer beſondern Auslegung bedürfen. Blos „ſcheinbare“ Pflichtencolliſionen wären mit ihnen leicht zu löſen; aber die wahre Pflichten⸗ collifion liegt eben darin, daß fid) im Augenblick nicht mit Sicherheit ermefjen läßt, welches die frühere Pflicht fei ober durch welche Handlungsweiſe unmittelbar das Seelenheil gefährdet werde. Auch ber Biſchof von Paderborn nimmt hierauf Rückſicht und fchließt feine Darftellung vom fog. perplexen Gewiffen mit den Worten: „Kann ich es aud) mit beftem Bemühen zu feinem entjchiedenen Urtheile bringen, welche von zweien oder mehreren zufammentreffenden Pflichten id auszuwählen babe, fo genügt die größere Wahrfchein- lichkeit; und follte auch diefe nicht zu gewinnen fein, fo darf ich beliebig wählen, und felbjt wenn ich mid) in meiner Wahl wirklich vergreifen wiirde, würde ich nicht [ünbigen : Gott fiet dann auf den Willen und nicht auf die That.“ (a. a. Ὁ.) Wir haben biefen Worten Martins nichts Hinzuzufügen ; wir erkennen in ihnen eine vollgültige Löſung der von der Theorie erhobenen Schwierigkeiten; in dieſer Löſnng ift jene Freiheit gewahrt, welche der Probabilismus zur Anerfeunung bringen will. Diefer eine Sag Martins genügt, um den ganzen Apparat der Syſteme des Probabilismus in unfern Handbüchern entbehrlich zu madjen ; nähere Auffchläffe über Löſung der fehwierigen Fragen des Lebens vermag aud) ein. bejonnener Anhänger des Probabilismus nicht zu geben.

Ueber Pflichtencollifion. 57

Ein Bedenken anderer Art aber fat fidj bem Verfaſſer diefer Abhandlung während feiner Arbeit aufgebrüngt unb es ift ihm von Zeit zu Zeit ſchon am Schreibtifch wie auf dem Katheder aufgeftiegen. Geht nicht, fo hat er fid) ge» fragt, durch bieje ganze Auffaffung der menschlichen Pflicht- verhältniffe ein Zug von Sfepticismus, der mit ber chrift« lichen Moral nicht recht Stimmen will? Wenn fo mandje Pflichten in Zweifel gezogen werden, menn Lebensanſchauungen, die bisher für unerjdjüttert galten, jet mit Berufung auf veränderte Zeitverhältniffe oder auf fortgefchrittenere Erfennt- nig ber Gefege des Geſellſchaftslebens angetaftet werden, wenn jefbft bie Lehren des Katechismus nicht mehr aus; reihen follen, um bem Menſchen eine Richtſchnur des Lebens zu fein, langen wir da nicht bei jener Sophiftit an, deren Stärke darin befteht, ba& allgemein Angenommene mit Grün- bm für oder wider in bie Discuffion zu ziehen und mit blendenden und überrafchenden Syllogismen zum Wanken zu bringen? Redet aus folcher Darftellung nicht jene Seelen: ftimmung, in welcher der Dichter fagt: Daß wir πἰϑ δ wiffen fünnen, das will mir fchier das Herz verbrennen ?

Die Antwort aud) auf diefes Bedenken kann kurz fein. Es ijt jhon im Laufe biefer Abhandlung eine, wie mir Iheint, genügende Einfchränfung gemacht worden. Der eigent- lichen und peinlichen Goffifionen find e8 in Wirkſichkeit nicht fo viele ; die,einfachern Lebensverhältniffe, in denen bie Mehr: zahl ber Menſchen fid) bewegt, geben auch weniger zu benfen unb ftellen Teichtere Aufgaben. Wem aber viel gegeben und anvertraut ift, dem find auch bie Gaben ber natürlichen, CrlenntniB, fomie die Hilfsmittel der Bildung und Lebens⸗ erfahrung veichlicher erſchloſſen.

Fürs zweite dürften wir wenigftens Tatholifchen Gegnern

58 - Linſenmann,

gegenüber geltend machen, daß bie von uns behauptete Un⸗ fiherheit mancher moralifchen Entfcheidungen feinen. größern Stepticismus enthält, als er in der probabiliftifchen Doktrin zu Tage tritt; ja unfre Lehre dürfte eher a(8 die leßtere geeignet fein, die praftifchen Zweifel des Lebens zu löfen.

Aber daß überhaupt Unficherheiten unb Gewiffens- ängften übrig bleiben, und namentlich für diejenigen, welche Doe und verantwortungsvolle Stellungen befleiden, dies ijt im Menſchenweſen jefójt begründet, und auch bie hriftliche Offenbarung ändert die Natur der menschlichen Erkenntniß nicht dahin ab, daß wir hienieden [jon zur vollen Gemwißheit gelangten. Es ift uns, fo lange uns nicht eine außer: ordentliche Offenbarung darüber gegeben wird, nicht möglich, mit voller Gewißheit zu willen, ob wir in Allem gethan, was zu unſerm Seile nothwendig ift. Es gibt feine Heils- gewißheit, und auch nod) für den Chrijten gilt das Wort: „Es find die Geredjten unb Weifen und ihre Werke in Gottes Hand, und doch weiß ber Menfch nicht, ob er ber Liebe oder des Hafjes würdig fei, fondern Alles iff für bie Zukunft aufbewahrt und ungewiß.“ (Ekkleſ. 9, 1. 2.)

Dennod) aber find uns auf der andern Seite in unferm heiligen chrifttatholifchen Glauben Schäte ber Erfenntniß auf- bewahrt für jene bunfefn Augenblicke des Meenjchenlebeng, G8 gibt innerliche Erleuchiungen, die uns weiter führen ale der natürliche Verftand; wer gläubig und mit kindlichem Sinne um Erleuchtung und Einficht betet, den wird bie Gnade führen.

Und aufer diefer innern göttlichen Hilfe fteht den Gläubigen aud) der Zugang offen zu den Trägern der kirch⸗ lichen Auftorität , - zu den Lehrern unb Hirten der Völker, damit fie dort Rath unb Weifung empfangen können. Auch

: Ueber Pflichtencollifion. 59

bier, [εἰ e8 bei einem erleuchteten Beichtvater, [εἰ e8 in einem guten Buche ober wo immer, haben fie mehr ale Menichenrath.

Der Berfaffer diefer Abhandlung glaubte die Angriffe in den citirten Artiteln des „Katholik“ nicht ganz unbe- achtet laſſen zu dürfen; e8 ſchien ihm aber nicht nothwendig, dem Angreifer Schritt für Schritt nachzugehen und früher Gefagtes aus dem Grunde zu wiederholen, weil ἐδ der Gegner ignorirt, aud) ift er nicht ber Meinung, daß er gerade das letzte Wort haben müſſe. (6 gibt für den Theologen in biefer Zeit nod) andere Aufgaben.

2. Verſuch einer Erklärung von 1 Corinther XV, 22—28.

Bon Chriftinn Schmitt, Kaplan in Bruttig.

gr gen

Das 15te Kapitel des erften Briefes an die Gorintber, deſſen fojer Zufammenhang mit dem Vorhergehenden nur durch ein farblofes dà, Vers 1 aufrecht erhalten wird, ente hält eine im jid) feft gefchloffene polemifche Gebantentette, welche der reiche dialectifche Geift des Apoftel8 gegen die, Leugner der Auferstehung: in's Feld führt. Die Enthüllungen, welche darin über die efchatofogifchen Fragen gegeben werden, find einerjeit die ausführlichften, verglichen mit dem 4ten Kapitel des erften Schreibens au die Thefjalonicher und mit den Reden Jeſu Matth. XXIV und XXV, andererfeits vom Apoftel ſelbſt auf gleiche Linie geftellt "mit den lekt- citirten Aeußerungen. des Herrn und als Inſpirationen harakterifirt, die aud) des paulinifchen Geifte8 Macht und Gebanfenfülfe weit überragen und hinter fid) laſſen; denn da, mo der Fortjchritt der Rede an dem „Wie“ ber Auf- erftehung fid) aufhält, deren wirkliches Eintreten Dereit8 bei Job vorauéperfünbet ijt, führt er feine Bürgfchaft auf Offenbarung Gottes’ zurüd: $3. 51 heißt es ἐδοὺ „uvorr- ριον ὑμῖν λέγω. Um und nun über den Standpunkt

Schmitt, Verſuch einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28, 6]

unferer Gregefe be8 fpeciell vorgejeßten Abjchnittes V. 22 —28 fofort anszufprechen, fo wird berjelbe der glänbige fein, welcher eine „Auferftehfung aller Todten“ ſchon von vorn herein fefthält und mum berjudjt, diefe Mitgift unferes Glaubens gegen die Schwierigkeiten, welche fich erheben folften, zu vertHeidigen, Hoffentlich zu einiger Befriedigung. Diefe Stelle atomijtijd) zu erklären, find wir nämlich einmal nicht berechtigt, denn Paulus feBt, von ber Leugnung der Anferftehung abgefehen, den ganzen fonftigen chriftlichen Glauben voraus, er hat e8 afjo nur darauf abgefehen, auf» zudeden den Widerfpruch, in den man fid) verwidelt, wenn man auf dem Boden des dhriftlichen Glaubensbewußtſeins ftehen will (Werd 1: ἐν καὶ ἑστήκατϑ) und bie Auf- eritefung wegen ihrer Schwierigkeiten nicht annimmt. Wenn e8 feine Auferftehung dev Zodten gibt fo hatte der Apoftel den unklaren Gedanken der Gorintfer, Vers 16, nachgeholfen dann ift audj Chriftus nicht auferftanden ; diefen Fundamentalfag jegt aber der Apoftel als unum⸗ ftößlicd, feft bei den Lefern voraus, und fo wollen wir aud) nit Ungläubigen gegenüber vertheidigen, was für Gläubige gejagt ift. Sodann, menn mir die Stelle gegen einen 9ta» tiomaliften , ber ohne Borausfegung an fie Derangebt, um nift zu jagen mit größter Voreingenommenheit er- flären wollten, fo wäre es beffer, unfer Unvermögen eine zugejtehen, denn mit Zuhilfenahme des Glaubensbewußtſeins ft bie Erklärung fchon ſchwierig und vielleicht noch fraglich, ohne baejefbe aber, afjo die Stelle ganz für fid) allein was wir atomiftifche Eregefe genannt haben bietet fid) gar feine Ausficht, zu einem Verftändniß zu kommen. Mir haben davon einen fprechenden Beweis in dem neueſt ev» ſchienenen Verfuche von Alfred Krauß, theologiſcher Com⸗

62 ο Θά,

mentar zu 1 Gor. XV (1864). Dieſer Theologe ijt feines wegs voranjegungslos aw diefe Verſe Berangetreten, fondetn er jegt den Glauben voraus, aber freili feinen Fiducials glauben ; bie πίστις 38. 14 und 17 „ift bei Paulus nicht Fürwahrhalten der chriftlidhen Lehre, fondern die fichere Ueberzeugung von der Verführung des Menjchen mit Gott" (sic). Nun, zu welchen Folgerungen hat ihn die Gonfequenz feines Princips geführt ? Zu der Abjurdität: bie origeniftische ἀποκατάστασις τῶν πάντων in unſern Berjen „nicht blos den einzelnen Ausdrüden nad), fondern in der ganzen Ge⸗ banfenreife zu finden. Wird nämlich alle Belehrung über bie Auferftehung Bier gefucht, dann ift die ber Böſen nimmer zu finden, weil fie bier nicht zu finden, deshalb giebt εὖ feine, fondern, damit Alle unter der 38. 28 „ob τοῦ Χριστοῦ“ genannten Kategorie zur Auferftehung gelangen fónnen, müf- fen fie erft Chrifto eingegliedert, in diefe Kategorie aufge- nommen werden; mit diejem Gedanken geht man dann an $5. 25 umd beftätigt das ſchon oben Behauptete: „Chriftus foll herrſchen, bis der legte Feind überwunden ijt“; mun aber „nicht von ihm überwunden, b. D. unerlöst“ fterben viele Meuſchen (von ber Gnade und Liebe Gottes nicht bes zwungen). Ueberwunden find fie erit, menn Chriftus ihnen Mittler be8 Lebens geworden. Alfo muß fid) feine Thätig⸗ feit in’8 Syenjeit8 hinein erftreden, alſo aud) bie Auferftehung Allen ohne Unterfchied zu Theil werden. Dennoch aufer- jtehen, wann ein Jeder in ber ihm eigenen Ordnung wird belebt werden, nad Chriſto eben Diejenigen, welche ibm angehören; von Anderen wird Nichts gefagt. Daraus müffen wir jdíiejen, bap, ba auf der einen Seite Chriftus aud) jenjeit8 noch die Feinde überwindet, und auf der andern nur, bie Chrifti find, auferftehen, eben alle Menſchen Ehrijti

Berfu einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28. 63

werden follen. Die Weltentwicdlung wird aud) im Jenſeits demnach nicht aufhören und wird eben die Kontinuität der dießfeitigen Heilsaneiguung fein." Dieſe Schlußreihe wird dann jdjeinbar von dem Apoftel felbft gekrönt, daß dann Gott Alles in Alleın fein werde." Wenn man dann den Begriff von „Tod“ nicht präcis faBt, fo „„beſagt V. 26 offenbar, daß ber Tod nicht blos bei Einigen (den Gläubigen) nicht mehr ftatthat, bei Andern aber nur befto mächtiger herrſcht a(8 zweiter (aber in ganz anderem Sinne bod) wohl fogenaunter nota scriptoris!) Tod, fondern daß er überall nicht mehr ijt, was nur dann eintritt, wenn die Go»; Alles in fid aufgenommen Hat und Gott Alles in Allen ijt"". Olshauſen, bei Krauß citirt.

Solche 9tejuítate laffen es vütbfid) erfcheinen, daß man fi mit bem Verſuche bejcheide, nachzumeifen, mit dem ganzen chriſtlichen Glauben (ajje fid) diefe Stelle wohl in Eihflang bringen, wenn man nur ihren aphoriftiihen Charakter bes begreifen wolle.

Da bie Ueberſetzung unferer Verſe, foviel uns bekannt, nicht zweifelhaft ift, in dem vubig und majeftätiich hin» fliegenden Strom der Rede fid) feine Winfel verwidelter Conftructionen finden, fo wird unfere Aufgabe darin beftehen, dem Apoftel madjgubenfen, wid) ihn Vers fir Vers unb Wort für Wort zu erklären. „Wir arbeiten“ fagt oben- genannter Krauß in ber Vorrede, „niemals im ftrengen Vortverftand felbftändig, fonberu befommen unfere Gedanken immer nur in der Befruchtung durch Vorgänger oder im Widerfpruche unjerer Individialität gegen dieſelben.“ Indem wir dieſe beſcheidene Aeußerung zu unſerer eigenen machen, ſeien hier ſogleich die Quellen genannt, zu denen dieſe Arbeit im Abhängigkeits-Verhältniß ſteht. Das iſt außer der

64 Schmitt,

Summa bes hl. Thomas: Möhler, Hafe, G[tiuS, Cornelius a €apibe, Calmet, befonders das Werfchen von Alfred Krauß

Quther, ber jog. Neformator des 16ten Jahrhunderts war durch den eigenen Hang zu übertriebener Strenge und MWerfthätigleit zu dem entgegengefegten Ertrem getrieben worden, fo daß er nun von der Gnade Alles erwartete; bei Pelagius, dem Rationaliften des 5ten Jahrhunderts, rief bie übertriebene Geringfhägung der ſittlichen Kräfte des Menſchen, melde er in der fremden MWeberjpannung des Snadenbegriffes finden mochte, nun feinerfeitd bie über- triebene Betonung der menfclichen Kräfte hervor und er wählte zu feiner Xebensanfgabe die Vertheidigung der Selbit- geredjtigteit. Die faljd)e moraliſche Richtung, welche wie immer, jo aud) den Pelagius, gebieterifch zu einer begrün- genden dogmatischen Doctrin drängte), Tief nun aus in fol» gende Säge: „Bon einem Zufammenhange der Dienfchheit mit Chrifto, wie wir einen foldien mit Adam haben weil

jonít unfere Idividualität nicht lebte, ift feine Rede!

Zwar leben wir durd Adam b. ἢ. durch den Gefchlechts- zufammenhang mit ihm, aber wir fterben nicht wegen Adam ; hat ber eine Sünde gethan, jo hat diefe ihm gejchadet, aber nicht, infofern fie ihn zum Tode gebracht hat. Adam wäre auch geftorben, wenn er nicht gefündigt hätte; wie nun der Menſch nicht ftirbt wegen Adam, fo fteht er aud) nicht auf wegen Chrifti Auferftehung.* Wie nach Pelagius der Tod mit der Sünde Adams nichts zu thun Hat, hat man in unferer Zeit wieder behauptet, daß „es fogar einleuchtend bewiefen werden könne, wie ſchon vor bem Sündenfalle förperliche Uebel, Untergang, Krankheit und Tod graffirt haben.“ „Der ob fat von Anfang an eriftirt!^ vuft Carl Vogt aus (jiebe Reufh, Bibel und Natur p: 106.

Berfuch einer Erklärung über 1 Gor. 15, 22—28. 65

2.Aufl.). Wie aber bie fleifchfreffenden Thiere fein Argument wären diefe Goncejfion feheint aber unberechtigt für den Zod unter den Meenfchen, und wir [εξ an den Stellen des alten Zeftamentes in ihrer einfachen und natürlichen Auffaffung ftehen bleiben, fo machen wir uns auch die 23er» drehung nicht zu eigen, welche Pelagius mit den Stellen des neuen Zejtantentes vornehmen mußte, in denen unfer Sterben mit dem Sterben und Sündigen Adams in caufafen Zuſammenhang gebradjt ift, fondern halten an bem, was fie bejagen, ohne Deutung feft. Gerade fo ent[djieben das di ἑνὸς ανϑρώπου ἁμαρτία sig τὸν κόσμον εἰσῆλϑεν, καὶ διὰ τῆς ἁμαρτίας ϑάνατος im Römerbrief ijt, Kapitel 5 Vers 12, nidjt minder ernfthaft gemeint ift das »ἐν" τῷ Αδαμ in unferm erften Verſe (rejp. Kap. XV, Bers 22). Hätte Paulus fagen wollen, was ihm Pelagius unterjchiebt, daß Adam der Gr[te gemejen, der bie menſch⸗ liche Sterblichkeit als Opfer ergriffen und num den Tod jedes Individuum ergreife, welches immer fein Leben von dem eriten menschlichen Leben empfangen hat, jo wäre das geradezu falfch, denn den Abel fand der ob zuerft „von Allem, was immer benft und fühlt im Erdenfaal“ vor [ὦ hingemworfen. Hiftorifch genauer als Paulus wäre bent doch immer nod) der große Katholifche Dichter Galberon be (a Barca, der den Tod im Nachtmahl des Balthafar jid) in folgender Weife felbft charakterifiren läßt:

Syd) bin des Gebornen End und Biel, Sd) bin'$, der aus der Sünd, dem Neid ent[tebt, Der einer Schlange Giftzahn einft entfiel, Die „Thür’ der Welt in Abel” id) erſpäht Eröffnet bat fie mir Kain's BZorngefühl; Und feit fid) alſo eingeführt mein Graus Führt er Jehova's Strafgerichte aus!

eof. Quartalſchrift. 1876. Heft I. 5

66 Schmitt,

Die beiden Glieder des Satzes 22, welche burd) ὥσπερ οὕτως miteinander verglichen werden, find nicht fo aufgufajjen, als bejagten fie: wie das im erften Theil Enthaltene eine natürliche Ordnung fei, fo das durch οὕτως Angejchloffene eine übernatürlihe! Auch von Adam ift hier mur auf bent Boden der Webernatur bie Rede, von bem ihn aber ber Sindenfall entfernt hat. Die dona super addita: welche neben der Heiligkeit und Gerechtigkeit aud) nod) ein Präjervativ gegen die natürliche Hinfälligleit und Sterblichkeit des menfchlichen Körpers enthielten, find dem Adam nicht mur für ihn, fondern das ganze Gefchlecht ver- liehen worden, in Chrijto kommen fie wieder ben Menſchen zu, nachdem ber erjte Empfänger ihrer für das ganze Ge- Schlecht verluftig gegangen; die Anfterblichkeit aber hat jet einen anderen Charakter, fie ift „Wiederbelebung.“ Wenn, wie wir eben negirten, in „worseg γὰρ ἐν τῷ Adau παντες αἀποϑνησκουσιν" von beu Menfchen als puren Naturwefen bie Rede wäre, als welche diefelben freilich aud) ſchon Hätten vergehen müſſen ihrer Qeibfidjfeit nach, dann wäre hier eine Gntjdjeibung gegeben Über die Frage: wären bie Menfchen aud) geftorben, wenn der erjte Repräſentant nicht mit über- natürlichen Gaben überffeidet worden wäre?“

Das geſchieht aber von Paulus nicht; bie Philofophie mag den Menjchen abjtraft betrachten, wie er hätte fein fónnen: nämlich al8 natura pura und mag dann fagen, ale joídje war derjelbe ein compositum, alfo lösbar, fterbfid), und bie Theologie, welche fid) diefer Philofophie anbequemt, um ben Menjchen verftändlich zu werden, Hat auch den Sat aufgeftellt: „Deus hominem sie corpore affectum et constitutum effinxit, ut non quidem na- turae ipsius vi, sed divino beneficio immortalis esset

Verſuch einer Erklärung von 1 Cor. 15, 22—98. 67

et impassibilis.“ Catech. rom. P. 1. c. qu. 18; an und für fid) ift ber Menfch a[8 natura pura nichts Wirf- liches, ein Phantom und von Paulus gewiß hier nicht ge- meint. Alfo, die Uebernatur ift der gemeinschaftlicde Boden, auf dem die Vergleichungsglieder einander gegenübergeſtellt werden, unb in ber That gibt e8 feine Antithefe, bie mit größerem Necht anfgeftellt werden könnte, als Ndam mit feinem Mißverdienſt und Chriftus mit feinem Verdienft, beide für den zum übernatürlichen Endziel berufenen Menfchen. Daß diefes DVerdienft Chrifti fid) bei einer großen Zahl von Menfchen zu einem Dannergefchent geftaltet, nemlich für die Zahl der Verworfenen, denen Chrijtus nicht zur Auferſtehung im ethiſchen Sinn gefegt ift, fondern zum Ruin nah Simeon's propfetifdjem Wort, Luf. II, 34, das kann die Vergleichung nicht abſchwächen; objektiv bes fm alle atf Chrijtus Getauften und fo myſtiſch feiner Menſchheit Eingegliederten die Gewähr der Wiederbelebung ; die „virtus salutifera^, fagt ber heil. Thomas 3 qu. 62 art. 5, „a divinitate Christi per ejus humanitatem derivatur .. . videlicet ad tollendos defectus prae- teritorum peccatorum." . .. Dieſe Menjchheit ift aber die glorreich verklärte wird nun daraus folgen, daß alle Menſchen ebenfo verflärt werden, die diefe Verklärung bei der Zaufe, b. D. der Eingliederung in den Leib Gfrifti, als Anſpruch und zukünftige Ansjicht mit empfangen ? das liegt in dem ζωοποιηϑήσονται keineswegs; das Wort ijt offen- bar abjichtlich fo gewählt, daß es in bonam et malam partem Yann genommen werden: „belcht zu werden“ hat für den ganzen und für jeden Menfchen Chriftus verdient; das „Wie“ liegt im Schooße der Gnade und des Meenfchen, oder vielmehr es ift das Kind aus ber Vereinigung Beider. 5*

68 Schmitt,

fOber foll aud) fchon in den Verſen 22 und 23 Halb ober gar von den Böfen unb ihrer Auferftehung feine. Rede fein ? Wenn aud) zugegeben werden müßte, bag in unjerer Stelle von der Auferstehung der Böfen Feine Rede fei, wilrden wir doch daran fefthalten; unfere Verſe ſchließen eine foldje ganz gewiß nicht aus; aber wir geben es aud) nicht zu, finden διε εῖδε im Gegentheil zum wenigften angedeutet in dem folgenden Vers. Doch bevor wir zur Erklärung des folgenden Verſes fehreiten, wollen wir aus unferer Gau: benswiffenfchaft, welche ja cfr. Seite 1 Paulus felbft vorausjegt, fuppliven, was der Wpoftel nicht aus brüdíid) jagt, was aber anberémoBer hinreichend bekannt ift. Daniel hatte fhon das πάντες ζωοποιηϑήσονταε ge- gliedert, „evigilabunt“, fagt er, c. XII, v. 2: alii in vitam aeternam, et ali in opprobrium, ut videant semper; im nenen Zeftament hat Chriftus felbjt bie all- gemeine Auferftehung verfündigt: Joh. 5, 28—30, omnes audient: et procedent (in zwei „Ordnungen“ gleichjam) qui bona fecerunt, in resurrectionem vitae, qui vero mala egerunt, in resurrectionem judici. Hiergegen werden zwar bie Exegeten, welche die heiligen Schriften auseinanderreißen, einmwenden, wie Baur gethan, „Das „Dogma von einer ewigen Verdammung gehört nur dem „Judaismus (in welchem alfo der Meifter felbft am meiften „befangen fein fol) an; der Apoftel fann fih nur eine „endliche Befeligung Aller denken.“ Nein „Baulus alfein"^ ift hier unbegreiflich 1!

Bers 23. „Ein Jeder aber in feiner Ordnung.“ Wir gebrauchen abſichtlich das unbejtimmte Wort „Orb mung" zur Ueberfegung, denn was könnte Xriffige$ ba» gegen vorgebrad)t werden, wenn wir hier den Apoftel ſtill⸗

Verſuch einer Erklärung oon 1 Gor. 15, 22—98. 69

jchweigend die große Scheidung machen laſſen, als deren großartiges Reſultat die beiden langen Menfchenreihen : bie benedicti inb maledicti anberswo genannt werden. Das bei fchließen mir nicht aus ,- daß bie Rangftufen in diefen beiden Ordnungen auch durch τάγμα berührt werden follen, ben Zertulfiam de resurrectione (bei Gafmet) hat gewiß Reht, wenn er folgende Erklärung gibt: „Ordo enim non aliud, quam meritorum dispositor.^ Wie bet Apoftel Hier viele andere Momente des großen Weltfchau- ſpiels, bejfen Schauplag die beiden Hemifphären fein werden, errathen läßt, 3. 39. die gewaltigen Kataftrophen an Erde und Geftirnen, womit jid) das Drama eröffnen wird, das Erfcheinen de8 Siegers mit dem Kreuze am Himmel, ble Ansfendung der Engel u. f. w., fo unterläßt er ἐδ aud, dem Engelamte der Sichtung am jüngften Tag vorzu⸗ greifen; daß diefe Ordnung, wenn fie ftattgefunden, eine höchft mannigfaltige Gliederung ergeben wird, liegt in der Verfchiedenheit des Verdienftes ,ve[p. Mißverdienſtes. Wenn „oft Schon der febenbigíte Glaube und der burchdringendfte „Verftand miteinander Schiffbrucdy gelitten haben, fobald „sie fid) in das gefährliche Meer ber Gonjefturem über das „Senfeits gewagt, und bie Hypotheſen über bie genaueren „Zuftändlichkeiten des Jenſeits meift Träume und Schäume „und nichts weiter find“, fo wollen wir uns gerne θὲς icheiden, über bie 9tangorbnung in der anderen Welt etwas Beftimmtes aufzuftellen. „Auch für die [pefulirenben Theo- „logen Hat ber Herr das Wort gefprochen: „Durch eure „Geduld gewinnet eure Seelen!““ (Krauß. pag. 171.) Allein es find- Feine trüben Phantafien blos mehr, mae man mit der Heiligen Schrift begründen Tann. Nun, eben diefe Heilige Schrift jprid)t deutlich von gradnellen Unter⸗

10 Schmitt,

fdjieben der Seligfeit (woraus wir dann ex analogia auf dasfelbe fhließen mad) der anderen Seite Bin!) Gott felbft wird Allen ihr „übergroßer Lohn“ fein (Gen. XV, 1), und biefen einen Denar empfangen alle Arbeiter, bie be- lohnt werden; allein die Seligen werden fich bod) unter- fcheiden, wie unfer Brief im Verlauf des 15. Kapitels B. 40—42 je(bft erffärt; fodann ſchaut der heilige Jo— hannes in ber Apokalypſe verfchiedene Gruppen unter ben Seligen, die si licet magna componere parvis fi von anderen abheben, wie im Reich ber Vögel bie Arten und Gefchlechter vermitteljt ihres Farbenſchmuckes und die Abtheilungen eines Heeres durch die verfchiedene Kolorirung der Monturen. SOber fieht er nicht eine Schaar, bie ein Lied jingt, was Niemand fonft fingen Tann, bie bem Lamme folgt, wohin ἐδ geht? So ἱ{ 8 benfer wir fein bloßer Traum, wenn in unferen chriftlichen Gedanken vom Himmel außer den Engelchören aud) Seligen- höre finden! Cyn ber Mitte oder im Brennpunkte des großen himmlischen Confortiums die heilige Menſchheit bes Gríófer& (neben ihm bie hochbegnadigte Mutter), umringt von immer weiteren concentrifchen Kreifen der Seligen; barunter werden ganz hervorleuchtend nicht ohne Grund gedacht: bie Jungfrauen, b. D. die, welche nicht blos ehelos geblieben, fondern bieje Enthaltung von allen fleifchlichen Lüften aus höherer Liebe zum Gottmenjchen gewählt haben.

Diefe SBebentuug al8 „dispositor meritorum" geben wir mit Zertullian dem Ausdrud τάγμα in Vers 23, durchaus nicht die „zeitliche“ ; im erſten Sakgliede finden wir die Stufenfolge, im zweiten die zeitliche Aeihenfolge. Wäre bod) aud) im anderen Falle das erſte Sütschen über⸗ flü[fig! Bis hierher gibt uns ber Apoftel nod) feine Ver⸗

Verſuch einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28. 71

anfojfung , die Erwähnung ber Böſen bei ber Auferftehung vermiffen zu wollen, bie Ausdrüde: „Lmorsoindnoorra“ und γτάγμακ find fo umfaffend, daß es Boreingenommen- heit verriethe, fie exc(ufio auf die „Guten“, bie benedicti des Mith. c.25 v. 34 befchränfen zu wollen. Aber im folgenden Verstheil, der von der zeitlichen Ordnung des Auferſtehens ſpricht, ift «8 bod) ein empfindlicher Mangel, mtt Chriftus und bie τοῦ Χριστοῦ erwähnt zu finden. Aber ift das der ganze Mangel? Ich glaube nicht; εὖ ift die Aufzähltng des Apoftels fo unvollftändig, daß er von ber überaus großen, ja bei weiten größeren Zahl von Menſchen, bie von Chrifto nichts wußten, wod) wiffen, gar kine Erwähnung tut. Man fünnte nun den erften Mangel, bie Nichterwähnung ber böfen Chriften, bie das Glück ihrer myſtiſchen Einverleibung mit Chriftus verjcherzt und den Üübernatürlichen Lebenszweck verfehlt haben, ἰῷ fag, ihre Nichtaufführung unter den Wiederbelebten könnte man nod) Dinmegargumentiren und jagen, [ie jeten aud) unter den „os τοῦ Χριστοῦ ἐν τῇ παρουσία αὐτοῦ“ ſub- ſumirt; Teßtgenannte Phraſe bedeute dann foviel als: „Alle Menfchen, bie bi8 zum Ende der Zeiten in die Gemein« Ihaft mit Chrifto burd) die Taufe getreten find, unb am großen Tag ber Krifis als folche fid) vorfinden, bie mit Ehrifto, um uns [o auszudrüden, etwas zu thun haben, denen das Tau (ba$ von, Ezedhiel c. 9 v. 4 prophegeite Zeichen) aufgebrüdt ift, ba& Kreuz, fei e& als Erfennungs- zeichen des Bundes, ober als Kainszeichen ber Verwerfung. . .. Alle bieje erftehen „nach“ Chriſto. So wäre dem Mangel abgeholfen ; freilich jchent man fid) bod) in etwa den Herrn ale Eritling folchem Gefolge vorangehen zu laffen! Aber die zweite bedeutendere Oteticeng bliebe bod)

79 Schmitt,

10d); mir recurriren deshalb für beide auf die Tendenz des Schriftſtellers, nur ganz jummarifch den Heilsrathſchluß Gottes in Betreff ber letzten Ge[djide der Menfchen Din» zuzeichnen. Hier möchten wir aber nod) befonders auf einen Punkt Gewicht legen, der vielleicht über bieje Stelle und bie Verfchweigung der Böfen das meifte Licht werfen könnte. Wir haben gejagt: der Apoſtel theilt in unſerem Schrift: ſtück, welches der Vorwurf unſerer Unterſuchung iſt, den univerſellen Heilsrathſchluß Gottes mit. Nun! in dieſem Rathſchluß iſt von den Böſen keine Rede, die Abſichten Gottes werden nur nachträglich gekrenzt; urſprünglich, wie ſie im Schooße des Vaters verborgen ſind und wie Sanct Paulus ſie zu ſchauen gewürdigt iſt (man halte feſt, daß er von einem Myſterium ſpricht, v. 51, was er bem Weſen uad) ſchon hier mittheilt), zielen fie auf die SBejefigung und verf(ürte Wiederbelebung aller Menfchen in Chrifte. Wie der echte chriftliche Dogmatifer mun überhaupt nur das an⸗ gibt, was jefig macht, und über die, welche faftijd) felig erben, nichts beftimmt, noch weniger aber über gewiſſe Klaſſen von Menſchen ben Stab- bricht, aljo aud) tfut ber Meifter unter den fpefulativen Theologen, wenn e$ erlaubt ijt, ihn fo zu nennen, der heilige Paulus,

Die Reticenz Hinfichtlich derer, welche mit Chriftus feine Verbindung eingegangen jinb, uod) eingehen Tonnten, zieht fid) aud) burd) das Folgende hindurch, denn die βασιλεία, wovon Vers 24 gemeldet wird, ift bie Kirche, an welcher eben feinen Theil haben, die weder dem Leibe nod) der Seele Ehrifti inforporirt find, und deren find ſehr Viele geweſen wie fchon gejagt, bi$ zur erjtem An funft und werden aud) nod) Viele fein in den Zeiträumen bis zur zweiten Parufie, von welch’ letzterer allein in 23

Verſuch einer Erklärung oon 1 Cor. 15, 22—28. 73

9tebe ijt. Bevor wir von Vers 23 uns abwenden, erlib- rigt noch, aufmerfjam zu machen auf bie tieffinnige Ans fpielung , welche den heiligen Paulus gerade den Ausdrud „Eritling“ zur Bezeichnung Chrifti als des Reigenführers ber Erftehenden wählen läßt. Chriftus ift erftanden am 16. Nifan, an dem Tag, wo man Gott die Erftlinge der neuen Früchte darbrachte; er, bie [ebenbige Erfüllung des ſymboliſchen Gebrauches, hat auch in biejem, wie in vielen anderen Punkten, den Abfchluß und die Krönung des alten Bundes vollendet. Gottes PVeranftaltungen find überaus wunderbar vor unferen Augen, bie, weil fie blöde find, jene nur nicht alle durchſchauen! Vers 24. „Dann ift das Ende“ nümlid), um ἐδ zu ergänzen: das Ende „aller Onadenerweifungen Gottes“ ; bieje8 Ende ijt zwar [dou gelommen für alle Entjchlafenen, aud) für bie im Fegfeuer Befindlihen, denn auch fie find nicht mehr in statu via- toris unb ihr Wirfen ijt abgefchloifen; Möhler zwar [djeint das τέλος in ber von uns beftimmten Weife nur für bie a(8 Feinde Gottes Entjchlafenen anerkennen zu wollen; denn, menn er ba8 Fegfeuer befchreibt, a(8 ein Eingehen der verfchiedenen mit bent Bundeszeichen ber Liebe (wohl die heiligmachende Gnade?) abgeichiedenen Gläubigen, in ſolche Berhältnifje, die ihrem mod) mangelhaft veligiös-fitt- lichen Geiftesleben entfprechen und dasjelbe vollenden, jo wundern wir uns nicht, wenn Hafe diefe Bejchreibung in der „Polemik“ pag. 445 jeinem Proteftantismus vindi- citt. „Denn das ift nicht mehr eine bloße Stätte der „mal, bie ia bei aller Kräftigung durch Schmerz und „Kampf fo wenig, als ein Zuchthaus, für alle Geifter bie „rechte Reinigung fein würde, fondern eine Bahn zu mühe- „voller unb jo aud) heiterer Thätigkeit“. Dieje Ergänzung

74 Schmitt,

von dem, was den im Tode nod) nicht ganz Neinen fehlt, würde eine iyortfegung der Ginabenermeije vorausfegen, deren Ende bier der Apoftel bezeichnet. Was aljo, um von unſerer Digreffion zurücdzufehren, faftijd) ſchon cime getreten ift für bie in ber Feindfchaft Gottes Geftorbenen und auch die zum Burgatorium Verurtheilten, das wird für alle Menjchen eintreten:

„örov παραδιδοῖ τὴν βασιλείαν: am großen Hul- digungstag, wann der Sohn das Lehn dem Bater zurück⸗ erftattet und fagen kann: „Siehe, von denen, bie Du mir gegeben, habe „ich“ Keinen verloren“; zahllofe Menſchen freilich [iub ibm nid t gegeben gewesen, mie man das wohl von den meiften Heiden vor Chriftus zugeben muß, ohne deshalb ihre Verdammung auszusprechen, denn die Wege Gottes jut Befeligung feiner Kreaturen find ung nicht alle offen- funbig; nur wiffen wir, daß universae viae Domini misericordia sunt Pfalm 24 ; zahllofe aud) hat „er“ nicht verloren, fondern fie haben fid) felbft verloren.

Mit diefer 9tüdgabe Seitens des Sohnes, welche auch die unendliche Xiebe offenbaren wird, mit der er den ein- zelnen Geretteten. nachgegangen ijt, um fie zu vette, wird gleichzeitig bie Entwaffnung der feindlichen Mächte, bie bem durch die Zeit Dinburd) wirkenden Erlöſer entgegengetreten waren, [tattfinben. Bezwungen jmd zwar die in der Ab- wendung von Gott erftarrten Geifter in Chrifti welter: föfender That, aber unjdjübíid) jind fie nod) nicht, υἱεῖς mehr find die Natur und bie Menfchen ihren Madjinationen ausgefeßt; ihr Gegenſatz fpitt fid) gegen das Ende ber Zeiten in der Weife zu, daß fie einen Repräfentanten aller dämonifchen Wirkfamkeit auf die Erde fegen in der Perfon be8 Antichriftes,; deſſen Fall wird ber Oppofition die

Verſuch einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28. 75

thätige &pite für alle Zeit abbrechen unb die böfen Geifter werden dann alle Ewigkeit hindurch ein Denkmal der furcht⸗ bar ernten Geredjtigfeit Gottes fein. So wird ihre Grifteng jeden anderen Zweckes entleert, dennoch wirb fie nicht unnüß fein. Es ift Zweck genug, wenn ſie als Monu⸗ mente einer göttlichen Eigenſchaft beſtehen, wie ja ſolche Monumente einer anderen göttlichen Eigenſchaft, nämlich ber Allmacht, bie zahlloſen Weltkörper find, bie wir im Raume bewundern, oder wie die Millionen Tchierchen in einem einzigen Waffertropfen für unjer Denken feinen ans deren Zweck Gottes erfüllen, als den, uns Menſchen zu dem Ausrufe zu drängen: „Domine, Dominus noster, quam admirabile est nomen tuum in universa terra“. Vers 25. Er, nämlich Chriftus, jo heißt c8 nun weiter, „muß“ herrfchen „bis“ uw. f. m. gemäß der Dispo⸗ nirung, welche der Vater getroffen Dat, und die aus den Pfalmworten herausleuchtet: Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis donec ponam . . . etc.; a(jo diejes ,muB^ ift Folge des göttlichen Rathichluffes ; δα ἄχρες nehmen wir ohne (ohne) Bedenken, wie bie Exe⸗ geten ἐδ auch in ber Sielle bei Matthäus 1, 25 und fonft nehmen. Wenn e$ erlaubt ijt, in einer willenfchaftlichen Arbeit, aud) einmal einen tröftlichen Nefler, den das Schriftwort nahelegt, nicht zu unterbrüden, jo möchten wir hier uns bewußt werden, wie zu jeder Zeit der Kampf, welcher auf die Vernichtung der Herrſchaft Chrifti gerichtet . t, eim vergeblicher ijt gemäß dem Wort, daß Gbrijtue bereichen muß. Oder mer fühlt nicht den Troſt, den unjer Ber8 dem riftlichen Beobachter der gegenwärtigen trau- rigen Zeitverhältniffe einflößt? Dod) wir find überzeugt, daß unfere Arbeit einen exegetifchen und feinen fonftigen

76 | Schmitt,

Sed hat, unb Tehren deshalb eiligft zu unferer Aufgabe zurüd.

Ders 26. „ALS letzter Feind wird der Tod vernichtet.“ „Tod“ ift hier im engen Sinn des Wortes zu nehmen; ἐδ ift alfo im feiner Weife Hier geſagt, daß aud) der Zuftand der Verdammten nicht mehr fortbauere, welcher nod) ſchlim⸗ mer fein mag als der Tod und wohl mit‘ Recht ein „zweiter Tod“ genannt wird. Ja! der Tod mag im Ver- gleich zu diefer Zuftändlichkeit nod) ein wahres Glück fein, weshalb auch die, welche die VBerdammmiß über fid) ein- brechen fühlen, den Tod der Zerfchmetterung vor- ziehen, ähnlich mie der Dichter der Auferftehung -(Klop- ftod im 19. Gefang) feinen Verdammten beten läßt zu dem Richter: | Taufend Donner find um Dich ber, nimm einen ber taufend, Waffn' ihn mit Allmacht, tödte mid), Sohn, um der 2iebe willen, Deiner Erbarmungen willen, mit denen Du Beute begnapigft.

Laß mid) fterben! Bertilg’ aus Deiner Schöpfung den Anblid Meine? Jammers!

Vers 27. (8 ift oben erklärt worden, Chriftus fóune bei der O9tüdgabe der Herrichaft jene Worte wieder gebrauchen, die fein hohepriefterliches Gebet ent- haften: „Alle, bie Du mir gegeben haft, Keinen davon habe ich verloren“, zahllofe Menſchen hätten fid) aber felbft

verirrt wie die Schafe; zahllofe feien aud) nicht ifm ges geben gemejen: wie mum joff unfere Behauptung, die rüd- „fichtlich ber meiften Heiden anfgeftellt war, bejtehen mit unferem Verſe: „Alles Hat er feinen Füßen unterworfen“, b. B. der Vater dem Sohne unterworfen?! Ganz wohl! Es ift ein Slaubensfag, dem wir nicht zu nahe treten: „non est in alio aliquo salus, nec enim aliud nomen est sub coelo datum hominibus, in quo oporteat nos

Verſuch einer Erflärung von 1 Gor. 15, 22—28. 77

salvos fieri, wie der heil. Petrus fo ſchön jagt Actor. 4, 12: b. B. ἐδ fommt feine Gnade zu ben Menfchen, ale dur bem einen Gmabenermerber, den einen Mittler im Gentrum der Menſchheit, oder vielmehr durch feine Heilige Menfchheit, welche der Heil. Thomas in ber [don oben citivten Stelle 5 q. 62 art. 5 das instrumentum con- junctum der Gnadenjpendung nennt. Auch die Heiden vor Chriftus, die ihre eigenen Wege gegangen waren, haben, wenn fie in der eigenen Ohnmacht und Hilfe bebürftigfeit fid) nach einem Erlöſer fehnten, ba8 Heil üt Chriſto ergriffen; aber trot der großen Zahl, welche wa» mentlich zu Chrijti Seit der dargebotenen Hand die eigene längft eutgegenge[tredt hatten, war die Sehnfucht nad) Hilfe von Oben, um das eigene Gewifjen mit feinen Forderungen zur Ruhe zu bringen, bei der größeren Maſſe umgejchlagen in Berzweiflung, der anima naturaliter christiana ge= nügen zu können; deshalb alfo hieß ἐδ oben, aus bem (δὲς fidtépunft der faftijdjen Erwerbungen, bie der etit viel [piter in die Dienfchheit eintretende Erlöfer fdjon vor feinem ' Eintreten gemacht fatte: es feien zahllofe Menfchen ihm nicht gegeben gewefen; dies. ift aljo aus der Retro— jpective gefehen -gewiß aud) ba8 Richtige, im Rath: ſchluſſe Gottes waren alle Menfchen dem Erlöfer übergeben und dieſen tbeift der heil. Paulus Hier Vers 27 mit. Aber das πάντα bezieht (id) nicht bío8 auf bie Menfchen, aud) die Natur reckt das Haupt in die Höhe nach ber Er» (öfung 1), und wie durch die Wunder des Herru hier und ba der Schwarze Schleier be8 Fluches gelüftet wurde, [jo

1) 7 ydp anoxapadoxia τῆς κτίσεως; τὴν ἀποκάλυψιν τῶν υἱῶν τοῦ ϑεοῦ ἀπεχδέχεται, Röm. 8, 19. | 4

T8 ' Sm,

wird berjelbe einft ganz weggezogen werden, wie Friedrich Ὁ. Schlegel fo ſchön es befingt in einem Gedicht, das wir hier nicht umhin können, aufzunehmen : Noch bedt ein trüber Wittiwenfchleier Der fünftigen Vollendung Feier, Und Trauer hült die Schöpfung ein. Bis einft det Schleier wird gehoben Muß ewig Klaggefang erhoben Bon Allem, was ba athmet, fein.

G8 gebt ein allgemeine® Weinen, So meit die Stillen Sterne |djeinen, Durch alle Adern der Natur. Es vingt und feufzt nach der Verklärung, Cntgegenjdjmadjtenb der Gewährung, In Liebedangft bie Greatur. ! Alban Stolz, der unvergleichliche Volksſchriftſteller, hat in feinem „Spanifchen“ pag. 30 eine ebenjo meifter- Dafte projaijdje Schilderung von der Sehnſucht ber Natur fad) der Unterwerfung in Chrifto gegeben; Beide: der Dichter und ber Brofaifer haben nur das ausgeſprochen, deffen vollfommene Erfüllung in dem „ozav δὲ ὑποταγῇ αὐτῷ τὰ πάντα be$ Verſes 28 liegt. Wir ftehen näm- (id) dann wieder am einem Punkt, mo Gott der Vater eine Befihtigung aller feiner Werke vornehmen wird, wie er eine folche ‚zu unterjchiedlichen Malen angeſtellt pat, eritlich: alle Tage der Schöpfungswoche und jobann am Ende der Woche, wo er bau gefunden bat, bag Alles, was er feiner Hand αἱ Schöpfer entlajfen hatte, „gut“ war. So wird er dann finden, bap Alles ihm burd) den Sohn als Gr- löfer „unterworfen“ ift. Daß der Zuftand, in welchem die Verdammten verharren, feine Unterwerfung jei, wie dies oben als eine protejtantiihe Behauptung referirt wurde, ftebt zu behaupten; was heißt dann Unterwerfung ?

Verſuch einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28. 79

Das Webergeordnetjein des Vaters v. 27, vejp. - bie Unterwerfung des Sohnes ift eine Beziehung, die nur zwiſchen der Menschheit Chriſti und der erjten 3Berfon in der Gottheit obwaltet, und liegt in der Natur der Cade; denn, jagt der heil. Thomas: „Principalis causa effi- ciens gratiae est ipse Deus, ad quem comparatur hu- manitas Christi sicut instrumentum conjunctum" 3 q. 62 art. 5.

„Damit Gott Alles fei in Allen“ ober in „Allem“, jo jchließt endlich ber Apoftel. Nachdem wir aud) von ber Zurücführung der Natur in Ehrifto und ihrer Befreiung von dem Fluche gefprochen, dürfen wir das ἐν πᾶσιν nicht auf bie geiftigen Kreaturen befchränten, fie find aber frei- [ἰῷ primario loco gemeint. Diefe Worte können mannig- faf) mißverftanden werden; aber, wenn fie zur Begründung des Pautheismus mißbraucht werden, jo bat man eben nah biblischen termini gejucht, mo es dann zu verwun⸗ dern geweſen wäre, wenn man nicht folche gefunden, die sensu accommodatissimo cin Phantafiegebilde in philo⸗ ſophiſchem Gewande bezeichnen könnten. Kann irgendivo deutlicher der Pantheismus verurtheilt fein, a(8 in unferen Berjen, in denen, mie auf pem Theater die Rollen an die einzefnen Akteurs um einen foldzen Vergleich zu ge: brauden fo an die Perjonen der Gottheit beftimmte Funktionen vertheilt werden, wo diefelben in höchſter (ἐς bendigkeit und Wirkſamkeit auftreten: der eine als Welt- -bejminger, ber zweite, ale Herr jeglicher Herrfchaft, in dejien Namen Alles gejchieht, im dejjen Hände Alle ihre Unterwerfung niederlegen. Da wir unfere vorgeitedte Auf: gabe überjpannen wilrden, wenn mir an biejem Ort philo- leppijde Griinde gegen das Syſtem δὲδ „Alleins“ vot.

Schmitt, "tem, mad) der vorauégebenben Exegeſe der ganzen Stelle aber den Pantheiften jegliche Berechtigung aus des ει, Baulue Zheologie ihre Stichworte zu entlehnen, ab⸗ cproden ijt, jo fragt ἐδ fid jebt nur mehr, mie find "wn bie Schlukworte im wahren Sinn gemeint?! Cor- «uus Lapide citirt zur Stelle aus einem Briefe des

„Quod, inquit, Apostolus ait: Ut sit Deus om- ia in omnibus, hoc sensu accipiendum est. Do- inus atque Salvator noster nunc omnia non est in omnibus, sed pars in singulis: verbi gratia, in Salo- wone sapientia; in Davide bonitas; in Job patien- tıa; in Daniele cognitio futurorum; in Petro fides; in Phinees et Paulo zelus; in Joanne virginitas; in ceteris cetera. Cum autem rerum omnium finis ad- venerit, tunc omnia in omnibus erit, ut singuli Sanc- torum omnes virtutes habeant, ut sit Christus totus in cunctis."

Hiergegen hätten wir im affer Beicheidenheit ein Be⸗ denken; diefe Erklärung kheint, wenigjtend wenn Ernſt ge- macht wird mit dem, was der Wortlaut bejagt, jid) nicht gauz im Ginflange zu befinden mit unjeren Begriffen von ber Seligleit des Himmels. Hier in der Zeitlichkeit, jo verjtehen wir den Kommentator, ijt Gott mur jtüdmeije in ben Menſchen: in Salomone sapientia, in Daniele cognitio futurorum . . . in Joanne virginitas; in der Ewigfeit bingegew anguli Sanetorum omnes virtutes habebunt ; das Scheint bod) binanszulaufen auf eine Ueberfleidung aller Mehſchen nad einem Schnitt, glcidjjam an der Pforte ber Gwinfeit, beoor fir fid unter der Zahl der Himmelsbewohner δύσι einfinden: dieſe Werte jcheinen cine Unificirung zu

Verſuch einer Erklärung von 1 Gor. 15, 22—28. 81

bedeuten, bei der alle SSevjdjiebenfeit der glücklichen In⸗ fafjen des Himmels nicht mehr befteht unb die natürliche Ausftattung des Meenfchen, was ihn gerade zu dem Indi—⸗ viduum macht, welches er nun eben ift, fich unter ber Hand verflüchtigt. Daß der felige Himmelsgenuß aber jubjeftiv für Jeden derfelbe fein werde, ift nicht Lehre ber Kirche. Gott ift zwar objektiv ein und derfelbe, aber bie unendliche Fülle bieje8 einen Sonnenlichtes wird, prisma⸗ tiſch getheilt, fid) ergießen über bie verfchiedenen Seelen und e8 werden nicht einmal die Seelen alle zufammen den ganzen Strahlenbündel in fid) umfaffen, denn fie find fub. jektiv vielleicht für manche Seite des göttlichen vielfeitigen Weſens gar nicht empfänglich. Es erfcheint 3. 8. als eine Ihale Freude, wenn man bem fchlidhten, hausbadenen Ver⸗ flanbe vormalen wollte den Genuß, welcher einen fpefula- tiven Geijt zu folgender Apoftrophe an die himmlischen Freuden veranlaft:

„Die Freude an ber erfannten Wahrheit zählt befannt- ,lid) Schon Hienieden zu den reinften Genüffen, gegen welde „alle Sinnenfreuden verjchwinden. Nun ſiehe! dort werden „alle Probleme der Wiffenfchaft gelöst vor uns liegen. In „der Philofophie, welche von ihren Schwankungen befreiet „fein wird, werben wir bie leßten Gründe ber Dinge ets

„kennen; in der Geſchichte, welche zu einer vollendeten .

„Theodicee geworden, werden wir ben Leitfaden göttlicher „Weisheit und Gerechtigkeit bewundern; die Geelenfumbe „wird uns die tiefften Geheimniffe des menjchlichen Herzens „erfchließen ; die Naturkunde wird uns Einficht geben über „die Harmonie des Weltalls, das Sonnenſyſtem und den „unermeßlichen Aetherraum, in welchem die Weltlörper „reifen, den Tanz ber Sphären und bie (egtem Gründe Vheol. Quartalſchrift. 1876. Heft I. 6

82 Schmitt,

„der Phänomene, welche uns jegt fo oft in Grftaunen „ſetzen. Doch was ijt alles dies? Durchſchauen werden „wir bie Gcheimniffe des Glaubens, wir werden fchauen „den Urquell aller leiblichen und geiftigen Schönheit felbft, „Sott den Dreieinen, ba$ lumen gloriae wird ba8 Geiftes- „auge des Seligen fühlen, daß er ab(ergleid) ungeblenbet „den Blick in die Sonne der Geifter hineinwerfen fani." Abgefchen von dem zulegt berührten Schauen der Gottheit, glauben mir, [fei das Uebrige eine natürliche, fo zu fagen eine Nebenfreude, für folche, welche ſpecielle Liebhaberei da- für haben, und welche von ‘Denen leicht entbehrt werden dürfte, bie in ber Anfchauung Gottes, oder vielmehr in dem unverlierbaren Beſitz desjelben, der einzig ihr Herz befriedigt, genug haben. Ya, wenn jene profane Weisheit, wie fie allerdings in Salomon fid) nnb zwar in hohem Maße vorfand, auch zu den virtutes gehört, welche bie singuli Sanctorum haben follen, fo können wir den Zweifel nicht überwinden, ob jid) da nicht manche Himmelsbewohner unter al’ dem Ballafte von Gelehrfamfeit gelangweilt finden werden! Und ferner: daß alle die eligen bie Geiſtesgabe ber cognitio futurorum befigen werden, it bod) nirgends gelehrt; uns dünkt das auch gar nicht mög- (id), weil wir auf die Ewigkeit nicht die Kategorie der Seit anwenden dürfen. Endlich, wenn der Beil. Hieronymus | meint, bap auch bie Jungfräulichkeit be8 Heil. Johannes, welche ja vorzugsweife aud) eine fürperfidje Integrität in fid) [Φίοβ, ein Gemeingut der verflärten Qeiber bilden werde, jo fommen wir wieder zu dem Schluffe, es kann ihm, mit feinen Ausdrücen wicht Grnft und von ibm bier unter virginitas höchſtens verftanden fein „das nicht mehr θεὶς rathen“ vgl. Matth. 22, 30.

Berfuch einer Erklärung bon 1 Gor. 15, 22—28. 83

Dagegen fcheint durch bae „Alles in Allen“ das ge- jagt zu fein, was der heil. Bernhard darin findet. Der Beſitz Gottes, als des höchften Gutes, wird jeden Wunfd) de8 Herzens erfüllen, bieje8 Herzens, das bod) fo (aumijd) und anſpruchsvoll; das (GebüdjtniB wird fid) mit ihm bes ftändig befchäftigen, ohne den Gefhmad davon zu vet: lieren; ber Verftand wird in ihm die Richtſchnur aller Ur» theile finden. Wir fchließen, indem wir bieje Stelle, welche bejfer als jedes eigene Wort, den Gebanfen des Apoftels wiedergibt, ganz hierherſetzen:

Quis comprehendat quam magna multitudo dulce- dinis in brevi isto sermone comprehensa sit ,Erit Deus omnia in omnibus ?* Ut de corpore taceam, ın anıma tria intueor, rationem, voluntatem, me- moriam: et haec tria ipsam animam esse. Quantum cuique horum in praesenti saeculo desit de integri- tate sua et perfectione, sentit omnis, qui ambulat in spiritu. Quare hoc, nisi quia Deus nondum est omnia in omnibus? Hinc est quod et ratio saepis- sime in judiciis fallitur, et voluntas- quadruplici per- turbatione jactatur, et memoria multiplici oblivione eonfunditur. Triplici huic vanitati nobilis creatura subjecta est non volens, in spe tamen. Nam qui replet in bonis desiderium animae,. ipse rationi fu- turus est plenitudo lucis, ipse voluntati multitudo pacis, ipse memoriae continuatio aeternitatis. O veritas, charitas, aeternitas! O beata et beatificans Trinitas, ad te mea misera trinitas mirabiliter suspi- rat quoniam a te infeliciter exulat! Wie [djón und treffend fpricht bier ber fonigfficBenbe Lehrer; man wird innert an den Vertrag, den ber Heilige mit Gott ge:

6*

84 Schmitt, Verſuch einer Erllärung von 1 Gor. 15, 22—28.

Ihloffen, und findet aud) in ben von und angeführten Worten, daß Gott ſeinerſeits diefen Vertrag gehalten, nämlich:

Totus in me silebo, ut tu solus loquaris in me!

8. Dad Geburtsjahr Ehrifti.

Bon Prof. Hehle.

(Schluß).

Bedeutender fcheint die Schon oben fignalifirte Schmwie- rigleit zu fein, welche der Zumpt’schen Auffaffung entgegen» geftellt wird durch die mehrfach erwähnte Stelle Antiqq. 18, 1, 1: (Κυρήνιος) ἐπὶ Συρίας παρῆν ... δικαιοδό- τῆς τοῦ ἔϑνους ... καὶ τιμητὴς τῶν οὐσιῶν. Sit nemlih bier zu τῶν οὐσιῶν aud) wieder ber Genet. τοῦ é)vovg zu ziehen, was wie oben gejagt ba8 Judenvolk be; denten joll, fo liegt darin allerdings ausgedrüdt, daß wie feine Miffion als δικαιοδότης fo aud) die al8 τιμητὴς fid) mit auf das Judenvolk bezogen. Allein dieſe Auffaffung eeiheint uns keineswegs als die einzig mögliche und ans geſichts der vielen andern angeführten Gegengründe auch nicht einmal als zuläſſig. Wir müffen in diefer Beziehung daran erinnern, was wir oben über die Worte ἐπὶ Συρίας geſagt haben. Grjdeinen fie und als ungenau und un⸗ pafiend wenn wir all das 9tadjfofgenbe bloß auf das Indenvolk beziehen, fo erfcheint uns dagegen ihre Wahl durchaus motivirt, wenn wir menigften& einen Theil des

8 6 ; Zumpt,

Folgenden auf ganz Syrien beziehen, nemfid) zummerg τῶν οὐσιῶν, fo daß alfo zu v. οὐσιῶν aus dem vorher: gehenden ἐπί Συρίας das Attribut τῶν ἔν Συρίᾳ gu et. gänzen wäre, eine Ergänzung, bie ganz ſelbſtverſtändlich wäre, wenn τιμητῆς τῶν ovo. unmittelbar nad) ἐπὶ Zv- ρίας «o» jtebem würde, bie aber Joſephus auch jet nod), nadjbem er δικαιοδότης τ. £9». zwiſchenhineingeſcho⸗ ben, immerhin ruhig feinen Lefern überlaffen fonnte aus 2 Gründen: fürs erfte nemlich weil fid) die richtige 3Be- ziehumg be8 zuuneng T. ovo. ſchon aus ber ganz kurz vorher gebrauchten Wendung arrorıuroousvog τ α΄ ἐν Συρίᾳ von jelbjt ergab und zweitens weil, wenn mirffid) damals eine Schatung in ganz Syrien ftattfand‘, feine Lefer durch die Kenntniß diefer Thatfache fogar der Möglichkeit enthoben waren, hier bei diefen Worten bloß an eine Schakung Judäas zu denken. Aber marum hat denn Sofephus nicht aud) ba$ τιμητὴς v. ovo. unmittelbar neben ἐπὶ Συρίας gejegt unb erft dann δεκαιοδότης τοῦ ἔϑν. bris gefügt ? Das erfchien uns freilich al8 das Nächitliegende aber nicht jo bem Joſephus, für welchen die Miſſion, die Quirinius fpeziell in Bezug auf fein Heimathland Judäa befam, viel mehr Anterejfe hatte als diejenige, welche fd zugleich auf ganz Syrien erjtredte, daher es denn aud) pſychologiſch recht wohl zu erklären ift, daß er die erftere Milfion vor ber legtern anführt.

(Freilich wäre bie Sache noch glütter und einfacher, wenn man aud) δικαιοδότης τοῦ ἔϑνους auf ganz Syrien beziehen, alfo £9vog im Sinne von Provinz fafjen könnte, welchen es bei Dio Gajfiu8 fonft fat. Und wirklich wäre am Ende aud) das bod) nicht fchlechthin unmöglich. Ob⸗ wohl Joſephus fonft mit ἔϑνος immer das Syubenpolf bes

Geburtsjahr Chrifti. 87

zeichnet, fo fonnte er bod) möglicherweife an diejer Stelle ansnahmsweife die Provinz Syrien bezeichnen wollen und diefe Auffaffung mußte jid) feinen Lejern ſchon durch das unmittelbar bavorjtehende ἐπὶ Συρίας nahe legen, ja fie mußte ihnen, falls fie aud) fonjt wußten daß bie Miffion be8 Quir. aí8 δικαιοδότης jid) ebenfalls auf ganz Syrien eritredte, als die einzig mögliche erfcheinen und eine Stel: beutigfeit, welche für uns in bem Sorte &Ivog liegt, war für fie ausgefchloffen. Doch wollen wir uns nicht weiter bemühen, diefe Annahme plaufibel zu machen, da fie, wie wir oben gezeigt zu haben Hoffen, nicht durchaus nöthig ift zur Wegräumung der Schwierigfeiten, welche der Zumpt'⸗ iden Auffaffungsweife (mornad) Joſephus eine Miſſion des Quir. zur Abfchägung ganz Syriens berichten fol) im Wege zu Stehen ſcheinen). Wir find übrigens aud) weit entfernt von ber Einbildung, durch obige Ausführungen Die Nichtigkeit der Sumpt'iden Auffaffung gegen allen Zweifel ficher geftellt zu haben. Vielmehr haben wir diefe Digreſſion mur beffa(ó uns” erlaubt, um einerfeitd nadjgumeifen daß diefe Frage einer eingehendern Erörterung bedarf und anderer- feits, da Zumpt diefe Erörterung verihmäht Dat, amdere hmbigere und gemanbtere Federn zur Vornahme derjelben zu veranlaffen, falls ihnen der Gegenftand —— ſo intereſſant erſcheinen ſollte wie dem Ref.

Uebrigens ſind wir durch die obigen Bemerkungen über die von Joſephus erwähnte Schatzung bereits von ſelbſt auf die Beſprechung des zweiten Abſchnitts unſeres Buches hin⸗ übergekommen, denn dieſer handelt ja wie wir zu Anfang geſagt, Tpeziell von der Schakung, aber freilich aunddjt nicht von der durch Joſephus berichteten, fondern von einer andern bei Lukas 2, 2 erwähnten. Zu allererft befpricht

88 | Zumpt,

der Verf. den von Lukas gebrauchten Ausdruck ἀπογραφὴ und bemerkt, daß derfelbe fonft bei griechifchen Schriftftellern von ftatiftiichen Aufzeichnungen, die mit dem Cenſus nichts zu thun Haben, gebraucht werde. Somit fragt e8 fid), ob nicht auch Lukas mit feinem Ausdrud ἀπογράφεσϑαι τὴν οἰκουμένην etwa eine ftatiftifch - topographifche descriptio orbis bezeichnen wolle. Zumpt unterzieht fid) einer genauen Beantwortung diefer Frage, aber Teider nicht fogleich mad): dem er fie im 1ften Kapitel aufgeworfen (p. 94—96), jondern erft im Aten Kapitel (p. 129 ff.), nachdem er in den beiden vorausgehenden Kapiteln eine lange Erörterung über den römischen Cenſus eingefchoben, was unlogiſch und unzwedtmäffig erfcheint, denn bie leßtere Erörterung ijt erft dann motivirt, wenn zuvor bie Trage gelöst worden, ob Lukas wirklich einen Cenjus oder aber etwas anderes meine. Wir müffen daher unfern Blick zuerft auf das 4te Kapitel werfen. 3. gelangt dort zu dem zweifellos richtigen Reful- tat, daR zwar topographifiche und geographijche Forſchungen zu Auguftus Zeit (unter Agrippas Oberleitung) ftattfanden (auf deren Grgebnijfen ja befanntlich auch die tabula Peu tingeriana bafirt), daß aber anbererjeit8 Lukas mit feiner ἀπογραφὴ τῆς οἰκουμένης nicht bieje Arbeiten gemeint hat, fondern etwas davon weſentlich Verſchiedenes, ſowie daß er unter οἰκουμένη nur das römiſche Reich verſtehen fónne (p. 145 f.). Jetzt, aber aud) erft jept, ift c8 motivirt inb gerechtfertigt, den Ausdruck des Lukas von einer Schagung zu verftehen, wozu übrigens auch nod) ein ‚anderer Grund da ijt, den auffallender Weife 3. (p. 96) nicht als jolchen anerkennen will, nemlich der, daR Lukas aud) in der δ. Θεῷ. 5, 37 denfelben Ausdrud von einer wirklichen Schagung gebraudht. Denn die dort erwähnte

Geburtsjahr Chrifti. 89

ἀπογραφὴ it unzweifelhaft identifch mit ber von Joſephus Antiqq. 17 extr.. und 18 init. erwähnten und von uns oben (weitläufig) befprochenen Schakung. Daraus darf man doch wohl mit Grund den Schluß ziehen, daR aud) an der erften Stelle des Qufa& (Ev. 2, 2) eine Schagung gemeint ſei. Viele ſahen das bekanntlich Für fo ſelbſtver⸗ ftändlih an, daß fie fogar behaupteten, Lulas meine bier die nemliche Schagung mie in der 9(p.Gejd). 5, 37, nur jege er fie hier um 10 Jahre zu früh an natürlich, ale ob Lukas die Zeit diefer Schagung bei Abfaffung feines Evangeliums nicht ebenjogut Hätte wiffen können als bei Abfaffung ber Ap.Geſch. Freilich wird diefe bloße Schluß. folgerung demjenigen nicht genügen, ber fid), wie Sumpt in jenem Buche, auf den rein Diftorijd)en Standpunkt ftellt. Bielmehr wird ein jolcher nad) hiſtoriſchen Anhaltspunkten für oder gegen die Angabe des Lukas fich umfehen. Zur Eruirung folder Anhaltspunkte hält 3. eine Betrachtung der ganzen Gejchichte des römischen Gen[u& von feinem Ent- ftehen an für nótfig, und behandelt daher im 3tem Kap. den Cenſus der Republik bis auf Güjar und im 4ten Kap. bie von Güjar und Auguftus bezüglich deſſelben getroffenen Einrichtungen resp. Verordnungen. So lehrreih und in- terejfant num aud) diefer Hiftorifche Ercurs an fid) tjt, fo ijt bod) der größte Theil desfelben, memíid) die Gefchichte des Cenſus bis auf Auguftus für die vorliegende Frage von _ feiner unmittelbaren Bedeutung, denn bis auf Auguftus handelt es fid immer nur um einen Genfus römiſcher Bürger, während Lucas ja von einer Schagung ber Pro- vinzialen vedet, die bekanntlich damals bis auf einen ver- Ihwindend Heinen Bruchtheil Nichtbürger waren. Don Wichtigkeit ift daher erft der Inhalt des 5ten Kap., wo

90 Zumpt,

Z. den Beweis antritt, daß unter Auguſtus eine vom Cenſus der in Italien wohnenden römiſchen Bürger total verſchiedene Schatzung der Provinzbewohner eingeführt wor⸗ den fei. Freilich geben uns die Schriftſteller bis zum 6ten Jahrh. vor Chr. keine direkte Auskunft darüber, aber dieſes ihr Schweigen wird von 3. p. 148 ganz richtig erklärt. Die einzigen unmittelbaren aber aud) volfgewichtigen Zeugen für bie fragliche Thatfache find Caffiodor und Suidae. Was Speziell die Angaben des erjtern betrifft, fo wird bie von Mommſen bezweifelte Selbftftändigkeit und Bedeutung bet felben von 3. p. 150 ff. treffend vertheidigt. Die etwa noch übrig bleibenden Zweifel fucht er durch einen indirekten αἰ! ber Gefchihte der römischen Steuerverfafjung entnom⸗ menen Beweis zu befeitigen (p. 156 ff.). Die nun im 6ten Kap. folgende Darlegung ber Modalitäten biejer Provinzial- ihagung führt ihn auf ben Verfuch einer Nachweifung bafi, während in den Senatsprovinzen bie Echabung durd) bejonbere Commiffäre vorgenommen worden, fie dagegen in den faijer- lichen Propinzen zunächſt den ordentlichen Legaten (Statt- haltern) übertragen und erft [εἰ den Kaifern Severns und Caracalla aud) Hier durch befondere Beamte beforgt worden [εἰ (p. 164). So habe denn aud) Quirinius die von Lukas Apgeih. 5, 37 unb Joſephus (A 17 extr. u. 18 in.) et» wähnte Schatzung Syriens im Jahr 6 n. Chr. als ordent- licher Statthalter vorgenommen. Daß aber biefe angebliche 2te Statthalterjchaft des Duir. burd) Aberles Ausführungen al8 mehr denn zweifelhaft hingeftellt worden, haben wir ihon oben gejagt. Zugleich ift in jenen Abhandlungen aud) der Beweis angetreten, daß diefe angebliche Verbindung des Schagungsamtes mit dem Statthalteramte unhiftorijch [εἰ und daß daher die Abhaltung einer Schagung burd) Quir.

Geburtsjahr Chriftt. 91

geradezu als ein birefter Beweis gegen eine gleichzeitige Statthafterfchaft desſelben zu betrachten fei. (Ὁ (Εν. 1865. p. 109 jf. und 1868 p. 30 ff). Diefelbe Anficht ift von Borghefe und mad) ihm von Huſchke („Ueber den Eenfus zur Zeit Gorijti^ 1847) ausgejprocdhen worden und aud) Nipperdey zu Tacit. Ann. I, 31 und XIV, 46 brennt fif zu ihr. Marquardt in feinem Handbuch ber Röm. Alterth. jteht in ber Mitte zwifchen der obigen neuen und der von Zumpt verfochtenen ältern Anficht, indem er zwar zugibt , daß ber Cenſus in den faiferlichen Provinzen zum Theil aud) durch eigene Beamte (censitores) abgehalten worden fei, wofür er Beifpiele anführt (9t. Alterth. ILI, 2, 171 f.) zum anbern Theil aber ihn von ben Statt- haltern beforgt werden läßt und fo peziell aud) ben Cenſus von Judäa im Sy. 6 n. Chr. durd) Duirinius ale Statt- halter von Cprien (9t. Alterth. III, 1, 189 f.). Wenn nun 3. dagegen bie überlieferte Anficht von ber durch— gängigen Verbindung des Genjitoramte8 mit der Taifer- lichen Statthalterfchaft verficht, jo ift fein Beweis jedenfalls ein febr eigenthümlicher und perumglüdter. Fürs erjte nem- (ifj führt er felbft (p. 164) eine Neihe von Fällen an, mo der Cenſus offenbar gerade nicht durch die kaiſerl. Statt- halter fondern durch außerordentliche Functionäre abgehalten worden (3. 3B. durch Anguſt's Adoptivföhne Drufus und Germanicus, ja fogar burd) 2 Unterfeldherrn des Tektern). Fürs zweite wird von demjenigen censitorcs melde er ale Beiipiele für die Vereinigung des Genfitor- und Statthalter: amte anführt entweder gar nicht bezeugt daß fie zugleid) ordentliche Statthalter legati gewejen (3. B. van ben bei Tac. Ann. XIV, 46 erwähnten 3 Männern), oder aber fie werden zwar üt den Infchriften bie er anführt (p. 165)

92 Zumpt,

als legati provinciae bezeichnet, aber ftet mit ben Bei⸗ fügen ad census accipiendos ober censitus ober ähnlichen, womit keineswegs implicite quégebrüdt ijt, daß fie zugleich ftändige Statthalter gewefen jeien, vielmehr weist bie Del» vetifche Inſchrift Or. 364 gerade bireft auf das Gegentheil bin, indem dort bie beiden 9(emter deutlich von einander unterfchieden find. Vgl. dagegen 3. p. 165. So werben denn auch merfwürdiger Weife eben btefelben Cynfdrif- ten von Marquardt (IIT, 2, 172) gerade als Beweismittel für die Eriftenz außerordentlicher Schagungscommiffäre, bie nidt zugleid Statthalter waren, angeführt, wozu er bemerkt daß ihr ordentlicher Titel geweſen fei: Leg. Aug. propraet. provinciae N. censuum accipiendi, wornad) alfo leg. prov. hier keineswegs „Statthalter der Provinz“ bedeutet! Iſt fomit Zumpts Beweis für bie regelmäßige Vereinigung des Schagungs- und Statthalteramts verfehlt, jo erfcheint darauf auch feine Behauptung (p. 180) unbe- gründet, daß der Statthalter bie Leitung des Cenſus in einem abhängigen Königreich, welcdes im Bereiche feiner Provinz fag, gehabt habe unb fo auch Duirinius bie Leitung der um Chrifti Geburt im Königreich Judäa vorgenommenen Schatzung (p. 181).

Vielmehr müſſen wir in Uebereinftimmung mit Aberles Ausführungen jagen: gerade deßhalb weil Quir. eriwiefener Maſſen Statthalter von Syrien war, gerade deßhalb hatte er nicht bie Yeitung der damaligen Schakung in Indäa. Wenn aljo Qufa$ zu ἀπογραφηὴ beifügt: ἡγεμονεύοντος τοῦ Κυρηνίου, fo will er damit nad) unferer Auffaffung nicht eine Angabe machen über ben Leiter der Schakung, fondern nur ba8 chronologifche Datum angeben, daß fie in bie Zeit falle, wg Quirinius Statthalter von Syrien

Geburtsjahr Chrifti. 93

war, eine Auffafjung, welche ſchon Justinus martyr zeigt, wenn er fagt: Ad Anton. Pium I, 34: τῶν ἀπογραφὼν τῶν γενομένων ἐπὶ ([) Κυρηνίου τοῦ ἐπιτρόπου. Cbenjomenig fünnen wir zuftimmen zu feiner Erklärung des Wortes πρώτη bei Quf. 3, 2: αὕτη ἀπογραφὴ πρώτη ἐγένετο ἤγεμον. τ. Kvo., beum Lukas foll nad) 3. p. 188 u. 189 damit ausdrücken molfen die erfte von Quir. αἵ Statthalter Spriens abgehaltene Schagung im Unter» (Bieb von ber zweiten durch demſelben Duirinius in feiner zweiten Statthalterfchaft abgehaltenen. Wir wollen ung nicht dabei aufhalten, daß hier πρώτη im Sinn von προτέρα gefaßt werden müßte, denn dieß müre allerdings nicht un« möglich, wie bie von Qujdjfe (Ueber den Cenſus p. 83 ff.) beigebrachten Beifpiele zeigen. Und ebenfo wollen wird bie ſprachlich-formelle Anforderung nicht allzuſehr premiren, ba Lukas in biejem Fall hätte fagen müſſen: πρώτη τῶν ὑπὸ (oder émi) Kvg. Der Hauptgrund ift vielmehr ber bereit8 angegebene, bag nemfid) diefe fogenannte erfte Schatung überhaupt nit von Quir. abgehalten worden, fondern bloß bie fpätere, ins Fahr 6 n. Chr. fallende. Alfo kann Lukas überhaupt nicht von einer erften Schagung des Quirinins im Unterfchied von einer zweiten bdesfelben Mannes reden wollen. Aber was foll denn ber Beifag πρώτη bedeuten? Zumpt findet (p. 188) daß aufer ber feinigen ^ nod) zwei Erflärungen in abstracto aufgeftelit werden köunten, daß aber beide in concreto unftatthaft fein, nemlich bie eine dahin gehend, daß dieſes überhaupt die allererfte Schagung gewefen, welche je in Indäa ftattfand, die zweite dahin, daß es bie erjte unter rümi[djer Herrfchaft geweſen jei. Bezüglich der erftern Erklärung num geben wir 3. zu daß fie unrichtig wäre weil mit einer pofitiven That⸗

94 Zumpt, T

: fade im Widerſpruch ftehend. Nicht [o bezüglich ber zweiten . wenn er p. 189 fagt, εὖ [iege ihr ber falſche Gedanke zu Grunde, daß fortan in regelmäßigen Zwiſchenräu— men römifhe Scatungen in Judäa gehalten morden. Dieſer Gedanke wäre freilic) falſch, aber er liegt keineswegs nothwendig diefer zweiten Erklärung zu Grunde. Vielmehr fan man aud) bann fchon bieje Schagung αἷδ erjte unter römischer Herrfchaft fajfen, menn man nur menigfteue vorausſetzt, daß überhaupt in fpäterer Zeit nod) mehrere ober zum alferwenigften ποῦ eine römische Sthatzung in Judäa ftattgefunben. Daß aber legtere Vorausſetzung richtig ift, zeigt ja eben bie oben bejprochene Angabe des Joſephus über die ungefähr 16 Jahre [püter vorgenommene zweite Schatzung und die Möglichkeit, daß auch biejer nod) mehrere folgten ijt von 3. felbft zugegeben (p. 189). Go: mit braudt man zur Grklärung des πρώτῃ bei Lukas weder die Annahme der Vereinigung des Genfitor- und Statthalteramts noch bie einer zweiten ſyriſchen Statthalter: Schaft de8 Duirinius herbeizuziehen, von meldjen, wie wir oben gejehen, die eine fo unbewieſen ift wie die andere. Dagegen erſcheint uns a(6 febr intereffant fein Wahrjchein- [idjfeit8bemei8 für den ganz verjchiedenen Charakter der beiden Schagungen (p. 190—207), woraus jid) nicht bloß aufs Neue die Unmöglichkeit ergibt, daß Lukas beide mit: einander verwechſelt haben fünnte, fondern aud) die Erklärung und Beltätigung mehrer Einzelheiten, welche Lukas bezüglich - ber erjten Schagung angibt, namentlich) daß Joſeph aud) Maria feine Vermählte mitnehmen mußte und daß fie nad) Bethlehem (nicht nad) S zu geben hatten (cf. p. 194 f. 208 f.).

Indem nun Zumpt im folgenden 8. Kapitel bara

Geburtsjahr Chrifti. 95

geht, aus der im Bisherigen feitgeftellten Thatſache ber von Lukas erwähnten Statthalterfchaft be8 Quirinius und der gleichzeitigen Schagung die chronologifhen Reſultate für die Beitimmung des Geburtsjahres Chrifti zu ziehen, tritt ihm eine nene Schwierigkeit entgegen. Indem nämlich Lukas jagt," ba bie mit der Geburt Chrifti gleichzeitige Schagung in die Statthalterfchaft des Duirinius falle, fo idjeint er in Widerſpruch zu kommen mit feinen eigenen Angaben und denen der anderen Evangeliften: daß Chriftus zur Zeit de8 Königs Herodes geboren worden fei. Quiri— nius Konnte nämlich erjt uad) bem Tode des Herodes nad) Syrien fommen, da nadj dem Zeugniß des Joſephus und des Zacitu$ (Hist. 5, 9) nad bem obe bieje8 Königs (anno 4 dv. Chr) Quintilins Varus die Funktionen eine® Statthalters von Syrien ausübte. Diefen Widerjpruch, den Schon Viele, neuerdings auch Mommjen, unbedenklich dem Qufa8 Schuld gegeben, ſucht Zumpt auf eigenthüms liche Weife zu löjen. Er weist darauf hin, dak Lukas wur bei Erwähnung der Scatung, nicht aber aud) bei Er: wähnung ber Geburt Ehrifti von dem Statthalter Duiri« nius ſpreche, alfo zunächſt blos bie Schagung, nicht aud) die Geburt Chriſti felbft nad) ihm batire (p.209). Diefe Datirung aud) auf Chrijti Geburt zu beziehen wäre nad) Zumpt blos dann nöthig, menm bie Schakung an einem Zag beendigt worden; habe aber bieje[be länger gedauert, was ſchon aus .inneren Gründen wahrjcheinlich [εἰ (p. 214), \o fonnte Teicht während derjelben ein Wechjel in der pers jon des fprijd)en Statthalters eintreten, jo bap die Schakung, obwohl Lukas fie nad) Quirinius datirt, doch fchon unter feinen Vorgängern, alfo 0d) zu Lebzeiten des Königs Herodes, begonnen haben fonnte, Diefe Möglichkeit werde

98ψ-" gumpt,

zur Gewißheit durch bie Angabe Tertullian’s, daß Sentius Saturninus, ber 2te Vorgänger des Duirinius, als Statt- halter Syriens (vom Jahr 9 v. Chr. an) um Chrifti Ge: burt Schagungen in Sprien abgehalten. Diefen Beweis fünnen wir nicht als jtichhaltig anerkennen, denn da nad unferer oben bewiefenen Auffajjung Cenfitur und Statt» halter niemals identifch waren, jo liegt für uns in dem Ausdruce Zertuffian'8 (census actus per Saturn.), os durch er ihn als censitor bezeichnet, eben bie Andeutung, daß diefe Schakung be8 Quirinius nicht in die Zeit feiner eigenen Statthalterfchaft falle, jondern in die eines anderen, ſei es nun die be8 Quint. Varus ober, wie ſchon San⸗ clemente annahm und ebenfo Ideler, die des Quirinius jelbft, wovon nachher. Iſt fonad in unferen Augen dieſes angebliche äußere Zeugniß für einen fo frühen Beginn der Schagung hinfällig, jo erfcheint uns die Annahme einer fo langen ‘Dauer derjelben (bom Statthalter Saturninus bi8 auf Duirinius b. D. vom Jahr 9—3 v. Chr.) auch aus inneren Gründen unwahrjcheinlih, fo 3. 3. [don wegen des relativ Kleinen Umfangs des Schagungsbezirts Judäa. Endlich hätte nad) unjerer Meinung Lukas, wenn Chriftus (mie Zumpt p. 224 annimmt) ſchon in der mit Saturninus’ Statthalterjchaft zufammenfallenden Schatzungs⸗ periobe geboren wäre, wohl aud) die ganze Schakung nicht erft nad) Quirinius datirt, der ja hienach von ber Zeit ber Geburt Chrifti durch bie dazwifchen liegende Statthalter: haft des Quint. Varus gänzlich) getrennt wäre. Co ijt ἐδ denn, wie uns feheint, dem Verfaſſer burd) feine wenn aud) jer intereffante Kombination nicht gelungen, ben oben angegebenen fcheinbaren Widerſpruch zu löfen, und wir fónnen an biefer Stelle unfer Bedauern nicht unterdrüden,

Geburtsjahr Chrifti. 97

daß Zumpt dem Löfungsverfuch Aberle's (Quartalſchr. 1865 p. 128 ff. und 1868 p. 45 ff) feine Beachtung fehentte. Legtere Gombination Bat fchon für ber erften Anblic vor der Zumpt’jchen das voraus, daß fie nicht zu ab[trabiren braucht von der nüdjtíiegenben und natürlichſten Auffaffung ber Lukasſtelle (2, 2), wornach der Evangelijt jowohl bie Schakung als and) bie Geburt Ehrifti in bie Statthalterjchaft des Quirinius verfegen will. Vielmehr geht fie gerade von diefer Auffaffung aus und fucht die Möglichkeit und Wahr- iheinlichkeit nachzumweifen, daß Quirinius jdjon in der fetten Zeit des Königs Herodes im juridiichen Sinne Statthalter von Syrien gemwefen, obwohl damals foftijd) Q. Varus mod) die Funktionen eines folchen ausübte, ein Fall ber nad) Tacit. A.l 80 unter Tiberius [febr häufig oocfam und eben barum (bon unter Auguftus nicht unerhört gewefen fein Tann. Zumpt führt aud) felbit, wiewohl in einem ganz anderen Zufamenhang ein recht jchlagendes Beiſpiel diefer Art au (p. 265), ba8 wir nachher nod) bejpred)en müjjen. Wir bemerken Hier nur nod, daß Sumpt durch Anführung diejes Beifpiel8 ein wenn auch ganz unfreiwilliger Bundesgenoſſe Aberles gegenüber ben Ziraden Hilgenfelds geworden ijt, welch Teiterer ein folches Faktum einfach als unmöglich zu effären beliebt hat! Hat 3. im 2. Abfchnitt das Nefultat gewonnen, baB Ehrifti Geburt in bie Statthalterjchaft des - Saturninus, näherhin in das Jahr 8 ober 7 v. Chr. fällt p. 224, jo ſucht ev dasfelbe im 3. und letten Abjchnitt mod näher dahin zuzufpiten, daß fpeziell da8 Jahr 7 bae wahre Geburtsjahr fei. Die Beweisgründe dafür find febr mannigfaltig, zum Theil ziemlich weit Devgefolt. Zunächſt eonftatirt cr, bab ber Anfang des J. 4 v. Ehr. ber [pütejte Termin fei, bi8 zu welchem möglicher Weife Chrifti Geburt Test. Quartalſchrift. 1876. Heft I. 7

x

98 Zumpt,

herabgerüct werden fünnte, weil Herodes im April desfelben Jahres ftarb, bemerkt aber fogleih bai man thatfächlich nicht fo weit herabgehen dürfe wegen ber vielen unb längere Zeit beanfpruchenden Greigni[fe, welche zwifchen Chrifti Geburt und Herodes Tod nod) hineinfallen, wie die Reife unb An- funft der 3 Weifen, das Warten des Königs auf ihre Rüd- funft zu ihm, ber Kindermord und die Flucht nad) Aegypten. Allein wie weit bie 3 Weiſen herfamen, ijt ja nicht befannt und daß der Stern der fie zur Reife veranlaßte, ihnen [don vor der Geburt Chrifti erfchienen, mirb von 3. felbft ange nommen (p. 305), jebenfatí8 fcheint auch ihre Trage nad) dem neugeborenen König der Juden auf eine Ankunft bald nach ber Geburt hinzuweiſen. Ferner auf ihre NRüdkunft wartete ficherfich der von höchfter Unruhe gequälte König gar nicht (ange, fondern gab alsbald den Mordbefehl; end- (id) die Flucht nach Aegypten war ohne Zweifel eine jer eilige. Alfo ideint uns fein Grund vorzuliegen, weßwegen man mit der Anfegung der Geburt Chrijti über das Jahr 5 v. Chr. hinaufgehen follte.

Im 4. Kap. verfucht e6 3. durch Feſtſetzung des Todesjahrs Chrifti ein Nefultat für SBeftimmung [εἰπε Geburtsjahres zu gewinnen. Den Sob GBri[ti aber glaubt et fpäteftens in das Frühjahr 32 mad) Chr. fegen zu follen. Dis auf jenen Zeitpunkt nemfid) fei während einer Reihe von Jahren fein. Faiferlicher Statthalter in Syrien gewefen, weil der ernannte Statthalter Aelins 9amia in Rom gu rücbehalten wurde, ‘daß aber der Tod Chrifti wirklich in diefe ftatthalterlofe Zeit Falle, darauf weife hin das Still- Schweigen der Evangeliften über die Perfon des damaligen ſyriſchen Statthalters. Das ift wirklich ein eigenthümlicher Schluß. Um ihn einigermaffen concludent zu machen, hätte

Geburtsjahr Gbrifti. 99

3. nachweifen müſſen daß die Evangeliften im Falle ber Anweienheit eines Statthalter durchaus veranlaßt geweſen wären ihn zu nennen, daß dagegen durch feine Abweſenheit ihnen ein Grund gegeben mar ihn nicht zu nennen.

Was nemlich letzteres betrifft, jo war fein Name wenig- [πὸ zur Datirung eines Ereigniffes eben fo gut geeignet wie wenn er in Shrien anmejenb gewefen, denn troß feiner Abwefenheit. war er bod) im juridifchen Sinne Statthalter von Syrien, gerade fo gut wie-Pompeius ein Mal Gitatte halter ven Spanien war, während er {εἰ} in Nom blieb und bie Provinz durch feine Legaten verwalten lieh. Ferner eine etwaige Anfrage wegen des über ben Heiland auszuſprechenden Urtheils, wie foldje mad) 3. im Fall fine Anmefenheit in Syrien gewiß jtattgefunden hätte, fonte im Nothfall an den in Rom weilenden gerichtet were den. llebrigen$ mar eine folche ſicherlich in keinem Fall nöthig, denn ber PBrocurator Pontius Pilatus Hatte eben jo gut wie fein Vorgänger Coponius die von SYofephus letzterem zugejchriebene ἐξουσία &ni mags (Ant. 18, 1, 1) Wr ἐξουσία μέχρι vot κτείνειν (3B. J. 2,8, 1). Damit haben wir auch Zumpts Annahme abgethan, daß ber Pro- furator erft im Folge ber Abmefenheit des fyrifchen Statt: halter8 foviel in feine Hand befommen habe, um über ben Heiland nach eigenem Ermeſſen entjd)eiben zn fünnen.

Dagegen iſt von großer Wichtigfeit bie von 3. p. 271 angeführte Angabe Tertullians, bag Chriftus geftorben fei unter bem Confulat der beiden Gemini (Rubelius u. Fufius) b. ἢ. im Jahr 29 nad Chr. Daß remlich diefe Angabe aus einer fe(bjtitánbigen Quelle entnommen und nicht blos das Nefultat einer Berechnung auf Grund der evangelischen Angaben fei, ergibt jich fofort daraus daß fie im Wiber-

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100 Bumpt,

jpruch zu ſtehen fcheint mit bem chronologifchen Angaben der Evangelijten. Der Widerfpruch befteht darin, bap diefes Jahr 29 größtentheil® zufammenfält mit bem 15. Regie- rungsjahr des Kaifers Ziberins, in welches von Lukas der Beginn des öffentlichen Auftretens Jeſu gefeßt wird, jo daß hienach Anfang und Ende ber Lehrthätigkeit Yeju zufammen- fallen würde, während biejelbe einen Zeitraum von mehreren Jahren einnehmen muß. Diefer Widerſpruch wird nad) 3. gelóft burd) eiue von der gewöhnlichen abweichende Zäh- lung ber Regierungsjahre des Tiberius, indem man feinen Regierungsantritt nicht erit vom Tod des Auguftus an bas tirt, jondern fchon von dem Zeitpunkt an, wo er auf DVer- anlaffung des Augujtus von Senat und Voll zum Mit- regenten-(collega imperii Tac. A. I. 3) ernannt murde, ein Factum welches allem Anfchein nah in8 Cy. 11 m. Ehr. (nad) andern a. 12) fällt. Diefe Annahme ift keineswegs neu, aber von 3. aufs neue gebührend hervorgehoben und begründet und gegen vielerlei Bedenken gefichert worden. Ihr zufolge fällt ba8 15. Regierungsjahr des Ziberius ime S. 26 n. Ehr. unb bleiben fomit volle 3 Jahre für Jeſu Lehrthätigkeit Di8 zu feinem Zode im Cy. 29 m. Chr. Was nun bie Geburt Chrifti betrifft, fo fofíte man, da ja Ehriftus bei feinem Auftreten (im %. 26 n. Chr.) als ungefähr 30jährig bezeichnet wird, erwarten, daß Zumpt fie hienach nicht weiter al8 in das J. 5 o. Chr. aurüdjetem werde. Allein merkwürdiger Weife bleibt er bei feiner [djon erwähnten Anfegung auf ba8 J. 7 v. Chr. aus Gründen deren. Un- jtichhaltigkeit 9tef. jchon oben angedeutet, nemlich einerfeite wegen der in diefe Zeit fallenden Statthalterjchaft des Satur- ninus unb amndererfeit8 wegen der zahlreichen Greigni[je, welche zwifchen Chrifti Geburt und Herodes Tod in der

Geburtsjahr Gbrifti. 101

Mitte liegen. Wir brauchen deßhalb fein Wort mehr bar» über zu verlieren und bemerfen nur nod), daß uns aud der afjtronomifche Beweis nicht febr imponirt, den er nod) gt guter Lest als Beftätigung des bereits feitgeftellten Re⸗ fultats anführt, nemlich bie von Kepler zum erften Male anfgeftellte Berechnung, monad im J. 7 v. Gr. eine bes ſonders auffallende Planetenconjunctur ftattgefunden, die mit - dem Stern der Weifen zufammenfiele. Iſt nicht am Ende aud) ſchon Balaams Weiffagung von dem aus Jakob auf: gehenden Sterne einfad) des Nefultat einer aftronomifchen Berechnung gewefen Das möge fid) jeder felbft zurechtlegen. Ref. kann wie gejagt das Zumptfche Schlußrefultat nicht als ganz richtig anerkennen und nimmt daher vom Ganzen denſelben Eindrud mit, ber fid) ifm aud im Schluffe einzelner Partien öfter aufgebrüngt, daß nemlich ba8 Gr- gebniß der Mühe nicht "ganz entjpricht, bie auf deffen Grui- rung vermenbet worden, fowie daß überhaupt die ganze vorliegende Frage noch Teineswegs zu völlig abfchließender Löſung gelangt i[t. Jedenfalls aber nimmt Zumpts Schrift in der Literatur über diefen Gegenftand eine hervorragende Stelfe ein und enthält nicht blos eine reihe Materialien- jammlung, jonbern regt aud) das Intereſſe für die vorliegende unb für einfchlägige Fragen mad) allen Seiten fo lebendig an, daß theologische wie pbilofogijd)e Xejer es mit Nuten und Befriedigung ans ber Hand legen werden.

II. Recenfionen.

].

Das Sjapiasitagment. Exegetiſche Unterfuchung des Fragmen⸗ te8 (Eusebius Hist. eccl. III; 39, 3—4) und Kritik der gleichnamigen Schrift von Lic. Dr. Weiffenbah von Dr. Gar! 8. Seimbadj, Lic. theol. past. extraord. und orb. Gymnaſiallehrer zu Bonn. Gotha. Perthes. 1875. XVIII - 129 ©. 8.

Die Papiasfrage wurde in neuerer Zeit fo häufig et» Örtert, daß man beinahe von einer Papiagliteratur zu reden verfucht ijt, und die vorliegende Schrift reiht fi), wie auf bem Titel angedeutet ift, an bic jüngft erfchienene bezüg- liche Unterfuhung von Weiffenbah an. Der Verf. gelangt in allen Hauptpunften zu dem entgegengefegten Refultat und feine erflärende und darum bisweilen abfichtlich freie Ueber⸗ ſetzung des Fragmentes iſt folgende: „Ich werde ferner nicht anſtehen (ſagt nämlich Papias in der Einleitung zu ſeiner λογίων κυριακῶν ἐξηγησις), zu deinem Genuß απ alles das, was id) einft von bem „ehrwürdigen Vätern“ ſchön lernte und genau einprägte, meinen Erläuterungen eite zuverleiben (2. zieht die Lesart συγκατατάξαι der Variante συντάξαι vor), indem ich für die Glaubwürdigkeit diefer

Leimbach, Papiasfragment. 103

Mittheilungen feſt einſtehe. Denn es war mir nicht um möglichſt Vieles zu thun, nach Art der meiſten, ſondern es zog mich zu den Lehrerrn der Wahrheit und zwar nicht zu denen, welche die von dem Herrn dem Glauben gegebenen Anweiſungen mittheilen und welche von der ſchlechthinigen Wahrheit ausgegangen find (παραγινομένοις ft. rrepayıyo- μένας). Sp oft aber auch irgend einer, welcher den „ehr- würdigen Vätern“ nachgefolgt war, fam, fo forfchte ich ihn and nad) den Ausfprüchen der Väter: was Andreas, oder wad Petrus gejagt habe, oder was Philippus ober. was Thomas oder Jakobus ober mas Johannes oder Matthäus, oder welcher andere (7 zig ἕτερος jt. τις ἕτερος) von den Herrnſchülern das gefagt Habe, was fowohl Arijtion ale td der Presbyter Johannes, bie Herrnfchiiler, jagen, denn if nahm an, daß das aus ben Büchern Schöpfbare mir nicht (o viel mnitge, aí8 das, was ich au$ der unmittelbaren

directen Rede ſchöpfen Tonnte.” Die „ehrwürdigen Väter”, - bit πρεσβύτεροι des Papias, find ihm bie Jünger des Herrn oder die Herrnſchüler mit Ginjd)(uf ber Apoftel, ober dad erfte ZTraditionsglied, während bie Apoftelichüler das zweite find, und ber πρεσβύτερος Ἰωάννης ift ihm da= ber ibentijd) mit bem Apoftel Johannes und nicht eine von dieſem verfchiedene,. aber ihm gleichzeitige umb wie er in Epheſus lebende und dajelbft begrabene Perfon, zu der n, um einen nichtsapoftolifchen Verfaffer für die ifm unangenehme Apokalypſe zu gewinnen, Gujebiu8 machte und damit den Grund zu einer bi8 zur Stunde fi) fortziehenden Gontroperfe, bezw. Verwirrung legte. Der Vater ber ftir» chengeſchichte trägt an ihr freilich nicht allein die Schuld. Der tiefere Grund der verfchiedenen Auffaffung unferes Fragmentes ift feine theilweife Doppelfinnigfeit, die ganz

104 Leimbach, Papiadfragment.

wie dazu gefchaffen ift, zumal menm nod) andere als rein fachliche Syntereffen ins Spiel fommen, die Kritik heraus- zufordern. Wie Eufebius im Gegenfa zu Irenäus, ber ihn adv. haer. V c. 34,4 einfach Ἰωάννου ἀκουστής, ὃ. i. wie €. aus feinem Sprachgebrauch beweist, einen Hörer des 9(pofte(8 Johannes nennt, den Papias aus bem Kreis ber Apoftelfchüler herausnahın und zu einem Schüler des „Presbyters“ Johannes erniedrigte, fo wollte man ihn in neuerer Zeit vornehmlich injoferm dem Apoftel Yohannes entziehen, als ihm deſſen Evangelium unbekannt geweſen fein follte, und diefen Beftrebungen tritt der Verf. im vierten Theil feiner Schrift ebenjo mit Entjchiedenheit als Sachkenntniß entgegen. Unterliegen auch, wie er felbft anerfennt, einzelne feiner Beweiſe für fid) betrachtet einigen Bedenken, fo ift doch ihr Gefammtgewicht nicht zu untere ſchätzen und er erflärt es mit Recht zum Mindeften als höchſt wahrfcheinlih, daß das Johannesevangelium für Papias fein unbekanntes Buch war und bag «8 von ihm gefannt und benüßt wurde. Dod) will er nicht gerade auf biejem Reſultat beftehen. Er ijt vielmehr geneigt, als Friedenspreis in der Yohannesfrage die Neutralität des Papiasfragmentes anzubieten. „Wir verlieren“, jchließt er feine gründliche und fcharffinnige Unterfuhung, „in jener Frage nod) nicht, wenn wir auf PBapias verzichten. Vom KRampfplag werden wir aber nur in dieſem Falle weichen, wenn ihn die Gegner verlaffen. Entbehren Tünnten wir- Papias, an die Gegner abtreten werben wir ihn nicht, aud) nicht ein einziges Wort des Fragmente. Das thäten wir nad) verlorener Gad. Noch aber ijt Schlacht unb Boften nicht verloren —; id) hoffe mehr: nicht verloren, fondern bald gewonnen!“ Indem id

Kraus, Kirchengefchichte. 105

bezüglich be8 Einzelnen auf die Arbeit felbft vermeife, Debe ih zum Schluß nod) hervor, baf ber Verf. in feiner Streit- ihrift die für eine wifjenfchaftliche Arbeit gegiemenbe Mäßi« gung zu bewahren fuchte. S unt.

2.

Lehrbuch der Kirchengeſchichte für Studivende. Von Q. X. Krans, Doctor der Theologie und Philofophie, Prof. an der Univerfität Straßburg. Dritter Theil. u Trier. Lintz. 1875.

Axlutov ἐκκλησιαστικῆς ἱστορίας χάριν τῶν περὶ ϑεολογίαν σπουδαζόντων ὑπὸ A. Διομήδους Κυριακοῦ. ᾿Αϑῆναι. 1872. 454 ©. 8.

1) Die Kraus'ſche Kirchengefchichte Liegt uns mit diefem Theil ganz vor und wir verweilen, was Anlage und Methode [omie Vorzüge diefes Lehrbuches anlangt, auf bie Beſprechung der beiden früheren Theile in Jahrgang 1872 und 1875 der Q.Schr. Der dritte Theil oder die Neuzeit beginnt nicht, wie e8 fonft üblich ift, mit dem Jahr 1517, jondern mit bem Jahr 1453, dem Jahr der Eroberung Conſtantinopels durch die Türken und der Verf. glaubte jid) zu diefer Anordnung entfchließen zu follen, um in der Anlage jon die Bedeutung zum Ausdruck zu bringen, welche Re⸗ naiffance und Humanismus für die Neuzeit haben. Der Zeitraum zerlegt fid). in drei Perioden und die zweite be* ginnt mit bem Jahr 1648, bie dritte mit dem Jahr 1789. Da der Verf. den Anfang ber erften Periode um mehr als

106 Kraus,

ein halbes Jahrhundert vorrückte, jo modjte er jid) um fo eher veranlaßt fühlen, ihr mit bem Jahr 1648 eine Grenze zu fegen. Ref. hält es für angemefjener, die bisherigen Grenzfcheiden zwifchen Mittelalter und Neuzeit vorerft nah einigen Jahrhunderten wird jenes wenigſtens in der Meltgefchichte, wenn auch nicht in ber Kirchengefchichte, wahr- ſcheinlich bi$ zur franzöfifchen Revolution ausgedehnt werden beizubehalten, dem Jahr 1648 feine herkömmliche Stellung zu nehmen, da der dreißigjährige Krieg mit dein weltphälifchen Frieden nur für bie Kirchengefchichte Deutfchlands, nicht aud) ber übrigen Länder von größerer Bedeutung ift, und bie erfte Periode der Neuzeit bi8 zum Jahr 1789 gehen zu laſſen.

Wichtiger ale biefer Punkt dürfte ein anderer fein. Wie mir fcheint, ift bie Stoffvertheilung in diefem Band feine ganz gleiche, wurden Dinge ausführlich behandelt, die fürzer abgethan werden konnten, und umgelehrt auf Gegen- jtände nur oberflächlich eingegangen, die einer größeren Aufmerkfamfeit würdig waren. Zu Teßteren rechne "ich namentlich die ſchweizeriſche Reformation, bejonber8 bie von Genf, bei der die Schrift von Kampſchulte mehr zu berüd- fichtigen gewejen wäre ; die Reformation von England, bei ber der Cardinal Wolfey , bejjen Politik auf die Eheſchei— dungsgelüfte Heinrich VILI keineswegs ganz ohne Einfluß par, völlig unerwähnt bleibt, während die Frauen dieſes i. g. Reformators ſämmtlich genannt werden ; den weft: phälifchen Frieden, ben anfeniftenftreit, die franzöfifche Ae- volution ; zu erfteren die Gefchichte des Jeſuitenordens, bie Gefchichte des katholiſchen Eultus, indem mir Bemerkungen wie: Pins IX habe das Felt Mariä Heimſuchung am 31. Mai 1850 zu einem festum duplex secundae classis erhoben und ebenfo für bie Fefte ber hl. Titus, Timotheus, Igna⸗

Kirchengeſchichte. 107

tius von Antiochien, Polykarp und Bonifacius eine Rang⸗ erhöhung angeordnet, für ein Lehrbuch der Kirchengeſchichte afe überflüfjig erfcheinen, bie Gejdjid)te der katholiſchen Wiſ⸗ ſenſchaft im 19. Jahrhundert, der nicht weniger als 16 Seiten gewidmet find. Die Veberficht, bie von ber fatboti» iden Literatur gegeben wird, ijt überdieß trog ihrer rela» tiven Ausführlichkeit theilweife unverftändlich. Diefelben Namen kehren unter verfchiebenen 9tubrifen. bisweilen drei ub viermal wieder und boch wird der Schüler mit den blogen Namen der Verfaffer kirchenhiſtoriſcher Monographien €. 592 nicht viel: anzufangen wiffen.

Zu biejen Defiderien, bie ich mir dem gelehrten 9. Derfafjer zur Berücdfichtigung in einer neuen Auflage vor: zuragen erlaube, gefellen fid) noch einige Verſehen, auf bie ih in ber gleichen Abficht aufmerfjam made. Zu erwähnen ijt bei Savonarola die deutfche Bearbeitung des Werkes von Villari, bei Qutfer8 Geburt die Controverfe über das Jahr, bei Ignatius von Loyola bie Pilgerreife nad) SYerufafem, unter den Moralijten des 16. u. 17. Jahrhunderts Coto und Qugo, bei Michael Molinos der Schauplat des durch if erregten Streites, ba er fonft von jedermann in feiner Heimath Spanien gefudjt wird, S. 454 Franz Berg und die Monographie Schwabe, ©. 555 Jager, l'histoire de l'église de France pendant la révolution. Zu corris giren iff endlich das Stiftungsjahr ber Univerfität Tü— bingen 1482 ft. 1477, ba8 Datum der Gefangenneh- mung Pins’ VIL 10/11. Mai jt. 5/6. Juli, die Ueber: jung von Port-royal des champs mit 99. vor der Stadt, da die Lage eines 4 bi8 5 Stunden von Paris entfernten Klofter8 kaum fo zu bezeichnen fein dürfte, die Zahl 2 3000 für die Opfer ber religiöfen Unduldſamkeit unter

108 -* Kyriakos,

Maria der Katholiſchen, da fie um eine Null zu hoch ge— griffen fein bürfte.

Ah Schließe biefe Anzeige mit ber Bemerkung, daß, wie mir mitgetheilt wurde, das Kraus'ſche Lehrbuch in'é Italieniſche überjegt wird.

2) Wenn bie in zweiter Linie genannte Kirchengejchichte aud) ſchon vor 4 Jahren erſchien, fo ift fie immerhin bie neuefte griechifche und infofern mag ihre Anzeige im diefer Zeitfchrift gerechtfertigt fein, wenn fie gleich etwas fpät fommt. Das Lehrbud) iff nad) Anlage und Methode unfern Lehrbüchern im Wefentlichen gleich und der 3Serf., Profefior der Theologie in Athen, zeigt fid) a(8 einen ziemlich guten Kenner der lateinischen, deutfchen und franzöfifchen Literatur. Die Hilfsmittel, die er benüßte, gehören vorwiegend fremden Völkern und Spraden an und ihre Aufzählung vor jedem Gapitel nimmt gegenüber den einheimifchen Schriften - weitaus den größeren Raum ein. Bekannte deutfche Namen begegnen uns hier in der Form von StoAßegy, ἹΜέλερ, Zoé), Σταυδενμαήϊερ, Xipoyep, Koiv, "Egehe, 4έλιγγερ, "Aveßeoy, Akrooy u. 7. w. Da: bei mangelt es nicht an Schreib- und ähnlichen Fehlern und werden werthloje Schriften und Ausgaben neben braud)- baren und guten angeführt, wie fie eben zur Kenntniß des Berf. gelangten. Diefe Mängel mögen indeß auf fid) be- ruhen. Im Uebrigen ijt dem Verf. ba8 Zeugniß nicht vor« zucnthalten, daß er mit der dentjchen theologifchen Wiſſen⸗ Schaft ziemlich vertraut ijt.

Was, die Dispofition des Stoffes anlangt, [0 theilt er bie Gejdjid)te der Kirche in vier Perioden ein und läßt die erite bis zum Mailänder Edict o. Cy. 313, bie zweite zum Beginn der Kirchenfpaltung zwifchen bem Morgen» und Abendland

Kirchengeſchichte. 109

oder bis zum Jahr 860, die dritte bis zum Untergang des oſtrömiſchen Reiches im Jahr 1453, die vierte bis zum Jahr 1870 reichen. Die einzelnen Perioden zerlegt er in eine Reihe von Capiteln und handelt 3. B. in ber erften Periode 1) von der Gründung und Ausbreitung der Kirche, 2) von der firdjfiden | Xehre und ihren Gegenjdgen, den Härefien unb Schismen,, 3) von ber theologifchen Wiſſen— (haft (φελολογία), 4) von der Verfaffung der Kirche, 5) bon dem Firchlichen Leben und dem chriftlichen Cult. Bon einer Kritif glaube ἰῷ Umgang nehmen zu follen und ἰῷ bemerfe zum Schluß nur πο, daß ich über innere Fragen der griechifchen Kirche, derentwegen ich hauptfächlich nach der Schrift gegriffen, den gewünschten Auffchluß vielfach) mit gefunden habe. Eine ſolche Frage ift die Zeit δεῖ Einführung des Ehezwanges für bie griechische Geiftlichkeit. Daß der Chezwang für den Klerus der griechifchen Kirche beſteht und daß in derfelben Niemand zum Subdialon ges weiht wird, der nicht zuvor eine Frau genommen, erfahren wir aus dem Gompenbium des fanonijdjen Rechts (8 177) 006 Erzbiſchofs Schaguna von Siebenbürgen (Dermannjtabt 1868). Die Zeit feiner Anordnung wird aber in der Kegel mit Stillfcehweigen übergangen und der Verf. berührt nicht einmal die Cadje felbft. Ich konnte nur in’ Erfahrung dringen, daß bie Neuerung im 12. Jahrhundert nod) nicht beftand. Balſamon fennt mod) das alte 9tedjt, indem er bemerft, daß bie Subdiafonen und Diafonen, die unver: heirathet die Weihe empfangen, zum ehelojen Leben vere pflichtet feien und daß fie, wenn fie nad) der Ordination heirathen, mit Abjegung beſtraft werden, und nur darin hatte fid) zu feiner Zeit eine Aenderung vollzogen, daß der Biſchof ohne Verluft feines Amtes dem Geweihten bie Ehe

110 Qetbede,

nicht mehr gejtatten fonnte, während ihm nad bem 10. Kanon ber Synode von Ancyra Ὁ. Cy. 314 diefe Vollmacht δι απὸ (Constit. ecoles. coll. lib. III tit. 1 c. 1 unb 2. Migne Patrol. curs. compl. s. gr. CXXXVIIH 1263. 1278). Aber bald darauf fcheint der Umſchwung erfolgt zu fein. Wenigſtens wurde bereits durch eine ruſſiſche Synode im Jahr 1274 verordnet, daß nur jener, der mäßig und Teufch gelebt und eine Jungfrau geheirathet Babe, folfe die Weihe empfangen dürfen. (Strahl Geſchichte ber ruffifchen Kirche 260—202. Die Kanones diejer Synode bei Cultschinski Specimen eccles. ruthenicae. Romae 1733.)

Funf.

3.

Dissertatio qua Barnabae epistola interpolata, demon- stretur auctore Carolo Heydecke seminarii homiletici guelferbytani sodali etc. Brunsvigae 1874. 79. 8.

Die Auffindung de8 Codex Sinaiticus lenfte bie Aufmerkſamkeit der Gelehrten im . neuerer Zeit wiederholt auf den Barnabasbrief Hin. Weizſäcker (Zur Kritik des Barnabasbriefes aus dem Codex Sinaiticus 1863), Volk: mar (Monumentum vetustatis christianae ineditum - 1864), Hilgenfeld (Novum testamentum extra canonem receptum. Fascic. II. Barnabae epistula 1866) unb Kayſer (Ueber beu jogenannten Barnabasbrief 1866) befchäftigten jid) mit ihm in unmittelbarerer Zeitfolge. Ihnen

Barnabadbrief. 111

ſchloſſen fid), um von den in Zeitfchriften erjchienenen Abhand⸗ lungen gar nicht zu reden, Müller {Erklärung des Bar⸗ nabasbriefe® 1869) unb 9tiggenbad) (der [jogenanute Brief de8 Barnabas 1873) an und vor anderhalb Yahren erihien vorliegende Differtation, die aus einer in Leipzig geiteliten Preisaufgabe hervorgieng. Ihr Verfaſſer betritt einen andern Weg als die eben angeführten Männer. Wenn er aud) bie Interpolationshypotheſe Schenkels verwirft, fofern die Kapitel VII—XII und XV— XXI bie Zuthat einer fremden Hand fein follten (Theolog. Stud. und Kritiken 1837) und bie Kritik als vollfommen zutreffend anerkennt, die ijr Hefele angedeihen ließ (Qu.⸗Sch. 1839), [o hält er bod) an deſſen Grundanſchauuung feit, bap der Brief in der uns vorliegenden Geftalt von zwei Verfaſſern herrühre, und nimmt nur eine andere Scheidung zwijchen ächten und mächten Bejtandtheilen vor. Als urfprünglich erjcheinen im die Rapitel I—IV und XIII—XXI, die übrigen V bi8 XII als Ginjdjiebje( und die urjprüngliche Anlage des Driefes, ber aus einem didaktifchen (c. I—17) und parä- netifchen (c. 18—21) Theil befteht, mar nad) ihm die, daß der erfte Theil die Kapitel I—III und XIII—XVI, bet zweite die Kapitel IV und XVII— XXI umfahte, fo daß der Onterpofator nicht bloß Neues zu dem Vorgefundenen hinzufügte, fondern auch bejfeu Ordnung verjdjob, indem er dem vierten Kapitel, welches anfänglich Hinter dent ſechs— zehnten ftand, feine jetzige Stellung anwies.

Die Sauptgebanfen der Abhandlung find folgende. Der Barnabasbrief [εἰ fein einheitliches Ganzes; feine einzelnen Theile zeigen vielmehr eine fo große Verſchiedenheit, daß lie unmöglich einem und demſelben SBerfaffer jolíten auge: Iprodhen werden fünnen. Die üdjte Schrift habe durchweg

2 —— Oeybede.

ein judenchriftliches Geprüge und Verfaſſer wie Adreſſaten gehören dem Kreis ber Audendriften an; die Snterpofation rüfre von einem Heidenchriften her und verrathe eine ben Juden feindliche Abfiht. Der Gegenjag erhelle jchon aus ber Verfcehiedenheit der Anjchauungen über Verfaſſer und Adreflaten, indem Hefele (das Sendfchreiben des Apoftels SSarnaba$ 1840) einen Judenchriſten an Judenchriſten, Hilgenfeld einen Heidendrijten an Seibendjrijten [d)reiben fajje und Weizſäcker und Müller einen gemifchten gefer- freis annehmen, und er fajfe fid) nur Hinlänglich erklären mit der Annahme von zwei Verfaſſern, eines judenchriftlichen und eines heidenchriftlichen, von been ber εἶπε bemeijen wollte, bie jüdifche Religion, giltig bis zur Zeit Gbrijti, [εἰ burd) den neuen Bund abgejdjafft worden, während bet andere der judaiftischen Forderung gegenüber, daß alle Chriften die jüdischen Sagungen zu beobachten hätten, darzuthun fuchte, diefelben fein niemals giltig und ftet8 nur foweit von Bedeu⸗ tung gewejen, als fie auf Chriftus und fein Neid) worbe- reiteteten. Wie da8 Thema, fo fei aud) das Beweisverfahren in beiden Theilen verjchieden und nicht minder meife bie Dispofition auf eine fremde Hand Hin. Barnabas Habe im Sinn gehabt, vom Bergangeneg, Gegenwärtigen umd Zulünftigen zu handeln (c. 1) und die jeßige Anlage des Briefes ftimme mit biejem Plane ganz und gar nicht über: ein. Auf die Erörterung des Vergangenen in c. 2—3 (und 13— 16) folge die Erörterung des Gegenwärtigen in c. 4, inc. 5—12 werde auf diefen Gegen[tanb Feinerlei Rüd- [ mehr genomen nod) werden die Unglücksfälle berührt, bie den Anlaß zum Schreiben gegeben haben, und das Zufünftige werde erjt in c. 17 behandelt. Der Brief zerfalle fomit in zwei wefentlich verfchiedene Theile und der urfprüng-

Barnabasbrief. 113

fife Kern, . der den 9(pofte Barnabas zum PVerfaffer habe und in dem Kanon des neuen Teſtamentes Aufnahme ges funden hätte, wenn er nicht interpolirt worden wäre, fei bald nad) ber Zerftörung Syerufalems im Jahr 70 ober Tl, die fremde Zuthat in den Jahren 119 bi8 122 ent: itanden.

Die Abhandlung ift bündig und anregend gefchrieben und zeugt ebenfowohl von Fleiß als von Scharffinn, abet eine überzeugende Wirkung vermochte fie bei mir nicht Ber» borzubringen. Wie mir fcheint, ließ [2 der Verfaffer von der Berjchiedenheit der bisherigen Anfichten über Autor und Mreffaten zu jer einnehmen und trat er fo mit einer vore gefaßten Meeinung an den Brief heran, um jenen Gegen ag in ihn hineinzufefen. Derſelbe fam mir bei einer uns» befongenen Lectüre nicht zum Bewußtfein und die Auffaffung de8 alten Teftamentes erjchien mir in beiden Theilen im Weſentlichen als diefelbe. Die alte Gefetesreligion oder bie wörtliche Auffaffung der mofaifchen Satzungen wird aud) ſchon in dem vermeintlich urfprünglichen Theil als in jid) jelbft nichtig dargeftellt und daß der Ausdrud καταργεῖν in c. 2 und 16 nicht etwa bejonders zu betonen ijt, zeigte feine Anwendung üt c. 9. Haben wir dort gleidjjam die negative Seite der Gnoſis, bie den Qejerm vermittelt werden joffte, jo reiht fid) daran von c. 5 an ganz ungezwungen die pofitipe, daß der einzige und wahre Bund Gottes mit der Menſchheit das neue Teſtament fei, und c. 4 läßt fid) jehr wohl als eiue Meberleitung dazu auffaffen. Wenn man in den Anfangsworten diefes Gapitef8 je mit bem Berf. die Ankündigung erblicken will, daß im Folgenden vom Ge- gegenwärtigen (πρὸ τῶν ἐνεστώτων) gehandelt werden jolfe, was aber in Anbetracht des Schlußfages von c. 3

Theol. Duartalfcrift. 1876. Heft I. 8

114 Rudolf Seyerlen, |

feineswegs durchaus nothwendig fein dürfte, fo läßt jtd) ja febr wohl die Erfüllung altteftamentlicher Weisfagungen im Krenzes- tob Ehrifti, wovon jofort die Rede ift, unter biejem Gefichts⸗ punkt. auffaffen. Wie die Stellung des Briefes zum alten ZTeftament fo ift auch feine allgemeine Tendenz eine ein- heitliche und ich konnte mich nicht davon überzeugen, daB in einem Theil Yudenchriften über den Untergang des Tem⸗ pels, des alten Bundesheiligthums, mit dem Hinweis darauf getröftet werden follten, daß fid Hier nur eine Weisſagung der Propheten erfüllt habe, während im andern bie Forde- rung einer jüdifchen Gefegesgerechtigfeit befämpft würde; ber ganze Brief ſcheint mir im Gegentheil gegen Tegtere gerichtet zu fein und ber Schuifag von c. 3 wird, wie man ihn aud) im Einzelnen interpretiren mag, in diefem Sinn aus⸗ zulegen fein. Wird hiernach bie Grundanfhauung des Verf. faum größere Zuftimmung finden, fo ift doch anzuerkennen, daß durch feine jcharffinnige Abhandlung das Verſtändniß des Barnabasbriefes in einzelnen Punkten gefördert wurde.

Sunt.

4.

Ueber Bedeutung und Aufgabe der Predigt ber Gegenwart. Akademiſche Antrittörede gehalten zu Jena den 17. Nov. 1875 von Rubelf Seyerlen, Doctor der Theologie und Dhilofopdie. Tübingen, Berlag und Drud von Franz Fues 1876. ©. 32.

Publikationen wie die vorliegende, fo wenig umfang reich jie der Natur der Sache nad find, gewinnen ein be-

Predigt der Gegenwart. 115

fondere8 Antereffe, wenn ba8 Thema fo umfafjend und fo unmittelbar aus dem Mittelpunkt der Fachwiſſenſchaft des Verfaſſers herausgegriffen ijt, daß in ber fnappem umb ge- drängten Ausführung eim Programm, ein wifjenjchaftliches und religiöjes SSefenntnig enthalten ijt. Solche Programme gehören zu ben Zeichen ber Zeit, bie wir nicht ganz unbe» achtet faffen dürfen, jo jehr aud) unjer Standpunkt von bem des Verf. verfchieden ijt und fo wenig wir von ben Beſorg⸗ niffen, bie ihm wefentlih am Herzen liegen, unmittelbar berührt werden.

Die religiöfen Zuftände der Yebzeit, Heißt e8, legen eine erneute wilfenfchaftliche Unterfuchung bes Weſens der wangelifchen Predigt nahe. Die leidige Thatfache, daß

. in weiten Gebieten der deutfchsevangelifchen Kirche bie Be⸗

theiligung am öffentlihen Gottesdienft und der Beſuch ber Bredigt immer mehr abnimmt, drängt dazu die Frage auf- zumerfen, ob nicht die herkömmliche Predigtweife menigftene mit die Schuld an biejer betrübenden und bedenklichen Er: . iheinung trage. (&. 3.)

Dian könnte nun junddjt an jene Verſuche, dem reli- giöfen Leben aufzuhelfen, benfen, welche man vornehmlich in Amerika in den methodiftischen Erwedungspredigten und in neuejter Zeit in der Predigtweife und den Erfolgen eines Pearſal Smith u. A. kennen zu lernen Gelegenheit bat. Gegen foídje Verſuche verhält fid) ©. zum voran ablehnend aus Gründen, die uns nur theilweife einleuchten. „Die amerifanijd)e Predigtmethode empfehlen Heißt nichte anderes als die religiöfe Entwiclung des evangelischen Theils deutfcher Nation zurückbilden, die Pearſal⸗Smith'ſche Manier aber einführen hieße das chriftliche Bewußtſein des deutjchen enangelifchen Volkes auf das Niveau einer der höheren Bil⸗

8 *

116 Rudolf Seyerlen,

dung nod) entbehrenden Menge herabdrüden" (€. 8). Die Folge davon, heißt e8 weiter, würde vielfach die fein, daß bie chriſtliche Religion innerhalb der proteftantifchen Welt Deutſch⸗ lands zur religio rustica rebucirt, da8 Anfehen der Kirche aufs ſchwerſte gejchädigt, ihr Wirkungskreis aufs unheilvoliite eingeengt, ihre Stellung an der Spige der Culturmächte ihr entriffen würde. (€. 9.) Die Confequenz ift bier nicht recht einzufehen. S. geht von der höhern Bildung des deutfch-evangelifchen Volkes aus; aber dabei überfieht er bod) wohl ben Unterfchied bezüglich be& Bildungsgrabes, der 3. B. hier in Tübingen zwifchen ben Befuchern der Georgs⸗ firdje und ber Jakobskirche bejtet. Die Bildung, bie auf ber einen Seite vorausgejegt wird, foll auf ber andern Seite erft gewonnen werden. Während e8 überhaupt nicht . gelingt, die unterften Volksſchichten durd die rein intellef- tuelle Richtung der feelforgerlihen Thätigkeit zu. der ge- wünjchten Bildung zu erheben, find bod) auch die von diefer Bildung berührten Gefellfchaftsfchichten nicht befriedigt von bem was ihre Kirche ihnen bietet; es ift ihnen nicht genug zum „Volk der Reformation“ zu gehören und an der Spiße ber Eulturmächte zu ftehen, fondern fie verlangen nod) höhere als blos intellektuelle Befriedigungen ihrer religiöfen Bedürf- niffe. Es ift auch nicht blos der Materialismus, welcher bie Leute der Predigt entfrembet. Dafür find - gerade bie religiöfen. Erregungen der Methodiften u. A. fprechende Zeugniffe, und darum follte man eben an folden εἰς nungen be8 religiöjen Lebens nicht jo kühl unb vornehm vor⸗ übergehen. Sie geben manches zu benfen.

Auch in einem andern Punkt können wir nicht zuſtim⸗ men. ©. redet von einer confervativen und einer liberalen Partei innerhalb der deutjch-evangelifchen Kirche, und be-

Shtebigt der Gegenwart. 17

merkt dazu, wie im ftaatlichen fo [εἰ auch im Tirchlichen Leben der Gegenfa der confervativen und der liberalen Partei ein motfmenbiger, weil durch ben Unterfchied der pípdijdjew Organifation ganz unmittelbar gegebener. Die beiden‘ genannten firchlichen Parteien repräfentiren mitein- ander zufammen ben kirchlich lebendigen Theil der evangelifchen Gemeinbegenojjen. (€. 10 f.) Wer foll ba8 glauben? Wer des Glaubens ijt, daß von feinem religiöfen Bekenntniß feiner Seele Seligkeit abhängt und ohne diefen Glauben gibt ἐδ weder Neligion nod) Kirche —, darf man bem zumuthen zu glauben, Qutfer und Schleiermacher feien nur durch bie Darftellungsform ber djriftfidjen Lehre von einander getrennt, fie ergänzen fid) wie zwei Prädikate deffelben Gubjefte, wie wei Seiten an ein und bem[efben Bilde? Wenn aber bem mát fo ijt, menn ber gewöhnliche Menjchenverftand und das gemeine Glaubensbedürfniß nicht über dag Entweder Oder Hinwegfommt und fid) nicht dazu bequemen Tann, ja für ibentijd) mit nein zu fegen, fo kann nicht von einem gemeinfamen Zuſammenwirken der „conjervativen und liberalen“ Parteien und ebenfowenig von einer religiösskirch- lichen Neubelelebung des „Volkes der Reformation“ burd) die liberale Theologie die Rede fein.

Bir unfrerfeits möchten den Aufftellungen des Berf. zwei echt evangelifche Grundfäge entgegenftellen, deren Bes folgung der fatfofijd)en Miffion und Predigt immer wieder zum Segen geworden ift. ‘Der er[te ijt enthalten I. Kor. 1, 23: „Wir aber predigen Chriftum den Gefreuzigten.“ Nur der Tebendige Gott und der Tebenbige Chriftus, ber - Gottmenfd), ber Erlöfer und Mittler kann der Gegenftand der hriftlichen Predigt fein, und nur [o(dje Predigt hat Seift und Leben und befriedigt Gebildete und Ungebilbete.

118 Rudolf Seyerlen, Predigt der Gegenwart.

Der zweite Grundfag aber ift aus bem Munde Chrifti felbft, wo er fagt: „Den Armen wird das Goangeltum verkündet.“ Matth. 11, 5; vgl. Luc. 4, 18. Um bie Maſſen des Volles „zu fich Beraufgugieen und zu vergeiftigen,“ muß ber Prediger eben doch ‘zuvor fich zu ihmen herablaffen, und er darf ber religio rustica jowenig fpotten al& ber gens rustica. Den Kleinen muß man das Brod brechen und ihnen nicht anftatt des Brodes den Stein reihen, unb ἐδ dürfen nicht innerhalb der Kirche neue Standesunter- ſchiede befeftigt und eine geiftige Ariſtokratie aufgeftelit werden von Höhergebildeten, denen die höhere, etwa Schleier- macher'ſche Form des Chriſtenthums zugeeignet wird; εὖ werden fonft nicht blos die höhern Stände fondern aud) die vornehm ignorirten Maffen der Kirche entfrembet werden und das Volt der Reformation wird die Befriedigung feiner re(igibfen Bedürfniffe fchließlich doch bei Männern wie Bear: fat Smith fuchen oder bei der katholifchen Kirche.

Mie fünnen hier dem anziehenden Schriftchen nicht in jede Beweisführung folgen, und bemerken ſchließlich nur noch, daß mir Dr. Frohfehammer nicht al8 Vertreter einer fatbofi[djen 9tidjtung anfehen können, wie S. «8 thut (€. 24); Srohfhanmer felbft wird diefen Anſpruch nicht machen, da er lüngft über dasjenige hinausgegangen iſt, was felbft die fiberafjten Katholiken als die unverrückbare Grenze der Freiheit ihrer religiöfen Weberzeugung anfehen.

Linfenmann.

Kuhl, bie Anfänge des Menfchengefchlechts. 119

5.

Die Anfänge bes Menſchengeſchlechts und fein einheitlicher Ur: fprung. Bon Dr. Joſeph Kenhl, Rector des Progymnaſiums zu Jülich. Bonn, 1875, Habicht's Verlagsbuchhandlung. VI und 266 ©.

Um bie Mitte des 16. Jahrhunderts [ebte in Antwer⸗ pen ein jehr gelehrter Profeffor, Goropius Becanus, der in einem [tarfen Folianten, „Origines Antwerpianae“, den Urfprung Autwerpens bis in das Paradies zurückleitet und die biblischen Namen von Perfonen und Orten ganz mperfroren aus dem TFlämifch-Niederdeutfchen al8 der lir» ſprache Derleitetete. So bedeutet ihm Adam τε Hat-Dam den Damm, welcher gegen den Haß (Hat) der Schlange aufgerichtet wurde, Eva = E⸗Vat das Ges, b. D. Bundes⸗ gefäß, Gefäß der Verheißung, Nembrod (Nimrod Gen. 10) den der ba8 Brod megnimmt, a8 leibliche wie das geiftige, und er bewahrheitet feine Ableitung mit dem ernſthaften Seufzer: cru- delis qui corporis tollit alimentum, crudelior qui animi, crudelissimus, qui utrumque, quod videtur Nembrod fecisse, Solche &pradjpielereien, bie der Ernft mit dem fie ge» meint waren , nur nod) fomijdjer machte, bauerten iod) lange fort, ehe e$ gelang, bie vergleichenden Cpradjftubien auf jichere Baſis zu jtelfen und zu einem Hauptimittel für Erforfchung der älteften vorhiftorifchen Völferverhältniffe zu machen. In diefem Sinn nimmt unb verwerthet fie ber Verfaffer oben genannten Buches in ausgiebiger, nicht felten aud) zu weit gehender Weife, und verfteht für bie ü(tejte Menfchheitsgefchichte mit Hinzunahme .mythologifcher Vorlagen Folgerungen zu ziehen, welche ein fehr dunkles, aber immer wieder zu neuen Unter-

120 fubl,

ſuchungen anregenbe8 Gebiet wenigftens ftrichweife erhellen. Mehr als in fprachlichen Analogien bejcheidet fid) der SSerf. in mbtfologijdjen und ermedt dadurch ein günftiges Vor⸗ urtheil, da8 durch den klaren methodifchen unb allem De- fultorifchen abholden Gang der Unterfuchung beftärft wird. Er betrachtet zuerft die Stellung der Naturwiffenfchaft zu der Trage, jodann bie der Sprachvergleihung, und handelt ſo— fort von den Indogermanen, den Ariern in Afrika und Europa, den Semiten in Vorderafien wıd in ihrem muth- mafíiden Stanımland, von Paradies und Sündfluth, dem Thurmbau, dem ältejten Völferleben von Cham und Kuſch in Aften und im Nilthal und von Sujd in Europa. Es lohnt jid), den theilweife imn neuem Licht erjcheinenden und mit maßvoller Freiheit behandelten uralten Dingen, wobei die Ueberlieferung gefchägt aber nicht ſtlaviſch angebetet wird, genauer nachzugehen. Wir ftellen aber bie Nefultate des Schlußcapitels (VII, ©. 225 ff.) voran und laffen Bemer- fungen unb unſre abweichenden Anfichten über den Gang der Unterfuchung und manche Einzelheiten nachfolgen. Sem, Ham und Yaphet, ober wie fie nah D. Kuhl im - Alter folgen joffen, Ham, Sem und Japhet find Brüder, aber nicht einer gewöhnlichen Familie, fonden der großen Menſch⸗ Deitefami(ie, welche feit Anbeginn der Gefchichte unfer Ges Schlecht au&madjte. Sem war zur Zeit als die Völfertafel (Gen. 10) gejchrieben wurde, über die Mitte ber damals befannten Welt ausgebreitet und ftand im Vordergrund, Japhet zog fid) im Bogen von Nordweit nad) Nordoft um Sem herum, aber noch ziemlich unbefannt und von ber Zukunft erwartend, in „Sems Hütten“ zu wohnen und da⸗ burd) in die Strömung ber Gefchichte zu kommen. Ham eridjeint hinter Sem und Japhet, ὃ. 8. Hinter den Ara⸗

Die Anfänge be8 Menfchengeichlechts. 121

mäern und Ariern mie das Leichenfeld einer verfcholfenen Menſchenſchichte, auf ber jene beiden gefeimt und ihr kräftigeres Wachsthum erhalten haben.

Die drei Brüder bezeichnen ein Nacheinander, nicht ein Nebeneinander , find darum nicht Söhne eines Eltern» panteó, da ohnehin der Ursprung ber in ihrem Namen be: zeichneten drei Meenfchenfchichten in ber Zeit getrennt ift unb mur im Ort, im Hindukuſch, zufammenfällt. Aber bie bibfifche Dreizahl ruht auf uralter Meberlieferung und kehrt in den Traditionen wieder, wie bie Paradiefeserinnerungen und die Sündfluthſage. Gewöhnlich werden aber bie drei geretteten Söhne des Sündfluthvaters als die Söhne des erften Menſchen (Adam) an die Cpige ber Landes⸗ geſchichte geftelit, zufolge einer eigentHümlichen Vertaufchung, von der Lüken „die Traditionen des Menfcengejchlechts“ (j. Jahrg. 1870 ©. 329 ff. biejer Zeitfchr.) eine große Zahl von DBeifpielen giebt. Die Namen find imdifferent; ob Sem, Cham und Japhet, ober Ingo, Sermino und Is⸗ fio, oder Aeolus, Dorus und Xuthus, oder Odin, Wili und We, obwohl die biblifchen Namen unbeftritten den Vorrang behaupten und dem ursprünglichen Verhätniſſe jedenfalls am nächften ftehen. (Iſt aber anzunehmen, daß die Vertaufchung eigentlich der Bibel zur Qajt fällt und die Dreiheit ber Noah⸗ ſöhne an den Anfang ber Menfchenichöpfung gehört, oder [πὸ die Vertaufchung den anderen Traditionen zu?) Die Heimath ber drei Brüder b. D. ber in ihrem Namen pers tretennen dreifachen Menfchenfchichte ijt der Hindukuſch: hier treffen fie dem Orte nad) zufammen, wie weit fie aud) der Zeit nad) auseinanderliegen mögen. Kufh, Aram und Arjana verhalten fid) zu einander, wie Cham, Sem und Ja⸗ phet; die Pläge mo die drei, ober da Aram und Arjana

122 $ubl,

zufammenfallen, die zwei Namen entjtanben find, können nicht weit auseinanderliegen. Bon Anbeginn find bei der Berbreitung ber Menſchen gemijje Wege, big offener und feichter zu begehen waren, früher gefunden und häufiger bee gangen worden als andere, die durch phyſiſche Hinderniſſe, wie hohe Berge und tiefe Flüße verfperrt waren, jo daß nad) einer Seite die Verbreitung vafcher vor fid) gieng, während fie nad) einer andern 9tid)tung ftodte, und mandje Abtheilungen der - Verbindung mit: der Urheimath auf lange oder immer eutrüdt blieben. So ergieng ἐδ ohne Zweifel den Chinefen, deren Urväter den Bolor Tagh unb das öde Hochland Pamir zu Überfchreiten hatten: die Schwie- rigfeit ihnen nachzugehen, brad), je mehr die anwachjende Menjchheit gelernt hatte bie Wege zu wählen, die Brüde ab, bie nad) Oſten geführt hatte, und das weite durch Ocean und Gebirg umwallte Gebiet der Hamitish-Mongolifchen Race blieb auf Sahrtaufende für bie Gefchichte gejchloffen, denn Hinterafien ift gegen Borderafien fchärfer gefchieden, ale Afien gegen Europa. Nachdem wenigjtens eine Wahl ber Himmelsgegenden möglich) geworden, hörte natürlich der MWanderzug nad) Norden auf: fein Arter bis auf die ruffi- iden Eroberungen und Gefangenentransporte hat die fibi- rischen Eisländer aufgefucht. Dagegen mar ba8 Gebiet, welches in breitem Ländergürtel vom Hindufufc bis zu ben Säulen des Herkules fid) Dinftredt, das für Sem und Japhet be> ftimmte, bie 9(ramüer und Arier, bie f. g. Kaukaſiſche Race; was außerhalb lag, verjchwand aus bem Gefichtsfreis der Geſchichte. Wie ein trüber Strom verbreitete fid) der Ur- quell der Menſchheit, nachdem fie den jeligen Urjprungsftand durch eigene Schuld verloren, zuerft in die Länder; es find Berfuchsftationen der erjten Meenfchheit, deren ftromartige

Die Anfänge des Menſchengeſchlechts. 123

Berbreitung erſt Helfer unb wieder fauterer wurde, feit Sem, Bermad) Japhet ihre Waffer hineinleiteten und am Ganges wie am Euphrat die äftefte Kufchitifche Eufturfchicht, melde fif dort aufgebant hatte, befruchteten. Nur zwei uralte Eufturftätten Hams haben Jahrtauſende angedauert, bie eine, Aegypten, ftart über die Anfänge der chriftlichen Zeit, die andere, Ehina bis in die Gegenwart, ba bie geographifchen Berhäftniffe bajfefbe noch auf (ange Hin vor Auflöfung burd) die f'aufafier bewahren. Dazu kommt als dritter Chamite im Bund das Negerland, δα8 bie Sonnengluth in feinem urſprünglichen Beſtand erhält, fomeit e8 nicht, mas bod) im Ganzen nicht jtarf in die Wagfchale fällt, durch ble Razzien der türfijden Sklavenfänger beeinträchtigt wird. Hinter Ham und Kufch gab ἐδ feine nod) Altere Menſchheit, denn auch bie üfteftem Troglodyten ber europäiſchen Vorzeit, nicht zu reden von den durch eine autochthonenfelige Wiffenfchaft heiß ummorbenen Pfahlbauern, find eben fchon Beftandtheile der fchlechterdings älteften Menfchenfchichte Kuſchs, obgleich die ſehr langſam verlaufene Nacenbildung neben anderm verlangt, daß man, im inb nicht gegen ba8 Syutereffe ber Einheit des Meenfchengefchlechts, die herkömmlichen 6000 Fahre feit Urfprung deffelben namhaft überfchreite. Damit ijt man weit entfernt, bie abgejd)mafte Annahme von Milfionen Fahren [εἰς Entftehung des Menjchen zu unterftügen, ble in den (432000 Jahren der Chaldhifchen Priefter von Erfchaffung der Welt bis zur großen Fluth und in den) 36000 Jahren von ber Fluth bis zur Eroberung Babylons bird) Kyros ihrer nod) befcheidenen Vorgänger gehabt haben. Als Aramäer und Arier nod) am $inbutujd) zufammenmwohnten, war c8 ein Gejdjfedjt; die 9(ramüer im Aramäifchen Hochland (wir würden Lieber fagen: im babylonifchen Tiefland) und

124 kuhl,

bie Arier am Oxus find ſchon zwei ganz verſchiedene Stämme: Die Uebereinftimmung beider in andern Dingen und nament- in der Sprache ift zu unbedeutend, um daraus ein 2115 verläffiges Syſtem der Verwandtichaft aufzubauen, und doch auch wieder zu bedeutend, um die Urverwandtfchaft ganz zu verfennen. Das Oberland des Euphrat und Tigris, das neue Aram wurde die er[te Stammburg ber Semiten: Hier ijt bie Heimath des Namens Sem, ber ein geographifcher Platz (etfmofogijd)er Begriff), wie unb Aram war. Hier wurden fie Semiten mit eigenthümlicher Sprachgeftalt, und die Eigenart, bie den Bruder dem verlaffenen arifchen Bruder am Oinbufujd) alfmüfig ganz unfennt(idj und unverftändlich machen follte, fam zu vollem Durchbruch, nachdem fie in ihre Zweige fid) theilend alfmübfig das gefchloffene Gebiet Borderafiens in Befig genommen und in ber fruchtbaren Thalebene des Euphrat einen dominirenden Mittelpunkt ges wonuen hatten. Das Araresthal mag jobaum die Urväter der Semiten, wie lange vor ihnen die Kuſchiten, zu längerem Siedeln aufgenommen haben; ber müdjtig über dem Fluß aufragenbe Ararat blieb in ihrer Erinnerung und lange nachdem die Semiten den nachdrängenden Ariern Armenien geräumt hatten, fnüpfte man in ber Werne bie Urtraditionen aus dem Hindulufh an das zweite Stammland Armenien unb ben Ararat. Bon dort führte der Weg ben Euphrat entlang in das reiche Sujd)itenfanb , das den. Aramäern dienftbar wurde im Mittelpunkt Babel, dann weiter nad) Syrien und Arabien. (Diefe Anficht Über die Wanderung ber Semiten läßt Ref. nur ganz bedingt gelten, wie alsbald zu zeigen fein wird.) Nordwärts vom Hindnkuſch Hatte fi ber arifche Stamm gehreitet nad) dem Orus Bin, ohne jedoch Ham und Kufch dorthin weiter zu folgen; vielmehr

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Die Anfänge des Menfchengefchlechts. 125

wandte fid) ein Zweig, die Inder, bald fübmärts ins Gans» gesthal, wohin ebenfalls ſchon Kufchiten die Wege gebahnt hatten, der andere, die Granler nad) Welten. Jüngere Züge übenichritten den Jaxartes und fuchten nördlih um das Sefpije Meer herum biegend den Pfad zum Kaufafus unb ſchwarzen Meer, worauf fie dann iu nod) gefchloffener Maffe an der untern Donau fiedelten, von wo fie im Laufe viter Jahrhunderte in getheilten Stämmen weiter zogen unb unter manchfaltigen Kämpfen mit älteren Rufchitifchen Siedelungen zuletzt als Hellenen, Italiker, Briten, Kelten, Germanen und Staven -in den verfchiedenen europäischen Ländern erfchienen. Der Verf. ſchließt mit einer nahezu troftlofen Perjpeftive, bie ihn, der bod) einen höhern Ur- ſprung des Menſchengeſchlechts und die Hand der Vorfehung in Leitung defjelben auf feinen weiten Bahnen über bie Erde annimmt, völlig vergeffen läßt, daß die nämliche Macht des Schöpfer8 ber Menfchheit audj am relativen Abſchluß der irdifchen Gejdjid)te derſelben wieder auf den Plan treten und ihre leßte große Wendung in Verklärung ber» jelben herbeiführen wird. Wir betrachten dieß als Reti- zenz am Schluße der Schrift, die jonjt in eine öde Strauß’fche Cadenz auslaufen und damit annehmen wirde, wogegen fie fid) ©. 254 entfchieden erklärt, daß der Eat des griechischen Weltweifen, monad) e8 fein Sein (und fein Nichtfein), fonbern nur ein Werden (und Verwandeln) gibt, vergebens gefprochen wäre. Die ältefte Menſchenſchicht ift fit Jahrhunderten faft alferwärts vermodert, die nächft ältefte, femitifche, ijt abgemelft und geht, geiftig tobt, immer mehr auch dem natürlichen Untergang entgegen; aud) von der jüngften Japhetiſch-ariſchen find [djon bedeutende Theile, wie der eranische, helleniſche, italifche erftorben, andere in

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offentunbigem Niedergang begriffen, unb „wie in der Natur auf ba6 Wachſen und Blühen das Welken, unb im Leben des Menſchen auf die früjtige Jugend das ftedjenbe Alter und endlich der Tod folgt, fo gewig fommt and für Jede Nation einmal der Tod: die Eultur, bie alle Welt beleckt, bringt den Marasmus mit fich, in welchem die Völter fid) aufreiben. Und wenn enbfid) Japhet mit feinem Bruder Sem im Tod vereinigt ift, wer wird bag Erbe antreten ? Kein vierter ijt vom Hindufufch ausgezogen. Wird Stagna- tion und ein allgemeiner Nihilismus, wie er heute ben Orient erbrüdt, fich einft über die ganze Erbe bis zu ihrem Untergang breiten? Die Zeit wird kommen, wo bie Erde, wieder eine rudis indigestaque moles wie beim Anbeginn, den Tritt des Menſchen, der ihre Kräfte in Feſſeln fdug, mnidt mehr zu tragen braudt. Wenn der [egte Erdenpilger den Kampf um das Dafein ausgelämpft haben wird, dann wird der Friede fid) über den Erdball lagern, nah bem bie Völker vergebens gejehnt, ein ewiger Frieden, bie Ruhe des Grabe.“

Wir wenden und aber von biejer trüben Ausficht ohne verfühnenden Hintergrund zu einzelnen Aufftellungen dee Berf. Er verfidert ©. 8, baj bem Geifte mephiftophelis [der Negation und ber Blafirtheit, die das nil admirari auf bie Gite treibt, feine Blätter nicht entſprungen feien, und er hoffen dürfe, da wo bie Unterfuchungen auf Die ültefte Urkunde der Menfchheit, die Bibel zurückführen, einen billigen alle Theile verfühnenden Ausgleich zu finden. Es handelt fid) hierbei vor Allem um die Völkertafel Gen. 10, deren buchjtäbliche Faſſung wohl jezt von allen Standpunf- ten aus aí8 unmöglich zugegeben ift. Ref. ift einverftanden,

daß aud) die drei Söhne Noah's, Sem, Chem, Yaphet

Die Anfänge des Menſchengeſchlechts. 197

lediglich ſymboliſche Namen für drei Menjchenfamilien find, die nacheinander aus dem Urquell der Menfchheit entiprangen und die Erde bevölkerten, und daß ihre Namen in ein genealogiſches Verhältniß zum Sündfluthspatriarchen geftellt worden find. Für bie Perfonennamen und die Verwandt⸗ Ihaftsverhältniffe derjelben untereinander in Gen. 10 muß man das Wort des alten Butimann gelten [ojjen: „Glauben in dem Einne, baf bie Nadrichten der Bibel (im Gen. 10, was wir ausdrüdlich beifügen) nad) ihrem Wortlaut genome men werden, Tönnen wir nicht mehr ohne ber Wiſſenſchaft zu entjagen, oder vielmehr wir können c8 nicht aud) wenn wir e$ wollten. Ob dieß beffer für uns ift, liegt uns nicht ob zu fragen, denn e$ ijt jo; unb daß c8 jo ift, bieB ift wie Alles Ganze und Große, Gottes Werk.” Daß bie Nölfer- tafel dennoch Namen habe, die in ihrem nächſten Sinn als Einzelperfönlichkeiten zu fafjen find, bleibt außer Zweifel und es ijt Sache -vorurtbeilsfreier Unterfuchung, zu beftimmen, wo die perjünfidje unb wo die ſymboliſche Auffaffung einzutre- ten Dat. „Was die Hauptjache ijt, e& bleibt außer Zweifel, da bie verftoßene Lehre von ber Einheit unferes Geſchlechts, wie die Bibel fie lehrt, in den Ermittelungen der profanen Wiffenfchaft ihre Begründung findet“. S. 14 wird gejagt, dab die 6000 Jahre, bie man gewöhnlich (als das Alter der Melt, vielmehr aber) al® das Alter des Menfchen- geichlechts insbeſondre jannimmt, eine viel zu Turze Friſt fnb. Man findet dieß durch die ſchon fer frühe vollendete Racen⸗ und Artbildung, die ſehr lange Zeiträume gebraucht hat, jomie burd) bie Gejdjid)te Aeghptens beftätigt, welches urkandlich vor, während und nach ber burd) die gewöhnliche Hera beftimmten großen Fluth (um Mitte des dritten Jahr⸗ taujends vor Chr.) ſchon in hoher Eulturblüthe geftanden

128 Kuhl,

hot. Man wird daher die Periode von Adam bis zur Fluth unb die von ber Fluth bis Abraham zu verlängern haben. Verſtändig [egt fid) Hr. Kuhl mit Darwin auseinander: mad) den ebenjo objektiven wie fcharffinnigen Darlegungen des Briten barf Jedermann, der unbefangen ihn unb nicht Über ihn Liest, den Beweis für erbracht halten, daß die Arten nicht jede die folge eines befondern Schöpfungs- acte$ find, fondern in ftetiger Entwicklung, bie höhere bet niederen entſtammend eine wohlgefchlofjene Kette darftelfen, in welche fid) feinem Leibe nach der Menſch als leztes Glied einreiht. Nicht daß diefer Prozeß fid) vollzogen hat, kann fortan ftreitig fein, fondern nur wie er fid) vollzogen hat, und welche Ausdehnung man ihm zufchreibt. Namentlich darf man in Bezug auf bie Frage, ob bie heute in ber Natur wirkenden Gejege im Stande find, immerfort πο vollftändig neue Arten hervorzubringen, fo lange begründete Zweifel hegen, bi& ber Prozeß biefer Artenbildung an con⸗ creten Fällen in zweifellojer Klarheit vor Augen geftellt ift. Gern räumt man in Bezug auf Variabilität der Arten ben Naturgefegen einen weiten Spielraum ein, fann fid) aber nicht zu ber Folgerung verfteigen, daß nah Millionen von Fahren ganz andere Gefchöpfe die Erde bewohnen follen. Snébejonbere muß- die Gr[djaffung des Meufchen als das Endziel der Schöpfung gelten, bei welchem dieſelbe [teen geblieben ijt: e8 war die legte Stufe in dem Prozeß, ber den Menſchen über die Thierwelt erhob, ein Fortſchritt, bem gegenüber die übrige Schöpfung faft wie die Vorbereitung zur Ausführung erfcheint. (8 ift aud) nicht zu überjehen, daß ben Traum der Antochthonie nicht dem Urfprungsort des Menfchen näher gelegene, fondern von ihm entfernter wohnende Völker geträumt haben, und Darwin unb Häfel

Die Anfänge be8 Menfchengefchlechts. 129

die verleugnete Wahrheit bod) wieder ftreifen, indem ber eine jümmt(id)e Menfchenracen von einem urfprünglichen Stamm, menn aud) nicht von einem Paar, der andere bei- jelben jogar aud) in Südafien, nicht wie Darwin in Afrika, entjtanden fein läßt. Entſchieden fpricht für einheitlichen Urjprung der Meenfchheit, bag die Eultur nachweisbar nicht an mehreren beginftigten Punkten zugleich entftanden | ijt, jondern von einem Punkt ausgegangen nacheinander pet» ſchiedene Stämme und Völker zu Trägern erhalten hat, hinter welchen die ältern Gulturcentren fammt ben urfprüng« lichen zurücktraten und verfchwanden. Wie man bemerft haben wird, läßt Verf. ba, wo ber Gebirgsfnoten des Hindu⸗ hi die beiden großen Hochländer des weftlichen und öftli= ám Aſiens mit einander verbindet, den Faden ber Geichichte beginnen, dort in den hochbegünftigten Bergthälern, wo mod) mande Vorzüge von Glima, Boden und Vegetation die urſprünglich beften natürlichen Bedingungen für ein para- diefifche8 Dafein der früheiten Menjchen vermuthen laſſen. Es ijt nicht zu läugnen, daß Vieles für die Annahme ſpricht, und bie Verbreitungsradien des Geſchlechts am figerften dorthin als auf ihren natürfidjften Mittelpunkt fi) zurücführen laſſen; bod) [01 nicht unbemerkt bleiben, daß man mit den vier Paradiefesftrömen der Bibel, wenn man beim Buchftaben bleibt, eher für ba8 Quellgebiet des Euphrat, Tigris und Arares als Paradies und Urbrunnen der Menfchheit plaidiren kann, was auch ſchon gegen ben Berf. geichehen ift. Aber die Bibel duldet bod) fidet am meiften in den erjten Kapiteln der Genefis eine die dort niedergelegten ethiſch-religiöſen Wahrheiten fefthaltende freie Controper[e, bie immer nur den Buchſtaben trifft, welcher dort zwar verzweifelt leicht und einfach "lautet, aber fajt Theol. Quarialſchrift 1876. Heft I. 9

130 Kuhl,

unergründliche Geheimniffe verfihleiert. affe man den Buch⸗ jtaben bem Katechismus und dem finbfiden Glauben ganz und unverfehrt, aber wehre man nicht, wenn ein feujdjer tieferer Geift den Schleier zu Heben unternimmt. Bis in .den Grund dringt dort bod) ſchwerlich einer hinab unb fo lange behauptet der SBudjjtabe dann immer aufs Neue wieder fein 9)tedt. Nur [oí man ihn nicht a(8 unberührbaren Gößen binjtelfeu, wo er am leichteften zu Fall kommen würde. Entfpredyend den Völferfagen macht Verf. mum den para- diefifchen Wohnſitz ber erften Deenfchheit ,aud) zum Schau- plat der großen Fluth: in den bedeutenditen Sagen über bie Urgefchichte fpielt erfte Menfchenihöpfung und Erhaltung unb Wiederherjtellung ber Meenjchen nad) der großen Fluth eigenthümlich in einander, und wie wir jchon angedeutet haben, beruht vielleicht aud) der Bericht zu Anfang von Gen. 10 auf einer ſolchen merkwürdigen DVerfchiebung, oder 9tadjtragung, welche Verhältniffe, die bie Menfchheit von Anbeginn und im großen Ganzen und abgejehen von’ den Folgen ber Fluth für diefelbe, betreffen, in den neuen Anfang ber Geſchichte unmittelbar nad) ber Fluth einrüdt. Doc ij da8 alles jehr Schwierig und nicht näher darauf ein- zugehen. Dagegen wird man wieder zuftimmen, wenn ©. 43 f. die auf ganz geringe Gründe hin neueſtens aufgebrachte Anficht zurückgewieſen wird, daß bie Urcultur ber f. g. indo⸗ germanischen Völker nicht in 3Battrien, nördlih vom Hindu- kuſch, jonbern im ruſſiſchen Tiefland ihren Schauplag ge: habt habe. Sie wäre hier jpurío8 verſchwunden, was von gar feinem nur irgend nambhafteren Guíturfrei8 der Gefchichte behauptet werden fan, am wenigiten von dem, welchem die großen Eulturgebiete der Hauptvölfer der Gejchichte als

Die Anfänge bed Menſchengeſchlechts. 131

ihrem Mutterſchoß entftammt find, und bie Arier im engern Sinne, bie Yndo-Eranier, müßte man dabei annehmen, wären aus den Steppen nördlid ber untern Donau um ben Kaukaſus herum den langen Weg αἷᾷν halbeuftivirte Menfchen zurücgewandert, ben fie vorher gemijcht mit ber unterjdjiebélojen Maſſe, die fpäter dort in bie einzelnen Völker fid) zerfpaltete, herwärts zurücigelegt hatten. SBaftrien muß in feinem Befigrecht verbleiben für die arijd)e Eultur, und feine Sprache, nicht, mie c8 im andern Fall fein müßte, die griechische und lateinifche, zeigt am meiften von älteftem Cpradjgut. Bezüglih ber von Curtius aufgemorfenen Streitfrage über bie Wanderung ber Cyonier nad) Kleinafien imb Griechenland macht Verf. es wahrfcheinlich, daß fie nicht als ein von der Maſſe abgezweigter Zug über Armenien an bie Rleinafiatifche Küſte famen, ſondern ebenfalls nördlich vom Kafpifchen Meer nad) Europa zogen, durch die Balkan⸗ balbinfel nach bem fpätern Epirus fid) wandten, wo bie ültefte helleniſche Cultur fich begründete, und von da über die nach ihnen genannten Synje(n, fid) jchon lange vor dem 9. Jahrhundert an die Weſtküſte Kleinafiend einwanderten. Bon der Semitifchen Guítur im Großen wird gefagt (©. 94 f): Die fernen Inder verhalten fid) paſſiv wie über- haupt zur Außenwelt, fo zu den Semiten, bie Eranier mehr empfangend a(8 gebend, und jo [tebt bie Cemitijdje Eultur da als ber erjte Verfud eines internationalen Culturgebäu⸗ des, das zuerft bie Wege gezeigt Hatte, mie die alte Aufgabe zu foje war, bie der Meufchheit immer "wieder in neuer Form unb in höherm Sinn gejtellt ward. Sie fanden aber feine £ufturlofe Bevölkerung vor wie die meiften -avijdjen Völker; wenn fie jedoch zu der Kufchitifchen Eultur nicht mehr Hinzugethau Hätten, a(8 Diernad) bie NRömer zur griechi⸗ 9 x

132 Kuhl,

ſchen, fo bliebe ihr Verdienſt groß, da fie ihr Erbtheil ὑεῖς vollfommnet unter ihrer Welt im Kleinen ausgebreitet und fomit , auch für die fpätern Gefchlechter nugbar gemacht Haben. In Betreff der urfprünglichen Wanderungen ber Semiten glauben wir aber den verehrten Verf. im Irrthum befangen. 9tad) ihm (S. 101 unb an p. a. Ὁ.) ift das Stammland des jpätern Semitismus Armenien mit der Araresebene „und . ber gebirgigen Arrapaditis, und e8 hätte die femitifche Be⸗ völferung Arabiens, ber mit Vorzug femitifchen Welt im Kleinen, ihren Urfprung von den Hebräern, dem jüngiten femitifchen Zweig erhalten. Auch die Chaldäer, das uralte Bolt Siüdbabyloniend und Abraham wären von Armenien ausgezogen, weshalb be8 legtern Heimath das vielumftrittene Ur Casdim wieder nad) Armenien oder in deffen Nachbarfchaft verlegt wird. Wir Halten dieß für definitiv Dejeitigt, und [0 jehr wir natürlich bie Urwanderung der Semiten von Hod)- afien, wo fie zwijchen Hindufufch und 33ofor Tagh mit den Japhetiden ungefchieden zufammenlebten, παῷ Weften (und vielleicht theilweife in den Kaukaſus) feithalten, fo nehmen wir an, daß fie jehr frühe nad) der großen Fluth oder fchon vor derjelben, ohne Spuren höherer Guítur [εἰ ἐδ in Armenien, oder Medien und Gíam, ober in den Euphrat-Tigrisländern binterlaffen zu haben, in die große Arabifche Halbinfel ein- wanderten, diejelbe im Lauf ber Jahrhunderte allmählig bevölferten und ungefähr im dritten Jahrtauſend dort an- fingen, jid) nad) größern Gruppen an fcheiden unb in mie: derholten Auswanderungen fid) über WBorderafien zu vers breiten, das fie zur jemitifchen Domäne machten. Hinter diefer gejchichtlih und in Sagen, jomie fprachgefchichtlich nachweisbaren Richtung der Semiten von Süd, dem großen Meutterland aus nach Nord den Euphrat und Tigris hin-

Die Anfänge des Menſchengeſchlechts. 133

auf, und mad) Nordweſt, trat die urfprüngliche Wanderung aus Hochafien bald in der Erinnerung zurück, welche naturge: müg unter den einfachiten Verhältniffen ftattgefunden hatte und in wieberholtem Gontaft mit fchon frühern Niederlaffun- gen Eufchitifcher Bevöfferungsfchichten vorwärts gefchoben wurde, bis fie in bem von Norden leicht zugänglichen, fonft infelartig abgefchloffenen Gebiet zwifchen rothem und perſiſchem Meer auf Lange Zeiten Ruhe und weitere Ausbreitungs- punkte fand. Auf der langen Wanderung von Hocafien nah Arabien fanden ohne Zweifel zahlreiche Niederlaſſungen und Bejiedelungen ftatt, aber fie ließen fo gut wie feine Spuren zurüd, da Japhet faft auf bem Fuß nadjfolgte und die Ränder des großen Durchgangsgebietes der Semiten bis um Kaukaſus unb über ganz Graniet und Elam hin in feit nahm. Aram vollends will SBerf. mit Arjana zus fammenftellen aí$ den Grbraim am Hindufufch, in welchem die Anfänge der Semiten und Indogermanen πο in einem Stamme vereinigt wohnten, deffen Name mit Arjana anf diefelbe Wurzel zurücdgehe und von den ausziehenden Ur: vätern ber Semiten in ihr fpätere® Stammland, das ar» menijdje Bergland mitgenommen worden unb über ba8 Ober» fand des Euphrat und Tigris einerfeits, über Syrien ander- jeits bis nad) Arabien Hin ausgedehnt worden fei. Allein Aram bezeichnet urjprünglich eine Kleinere femiti[d)e Völkerſchaft in der Bibel und auf den affyrifchen Inſchriften, [omie bei ben Claſſikern und es ift ebenfo zweifelhaft, ob der Name ang der Urzeit mit heriibergewandert, als daß Arjana (Gran) bi8 in bie fernften Gegenden Europas getragen worden fei, wo ber Verf. die Wurzel in Argos, Achaia, 9(rTabia, Ar- min, Germanen, Alamannen, Cureten, Quiriten, Gafeu, Gafebonien, Walchen, und vielen verwandten Namen mit

134 fubt, die Anfänge des Menſchengeſchlechts.

Benligung verfchiedener Umlautungen nachweiſen will. Alle Völker, an denen biefe Namen haften, waren und [inb Arier im weiter Sinn, aud). menn. die Wurzel des Wortes nicht in allen Namen ſtecken jofíte; wenn aber aud) mit den etymologifchen Verſuchen des Verf. zu viel bemiefen fein folfte, fo berührt dieß die Hauptergebniffe nicht. Aehnliche gewagte Ableitungen treffen wir &. 178. Der ältefte Zug ber arifchen Wanderung möge, meint V., über das ungewiße Gebiet Ur, ans welchem die Bibel den Stamm Abrahame herleitet, geführt haben: damit wird nun Urva, das Weide land im 33enbibab zufammengeftelit, welches wieder mit dem Namen der. Sberen auf derjelben Grundlage zu ftehen Scheine. Gegen. Ur = Mugheir in Südchaldäa, mie in Keiljchriften gelejen wird, fällt aber bod) nicht in8 Gewicht, daß Abra- ham al8 Nomade, nicht a(8 Stadtbewohner auszieht, und der Zufag: (Ur) der Chaldäer befagt weit mehr als bie zufällige Yantähnlichkeit mit Urva, Ovsoa in Medien oder Urartu (Armenien).

Trotz mancher theils verfehlter theils unficherer et» mofogijd)er Gombinationen gewährt die Schrift reiche Be- (ehrung, unb ijt eine der felteneren, welche wit freiem un⸗ befangenem Blid auf dem dunfeln Feld der Urgefchichte eine maßvolle und jympathiiche Behandlung der hiebei be- jonders in Betracht kommenden religiöfen und mythologifchen Probleme verbindet.

Himpel.

Kuenen, les origines du Texte Masoréthique. 135

6.

Les origines du Texte Masoréthique de l'Ancien Testa- ment. Examen critique d'une récente hypothése par A. Kuenen, professeur à l'Université de Leide, tra- duit du Hollandais par A. Carriére. Paris, Leroux, Éditeur. 1875. XIII unb 53 ©. gr. 8.

Der. befannte Profeffor an ber Univerfität Leiden ber ſchäftigt fid) in der von einem jungen franzöfischen Gelehrten überfegten Schrift, die er zum Jubiläum feiner Univerfität verfaßte, mit Urfprung und Alter des maforethifchen Textes des Altteftamentlichen Canon. Man hatte früher angenom- men, daß ber urjprüngliche Text mit großer Corgfalt von Esra und feinen Nachfolgern bis im bie Zeit überliefert worden fei, wo bie Maforetben ihn einmal für immer ſchriftlich fixirten, daß-man aljo einen Text befite, welcher jedenfalls feit fünfthalbhundert Jahren vor Chr. im voller Integrität für alles Wefentliche vorhanden jei. Dieſer Gíaube ift lüngft erfchüttert worden burd) bie genauere Unterfuhung und VBergleihung der älteſten Ueberjegungen mit dem Hebräifchen umd die Erforſchung des Grundtextes in einzelnen Büchern, welche offenbar befonders ftarf durch die incuria der Abjchreiber gelitten haben, wie Samuele, Ezechiels und einzelner Pfalmen. Dagegen ift. fichergeftellt, daß ſämmtliche gegenwärtig vorhandene: Mannfcripte den nämlichen Text bieten, alſo einer einzigen Familie angehören, und daß unfer (ſ. g. maforethifcher) Text über bie ganze tolmudifche Periode, [omit iiber das Ende des zweiten Jahr— Dunbert8 hinaufreicht, unb bie Maforethen ihn bloß als Der. fémmfiden bewahrt und zu beprer Hut mit einem Zaun

136 Kuenen,

von Gíoffen umgeben haben. (δὲ erübrigt nur bie eine, aber εὐ! von Wenigen angebrochene Unterfuchung,, wann, butd) wen und wie bie Zeit der Textesſchwankungen und willfürlichen Aenderungen beendigt und der gegenwärtige fefte Text gefchaffen worden ift. Diefen Fragen tritt 9. S8uenen dur Prüfung einer von Lagarde darüber aufge- ftellten Hhpothefe näher. In der Einleitung zu einer hand» ichriftlichen arabifchen lleberjegung des Pentateuch (auf der Univ. Bibl. zu Leiden) wird nümfid) der Ueberfeger war wohl ein Ehrift behauptet, dal; zur Zeit der Eroberung Jeruſalems durch Titus die Priefter das Gefeß nad) 3Batir (Bater, die Teste Zufluchteftätte Bar Kochbas 135) zu Schemaia und Abtalia brachten und Davidische Nachfom- men fpäter af8 Hadrian Batir belagerte, dafjelbe mit fid) nad) Bagdad bradjten, wo fie verblieben. Hier machte man Abfchriften vom Geſetz und fandte fie an alle Gemeinden. Aber fdjon vorher, vor ber ‘Deportatton burd) Titus hatten bie Hohenpriejter Hanna und Gaifa gemeinjam 1000 Jahr vom Leben der Patriarchen aus dem Text genommen, um die Erjcheinung des Meſſias (üugnen, den Juden jagen zu fünnen, daß die Zeiten mo er kommen folle, nod) nicht ct» füllt fein. Man nahm nad) Lagarde gemüfnfid) 5500 Jahr von ber Schöpfung bis Chriftus an, welche jener Ueber: jeber mit deffen Geburt bereit verfloffen dachte, während bie Juden 1000 Jahr davon weggeitrichen haben jollten, um ben Meſſias nod) erwarten zu können. Trotz der auf: fallenden gefchichtlihen Schniger in jener Einleitung meint Lagarde, daß wenigftens die Notiz von der Entfernung ber 1000 Patriarchenjahre (aus polemifchen med gegen bie Ehriften) - wahrheitsgemäß fei, in Babylonien durch flüchtige Yuden aus Beter in ihrer Handjchrift der Thora vorge

Les origines du Texte Masoréthique. 137

nommen unb in zahlreich davon genommenen Abfchriften unter der jüdifchen Diafpora verbreitet worden fei. Diefe Handfhrift aus bem (etgten Bollwerk jüdischer Unabhängig- lit fei fo das Meuftereremplar geworden, neben bem die älteren mit dem correftern Text bei Seite gejchafft worden wären.

Indeſſen leidet diefe an fich ziemlich planjible Annahme an einer falſchen Vorausfegung, mit ber fie ftebt und fällt Weder die jüdische noch bie chriftliche Literatur der erften . Jahrhunderte enthält bie Andeutung einer Sontroverfe, welche an eine Weiſſagung gefnüpft wurde, bie bie Geburt Gbrijti 5500 Jahr nad ber Schöpfung gejebt hätte. Letzteres findet fid) mum allerdings im 2. Theil des pfeudepigraphen Eangelium des Nicodemus, dem descensus Christi ad inferos. Dieſer läßt im 3. Rap. den Eeth in der Unter⸗ welt erzählen, daß er fid) während der letzten Krankheit Adams ind Paradies begeben habe, um Del vom Baume ber Barmherzigkeit zu erhalten, ba8 den Kranken geheilt baben würde. Der Wache haltende Engel fchlug es ihm ab und jprad): 5500 Jahre nad; der Schöpfung wird ber einzige Sohn Gottes in Meenfchengeftalt auf die Erde kom⸗ men; er wird Adam mit diefem Dele falben. ine [αἰεὶς nische lleberfegung be8 descensus (A bei Tiſchendorf) hat den offenbar jüngeren Zufag: S9(una$ und Kaiphas haben Pilatus im Tempel erklärt, daß, ba ihnen die Auferftehung Yefu durch glaubwürdige Zeugen beftätigt worden fei, [ie im erften ber 70 heiligen Bücher bie Weiffagung Michaels (de8 Engels im griech. Texte) betreffó der 5500 Jahre gefunden Haben unb bie Zwifchenzeit zwifchen ber Echöpfung und ber Geburt Ehrifti fid) genau fo hoch befaufe. Auf diefe Stelle im Evangelium des Nikodemus hat offenbar

138 Kuenen,

der chriftliche Urheber der Weberfegung des Pentateuch feine Erzählung geftüßt und aud) noch Annas und Kaiphas in diefelbe vermoben. Der descensus ijt aber in feiner gegen- wärtigen Geftalt nicht wohl vor 350 gefchrieben, in feiner ursprünglichen Geftalt als guoftifche Schrift nad Lipſius unb dem Verf. etwa 100 Jahre älter, fomit würde bie uns befannte fchriftliche Faſſung jener Prophetie, wenn fie fid [don in ber urfprünglichen Echrift fand, früheftend in bie erfte Hälfte des dritten Jahrh. fallen, um jo ficherer nicht früher, weil bie lateinifche Redaktion, welche die beftimmte Zahl der 5500 Jahre nicht hat, älter ijt Als ber Text, in dem fie fteht, Ddiefelbe fonad) dem urfprünglichen Text noch gar nicht angehört haben unb nod) jüngeren Urfprungs fein dürfte. Aber aud) jonjt findet fid) nirgends eine Spur, daß im 2. Jahrh. jene Weiſſagung verbreitet geweſen wäre, ba wohl mande ältere Väter nach den ſechs Schöpfungs- tagen die Dauer der Erde auf 6000 Jahre anſetzen, aber bie Geburt be8 Heilandes nicht in die Mitte des fetten MWelttages von 1000 Jahren, fondern in die zweite Hälfte defjelben hineinverlegen. Grít der Chronograph Yulius

Afrifanıs nahm 3000 Jahre von ber Cdjüpfung bie zum -

Tod Phalegs und 5500 an bi$ zur ἐπιφανεια τοῦ σωτηρίου Aoyov, ebenfo Hippolyt, ohne daß damals ihre Berech- nung fid) Glauben verjdjafft hätte. Die Meinung mithin, daß 500 Syafre zwifchen ber Geburt be8 Herrn unb bem Weltende nod) zu verfliegen hätten, Tann allerfrüheſtens im zweiten Jahrh. entftanden aber Feinenfalls fchon damals zu größerer Bedeutung gefommen fein. Das Judenthum Tann alfo damals aud) feinem Anlaß erhalten haben, polemifch gegen fie aufzutreten und gar feine heiligen Texte deshalb zu ändern.

Les origines du Texte Masoréthique. 139

Betrachtet man die chronologifchen Texte von Gen. 5 und 11 und ihre Abweichungen von einander im Hebrätfchen, in der griedyifchen und famaritanifchen Ueberſetzung an fi, [o ift bie Frage, welche diefer drei Recenfionen das Urjprüng- (ife enthalte oder bod) bic[em am nächſten fomme, nod) immer eine offene; bod) muß aud) hier eine genanere Prüfung die Annahme verwerfen, nach welcher im zweiten chriftlicyen Yahrhumdert die Zahlen des maforetbijdjen Textes denen der alerandrin. Ueberſetzung aus apologetifchem Intereſſe hubftituirt worden wären. Das Alte Teftament fat aber überhaupt feine ganz fefte Zeitrechnung, was fid) ja befannt- (ifj auch im ‚Neuen, wo es darauf zu Sprechen kommt, reflektirt, weder von Adam bis zur Fluth, nod) von Non bis Abraham, ποῦ von Abraham bis zur Zerftörung Jeruſalems durch bie Chaldäer, unb einer chriftlichen Behauptung, daß der Heiland in dem und dem Jahr der Schöpfung geboren worden fei, fonnte ein gemanbter Jude leicht begegnen, ohne den Text der Genefi8 zu fälfchen. Nach bem beften Sext der Septung. (€. 24) fällt ber Beginn des Tempelbaues ind Jahr 4257 br Echöpfung, 1243 Jahre vor 5500 (mad) der Vatikan. Handſchr. 4357). Hielt man fid) djrijtfidjerjeit& an letztere Zahl für bie Geburt Syeju, fo konnte der δὲ leicht zeigen, dag amijden bem 4ten Jahr Salomons und der Geburt des Herrn unmöglih 1243 Jahre liegen können. ‘Die 6000 Jahre als Weltdaner find aber nad) aller Wahrjcheinlichkeit gar nicht der biblifchen Aera in ber von den Chriſten ges brauchten Septuag. entnommen worden und waren auch den Juden wohlbefannt und von ihnen vielfach angenommen. Als Stütze diefes Glaubens galt, daß das Todesjahr Phalegs eines Nachkommen Sems bie Mitte der Weltdauer, 3000, bezeichne, weshalb man in [αἰ ες Auslegung von Gen.

140 Kuenen,

10, 25 den Namen fefbjt, wie Heſhchius, mit ἥμεσυ er- glärte. Auch dieß beruht auf gewaltjamer fpäterer Erhöhung der Zahlen in der griechiſchen Berfion.

9agarbe jagt aber: „Die Gefammtzahl der Jahre von ber Schöpfung bis zu Sejus ijt jegt 4000, der Aufzug ans Aegypten 2666 *'s von 4000, und das Epodhejahr (die jefencibijdje Aera) fällt 1000 Jahre nad) bem Auszug. Run ijt 4000 feine Zahl, weldhe irgendwie auf jemi- tifhem Gebiete für eine heilige gilt; wenn daher zwei religiöfe Gemeinfchaften‘, welche in ſchärfſtem Kampf mit- einauder jteben, für das für beide widhtigfte Ereignik fo jaubere, runde Zahlen haben, αἷδ 5000 und 5500 find, jo ift die andere diejer Zahlen nothwendig ba& Ergebniß einer Gorreftur.^ So meint er denn von der erſtern Zahl, bap ſie durch bie Juden in die Geneſis eingefhmuggelt worden , welche noch das erjte Drittel des zweiten Jahrh. ebenfafí8 die längern Zeiträume des Septuag. Textes gehabt hat (2242 Sabre δὶδ zur Fluth unb von da bis Abraham 1145 Sabre jtatt ber 365 des jeßigen majoretijdjen Textes. Die wirkliche SSeredjnung ift aber nicht fo fauber und rund im Texte jelbit, für den fie angenommen wird: denn weder ergeben in ihm blos 1000 Fahre vom Auszug bis zum Epochenjahr, fondern gut 200 Fahre mehr, nod) runde 4000 bis zur Geburt des Herrn, fondern nad) rabbinijdjer Be— rechnung 339 Sabre weniger, nach verbejjerter 150 bis 160 Sabre über 4000. Wie fo überhaupt die Juden dazu famen, (estere Zahl, cine runde gegen bie andere, aufzu- ftelfen , bleibt ohnehin dunkel. Cine Dauer der Welt von 6000 Safren kannten aber aud) die Juden febr. frühe und führten fie in der babpfonifdjen Gemara (Sanhedrin unb Ab. Sara j. 9a) auf die in hohem Anfehen jtehende Schnle

Les origines du Texte Masoréthique. 141

des Elia zurück. Tauſend Jahre einem Schöpfungstag gleich⸗ jufegen und die fedj$ Schöpfungstage der Dauer der Welt . nah 9j. 90, 4, war wohl ſchon vor bem eriten chriftlichen Jahrh. jüdischer wie ſpäter chriftlicher Glaube; und wenn die Juden vollends bie Weltdauer in 3 gleiche Perioden zu je 2000 Jahren theiften unb auf das Ende der zweiten, alſo aufs Fahr 4000 nad ihrer Berechnung das Yahr >40 der djrift(. Aera die Ankunft des Meffins erwarteten, | fo zeigt auch dieß, daß man dabei an eine Polemik gegen die Chriften nicht dachte.

In hriftlicher Zeit hätte man ja mit ber fraglichen Amderung der biblischen Zahlen im Intereſſe der Chriften gehandelt, welche biejelben ziemlich genau mit der Geburt δ Herrn übereinftimmend machen konnten. Wenigftend geihah bieg fpüter, wofür Verf. die befannte Difputation aführt (€. 33), welche 1413 zu Gerona in Gatalonien zwiſchen Joſua €urfi, der als Konvertit Hieronymus a Sancta hde hieß, 1b einigen 9tabbinen in Gegenwart 3Benebift XIII und feiner Garbindle gehalten wurde. Curfi nahm bie 4000 Jahre a(8 von ifm fiegreich durchgeführtes Beweismittel ym Ausgangspuntft.

Es kann ferner pofitiv gezeigt werben, daß bie gegen- wärtige maforethifche Chronologie fpäteftens fchon feit bem ἀπ Jahrhundert unfrer Zeitrehmung vorhanden war. Di tjut Verf. €. 33 ff., indem er nachweist, bafj diefelbe m den Schriften jener Epoche befolgt oder vorausgeſetzt wird. Die Apokalypſe des Esra, Joſephus, das Bud) der Yubilden, bie Himmelfahrt des Moſes bedienen fid) zwar zum heil auh ber chronologifchen Daten der Septuag., aber bod) mit dorzug (4. B. Géra ausfchließlich) der maforethifchen, oder laffen die Kenntniß der (egterem in ihren oft höchſt eigen»

142 Kuenen,

thümlichen Berechnungen vorausfegen. Allerdings ijt bier fein irgend genauer Anfchluß an den Buchſtaben ober oiel- mehr die Zahlen der Bibel und es will jid) aud) an, btejen Büchern zeigen, daß man lange nah Géra den Bibeltert wohl bod) ehrte, jedoch nicht ſclaviſch jid) an ihn hielt umb ihn in vielen Stücen freier behandelte, aber mit Sicherheit ergibt fidj, bag der maforethifche Text chon vorhanden war unb nicht erft im zweiten Jahrh. einer legten Recenſion oder Auswahl unterworfen wurde. Er war aber dann nicht eben erft gemacht worden, fondern auch fchon früher, im erften Jahrh. vor Chr. vorhanden unb die Meinung, daß irgend eine altteftam. Handichrift an gewißen Stellen in ganz willfürlicher Weife für greifbare praftifche Zwede zu— zechtgeriäätet, zur Mufterhandfchrift geworden jei, bie vom zweiten Jahrh. an alle ältern Handfchriften, auch offenbar treuere und befjere, verdrängt hätte und einzige Quelle unſers Textes geworden wäre, füllt damit völlig über Bord. Es fat nie eine ſolche ereimplarifche Handjchrift von Beter gegeben, bie ein paar Fanatiker mit ihrem Chriſtenhaß im- prügnirt und ber Nachwelt, der jüdischen mie chriftlichen, als Archetypus des alttejtamentl. Schriftthums übermittelt hätten. Die Zeichen jenes Haſſes wären dann aud) πο weit zahlreicher dem Gremplar einverleibt worden, wenn biee8 an genannten Orte, in der vorausgefegten Fritifchen Zeit und Situation, fowie in polemifcher Abficht einmal in Behandlung genommen worden wäre.

Die Schwierigkeiten in Betreff der Urjprünglichkeit ber drei Texte in Gen. 5 und 11, 10—26, des maforethifchen, alerandrinifchen und jamaritanifchen zu löfen macht aud) H. Kuenen feinen Verſuch; was man bisher darüber und über die dort beliebte Chronologie gejchrieben hat, ijt ohnehin

Les origines du Texte Masoréthique. 143

mehr abjdredenb, als einladend ſich ebenfall® daran zu perjudjen. Am meisten Autorität befigt immer noch ber hebräifche Text jener Stellen, und er braucht auch jedenfalls nicht burd) jo defperate Mittel in befjeres Licht gerücdt zu werden, als (raet fie anwendet, wenn er, in vollem Wider- ipie zu Lagarde, der das Hebräifche durch Juden wider Die Chriſten geändert fein läßt, eine Aenderung der Zahlen der Septuaginta (und des Joſephus) durch chrijtliche Chrono- graphen zu Ungunften der Yuden, annimmt. Auf bie ges meinfame Wurzel der drei dort angewandten Syfteme fuchte Bertheau zu fommen (Ueber bie verfchiedenen Berechnun⸗ gen der zwei erjtem Perioden in der Genejió und die ihnen zu Grunde liegenden chronologischen Annahmen, Leipzig 1846). Nah) ihm Hätte die er[te Weltperiode 1600, die zweite 400 Jahre betragen (nad) dem Hebr.), nad) bem Samarit. jede je 1900, dagegen nad) ber Septuag. bie erfte 2200, die andere vor ber Fluth bi8 Abraham 1200 Jahre. Es feien wohl urjprünglich 1600 für die erfte, 1200 für die zweite Beriode angenommen worden, monad) bie Dauer einer Gene- ration der erften 160, die einer der zweiten Periode 120 Sabre betragen Habe. Um zu diefen willführlichen runden Zahlen zu fommen, muß er aber felbft annehmen, daß bie urſprünglichen Sonnenjahre in Mondjahre verwandelt wur- den, worauf ‚man den.1600 »« 400 Jahren des Hebr. 56 ‘jahre beijegte (die 1656 Cy. bis zur Flut) im Debr. Text), jowie bie 2200 der Septuag. durch die gleiche entiprecjende Addition zu den 2262 Jahren ihres Textes wurden. Allein die Juden haben niemals eigentliche Diondjahre gehabt, ſon— dern zwölf Meondzeiten und Sonnenjahre, und haben je einen dreizehnten Deonat eingefügt (S. 49). Trotz bieje8 Girunb- maugel8 hat Lepjius auf der grundlofen Hypotheſe weiter

144 Kuenen, les origines du Texte Masoréthique.

gebaut und weil nad) famarit. Recenfion von Gen. 5 Syereb, Methufalah und Lemech im Jahr ber Fluth fterben , von der Urſchrift vermuthet, daß fie alle dort erwähnten Urpäter nad) ber iut) im Feuerregen umfommen ließ. See Schrulle des Samaritaners verführte ihn zu der nod) meit größern, den Feuerregen über einem Theil des Siddimthales als Abſchluß des zweiten Weltalters mit ber Tluth zu paral- fefifiren. Warum und wie dann das $ebrüijdje, und auch das Griedjijd)e und der Samaritaner zu feiner ganz andern Darjtellung und zur Fälfchung des Urtertes gekom⸗ men, darüber ſchweigt bie Gefchichte. Ewald fand fodann die Zahlen des Alerandrinere dem Original am nächiten, welches für bie Dauer der erften Periode 2400 Jahre gehabt habe, für die zweite 1200, und die Dauer des mend. lichen Lebens für das erjte Weltalter auf 240, fürs zweite auf 120 (für das dritte auf 60, das vierte auf bloß 30) Jahre bered)net gehabt habe. Auch Diefür bietet bie Genefis nidt den Schatten einer Andeutung, und ber Verſuch, die übermäßig hoch fcheinenden Zahlen für die Lebensdauer be8 erſten Weltalters herabzudrüden, jchafft nicht einmal fo das odiofe Wunder günuglid) aus der Stelle.

So dunkel mod) immer in der Tertgefchichte des alt- teftamentlichen Canon Zeit, Ort und nähere Umjtände der Vornahme der legten durchgreifenden Textesrecenſion ijt, die muftergiltig für den hebräifchen Text au bleiben bejtimmt war, fo bleibt bod) unbe[treitbar, daß das GrgebniB ber Necenfion, ber maforethifche Text, ein preiswürdiges war und ber Text felbft in den weitaus zahlreicheren Fällen der griechifchen und ber famaritanifchen Recenſion vorzuziehen ijt, welche beide nachweisbar willfürlichen Aenderungen umb Synterpofationen weit mehr als bejjern Zerten, die ihnen

Kuenen, les origines du Texte Masoréthique. 145

vorgelegen hätten, bei Manchen beu unverbienten Ruf größerer Zuverläßigfeit verdanken.

Am Schluffe vermuthet Verf., bj bie 4000 Jahre der Weltdauer (wovon zwei Drittel, 2666, bis zum Auszug ans Aegypten reichen ſollen) in der Chronologie des majo: rethiſchen Textes eine cykliſche Berechnung von Hundert Generationen von je 40 Jahren voransfegen laſſe, wie das Bud ber Jubiläen einen Gpfíu$ von je 50 Jubeljahren habe und bie 4000 Jahre aud) in der fehr alten Schule des Elias fid) finden. Es widerfpricht jedoch, daß bie obige Anzahl von Fahren von Adam bis zum Auszug von ben älteften jüdischen Ehronologen fchon anders und Teineswegs ἀπ berechnet wird, und höchſtens ein Anjag zu einem Cte von Generationen in rumden Zahlen nachzuweifen wäre, ber- aber immer wieder durch gewöhnliche Zahlangaben durchbrochen wird. Somit werden aud) die runden Zahlen von je vierzig Jahren theils auf thatfächlichem Verlauf der Greigniffe berufen, theils zufällige, ausnahmsweife Abrun- dungen fein, die audj für den urfprünglichen Text nicht zur Annahme eines chkliſchen Syſtems berechtigen.

Himpel.

T.

Die Qergeglidje Gewalt ber 3Bijdjófe von Würzburg. Von Dr. Theodor Henner. Würzburg. Stuber. 1874. 150. 8.

Bie] Hermann I. von Lobdeburg und die SBefejtigung der Landesherrlichkeit im Hochſtift Würzburg. Bon Dr. Thes⸗ ber Heuner, Privatdocent an der Univerfität Würzburg. Würzburg. Stuber. 1857. 52. 8.

Theol. Quartalſchrift. Heft I. 1876. 10

144 Kuenen, les origines du Texte Masoréthique.

gebaut umb weil nad) jamarit. Recenfion von Gen. 5 Syereb, Methuſalah und Lemech im Jahr ber Fluth fterben, von der Urſchrift vermuthet, daß fie alle dort erwähnten Urväter nad ber Fluth im Feuerregen umfommen lief. Jene Schrulle be8 Samaritaners verführte ihn zu der nod) weit größern, den Feuerregen über einem Theil des Siddimthales als Abſchluß des zweiten Weltalters mit der Fluth zu parals lelifiren. Warum und mie bann ba$ Hebräiſche, und auch das Griehifche und ber Samaritaner zu feiner ganz andern Darjtellung und zur Fälfchung des Urtertes gekom⸗ men, darüber ſchweigt die Ge[djid)te. Ewald fand fobanm die Zahlen des Alerandrinerd dem Original am nüdjten, welches für die Dauer der erften Periode 2400 \ahre gehabt habe, für die zweite 1200, unb bie Dauer des menſch⸗ lichen Lebens für das erjte Weltalter auf 240, fürs zweite auf 120 (für ba8 dritte auf 60, das vierte auf bloß 30) Jahre berecjnet gehabt habe. Auch hiefür bietet die Genefis nidt den Schatten einer Andeutung, und der Verſuch, bie übermäßig Dod) fcheinenden Zahlen für die Lebensdauer des erjten Weltalter8 herabzudrüden, fchafft nicht einmal fo das odiofe Wunder gäuzlich aus der Stelle.

So dunfel nod) immer in ber Tertgefchichte des alt=

teftamentlichen Ganon Zeit, Ort und nähere Umftände der Vornahme der legten durchgreifenden Textesrecenfion ijt, bie muftergiltig für den Hebräifchen Text zu bleiben beftimmt war, So bleibt bod) unbeftreitbar, daß das Ergebniß ber Recenfion, der ma[oretfijd)e Text, ein preiswürdiges mar und ber Text felbft in den weitaus zahlreicheren Fällen der griechifchen und der famaritanifchen Recenſion vorzuziehen ift, welche beide nachweisbar willfürlichen Aenderungen und Interpolationen weit mehr als beffern Zerten, die ihnen

Kuenen, les origines du Texte Masoréthique. 145

borgefegen hätten, bei Manchen den unverdienten Auf größerer Zwuverläßigfeit verdanten.

Am Schluffe vermuthet Verf., bal bit 4000 Jahre der Weltdauer (wovon zwei Drittel, 2666, bis zum Auszug aus Aegypten reichen ſollen) in der Chronologie des maſo⸗ rethiſchen Textes eine cykliſche Berechnung von Hundert Generationen von je 40 Jahren vorausſetzen laſſe, wie das Buch der Jubiläen einen Cyklus von je 50 Jubeljahren habe und die 4000 Jahre auch in der ſehr alten Schule des Elias ſich finden. Es widerſpricht jedoch, daß die obige Anzahl von Jahren von Adam bis zum Auszug von den älteſten jüdiſchen Chronologen ſchon anders und keineswegs eykliſch berechnet wird, und höchſtens ein Anſatz zu einem Syſtem von Generationen in runden Zahlen nachzuweiſen wäre, der aber immer wieder durch gewöhnliche Zahlangaben durchbrochen wird. Somit werden auch die runden Zahlen von je vierzig Jahren theils auf thatſächlichem Verlauf ber Greigniffe beruhen, theils zufällige, ausnahmsweife Abrun- dungen fein, die auch für den urfprünglichen Xert nicht zur Annahme eines cof(ijd)en Syſtems berechtigen.

Himpel.

T.

Die Herzogliche Gewalt der Bilchöfe von Würzburg. Von Dr. 2esber Henner. Würzburg. Stuber. 1874. 150. 8.

Biſchef Hermann I. von Lobdeburg unb die Befeftigung der Landesherrlichkeit im Hochftift Würzburg. Von Dr. Then» bet Henner, Privafdocent an der Univerfität Würzburg. Würzburg. (tuber. 1857. 52. 8.

Theol. Quattalſchriſt. Heft J. 1876. 10

146 Henner, Herzogthum Würzburg.

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- Die Trage nach dem Urfprung ber herzoglichen Gewalt ber Bifchöfe von Würzburg wurde wiederholt erörtert und bie Anſchauungen darüber gingen ehedem weit auseinander. Johannes Tritenheim läßt das Herzogthum in feiner Schrift de origine Francorum jdjot bem hl. Burkhard verliehen werden und [eine Behauptung fand wie vielfachen Anklang fo heftigen Widerfpruh. Auch die Politik mifchte fid) in die Controverje unb den würzburger Intereſſen ftanden die brandenburger gegenüber. Hat die Frage fpäter bie politifche Bedeutung verloren, fo ift ihr dagegen bie wifjenfchaftliche geblieben und jo wurde fie burd) einen jüngeren Hiftorifer aufs Neue in Unterfuchung gezogen. Die beiden Schriften, die im Vorftehenden genannt find unb von denen bie zweite zur Erlangung ber venia legendi verfaßt wurde, find ihr gewidmet und die erfte handelt näherhin von der Entjtehung der herzoglichen Gewalt ber Biſchöfe von Würzburg, bie zweite von ihrer Befeftigung, näherhin von dem Biſchof Herman I. von Lobdeburg 1224—1254, welcher ba8 od ftift beträchtlich erweiterte und durch Abrundung in feinem Beitand ficherte. Der Verf. ging mit Umfiht unb Scharf- fim auf ba8 Ziel fo8, bae er fid) geftelft, und wies zunächit nad), daß bie vorhandenen Cymmunitütépripifegien ber würz⸗ urget Bifchöfe aus bem 9. u. 10. Syabrfunbert für (am desherrliche Rechte nichts beweifen, ba fie immer nur von abhängigen Kirchenleuten, [εἰ e8 Freien oder Unfreien, reben. Darf dieß afe ficher bezeichnet werden, fo ift dagegen bie Zeit des Urſprungs des Herzogthums nicht‘ mehr genau zu ermitteln. Urkundlich erwähnt wird es zum erjten Mal i. S. 1156 und zwölf Jahre fpäter erlangte e8 ausdrücklch die faijerfidje Anerkennung. Der Inhalt des Diploms zeigt, daß es damals nicht erit gefchaffen, fondern nur beftätigt

Hoffmann, Decibent und Drient. 147

wurde, und Spuren feines früheren Beftandes find die Ab- bildung δὲδ Biſchofs Einhard 1088—1104 auf Münzen mit bem Schwert und die Erwähnung des Bilchofs Gmbro um das Jahr 1127 aí$ dux. Indeſſen mar diefer Titel auch nad) der faijerfidjen Beftätigung v. Sy. 1168 noch Fein ftebenber, wenn er gleich fortan Büufiger wurde. Er wechſelt vielmehr mit dem Zitel princeps ab und auf ben Siegeln findet er jid) zum erften Mal bei Lorenz Bibra 1495 1519, während ba8 Schwert auf denfelben jchon feit dem Jahr 1440 angebracht wurde. Die Unterfuchung zeugt von Fleiß und Gewandtheit und die zweite Schrift bekundet gegen- über ber erften einen fichtlichen ftiliftiichen Fortjchritt.

dunt.

8.

Oecident und Orient, Eine culturgejchichtliche Betrachtung vom Standpunkt ber Tempelgemeinden in Paldftina von Chriſtoph Hoffmann, Vorſteher des Xempelà. Stuttgart 1876. Steinkopf. 276 ©.

Den „Standpunkt ber Tempelgemeinden“ teilen. weder Neferent nod) bie Refer ber Q.Schrift, denen ziemlich befannt fein dürfte, mie fid) inmitten der gährenden unb ftreitenden Elemente und Kräfte der Gegenwart auf einem Kleinen Punkte Dentjchlands, in Schwaben, die Bewegung der ſ. 4. Tempelgemeinden organifirt hat. Deshalb übergehen wir den erjten Theil der Schrift Ὁ. Hoffmanns, des geiftigen Hauptes des „Tempels,“ ba in demfelben die Genefiß ber Bewegung und ihre einftweiligen Nefultate dargeftellt werden, und mögen ebenjomenig den Erörterungen des dritten Theile

10 *

148 Hoffmann,

folgen, welche die kirchlich-politifchen Verhältniffe Europa’s und bie orientalifche Frage, diefen Ahasver der Diplomatie betreffen. Bemerkenswerth dagegen erfcheint uns ber mittlere Theil, welcher über Vergangenheit und Gegenwart be8 Orients, die chriftlichen Kirchen δε εἴδει, den Islam, die bisherigen Einwirkungen Guropa'$ auf ba8 Morgenland, bie Anſchauun⸗ gen, Befürchtungen unb Hoffnungen eines wohlunterrichteten Mannes mittheilt, der dem in Betracht kommenden Land und feinen Leuten einen zwar eigenthümlich gefärbten aber unter die Oberfläche dringenden Blid und die Sympatbien eines redlichen Herzens entgegenbringt.

Den [don feit FZahrhunderten datirenden Verfall der einst fo blühenden Länder Vorderafiens faßt H. vorzugsweiſe als geiftig fittlihen, aus welchem im Lauf der Zeit aud) ber Verfall der äußern Gu(tur mit Nothwendigkeit hervor- gehen mußte. Er fiet denfelben in der Verfälfchung der Gotteserfenntniß durch Zulaffung abergläubifcher Vorftelfun- gen, bie fid) in Naturvergötterung und ihre beiden Früchte,” SPiefgütterei und Bilderdienſt ausgeftalteten. Gerade eine höhere Blüthe von Wiffenfchaft und Kunft wurde dazu miß- braucht, ben Gebifben der Superftition den Eindrud auf bie Gemüther zu fihern und ihnen dadurch Zufammenhang und Dauer zu verjchaffen. Dagegen fehlte e8 nicht an ernft- gemeinten Reformverfuchen, wie bem Zarathuſtra's; aber “bei mangelhafter Erfenntniß der göttlichen Dinge aud) in jolden hervorragenden Männern entbehrte aud) ba8 befte Streben einer tieferen Grundlage, wobei nicht zu unterlaffen mar, an bie mit ber unficher tajtenben Erfenntniß Hand in Hand gehende fittliche Kraftlofigfeit zu erinnern. Nach $. gab εὖ (C. 143 f.) einen Moment in ber Gefchichte Iſraels, mo burd) eine bem geiftigen Charakter diefer Nation

Occident und Drient. 149

ent[predjenbe Geftalt feiner äußern Verhältniſſe die berechtigte Hoffnung ermedt wurde, daß die Erfenntniß des wahren und lebendigen Gottes fid) über beu ganzen Orient und über alle Volker ausdehnen werde (Pf. 68. 72. 87). Er meint damit die Zeit Davids und Salomos. E8 ift jebod) nicht allein die Blindheit ind der Eigenfinn Syiraels felbit und ber heibnifchen Völker, welche damals die Erfüllung diefes großen Gedankens vereitelten, fonbern weit mehr that dieß ber Umftand, baB die Zeit noch lange nicht erfüllt war und Morgenland und Abendland, in welchem es damals erft zu dämmern anfteng, große Perioden zu durchleben hatte, ehe die Möglichkeit einer allgemeinern Verbreitung wahrer Gotteserkenntniß gejdjaffen war. Jene hochfliegenden Gr» wartungen einer neuen Durchdringung der Welt mit wahrer Gotteserfenntniß, denen in den genannten Liedern Ausdrud gegeben ijt, fuüpfen fid) an bie Perfon des Meffias, defjen Erſcheinung in ganz naher Zukunft wohl ein alter Prophet bermöge feiner bie Zeiten überfpringenben Vergegenwärtigung hoffen fonnte, aber feit in der Zeit ber [üngft gejchehenen Erfüllung Lebender in fehon weit früherer Zeit, etwa ber Davidiſch Salomonischen als unter gewiffen Vorausfegungen möglicher Weife eingetreten denken Tann. Auch H. Hoffmann nicht, ber furz darauf (€. 145) erwähnt, daß die erjte Rückwirkung des Abendlandes auf den Orient in der (ὅτε oberung Aftens bis zum Indus durch Alexander den rohen erfolgte, womit griechifche Sprache, Eultur und Herrſchaft fij über das Morgenland verbreitete und den Weg für bie "bald nachfolgende römifche Eroberung vorbereitete, bie ber» möge des ftrengeren und fefteren Charafters δὲν 9ibmer geeignet war, den Einfluß des Weftens auf bem Oſten nod) nachhaltiger zu begründen. Denn biefe beiden connexen S. fate

150 Hoffmann;

Sachen waren Hauptfaktoren der Vorbereitung auf die große Zeit der Erfüllung Für die höchiten Intereſſen gewann durch diefen Gontaft weder das Morgen» nod) das Abend» land (S. 146): ftatt ber geijtigen und fittlichen Erhebung war aus der Berührung beider das allgemeine Verſinken in feineren oder gröberen Fleifchesdienft entiprungen, in welchem wie in einem bodenlofen Sumpf, bie höhern geiftigen An⸗ (riebe und die Tugenden des öffentlichen und häuslichen Lebens von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr erſtickten und untergiengen. —Gemonnen hatte das Abendland aus biefer Berührung nur den orientafifchen Aberglauben, der ba$ geiftige SBebür[niB durch vorgefpiegelte Offenbarungen, Wun⸗ ber unb Weiffagungen täufchte und den orientalifchen Reich⸗ thum und Luxus; das Morgenland trug aber al8 Gewinn nichts weiter davon, aí8 bie Vervielfältigung der Wiſſen⸗ jdaften und Künfte und die geordneteren Einrichtungen . defpotifcher Staatöverwaltung,, beides hervorgegangen aus ber größern Regſamkeit und bem unruhigen Thätigkeitstriebe, die fid) im Abendland entmideft hatten. Allein weder biefe rege Thätigkeit, nod) bie Zanberei einer vermeintlichen tieferen Gotteserfenntniß Tonnten dem reißenden Strom des geiftigen und fittlichen Verfalls jteuern, ber fid) über die Melt er» goffen Hatte und ber im ben erften Jahrhunderten nad) Chriftus fo anwuchs, daß er endlich aud) den äußern Beſtand der rümijd)-griedjijd)en Eultur untergrub und zerftörte. Die Schattenfeiten des morgenländifchen Chriftenthums werden nicht verlannt, welches troß größerer natürlicher Bortheile nicht gleichen Schritt mit bem abendländifchen” zu halten vermochte (€. 147). Syene waren: e$ ftand dem Schauplatz des Urchriſtenthums nahe; bie Ueberlieferungen aus ben Anfangszeiten konnten in den vielen von ben Apofteln

Deeident und Orient. 151

jelbft gegrlindeten Gemeinden fid) leichter erhalten ; bie Sprache . der Heiligen Urfunden des Chriſtenthums war die Landes» ſprache unb die Länder des Orients zählten weit mehr ge» lehrte und zu wiffenfchaftlicher Forſchung befähigte Männer. Daß nun dennoch hier der rechte und urfprüngliche Geijt des Chriftenthums fid) nicht leichter, wie zu erwarten mar, bon affer Verfülfchung freier erhalten konnte, fondern in der an geiftigen Hülfsmitteln weit ärmern Kirche des Abend- landes fid) ein ent[djieben ftärkeres Wirken des chriftlichen Beiftes, bei geringerm Licht dennoch mehr Kraft findet, (ag allerdings an den geiftigen und fittlichen Zuftänden der jener Kirche unterthänigen Völker. Sie waren [don in ftarfem Grade ausgelebt und ausgehöhlt, daher bie greifenhaften Streitereien um ben. Buchſtaben und die rajd)en unb mäch⸗ tigen Eroberungen des Islam auf byzantiniſchem Gebiet. Denn nicht der Sieg be8 Islam Über das Heidenthum, ſondern die äußere und geiftige Eroberung des griechijch- aſiatiſchen Qünbercompfere8 machte bie mohammebanifche Be⸗ wegung zur Herrin des Dftens. Dem Islam muß man jogar trot oder vielmehr megen feines fchroff feindlichen Gegenfages zum Chriftenthum eine günftige Einwirkung auf beflen morgenländifche Hälfte zuerkennen : bie orthodore Kirche hörte auf zu verfolgen, da fie jeßt felbft die verfolgte war und das gleiche äußere Schickſal mit den Selten theilte; fie mußte fid) geiftig ermannen und gewann aus bem ihr aufgenötbigten Widerftand gegen die gewaltige Naturkraft der neuem Religion und aus bem mie auf Einen Schlag damit erfolgten Aufhören dogmatifirenden Wortgezäntes bie Kraft zu ben bald hernach erfolgenden SBefefrungen ber ſlavi⸗ iden Völker und zu erfolgreichen Miſſionen ımter tatarifchen Stämmen. Dazu fam noch, daß bie erfchlaffte chriftliche

1592 - Hoffmann,

Eulturwelt wieder an religiöſe Begeifterung glauben Lernte, welche bi$ dahin ftumpfgebliebene Maſſen in Bewegung fette und mit fid) fortriß, und die große Einfachheit der Sitten und die Kraft der Entfagung, welche bie frühern Träger des neuen Glaubens bewährten, nicht ohne anregenden Einfluß auf die mod) manchfach vorhandenen beffern Kräfte im Reich, die nur durch den Defpotismus und die Yethargie der welt- lichen und geiftlichen Obrigfeiten gebunden waren, blieb.

Der Auffhwung der erften Zeiten des Islam konnte nun freilih nicht lange vorbalten und die durch ihn zur Thätigleit gerufenen Kräfte der Begeifterung und phantafti- ſcher Exaltation verdedten nicht allzulange den Stangel an gefunden Glaubenselementen und höheren fittlihen Trieb⸗ fräften der Neligionsmengerei der SOüftenfüfme. Der enge Horizont Mohammeds legte feinen Bann aud) auf bie Nach⸗ folger (Chalifen), welche nun bald im Bunde mit ben offiziellen Vertretern und Ausübern des Islam jeden geifti- gen Auffchwung, jeden Verfuch einer Vertiefung und Weiter- bildung deffelben verfolgten und aus Furcht vor Anſteckung durch Hriftliche und jüdische Cybeen den Quell geiftiger Ent- wiclung der dem Islam unterworfenen Völker verjtopftert. Die Hemmung der geiftigen Kräfte im Syntere[je ber Super- ftition und ängftlic) gehüteten SOrtfoborie Hatte zur noth— wendigen Folge den Knechtsdienſt, die geiftige Sclaverei ber Völfer, bie Vergötterung des Chalifates, welches durch grengenfofe Willfür und Rückſichtsloſigkeit den Sclavendienft belohnte.

Am zweiten Abfchnitt über die chriftlichen Kirchen des Morgenlandes, ift der Über δὲν feheinbaren Troft- und Ret- tungslofigfeit morgenländifcher Zuftände oft verfannte oder bod) unterſchätzte fcharfe Gontrajt im religiöjen Grundver-

Occident und Drient. 153

halten der Drientalen aller Belenntniffe zu bem ber Abend» länder an die Cpite geftellt. Während unter den leßtern Religionslofigkeit ſchon vielfach in bie Maffen gedrungen ift unb wenigftens vorübergehend febr viele zweifelhaft ges worden find, ob das Verhältniß des Menſchen zu Gott in der That eine reale und praftifch wichtige Gadje fel, „ift dem Orientalen das Gefühl von ber Wichtigkeit be8 Ver⸗ hältniffes zu Gott jo tief eingeboren oder eingepflanzt, baf er fid) deffelben niemald ganz entfchlagen kann. Sei er Heide, Jude, Moslem oder Chrift, immer gilt ihm bie Neligion als die erfte. aller menfchlichen Angelegenheiten, und wenn dieſes Gefühl durch die Uebermacht irdifcher Intereſſen zurüdgedrängt wird, fo kann er e8 bod) nie grunbjüglid) befeitigen. Ja felbft wenn er im Verkehr mit Europäern gelernt hat, Srreligiofität zu erheucheln, um ſich den Anftrich moderner Bildung zu geben, jo [61 ihm bod) der geheime Nefpekt vor dem Unfichtbaren mod) in den Gies dern unb im Gemüth. Webrigens kommt dieß aud) nur jehr jelten vor imb gewiß mehr al8 99 Procent affer Orien- talen fprechen bei jeder Gelegenheit unverholen ihre religiöfe Stimmung ober Anfiht aus.“ Bei folder Sachlage, bie H. Hoffmann hiermit treffend gezeichnet haben dürfte, ijt ἐδ auf den erften Blick räthjelhaft, wie der Orient mit feinen begabten Völkern geiftiger Verarmung und fittlicher SBerübuug in dem conftatirten hohen Grab verfallen Tonnte. Der Berf., gefehworner Feind von Zänkereien um Glaubens- artikel, fehiebt die Verantwortlichkeit hiefür bem zu, was er den Glaubenshochmuth der „orthodoren“ Kirche nennt, welcher ihm ſchon aus diefem Beinamen bderfelben erhellt; und in „Gelehrteneitelfeit, Rechthaberei und hierarchifchen Hochmuth“ (S. 155) läßt er fid) bie alten morgenländifchen

154 Hoffmann,

„Profefforen“ und Biſchöfe gemüthlich und brüderlich teilen. Während ber „jahrhundertelangen Balgerei um Dogmen“ (itt nun allerdings das fittliche Leben, was dem Verf. 2115 zugeben ift, da dafjelbe in feinem tiefjten Grund auf die Autorität des lebenbigen Gottes und nicht auf die diffolviren- den Aftionen thenlogifcher Scheidekünftler gewurzelt ift, aber Verf. bergiBt zu leicht die logifche Nothwendigkeit der Ent- widlung und begrifflichen Ge[taltung der geoffenbarten Wahr⸗ heiten Hinter den Auswüchſen bieje8 Prozeſſes, die num einmal allem und jeden mie der Schatten zur Seite gehen. Schlimmer wirkte ohne Zweifel die Unterwerfung der Kirche unter die Staatögewalt, wodurch die firdj(idjen Aemter eine Beute der Heuchelei, Habſucht und Herrſchſucht wurden. Dem trat, was aud) im Buch zugegeben ijt, bei Zeiten das Mönchthum entgegen und bewährte durch Beifpiel und Lehre bie chriftlichen SSdenle ber Gutjagung und Aufopferung für bimmlifche Zwecke als Gegengift gegen die corrofiven Seir: tungen ber ſtaatskirchlichen Allmacht. Freilich ftelit fid) aud) hier wieder neben die größten Tugenden und einen kaum wieder erreichten Heroismus der Gntjagung ein ſchwarzer Schlagſchatten, den wir nicht mindern woller: „Gegen bie ' Bertaufhung des Trachtens nad) dem Neiche Gottes mit einer vermeintlichen Orthodorie hat das Mönchsweſen nicht nur nichts gethan, jonbern e8 ijt felbft diefer falſchen Rich⸗ tung bdienftbar geworden. Mönche waren bie mütfenbjten Giferer für fogenannte reine Lehre und Tießen fid in fürm- lichen Heerfchaaren aufbieten von ehrgeizigen Bifchöfen, bie unter dem Vorwand der reinen Lehre ihre Nebenbuhler um Macht unb Ehre zu ftürzen und bie Kaifer felbft burdj den - Fanatismus der von Pfaffen und Mönchen aufgewiegelten Bollsmaffen zu ſchrecken und zu zwingen mußten.“

Deeident unb. Drient. . 155

Ein puritanifcher Feind jeden Bilderdienſtes, ben er für bie legte Stufe geiftigen Verfalls und τε αἰ δεν Ver⸗ finfterung anzufehen geneigt ijt, kann jid) Hoffmann bod) der Einficht nicht verfchließen, daß ein Kampf gegen bie „Auswüchle des Aberglaubens,“ eine protejtantifche oder puritanifche Beftreitung des Heiligen» und Bilderdienftes durchaus feine Ausficht auf Erfolg im Orient fat. Er ftreift hier jogar thatfächlich, nicht fubjeltive, an eine Ver⸗ läugnumg feiner verkehrten Anfichten vom Bilderdienft, wenn er fagt (S. 159), daß, was bie orientalifchen Kirchen bes dürfen, nicht in erfter Linie bie Abfchaffung des Heiligen» unb Bilderdienſtes, auch nicht die Befeitigung ded Wahns jei, den man bei feiner allgemeinen Verbreitung wohl ben fatholifchen oder üfumenifchen Irrthum nennen könnte (in diefen Morten verräth fid) ftarfe Infallibilitätsmanie des Zempelhauptes), als ob äußere gottesdienftliche Handlungen und Geremonien ben Menjchen heiligen unb vor Gott an- genehm madjen könnten. Die Befeitigung folder Mißbräuche und Cyrrtbümer, fagt er ebendort, „die bei einer Neubelebung des Orients. weichen müffen,“ würde felbjt wenn fie gelänge, noch keineswegs eine Bürgfchaft für das Wiederaufleben der feit mehr al8 taufend Jahren jtodenden geiftigen Entwick⸗ [ung des Orients in fich fchließen. Obgleich Verf. eine Neubelebung des Orients hofft, wobei jene Mißbräuche meis den müßten, befennt er bod) fofort, daß ihre Beſeiti— gung wegen des rveligiöfen Charalters ber Drientaben gar nidt ausführbar fet und pros teftantifch in dem Sinne, daß man darunter die Annahme ber Denkweiſe der proteftantifchen Völker des Abendlandes verfteht, bie Ruſſen, Griechen und andere orientalischen Chriften ebenjomenig werben, als die Sytaliener und Spanier

156 Hoffman,

im Abendland. Diefer ziemliche Widerfpruh innerhalb . weniger Zeilen und feine infallible Behauptung eines fu. menijdjen Irrthums follte den Verf. belehren, daß ber Fehler nicht im Bilderdienft, fondern in ihm felbft, in feiner radi⸗ falen Bekämpfung unb Verwerfung deffelben fiegt. Es ijt “immer eine bedenkliche Sache und kann Böswillige zu fehlim- menGebantfen über Geiftes- und Gemüthsbeſtand anreizen, für die Behauptung eines ökumeniſchen Irrthums fid) auf den Iſolirſchemel feiner höchfteigenen Perſönlichkeit zu ftellen und von diefer Kathedra herab fein Sprüchlein ergehen zu laſſen. SSerjtünbiger urtheilt Hoffm. wieder, daß (S. 160) wenn der orientalifchen Kirche die Hilfe zu ihrer geiftigen Neu⸗ belebung und Umwandlung von außen, aus dem Abendland zu kommen beftimmt ift, ber Geift, ber in ifr gemedt werben foll, aud) ſchon in einer beftimmten Gejtalt fid) dem Orient darzuftellen hat, „natürlich nicht im ber für den Ortentalen unzugänglichen Geftalt de8 deutfchen, englifchen oder amerifanifchen Proteftantismus, fondern in der ganz und gar bem Wefen des Geiſtes entfprechenden und folglich für alle Nationen der Erde verftändlichen Form.” Ob aber bieje erjt jett vom Tempelhaupt erfunden oder bod) wieder entdeckt, oder in [εἰ Jahrhunderten bewährten feiten Normen einer Univerfalfirche vorliegt, die dann nur für den eigenthümlichen Charakter, bie Bedürfniffe und national mie gejchichtlich bedingten Verhältniſſe der orientaliſchen Chri⸗ ſtenländer zu modifiziren wären und das Schablonenhafte, was nirgends für den Geiſt und geiſtige Dinge paßt, nach Thunlichkeit abzuſtreifen hätten? Immerhin kann bloß von der Religion dem Orient die Auferweckung kommen, und nicht, keinenfalls irgend grundlegend und durchgreifend von den Culturhebeln des Occidents, ſo blank und glatt ſie

Deeident und Drient. 157

auch gehobelt worden find. Der Orient ift bei all feiner Serrüttung eim weſentlich religiöfes Ländergebiet geblieben, infolge deifen die Kirche als die fichtbare Erfcheinung der Religion dort nicht bloß das mächtigfte Element im Volks⸗ leben ift, jondern geradezu das Weſen ber Volksthümlichkeit ausmacht. Daher fahen! fdjon die arabischen, fpäter bie türfifchen Eroberer fid) genöthigt, bie Hifchöfe und Batriar- hen der firdjfiden Genoffenfchaften als die Oberhäupter derjelben zugleich zu den oberften weltlichen Verwaltern zu machen, meídje das Steuerweſen und alle andern Herrfcher- rechte beforgten.

Die Anficht über den Islam faßt Hoffmann S. 174 dahin zufammen, daß die Zeit, wo derjelbe für den Orient theifweife wohlthätig wirken konnte, vorüber, der Islam aber nod) eine Macht ift, furchtbar wegen des Einfluffes der Lehre Mohammeds auf die Geijter, weil bieje Lehre feinen Anfnüpfungspunft für geiftige Hebung gewährt, aber nod) ſtark genug ijt, um jede Förderung zu hemmen und neues Unheil burdj bie alten Meittel zu erzeugen. Das Abendland ift in fchwerer, unheilvoller Täufchung, wenn c8 glaubt, mit dem Sturz ber verrotteten Türkenherrſchaft werde dem Islam überhaupt der Qebenónero durchfchnitten. Derfelbe beftand Jahrhunderte vor der Türkenherrſchaft und wird bieje ohne Zweifel um Jahrhunderte überleben. Das Länbdergebiet, das er umſpannt, ift wohl fo groß af8 das djriftfid)e, und die Zahl feiner Anhänger dürfte nicht allzu- weit hinter der der Chriſten zurückſtehen. Hoffmann nimmt fie zu 200 Millionen an, was zuviel fein wird. Der Ver⸗ (nft der weltlichen Herrjchaft des Papſtthums Hat defjen ‚geiftige Bedeutung nicht gebrochen , momentan fie felbft ge« jteigert mit dem Türfenthum, wenn e8 einmal den eignen

-

158 Hoffmann,

convulſiviſchen Zuckungen und ben Eonfultationen feiner abend⸗ ländifchen Aerzte erliegt, hat der Islam zwar [εἰπὲ früher mädhtigfte weltliche Stüße verloren, wird aber, wenn aud) die aufs äußerſte gejchwächte perfifche Herrſchaft in die Brühe geht, ohne Zweifel eine neue weltliche Herrichaft aus fid) erzeugen, da feine Religionsgrundſätze weit mehr als die jedes andern Glaubens mit irbijd)en Intereſſen conner find und weltliche Macht und Herrjchaft medjjefjeitig ftüßen und wieder zu ihrer eignen Verbreitung benöthigen. Allerdings bejteht ein großer Unterſchied zwiichen Einft und Yet aud) hier. Der Koran war eine überlegne geiftige Macht gegen über dem heidnifchen Götzenthum, dem jüdischen Buchitaben- dienft und ber verfommenen byzantinifchen Chrijtenheit. Er wirkte belebend und begeifternd auf [εἶπε nüdj[ten Schüler- freife, aber aud) veinigenb auf die chriftlichen Selten im Meorgenland, und feine früheften Anhänger beglaubigten feine Lehre, bie doch auch wefentliche Säge ber chriftlichen und jüdiichen Offenbarung enthielt, in den Augen ber Welt nicht nur burd) das Schwert, fondern mod) nachdrücklicher burd) die Einfachheit ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten. Diefe idealen Momente im Islam, die ihn fo rafch zum Herrn theils früftiger aber kulturloſer, theils hocheultivirter aber degenerirter Völker machten, find nun längſt erlofchen, bie arabijd)e Guítur ijt verſchwunden unter den Kreuzzügen und den Mongolen, nachdem fie in einem Weltreih vom fiebenten bis über die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts

bie mohammedanifchen Völker, zulegt mur nothdürftig und - unter bejtändigen Abbröcdelungen zufammengehalten und ein Syitem mohammedanifcher Orthodorie ausgebildet hatte, bie Sunna, neben welchem eine Menge von Sekten im Anfchluß an hriftlich-jüdifche Doktrinen und Speculationen "fowie an

Occident und Drient. . 159

parfifche und buddhiftiiche Lehren ba8 feinere Gedankenleben aufrecht erhielt. Die türkischen Sultane hauften nun feit 400 Jahren in ihrer Weife mit dem vorgefundnen Eultur- unb Glaubensleben: fie Schnitten fid) was fie unumgänglich davon brauchten, mit bem Schwert zurecht und vervielfältigten durch brutale Tyrannei, Ausfaugung, wüfte Genußſucht, ber fie Sachen und Berfonen mit gleicher Rücfichtslofigkeit opferten, und duch Grmürgung alles idealen Strebens in einem piendoreligiöfen Mechanismus die ftarfem Riegel, welche ohnehin fchon jenen Völkern gegen allmählige Erhebung zu einem wmenfchenwürdigen Dafein vorgejchoben waren: „fie bielten als geiftiges Band bie Eunna der alten Chalifen feft und gründeten Schulen zur Aufrechthaltung der rechtgläubi- gen Ueberlieferung. Im türfijdjen Orient ijt daher Deut zu Tage ber Islam das geiftige Bollwerk zur Aufrecht- haltung alles Aberglaubens und geiftlichen Hochmuths, der fid) bei einem rohen Volk wie bie Türken unter dem Schatten des bom Staat bevorzugten theologischen Syſtems und mit Hilfe der allgemeinen Unwifjenheit breit maden konnte. Der jegige Mohammedaner befindet fid) daher in dem Widerſpruch, daß er die Meberlegenheit der europäifchen Eultur nicht mehr ganz läugnen fann und doch dabei beharren muß, feine eigne Unwiſſenheit, feinen Aberglauben und Stumpffinn für die ddjte Weisheit umb Frömmigkeit auszugeben, um auf bie Ungläubigen, b. D. die Ehriften mit der gehörigen orthodoren SSeradjtung herabjehen zu können“ (S. 178). Das Gemälde i büfter, aber faum unwahr. Das Zürfenthum, das nur Weniged von ben feingeiftigen Zügen des alten Arabismus befigt, hat die ohnehin fehon zur Defpotifirung von Geift md Perfon angelegte Koranreligion vollends aum platteften Hausgebrauh entmiürbigt und um auch jede von außen

160 Hoffmann,

kommende Reform abzuſperren, die ausgeleerten Schädel der „Gläubigen“ mit hochgradigem Fanatismus und jeder Er- tenntniß baarem, des Paradieſes burd) feine Ignoranz abfolut fiderm Hochmuth ausgefüllt, was beides am fid) [don zum Wefen des Islam gehörte, aber mit bem allmähligen Erlöfchen der altarabifchen Eulturelemente fich fteigern mußte. -

An Betreff der Miffionsverfuche des Abendlandes im Orient, von denen der vierte Abjchnitt (S. 175 jf.: über die bisherige Einwirkung Europas auf den SOrient) handelt, ijt 3ugugeben , daB bie katholiſche Kirche dabei am dem faft unüberwindlichen Widerwillen der Griechen ein faum ge ringere8 Hinderniß findet, als an der hochmüthigen Indolenz der Türken. Als 1453 Mohammed II daran war, den mehr als taufendjährigen 3Bpaantinerbau in Trümmer zu jchlagen, äußerte nod) ein hoher Würdenträger ber orthodoren Kirche gegenüber dem päpftlichen Hilfsverfprechen im Zall der Anerkennung der römischen Oberhoheit: er [fefe lieber den Zurban in der Stadt als den [ateinijdjen Hut. Gries chenhochmuth, der bem vechtgläubigen Moslimenftolz nichts nachgab und aud) damals für feinen verfnöcherten Glauben ein Wunder erwartete, hatte ftarfe Schuld daran, da wie H. Hoffen. billig anerkennt, die Griechen im Wettjtreit ihres Patriarchen mit den römischen Herrſchaftsanſprüchen eine Be⸗ friedigung ihrer nationalen itelfeit fanden und daher um feinen Preis etwas von Anerkennung der kirchlichen Ober- hoheit be8 Papſtes oder von Annahme der lateinischen Sprache im Gottesdienft und anderer römifcher Kirchenfitten hören wollten. Und ! „nachdem die Zürfen Herren des Mor- genlandes geworden waren, fonnte e8 ihnen nur lieb fein, ihre hriftlichen Unterthanen firdj(id) vom Abendland getrennt zu wiffen, und als bie türkifche Macht wieder fanf und im

Deeident und Orient. 161

gleichen Berhältnig Rußland emporftieg, fo nährte natürlich aud) biejer Umftand den Trotz, in welchem fid) bie griechifch" ortfobore Kirche dem mächtigen Einfluffe Roms verſchloß.“ Noch weniger als die römifch-Fatholifche Kirche, die neben bem uralten Haß der Griechen, mit der Feindjeligfeit Ruß⸗ lands, aber auch mit dem tappigen Fanatismus einzelner ihrer Vertreter zu fümpfen Dat, kommt nach dem Verf. (€. 178) für die Hebung des Morgenlandes die proteftantifche Einwirkung in Betracht. Sie verkörpert fid) eigentlich nur in Schulen, Kranfenhäufern und andern wohlthätigen Anjtalten, deren Thätigkeit zu zerfplittert ijt, um eine Wirkung im Grofen Hervorbringen zu fünnen. Man ſoll aud) nicht meinen, daß εἶπε ſolche uneigennüßige Liebethätigfeit [tavfe | Eindrücke hervorbringen werde.

Die Orientalen haben im Durchſchnitt gar nicht mehr fo viel fittliche8 Gefühl, um eine reine Liebe zu ben Menſchen a6 Beweggrund des Guten, ba8 man ihnen erweist, ers fennen und würdigen zu fünnen. Die Aeußerungen von Dankbarkeit und Anerkennung, die man wohl aud) von ihnen vernehmen fanu, werden in ber Regel von uns zu hoch aufgenommen und al8 Zeichen tieferer Gemüthsbewegung betrachtet, bie gar nicht vorhanden ijt. Noch weniger Ausficht gibt Berf. der Predigt im „Heimathland des dogmatijchen Zanfes“ : wo von jeher man den Glauben nur ald Partei- fahne und Deckmantel eigenfüihtiger Beftrebungen zu ges brauchen gewohnt ijt, Tann man nicht durch bloße Grmap- nung und Belehrung zu ber llebergeugung gebracht werden, daß eine richtige Erfenntnig des Chriftenthums ben Menſchen vor allem zur Umgeftaltung des Lebens, zur lleberminbung der Zafter befähigen müjje. Daß aber auch dem Proteſtan⸗ tismus gegenüber der römischen und der orientalifchen Kirche

Theol. Quarialſchrift 1876. Heft I. 11

162 Hoffmann,

[εἴ ein überali notbmenbige8 , im SÜlorgeníanb aber ganz unentbehrliches Element fehlt, eine Organifation, die eine wirfliche geiftige Leitung der Menſchen möglich mad, konnte dem Verf. ebenfalls nicht verborgen bleiben. Auf den Orientalen macht, [djreibt er &. 179, weder Belehrung noch Ermahnung einen nachhaltigen Ginbrud, wenn fie vidt von einer änßern geiftigen Macht ansgeht, ber er fid) beugen muß. Er ijt in diefer Beziehung ein Kind, bem man ge bieten muß, weil e8 noch nicht im Stande ift, Gründe zu verftehen und zu würdigen. Da er num leicht wahrnimmt, daß der protejtanti[d)e Prediger eine ſolche Macht unter feinen europäifchen Glaubensgenoffen nicht befigt, fo madt er jid) aus ihm und feinen Worten nichts, und meint durd) feinen Webertritt eher dem ‚Prediger ober Miffionar einen Gefallen, eine Ehre erwiejen zu haben, als daß ihm babutd eine Verpflichtung auferlegt wäre. Tür jo nützlich das Wirken diefer Miffionsjtationen der Verf. im Einzelnen hält, jo muß er bod) erflären, daß als felbftändiges, fchöpfer rijd) wirkendes Culturelement der Proteſtantismus vermöge feiner Zerfahrenheit für den Orient gar nicht in die Wag- ſchale fällt (a. $O.).

Noch wird in jenem Abfchnitt unterfucht, welchen Einfluß auf das Morgenland die jogenannten liberalen Ideen des Decidentes gehabt haben und welche Ergebniffe aus denfelben etwa ' für eine Negeneration dortjelbjt zu erhoffen feien. Der Orient ijt durch diefelben namentlich in den meftfiden. Provinzen der Türkei ftärfer beeinflußt worden, als man gewöhnlich annimmt: fie haben dort Liberale Staatsver⸗ fajjungen ins Leben gerufen und felbft in Gonftantimopel und Kairo fih Berücdjichtigung erzwungen, zunächſt nadj unjrer Meinung fajt nur foweit, daß das Spiel mit ihnen

3

Decident und Drient. 163

den dortigen Regierungsfreifen es erleichterte, noch eine längere Gnadenfrift hindurch den Täftigen abendländifchen Mahnern auf anftändigere Weife Sand in die Augen zu freuen. Da aber im Morgenland der Verſuch einer 3e; feitigung der Religion aus bem Volksleben nod) weit aus- fichtSlofer ijt a(8 bei uns, bie liberalen Ideen aber, bis jest wenigftens, in vielen ihrer Apojtel und Dienftbefliffenen eine theils verdedte, theils offenkundige Abneigung gegen die Neligion zeigen, jo liegt die Unmöglichkeit zu Tage, daß fie als Hebel zu einer durchgreifenden Umänderung jener verrotteten Suftánbe dienen können, jo lange ἐδ wicht gelingt, das Wahre und Gejunbe in ihnen loszutrennen und ifm die Weihe der Religion zu ertheilen. Sie mijjen burd) bie Grfenntnig der emigen Beſtimmung des Menichen ergänzt und geheiligt werben, da fo lange biep fehlt, aud) bie um vollfommenfte Geftalt der Religion in den Gemüthern der Menfchheit bie Oberhand behalten und ber Entwicklung der Völker be8 Drients auch ferner willlührliche Schranken ſetzen kann.

Wir müſſen aber hier abbrechen. Was nad) bem Vor⸗ jtehenden theils über da8 Buch gejagt, theil® an8 demjelben vorgeführt worden ijt, wird davon überzeugt haben, daß daffelbe in Teidenjchaftelofer Weije, bie auch den Gegnern gerecht zu werden fucht und auf dem Grunde jolider 3Be- kanntſchaft mit den verwidelten fozialen, religiöfen, politi iden Zuftäuden des Morgenlandes bejjen Vergangenheit und AJufunft bejpridgt. Herr Hoffmann ijt 1861 mit ber TZem- pelgemeinde aus der MWürtembergifchen Landeskirche ausge: treten und verjucht nun, feine Plane und Zukunftserwartuns gen, welche fid) anf die allzu buchſtäblich und finnlich gefapten prophetifchen "n unb Verheißungen gründen, auf

' 11 *

164 Bloch,

paläſtiniſchem Boden mit Gíeidjgefinntem zu verwirklichen. Verftand, praftifches Θεία und Energie des Mannes mit unerfchütterlicher Glaubensfreudigkeit flößen hohe Achtung ein. Eines Urtheils über die Zukunft der bon dem Tempel in Angriff genommenen Arbeiten iyt. Gebiet des heil. Landes haben mir uns zu begeben, thun e8 aud) um fo lieber, da ſämmtliche Mifjionen im Orient bisher ein hartes, meijt undanfbares Arbeitsfeld haben. Das befprochene Buch je» doch empfehlen wir al8 Duelle manchfacher Belehrungen über viel zu wenig gelannte, aber in fid) und in ihren Rüd- wirkungen auf das Abendland äußerft wichtige Verhältniffe. Es ift viel intereffanter als die blafirte glaubensfeindliche Schrift des berühmten Reiſenden Vambery, die wir vielleicht ein andermal des Contraftes halber vorführen wollen.

Himpel.

.9. Studien zur Geihidte der Sammlung: der althebräiſchen

giteratut, Don ἃ. €. Bloch, Rabbiner. Breslau, 9. Skutſch, Verlagshandlung. 1876. 160 ©.

Theil Gegenftände der allgemeinen Ginfeitung , wie Benennung ſucceſſive Entjtehung und ältefte Eintheilung, Anlaß der Canonjammlung, Canonſchluß und Gnofticismus (aus der jpecieffen Einl. Inhalt und Entjtehungszeit des Buches Jona), Sammlung des Hagiographencanon, teile . Materien aus der fpätern jüdifchen eligionsgefchichte: Entftehung der Halacha, die Halacha und bie heil. Schrift, die Halacha und der Canon, die ecclesia magna, ihre

Zur Geichichte ber Sammlung der althebr. Literatur. 165

Entftehung, Dauer unb Wirkfamkeit find in den Studien Blochs einer forgfältigen Durchforfchung unterzogen. Die fünf Abfchnitte, unter welche fid) alle diefe Dinge vertheilen, haben jedoch feine veinliche, geordnete Gliederung, erjeßen aber den Mangel an Difpofition durch Früchte glücklicher Combination und reicher Belefenheit in tafmubijdjer und jüngerer rabbinifcher Literatur. ($8 wird vor allem bie Frage geftellt: Bildet das alte Teftament überhaupt ein einheitliches Ganzes, oder vielmehr drei verfchiedene Bücher⸗ Sammlungen, Gejeg, Propheten und Hagiographen, bie zu verfchiedenen Epochen entſtanden, ange einzeln circulirt haben und erft in relativ febr fpäter Zeit vereinigt worden find? δεῖ. entfcheidet fih für letzteres, indem er bie Bropheten um 350 v. Chr. gefammelt fein läßt, wegen dee Buches Jona, bem er eine febr fpäte Abfafjung vindiziren will, und bie Sanımlung ber Hagiographa um 200 v. Gr. anjept. Doch ijt Verf. im Wefentlichen wieder von ber Uns nahme nicht allzumeit entfernt, mornadj Esra-Nehemia und mit ihnen verbundene gelehrte Männer den Canon gegründet haben : er läßt. benjefben durchaus von der durch jene ein» gerichteten großen Synagoge, ecclesia magna, aljfo von autoritativer nationalfirchlicher Behörde, zu Stande gebracht werden und verwirft die bequeme Ausfluchtstheorie, daß ber Zufall den Ganon gefchaffen ober er fid) mie von ſelbſt gemadjt habe. Damit jdjint uns bie bunfíe Frage nad) Urjprung, Anwachſen und Abſchluß des Kanon auf das richtige Zerrain geftellt und die weitere Frage mad) bem Abſchluß, melde Mande aus ungerechtfertigter dogmati- her Boreingenommenheit um jeden Preis zu Gunſten ber Géra-9tefemianijdjen Epoche beantworten, zur Neben- jache Herabzufinten. Proteftantifche wie Tatholifche Gelehrte

166 Bloc,

zeigen bier oft arge Befangenheit: jene, indem [ie bloß aus dem Grunde, um gegen die „Apokryphen“, bie deutero- canonijden Schriften, beffer polemifiren zu fónnen , . nicht Selten die Sammlung des gefammten Canon der drei Claſſen auf Esras Zeit bejdjrünfen, die andern, indem fie häufig (Movers, Haneberg), um die viel [pütere Aufnahme ber denterofanonifchen Schriften rechtfertigen zu können, bie - Aufnahme aud) einzelner hebräifch-fanonifcher Bücher in die dritte Claſſe noch in fehr Später (jefbft erſt chriftlicher) Zeit gefchehen fein, alfo bie legte Claſſe bis in fo fpäte Zeit herab ungejchlofjen fein faffen. Für fuccejfive Entftehung des Canon wird nun geltend gemacht, daß ba8 alte Tejtament feinen Namen habe, womit man ἐδ in feiner Gefammtbeit hätte bezeichnen können. Es mar bei einmaliger Ent- ftehung des Canon zu erwarten, daß ein fo bebeutjfames (iterarifches Produkt bodj wenigftens eine Gefammtbezeich- nung haben follte in ber Literatur und im Volksmund: die Sammler des alten Teſtaments haben vergefien, ihm einen Namen zu geben. Dieß [εἰπε fid) am beiten daraus zu erflären, weil die altteftamentfiche Bibel nicht eine drei- theifige, fonbern drei verfchiedene Sammlungen bildet, melde in drei verjchiedenen Epochen nacheinander entjtanden find. Wie die drei Sammlungen, fo abbirte jid) das Volk bie drei Namen. Wäre dagegen, meint DI. ©. 5, bie Samm- (ung des alten Teſtaments zu einer Zeit von einer Be- hörde erfolgt, bildete fie mur ein Corpus, fo hätte fie gewiß auch eine entjprechende Bezeichnung erhalten müfjen. Der Grund ift wahrjcheinlich, aber nicht evident, und zudem nod) fraglich, ob nicht trog der Einwendungen be8 geehrten H. Verf. burd) ora, Lehre, Gefetg ein Gefammtname ge» geben worden mar. Wenigftens erfcheint unter diefer Be⸗

4

Sur Gefichte ber Sammlung der altbebr. Literatur. 167

nennung ber alttejtamentliche Gefammtcanon im neuen Teſt., 95. 12, 34. 1 Gor. 14, 21 und a. a. St., ebenjo üt ber talmudifchen Literatur, und ber Verf. legt Gewicht darauf, daß die neuteftamentlichen Autoren wie fpäter nod) die kirch⸗ (iden Schriftfteller in allen literarifch-altteft. Fragen von der Tradition der Synagoge abhängig waren. Simon be8 Ges rechten (gegen 200 vor Chr.) Wahlipruch lautete: Auf drei Dingen ruht die Welt: auf ber Thora, dem Gottesdienfte und der Hebung menfchenfreundlicher Werte. Dazu bemerft Berf. fe[bjt, daß Simon hier keineswegs mit Thora bloß den Pentateuch, jonbern eben auch alle übrigen Schriften meine. Nicht anders, menn 9t. 9(fiba bie Maſora für einen Zaun um bie Thora, erklärte; auch er hatte dabei das ganze Schriftthum im Auge. Es bliebe dann dabei, daß bie Vebertragung des Wortes auf die ganze Sammlung ftatt fatte, weil der SDentateudj, bie Thora κατ᾽ ἐξοχην, die Grund» (age de8 ganzen alten Zeftamentes bildete. Dagegen würde auch nicht ftreiten, wenn felbft einzelne Schriften Thora heißen. Wir hätten dann folgendes Namensverhältniß : Thora zunächſt der Pentateuch, Thora aud) (in feinem ächten allgemeinen Sinn: Belehrung gegenüber von Sigma, bet einzelnen Sagung) einzelne andere Bücher, endlich Thora der Compler ſämmtlicher Bücher, welche jobaun in drei Slaffen zerfällt worden wären. Wir läugnen aber nicht, daß für die nicht bogmatijdje, jonberm rein hiftorifche Ber deutung ber Benennungen der zweiten und dritten Claffe Manches fpricht und der vorgeblich geringere Grad ber Werthichägung, ber Theopneuſtie, welcher den Schriften der dritten Claffe beigelegt wird, um überhaupt bie Genefis biejer Claſſe zu erklären, im Grunde jehr wenig auf fid) fat; ober menn gejagt wird, Daniel fei der dritten Claſſe

168 Bloch,

und nicht der zweiten, bie ihm bod) gebühren jolíte, auge theilt worden, weil er fein offizieller Prophet dem Amt und Stande nad) war, fondern als chaldäiſcher Staats- beamter das Prophetenamt nur nebenher bekleidete und wohl die Fähigkeit, da8 donum, aber nicht ben Beruf, das munus be$ Propheten befaß. Daß fodann aud) der poetische . Theil der Hagiographa als rein prophetifch angefehen wurde, wird durch zahlreiche Stellen aus dem neuen Teftament, ben Zalmuden und Midrafchim belegt. Man wird jid) alfo, will man bie dogmatifche Bedeutung der Gfafjennamen und die Verweiſung einzelner Bücher je in die zweite und dritte Ordnung mit Abweichung der Hiftorischen fefthalten, mad) andern Gründen dafür umfehen müfjen. Es wird aud) nicht zu Yäugnen fein, daß mo im neuen Teſtament bloß von Thora und Nebiim die Rebe ijt, nicht eine verfchiedene Heiligfhägung des dritten Theils gemeint wird, fondern der zweite und dritte Theil durch bie Nebiim zufammen- gefaßt find, mie e8 in talmudifchen Stellen gefchieht. edi ten, Setubim, x. ἐς nämlich, Heißt bie dritte Abtheilung, und da einft aud) ber Prophetencanon jo hieß (Sepharim), erhefit fchon hieraus der Irrthum, daß fie gegenüber von Geſetz und Propheten nicht weiter als Schriften ſchlechtweg genannt murden, denen eine fo ausgezeichnete Eigenschaft wie mofaifch oder prophetifch nicht zufomme. Alt und neu ift. die Streitfrage über den ursprünglich hagiographi- hen oder prophetifchen Charakter von Ruth unb fag: liedern, wovon Ruth in ber befannten Baraitha Baba Bathra 14 an der Spige der Hagiographa jtebt. Sicher iff die hier beliebte, ta(mubijdje Neihenfolge der canonifchen Bücher nicht die ber Canonſammler, und gründet jid) weder auf alte Traditionen der Sopherim, nod) Hat fie die Abficht,

Sur Gefchichte ber Sammlung ber althebr. Literatur 169

die Ordnung ber einzelnen Bücher und ihre Erhebung zu allgemein gültigen Urkunden bekannt zu geben. Syene Ba⸗ raitha hatte nie allgemeines Anfehen, fondern ift. mit vielen andern privaten Charakter, weshalb die beiden Büchlein nach älteften Nachrichten urſprünglich nicht in der dritten Claſſe, fondern je nad) Buch der Richter und des Yeremia ftanden: „gewiß hatte Buch Ruth (das nod) zur Zeit ber Herrschaft der Davidifchen Dynaſtie und als die Verehli- dung mit einer Moabiterin nod) feinen Anftoß erregte, ges fchrieben worden ift) bie Reihe der einzelnen Berichte aus ber Königszeit eröffnet; bie Verſetzung deffelben in bie Hagio- graphen erfolgte erft in der talmudifchen Zeit aus rein litur» gifchen Gründen“ &. 15). Dieß bleibt richtig, auch wenn man die unbeweisbare Annahme des Verf. nicht theilt, daß Ruth im großen Königsbuch geftanden und die Reihe der einzelnen Berichte aus der Königszeit eröffnet. habe, nad) ber Zerlegung bes großen Werkes (deffen Grifteng wir eben für jehr problematisch Halten) Schon der Anhalt dem Buch Ruth jene Stelle Hinter bem der Richter angewiefen habe. Die durhaus fünftliche und aus praftifchen, hier Titurgifchen Sefichtspunften beliebte Zufammenordnung und Reihenfolge ber fünf Megilloth, zu denen Ruth unb Klaglieder gehören, ift ohnehin ebibent. Sie tragen gar feinen einheitlichen Charakter, haben in feiner Weife etwas Gemeinfames und Berwandtfchaftliches und wurden in der jüdiichen Gemeinde je an fünf beftimmten Fejttagen in der Synagoge vorge- (fett, von ber gefammten Gemeinde, nicht etwa bloß vom SBorbeter wie die Pericopen aus Sora und Propheten. Infolge dieſes Uſus entftanden im frühen Mittelalter bie Fünfrollenhandſchriften, welche diefe fünf Büchlein umfaßten (in der falenbarijd)en Reihenfolge der betr. Feſt- und Faſt⸗

170 | Bloch,

tage ftehen fie nun auch im Ganon: Hoh. Lieb für Pafche- feit, Ruth für Wochenfeit‘, fagi. auf O9tem Ab, ben Tag der Zempelverbrennung, Kohelet für Hüttenfeft- und Eſther auf Burim), um dem Bedürfniß von Perfonen entgegen- zulommen, die nicht in der Lage waren, eine nad) damaligen Berhältniffen fehr theure Handſchrift der ganzen hebräifchen Bibel fid) anguídjaffen, während diefe Fünfrolfenbücher ein jolches Bedürfniß für Gemeinden und Privaten waren, mie das Gebetbuh. So entftand die anfcheinend fo fonderbare 3Bet- einigung und Zufammenftellung der fünf Schriftchen εὐ im Mittelalter, denn die liturgijdje Benützung der Klag⸗ lieder kann fein höheres Alter beanjprudjen (S. 26). Um jo weniger wird man im pfendoconfervativen Intereſſe ber Aufrechthaltung einer vorgefaßten Meinung über Entftehung des Canon die beiden genannten Schriften als urſprüngliche Beitandtheile der dritten Abtheilung deffelben fefthalten wollen. Die in neuer Zeit vielfach aufgebrad)te Ansicht, daß das alte Teftament bie gefammelten Reſte ber hebräifchen Nationalliteratur enthalte, Dat an $9. BI. einen entfchiedenen Bekämpfer. Es gab in der That ein reiches profanes Schrift- tÜum der Hebräer, von weldem Thoro', jodann aud) die fpätern Schriften höherer Dignität abgejonbert wurden und die in nacherilifcher Zeit, als das Judenthum fid) innerlichſt zur Religion der Väter wandte und durch die große Syna⸗ goge über 200 Jahre fang, fpäter durch das Synedrium in biefer Richtung erhalten und gefteigert wurde, mehr und mehr der Vergeſſenheit verfielen und verloren giengen. Mande, aud Bl., erachten das Hohelied als ein ſolches fojtbare$ Weberbleibjel der profanen Literatur Iſraels, der f. g. äußern Schriften, (Chizonim, ba fie extra canonem blieben), da8 nur der Name Salomons als Verfaſſers ge:

Sut Gejdjidjte bec Sammlung bet althebr. Literatur. 171

rettet und in ben Canon der heiligen Bücher gebracht Babe. Man erklärte c8 Später für arge Verfündigung am Gejek, am „Leben“, welche ben Verluft des jenjeitigen Lebens nad) fid) ziehe, menn man ftatt der heil. Schriften die „äußeren“ ftudirte. Man fonnte fie für das gänzlich veränderte, durchaus religiös und gefetlich normirte Leben gar nicht mehr verwenden unb mußte fie felbjt Daffem, menn man bedachte, daß jene Literatur fo viel zur Kräftigung aller der Faktoren beigetragen hatte, die das alte Reich fchwächten und zulegt zu Grunde richteten. „Das alte Bolt war unter den Trümmern des alten Tempels begraben und an deifen Stelle das ſchriftgelehrte Judenthum getreten. Man muß aber zugeben, daß einer folchen Energie und Thatkraft, wie fie das Syubent)um zur Zeit der Makkabüer entwidelte, jener wunderbaren Zähigleit und Ausdauer, unbeugfamen Standhaftigkeit und Felfentreue, mit welcher das im dial» däifchen Exil zuerft abgehärtete und geftählte Volt allem Trog bieten fonnte, die Althebräer faum fähig waren“ (€. 58). Mit einem Wort: das Maktabäerthum ift das Produft ber ausfchlieplich heiligen, canonifchen Literatur, das alte Hebräerthum für gewöhnlich mehr das Produkt der äußern, nationalen Literatur, neben der die canonifche fid allmählig Beranbifbete , ein radikaler Unterfchied , ber nach unferer 9(nfid)t felbft wieder einen fidem Rückſchluß auf die von PVielen grundlos geläugnete Eriftenz jener pros fanen Literatur geftattet. ine eigenthümliche Abirrung von ber frühern rein praftijdjer Verwerthung der zu uns bedingter Autorität gelangten heiligen Literatur fürs Leben der Gemeinde und ber Einzelnen trat fpäter hervor: eine gnoftifch-fpefulative Werthihägung diefer Schriften an ſich. R. Akiba auf der Synode zu Lydda zählte zu ben Vertretern

Dr. ©. $. v. Schubert's

kleine Srzählungen für die Öugend

I. Band 2. Auflage. (gr. 8. [VI u. 250 Seiten] geh. Preis 24 Sgr.) bringt Folgen e jpannende Erzählungen:

Die verbedte Schüffe. Der Soldat auf ber Wache. Eine gute Waare, die nicht in' Gewicht füllt. Das Tifchgebet ber Lerche, be8 Löwen unb bes Kindes. Der Segen eine8 Sterbenden. Eine jeltfame Pflegemutter. Der unbefannte fampfgenoffe. Flavius und Belagia. Bilehilde. Muttertreue. Bei Gott ijt fein Ding un: mbglidj. Die unfihtbare Schutzwache. Robert der Soldat. Der furdjtjame Held. Das Cottesgeriht. Das Ahndungsvermögen unb bie Stimme be8 Gewiſſens. Die Wirtbichaft in der Judenharfe.

In demjelben Verlage find aus der Feder des, wie fid) ein Schriftfteller äußert, „auf dem ganzen Erdfreife von Jung und Alt in Hütten und Paläften mit Verehrung ge- nannten“ verewigten Verfafjerd noch folgende für bte Jugend wie für Grivadjjene, geeignete Werke erjchienen: Kleine Erzählungen für die Jugend. II. Band. 239. 40 Pf. Erzählungen L—IV. Bo. gr. 8. geh. 18 M. 60 Fi.

Hieraus bejonber8 abgedrudt:

err Stephan Mirbel. or. 8. geb. 1M. 20 3}.

ie Schaßgräber. gr. 8. gef. 80 Pf. Die alte Schul,

gr. 8. geh IM. 20 Pf. Die Zeichen des Lebens. Die beiden Inder. Nebit falenberbijtórden. gr. 8. geb. 80 qf. Seebilder. gr. 8. geb. 4 M. 80 Bf.

zu Linz zur Anſchaffung empfohlen.

Reife nad) dem ſüdlichen Frankreich und durch bie ſüd⸗ lichen Küftengegenden von Piemont nad) Stalien. 2 Aufl. 2 Bde. gr. 8. geb. 6 3X.

WBanderbüchlein eines reifenden Gelehrten nad) Salz⸗ burg, Tyrol unb der Lombardei. Dritte vermehrte Auflage, τ τῇ Neije über ba8 Wormſer Joch nach Venedig. gr. 8. geb.

Vermifchte Schriften. Erfter Band. Mit 9tadtrügen zu des Verfafſers Gelbjtbiograpbie (enthaltend: Fragen und Ant: footten über das Diesfeit3 und das Jenſeits. Der Vorhof ber Heiden und Iſraels Tempel), Mit bem Bildniß be8 Serfaffer8 ((egtere8 auch einzeln verfäuflich zu dem Preife von 1M. 60 Pf.; dit. Papier 2 M.). gr. 8. geb. 8 M. 60 Pf. Zweiter Band (enthaltend: Borbilder und Bilder aus dem Leben) gr. 8. geb. 4 M. 40 Pf.

*

Hieraus bejonber8 abgebrudt:

Chriftian Friedrih Schwartz ber Genbbole bes Evan- geliums in zynbien. gr. 8. geb. 1 9X. 20 [Die meijten der vorjtehenden Schriften tvutben aud) üt bie mohlfeile Ausgabe ber „erzählenden Schriften für chriftlich gebildete Zefer jeden Standes und Alters“ aufgenommen, von welcher Samm: [ung 7 Bände zum Gejammtpreije von 17 M. 40 Pf. vorliegen; behufs exleichterter Anſchaffung können diefelben aud) nach und nad) in Lieferungen à 60 Pf. bezogen tverben.]

Mähren und Erzählungen für das Findliche Alter als Zugabe zu ben Kleinen Erzählungen für bie Jugend. Neue ver: mebrte Auflage gr. 16. geb. 1 3X. 20 Pf.

Die Gefchichte ber Natur als dritte. gänzlich umgear- beitete Auflage der allgemeinen Naturgejchichte. I. Bd. (auch unter dem Titel: „Das Weltgebäude, die Erde und bie Zeiten be8 Men- ſchen auf der Erde”), gr. 8. geb. EM. 40 Pf. 11. 35b. Mit : Mi diri PUE unter dem Titel: „Abriß ber Mineralogie”).

8. geh. o M. 20 Pf. 1I. Bd. 2 Abthlg. (2 Aufl.) 5 M. 40 Pf. iri. Bo. (2 sui) 8 M. 40 Bf.

Peurbach und Negiomontan, bie Wiederbegründer einer jelbftftändigen und unmittelaren Erforfchung bet Natur in Eu: ropa. 8. 1 34. 50 Bf.

Seife in das Morgenland in ben jahren 1836 und 1837. 3 Bde. Neue Auflage. Mit einer Karte und bem Grunbrifie von Serufalem gr. 8. geb. 23 M. 10 Pf.

Die Zanbereifünden in ihrer alten und neuen Form betrachtet. Ziveiter Abdrud. gr. 8. geb. 60 Bf.

Jede Buchhandlung bejorgt Beitellungen auf vorftehende Werke.

Erlangen. Balm Ente.

Sammlung Tatholiicher f'irdengelünge für vier Männerftimmen von Adolf Zeller. 4. Lieferung. Tübingen 1872. Berlag ber $. Laupp'ſchen Buchhandlung.

Die Singer theol. prakt. Auartalfchrift fagt:

„daß leichtere „mit ſchweren Geſängen in bunter Reihe abwechſeln, erhöht bie Vorzüge, mit welchen bieje Sieberjammlung glänzt. Die Mehrzahl der darin enthaltenen Lieder eignen zum liturgifchen Gottesdjenfte, fo 3. 38. die Summen: »Nunquam se- renior. nuntium vobis fero«; »Iste Confessor«; »Angelorum esca« bie > cquentiae: »Veni sancte Spiritus«; und bie Can- ticum: »Magnificat«! „Die übrigen Gejánge: „Deine Seele auf unb fuge"; „Stille Nacht, heilige Nacht" und „Ach fieh ibn bul den” find jebr pafjend für den Privatgottesdienft, jowie aud) für die Hausandacht in jenen Anftalten, melde über ein gejchultes Männerquartett zu verfügen baben."

Theologiſche

Quartalfcbrift.

Sn Verbindung mit mehreren Gelehrten

beraußgegeben

von

|. D.v. Kuhn, D. Juktigl, D. v. Himpel, D. Kober,

D. £infenmann unb D. Sunk, Profefloren der kathol. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen,

Adhtundfünfzigfter Jahrgang.

Zweites Quartalheft.

@übingen, 1876. : Berlag δὲς H. 2aupp'[den Buchhandlung.

Drud von H. Laupp ix Tübingen.

I. Abhandlungen.

1

Einiged über die wiſſenſchaftliche Bedeutung und thce- logiſch kirchliche Stellung des fef. Prof. Dr. Aberle.

Bon Profeflor Himpel.

Der ſchmerzliche Hintritt des vieljährigen, ausgezeichneten Mitarbeiters und feine Verdienfte um die eof. Quartals ſchrift (ege der b. 3. Redaktion die Pflicht auf, defjelben hier in Worten treuer Erinnerung zu gedenken und ihn nach feinem umfaffenden und nachhaltigen Wirken in Wort und Schrift, borzugsweife wie er in ben Blättern der Quartalfchrift felbft da8 Bild feiner wiffenfchaftlichen Thätigkeit gezeichnet Dat, nochmals zu vergegenmwärtigen. Geſchieden in einer kritiſchen Zeitlage, deren Räthſel und Probleme ihn unabläßig aufs angelegentlichfte befchäftigten, verdient es ein Mann von dem geiftigen Gewicht und der fcharf geprägten Bedeutung Aberle’s, Mitftrebenden, Freunden und Schülern, die ihn zu Qunber» ten in. dantbarem Herzen bewahren, als geijtiger Markſtein

12 *

178 Himpel,

aufgeftellt zu werden, bag er mo möglich bie Dienfte, welche er im Leben geleiftet, auch über das Grab hinaus fort- mitten. fajje.

Während des vierjährigen Aufenthalts im Gonbicte zu Ehingen (1833—1837) war der 3Beremigte mit ungewöhn- fidem, eifernem Fleiß darauf bedacht, bie in einer kurzen aber trefflich geleiteten und benüzten Vorbereitungszeit in fSiberad) gewonnene Grundlage von Kenntniffen nach ver ſchiedenen Seiten hin zu erweitern und zu vertiefen. Mit befonberer Vorliebe wandte er fid) dabei in ben beiden ipütert Jahren dem Studium der platonifchen Schriften zu, welche Phantafie und Scharffinn des begeifterten Jünglings in gleihem Maaße anzogen und bejchäftigten und neben einer Menge andern Wiffensftoffes, von ihm ohne große Schwierigkeit durchgearbeitet wurden. Wurde.er für jüngere Freunde, denen er auch perjónfid) gern an bie Hand ging, dadurch eim [eudjfenbe8 Beifpiel von nachhaltiger Wir- fung, ſo fíürte. und befejtigte (id) in ihm aus Platon jene Liebe zu idealen Beftrebungen und Zielen, die ihn aud) in den trübften Stunden, welche ihm nicht erjpart blieben, immer wieder aufrichtete und feinen Geift erneuerte, und wurde er zugleih an dem alten Dichterphilofophen jener Reize und Vorzüge einer Darftellung bewußt, welche immer darauf ausgehend ihre Gegenftünbe bei den Kernpunkten zu erfajfen, die hierin liegenden Schwierigkeiten dem Lefer burd) den äſthetiſch Schönen, wohlgelungenen Ausdruc der Gedanken zu eben, das aus tiefem Schacht Gebrochene durch idealen Schwung des Stiles ins Licht zu heben ver[tebt.

Mit feltener Reife des jugendlichen Geifte8 umd den höchſten Zielen, die Glaube und Wiſſenſchaft bieten fünnen, entgegenjtrebend bezog Aberle im 19ten Lebensjahr umfere

Einiges über wiflenfchaftliche - Bedeutung 2c. 179

Univerfität. Neben dem pffidjtmáBigen und felbftünbigen Betrieb der claffishen Thilologie, ber Philofophie und Ges ídidjte verwendet@ er einen fehr großen Theil feiner Stufe auf tiefere Ausbildung .in femitifchen Sprachen, namentlid) im Arabifchen, fobann aud) auf das Armenifche unter feinem hochverehrten Lehrer Prof. Dr. von Welte, mobei ihm die Kraft eines ganz außergewöhnlichen Gedächtniſſes zu Statten fam. (Der Berfaffer diefer Erinnerungen ver: dankt ihm den Anftoß und bie erften Anleitungen zu den genannten Sprachſtudien). Im Tezten Jahr feines Auf- enthaltes im Wilhelmsftift bot fid) ibm mod) Gelegenheit, dur) Löfung einer auf dem bisher näher von ihm ins Auge gefaßten und nach feiner fprachlichen Seite mit großen Opfern an Zeit und Mühe angebauten Gebiet von ber fathofifch theologischen Facultät geftellten Preisaufgabe fid) bervorzuthun. Es joff, lautete diefelbe, mit Berückſichtigung ber Anficht, daß das Bud) Joſua mit dem Pentateuch Ein Ganzes bilde, umnterfucht werden, wie und mann erfteres entftanden fei. Nach bem im Herbft 1842 veröffentlichten Urtheil der Facultät Dat ber Verfaſſer „die Wichtigkeit feiner Aufgabe wohl erfannt und die Hauptpunfte, auf bie es bei ihrer Löſung anfam, gründlich befprochen. Die Anordnung der Materien ift einfach und zwedmäßig, bie Darftellung far und gewählt, die Widerlegung entgegenftehender An— fichten, fowie die Begründung ber eigenen meijten& gelungen. Neben bedeutenden jpradjfidjen Kenntniffen unb einer um» faffenben Bekanntſchaft mit der einfchlägigen Literatur beweift ber SBerfaffer aud) ein beſonnenes, fcharfes Urtheil und überhaupt Anlage zu friti[dben Unterfuchungen“. Die ziemlich ausführlich gehaltene und in ihrer Art erfchöpfende Arbeit, welche dem Unterzeichneten vorliegt, wäre auch nach mehrern

180 Himpel,

Fahren, mit Anwendung entſprechender Nachhilfe, der Ver⸗ öffentlichung πο werth gewefen. Sie zeigt die eigenthüm- lichen Vorzüge des gleich energijd)en wie feinen Geijte$ in fritiicher Behandlung biblifcher Bücher in ganzer Frifche: geiftige Durchdringung und Bewältigung des Stoffes, ein- Jfadje Difpofition, Argumentiren nicht fo fajt aus dem Ein- zelnen, fondern aus der erfannten Anlage und bem Plan des Ganzen, in bejjen Mitte fid) Aberle geijtig zu ftellen fuchte, um von da αἰ über daffelbe fid) Licht und Klarheit zu verichaffen. Die Schrift ift von vorwiegend apologetifcher Tendenz, verfchließt fid) aber keineswegs freiem und unbe- fangenem Urtheil über jo wichtige Textesſtücke wie Sof. 10, 12 ff. Dem großen Scülerkreis Aberle's und den Leſern ber Quartalſchrift find die menteftamentlichen Arbeiten, anf welche er [piter feine Kraft concentrirte und wir noch zu reden kommen, bekannter: fo mögen fie denn bier einige Bruchſtücke aus feiner Jugendarbeit kennen lernen, bie wir, da fie am fid) gefaltpof( find und, theilweiſe Präludien zu feiner fpätern exegetifchen Methode, den Entwidlungsgang des bedeutenden Gelehrten in bemerlenswerther Weife be- feuchten, ung verpflichtet finden der Vergefjenheit durch Ein- verleibung in bie D.fchrift zu entreißen. Es find folche, die fid) mehr über das Fachwiſſenſchaftliche und fpezielle fritijd)e Fragen erheben und geeignet find, das jchon jo früh hervorgebildete Gepräge dieſes eigenthümlichen, reichen Geiſtes zu kennzeichnen, der immer beftrebt war, fid) zu größern Gefichtspunften hinaufzuarbeiten und unter folche ba8 aer» jtreute Einzelne zu fammeln. ;

Ueber den Grund, warum aud) in Betreff bes Urſprungs und der Abfaffungszeit be8 Buchs Joſua, wie andrer hiftori- cher Bücher des A. Teftaments die Unterfuchungen zu fer

Einiges über bie wiftenichaftliche Sebeutung 2c. 181 '

verfchiedenen Reſultaten geflibrt haben, äußert fid) bie Ein- keitung zu feiner Preisichrift: Der Grund davon liegt darin, daß bie einzelne Subjeltivität mit ihrer Anfchauungs« und Denkweiſe dem gegebenen hiſtoriſchen Objekte gegemüber fi zu viel Recht anmaßt unb mo diefes mit jener nicht bermoniren will, entweder Willkührliches in baffelbe hinein- trägt oder Willkührliched aus demfelben zu entfernen fudit. Das Richtige wird indeß fein, das gegebene Hiftorifche Objekt in dem Grade auf fid eiumirfen zu laffen, baB εὖ gleichfem unfer Gigentfum wird, und unfer Geift in eine gewiße Einheit tritt mit dem Geifte, der e8 hervorgebracht bat, fo daß wir uns der Gründe, morum dieß fo und nicht anders-bargeftellt worden, ebenſo gut bewußt werden, als ber Verfaſſer jefbjt. Dieſes in allweg mühjame und fehwere Gefdjüft wird aber am meiften erfchwert, wenn wir uns ἧι Denkweifen verfegen follen, bie durch zeitliche umb örtliche Entfernung uns ganz fremd, unb wenn die Mittel, uns bet Gedanfenfreis des Verfaſſers ffar zu machen, nur fehr Iparfam vorhanden find. Sm Allgemeinen nun ftehen wir dem hebräifchen Volle [don der Zeit nadj [febr ferm und unſre Anſchauungsweiſe ift fchon baburd) eine ganz andere. Aber nicht weniger ijt die lokale Entfernung anzufchlagen. Denn mit ber Berfchiedenheit der Länder, des Klima wechfelt natürlich auch bie Anſchauungsweiſe, und es wird bem Occi⸗ bentafen immer ſchwer fein, fid) ganz in den Gedankenkreis de8 SOrientalen zu verfegen. Im Befondern aber haben wir viel zu wenige fchriftliche Denkmäler des hebräifchen Bolles, als baB wir durch Vergleihung und Gombination ganz in feine Demt- und Darftellungsweife eindringen könn⸗ tin. Dieſe Schwierigkeit wird noch vermehrt baburdj, baf die ſchriftlichen Denkmäler der Hebräer aud) der Zeit nad)

^. 182 Himpel,

febr weit auseinander liegen, [0 daß bie DVergleichung des einen mit dem andern nicht immer zu fichern Nejultaten führen Tann. Daher ift e8 nicht immer müglid, einen pofitiven Beweis zu führen, jondern man muß fid oft mit dem negativen begnügen und blos aufzeigen, bap die Behaup- tung des Gegners unbegründet fei, ohne daß man übrigens im Stande wäre, im einzelnen Falle ein durchaus feites Refultat zu erringen. Duntelbeiten und Zweifel müffen bei folcher Geftalt der Gadje immer zurücbleiben und ἐδ wäre gewiß ein untrügliches Zeichen der Verfälichtheit ber altteftamentlichen Schriften, wenn fie unter den angeführten Umftänden in jeder Einzelheit uns klar wären.

Man wird hier unverkennbar jchon den Grundfag aus⸗ geiprodjen finden, welchen Aberle bei den neuteftamentlichen Autoren durchweg zur Anwendung brachte ; nämlich fid) geiftig der einzelnen Schrift zu bemächtigen, um fid) dadurch über bie innern, und foweit e8 thunlich auch die äußern Verhältnifie und Sujammenbünge berje(ben Rechenſchaft zu geben.

Bei Beiprechung der Angabe vom Aufhören des Manna für die Söhne Iſraels Joſ. 5, 12 äußert fid) der angehende &driftforider in bemerkenswerther Weife über das Wunder» bare überhaupt: Das SSorfommen von Soldem in einer Erzählung kann nod) nicht berechtigen, diefelbe in ben Kreis ber Sagen zu verfegen. Abgefehen davon, daß e8 ein verfehrtes Verfahren ijt, πε die Möglichkeit des Wunders zu läugnen und fodann aus bdiefem Grunde die Wahrheit von Wundererzählungen zu verbächtigen, fo wird e8 befon- ders in ber Gefchichte des Israelitiſchen Volkes eine reine Unmöglichkeit fein, bie welthiftorifche Stellung diefes Volkes zu begreifen, wenn man nicht ein unmittelbares Eingreifen Gottes in feinen Entwidelungsgang annimmt. Der Berftand,

Einiges über bte mwiffenichaftliche Bebeutung 2c. 183

auch der gebi[betfte, ijt für fid) allein nur auf die Sategorieen des Enbdlichen gemiefen und vermag. baher die Erjcheinungen im ber natürlichen unb geiftigen Welt auch nur als enbliche zu begreifen, b. ἢ. in ber Vereinzelung und Vergänglichkeit, ohne fid) fo weit erheben zu können, das Ewige in benfelben, das Allgemeine und Bleibende zu erfajjem. Wie es ihm baber immer fehwer wird, in der Gefchichte ber Menfchheit etwas Anderes zu fehen, als Wafferblafen menſchlicher Größe und Zugenbfaftigleit, die in zufälligem Wechfel aus dem Sumpfmoor bes übrigen Menſchengeſchlechts herauffteigen, um baíb wieder zu zerplaßen, jo ift es ihm überall unmög⸗ fid), eine pofitive, nicht blos negative Thätigleit Gottes in ber Führung des Meenfchengefchlechts anzunehmen. Dadurch verwickelt ſich diefe Betrachtungsweife in einen doppelten Widerſpruch. Sie, welche bie Vernunft auf der einen Seite fo hoch ftellt, baf fie ihr das abfofute Griterium alles Sefchehenden und Gefchehenen beimißt, fett biejelbe auf der andern Seite wieder fo tief herab, daR fie ihr zumuthet, Cyabrtau[enbe lang in Naht und Dunkel gelegen, die von außen burd) Prieftertrug und Fanatismus u. j. m. ihr aufs | gelegten Feſſeln getragen zu haben, ohme durch ihr ewiges Licht jenen erhellen und durch ihre göttliche Kraft diefe aet» brechen zu Tünnen. Daher die feltfame Erſcheinung, daß diefe Art von Krititern niemals anfteht, den biblischen Shhriftftellern einen Grad von Bornirtheit und Kurzſichtig⸗ feit 3ugujd)reiben , der wirflih ans Unglaubliche grenzt, während fie fe(bft mit bemerfenómertfer Befcheidenheit prä- tenbiren, über jene alten Begebenheiten viel beffer unterrichtet zu fein, als bie Seit» oder wenigſtens die Vollsgenoffen. Der andere Wiberfpruch ift darin gelegen, daß während man auf der einen Seite die Gottheit dadurch zu erheben jucht,

184 Himpel,

indem ſie an dem menſchlichen Thun und Treiben nur einen negativen oder zulaſſenden Antheil nehme, man gerade da⸗ durch dieſelbe zur müßigen Zuſchauerin der Weltbegeben⸗ heiten herabſetzt. Im Begriffe Gottes aber liegt es, nicht blos negativ, ſondern poſitiv zu wirken. Dieſe poſitive Ein⸗ wirkung kann aber nicht nur darin liegen, daß Gott ein für allemal die Weltgeſetze gegeben hat, in welchen ſie ſich bewegt und entwickelt, ſondern ſie muß auch angenommen werden in Bezug auf das Freie in der Welt, den freien Menſchengeiſt. In dieſer Hinſicht muß dieſelbe als auf den ganzen Menſchen ſich erſtreckend anerkannt werden, und ſo geſtaltet ſich jene Einwirkung nach einer zweifachen Form, als Offenbarung und als Wunder, erſtere vorherrſchend auf bie intelligente, letztere auf die Gemüthsanlage im Menſchen gerichtet und darum noch mehr als jene auf die Individuali⸗ tät der Menſchen und Zeiten berechnet. Wir fügen dem ſogleich eine Stelle an, in welcher die ſchlagfertige Natur des der Univerſität entwachſenden Studierenden in ihrer Weile gegen Hegel’fche apriorijdje Geſchichtsconſtrultion re: agirt, die damals Bier durch überlegene Talente vertreten, ihn vielfach beichäftigt unb in ihre Sreife zu ziehen gefucht, aber ihm bod) nur die Schalen anzuhängen vermocht hatte, bie allerdings in biejer Ausführung nod) ganz beutlich zu erkennen "find.

Ein belannter älterer Kritiker, Gramberg, batte das Buch Joſua durchweg für ein Gewebe von Mythen und Erdichtungen ohne jeden Hiftorifchen Hintergrund erklärt, aber dabei fid) für den einheitlichen Charakter des Buches entfthieden ; bald darauf hatte auch Vatke in der „biblifchen Theologie“ das Verhältniß der Gefchichte bei den Hebrüern umgelert und das was bisher als Anfang der hiftorifchen

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung ac. 185

Entwicklung gegelten, an da8 Ende berfelben verlegt. Aberle führt dawider eine Tängere fchlagende Stelle Ewalds aus den Berliner Jahrbüchern (1836, ©. 87) an und führt fort: In ber That kann man fid) gegen das Prinzip, von Dem die mptbijije Auffafjung der mofaifchen Zeit ausgeht, nicht beffer aussprechen a(8 Ewald. Das πρωτον wevdog derjelben ijt offenbar bie Verfennung des Charakters der Objektivität, ben bie von Mofes eingeführte Religion bat. Diefelbe ift offenbar und wird fo vom ganzen hebräifchen Alterthum anerkannt etwas zunächſt Objeltives, welches die einzelnen Subjekte des Volkes in. fid) verwirklichen follen. Jenem Altertfum ift die mofaifdje Religion ftets eine abfolute Objektivität, ber fid) jede Subjeltivität beugen muß, imb die von jeder in fid) aufgenommen und verwirklicht werden fol. Man hat fid) dort zu einer Zeit verheblt, daß von Seite der Subjektivität der Einzelnen Beides nicht immer gejchehen ijt, jondern daß viele Einzelne und ebenfo aud) ganze Zeiträume fid) entweder direkt widerfett ober aber jene Objektivität nur äußerlich in fid) aufgenommen Baben. In bem Procefje, in welchem die einzelnen Subjelte die Objektivität der Religion jid) vermitteln, liegt der ge» ſchichtliche Fortjchritt der Religion, fie jelbjt aber muß in ihrem wejentlichen Inhalte am Anfang ber Entwidlung er: plicirt fein und bieje Exrplication muß als bas feite Moment gegenüber dem flüffigen be8 Subjektivirtwerdens immer vor- handen fein, denn jonjt würde bie Entwidlung ins Unend- liche amseinandergehen und fid felbft aufheben. Es ijt nichts αἰ eine Täufhung, menn man in neuerer Zeit durd) die bogmatijdjen Formeln der Hegel’ichen Philofophie bemogen angefangen Bat, bie Geſchichte des ißraelitiichen Volles fo zu conftzuiren, als ob bafjelbe fid) von den niedern Stufen

186 Himpel,

des Bewußtſeins zu immer höhern emporgefchwungen nnb wenn man mur in bieje VBewußtfeinsformen. den objektiven Charakter feiner Religion gefegt bat. Es läßt fid) unfchwer nachweifen, daß biefe unmittelbare Anwendung deffelben Syſtems auf gegebene hiftorifche Verhältniffe e& in unauf- lösliche Widerfprüche bermidelt. Denn wenn auf ber einen Seite behauptet werden muß, baB in der Selbftentwidlung des Abfoluten e8 ein Vorher und Nachher nicht geben könne, daß fomit der Begriff der Zeit und einer Entwidlung üt der Zeit feine Realität nur aí$ Form ber fubjeltiven Vor⸗ ftellung habe, jo ijt e$ auf der andern nur ein Widerfpruch mit dem Grundprinzip diefer Philofophie, bie Entwicklung des Abjoluten mur in ber Form des Nacheinander, alſo in der Zeit möglich zu benfen, und dieſes Verfahren beruht auf keinem geringern Mikverftändniß des ganzen Syſtems, αἰ wenn eim philofophifcher Dilettant nach Durchleſung der Hegel’ichen Logik gemeint fat, Hegel ftelle fid) die Sache jo vor, als ob zuerjt das reine Sein und Nichts, bann das Dofein, dann das Quantum, dann alle übrigen Kategorien gewefen jeien, bi8 am Ende der abfolute Begriff zum Vor⸗ idein gefommen. Diefen Widerfpruch hat Hegels confequen- tefter Schüler, Strauß, obwohl am meiften in ihm befangen, do Mar gefühlt und verrathen. Er jagt in feiner Dog⸗ mati: „im Allgemeinen würde aus der Annahme, daß nur bieje Erde von intelligenten Weſen bewohnt fei, bei dem nachweislih fpäten Urfprung diefer fegterm auf ihr, ber Cat folgen, daß einmal eine Zeit gemefen, wo im Univerfum ber endliche Geift noch nicht entwidelt war, ein Cat, ber dem alten Theismus unfchädlich, ja bienfid), mit ber [pecie lativen Idee des Abfoluten fchlechterbings unverträglich ift." Damit fat Strauß zugeftanden, daß von dem Standpunlte

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung :c. 187

„der fpefufatipen dee des Abfoluten“ die Behandlung ber Geſchichte eine unmögliche jei. Denn wenn der Gag, bal einmal eine Zeit geweſen, wo der endliche Geijt nod) nicht entwidelt war, mit ber jpefufatipen Sybee des Abfoluten Schlechterdings unverträglich ift, jo ift e8 ebenjogut ber Sat, bag einmal eine Zeit gemejen, wo ber. endliche Geiſt noch nicht volllommen entwidelt war. ‘Denn das Dafein des endlichen Geiftes als eines nod) nicht Dol. fommen entwicelten ift ebenfogut mit einem Nichtjein. bes haftet und widerfpricht der Idee des Abfoluten ebenfo fehr, als das bloß mögliche (, mod) nicht entwickelte“) Dafein des⸗ felben. Damit ijt aber nichts anderes behauptet, als daß alle Ge[djid)te mit der ipefu(atipen Idee des Abfolnten un⸗ verträglich fei, und wenn wir daraus folgern, daß bie Finger der befagten fpelulativen Idee mit ber" Gefchichte (id) gar nicht befajfen follten, weil fie unverträglich ijt mit dem Gtanbpunfte, auf ben fie fid) geftellt haben, und fie fid daher um biejelbe mundgerecht zu machen genöthigt find, fie zu verdrehen und das Oberſte zu unterft zu fehren, fo glauben wir feine unbegründete Forderung zu ftellen. Des Weitern wird dann in Einftimmung mit den älteften Urkunden Iſraels und nach bem Grunbjag, daß man durch⸗ aus nicht berechtigt fei, diefen Zeugniſſen gegenüber Wider: fprechendes als das Wahre und Anfängliche aufzuftellen, bie religiöfe Gntmid(ung des hebräifchen Volkes gefchildert. Die befannte Stelle Joſ. 10, 12— 15, betreffend den Sonnenftillitand, zeigt fid) die Abhandlung geneigt mit vielen Vorgängern wegen des unverfennbaren Stilwechſels, der be» fremdlichen Eitirweife und des gänzlich unpafjenden Schluß» verjes, für interpolirt zu erklären. Da inbeB jpüter der Berf. „nicht Annehmen will, daß feine Auseinanderjegung,

188 , Gimpel,

fo wohlbegründet fie ihm erfcheint, alfgemeinen Beifall finde,“ fo ift er als gemanbter Sachwalter nicht barum verlegen, unter Vorausſetzung der 9fed)tDeit der dortigen Worte: „es war fein Tag wie felbiger vor ihm und mad) ihm, daß Jehova Hörete auf die Stimme eines Menfchen,“ aud) zu zeigen, daB der Vers nichts für eine viel fpütere Abfaffung des Buchs Joſua beweife. Faſſen wir, .fchreibt hierüber der gefchulte Dialektiker, diefelbe ftreng Logifch auf, jo müffen wir entweder genau bei den Worten ftehen blei- ben, unb dann fonnte ber Ausdrud [don ein Yahr nad) der Begebenheit gebraucht werben: aber dann hätte die Stelle jo etwas unjüglid) Fades, indem auf ber einen Seite (b. ἢ. „vor ihm”) ein unbegrengter, auf der andern Seite (b. 8. „nah ihm“) ein engbegrenzter Zeitraum gegeben würbe. Dber wir müjje fie al8 Grfabrungéfag faſſen, gleichjam als ob während ber jeit jener Begebenheit verffojjenen Zeit fein ähnliches Faktum vorgefallen fei, woraus bann ges ichloffen wurde, baf auch Fein ähnliches mehr vorfallen werde. Dieje Auffaffang ift offenbar die beffere, indem nur [o ber Parallelismus zwiſchen dem „vor ihm” unb dem „nad, ihm“ bergeftellt wird. Allein jo können wir bie Worte nicht mehr ftreng logisch auffajjen, denn mer weiß, ob nicht ber nüchftfolgende Zag eine ähnliche DBegebenheit bringen werde? Vielmehr ift bie ganze Stelle nur als vhetorifche Beſchreibung der Größe und Sebeutjamfeit des vorgefallenen Munders anzufehen, wie fofdje in jeder einfachen ungelünftel- ten Volksſprache bei ben Drientalen nod) mehr als bei den Decidentalen vorlommen. Wer ba recht altf(ug bie Tage zählen wilf, ber mag feine Freude haben, aber von einem SBer[tünbniB ber Ausdrucksweiſe joll er dann nicht mehr reden. So beweift aud) unjere Stelle jo wenig etwas gegen

Einiges über bie toiffenfdjafilide Bebentung x. 189

eine Abfaſſung durch einen Zeitgenoffen, daß vielmehr [don ein unmittelbarer Theilnehmer an jener Begebenheit alsbald nad) ihrem Eintreten den nämlichen Ausdrud hätte ge» brauchen können.

Nur kurz berühren wir noch bie Auseinanderfegung über Joſ. 8, 3 ff., den von Joſua gelegten doppelten Hin- terhalt und feine Kriegführung gegen die Stadt Xi. Der Unterzeichnete hat 1864 ©. 402 ff. der Q.Schr. bie hier in Betracht kommenden Schwierigkeiten in anberer Weife zu (öfen gefucht, war aber überrafcht, jet in der Aberle'ſchen Behandlung ber Stelle fchon jene Vorliebe für Darftellung ftrategifcher und taftijdjer Manoeuvres zu finden, bie mir ipüter an dem fonft fo friedliebenden Manne fennen und Ichägen lernten. Es foll aber hier auf das jübijd)e „Vor⸗ dertreffen mit Joſua oftmärts im Thal, das Mitteltreffen mit bem Lager nürb(id) auf der Anhöhe, die Hinterhut weitlich wieder im Thal und bie halbkreisfürmige Aufitel- fung” gegen die uralte Cananiterjtadt nicht eingegangen werben, da wir und nun bem Stubdienkreis zuwenden möch- ten, welchem Aberle bie beiten Kräfte feiner reifen Sabre gewidmet hat.

Für bie Uebernahme der Neuteftamentlichen Exegeſe und bald auch der Einleitung in der Katholiſch-Theol. Fa⸗ euftät bot jid) ium zu Anfang der 50er Jahre in Aberle - eine Kraft, gleich tüchtig gejchult wie begeiftert, von ber fi mit Grund eine bedeutende Wirkſamkeit erwarten fief. Er übernahm aber auch die Moral, und berufene Vertreter diejer theologischen Wiffenfchaft, deren einer als Schüler und Nachfolger des DVerewigten im SSortrage der Moral, ſpäterhin hierüber be8 Weitern das Wort nehmen wird, bes

fennen, daß er auch hier manches bewährte Alte, das über.

188 , Smet,

fo wohlbegründet fie ifm erfcheint, allgemeinen Beifall finde,“ jo ift er αἵδ᾽ gemanbter Sachwalter nicht barum verlegen, unter Vorausfegung der Wechtheit der dortigen Worte: „es war fein Tag wie felbiger vor ifm und nad) ihm, daß Jehova hörete auf die Stimme eines Menfchen,“ auch zu zeigen, daß der Vers nichts für eine viel fpätere Abfaffung des Buchs Cyofua beweife. Faſſen wir, ‚fchreibt hierüber ber gefchulte Dialektiker, diefelbe ftreng logiſch auf, jo müffen wir entweder genau bei ben Worten ftehen blei- ben, und dann fonnte ber Ausdrud fehon ein Fahr nad der Begebenheit gebraucht werben : aber dann hätte die Stelle jo etwas unjáglid) Bades, indem auf ber einen Seite (b. h. „dor ihm“) ein unbegrenzter, auf der andern Seite (b. 8. „nah ihm“) ein engbegrenzter Zeitraum gegeben würde. Oder wir müſſen fie als Erfahrungsfag faffen, gleichſam al8 ob während der jeit jener Begebenheit verfloffenen Zeit fein ähnliches Faktum vorgefallen fei, woraus bann ge= ichlofjen wurde, daß auch Fein ähnliches mehr vorfalfen werde. Dieje Auffafjang ift offenbar. die bejfere, indem nur fo ber Parallelismus zwifchen dem „vor ihm“ und bem „nad. ihm“ Hergeftellt wird. Allein fo können wir bie Worte nicht mehr ftreng logisch auffallen, denn wer weiß, ob nicht ber nüchltfolgende Zag eine ähnliche DBegebenheit bringen werde? Vielmehr ift die ganze Stelle nur als rhetorifche Befchreibung der Größe und Bedeutfamfeit des vorgefallenen Wunders anzuſehen, wie jolche in jeder einfachen ungekünſtel⸗ ten Volksſprache bei den Orientalen nod) mehr als bei den Decidentalen vorlommen. Wer da recht altf(ug die Tage zählen will, ber mag feine freude haben, aber von einem Berjtändniß der Ausdrucksweiſe joll er dann nicht mehr reden. So bemeift auch unfere Stelle fo wenig etwas gegen

Einiges fiber bie mwiffenfehaftliche Sebeutung ᾿ς. 189

eine Abfaſſung durch einen Zeitgenoffen, daß vielmehr ſchon ein unmittelbarer Theilnehmer an jener Begebenheit alsbald nad ihrem Eintreten ben nümfiden Ausdrud hätte ge⸗ brauchen können.

Nur kurz berühren wir noch die Auseinanderſetzung über Joſ. 8, 8. ff., den von Joſua gelegten doppelten Sin» terhalt und feine Kriegführung gegen die Stadt Ai. Der Unterzeichnete hat 1864 ©. 402 ff. der Q.Schr. bie hier in Betracht kommenden Schwierigleiten in anderer Weife zu (öfen gefucht, war aber überrafcht, jegt in ber Aberle'ſchen Behandlung der Stelle ſchon jene Vorliebe für Darftellung ftrategifcher und taktiiher Stanoenore8 zu finden, bie wir ipüter am dem fonft fo friedliebenden Manne kennen und Ichägen lernten. Es foll aber bier auf das jübijde „QVor- dertreffen mit Joſua ojtmürt8 im Thal, das Mkitteltveffen mit dem Lager nürb(id) auf der Anhöhe, die Hinterhut weſtlich wieder im Thal und die halbkreisförmige Aufitel- fung” gegen die uralte Gananiterjtabt nicht eingegangen werben, ba wir uns nun dem Stubienkreis zumenden möch⸗ ten, welchem Aberle bie beiten Kräfte feiner reifen Jahre gewidmet hat.

Für bie Uebernahme der Neuteftamentlichen &regefe und bald aud) der Einleitung in der Katholifch-Theol. Fa⸗ eultät bot nun zu Anfang ber 50er Jahre in Aberle - eine Kraft, gleich tüchtig geſchult wie begeiftert, von ber fih mit Grund eine bedeutende Wirkſamkeit erwarten fief. Er übernahm aber auch die Moral, und berufene Vertreter diefer theologischen Wilfenfchaft, deren einer als Schüler und Nachfolger des DVerewigten im Vortrage der Moral, fpäterhin hierüber des Weitern das Wort nehmen wird, bes

feunen, daß er auch fier manches bewährte Alte, das über .

190 Himpel,

Gebühr zurückgeſetzt worden war, original umformend und verwendend, vielfah Bahn gebrochen Habe unb in nod weiteren Kreifen neuen. Anftoß gegeben haben würbe, wenn vor zwölf bie fünfzehn Jahren jeine Vorträge zur Ver⸗ öffentlihung gelangt wären. Wir reden bier nun zunächſt von bem Bertreter der Neuteftamentlihen Disciplinen. Er hatte innerhalb feiner Kirche wenige den ftrengern Anforde- tungen ber nenern Wiffenfchaft mur irgend wie entfprechende Hilfsmittel vorliegen, da bie exegetifchen Studien in derfelben [εἰς langem ungebührlich zurüdgedrängt find und, ganz abge- jehen von den Tirchlichen und politifchen Stadjtfragen, bie fid) breit in den Vordergrund gelagert haben und die Haupt- fräfte und ⸗Intereſſen abjorbiren, nurmehr in dienender Stellung verharren zu wollen fcheinen, nicht unübnfid) ber Inferiorität, zu welcher die fpätere Entwicklung des ortho- bore Judenthums das canonische Schrifttum des alten Teftaments gegenüber dem Talmud mit feiner übertwuchern- den Theologie, Legende, Gefegebung und Speculation herab- gebriidt hat. Die umfaffende, zum Theil jehr werthvolle protejtantijd)e Literatur hat Aberle redlih und ohne Eng⸗ berzigfeit durchgearbeitet und benützt und nachdem er fid) mit den verfchiedenen Auffaffungs= und Behandlungsweifen ber neuteftamentlichen Schriften vertraut gemacht hatte, führten ihn eine glüdliche Verbindung von kritiſchem Scharffinn mit fchöpferifcher Gombinationéfraft, ba8 Gefühl geiftiger Unabhängigkeit von jeder auch Hochflingender Autorität, bie umfafjende Kenntniß der Literatur und Gefchichte der Periode be$ canonischen Echriftthums neuen Teftam., der Trieb raftlofen geiftigen Weiterlommens und der Verwendung aller Vorarbeiten zu eigenem Riß und Aufbau, endlich das auf innerjtem Bedürfniß vubenbe S3eftreben, den heiligen

Einiges Über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 10. 191

Schriften ihre Stellung in der Kirche unb im berem ges Ichichtlicher Gntmid(ung zu wahren alles dieß wirkte nun zufammen, in Aberle jene eigentfümfidje Auffaffung des neuteftament(id)en Schriftthums hervorzubringen und zu allmähliger Reife zu führen, vorn welcher die Quartalſchrift feit ungefähr 20 Jahren Proben gegeben hat. Kleineren Auffägen wie Jahrg. 1852 ©. 108 ff. über eine 9feuge- rung des Origenes zu ρθε. 1, 1, Jahrg. 1854 ©. 453 ff. über Römer 5, 12—14, folgte die gründliche Studie über . bie Apoftelgefchichte Jahrg. 1855 €. 173—236, in welcher Aberle zum erftenmal feinen Plan klargelegt hat, das ein- zelne Buch vor allem mit fcharfem Verhör feiner einzelnen Berichte und Ausſagen, des 33erpü(tnijje8 derfelben unter- einander und zu verwandten Stellen anderer canonifcher und gleichzeitiger profaner Schriften, und mit eindringender Unterfuhung und Beſtimmung der Darftellungsweife auf feinen legten Zweck anzufehn, ihm gíeidjjam den Puls und innerften Herzſchlag abzufühlen und darnach feine eigene Bedeutung und bie gliedliche Stellung deffelben im größeren Gange zu bemeffen. Nach Grürterungen über Apg. 5, 34—39 und 8, 26—40, Jahrg. 1859 ©. 83 ff., bie jid) wie exemplifizirende Detailſtücke zum größern Ganzen aus- nehmen, unterftellte Aberle 1861 ©. 37—94 unferer Zeit: ſchrift das Johannesevangelium feiner num gereiftern kriti— ſchen Methode, und es ſchien ſich ihm zu ergeben, daß Jo— hannes es mit dem neuen Synedrium zu thun hatte, das die Chriſten wieder zur Synagoge zurückzuführen ſuchte und dazu auch die verzweifeltſten Mittel nicht verſchmähte, wo⸗ gegen Matthäus die chriſtliche Sache zu vertheidigen hatte, als das alte Synedrium das Chriſtenthum zu einer gott⸗ loſen und geſetzloſen Häreſie ſtempelte und damit das Band Theol. Quartalſchrift. Heft IL 1876. 13

192 Himpel,

burdjjd)nitt, welches bie neue Kirche nod) immer an bem Tempel zu Syerufalen fnüpfte. Damit bezeichnete ihm bie Abfaffung beider Evangelien zwei wichtige Wendepunfte in der Geſchichte der chriftlichen Kirche: das erfte Evangelium als ber Abfchiedsbrief bec chriftlichen Kirche an das rettungs- [08 dem vom Herrn geweiffagten Gejdjide entgegengehende Judenthum, das Johaunesevangelium als der Abfagebrief gegen das reftaurirte SyubentDum, das bereits im Keime * alle jene Mittel gegen die junge Kirche in Anmendung brachte, mit denen fpüter immer wieder gegen biejelbe operirt wurde. Jahrgang 1863 enthält drei Kleinere fein ausge: führte Bilder : über die Epochen ber neuteftamentlichen Ge: ſchichtsſchreibung, urjprünglich eine am Geburtsfeft des - Königs Wilhelm, 27. Sept. 1862, in ber Aula gehaltene Nede, iiber den Prolog des Lucasevangelium und die Abs faffungszeit des erften Zimothensbriefes. Im erjten, dem bemerfenswertheiten Stücke unter den dreien, wird verjudit, an bedeutendere Thatſachen der äußern Entwiclungsgefchichte des Chriftenthums die Abfaffung der einen oder andern Evangelienfchrift anzufchliegen, und e8 ergibt fid) eben das erfte Evangelium al8 ein Act der Nothwehr gegen die Aech—⸗ tung des Chriſtenthums von Cite des Synedrium, die Anklage des (pojte(8 Paulus in Rom und ber darin θὲς fegene Aechtungsverſuch des jungen ChriftentHums für den Bereih der römischen Herrichaft als Anftoß der Incanifchen Schriften, welche das Chrijtenthum der ftaatsmännifchen römischen Welt gegenüber zu rechtfertigen unternahmen. Zwei weitere wichtige Greignijje aus der Urgefchichte des Chriſtenthums werden ähnlich verwerthet: die Aufnahme des Chriftenthums durch die zahlreich zerftrenten Profelgten in der Heidenwelt und die Einwirkung des nach Zerjtörung

Einiges über bie wifſenſchaftliche Bebeutung x. 108

Jeruſalems zum Rabbinismus fid) umbi(benben Judenthums. Letzterer Punkt und wie das Evangelium des Johannes Stellung zu ber Wiedererftarfung des Indenthums nahm, war Jahrg. 1861 C. 37 ff. ausführlicher behandelt; bie Aufnahme des ChriftenthHums durd) die Proſelytenbevblkerung aber bildet mad) A. die Kehrjeite zur Aechtung deſſelben durch das Nationaljudenthum und [d)(ieBt fid) ber Zeit nad) unmittelbar an bdiefe an. Im engen Verhäftniffe beider Greigniffe Stehen bie Evangelien des Markus und Matthäus zu einander. Wenn das Chriftentfum fid) mit Tetterem von dem unrettbar zerfallenden Cyubentfum verabfchiebet, fo bat es mit Markus bie neue Sant begrüßt, die ihm aus der Heidenmwelt entfeimen follte.

Mag man die „Epochen ber neuteftamentlichen Ge: ſchichtsſchreibung“ eine gewagte Gonftruftion nennen und insbefondere bie Bier in allgemeinen Zügen unternomntene Zufcheidung des Stoffes in den betreffenden Evangelien nicht rein und congruent nachweifen fünnen immerhin hat hier die Kraft des Genius mit einem fpröden Stoff gerungen und unläugbare, aber oft zu wenig in ihren geiftigen Wir- tungen beachtete Thatſachen jener in den innerjten Tiefen aufgeftirmten Periode in nähere Stellung und theilmeife Wechfelwirfung zu den hervorragendften Erfcheinungen der ucchriftlichen Literatur gebradjt. Es fann fid) nirgends weniger af8 auf diefem Gebiet um zwingende, Gombinationen und Hhpothefen Handeln: man foff aber danfbar jein, daß überhaupt bier mod) jo neue und geiftvoll ausgebachte ges boten werden. Die Xretmühle, bie ortfobor trabitioné» mäßige mie bie hiftorifch-kritifche ift ja nirgends beffer im Gang als in ber Exegefe, fir welche, immer foldye voraus; gefegt die Ohren haben um zu hören, bie ihr hier wider-

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194 Himpel,

fahrene Behandlung ohne Frage noch weiter befruchtenb und wohlthätig wirken wird. Sym nämlichen Jahrgang begegnen wir noch einer fcharffinnigen Abhandlung Aberles über den Tag des legten Abendmahle (S. 537 ff.). Das Verhör ber Evangeliften über ihre Intentionen bei Aufnahme und Formirung der Feier des Mahles burdj den Herrn mit ben Jüngern ijt hier nod) weiter ausgeführt und in ein viel leicht nur allzufeines Gewebe ausgearbeitet, von bem bie Synoptifer wohl ſelbſt gutwillig einen Xheil der Autorfchaft bem DVerfaffer abtreten möchten; aber auch hier ift es ge- lungen, zeitgefhichtliche Erjcheinungen aus Yudenthum und Seibentjum im überrafchende Verbindung mit evangelischen Worten und Berichten zu fegen und mad) beiden Seiten Licht zu bringen. |

Mit Einzelfragen fehen wir den Verfaſſer wieder be» idüftigt im Jahrgang 1864 ©. 3 ff. in dem Verſuch ber Erbringung eines direkten Zeugniffes des Papias für das KHohannesevangelium und der wiederholten Auslegung von Irenäus adv. haer. 3, 1. 1, und im nächftfolgenden Jahrg. S. 108—148 in der Abhandlung über den Statthalter Quirinius. Ein ausgewähltes Material aus der gleich- zeitigen vömifchen Gefchichte, aus Inſchriften, römifchen Rechts- und Verwaltungsnormen, hat Aberle befähigt, mit eindringender Schärfe der Unterfuchung für die Angabe des Lucas 2, 2, daß zur Zeit der römischen Schagung bei ber Geburt Jeſu (Publ. Sulpicius) Ouirinius Statthalter von Syrien mar, einzutreten unb damit ein von den Meiften für unrettbar erachtetes gefchichtliches Datum des Evange⸗ liſten, wenn aud) nicht außer Zweifel zu ftellen, fo bod) ber Gontroperje zu Gunſten der Glaubwürdigfeit defjelben wieder zurückzugewinnen, indem er ἐδ annehmbar machte,

Einiges über bie mwiffenfchaftliche Bebeutung 1c. 195

daß Quirinius vor bem Tod Königs Herodes als Rektor des Gajus Gdfar ernaunter Statthalter Syriend geweſen fti, aber von der Provinz abmefenb, weldye deshalb nod) unter DBerwaltung des Varus [tanb, und daß, wenn von Varus nod) aus ber Zeit nad) dem Tode des Herodes ftatt- fafterifd)e Handlungen in Syrien berichtet werden, dieß fein genügender Grund zu der Annahme ijt, daß Suirinine nicht bereit8 vor ber Geburt Chrifti Statthalter von Syrien gewefen. Die Vorzüge der formell-kritifchen Behandlung eines ſehr verwidelten und oft unterfuchten Gegenftandes find Hier bejonders hervorjtechend und durften nicht unbe: achtet bleiben, wenn aid) die Fachmänner, bie das Betreten ihrer Domäne von Seite des Xheologen ohnehin zu θὲ» fremden ſchien, aus verfchiedenen, nicht immer ausschließlich rein fachlichen Gründen die Zuftimmung ablehnten. Die ſtark beitrittene Behauptung, daß Quirinius al8 rector ju- ventutis bei Gajus Güfar Statthalter von Syrien geweſen, beruhte übrigens auf älterer, von Aberle vervollftändigter Gombination. Er fat die Frage und die unterdeß gegen feine Aufftellungen erhobenen Einwände Jahrg. 1868 ©. 29 ff. wieder aufgenommen, in einer neuen Folge „exegetifcher Studien,“ deren erſte als Grundfag von wefentlicher Be-

deutung für die Evangelienfritif erhärtet, daß die Schriften des Neuen Teftamentes die literarifchen Erzeugniſſe einer verfolgten und nnter dem Drud der Verfolgung fid) bilden- den Gemeinfchaft find, die zweite fid fpeziell dem Dar⸗ ftellungscharatter bes Johannesevangelinm zumendet. Das⸗ [εἴθε wird gefaßt als Goange(ium der Wirkfamkeit Jeſu unter den Qyubüerm, und für die Vortragsweife des Herrn in ihm bedingte fid) δατπα eine Darjtellung, welche diefer Menſchenklaſſe angemejjen war, Teineswegs ein oft hier at;

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genommener Einfluß griechiſcher Bildung und Spekulation, ſondern die Ausprägung der rabbiniſchen Lehrweiſe, zu wel⸗ cher früher ſchon eine Menge Belege und Parallelen bei Johannes nachgewieſen worden (inb, nnd deren charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit, verdeckt und änigmatiſch zu reden, ab⸗ ſichtlich mißverſtändlich ſich auszudrücken und dem Hörer oder Lehrer die Aufgabe des Erſchließens und Errathens zuzuſchieben, in den Reden des Heilandes ſich hier auch nicht ſelten findet. Der dritte Aufſatz richtet ſich gegen Angriffe Hilgenfelds, deren zuverſichtlicher, oft unwürdiger Ton eine im Ganzen unſolide Waare zu decken hatte. Die Eutgeg⸗ nung iſt ruhig, ſcharf und gewandt, zerſtört die Gründe für eine Statthalterſchaft des Quirinius im J. 6 n. Chr. und die Einwendungen des Geguers wider bie oben angeführten Anfitellungen Aberles.

Mean begegnet auch in den folgenden Yahrgängen einer Anzahl forgfältig gearbeiteter Auffäge, welche nicht minder inhaltlich bedeutend, wie αἴ Muſter eines Kar und durch⸗ fihtig gewordenen Stiles, der mit Verſchmähung äußer⸗ (iden Prunkes das gehaltene Feuer gereifter Ueberzeugungen und bie Fülle ber aufgenommenen Bildungsftoffe verräth, ihren Anſpruch auf dauernde Beachtung und Wirkung bee währen werden. Diejelben follen in durchgeführter Detail- erflärung die Probe zu den aufgejtellten Prinzipien geben, wie „die Begebenheiten beim fetten Abendmahl“ (Jahrg. 1869 €. 69 ff.), „die Berichte der Evangelien über die Aufer: ſtehung Jeſu“ (1870 ©. 48—92), „die Berichte der Evan- geliften über Gefangennehmung und Berurtheilung Jeſu“ (1871 €. 3—64), „die legte Reife Syefu nach Jeruſalem“ (1874 ©. 127 ff.), oder behandeln in der Exegefe ziemlich erichöpfte Probleme, wie bie Zahl 666 in der Apocalypfe

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 1c. 197

' (Yahrg. 1872 ©. 139 ff), um ihnen mo möglid eine neue Seite abzugewinmen ober eine hergebrachte Erklärung beſſer zu fundiren. Wir haben aber aud) nod) die beiden legten Arbeiten, welche die Onartalfchrift ihrem umfichtigen und um bic mit den (heißerjehnten aber kühl ausbleibenden) f. 9. Triumphen der Kirche fo ziemlich in conträren Ver⸗ Düftnig jtehenden Geſchicke der Zeitichrift fo beforgten Mit- arbeiter verdankt, kurz ins Ange zu fajfen. Beide find θὲ: zeihnend genug und enthalten Kurz und entjchieden ba8 ges wappnete Credo eines Arbeiters im Weinberg bes apojtoli- ſchen Schriftthums, der denfelben theils von ben eigenen Leuten, welche ihn in ausschließliche Emphyteuſe überkom⸗ men wähnen, ſchlecht unb ungeſchickt bebaut, tfeif von . Andern, deren Anfprüce feine geringern jind, etwas zu rüdficht8los in Angriff genommen werden fieht. Es find bie Kritif von E. Schürers „Lehrbuch der Neuteftantent- (iden Zeitgefchichte” (Jahrg. 1874 ©. 658 ff.) und (Jahrg. 1875 ©. 341 ff.) bie NRecenfion, beziehungsweije Abfertigung der Schrift Rothe: „Die Zeit be8 legten Abendmahle. Ein Beitrag zur Evangelienharmonie.* Die gründliche Be⸗ lehrung, welche dort über vümijdje8 Rechts⸗, Verwaltungs» unb Negierungswefen in feinen engen Beziehungen zu Syrien nnb Paläftina ertheilt wird, zeigt den Meifter, der aud) ohne Zweifel bieje8 der Schrifterllärung zu fange fremd gebliebene Gebiet, auf dem er fid) üt fe(tener Weije heimisch gemacht Hatte, nod) öfters zur Aufhellung und Rechtfertigung unfrer Religionsurfunden betreten haben wiirde. Anlaß zu der fegten Kleinen Arbeit, die vom Berewigten in der Quart.- Schrift ans Licht trat, gaben ihm Angriffe anf feine Ab- handlung: Weber den Tag des Testen Abendmahls in ber oben genannten Schrift eines ftreng „kirchlichen“ Eiferers,

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der mit der Infpiration nicht mehr zurecht zu Tommen glaubt, wenn bie Evangeliften fid) abfichtlich oft reſervirt oder zwei- beutig ausgedrüct haben jolíten. Es iſt erbaulich, wie ihm in affer Ruhe nachgewiefen wird, daß auch er über das Meaterielle der angefochtenen Behauptung, die faftifch vor- Danbene Undeutlichkeit ber Ausdrucksweiſe, nicht hinauskommt, daß er aber dabei zuletzt auf Unfähigkeit der Autoren plais diren muß, wenn er nicht Abfichtlichkeit derfelben annehmen will. Manchem der „Kirchlichen” fcheint nun allerdings, wohl vermöge einer jeftjamen Ucbertragung des eigenen Habitus, die injpiratipe Thätigkeit des D. Geiſtes in jener: 9toí(e des laissez passer beffer zu gefallen, als im ber . einer Leitung der menjchlichen Berftandsträfte zu einem höhern, ihnen felbft nicht immer ganz bewußten Ziel. Der Berf. muß fid) aber aud) fagen (offen, daß er in feinem Eifer {αν über das Kirchliche hinaugftreift und einem von ijm nod) mehr gehaßten Gegner (id) bedenklich nähert, in» bem er vergißt, daß neben den neutejtamentlichen Schriften noch eine Quelle chrijtlicher Belehrung floß und die Autoren derjelben vielfach mit Rückſicht auf diefe Quelle gefchrieben haben, daher e8 aud) auf Vollftändigkeit und Allgemein- verftändlichfeit gar nicht anzulegen brauchten. “Diefer feiner ,Wnbupfertigfeit," wie er es dort felbft bitter fcherzend nannte, gegenüber einer fid) vorzugsweiſe Tirchlich dünkenden, jedenfalls aber dünkelhaften Eregefe ijt ſomit Aberle bis zum legten SSudjftaben, ben er der Zeitjchrift einverleibte, treu geblieben, voll der edlen Zuverficht, daß menn man nur an ber eigenen Kraft e8 nicht fehlen Tafje und fid) ber noth-

wendig gemorbmen neuen Waffen und Mittel rüftig bemei-⸗ itere, jid) das alte Gut des Glaubens immer wieder ver- theidigen (affe und meu bewähren merbe, bap „wir aber auch

Einiges über bie wiffenfchaftliche SSebeutung 2c. 199

unfre Schufdigleit wicht zu thun vermöchten, wenn wir uns febig(id) anf bie Waffenrüftung einer frühern Zeit befchrän- fen würden.“ Mit folhen Worten, bie er ebenbort nod) dureh ein draftifches Bild illuftrirte, ift Aberle von der Quartalſchrift nad) fünfundzwanzigjähriger Mitarbeit und von feiner öffentlichen Titerarifchen Wirkſamkeit geſchieden, in einer auch für bie von. ihm vertretene Wiffenfchaft ver- bängnißvollen Zeit, wo die gemaftjam und unaufhaltbar rückwärts laufenden Kräfte jede Stadinmslänge, die fte wieder abwärts gerathen find, für einen Fortſchritt, wo nicht gar Triumph der guten Sache ansrufen. Möge das War- nungszeichen,, ba6 ber Selige in jenen Schlußworten gegen Scheu vor Wahrheitsliebe, Vernunft und Charakter errichtet fat, nicht unbeachtet bleiben, und mögen neue Kräfte das (δὲς biet, deffen Aufhellung er (id) zur Lebensaufgabe gejetgt, in dem er auch vielfach neue Bahn gebrochen fat, in feinem Geifte weiter fördern, denn für den bloßen Buchſtaben, für welchen tt fid) nirgends ſtark begeiftern fonnte, wäre er felbft ber legte gewefen, ftrenge Nachachtung ober gar Anbetung zu wünfchen.

Wir dürfen nicht unerwähnt laffen, daß Aberle in feinen exegetifchen Vorlefungen neben dem Wortfinn, ben er mit den benöthigten Sprachkenntniffen voll ausgerüftet fcharf und Kar zu firiren verftand, bie von ihm aufgeftelften leiten- ben Gedanken über ba8 cauonijdje Schriftthum auch im Einzelnen zu verwerthen und zu bewähren Deftrebt war. Die Vorleſungen umfaßten abwechslungsweife die Synoptiker, das Johannesevangelium, bie Apoftelgefchichte und bie größern und bedeutendern Briefe be8 neuteftam. Canon, und zeich« neten fid) aus burd) tiefes Eindringen in Wort, Gat und Zufammenbang, burdj Tebendige Beherrſchung eines ausges

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breiteten Erklärungsmaterial® und von Geift und Herz gleihmäßig erfaßte und durchgeführte Darlegung des Ideen⸗ gehaltes der einzelnen Schrift und ihrer nähern unb ent» ferntern Bezüge zum Schriftganzen, zur damaligen Gegen- wart unb zum Leben der Kirche. Die aus dem Ganzen und Vollen heraus arbeitende Perfönlichkeit mit ihrem weite gefpannten geiftigen Horizont fonnte auch hier jid) nur (δὲς nüge tbun, wenn fie dem oft unbedeutend fcheinenden Ein zelnen tiefere Beziehungen und Motive abgewonnen, dafjelbe in den höhern Zuſammenhang und lebendigen Fluß der ges ſchichtlichen Entwicklung gehoben Hatte. Die am meiften vollendete Arbeit des Verewigten, die er immer und immer wieder zur Hand genommen unb unter günftiger gewordnen Verhältniffen wohl mod) zu veröffentlichen gedachte, ift feine Neuteftamentfiche Einleitung. Man muf diefelbe, ent» blößt, wie er fie vortrug und biftirte, von dem DBerfümm« (ien, wenn auch jonft nicht zu nnterjdjágembem Ballaft todter Traditionen, Hilfskenntniffe und ſchwer verdanlicher MWiffensitoffe, ohne längere Unterbrechungen durchlefen, um fif immer und immer wieder neu, angeregt und bore wärts getrieben zu finden, und ben reichen und tiefen Geijt kennen zu ferien, der im Bewußtſein, daß er e8 Bier mit dem Höchften was ber Menjchheit zu Theil geworden, zu thun Babe, affe feine Kräfte [pannt, um der innern Werf- ftätte, den Entitehungsgrüuden und ⸗Weiſen ber Schrift- benfma(e des N. Teſtaments näher zu fommen und dadurch eine genügende Kenntniß vom Wefen und der Bedeutung des Chriftenthums und der von ihm genommenen, jorie hinwieder ihm gegebenen oder aufgenöthigten Stellung zur damaligen Welt zu vermitteln. Es iſt hier mo weder Kritik nod) Panegyrit zu fchreiben ift, nur von den Ginbrüden im

Einiges über bie mwifienfchaftliche Bedeutung ac. 901

Ganzen zu reden, welche unbefangen und unvoreingenommen wiederzugeben find: ich kann mir nun wohl denken, daß jo manche bier aufgeftelfte, vom breiten Geleife der Pofitiven wie ber Negativen weit abgehende Behauptungen, Erklä⸗ rungs⸗ und Begründungsverjuche fpäteren richtigeren Gt» fenntniffen zu weichen haben, ba und dort ein allzukühner, auch in der formellen Faſſung gewiſſen Ohren unliebſamer Verſtoß gemacht ift, einzelnen Erſcheinungen, wie dem Wider⸗ ſtand des ſich geiſtig aufraffenden und zur Revolution gegen Rom ſich ſammelnden Indenthums wider das junge Chriſten⸗ thum da und dort, wie es ſcheint, ein zu weitgreifender Einfluß zugeſchrieben, mit Folgerungen aus einem wohl⸗ durchdachten Syſtem nicht geſpart wird unb nicht ſelten all⸗ zu ſcharfes Sehen und zu feines Hören das Gedankenbild etwas verbogen haben mag; aber es bleibt keine Frage, daß hier eine originale Arbeit vorliegt, ein geiſtiges Erzeugniß von einem Guß und Wurf, das durch Neuheit der Ges danken unb Kühnheit der Gombinationen ebenfofehr iiber» rajdjt, als durch einleuchtende Klarheit der Folgerungen und einfach ungeziwungne Beilegung fchwieriger Fragen und Gut: wirrung verwicelter Knoten befriedigt. Nicht daß der Of: fenbarungsverlauf in menschlich natürlichen Prozeß der Geiftes- gefchichte verwandelt, Chriſtenthum und Kirche nach Urfprung und Grimdung von ber übermenjchlichen Wurzel getrennt, unb auf ausfchließlich irdifchen Boden geitellt wären, aber e8 ilt bei voller Mahrung der göttlichen Faktoren voller Ernft gemacht mit ber Anerkennung der aufs engfte mit der Zhätigleit jener verfehlungenen Wirkſamkeit der menschlichen Zräger und Ausführer der göttlichen Heilsgedanfen. Auch die fid) ftrengkirchlich bünfenbe Schrifterflärung, foweit fie nicht fonveräne hohle Phrafe bleibt, die ba8 mißhandelte

202 Himpel,

Gewiſſen der Kirche nur fchlecht zu befehwichtigen vermag, muß den realen Boden der Zeitverhältniffe, auf welchem die heilige Geſchichte fid) abjpielte, anerkennen und Tennen fernen, greift aber in ihrer Kurzficht nicht felten zu weit bebenffid)erm Aushilfen, die neben der Einficht aud) ihre Ehrlichkeit empfindlich bloßftellen, und ftellt fij, wenn fie ihren non liquet durd) den deus ex machina zu Hilfe fommt, troß aller frömmelnden Verbrämungen außer jeder Möglichkeit wilfenfchaftlicher Bedeutung und - Beachtung. Wie geiftvoll und gläubig ohne Flunkerei der modernen Kirchlichleit unfer Schriftgelehrter mit dem Realismus, ſoweit er berechtigte Errungenschaft und wahrer Fortfchritt qud) innerhalb der theologischen Wiffenfchaft, vorab ber exegetifchen ift, die ideale Betrachtungs-Weife, mit dem menfchlichen den göttlichen Baktor_ verbunden hat, mag er ung noch mit eignen Worten jagen. „Man Hat wohl zu beachten, bemerkt er im erſten Abfchnitt der Einleitung über die allgemeinen Bedingungen Neuteftamentlicher Schrift: abfafjung, daß iiber bem menfchlihen Wollen mod) ein höherer Wille vorhanden ijt, welcher erjteres für feine Zwecke benützt und aus deffen Thätigkeit Nefultate hervorgehn Laffen kann, welche demfelben als Abficht nie vorgejchwebt haben. Gilt dieß im allgemeinen von allen Hiftorifchen Dingen, fo ift e8 im Betreff der nenteftanentlichen Bücher noch aue; brüdíid) Lehre ber Kirche, daß fie unter der infpirirenden Einwirkung des B. Geiftes entftanden feien. ATS ficher darf man annehmen, daß bie Inſpiration, foweit fie nicht in ber Verzückung wie bei der Apocalypſe ftattgefunden, bezüglich des Einfluffes, den fie auf bem Menjchen ausübt, nicht wejentlich verfchieden fet von ber Gnabenmirfung, melde bie menſchliche Sreithätigkeit nicht aufhebt, und daß fie fid) nur

Einiges über die wiſſenſchaftliche Bedeutung 1c. 203

in der Richtung bethätigt habe, daß burd) fie bie D. Schrift: fter von jedem Irrthum bezüglich der Opportunität des Schreibens einerfeits und des Inhalts der Schriften ander: jeit8 freigeblieben feien. Jedenfalls aber ijt feitzuhalten, daß bie Syn[piration nicht Wunderwirkſamkeit in der Weife je, daß durch fie bei den neuteftam. Schriftitellern bie ua» türlichen Bedingungen der Schriftabfaffung überhaupt aufs - gehoben worden wären. Vielmehr zeigt eine oberflächliche Betrachtung der neuteftam. Schriften, bag die Verfaffer bes züglich des Formellen eben nur das leifteten, was jid) ver: möge ihrer Naturanlage, Bildung, größern oder geringern Fertigkeit in Handhabung der griechijchen Sprache als natür- liche Leiftung erwarten ließ. Wie fie in diefer Beziehung über das Natürliche nicht hinausgehoben wurden, fo ijt an⸗ zunehmen, daß auch in Bezug auf den Anlaß, durch bem fie zu Abfaſſung ihrer Schriften famen, nicht ein necefjitirender Einfluß von oben auf fie ausgelibt wurde, fondern daß fie darin nur ber Eingebung ihrer eignen Ueberlegung folgten, die ihnen das Schreiben im einzelnen Tall wegen der be— fonderen Umftände räthlich erfcheinen Tief. Anden ' aber diefe Umftände durch höhere Fügung a(8 natürlicher Anreiz zum Schreiben herbeigeführt wurden, erflärt es fij, baf der D. Geijt in feiner infpirirenden Wirkfamkeit nicht von Menfchenentichlüffen abhängig wurde und diefe Entfchlüffe bod) fo gefaßt unb durchgeführt werden fonuten, als ob jene Wirkjamkeit nicht vorhanden gemejen. Danach kann man ohne Anjtand bie Zufälligfeit in Betreff der Entftehung der neuteftam. Schriften zugeben, ohne daß man zu läugnen braucht, daß es wirklich in Gottes Abficht gelegen, die D. Schriftfteller zu infpiriren und aus ihren Werken ein Gan- zes mit dem gemeinjamen Gfarafter eines f. Buches her⸗

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zuftellen: nemlich eben ba8, was wir im Gegenjag zum alten Teftament ba8 neue nennen.“ Ein weiterer Beleg dafür, daß Aberle die Entjtehung des Kanon, entjprechend feiner lebendigen religiöjen Weberzeugung, nicht ohne urfädh- fiche Verbindung mit bem Wirken des göttlichen Geiſtes fid) ‚gedacht hat, findet fid) in der Ausführung zur Apoca⸗ lypſe, welche zeigen foll, daß ber ftarke Unterfchied ber Sprache und des Stils, ber diefer Schrift gegenüber dem Evangelium de8 Yohannes eigen ijt, Leine weſentliche Ju⸗ ftanz gegen bie Sybentitdt des Verfaffers begründen. Wir führen auch diefe Stelle nicht im fachlich apofogetijdjen In⸗ terejje, jondern zur Charalterifirung des Standpunktes des Gelehrten nad) der angeführten Seite Hin an; zugleich mag fte die Vertrautheit defjelben mit einem fo ſchwierigen Ge- biete, wie ba8 ber Myſtik ijt, ba8 ihn in frühern Jahren viel beſchäftigt und aud) zu eignen Vorträgen veranlaßt hatte, documentiren. Er fagt dort, bag zur Erklärung jener Spracherfcheinung ein neuer Weg einzufchlagen fel, den bie Erfahrungen zeigen, welche man im Lauf der Zeit in der Kirche bei Elftatifchen audj fonft gemacht hat. Bei jeder Gfitaje, heißt e8, audj der natürlichen, findet bei bem be- treffenden Individuen eine Veränderung ihrer Ausdruds- mweife und ber ihr zu Grunde liegenden plaftiihen Vor- ftellungstraft ftatt. Am meiften aber pflegt dieß der Fall zu jein, wenn bie Efftafe eine übernatürliche ift und mit einer folchen eine Bifion fidj verbindet. Hier findet zweierlei ftatt: einerfeitS eine innere Erregung des Verzüdten, durch bie feine Seelenfräfte über ba8 gewöhnliche Maß heraus— gehoben werden, und anderſeits eine objektiv belehrende Ein- wirkung, welche ihrem materiellen Gehalt nach vom ἢ. Geifte ftammt, aber in Formen eingef(eibet ijt, meldje der natür-

Einiges über bie mwiffenfchaftliche Vebeutung 2. 906

lichen, durch die Erregung gefteigerten und dadurch mobift- cirten Faffungsfraft des betreffenden Individuums angepaßt find. Syene innere Erregung nümf[id) ijt nicht Vernichtung irgend eines Seelenvermögens, aud) nicht 9ten[djaffung eines ſolchen, fondern nur eine Veränderung des Zuftandes der Seele, durch welche bieje in ben geheimnißvoliften Tiefen ergriffen und die im denfelben fchlummernden oder zum Schlummern gebrachten Fähigkeiten, welche fonft nicht oder nicht mehr zur Bethätigung kommen würden, aufgemedt und in Aktion gefett werden. Der Menfch bleibt im Zuftand ber Bifion im Wejentlichen was er war, aber indem er durch biejefbe auf fein tiefftes Weſen zurückgeführt wird, muß in Bezug auf das, was nur zu feinen erworbenen Fähigkeiten gehört, eine nad) der Art der Viſion tiefer oder weniger tief gehende Veränderung eintreten. Dieſe erwor- benen Fähigkeiten können ganz ver[d)minben, wie in ben Vifionen, welche weder durch Bild mod) Wort vermittelt find, ober aber fie fónnen zum Theil beibehalten werden, wobei dann dag eigenthümliche Verhältniß eintritt, daß bic früher unb bewußtlos erworbenen Fähigkeiten feter haften aí8 bie jpäter unb mit Bewußtfein erworbenen. Dieß gilt insbefondere mit Bezug auf die Sprache unb bie Typen, nach welchen die Einbildungskraft thätig ift. Die Sprad- weife, welche man in unbewußter Kindlichkeit gelernt, ſowie die Bilder, an welchen die Einbildungsfraft fid) zuerſt ἐς übt, treten im vifionären Zuftand immer in ben DVorder- grund, und wenn bei weis und Mehrfpracdigen auch das Materielle an der Sprache, daB zum aut umgebildete Wort aus einem fremden , jpüter angelernten Idiom beibehalten wird, fo conformitt fid) doch das geiftige Element und bie dem Sprechen zu Grund liegende Anfchauungsweife b e m Charakter

206 $impel,

gemäß, welcher fid) in der Kindheit formirt Bat, unb fucht die äußern Sprachelemente, wie fie in der Deklination und Conjugation, dem Gebraud) der Modi unb Tempora u. [. w. Geftalt gewinnen, nicht nad den Gejfegen des fremden Idioms auszuprägen, fondern mad) denen ber eigenen Stute teriprache umzugeftalten. Wenden wir num bieB auf die fraglihe Spracdherfcheinung der Apocalypfe an, [o ijt, was wir als Sprach⸗Verſtöße angeführt, dieß nur nad bem griechiſchen Sprachgebrauch, nicht aber mad bem hebräiſchen oder femitifchen. Die als fehlerhaft bezeichneten Conſtruk⸗ tionen find nach femitifcher Weife ganz richtig gemadt unb erjcheinen nur deßwegen als fehlerhaft, weil die äußern Laute, vermittelft deren fie durchgeführt find, nach bem ge- wöhnlichen Gebrauch eine andere, nämlich eme griechifche Conjtruftion verlangen. Daraus folgt zweierlei; einer[tità : das Griechiſche Lann nicht Meutterfprache des Verf. geweſen fein, und fobann: dieſer muß im gewöhnlichen Zujtand ein befjere8 Griechiſch gefprochen haben, als fid) in der 9(pota- [ypfe zeigte, eben weil der Zuftand der Viſion eine Alteri- rung der erworbenen Fähigkeiten mit fid) Bringt, welche im vorliegenden, wie in ähnlichen Füllen wegen Einmijchung heterogener Sprachelemente nur eine Deteriorirung fein Tann.

Das Urtheil über Werth und Erlaubtheit der Anwen dung diefer „Erwägungen auf bie ſprachlichen Eigenthümlich- feiten der Apocalypfe ftebt frei, daß aber im denjelben ber Anfpiration nichts vergeben ijt, wird man anerfennen. Manche Materien und Abfchnitte der Einleitung hatte Aberle in ber Quartalfchrift weiter ausgeführt, was mit ein Grund fein. mochte, mit ber Bublifation derfelben zurüdzuhalten. Takt man aber zufammen, was er in ber Quartalichrift veröffentlicht Dat, die zahlreichen Artikel und nod) immer

u

Einiges über wiſſenſchaftliche Bedeutung 1c. 207

nicht veralteten Arbeiten feiner Hand im Welte-Weger’schen Kirchenlexikon, feine zu Zeiten fer rege und fruchtbare Betheiligung an der firchenpofitifchen Publiciftit, fo wird man auch dem Umfange nach feine Schriftftellerei feine geringe nennen fünnen. Wäre ihm vollends mit Errei⸗ chung noch höherer Lebensjahre vergönnt geweſen, an ſein Einleitungswert ober bie jpegielfe Bearbeitung -der einen ober andern neuteftamentlichen Schrift bie fegte Hand ait: zulegen, [o würde er auch mohl zu deren Veröffentlichung frog der gegenwärtigen höchſt unginftigen Stimmung gegen folche Arbeiten und Arbeiten [οἴει Geiftes innerhalb ber Kirche, wo man das Heil vorzugsweiſe in einfeitiger Aſkeſe, ſteriler Polemik, apocalyptiſchen Ueberſpanntheiten und eng⸗ brüſtiger Kirchlichkeit, der der geſunde Athem auszugehen droht, in gewißen franzöſiſchen Kreiſen allbereits in paga⸗ niſtiſcher Verwilderung des Wallfahrtsweſens zu ſehen ſcheint, ſich entſchloſſen haben. Einſtweilen liegt in den bezeichneten Arbeiten hinlängliches Material vor, Aberle's eigenthümliche Behandlungsweiſe der hl. Schrift kennen zu lernen, allein bei ſehr vielen von denen, bie über zu farge Veröffentlichun- gen Klage führten, {πε die Kenntnißnahme von bem was ihnen bis jett Schon zugänglich gemacht ijt, im auffallendften Meißverhältniß zu ihrer anfcheinend fo vegen Sehnfucht nad) Mehrerem. Die Hhpofrifie ijt dabei nicht minder groß als . ble Ignoranz. War e$ ja aud) bei uns (unb ijt bei Vielen zur Stunde noch) ein Gradmeſſer der Modekirchlichkeit, als Hemmſchuhe des „Acht firdj(id)en^ Lebens den Namen Wilfen- fchaft und wiffenfchaftliche Beftrebungen mur in Spott und Aerger zu gebrauchen. Jedenfalls Haben zu jchweigen bie nod) bor wenig Jahren mit einem bekannten Wort des alten Napoleon die Erzengnijje aud) einheimifcher Katholischer Ge» | Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft II. 14

208 Himpel,

lehrten ſchmähen wollten und Zeitungsdiatriben für weit verdienſtlicher als wiſſenſchaftliche Schriften erklärten, dann aber wieder Zeter riefen, als ſolche, freilich nicht in ihrem Sinn, ihnen geboten wurden. Aberle litt unter einer fol- hen Entwicklung der kirchlichen Verhältniffe, bie ihm als Krebsgeſchwür am Leib der Kirche erfhien, um fo nad. haltiger, je reicher und tiefer aud) feine Gemüthskräfte waren und mit je vollerer und imnigerer Hingabe am die Antereffen von Chriſtenthum und Kirche er jid) bewußt war Jahrzehnte lang in erfolgreichfter Weife gewirkt zu haben. Davon abgefehen jedoch, daR er den fchönften Lohn in der Belehrung begeifterter Zuhörer durd freies mündliches Wort erblickte, glauben wir den Hauptgrund feiner Zögerung mit einer großen zufammenfaffenden Publifation zu erkennen in der Scheu, mit Feinden zweier entgegengefegter Lager hand⸗ gemein zu werden. An feinem Spitem haftete nämlich als Revers aud) eine gemibe ſchwächere Seite, in ber Durd- führung von Einzelheiten, wo jid) bie an fid richtigen Grundjäge nicht immer jo leicht bewähren, und er fannte hier fattfam die vornehme Abjprecherei ber exelufiven Wiffen- Tchaftlichkeit, deren Voransjeßungslofigfeit in Beurtheifung aud) ganz jelbjtändiger, mindeftens ebenbürtiger Fatholifcher Arbeiten die Farbe jo jchlecht Hält. Und dazu faf er bei feiner praktiſchen, radifalen Verläugnung einer befaunten, neu galvanifirten theologischen Methode nod) einen jchlimmern Feind im jchwarzen Hintergrund , den er früher jelb[t als pures Produft eines gehäffigen Gefpenfterglaubens verlucht hatte, bi8 derfelbe ihm greifbar näher getreten war. Nicht jedoch, al8 ob ihm für folche Kämpfe die geiftigen Reſſour—⸗ cen ‚gefehlt; er Hatte fie in vollftem Maß; aber er war denjelben moraliih auf bie Dauer nicht mebr gemadjeu:

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung ac. 209

das weiche Gold überwog in feinem Weſen, jedenfalls in feiner fpätern Lebenszeit, den harten Stahl. Jene Scheu bieng aber auch mit feiner zunehmend ihn jtürfer befchweren- den körperlichen VBerfaffung zuſammen, und eine leider un— trügliche Ahnung hieß ihn ſcheint e8 aufregenden Anläſſen . der SBejd)feunigung einer Rataftrophe aus dem Wege gehen.

Es jei nun aber, ehe wir noch mit 9Eenigem und foweit wir e8 als für bie Quartaljchrift pafjend erachten dürfen, die Tirchlichetheologifche Stellung Aberle's, die- er bis zu feinem Ende eingehalten, ins Auge faffen, Linfenmanne Schilderung der Thätigkeit des Lehrers der Moral Raum gegönnt.

„Als Aberle den Vortrag der Moral übernahm, mach⸗ ten fid) im Firchlichen Leben und im mijfenidjaft(idjen Studium die Ginffüjje einer neuen Zeit und einer neuen Richtung geltend , und gerade bie jo eminent. praftiiche Difeiplin ber Moraltheologie konnte nidyt unberührt bleiben von den Im⸗ pulfen diefer neuen Bewegung der vierziger Jahre. Man benfe nur an die Volfsmiffionen und an die in Deutjchland neue unb imponivenbe Erfcheinung der miffionirenden Ordens⸗ priefter, deren Wirken viel weniger unmittelbar auf die Volks⸗ Ihihten als. auf den Seelforgeflerus berechnet war und welche demgemäß der Paftorationsthätigfeit eine nieht prak⸗ tiſche als theoretiſche Richtung gaben und beſonders den Schwerpunkt der ſeelſorgerlichen Wirkſamkeit wieder in die Verwaltung des Bußſacraments verlegten. Die Doktrin des Katheders trat von da an zurück hinter der praktiſchen Seite der Theologie; bie Caſuiſtik eroberte wieder die feit der Auf⸗ Härungsperiode verlorne Herrichaft, und Jeſuiten mie Res demptoriften wetteiferten miteinander, bie Moral des heil. Alphons von Xiguori zu verbreiten.

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210 Himpel, Aberle ſelbſt aber brachte zu ſeiner Stellung mit eine

in Pietät gegründete Hochſchätzung der katholiſchen Vergangen⸗ heit, entgegen der rationaliſtiſchen Zeitſtrömung, in welche

nod) feine frühere Jugend gefallen war. Zu feinen {π΄

Erinnerungen gehörten die Erzählungen „aus Klofterszeiten“, die in-feiner Heimat, einjt zum Klofter Ochjenhaufen gehörig, nod) von Mund zu Mund giengen, und fein Reſpekt vor den Bibliothefen und wiffenfchaftlichen Leiftungen der Mönche war unbegrenzt.

Dazır fam fein Blick für das Praftifche, man könnte fagen für das Pragimatifche, ber im angeboren war. Ihm war ber Lehrer der Theologie, ebenfo der (reget mie ber Moralift, zugleich der PVaftorallehrer, ber feine Theorien und jeine Studienfrüchte immer zuerft darum anſieht, ob unb wie fie fich für die Lebensverhältuiffe der Gegenwart fruchtbar machen laſſen.

Aberle wandte fid) alfo zu den Moraliften der Vorzeit und made die gewöhnliche Erfahrung, daß die Alten manche fertigen und pofitiven 9tejultate ſchon darbieten, wo bie Neuer rem erft unficher und fubjeftiviftifch taften und. probieren. Für den Schüferkreis, in den er eintrat, fonnte fein Zurück⸗ gehen auf die Moral der Alten faft wie eine Steuentbedung gelten; dieſelbe würde fid) freilich aud) ohne ihn vollzogen haben ; wäre er nicht in feinen Borlefungen dem Bedürfniß und Berlangen ber Zeit entgegengelommen, fo würde man bei uns an bie um diefe Zeit erſchienene Moral von Probit fid) gehalten haben, wie anderwärts an die von Martin.

G8 ift intereffant zu fehen, mie fidjer Aberle von Anfang an feine Stellung nimmt und fein Verhältniß zur Caſuiſtik abgrenzt. Er ftellt zu diefem Zweck in einer Res cenfion (Q.Schr. 1851 ©. 135 ff.) mehrere Moralwerke

Einiges Über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 2c. 211

nebeneinander, von denen zwei nad) feiner Anſchauung den ältern cafuiftifchen Standpunkt repräfentiren (Liguori und Gouffet je in compendidfer Nenbearbeitung), während bic andern, Stapf und Probſt, bem neuern wifjenjchaftlichen Standpunkt angehören. Zuvörderſt anerfennt er nun bie Berechtigung der Caſuiſtik unter der Vorausfegung, daß bie allgemeinen oder theoretifchen Fragen der Moral in der theologia scholastica inbegriffen und gelehrt werden; ohne diefe Vorausſetzung müßte bie Gajnuiftit eine fehr mangel- bafte Lehre enthalten, da fie ſchon ihrem Charakter und ihrer Beſtimmung nad) auf bie Pflichtenfehre oder richtiger auf bie Sündenlehre fich bejdjrüntt. Weiter inpofbirt bie cafuiftifche Behandlung die Gefahr, daß fte die Moral einzig unter dem Geſichtspunkt der Beichtprari® betrachtet, was ebenfo einseitig und ungenügend ift, als ein Moralwerf, „808 den morafijden Stoff mit beftimmter Rückſicht auf die Verwaltung des geiftlichen Lehramtes behandelt“. Mit fegterer Bemerkung trifft er vornehmlich Hirfcher, und in blejem Sinne ijt e8 zu verftehen ,- wenn er in feinen 3Bor- lefungen von rfetorijd) angelegten Moralwerken im Unter» ſchied von cafniftischen und ftreng wiffenfchaftlichen fprad). Noch einen größern Fehler aber erfannte er darin, baB man mit Wiedereinführung der alten Cafuiften fid) bei einer Darftellung fittlicher Verhältniffe beruhigen will, welche einer vergangenen Zeit angehören. Wie das Leben in fort- währender Bewegung ijt und neue Verhältniffe geftaltet, fo verlieren mit] der Zeit manche ältere Probleme ihren Gegen- itand und hre Bedeutung unb tauchen neue Vorwürfe auf, die mit den Hilfsquellen und mit den Formeln und Definitionen der alten Doktrin nicht genügend zu löfen find. Was alfo Aberle wollte, ba8 war nicht einfache Wieder»

212 Himpel,

bringunfg der Alten, fondern Durchdringung des alten über- Tieferten Materials mit bem wiffenfchaftlichen Geifte der

neueren Zeit. Seine Aufgabe war bemmnad) eine doppelte:

ἐδ war der Nachweis zu führen, daß die alte Xheologie nicht die Geringſchätzung verdiene, welche fie bis dahin vielfach erfahren mußte, daß fie vielmehr eine Fundgrube wahrer Erfenntniß fei, wofern man fte nur nicht mit Vor— eingenommenheit gegen ihre äußere Form fondern mit Hin gabe an ihren Geijt beurtheile und durchforfche. Dieß mar ber apofogetijdje Theil der Aufgabe. Sodann aber mar bie Richtung anzugeben, in welder die alte Doktrin mit neuem Geifte zu durchdringen und fortzubilden ift. |

Zur Ylluftration des Geſagten dient am beften feine Abhandlung über ben ÄAquiprobabilismus (O.Schr. 1851 ©. 339 ff.) und überhaupt feine Stellung zu den Syſtemen der Probabilität. Daß er fier fid) ber a(pDon- fiftildjen Lehre angenommen und bie landläufigen Irrthümer darüber zerftreut hat, dieß Dat ihm viele Gunft der neuen €djuíe eingetragen; nur wenige aber haben ihn verftanden und find feinen Spuren gefolgt, wo ἐδ fid) ernftlich barum handelte, den tiefern Gehalt, Tozufagen den Geift bes Pro- babiliemus, zu evfajjen. Ihm empfahl fid) am Probabilis- mus vor allem das milde freifinnige Element, die echt liberale Auffaffung der Pflichtverhältniffe im Gegenjag zur jtarren Gefeglichkeit, oder nm c8 concreter auszudrücken, bie für die Seelſorgepraxis jo wichtige Mäfjigung in Verwal- tung des Bußſaeraments im Unterſchied vom janfeniftifchen Rigorismus. Will man überhanpt Gajuift fein und das Schwergewicht der Seelforge in die Bußpraxis verlegen, jo gann man mur mit den Lehren eines gefunden Brobabilismus quéfommen, nicht aber mit Derbem Nigorismus. Aus

Einiges über die wifſenſchaftliche Bedeutung 3c. 213

diefem Grunde pflegte er für mande probabiliftifche Ent- jdeibung einzutreten, ohne fid) an ber mangelhaften und zumeilen etwas fophiltifchen Begründung berje(ben zu ftoßen, vielmehr diente ihm jeine dialektifche Gewandtheit zumeilen dazu, bie Sache in ein anderes, befjeres Licht zu rücken. Auch den Probadilismus fefbjt fuchte er nicht nur auf feinen wahren Gedanken zurücdzuführen, fondern aud) tiefer zu bes gründen, und hierin hat er fid) ein DVerdienft erworben, welches bisher zu fer ignorirt worden ift. Hören wir feine eigenen Worte: „Daher i[t der Probabilismus im weiteften Sinne feineswegs etwas Verwerfliches, fondern wie er aus einer gewiſſen innern 3totfmenbigfeit entítanben, [o wird er fid) mit derfelben Nothwendigkeit erhalten a(8 das Mittel, ba8 Neue, das die fortlaufende Entwidlung be8 Menſchen⸗ gefchlechtes ausgeftaltet, mit dem bereits Beftehenden in Einklang zu bringen, der Firchlichen Gefeßgebung vorzu— arbeiten und in den Gebieten, im welchen die Geſetze noth- wendig den Charakter der Veränderlichkeit an [18] tragen, den Fortſchritt zu fördern, ohne auf ber einen Seite das Alte zu verwerfen,, fo lange ἐδ noch [ebenéfüfig ift, um das Neue aufzunehmen, ehe e8 fid) als innerlich berechtigt ausgewieſen“ (a. a. Ὁ. ©. 386).

Keineswegs alſo eine bloße Apologie des Alten war ἐδ, was er wollte, fondern tiefere Verſtändniß um Weiter: bildung mit den Mitteln der heutigen Wilfenfchaft. Und zwar find c8 hier vornehmlich drei Wege, auf denen er bie Moralwifjenichaft fördern wollte und gefördert hat, obgleich er, ſchon ehe er den Vortrag der Moral aufgab, feine darauf bezüglichen Studien abgefchloffen hatte, um fid) ganz feinem zweiten und für ihn principalen Lehrfac zu widmen. . Qu erfter Linie nun fteht die Syftembildung ; es follte über

214 Himpel,

die bloße Traktatentheologie hinausgeſchritten und bie ein— zelnen Probleme in ihrem innern Zufammenhang nachge— wiejen werden. Nun muß man aber die verfchiedenen mober- nen Verfuche der Eyftematifirung der Moral fid) vergegen» würtigen, um zu erkennen, wie fehwer e8 ijt den Gefammt- ftoff in ein nicht blos ftreng durchgeführtes fondern auch einfaches, bündiges unb überfichtliches Syſtem zu bringen, wie e8 für bie Lehrzwecke des afademifchen Vortrags erfor» dert wird. Die Hefte Aberle’8 enthalten ein ſolches Syſtem und zwar mit einer Üüberrafchenden Architektonik, die freilich im erften, nämlich) dem allgemeinen oder grundlegenden Theil, dadurch gewonnen wird, daß die Grundmauern ber cafıtifti= hen Zraftate (de actibus humanis, de lege, de con- scientia, de peccato etc.) benüßt und nur mit einem wijfenidjaft(idjen Gerüfte umfangen und überdacht werden. Das Gerlüfte felbft möchte ins Wanfen kommen, wenn e8 bem Wind und Wetter ber Zeit ausgefettt bliebe." Der zweite oder fpecielle Theil (Pflichtenlehre) ift zwar im Grundplan ebenfalls efr .einfach, indem bie Pflichten πα den drei Relationen entfprechend dem dreifachen Gebot der Xiebe ge— ordnet werden ; er erhält aber eine fehr weſentliche Erweite- rung dadurch, daß die Doppelftellung be8 Menjchen als Einzelwefen und als Gattungswefen in den verfchiedenen Pflichtgebieten zur Anfchanung und Wirkung gebracht wird. Aberle Hat, der erſten einer, die moderne Unterfcheidung von Andividual- und Social-Ethit in das rechte Licht gejeßt unb damit in bafnbredjenber Seife das Verftändniß eröffnet für ba8 gejellfchaftliche Moment in der chriftlichen Tugend» und Pflichtenlehre.

Der zweite Weg, auf welchem die Moral fortzubilden mar, führt in das Gebiet der Piychologie in ihrer Beziehung

Einiges Über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 3c. 215

zum jeweiligen Stand der Anthropologie im weiteften Sinne. Die Seelenfunde ift durch bie fortichreitende Phyftologie namentlich in Bezug auf abnorme patbofogij)e Zuftände , merklich gefördert, nicht gerade infofern als diefe abnormen Zuftände ober Erfcheinungen in ihrem Grund unb Mefen ſchon erfíürt find, aber wenigſtens infofern als biefelben in ihrem Zufammenhang mit natürlichen phyfiologiichen Urſachen erfannt find unb eine gewiffe Gefeßmäffigfeit in ihnen cort ftotirt ijt. Die Pfychologie hat in unfrer Zeit nicht un: weſeutliche Auffchlüffe erhalten über die Einwirkung der Phnfis auf die Seelenzuftände wie über die Macht der Seele und des perfönlichen Willens über pathologische Erfcheinungen förperlicher Art; und jede neue Erkenntniß auf biejem Gebiete [egt ein Stüd des alten fcholaftifch » cafuiftifchen Apparates zur Erklärung der aufßerordentlichen Seelenzu- fände außer Xhätigfeit. Die Erforfchung diefes Gebietes war Aberle jo angelegen, daß er eine eigene Semeitral- SBorfejung über „außerordentliche Seelenzujtände” ausarbeitete. An der Moral hat er diefe Studien verwerthet für die Dar⸗ ftellungen über Aberglauben, über. Somnambulismus, Hy⸗ fterie, Dämonismus, myſtiſche Zuftände u. |. m. Vergl. feine Auffäge im Kirchenlexicon über Stigniatifation, Ver: züdung, Zauberet. Die Begründung feiner Anfichten in diefer Beziehung ift wohl nicht überall ftichhaftig, fo wenig als bie anthropologifchen Grundlagen von Görres Myſtik, welche damals ein mafgebendes Werk war, unantaftbar find. Aber wenn fein Verdienft in diefer Richtung aud) fein anderes wäre, a(6 daß er feine Schiller auf ble Probleme ber nenen Wiffenfhaft unb auf bie Wege zu ihrer Löſung bingewiefen, jo könnte es dennoch nicht hoch genug angefchlagen werden.

Endlich eine dritte Bahn, auf welcher die Moral jid)

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214 Himpel,

die bloße Zraftatentheologie hinausgefchritten und bie ein- zelnen Probleme in ihrem innern Zufommenhang nachge- iwiefen werden. Nun muß man aber die verfchiedenen moder- nen Verfuche der Eyftematifirung der Moral fid) vergegen- wärtigen, um zu erfennen, wie fchwer c8 ijt den Gefammt- ftoff in ein nicht blos ftreng durchgeführtes fondern aud) einfaches, bündiges und überfichtliches Syſtem zu bringen, wie e8 für bie Lehrzwecke des afademijchen Vortrags erfor» dert wird. Die Hefte Aberle’8 enthalten ein folches Syſtem und zwar mit einer überrafdjenben Architektonik, die freilich im erften, nämlich bem allgemeinen oder grundlegenden Theil, dadurch gewonnen wird, baf die Grundmauern ber cafuifti- (den Traktate (de actibus humanis, de lege, de con- scientia, de peccato etc.) beniügt und mur mit einem wiffenfchaftlichen Gerüfte umfangen und überdacht werben. Das Gerüfte felbjt möchte ins Wanken fommen, wenn e8 bem Wind und Wetter ber Zeit ausgefeßt bliebe.” Der zweite ober fpecielle Theil (Pflichtenlehre) ift zwar im Grundplan ebenfalls fehr ‚einfach, indem die Pflichten nad) den drei Relationen entjprechend dem dreifachen Gebot der Liebe ge- ordnet werden; er erhält aber eine fehr weſentliche Erweite- rung dadurch, daß bie Doppelitellung bes Menfchen als Einzelweien und als Gattungsweſen in den verfchiedenen Pflichtgebieten zur Anfchanung und Wirkung gebracht wird. Aberle hat, der erften einer, die moderne Unterfcheidung von Individual- und Social-Ethit in das rechte Licht geſetzt und damit in bahnbrechender Weife das Verftändniß eröffnet für das gejellichaftliche Moment in ber chriftlichen Zugenbe und Pflichtenlehre.

Der zweite Weg, auf welchem die Moral fortzubilden war, führt in das Gebiet der Pſychologie in ihrer Beziehung

Einiges liber bie wifſenſchaftliche Bedeutung 2c. 215

zum jeweiligen Stand der Anthropologie im weiteften Sinne. Die Seelenkunde ift durch die fortichreitende Phyfiologte namentlich in Bezug auf abnorme pathologische Zuftände , merklich gefördert, nicht gerade infofern als diefe abnormen Zuftände ober Erjcheinungen in ihrem Grund und Mefen fhon erklärt find, aber wenigftens infofern als biejelben in ihrem Zufammenhang mit natürlichen phyfiologijchen Urjachen erfannt find und eine gewiſſe Gefeßmäffigkeit in ihnen cons ftetirt iſt. Die Piychologie Hat in unjrev Zeit nicht un wefeutfiche Auffchlüffe erhalten über die Einwirkung der Phyfis auf die Ceefengujtünbe wie über bie Macht der Seele und des perfönlichen Willens über pathologische Erjcheinungen fórperfid)er Art; und jede neue Erkenntniß auf diefem Gebiete jegt ein Stüd des alten fcholaftifch -cafniftischen Apparates zur Erklärung der außerordentlichen Seelenzur jtände außer Xütigfeit. Die Erforfchung diefes Gebietes war Aberle jo angelegen, daß er eine eigene Semeitral: Borlefung über „außerordentliche Seelenzuftände” ausarbeitete. Sn der Moral fat er bieje Etudien verwerthet für bie Dar- jtellungen liber Aberglauben, über. Somnambulismus, Hy⸗ ſterie, Dämonismus, myſtiſche Zuftände u. ſ. m. Vergl. feine Aufſätze im Kirchenlexicon über Stigmatiſation, Ver— zückung, Zauberei. Die Begründung ſeiner Anſichten in dieſer Beziehung iſt wohl nicht überall ſtichhaltig, ſo wenig als die anthropologiſchen Grundlagen von Görres Myſtik, welche damals ein maßgebendes Werk war, unantaſtbar ſind. Aber wenn ſein Verdienſt in dieſer Richtung auch kein anderes wäre, als daß er ſeine Schüler auf die Probleme der neuen Wiſſenſchaft und auf die Wege zu ihrer Löſung hingewieſen, jo Könnte εὖ dennoch nicht Hoch genug angeſchlagen werden.

Endlich eine dritte Bahn, auf welcher die Moral fid)

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216 Himpel,

andbreiten muß, führt in das Gebiet ber Geſellſchaftswiſſen⸗ Schaft ober der fociafen Fragen. Um hier ein Wort mit- jprechen zu fónnen, muß man ebenjo etwas vom Bolitifer wie vom Bollswirthichaftsfundigen haben. Wie fehr beides in Aberle vereinigt war und welch offenes Auge er für alle Tragen des öffentlichen Lebens Batte, ift απ feinem ganzen Charakterbild zu entnehmen und feinen Schülern in tieffter Erinnerung”. 2

Die auf kirchlichem Gebiet, wie fie gegen Ende ber 30er Jahre in ftarken Mißgriffen der Bureau fratie des müdjtigften deutjchen Staates einen neuen Anftoß erhalten hatte, und bie Geifter in einer Zeit des politifchen Schlummers auf eine der Anftrengumgen würdige Kampf» bahn drängte, hatte naturgemäß auch unsre Diöcefe bald in ihre Kreife gezogen. Eine Periode religiös Firchlicher An Ihauungen, deren Wurzeln im vorigen Jahrhundert lagen, neigte auch hier ihrem Abfchluß zu: fie Hatte unterlajfen, ba$ viele Brauchbare und Gefunde, was fie firchlich unb firchlich-politifch vertrat unb worauf immer wieder zurüd- zugehn fein wird, durch gründliche theologische und gefchicht- liche Studien zu ftiigen und zu rechtfertigen; Hinwieder hatte fie. dadurd), daß nur zu häufig im ihrer Moral und Predigt das oberfte Prinzip des praftifchen Chriſtenthums als Lücken⸗ büßer für theologifche Armfeligfeit mißbraucht wurde und fid) jelbft dann wie „tönendes Erz und flngenbe Schelle“ ausnahm, reichlichen Spott geerntet. So gieng jene 9tidj- tung den Weg alles Fleifches. in Stärferer war über fie gelommen und in beffen Dienft ftellte fid) alferwärts begeiftert die theologische Augend. Unter deren vorderften . Reihen ftand matürfid) bald aud) Aberle. Seinem lautern jelbftlofen Sinn und feiner energifchen Natur ftand es an,

Einiges fiber die wiſſenſchaftliche Bedeutung 2c. 917

bie πεῖς Richtung, unb damit ben Gebaufen ber Befreiung ber Kirche aus zum Theil unwürdigen Banden Eleinlicher Staats- ommipotenz mit Feuereifer zu ergreifen. Diejer Fahne der Befreiung unb wahren Freiheit der Kirche, a(8 der Anftalt für immer höhere Ausbildung und moralifche Ausreifung unfterblicher zu emigem Leben in Gott beftimmter Geifter, blieb Aberle treu auch in Tübingen, bi8 ber Tod fie ihm aus der Hand nahm. Aber er wollte dem ſchönen Wort Freiheit den allfeitig wahren, vollen Sinn belajjen und fie im Dienfte feiner Partei mißbraucht fehen. Daß bie Synbipi» dualität in maßvoller, ethisch gebunbener reiheit innerhalb der Kirche und des Chriſtenthums fid) entfalten und bewegen. dürfe und folle, zum eife von beiden, nahm er als [e[bjt» berjtánb(id) an, ganz wie die tiefe Achtung vor der Autorität als Gorreftur der Freiheit. War er doch felbft eine in jeltener Schärfe, Selbftändigkeit und Vielfeitigfeit ausgeprägte Indivi- dualität, und bod) lernte man an ihm eine im innigen 32er» band mit biefer ungebrochenen Individualität jteenbe Tindliche Frömmigkeit ungeheuchelten Glaubens hochachten und verdankte gerade der reichen DVieljeitigkeit und Eigenthümlichfeit des Mannes feinen großen Ginf(ug auf Hunderte von Studierenden aus Nah und Fern und die jegenéreid)ften. Wirkungen in Befeftigung Tirchlichen Glaubens und Lebens. Dabei vergaß er nicht, daß wie ber Fortſchritt der Gefchichte überhaupt, . fo namentlich) aud) die Bewegung und zu Zeiten fchroffere Geftaltung der kirchlichen und kirchlich ftaatlichen Kämpfe mehr durch die treibende Kraft der ihnen einwohnenden Prinzipien als durch bie jie vertretenden Perjünlichkeiten bedingt werde; daher die zunehmende Ruhe und Milde feines Urtheils über bie legteren, mochten fie die Träger einer ihm mehr ober einer weniger ſympathiſchen Richtung fein.

218 | Himpel,

Noch bald nach Anfang der ſechziger Jahre trat der feiner Kirche treu ergebne Mann mit ſchneidender Energie gegen die einſeitlich ſtaatliche Neuordnung der kirchenpolitiſchen Verhältniſſe unſerer Diöceſe auf es war für ihn der dem Anfang genau entſprechende Abſchluß der alten Periode redlich gemeinten, menn gleich oft rückhaltslos eifrigen kirchlich⸗ politiſchen Denkens und Strebens. Er vermochte fid) Der» nach mit dem neu erſtellten Verhältniß zwiſchen den beiden oberſten Gewalten um fo leichter zu verſöhnen, als je wohl- thätiger bis zur Stunde die Folgen jener Neuordnung ſich herausſtellten, je größeren Schwierigkeiten durch einen Aus⸗ gleich zu begegnen war und je heftiger Manche ſich zu gebärden angefangen hatten, welche um ihre Ziele zu θὲς fchleunigen, fid) vermaßen, der ihnen viel zu langfam operiren- ben VBorfehung burd) Denunciation der beiten Männer, wofür man natürlich Dedung im «Rufe des Gewiffens fuchte, unter die Arme greifen: zu wollen. Aberle wirkte in jener ftart erregten Zeit, welche nach kurzem Unwetter uns reinere Luft und Frieden gebracht, in entjchieden irenifchem Sinn, ürntete aber wenig Dank dafür, jondern eher, wie er fid) öfters, in bezeichnender Weife zulegt dod) Kurz vor feinem Tode aus⸗ íprad), den Stachel der von ihm fich getroffen Fühlenden. Er wird jenen, hoffen wir, anjegt für feine mühe- unb per» dienftreiche Zaufbahn empfangen haben. Gönnen wir ihm bie Ruhe, in die er heimberufen { von feinem Gott und Grlöfer: nachdem er oft heiß geftritten, niemals ohne reb liche llebergeugung, immer für redliche Ziele. Der Schmerz über das Hinfcheiden verwandelt jid) und in pietätbolles Andenken, mit bem jid) bie Nacheiferung verbinden möge. Gleich ihm follen wir unermüdet arbeiten und wie in Gottes- und Nüächitenliebe, fo audj in immer befferer Grfenntnif

Einiges Über die wiffenichaftliche SSebeutung 2c. 919 .

ber Wahrheit uns vervofflemmnen, denn nur das vernunft⸗ fofe Gefchöpf unb rer auf die Höchften Gottesgaben, Ber- nunft und Freiheit zwecklos zu verzichten vermag, ift ein für alfemal fertig und braucht nichts mehr zu lernen; wie er gethan, follen wir in Demuth gläubig und unverzagt, gehaltenen Ernftes unter den großen Vebeln und Gefahren der Gegenwart das Haupt heben, im ftarfen Vertrauen auf den ewig lebendigen Gott, treu befreundet jedem guten Wollen unb Streben, Feind nur der hohlen Selbftüberhebung, dem - Sclavenfinn und der Lüge, unter welchen Gewand fie uns immer berüden wollen.

9t. €. Der Eharakterifirung von Aberle's theologifch- firhlicher Stellung war urfprünglich ein größerer Raum in biefen Blättern beftimmt: allein davon abgefehen, daß bie Gegenwart mit ihrem wogenden und fümpfenben Leben bern Darfteller, wie Einige meinen, Teichtlich unverſehens das Wort etwas ſchärft, iit ohne Zweifel im Sinne des Seligen gehandelt worden, der zwar den Kampf nicht ge fdeut hat, aber bod) zufehends mehr und mehr zum Frieden ber Richtungen innerhalb der gemeinfamen Kirche gerathen und geredet Bat und nun felbft zum ewigen Frieden einge: gangen ift, bag man feine Stellung in kurzen und: möglichit objeftip gehaltenen Zügen zu zeichnen verfucht unb mit Nachdruck auf das verfühnende Element hingewieſen hat, das ihn bejeelte und ihm in den Kämpfen und Gefahren der Gegenwart jene innere Ruhe und 9üefignation erringen half, bie den chriftlichen Weifen auszeichnen. Verlor unfer theurer Freund und College keineswegs das [ebenbigfte Intereſſe an allen bedeutenden Vorgängen in Kirche und Staat, fo fatte fid) fein Geiſt bod affmüfig zu jener Höhe ber Be-

220 . Himpel,

trachtung gehoben, welche, zwar nur ein menfchlich ſchwaches Schattenbild ber ewigen Vorfehung, hinter ben Kampfgewühl und Lärm ber Parteien die kommende Ruhe, hinter dem Krieg und der durch ihn nothwendig hervorgebrachten Erhigung und Berblendung den Frieden zu erbfid'en und in den Schranfen der eigenen Kräfte daran mitzuarbeiten fid) bemüht.

Durd den Verzicht auf weitere Ausführungen in dem genannten Betreff hat fid) nun noch einiger Raum ergeben für Aufnahme weniger Wbfchnitte aus dem Vorlefungsheft be8 Verewigten über außerordentliche Seelenzuftände, worüber ©. 215 Rede mar. Diejelben betreffen die Vorbemerkungen, bie Urfachen unb den Sig der Gecfenfranffeiten, fomie bie. natürliche unb außernatürliche Efftafe.

Der Begriff der außerordentfichen Erfcheinungen des Seelenlebens läßt fi, Heißt e8 in bem erftgenannten, nicht jtreng beftimmen. Denn zwifchen dem was wir an den Erjcheinungen des Seelenlebend als das Ordnungsgemäße erfennen, und dem was fid) uns am bemfelben als von ber Ordnung Abweichendes aufbrängt, ijt feine Kluft befeftigt, jondern ἐδ findet ein allmäliger Webergang ftatt. Daher fügt fid im Einzelnen zwifchen beiden Arten von Erichein- ungen eine fefte Örenzlinie nicht ziehen und e8 ift bei weniger ‚marfirtem Hervortreten derfelben mehr Sache der geiftigen Empfindung und des Geſchmacks als des Berftandes, zu beftimmen, was bieffeitS oder jenfeit8 der Grenze zu ftellen κί. Es ift bier wie beim förperlichen Leben. Der regel- mäßigen Bildung ber Törperlichen Organe und ihrer regel- mäßigen Bethätigung fteht bie Verzerrumg und die leibliche Krankheit gegenüber. Allein zwifchen beiden ftehen Zuftände und DBildungen, in Betreff deren wir zweifelhaft bleiben, ob wir fie noch regelmäßig nennen oder ob wir in ihnen bie

Einiges über bie mwifjenfchaftlicde Bedeutung 2c. 291

Anfänge von Verzerrung einer Krankheit erblicken follen. Allein wie wir abgejehen von den Uebergangsitufen - im förperlichen Leben vedjt gut einerjeits regelmäßige Bildung und Geſundheit, andrerjeits Verzerrung und Krankheit wohl zu unterfcheiden vermögen, fo auch im Seelenleben. Wir wiffen aus ummittelbarer Erfahrung und Wahrnehmung recht gut, durd) welche Kräfte und Vermögen fid) ordnungs⸗ mäßig die Seele bethätigt, welche Wirkungsweife derfelben zufommt, in meldjr Ordnung fie zu einander ftehen follen, und barnad) ermefjen wir auch mit Sicherheit dag Gegen- teil. ALS einen [οἴει Gegenfat betrachten wir nicht eine ungewöhnliche Meäßigkeit oder ungewöhnliche Anftrengung deifelben Vermögens; denn jolde Erfcheinungen begründen nur einen Unterfchied des Grades, nicht aber ber Art. Wir | fónnen darunter nur folche Erfcheinungen rechnen, in welchen entweder die Thätigkeit der Seelenorgane in ihr Gegentheil verfehrt wird, ober an Stelle derfelben fid) Thätigkeiten zeigen, welche über ba8 Maß des Natürlichen Hinauszugehen [deinen oder wirklich hinausgehen. Weber die irfachen der Seelen- franfheiten: Die entfernte Urſache wie aller Krankheit, fo auch der Seelenkrankheit, ijt die Sünde. Denn durch bie[e wird die Unterordnung des Niedern im Stenjdjen vom Höhern geftört unb der Leib tritt mehr oder weniger aus der Herr- Ichaft des Geiftes, und bie niedrigen geiftigen Vermögen aus der der höheren heraus. Indem aber die niedern geiftigen Vermögen eine relative Selbftändigleit erlangen, werben fie in den Stand gefegt, be& Leibes jid) in einer Weife zu θὲ: dienen, bie der urfprünglichen Beftimmung deffelben zuwider ift, und die materiellen Gebilde, aus denen feine Organi- ſation befteht, werden burd) jolchen Gebrauch in ‘Desorgani- fation gebracht, entweder abgeftumpft oder verwirrt oder

222 Himpel,

gänzlid unbrauchbar gemadjt. Dadurch aber verliert ber Geift mehr oder weniger das Medium, durch meídje8 er zur Außenwelt in Beziehung fteht, und die Eindrücke diefer werden für ihn entweder nicht oder verfehrt vermittelt, forie auch feine Rückwirkungen auf die Außenwelt entweder Teine ober eine verfehrte Vermittlung finden. Allein aud) ber Leib, ber aus der Herrichaft des Geiftes herausgetreten, tritt nicht nur ganz in die Reihe der übrigen natürlichen Organismen ein, die ber Auflöfung unterworfen find, fon- dern er wird aud) um jo mehr zu diefer Auflöfung gebrängt, je mehr er fid) der Herrfchaft des Geiſtes entzogen. Die Dieburd) bedingten Krankheiten find allerdings zunächft [tib- liche Vorgänge, aber da Leib und Geift zur Einheit menſch⸗ licher Perfon verfmüpft find, müjfen fie nothwendig aud) . auf den Geijt zurückwirken. Dieß gefchieht nun zunächſt in der Art, daß die nieberíten und äußerlichften Organe des Leibes durch die Krankheit gehindert werden, dem Geifte zu dienen, wie 3. 1B. bie gelähmte Hand von dem Geifte nicht in Bewegung geſetzt werden famm. ine feelifche Störung nehmen wir aber hier nicht wahr. Schon bedeutender wird die Einwirkung der Krankheiten auf das Seelenleben, wenn fte höhere obgleich nod) äußere Organe, und zwar in bleibender Weife getroffen hat. Es ijt 3. B. ganz unläugbar, daß zwifchen dem Seelenleben von Bollfinnigen einerfeitS und Blinden, Tauben u. f. m. anderſeits ein febr bemetfbaret Unter[djieb bejtebt, und e8 bedarf bei blind unb taubftumm u. f. m. Gebornen der Fünftlichiten Mittel, um ihre Seelen» fräfte jo zu reden und zu bilden, daß fie mit Vollfinnigen ungefähr die gleiche Stufe geiftiger Bildung erlangen. Und viel unmittelbarer nod) als Aug und Ohr find Organe bet Seelenthätigleit das Gehirn und Nervengefledht, und ἐδ

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 1c. 99$

müffen fomit Sranffeiten, welche diefe treffen, von um fo ftörenderem Ginffujje auf das Seelenfeben fein, weil ſie die allernächften Vermittler defelben find. Ale den Sit der Seelenkrankheiten geben die einen die Seele felbft, die andern den Körper an, wieder andere behaupten, baß berjelbe bald in der Seele, bald in dem Körper zu fuchen fei. Dieſes Auseinandergehen dürfte wohl darin feinen Grund haben, daB man den Sig ber Geelenfranffeiten, b. D. die nächfte Urſache derjelben nicht gehörig von den Dispofitionen zu denfelben unterfchied. Qetgteve können allerdings ihren Urfprung ſowohl im Körper als in der Seele haben, aber die Die- pofition ift felbft nod) nicht Krankheit, nicht einmal unmittel- bare Urſache derjelben, fondern nur das was biefe Urſache bervorbringen fann. Wir halten feft, daß der Sig im Körper zu fudjeu fei. Das bemeift fchon der Umftand, daf ſolche Krankheiten durch Störungen in der organifchen Thätig« feit des Körpers entftehen und durch Hebung diefer Stör- ungen wieder. aufhören können. Dafür fpricht aber aud) ber Umftand, daß wur folche Bethätigungen ber feelifchen Vermögen als Dispofitionen zu Seelenkrankheiten zu θὲς trachten find, welche im fer ftarker Weiſe ben Körper in Mitleidenfchaft ziehen, [εἰ es, daß fie bie organische Thätigkeit deſſelben ſtören, oder daB fie diefelbe hemmen. So find 3. Ὁ. Zorn und Schred feine bloß innerjeelifche Vorgänge, iondern fie wirken auch auf den Körper, indem ber eine das Blut in übermäßige Wallung, der andere daſſelbe in Stodung verfegt. Daher (egt es jidj nahe, aud) ba wo die Dispofition eine feelifche ijt, doch eine Störung im törperlicen Organismus als Urſache einer Seelenkrankheit zu betrachten. Ueber efjtatifdje Zuftände lejen wir: Von bem Verwirrtfein der Seele, wie c8 Folge ber

994 Himpel,

eigentlichen Seelenkrankheit iſt, iſt wohl zu unterſcheiden das eigentliche Außerfichjein der Seele. Außerſichſein nennt man die Seele, menn die Kräfte und Vermögen, die fonft - dem Willen unterthan find, aus diefem Verhältniß der Unterordnung gelöft werden und für fid) felbftändig wirken, ohne baB der Wille einen Einfluß auf fie ausübt. Diefes Zurüdtreten des Willens kann nun von ihm felbft aus- gehen, indem er (id) für eine kürzere oder längere Zeitfrift nicht betbütigt, während irgend in ber fBetpütigung eines andern Seelenvermögens die ganze Kraft der Seele abfor- birt ijt. Dadurch entjteht das unvollfommene Außerſichſein, das der Wille jeden Augenblick wieder aufheben kann, 3. B. ba$ Außerfichfein der SBermunberung, Zuneigung, de Schredens, tiefen; Nachdentens, ber Contemplation. Allein jenes Zurüctreten fann and feinen Grund darin haben, baf der Wille überhaupt gehemmt ijt, fij zu bethätigen und e8 gar nicht mehr in feiner Gewalt fteht, die Hemmung ehe fie eintritt zu verhindern, unb nachdem fie eingetreten zu entfernen. In einem jo(djem Zuftand ift der Wille ge- bunden, näherhin: es find ibm die Mittel abgefchnitten, beren er bedarf, um feine Herricheritellung im Bereiche der Seelenvermögen in Ausübung zu bringen. &8 verjteht fid) dabei von felbft, daß diefer Zuftand mur durch eine aufer- halb des Willens liegende Macht herbeigeführt werden fart. Eine fofdje Macht kann dreifacher Art fein, nämlich bie unfreie, dunkle Naturmacht, die göttliche Macht und bie dämonifche. Darnach unterfcheidet man eine dreifache Gfjtaje. Die erjte ijt die natürliche. Das Heft -jchließt mit der übernatürlih göttlihen Efftafe alfo: Sie entiteht dadurch, daß Gott bie Seele eines Menfhen an fid) zieht, um fie in höherm oder niederm Grade zum Anſchauen feiner

Einiges über bie wiſſenſchaftliche Bedeutung 1c. 295

jelbft unb ber göttlichen Dinge zu bringen. Es ijt aljo die göttliche Efftafe eine gewiſſe Anticipation der ewigen Seligkeit, näherhin des Zujtandes, welcher für ben Gerechten nad) feinem Tode eintritt. Dieſer ift. aber ein doppelter: ein folcher, in welchem die Seele vom Leibe getrennt ift, und ein folcher, in welchem jene mit diefem, nachdem er in der Auferftehung ber Zobten verflärt worden, wieder vereinigt ijt. Darnach ergeben fich auch für die äußere Erfcheinung der göttlichen Gfftaje zwei Formen: in der einen gleicht ber Körper ſoviel als möglich dem todten Leichnam, er ijt ſchlechthin unempfindlih, ftarr, abgebíapt, und nur [eije, faum bemerfbare Athemzüge und zumeilen ein Ausdrud von Trauer oder Freude im Geficht geben den Beweis, daß das natürliche Leben nicht entflohen. In dem andern zeigt der Körper die Eigenjchaft bes verflärten Leibes, er wird leuch⸗ tend, fähig obne irgend eine Unterftügung in der Höhe zu ichweben oder im Waffer nicht zu ſinken, in verfchloffene Orte einzugehen, an mehreren Orten zugleich zu erfcheinen u. f. w. Außerdem zeigt fid) nod) in ben Törperlichen Or- ganen das Vermögen, den Inhalt der innern Schauung plaftifch nachzubilden, ohne daß dazu ein befonderer Willens- aft erforderlich wäre, wie dieß das auch im Körperlichen bervortretende Meitleiden der Paſſion Ehrifti, das efftatifche Jubiliren u. f. m. bemeift. Was den Inhalt der gött- lichen Ekſtaſe anbelangt, jo ift berfelbe der Natur ber Sache nad) Vifton, unmittelbares Schauen der göttlichen Dinge, namentlich deffen was üt der Zeit zur Offenbarung kommt Ober gekommen. Ob die göttlihe Wejenheit von einem Efftatifchen je gefchaut worden, ijt Streitfrage, fcheint aber verneint werden zu müjjen. Die Form, welche die Viſion annimmt, ift perjdjieben, je nachdem die Phantafie oder bie

226 x Himpel,

höhern Vermögen es find, welche durch den göttlichen Macht⸗ willen ergriffen. werben. Daher tragen die Viftonen balb bildlichen, bald unbilblichen Charakter. Auch für das Sot» Banben[ein der göttlichen Ekſtaſe gibt e8 feim abfolut ums trügliches Kennzeichen. Abgefehen von betrüglider Simu⸗ lirung, wie fie in diefem Geblet nicht felten vorfommt, namentlich durch fünftlide Hervorrufung derStigmatifation, ift e8 hauptſächlich die natürliche (Gf[taje, welche ähnliche Erjcheinungen bietet, befonders wenn fie fid) bei Perfonen von tiefer Neligiöfität einftellt. Aber aud) die bümonifdhe Ekſtaſe kann zumeilen, da Satan ji in einen Engel des Lichtes zu fíeiben vermag, für längere oder fürgere Seit in ihrer äußern Erfcheinung einen ähnlichen Charakter annehmen. Daher gilt in Bezug auf die göttliche Efftafe vor Allem ber Grundſatz, daß man über das Vorhandenfein berfefben nicht vorfchnell ein Urtheil bilde. Man darf im diefer Dine ficht den Zweifel noch viel weiter treiben, als in Betreff ber bümonijdjen Efftafe, da durch Nichtanerlennung eines ſolchen Zuftandes Niemand ein Unrecht gefchieht, im Gegen theil eine joldje für den fittlichen Zuſtand des @fftatiichen nur förderlich fein ann. Als Kennzeichen, welde eine göttliche Ekſtaſe wahrfcheinlich machen, iff zuerft der Umftand zu nennen, daß fid) die Gfftafe nicht an beftimmte Perioden be8 irdifchen burdj den Lauf ber Geftirne beftimmten Zeit- medjfel$ anfnüpft, fondern entweder ohne irgend eine Regel oder aber im Anſchluß am den kirchlichen Zeitwechſel er⸗ Scheint, fodann der Umftand, daß der Efftatiiche auf den auch nur innerlich formulierten Befehl feines Tirchlichen Obern fogleich zu fid) fommt und dieß aud) dann, wenn vom Obern feine Vollmacht einem Andern mitgetheilt wird. Letzteres Kennzeichen darf man dennoch nur ganz ausnahmsweiſe an⸗

Einiges über die wiffenfchaftliche Bedeutung s. 227

wenden, indem ber Befehl an die efftatifche Perfon, zu fid) zu kommen, eigentlich ein Befehl an Gott ift, fie aus ber Verzückung zu entlaffen. Als weitered Kennzeichen wird nod) angegeben, daß die natürlich Gfitati[d)en von dem mas fie in der Gfitaje gethan und erfahren, nach ihrem Eintritt in da8 Tageswachen nichts mehr wiffen, während daffelbe den göttlich Efitatiichen im Gedächtniß bleibt. Allein dieſes Kennzeichen it ziemlich unficher, weil die innern Vorgänge bei den Efftatifchen nicht controlirt werden fünnen und man aljo, wenn fie in gewöhnlichem Zuftand von folchen erzählen, nicht mijjen Tann, ob fie die Wahrheit jagew. Was die Handlungen der göttlich Efftatifchen anlangt, jo find fie nicht zurechenbar unb alfo aud) nicht verdienftlih. Daher haben die Heiligen nach folchem Zuftand aud) fein Verlangen getragen, denn ἐδ darf als Zeichen ber Unächtheit ber Ekſtaſe angefehen werden, mo eim folches Verlangen eintritt. Was bie Mittheilungen joldjer Efjtatifchen betrifft, fo verdienen fte, jo lange fie nicht burd) Wunder beglaubigt find, nur ein fides humana, und je(bjt diefe muß ihnen verweigert werden, wenn in benfelben etwas vorkommt, was der Glaubens» oder Sittenlehre oder auch nur der gewöhnlichen Anficht der Theologen entgegenfteht. Noch rejervirter. ijt natürlich ^ bie moralifche Schäßung der Art natürlicher Efftafe, die man Somnambulismus nennt. Der Schlaf geht Hier nicht bloß aus einer durch Ermüdung, jonberm aus einer durch Krank⸗ heit oder magnetische Einwirfung von außen depotenzirten Nervenftimmung hervor und macht für jeden Sinneseindrud Ichlehthin unempfänglid. In den Erfcheinungen beffefben ijt durchaus: nichts Wunderbares. An Stelle von Vernunft und freiem Willen in Beherrfchung der Seelenvermögen tritt ber Naturtrieb: der Somnambule befindet fid) fomit

298 Himpel,

zeitweilig in dem Zuftande , in welchen ber Menfch über-

haupt wäre, wenn er bloßes Staturmejen und nicht mit fittlicher Freiheit ausgerüftet wäre. Da aber die Natur ewigen Gejegen unterworfen ift, nach denen jie fid) bethätigt, jo liegt in allem reinen Naturwirken eine gemijje rectitudo, in der Verwendung ber Mittel, eine Schönheit in der Pro» buftion, und jogar eine Annäherung an die fittliche dee.

2. Weber. bie jpradjfiden Eigenthümlichkeiten Tertulliaus.

Bon Prof. Dr. Keiner.

Die Latinität der Kirchenväter, das Wulgärlatein des 3. bis 5. Jahrhunderts nad) Chriſtus hat in neueſter Zeit mebrfadj bie Aufmerkſamkeit der Gelehrten auf fid) gezogen unb ijt bereits auch in diefer Zeitfchrift Gegenftand ber Be- fprechung geworben. Daher wird nad) und nach ber früher vielfach abjchäzigen Behandlung gegenüber eine gevechtere Beurtheilung um fo mehr Plaz greifen, als auf Seiten ber Philologen vom δα im berfefben Richtung Manches ge- fchehen ift. Insbeſondere Dat ein Zeitgenojfe und Lands» mann Tertullians, Apulejus von Madaura, eine außer- ordentlich eingehende Behandlung gefunden in dem Buche von ὦ. Koziol (der "Stil des 9. Apulejus. Wien 1872). So viel Zeit und Raum als H. Koziol dem Apulejus ge- gewidmet Bat, können wir num freilich unferm Tertullian nicht zumenden, obwohl biejer als Schriftfteller nad) Form und Inhalt, Gelebrjamfeit und Geift jenen unendlich über» ragt. Das Buch von rn. Koziol hat aber für unfern Zweck, gerade weil e8 einen Zeitgenofjen und Landsmann behandelt, befonderen Werth und bietet uns fo viele Anhaftspunfte,

230 Kellner,

daß c8 angezeigt erjcheint,, eine kurze Weberficht über defjen Anhalt zu geben. Hr. Koziol hat aus der Echrift des Apulejus alle Abweichungen vom gewöhnlichen b. b. guten oder claffifchen Sprachgebrauch, alle Sonderbarfeiten und Eigenheiten auf das forgfältigfte ausgehoben und gefammelt. Unter ber Rubrit „Breite des Ausdrucks“ werden auf 196 Ceiten alle. bei Apulejus vorfommenden Pleonasmen, Häu⸗ fungen von Synonymen u. bergl. -vorgeführt und bie ber treffenden Stellen ausgehoben ; dann folgen auf 48 Seiten alle Figuren und Tropen. Auf €. 229 fommt ber 33er- faffer dann auf das zu fpred)eu, was uns für unfern Zweck am meiften interejfirt , bie Neologismen, bie neuen Wort- formen, ueue Bedeutungen alter Wörter, Gräcismen, poetifche und archäiftifehe Ausdrücke und Solöcismen, welche die legten 96 Seiten des Buches füllen. Aus diefem Abfchnitte notiren mir ung für unfere Zwecke bie Bemerkung, daß Apulejus, um feinen Stil pifant und auffallend zu machen, möglichft weit von ber gewöhnlichen Ausdrucksweiſe abweicht S. 249, ein Vorwurf, den man unferem Zertullian. wenn man die Heine Schrift de pallio und einige Stelfen des Apologeticum ausnimmt, nicht machen kann. So braucht Apulejus gern den Plural für den Singular 3. 399. nubium densitates, Abftracta für Gorncreta, frugalitas für fruges, humanitas - fir homines, Subſtantiva coorbinirt ftatt eines Subjtantiv umd Abdjectiv 2. B. maritus advena ftatt adveniens, Adjectiva ftatt ber Adverbien unb fehr viele Deminutiva. Namhafte Berührungspunkte mit Tertullian finden fich [05 dann in den neuen Wörtern und Wortformen, 3. 39. den Subftantiven in a (wie impulsa, postica, pascua-ae ſtatt pascuorum, die Hr. Koziol nun nach Klaſſen vor- führt, bie Subjtantiva S. 267—73, bie 9(bjectioa S. 273

Ueber die fprachlichen Eigenthüimlichkeiten Tertuliand. 931

77, bie Berba S. 277— 82, die Adverbia €. 282 1t. 83, zwei Pronomina qualisnam u. subneuter gleich alteruter, dann die alten Wörter in neuen Bedeutungen ©. 284—300. In neuen und unnöthigen Comparativen und Superlativen tt Apulejus nicht fo ftarf als Tertullian S. 304 u. 305. Die Abweichungen im Gebrauch der Deponentia find nicht zahlreich, Gräcismen finden fid) ebenfalls widjt viel &. 307, dagegen find bie Barbarismen und Soldcismen ziemlich häufig €. 311—16. Die €. 310 ff. vorgeführten Eigen- thümlichkeiten in Wort - und Satverbindung find von weniger Belang aí[8 bei Tertullian.

Wollten wir zu diefer Arbeit über 9(pufeju8 eine voll ftändige Parallele aus Zertullian liefern, fo müßten wir das lexicaliſche Element mit hineinziehen und würden dafür in diefer Zeitfchrift fd)merfid) den nöthigen Raum finden. Wir beſchränken uns daher vorläufig darauf, die Eigen» thlimlichkeiten der Sprache Zertulfiau8 , wie fie uns aus adhtjähriger fonft täglicher Befchäftigung mit diefem Schrift- ftelfer in der Erinnerung geblieben, in grammatifcher und ſtiliſtiſcher Hinficht zu veranſchaulichen.

Die etymologifchen Cigenthümlichkeiten, um mit diefen zu beginnen, werden uns nicht lange aufhalten; benn e$ find deren fehr wenige. Subftantiva in a für io imb andere Endungen finden fid) mur in befchränfter Zahl, com- pressa für compressio de an. 48 remissa für remissio Marc. IV, 18 offensa de poen. 1 de spect. 2 öfter das Wort candida Scorp. 12 de an. 58 de res. 21 adv. Marc. IV, 7 unb 34. Ziemlich häufig, was bei bem zu Uebertreibungen geneigten Weſen Tertullians wenig zu vers wundern, finden fid) uncorrecte Comparative und Superlative idonior adv. Hermog. 18 de an. 18. necessarior de

I u *

232 feliner,

cultu fem. I,5 de pudic. 12 de test. an. 4 de pat. 11 de carne Chr. 7 de res. 31 adv. Marc. I, 17 extre- missimus .Ápol. 19 und ber Comparatio extremius de an. 33 postremissimus de cultu fem. II, 2 vielleicht aud) proprius de pudic. 12. &benfo liebt er ἐδ die Participia paffiva zu fteigern gegen den claſſiſchen Sprach⸗ gebraudj, jo nominatior de an. 13 separatior ibid. 18 progressior ibid. 31 colatior von colare jüubern, reinigen ibid. 48 disciplinatior de fuga 1. pressior de praescr. 44. impressius de jej. 10. instructior ibid. 24, dann ſogar operantior adv. Mare. II, 4 und das übel ffingenbe exercitior Val. 18. Häufig ijt das ſchwerfällige Berfect. II. ober Plusquamperfect. IL. mit fuit und fuerat. 3. 8. meritum fuit Apol. 21 mentibus fuerat de pat. 3. locutus fuerat de res. 30 a. €. innixus fuergt adv. Val. 27 exhibita fuerit de res. 35 appellata fuerat de res. 26 prohibitus fuerat de jej. 16 und ſonſt jehr oft. Incorrecte Flexionsformen von Verben und paffivifcher Gebraud) ber Deponentia fommen bei ihm nicht häufiger vor als bei guten Schriftftellern; ich notire odiri Apol. 3. sortiri ibid. 2. interpretari pajjive de praeser. 40. de bapt. 19 de carne Chr. 8 consatus für consertus de an, 43. consultari um Rath fragen adv. Hermog. 17. In diefem Stück bietet Tertulliaon wenig Auffallendes und fann unbedenklich zu den guten Schriftitellern gerechnet werden.

Etwas mehr Freiheiten finden fid) ſchon in Betreff der. Rection der Berba, nämlich confundere mit dem Genitiv nad) Analogie von pudet me alicujus rei Scorp. 9 de fuga 7 de carne Chr. 5 judicare aliquem alicui rei zu etwas verurtheilen Apol. 49 de coron. 15 Scorp. 10.

Ueber bie fprachlicden Gigentbümlidjfeiten Tertuliand. 988

Die Gonftruction erubescere aliquid , auf welche Dehler mehrmals aufmerfjam macht, fcheint mir nidjte Auffallendes zu haben vgl. Apol. 4 de corona 7 erubescendus de fuga 10 unclaſſiſch allerdings wäre suadere aliquem Scorp. 2 de cult. fem. I, 1. evadere aliquem nad) Analogie von effugio adv. Marc. II, 11, fungor mit bem Accufativ jejunium triduo puncta de jej. 7 vergl. de cor. 8 hominem functa, mo oben bie Lesart zweifelhaft it adv. Marc. II, 17. IV, 18 de carne Chr. 10. ober mit bem Dativ, ad nat, Il, 10. Marc. V, 16 de jej. 10, wo ἐδ Dehler als gleichbedeutend mit satisfacere εὐ τί. Die Präpofition in mit bem Ablativ fteht bei Verbis ber Bewegung Scorp. 3 in manibus tradidit eos Apol. 12 in insulis ad nat. I, 11. umgefehrt [tet der Accufativ ftatt des Ablativs in causam de idol 15 Apol. 40 in stagnum de fuga 7 in uterum de fuga 10. Exter- minare aliquem alicujus rei.fann vielleicht aud) als Gräcismus betrachtet werden vgl. sexum pudoris ant. despect. 17. Nicht gut, aber fid) auch bei claffifchen Cdriftitellern nicht felten findend (DBeifpiele bei Zumpt Gramm. 8 304. Anm. 2) ijt die Gonftruction der verba appellare und dicere mit andern Caſus als bem Accuſativ; Eonftructionen wie figmento homini appellato de res. 40 lommen einige Male vor.

Gehen wir zum Gebrauh ber Tempora und Modi des Jeitmorté über, jo wird jedem, ber den Tertullian in die Hand nimmt, fofort bie eigenthiimiiche Art das Futurum anzuwenden auffallen, wonach e8 ohne eigentlichen Futur: fiut, ja ohne alle Zeitbeziehung und mur zum -Ausdruc einer gemilderten, befcheidenern Behauptung fteht, wie ber

. griechifche Optativ mit ἄν, ijt dies recht eigentlich ein

284. Kellner,

Tertulfiniemus und bei Ermittelung. de8 Sinnes wichtiger Stellen um fo mehr zu beachten, als e8 ungemein häufig vorkommt; ἐδ ift dann nicht mit „es wird“ jonberm mit „e8 könnte, möchte, bürfte wohl der Fall fein“ zu überfegen; haec erunt exempla das wären ajo bie Beifpiele de jej. 16; hoc erit homo interior de an. 9 a. E. das wäre alfo ber innere Stenjdj. Statt aller werden einige wenige recht deutliche SBeijpiefe genügen deputabitur ad mert. 4. erubescemus de carne Chr. 4. respon- debit ibid. 5 erunt nobis de exh. cast. 13 peribit de res. 55 non miscebuntur ibid. movebitur de an. 6 mirabimur, testabitur ibid. In ähnlicher Weife fteht Futur zumeilen auch bei Wünfchen, Ausrufungen ober Fra- gen Statt des Conjunctiv 3. 2. praeteribit de poen. 12. dabit Dominus de or. 23 renuntiatum erit de cor. 4. Dean fieht, bag das Futurum bier bie Functionen des frame zöfifchen Gonbitione[ oder des italienischen correlativo pre- sente anzunehmen beginnt.

Außerordentlich beliebt ijt bei Tertullian die Gerundiv- conftruction in allen möglichen Formen, Verbindungen, aud) mit NRection von Caſus und ganzen Sätzen. Voluntati Dei obsequendo de extr. cast. 1. nihil continendo homini prospectum Apot. ll. non parcendo perse- verabat Apol. 9. cruentavit colluctando , ivgl. pm 6. 21. 47. Scorp. 3. de an. 24.

(ine freiere Conftruction von energifcher Wirkung ift, menn im Nachſatz unmöglicher Bedingungsfätze ftatt des Amperfectum oder Plusguamperfectum Conjunctiv, der In⸗ dicativ gefegt ijt. Talibus si placerent, prophetae mei non erant. De jej. 17 quia non notaretur, cum parabolam loquebatur, si ita semper loquebatur de ,

Ueber bie Iprachlichen Eigenthümlichkeiten Tertullians. 235

res. c. 33 si... extrusit ibid. 51. Alioquin ex ar- bitrio erunt somnia, si dirigi poterunt. De anima 48 vgl. Apol. 7. 13. 16. 38.

Als Attraction zu erklären ift bie bei Tertullian faft regelmäßig vorfommenbe Gon[truction, wonach, menn ein Infinitiv von einem Präteritum abhängig ijt, er auch ine Präteritum gejegt wird, ohne Rüdficht auf bie Zeit 3. 3B. ostendisse debueras bu hätteft zeigen müffen adv. Marc. II, 29 a. €. optasse debuerat de exh. cart. 13 maluit evasisse de fuga 12 tradidisse meruerunt de pudic. 13 potuisse habuit adv. Marc. II, 9. potuit fuisse adv. Hermog. 32 unb an unzähligen andern Stellen.

Was die Conftruction abhängiger Süte angeht, jo weicht unfer Autor in folgenden Punkten vom Gemwöhnlichen ab. Er braudt, was man aud) unter die Gräcismen zu rechnen hat, mit Vorliebe si mit dem Indicativ für ob. 3. B. quaestio si adv. Hermog. 27. dubitare si de bapt. 3. recensere, si non de an. 33. quaeratur, si erit de pudic. 18 a. &. videamus si virg. vel. 6 com- paremus, si non plus in carcere spiritus acquirit, quam caro amittit ad mort. 2. Dic testimonium, si ita scis de test. an. 2. nescio jam, si deus de res. 14 vgl. Apol. 6. 8. 13. 21. 29.

An in ber einfachen indirecten Frage ftatt num oder dergl. ijt e8 etwas ganz Gewöhnliches videamus nunc, an et Sadducaeorum vesutiam elidens nostram sen- tentiam erexerit de res. 36 vide an scorp. 10 de praeser. 8 de idol. 7 n. j. w., in Doppelfragen jteht audj an ... an 3. B. de monog. 3.

Die ſpezifiſch Lateinischen Konftructionen des ablat. absol und acc. c. infin. find unferm Autor keineswegs

236 Keliner,

Schon fremd geworden, wie andern Autoren jener Zeit, fons dern leßtere Gonftruetion. ijt. nach ben Verbis dicendi et sentiendi die gewöhnliche, wie bei den Haffiichen Autoren. Die unklaſſiſchen Gon[tructionen mit quod, quoniam, quia fommen nur ausnahmsweiſe vor, meiften8 bann, wenn Ter⸗ tullian Bibelftellen citirt, mo offenbar bie Spracheigenthüm⸗ fidjfeit ber 93ufgata beibehalten ift. Wir befchränfen uns auf folgende Anführungen videamus, quoniam mit bem Indicativ 3. 3B. adv. Judaeos c. 8. 9. de idol. 22 quod mit Conjunctiv ad mart. 4, mit folgendem Indicativ da⸗ gegen Marc. II, 7 quia nad credo de an. 37 nad) mirari de praescr. 1. Necesse est, quod mit Gonj. Apol. 7, nad) ben Verbis befchlen fteht der bloße Gonjunctio niemal de praeser. 8 siquidem in fine praecipit vade- rent ad docendas nationes.

Eine hervorragende Stelle unter ben ſprachlichen Eigen⸗ thumlichkeiten unſeres Autors nimmt das ne dubitativum ein, was man aud) halb als einen Gräcismus betrachten kann. Es Steht nämlich wie das Giried). μη) bei ben Verbig, die eine Furcht oder Beſorgniß, ein Bedenken ausbriüden, in der Bedeutung, ob nicht etwa, damit nicht etwa, wie εὖ fid) in cfajfijd)em Latein in ber Regel nur bei videre findet. Co ſteht e8 bei Tertullian zunächft aud) öfters nad) videre, ὁ. ®. videamus ne Marc. II, 5 videte ne Apol. 26 w. f. w., dann aber aud) bei andern Verbis, bejonberé re- cogitate, ne Apol. c. 2 mo Oehlerd Anmerkung nach⸗ zulefen ift, Marc. II, 7 retractare Apol. 13 legite nec ubi relatum sit, lejet erft einmal nach, ob nicht irgendwo berichtet wird, nescio, ne plus de vobis dii vestri que- rantur Apol 15. demonstrare, ne Apol. 35. persua- sum quis habeat, ne forte Apol. 48. Itaque mihi

Ueber bie ſprachlichen Eigenthümlichleiten Tertullians. 937

confusus est animus, ne qui nuper te ad univiratus et viduitatis perseverantiam hortatus sim, nunc men- tione nuptiarum proclivium tibi labendi ab altioribus faciam, ad uxor. II, 1 wo insbefondere der Begriff bet Beforgniß beutíid) Hervortritt. Andere SBeijpiefe find nach adnot. 4. 8. 10. 15. Nach Analogie diefer Stellen möchte ich aud) vermuthen, daß de pudic. 4 bejfer mit Scaliger zu leſen fei periclitantur, ne inde consertae obtentu matrimonii crimen eludant, jtatt mit Dehler nec inde zu jeßen.

Daß bei einem Scriftjteller des dritten Jahrhunderts m Chr. dem das Griechifche fo geläufig war, daß er aud) griechifch fd)rieb , Gräcismen nicht felten fein werden, läßt fid) von vornherein vermuthen. Die am häufigften vor⸗ fommenden find der Gebraud) von habere mit bem Infinitiv im Sinne von müffen, follen und est mit bem Infinitiv im Sinne von fünnen. Beides fommt fo häufig vor, bap man jagen Tann, Tertullian hat diefe 9tebemeife ganz in jeinen Cpradjgebraud) aufgenommen unb. fie fid) fo zu eigen gemadjt, daß er fid) ihrer kaum noch als eines fremdartigen Elementes bewußt gewejen fein kann, wie folgende Beifpiele bemeifen: haberent erudiri de pudic. 13 habeas efficere de jej. 8. habebat responderi de virg. vel. 11. cognosci habeas adv. Marc. I, 10. decerni habebat ib. II, 15 in quan- tum credi habebat follte geglaubt werben. Marc. IIT, 2 operari habuit adv. Hermog. 17. 19 vocari habebat . adv. Prox. 19 a. E. exterminari habebat adv. Jud. 8. habeat exqueri ad mart. 4 a. €. habet laedi hat zu feiben de res. 26 habes spectare de pall. 4 habemus allegorizare de res. 27 requiescere habebunt ib. occidi habeat ib. 35. nosci habentes ib. 36. exqueri habebit

238 Keliner,

ib. 39. habet revelari offenbart werden foll ib. 40. Auch in ber zweiten Perfon fommt ἐδ vor habes = debes 2. 8. habes credere de an. 55. Scorp. 9. 10 de.idol. 5 de monog. 6. u. f. m. Faſt ebenjo Häufig fommt est im Sinne be8 Gr. ἐστε ἔξεστε vor, fonft est, ut Zumpt Grm. 8 752 e8 ift der Fall, daB man kann, darf. Est figere sententiam de res 10 est recognosci -de cor. 8 dicere est de res. 49 est frui de cor. 10 est retractare de pud. 7 est aestimare Apol. 7 esset ascribere de an. 36 est evenire de pud. 8. de orat. 25 adv. Val. 17. τ. ſ. m. u. {. Ὁ. ! |

Diefe Gräcismen find wie gejagt ftehender Sprach⸗ gebrauch und fallen gar nicht mehr auf. Nicht gerade als ftehender Sprachgebrauch zu bezeichnen, aber doch noch häufig genug borfommenb ift die Verbindung be8 verbum subst. esse mit Adverbien longe est de an. 14 principaliter est ibid. 18 pariter est Apol. 19. bene est, quod ijt eine häufig vorfommende Redensart fiche de idol. 5. Apol. 7. de jej. 13 de carne Chr. 20 de pud. 19 proinde est, cum adv. Marc. II, 16 ante est, inspicias ibid. III, 13 und dergleichen mehr. Indirecte Frageſätze mit Fragewörtern find im Griechifchen geläufiger als im Lateini- chen, kommen aber auch bei guten lateinischen Schriftftellern vor. Wir führen an nesciunt, quid, quomodo scriptum sit Scorp. 1. Oehler gibt zu de fuga c. 8 mod) Apol, c. 19, 22, 48 und ad nat. I, 48. 11, 28 an.

Andere, nämlich vom lateinischen Sprachgebrauch ftürfer abweichende und darum auffallendere Gräcismen kommen bei Tertullian nur fporadifch vor, jo day man geftehen muß, er gehe keineswegs darauf aus, affectirt zu [d)reiben. Die Affectation möchte fid) auf folgende Fälle bejdjrünfem. Der

Ueber bie ſprachlichen Eigenthiimlichleiten Zertullian8. 239

Dativ beim Paſſivum ftatt a mit dem Ablativ in febr feltenen Fällen 3. 38. Danieli observatum de orat. 25. vobis repurgandae, bie von euch gereinigt werden müßten, Apol. 4. mihi praestructum est de idol. 20 nobis digestum est de bapt. 15. Der Genitiv in Vergleichungen ftatt des Ablativs mur in ein; paar Fällen, wie major Asiae vel Africae pars Apol. 40 ein Theil größer als Alien, potiorum casus sui adv. Val. 14; bann läßt er bei Comparativen manchmal magis aus und begnügt fid) mit quam 3. B. potestas ei quam pusillitas competit adv. Hermog. 14 vgl. de test. an. 2 de virg. vel. 17. Eine griechiiche Conftruction ift e8, wenn er das Cub[tantio aus dem abhängigen Sate heraus, als Object in den Haupt» fa aufnimmt, wozu die Grammatifer das beliebte Para- digma οἶσθα τὴν γὴν, οἱτόσῃ ἔστε machen. redde ratio- nem, qua factus es Apol. 48 commemorabimus origi- nes singulorum, quibus in incunabulis adolerunt ad mart. 4 hoc, quod est, deum aestimari facit. Apol. 17 eaque ipsa, qualiter in manifesto sint, perspiciendum est de exh. cast. 3. febrem, quia est, miramur de praescr. 2. Andere nod) mehr ‚vereinzelte Gräcismen find manifestus est labefactans nad) Analogie von φανερός ein ποιῶν de res. 31 obduceris faciens Hermog. 38, und praevenio ähnlich, conftruirt wie φϑάνω 3. $8. prae- venio admonens de praeser. 9 praevenerat nasci de an. 26. Dann si quando gleich éc9 ore, si qua de virg. vel. 9. si cui velit de exh. cast. 4. si qui velit Apol. 18. Cui displicet malo esse de poen. 6 find offenbar aud) auf griechifche Reminiſcenzen zurückzu— führen. :

Ebendaffelbe dürfte ber Fall fein, wenn das Neutrum

Theol. Quarialſchrift. 1876. Heft II. 16

240 Kellner,

von Adjectiven als Subſtantiv mit einem abhängigen Genitiv verbunden iſt: cetera delictorum de idol. 11. cetera memoriarum etra τὰ λοιπὰ τῶν ἀπομνημάτων Apol. 18 insignes historiarum et canas memoriarum ibid. 19. [o wie bei Adjectiven mit einem Genitiv der Beziehung in- officiosa ejus Apol. 40. cujus et ingrata, wobei Dehler al8 Analogie ingratus salutis Verg. Aen. X, 666 citirt. Aurium caeci de an. 10. gloriae libidinosus de virg. vel. 13 prosper temporum de pall. 1. insignes libidi- num de pall. 4. ὅπ Betreff folder auffallenden Grüciemen glauben wir nod) die Wahrnehmung conftatiren zu können, daß nur zwei Schriften, nämlich Apol. und de pallio daran reich find, daß fie dagegen in bem nachweislich ben fpäteren Jahren Tertullians angehörigen, großen dogmati- iden Schriften faft gänzlich fehlen.

Den Gräciemen 3unüdjjt verwandt find poetifche ober fonft freiere Eonftructionen wie lex erat secari Apol. 4 dignius credi ibid. 48 ut emendarentur non blasphe- mare de pudic. 13 promptam mederi theriacam Scorp. 1 wo freilich die Lesart zwijchen promptam und nostram ſchwankt. Vgl. nod) ad Scap. 5 ad not. II, 3 de ex- hort. cast. 10 de pudic. 21 und de res. 40, mo voca- bulum homo ftatt vocabulum hominis teft.

Den legten Theil unjered Referats mögen die Eigen- thünmlichleiten des Satzbaues und der Stiliftit bilden, welche eine wichtige Stelle einzehmen. Duhin gehört vor allem ber Gebraud) von sed für tamen im Beginn des 9tadj- ſatzes z. B. nam si Salomon regnavit, sed in finibus Judaeae tantum adv. Jud. 7. Nam etsi mundus non est factus ex ila, sed haeresis facta est adv. Her- ınog. 28. Nam etsi mutabit illos et mutabuntur, sed

Ueber bie ſprachlichen Eigenthlimlichteiten Tertulliand. 241

mutari perire est pristino statui ibid. 34. Nam etsi Deus sermo, sed apud Deum adv. Prox. 15. vgl. ibid. 16 sed secundum und sed in nos pudic. 2. ibid. 8. ibid. 17. sed earum de monog. 6. Auch in ber ungemein häufig vorkommenden Verbindung sed enim fteht sed eigentfid) abundirend cfr. adv. Val. 9. 16.

Quam ... quam wird gejegt für tam ... quam de idol. 18. Ad fteht mauchmal in prägnanter Kürze ftatt eines Zweck- ober Abfichtsfagee. Proinde si quis occisionem carnis et animae in gehennam ad interi, tum et finem utriusque substantiae de res. 35 ad differentiam sensualium de an. 18. Entgegen bem guten, elaſſiſchen Sprachgebrauch verbindet Tertullian Subftantiva mit adverbialen Zufägen in der freieften Weiſe, wodurd) bie Sprade an Kraft und Gefchmeidigfeit bedeutend gewinnt, wenn fie auch an Eleganz etwas verliert und der Genius der lateinischen Sprache folchen Verbindungen im Ganzen abhold ift. Beiſpiele occisio in poenam de res. 35 die zur Strafe dienende Tödtung gloriae pondus in com- pensationem ibid. 40. navis sine operatione ibid. 60. nemo in immundio (sc. constitutus) de idol. 18 honor de loco de virg. vel. 9 patientiae in amissione no- strorum. de pot. 9.

Sehr beliebt ijt die Redewendung, die Appofition ftatt jelbjtändig im gleichen Gaju&, abhängig in den Genitiv zu jegen, 2. 3S. summus ille virginitatis immaculatae gradus de exh. cast. 9 ftatt summus ille gradus sc. virginitas immaculata. Hanc ergo primam causam apud vos collocamus iniquitatis odii [tatt odium ini- quum oder iniquitatem odii Apol. 1 in traduces lin- guarum et aurium [tatt in traduces nümlidj linguas

16 *

242 Keliner,

et aures ibid. 7 pabula nidoris et sanguinis ibid. 22. . Aechnlid) specus et pactus refossae carnis de pat. 14 pressurarum proprietatem de res. 40 u. ſ. tw.

Fragen werden zumeilen gebildet ohne Fragepartifel

bloß durch on» und Wortjtellung. Miraminr hominem .

errare potuisse Apol. 4. Vultis ex animae ipsius testimonio comprobemus ibid. 17. Sed medicum miraberis etc. Scorp. 5. Ebenſo werben Bedingungs⸗ füge ohne Bartifel gebildet in der Art wie im Deutfchen. Steht das Verbum des Vorderjages im Imperativ mie de res. 3 aufer ... et stare non poterunt, jo hat die Conſtruction nichts Auffallendes, ober aud) wenn der Vorder⸗ jag eine Conceffion enthält wie Apol. 49 falsa nunc sint, quae tuentur ... attamen necessaria anders aber in Volutit aliquid anima, vultus operatus indicium de res. 15. Nam et ad sacrificandum et directo negan- dum necessitate quis premitur tormentorum, tamen nec illi necessitati disciplina connivet de cor. 11.

Et unb quoque ftehen manchmal píeonajtijd) 3. 9. tam bonus quam et justus adv. Marc. II, 12 cfr. ib. II, 14. IV, 13 meminisse debemus etiam in verbis . quoque de idol 20. Ungemein häufig bedient fid) Ter- tullian ftatt einfacher Adverbien der Umfchreibungen 3. 9. ex falso de praeser. 17 ex diverso de proximo de pat. 7 de monog. 6 pro certo Apol. 24 de pud. 17 a. E. ex pari de poen. 3 in disperso adv. Marc. I, 1 in perversum Apol.2 in continenti ib. 23 in vero de an. 37 de vero Apol. 23 in verum ib. 24. Be- jonber& beliebte Wendungen find ex aequo unter gleichen Berhältniffen de bapt. 17 ad uxor. I, 6. II, 8 ad Scap. 2. Apol. 37 adv. Hermog. 7. 16 adv. Marc. I, 6. IT, 27

*

—R

Ueber die ſprachlichen Eigenthümlichkeiten Tertullians. 243

de an. 8.24 a. €. in totum im Allgemeinen, überhaupt, im Ganzen, gänzli de monog. 5. 7. 9. 15. Hermog. 18. 28. de pud. 3. 14. de jej. 16. de or. 18 de anima 6. 30. 41. 46. de res. 39. 55 und fonft.

Zum Schluß müjjem wir einer ganz befondern charak⸗ teriſtiſchen Eigenthümlichkeit de8 Zertullianifchen Stils noch einige Aufmerkfamfeit widmen, weil deren Kenutniß zum Berftändniß vieler Stellen ganz unentbehrlich ijt. Er liebt e$ nämlich ganz außerordentlih, wenn ein und bderjelbe Begriff dem Sinne nad) im Subject und zugleich im Prädifat vorfommen follte, ihn einmal der Kürze halber zu unter- drüden,, nicht bloß fubftantivifche Begriffe, fondern jogar Berba was das PVerftändniß oft jehr erſchwert. Bei Sub- ftantiven ift die Sache einfacher. So fagt er iit Hinweis auf Röm. 2, 28. 29. Non enim qui in manifesto Judaeus, sed qui in occulto de res. 20. b. ἢ. nicht ber öffentlich ein Jude ift, ijt wirklich ein Jude, jonberm . . . oder -sine qua non erit sanguis, ohne welche Blut Fein Blut ift ib. 48 oder homo est, et qui est futurus sc. homo Apol. 9. Deus enim vivorum est de an. 20 a. E. Prima vis tota est die erfte Kraft ijt bie Hauptlraft ib. 17. aut alium postea unguenti senserit spiritum ib. 17 a. €. si solius nominis crimen est. Apol. 2. Etwas dunkler ijt ſchon bie Stelle omnia adversus veri- tatem de ipsa veritate constructa sunt. Apol. 47. Puto autem naturae Deus noster est ber Gott ber Natur ijt unfer Gott de cor. 5. Est et alia militia regiarum familiarum ibid. 12. Etsi libertas videtur sed et servitus videbitur ibid. 13 si non habeat ali- quam sui causam primum de exh. cast. 8 si abso- lutio mortis est, quomodo absolverit a morte, qui non

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devinxit ad mortem adv. Marc. I, 28. Sed sufficit nihil spiritum dei passum suo nomine, quia si quid passus est in filio adv. Prox. 29 a. €. wo Oehler und Andere quia, si quid passus, passus est in filio jeteu wollen. Ut quis critarum obierat, illi ad delinquen- dum supra patres eorum, abeundo post deos aliorum Scorp. 3, wo fogar ba8 Verbum ibant zu ergänzen ijt, aut deum negare debebit, quum malum existimavit, aut bonum (existimare zu ergänzen) quem deum pro- nuntiarit. Scorp. 5. Aehnlich wie Hier muß aus bem negativen Verbum ein pofitives ergänzt werden de pud. 3. Quantum enim ad illos, a quibus pacem humanam consequitur, quantum autem ad nos, qui solum do- minum meminimus delicta concedere non frustra agetur und de an. 57. Ne putes alium fuisse ... sed putes eundem spiritum. ferner velim. tamen in hac quoque religione (religione) secundae majestatis Apol. 35. Ordo quoque corporum disponatur ne- cesse est, ut possit esse meritorum de res. 48. $fftandje diefer Gífipjet, deren noch mehrere vorfommen, find, wie man jieht, febr leicht zu ergänzen, andere jedoch erjchweren das Verſtändniß nicht wenig.

Sn Borftehendem möchten die jtiliftifchen und grame matijdjen Eigenthümlichkeiten Tertullians fo ziemlich erfchöpft fein und wir glauben damit unfere obige Behauptung Hin- reichend bewiefen zu haben, daß die Freiheiten, bie er jid) in fprachlicher Beziehung nimmt, nicht fehr erheblich find. Die Abweihungen vom guten cfajfijd)en Stil, die fid) in feinen vielen und umfangreichen Schriften finden, fcheinen ung nicht bedeutend genug, daß fie dazu berechtigen fünnten, ihm den Namen eines uncorrecten, rauhen oder barbarifchen

Ueber die fprachlicden Eigenthümlichleiten Tertulliand. 245

Schriftſtellers beizulegen. Er fchreibt correcter und reiner als jefbjt heidnifche Zeitgenoffen. Aber was hat denn feinen Stil fo febr im Miperedit gebraht? Darauf glauben wir antworten zu müjjen, die Barbarismen und Soldcismen, bie Unreinheit der Sprache offenbar nicht, fondery die Dunkelheit mancher Ausdrücke und die Schwerfälligfeit des Perioden- baues. Den legtern anlangend, fo will Tertullian Gedanken— reichthum mit Kürze des Ausdrucks verbinden, b. ἢ. möglichſt viel auf einmal fagen; daher fchaltet cv eine Maffe Zwifchen« füge ein nnb der Bau der Perioden wird dadurch häufig zu fchwerfällig und zu fang. Sodann ift zu berüdjichtigen, daß er über jpeculative Materien jchreibt, bie an fid) einen leicht flüffigen Stil nicht beglinftigen und daß er dabei meiften$ auf Häretifer Rückficht zu nehmen hat, die in Winkelzügen und Sophismen unerfchöpflih waren. ‘Deren Einwendungen num möglichft abzufchneiden, und ihnen zuvor⸗ zukommen, ijt er ftetS bedacht, daher er oft Dinge wieder- holt, Bedingungen und Nebenſätze einfchaltet, die uns ent: behrlich fcheinen, jedenfalls aber ben Periodenban fchleppend unb weitläufig machen. Ein anderes Element aber, welches das Verſtändniß wefentlich erſchwert, ift das lexikaliſche. Die lateiniſche Sprache war zur Zeit Tertullians noch eine lebende und lebende Sprachen verändern ſich im Laufe der Jahrhunderte in Folge des Gebrauchs. Es kommen, wie wir auch im Deutſchen alle Tage beobachten können, neue Redensarten auf, Worte ändern ihre Bedeutung, einige ver⸗ alten, andere früher wenig gebrauchte oder ſcheinbar gar nicht vorhanden geweſene tauchen auf. Wir pflegen nun das Latein des Cicero für das muſtergiltige zu betrachten und werden in den Schulen hauptſächlich mit dieſem bekannt gemacht. Tertullian aber lebte ca. 250 Jahre ſpäter; dies

246 Kellner,

ijt an fid) Schon ein fanger Zeitraum und zudem fällt ein großer Wendepunkt in ber Gefchichte Noms in diefen Zeit- raum; e8 gingen in fozialer Beziehung und int öffentlichen Leben gewaltige Veränderungen vor fid), bie audj auf bie Sprache nicht ohne Einfluß {εἶπ konnten. So finden wir ‚denn bei Tertullion, der nicht afrifanijd), jonbern bie fatei- nijde Sprache des dritten Jahrhunderts jchrieb, manche neue Wörter unb Wortformen vor und alte befannte werden in einem früher wicht gewöhnlichen Sinne gebraucht, der fid) eben im Laufe der Zeit gebildet und bem früheren mehr oder minder verdrängt hat. Dies alfo, das Texicalifche Gfement ift e8, welches den Zertullian fo ſchwierig und für blos ciceronianifd) Gebi(bete oft unverftändlih und unge- nießbar macht. Allein das Tann ihm nicht perfönlich zum Vorwurfe gemacht werden; denn e8 ging aus einem ganz natürlichen Verlauf hervor. Aehnliches trägt fid) in allen Sprachen zu. Göthe 3. 9. liegt noch Fein Jahrhundert hinter und und doch mie mande feiner Ausdrüde find veraltet unb aus der gewöhnlichen , Sprache verfchmunden, wie manche neue Termini dagegen. haben mir den Zeituns gen, dem Parlamentarismus und felbft dem Börfenverfehr zu danken, bie nod) vor Jahrzehnten unbefannt waren. Das Latein Zertullians oder felbjt das foy. Kirchenlatein afe schlecht zu bezeichnen, das geht nur vom Stand- punkte des einfeitigen Ciceronianismus an. Wohl laufen Die und da umnreine, fehlerhafte, gegen den Genius ber lateinifchen Sprache verftoßende Ausdrüde mitunter und in fofern fteht feine Sprache Hinter der ciceronianifchen' zurück, anbererjeit8 Dat fie aber an Gefchmeidigfeit, Prägnanz und Qteidjt)um manches vor jener voraus. Das wird Cyeber empfinden, ber fid) eingehender mit ihm befchäftigt und wenn

Ueber die fprachlichen Eigenthümlichfeiten Tertulliand. 247

er einmal die Schwierigkeiten überwunden hat, fid) nidt mehr von ihm abgeftoßen fühlen, Sondern ſtets gern wieder zu ihm: zurückkehren.

Anhang.

Zwei tgpifd)e Darftellungen auf Antakombenbildern aus Tertullian erläutert.

Auf den Gemälden unb Sculpturen ber. Katakomben eriheinen bekanntlich fev häufig Daniel in ber Löwengrube und die drei babylonifchen Jünglinge im Feuerofen. Man hat darin fymbolifche Darstellungen der Auferftehungslehre erkennen wollen; bod) regte fid) ſchon hie und ba ber Ber: dacht gegen diefe Deutung und Andern 1) erjchien es wahr» ſcheinlich, daß Daniel als eine Duelle des Troſtes und der Grmutbigung für die unter den ſchrecklichſten Leiden ſeufzende unb ftet8 von der feindlich gefinnten heidnifchen Negierung bedrängte Heerde Chrifti aufgefaßt werden müſſe. Das fommt dem ziemlich nahe, was uns Tertullian als bie richtige Anffaffung an die Hand gibt. Er fpricht über bie beiden genannten Gegenftände zuerft in bet Scorpiace, welche bekanntlich gegen die Behauptung der Guojtifer zu Felde zieht, daß es nicht die Pflicht des Chriften jet, unter Umftänden auch das Leben für den Glauben hinzugeben und daß er fid) dem einfach durch ein, wenn auch äußerliches Abläugnen entziehen dürfe. Dem gegenüber beweift Ser» tulfian, daß ἐδ unter Umftänden eine Pflicht des Chriften fei, beu Martyrertod zu erleiden, aud) aus ber Wahrneh⸗ mung, dal ba Gleiche jchon im alten Bunde vorgefommen,

1) Siehe Kraus, Roma sotterranea ©. 245 f.

248 Kellner,

ἐδ aljo gar nichts Neues ober dem Chriftentfum allein Eigenes fei. Er führt nun aus dem A. X. eine Reihe von Männern an, die das Gleiche gethan haben, David, Elias, Sadjaria$, Jeremias, Iſaias, Johannes den Täufer, bie drei Jünglinge und endlich Daniel. Zu letzteren übergehend bemerft er: „Offenbar führte auch der Geiſt Gottes felber diejenigen, welche er bewegte, dem Martyrium zu, damit fie auch burdj ihre Leiden bereits ba8 predigten, was fie predigen follten. Ebenfo mußten aud) die drei Syünglinge dazumal, als die Stadt mit der Einweihung der Töniglichen Bildfäule zu Schaffen Hatte, recht gut, was der Glaube das Einzige, was bei ihnen nicht in Feffeln gefchlagen war, forderte, nämlih, daß fie fterben müßten im Widerftand der Idololatrie.“ Etwas weiter unten vuft Zertullian mit Rücdfiht auf fie aus: „O über diefes Martyrium, das aud) ohne eigentliches Leiden ein vollftändiges war! Sie haben hinlänglich gelitten, genug vom Feuer ausgejtanden und Gott Schütte fie, damit ihre Ausfagen in Betreff feiner Macht nicht irrig erfcheinen follten. Auch den Daniel, der außer Gott fonjt Niemanden anbeten wollte, der deßhalb bon den Chaldäern angezeigt und deſſen Hinrichtung von ihnen begehrt worden war, würden die eingefperrten Löwen in ihrer gewöhnlichen Wildheit verfchlungen Haben; aber die fo witrdige Borjtellung Daniel von Gott durfte nicht getänfcht werden.“ Wir fehen,. Xertullian faßt bier bie genannten Perjonen in feiner andern Eigenfchaft, denn als Märtyrer aus dent alten Bunde und legt ihnen geradezu diefen Namen bei.

Dentlicher noch Debt er fodann ihre tppijdje und por: bifbtid)e Beziehung zu ben Märtyrern des N. T. hervor im vierten Buche gegen Marcion, wo er darauf ausgeht, die

Ueber bie fprachlicden Eigenthümlichkeiten Tertulliand. 249

Behauptung Marcions von einer gegenfählichen Verſchieden⸗ heit beider Teftamente zu widerlegen. Er zeigt zu dieſem Zweck, wie alles, was diefer Häretifer in feinem verftiimmel- ten fog. Evangelium als εὖ beibehalten hatte, entweder mit dem A. 3. völlig harmonire, oder dort direct als zukünftig geweiffagt werde, oder menigfítene feine Analogien und Vor⸗ bilder finde. Daſſelbe [εἰ der Ball mit dem Martyrium, weiches Chriſtus als feinen Anhängern bevorftehend mit den Worten angekündigt habe: „Wer fein Leben erhalten will, ber wird e8 verlieren und wer ἐδ um nieinetwillen verliert, der wird εὖ finden.” Luc. 9, 24. Dod offe ir Ter⸗ tullian ſelbſt ſprechen: „Es ift gewiß, jagt er, daß ber Menfchenfohn diefes Urtheil gejprochen hat. Wirf aljo απῷ bu mit bem Könige von Babylon einen Blick auf den glühen- den Dfen und bu wirft finden, wie dort der Menfchenfohn, um mid) fo auszudriiden denn cr war ἐδ ja noch nicht wirffid) , weil nod) nicht nach Menfcenart geboren das mals fchon dergleichen Schickſale beſtimmte. Er erhielt das Leben der drei Brüder, den Chaldäern aber, bie es burd) ihre Idololatrie retten mollten, nahm cr es. Wo bleibt beum da deine (angeblich) neue Lehre, da die Belege dafür ſchon jo alt find ?! Dod) es find aud) Weiffagungen über das Martyrium, jowohl daß es ftattfinden, a(8 aud) daß ἐδ von Gott werde belohnt werden, auf uns gekommen. Siehe, fagt Iſaias, der Gerechte geht zn Grunde und Nies mand nimmt ἐδ zu Herzen; bie Gerechten kommen um und Niemand achtet deſſen. Wann trifft diefe Prophezeiung mehr zu, als bei der Verfolgung feiner Heiligen ?^ Alfo um die Harmonie zwifchen altem und neuem Bunde in Bezug auf das Martyrium zu zeigen, bringt Zertullian Analogien aus dem erfteren bei und greift hier zu den Babyloniern,

250 Kellner,

weil an ihnen ber Ausspruch des Herren €uc. 9, 24 in ganz befonderer buchftäblicher Weife wahr geworden ift. Sie dienen ihm mithin al8 altteftamentlicher Typus der Chriften- verfolgungen (persecutio sanctorum), in denen bie Mär- tyrer ja aud) fo oft durch Feuer vom Leben zum Tode ge- bracht wurden. Eine noch hänfigere Todesart der Märtyrer war bie, daß fie in der Arena den wilden Thieren vorge- morfen wurden und dafür ift wiederum im A.T. das Schickſal Danield ber Typus und das Xorbild. Damit würde aud) ber befte Schlüffel zu ber etwas auffatíenben Thatſache ge» geben fein, bag Daniel auf ber Mehrzahl der altchriftlichen Darftellungen nadt erfcheint. Denn die Märtyrer wurden wohl auch in Verkleidungen , theatralifchen oder Priefterge- wändern vorgeführt, fonft aber nadt in die Arena hinab- geworfen. Für Beides geben 3. B. die Akten von Perpetua und Felicitas SeugniB. Vgl. Friedländer, Darftellungen aus der Sittengefih. Noms II. €. 268. Die betende Stel- (ung Daniels werden die chriftlichen Künftler jodann alfer- dings mit Rückſicht auf febr. 11, 33 gewählt haben, indem außer ber Allmacht Gottes c8 gerade das gläubige Gebet . war, moburd) jene gerettet wurden, weßhalb fie Hebr. 11, 33 auch namentlich als Belege von Glaubenstrene mit ben Uebrigen genannt werden.

. €o dienen die genannten Darftellungen zur Ermuthigung der Chriften im Leiden und zwar in einem ganz beftimm- ten Leiden, bem Martyrium, wie aud) Cyprian Ep. 58 (61) ausruft: Quid gloriosius Daniele, quid illo ad facienda martyria in fidei firmitate robustius. Wenn fie num in den Kapellen der Katafomben fo oft erfcheinen, fo find fie da ganz befonders an ihrem Plage als altteftamentliche Borbilder der Märtyrer, deren eta aud) der eine ober

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ber andere in ber Katakombe beigefegt war und reihen fid) in biejer Eigenfchaft den fonjtigen Typen, mit denen fie in bet verschiedensten Weife combinirt find, finnvoll an. Die Beziehung auf das Auferftehungsdogma fag den Künftlern wahrfcheinlich ganz fern, indem die Aehnlichkeit, ba8 tertium comparationis, eine ziemlich äußerliche fein miürbe und fie aud, in der Literatur befonder8 der heil. Schrift nicht fo verwendet werben, während 3. 9. Jonas zu einem foldjen Typus gerade durch fie geftempeft worden ijt. Auch bie Stelle aus Tertullian, welche. man zu Gunften fegtevet Deutung herbeizieht de resurr. c. 58 bemeijt nichts. Dort jtellt ee bie drei Syüngfinge feineswegs als Typen der Auf: eritehung Hin, ſondern bedient fid) des Umftandes, day aud) ihre weiten leicht brennbaren Kleider im euer umverfehrt blieben , um daran zu veranfchaulichen, wie bie Allmacht Gottes im Stande fei, den verflärten Leib der Seligen nad ber Auferftehung in fortdauernder Unvergängtichkeit zu erhalten. Es ijt affo mur ein Nebenzug aus bem cr» zählten Vorgang, den er heransgreift, die Conſervirung ber Kleider, nicht die Erhaltung ber Perfonen, die. er, menn fie ihm fonft als Typus der Auferftehung geläufig geweſen wären, in der genannten Schrift gewiß um fo ausgiebiger verwerthet haben würde, als cr darin ba8 A. T. fehr reich- (id) zum genannten Zwede ausgebeutet hat.

3.

Urſprung und Verfaſſer des Briefes des Clemens von Kom an die Sorintfier.

Bon Dr. theol. Audreas Brüll.

I.

Bon den vielen Schriften des kirchlichen Alterthums, welche den Namen des Gíemen$ von Rom tragen, kommt als unzweifelhaft echtes Werk des berühmten Verfaſſers nur ber fog. erſte Brief an die Korinthier in SSetrad)t. Zwar ijt auch biefer eine Brief nicht ohme jede Beanftandung ge= blieben. Jedoch find zunächſt nur vereinzelt Stimmen laut geworden, welche denjelben erft ins zweite Jahrhundert ver- fegen wollten, jo daß man mod) immer mit gutem Recht behaupten Tann, derfelbe werde allgemein als ein echtes Werk des erften chriftlihen Jahrhunderts betrachtet. Und find aud) bie Verfuche weit zahlreicher, den Brief dem römischen Clemens, mit dejfen Namen er in der Tradition von Anfang an verbunden er[deint , abzufprechen, fo gehen doch überhaupt alle Bedenken gegen feine unbedingte Echtheit einzig von ben Grundfägen ber Kritif aus, welche in bem- felben Maße, wie fie mit Vorliebe der pjeuboclementinijdjen

Literatur und Tradition folgt, den Sinn für den hiftorifchen

Brüll, Urfprung und VBerfaffer des Briefe des Clemens 2c. 9593

Clemens und die Berechtigung auf feinen echten Brief bet» foren Bat.

I. Das Selbjtzeugniß des Briefe. Die Gegner rufen ung inégejammt vor allem auf den Weg ber innerm Kritik, Wir folgen ihnen zunächſt auf diefem Weg um fo bereit» williger, weil der Brief felbft feinen Ursprung genauer ent» hüllt. Zwar nennt er feinen Verfaffer nicht namentlich, Sondern gibt fid) in der Meberfchrift allgemein als ein Schrei» ben der Kirche von Rom an die von Korinth aus. Halten wir aber feft, daß der Brief eim officielle Schreiben ber römischen Kirche ift, fo weist uns jofort ein doppelter 11π|- ftand auf bem berühmten römifchen Clemens im Sinne ber älteften Tradition als den DVerfaffer defjelben Din: ſowohl die Zeit feiner Abfafjung, welche der Brief beftimmt er» femen läßt, als auch fein bogmatijdjer Charakter, weldjer nicht weniger. deutlich ausgeprägt erſcheint.

1. Die Abfafjungszeit des Briefes. Sad) dem Eingange des Briefes (c. 1) ijt derfelbe nod) während ober vielmehr unmittelbar nad) Bedrängniffen ber römifchen Kirche geichrieben, bei welchen man bisher allgemein an eine der älteften Chriftenverfolgungen in Rom gebadjt hat, obgleid) bei der näheren Beſtimmung diefer Verfolgung die Meeinun- gen noch ziemlich auseinandergingen. Wurde früher häufig bie neronijd)e Verfolgung als folche genanut, fo "gegenwärtig meift bie domitianifche, und nur vereinzelt ijf man, wie ſchon angedeutet wurde, ber die Grenze des erjten Jahr⸗ hunderts hinausgegangen.

Daß wir uns nicht gar weit von der apoftolifchen Zeit im engeren Sinne entfernen dürfen, [dint ber Umftand zu fordern, bap ber Verfaffer die beiden Apoftel Petrus und Paulus nod) ganz nahe ftehende Kämpfer (eyyıoza y&vo-

254 Brul,

μένους ἀϑλητας) nennt (c. 5). Allerdings im Zuſammen⸗ fang mit fo fernftehenden Kämpfern, wie Mofes und David (ogl. c. 4), daß mir au fid aus dem befagten Ausdrud nod) feinen. ficheren Schluß bezüglich der Abfaffungszeit des Briefes ziehen könnten, wenn nicht der 3Berfaffer jojort fid) dahin näher erklärte, daß die beiden Apoftel nod) zur gegen wärtigen Generation gezählt werden könnten: λάβωμεν τῆς ysveüg ἡμῶν Ta γενναῖα ὑποδείγματα. Das Wort γενεά, welches ber Verfaſſer wiederholt und jtet8 in dem gewöhn⸗ hen Sinne oon Generation oder Zeitalter gebraucht (c. 7. 19. 50), Tann fier nidt, wie Volkmar 1) wollte, vom hriftlichen Zeitalter im Gegenfaß; zum vordriftlichen (ool. c. 4) verjtanden werden. Nicht nur ift ein folcher Zujfam- menhang mit dem vorhergehenden Kapitel hier durch nichts > angezeigt, nicht nur zeigt das folgende Kapitel (6) deutlich), daß vom Zeitalter der beiden Apoftel im gewöhnlichen Sinne, von ihren Zeit» unb Leidensgenoffen, Rede ift, jondern ἐδ ift auch die bejagte Deutung von yeveo durch „das vein temporale &yyıora, als deſſen nähere Beftimmung die mme mittelbar folgenden Worte erfcheinen, direkt abgefchnitten. Können aber die Apoftel Petrns und Paulus nod) zur gegen- wärtigen Generation gezählt werden, fo dürfen wir, wenn auch fpeciell von ihrem Tode bie 9tebe ift, mit ber Abfaffung- des Briefes nicht über die Grenze bes erften Jahrhunderts hinausgehen, wohl aber mod) bi8 gegen Ende bieje8. Jahr— hundertS, wenn dazu ein befonderer Grund vorhanden ift. Ein folcher Grund num Tiegt unferer. Anficht nach in der befprochenen Stelle vor. Für und heute mitrbe zwar bae Eyyıora ohne die folgende nähere Erklärung wegen des Zu:

1) Tübinger Theol. Jahrbb. 1856. ©. 294.

Urfprung und Berfafjer des Briefeß des Clemend 2c. 255

jammenhanges mit den im 3. Kapitel erwähnten Beispielen unbeftimmt bleiben; nicht jo für bie eriten Lefer des Briefes unter der Vorausſetzung, daß der Brief gleich nad) der nero» nischen Verfolgung gefchrieben wäre. Unter dieſer Voraus— fegung war das Eyyıora für fid) an feinem Platz, es be: durfte einer näheren Beftimmung nicht, welde e8 abzu- ſchwächen jdeint. Daher glauben wir, daß bie Worte: λάβωμεν τῆς γενεᾶς ἡμῶν τὰ γενναῖα ὑποδείγματα gleich nach der neronifchen Verfolgung ebenfowenig f djom einen guten Sinn haben, mie nod) gegen Ende der Otegie- rung Trajans ober gar zur Zeit Hadrians, wohl aber nod) gegen Ende der Regierung Domitians. Um bieje Zeit ſcheinen uns die betreffenden Worte als bejd)rünfenbe Be⸗ merfung ganz angemejfen, wenn der Verfaſſer baburd) an: zeigen wollte, bag die beiden Apoftel relativ noch ganz nahe ſtanden.

In dieſelbe Zeit führt uns mit ähnlicher Gewißheit das 41. Kapitel des Briefes. Zwar iſt die Argumentation im Anfange dieſes Kapitels fo allgemein und principiell gehalten, daß man auf den erſten Blick zweifeln kann, ob der Verfaſſer hier von der Vorausſetzung ausgehe, daß zur Zeit der Abfaſſung ſeines Briefes in Korinth noch von den Apoſteln ſelbſt eingeſetzte kirchliche Vorſteher lebten. Will man jedoch die folgende Anwendung der Argumentation auf die faktiſchen Verhältniſſe in Korinth nicht gar zu ſehr preſſen, ſo muß man dieſe Vorausſetzung des Verfaſſers annehmen. Volkmar (a. a.O. ©. 295) will dieſem Schluſſe ausweichen, korrigirt ſich aber ſofort wider Willen ſelbſt durch die Bemerkung: „Deutlich will er (der Verfaſſer) durch fein „von ihnen ober inzwiſchen von anderen“ (ὑπ᾽ ἐκείνων μεταξὺ ὑφ᾽ ἑτέρων) von bem Sdeellen zum

Test. Quarialſchrift 1876. Heft II. 17

256 Brüull,

Reellen übergehen.“ Allerdings ſieht Vollmar das Reelle nur in dem ὑφ᾽ ἑτέρων, unb auch wir verkennen nicht, daß der Verfaffer bie Apoftel (ὑπ᾿ ἐκδίνων) zunächſt deshalb wieder im bie Anwendung ber Argumentation bineinziebt, um bie von ihren Nachfolgern eingefegten Vorjteher den mod von den Apoftely fefbjt eingefegten an Auftorität gleichzu- ſtellen; allein ba ἐδ nach c. 5 gewiß ift, daß zur Zeit ber Abfaſſung des Briefes rod) Zeitgenoffen der Apojtel Petrus unb Paulıs in Rom (und in Korinth) lebten, jo müſſen mir auch nad) c. 44 dem Verfaffer die bewußte Boraus- ſetzung zutrauen. Auch Peters!) überſieht die Anwen- dung der Argumentation auf die faktiſchen Verhältniſſe in Korinth, wenn er über c. 44 ſchreibt: „der Sinn dieſes Kapitels ijt aber kurz folgender : fowohl bie von ben Apofteln aufgeftellten (bie8 war mod) in Rom der Fall) als audj die inzwijchen von anderen erprobten Männern unter utin: mung der Gemeinde (fo war e8 mohl in Korinth) einge ſetzten Priefter darf. man nicht ohne weiteres ihres Amtes entjegen. Das μεμαρευρημένους Te πολλοῖς χρόνοες ὑπὸ πάντων kann jid) ohne Schwierigkeit auf beide Gattungen von Vorjtehern beziehen. Sieht man von Korinth ab, fo bleibt ἐδ nad) c. 44 überhaupt ungewiß, ob zur Zeit der Abfafjung des Briefes mod) von ben Apofteln felbft einge: jette Firchliche Amtsträger lebten. Iſt dies aber nach c. 5 gewiß, fo liegt c. 44 um fo weniger ein Grund vor, die Worte: τοὺς οὖν κατασταϑέντας Um ἐκείνων wnnatür(id) zu prefjen, und ba8 μεμαρτυρημένους τε πολλοῖς χρόνοις Ὑπὸ πάντων wird wenigjtens vorzüglich auf bie Presbyter in Korinth zu beziehen fein, welche nod) von ben Apo-

1) Bonner Lit.⸗Bl. 1871. Sp. 392.

Urfprung unb Verfafler be Briefes des Clemend zc. 257

[εἴπ felbft eingefetst wurden. Einen einzelnen Apoftel, von welchen fie mit bem Amte betraut wurden, nennt der Verf. der ganzen Anlage feines Beweiſes gemäß nidjt. Wir haben an bie eigentlich apoftolifche Zeit überhaupt zu denken, wobei dann für Korinth felbjtverftändlich zunächſt Paulus (ud aud) Petrus) in Betracht kommt.

Nur vorübergehend wollen wir darauf hinweifen, daß die nach allgemeiner Annahme im. Sy. 53 gejtiftete Kirche von Korinth, welche vor den gegenwärtigen Wirren fchon eine glorreiche 33ergangenfeit hatte (c. 1 ff.), melde „im Anfange des Evangeliums“ den erften Brief Pauli erhielt, ſchon eine alte Kirche genannt wird (c. 47), während ifr, wie Laurent?) bemerkt, das Prädikat jehr alt faft ab» [ἰῷ vorenthalten zu werben fcheint: τὴν βεβαιοτάτην καὶ ἀρχαέαν (nidt ἀρχαιοτάτην) Κορινϑέων ἐκκλησίαν. Mehr Werth Tegen wir πο darauf, bag die Schilderung ber Bedrängniffe ber römischen Kirche, welche der Abfaſſung des Briefes unmittelbar vorangingen, fajt wörtlich mit bem übereinftimmt, was uns gleichzeitige Profanfchriftfteller über die Verfolgungswuth Domitians, gegen Ende feiner Regie: rung berichten. So befonders Tacitus, wenn er im bet vita Agricolae (c. 44 seq.) dieſen feinen Schwiegervater, welcher am 23. Auguit b. J. 93 wahrſcheinlich als Opfer de8 Argwohns Domitians plöglich ftarb, glücklich preist, daß er nicht mehr erlebt habe, wie Domitian continuo vel velut uno ictu rempublicam exhauserit (vgl. c. 1: διὰ vag αἰφνιδίους καὶ ἐπαλλήλους, γενομένας ἡμῖν συμφορὰς καὶ περιπτώσεις).

Diejenigen, mefdje den Brief erſt ins zweite Jahr—

een

1) Clem. Rom. ad Cor. ep. Prolegg. p. XXXV. e 17 *

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hundert verſetzen, haben kaum verſucht, demſelben unter be⸗ ſtimmten Zeitverhältniſſen eine ſichere Stelle anzuweiſen, ſondern ſich vielmehr darauf beſchränkt, die Möglichkeit nachzuweiſen, daß derſelbe auch erſt dem zweiten Jahrhundert angehören könnte. Die Vertheidiger der Anſicht, daß der Brief gleich nach der neroniſchen Verfolgung verfaßt ſei, haben fid) immer darauf berufen, daß c. 6 offenbar von ber neronifchen Verfolgung Rede fei, welche demnach (vgl. c. 5) dem Ursprung des Briefes nod) ganz nahe geftanden hätte; daß ber Verfafjer ferner im Schlußfag von c. 6., wo er auf die Vernichtung großer Städte hinweist, gewiß Jeruſalem erwähnt hätte, wenn der Brief nad) der Stata- jteophe des Jahres 70 verfaßt wäre; δαβὶ endlich c. 41 den Beſtand des Tempels mod) vorausfege. Es kann num gewiß nicht verfannt werden, daß c. 6 von ber neronifchen SBerfolgung Rede ift, von „der großen Menge“ von Ehriften, welche zugleich mit Petrus und Paulus diefer Verfolgung zum Opfer fielen (061. c. 5), und zwar theilweife unter Dualen, meíde an das mptfijde Schickſal der Danaiden und ber Dirke erinnerten ?); alfein e8 fehlt nicht nur jebe Andentung darüber, daß die hier erwähnte Verfolgung mit be8 Eingangs des Briefes gedachten Bedrängniffen ibentijf) ΄ jei, fondern e8 geht aud) au8 der verfchiedenen Schilderung die Verfchiedenheit beider Greigniffe nicht unbeutfid) hervor.

1) vgl. Hefele Patr. Apostol. opp. ed. IV 2. Ὁ. St. unb Ta- citus annal. ]. 15. c. 44; Igitur primum correpti qui fatebantur, deinde judicio eorum multitudo ingens, haud perinde in crimine incendii quam odio humani generis convicti sunt. Et pereun- tibus addita ludibria, ut ferarum tergis contecti laniatu canum interirent, aut crucibus affixi, aut flammandi, atque ubi defe- cisset dies, in usum nocturni luminis urerentur.

Urſprung und SBerfaffer des Briefe des Glemen8 2c. 259

Einzelne Namen nennt der Verfaſſer c. 6 überhaupt nicht, weber von Perfonen noch von Städten. Gleichwohl will e8 ums wahrfcheinlih dünfen, daß er im Schlußſatz diefes Kapitels vorzüglich auf das Schickſal Yerufalems unb des auserwählten Volkes be8 A. B. vom Yahre 70 Hinblidt, Die befondere Vorliebe des Verfaſſers für das Alte Xefta» ment, wie fte fid) im ganzen Briefe fo auffallend funbgibt. läßt bit& wenigſtens nicht unmahrfcheinlich erfcheinen. Wenn man aber immer wieder gejagt hat, daß ber lebhafte Hin- weis auf ben jerufalemitifchen Tempeldienſt c. 41 den Bes ftand des. Tempels noch vorausfege, jo Dat man bod) ganz überfehen, daß dieſer lebhafte Hinweis burd) die eigenthüm⸗ liche Faffung des vorhergehenden Kapitels hinlänglich motivirt it, ohne eine ſolche Vorausfegung zu poftuliren. Dort (c. 40) Spricht ber 3Berfaffer von den gottesdienftlichen Inſti⸗ tutionen be8 A. T., gibt aber gleich durch den eriten Sat des c. 40 feinen bezüglichen Ausführungen eine jo innige Beziehung zu den volífommenern , ebenfalls auf pofitiver Anordnung Gottes beruhenden, Anftitutionen der Kirche, bap er jene hier geiftiger Weiſe noch fortbeftehen fieht, und - t$ fajt zweifelhaft erfcheint, ob er vom Judenthum oder von ber Kirche [pridjt. Daher ber Tebhafte Hinweis auf den Tempeldienft c. 41, welcher ja aud) noch baburd) jedem Mifverftändniß entzogen ift, daß ber Verfaffer im Schluß- fake von c. 41, welcher fid) ganz eng an den Anfang von ὁ, 40 wieder anſchließt, ausdrücklich fagt, bie alten Inſtitu⸗ tionen hätten einem neuen und vollkommenern Opfer» und Priefterdienfte Pla gemacht.

Manche von ben Zeitgenoffen des Verfaffers hatten mit ihm noch im Anfange des gegenwärtigen Zeitalters bie neronische Verfolgung gejehen (c. 5 f.); aber näher ftand

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ſchon eine andere Verfolgung, unter deren unmittelbarem Eindruck der Brief erſt geſchrieben zu ſein ſcheint. Dieſelbe wird nicht nur im Eingange des Briefes, ſondern auch c. 55 nicht undeutlich erwähnt. Der Verfaſſer weist hier ganz empbatijd) auf ba$ Beifpiel der Heiden Bin, unb [peciefl auf Rom (ἐν γμῖν) finbentenb, gebenft er befonders zahl- reicher VBerbannungen und be8 Loskaufs von denjelben. “Die domitianifche Verfolgung aber war es, welche nicht b(o8 bie Chriften als ſolche, wie die neronijdje, traf, fondern aud die Heiden. Auch zeichnete fid) bieje Verfolgung nicht jo jehr durch: ausgesuchte Starter aus; wie vielmehr ihre Haupt: triebfedern der Argmohn und die Habjucht Domitian® waren, jo äußerte fie fid) and) vor allem durch Verbannung und Beraubung ). Bemerkenswerth ift auch, daß der Verfaffer durh Erwähnung heldenmüthiger Frauen faft unvermerft wieder von den Beifpielen der Heiden abfenft. Er nennt zwar feine fpeziellen Namen chriftlicher Heldinnen, was um jo begreiflicher erfcheint, je näher er nod) den berührten Berhältniffen ftand, fondern geht ganz feiner Gewohnheit gemäß im Einzelnen zu den altteftamentlichen Beifpielen der Yudith und der Gftfer über. Wir aber erinnern hier an die in ber hriftlichen Tradition berühmte Domitilla aus dem Haufe ber Flavier !

Wir ſchließen uns nad) bem Gefagten der nunmehr fat allgemeinen Annahme an, daß der Brief an die forintfiet εὐ gegen Ende der Regierung Domitians, deſſen Verfol⸗ gungswuth befonders feit dem Jahr 93 zunahm ?), verfaßt

1) vgl. Sueton Domit. 12. 15. Eus. ἢ. e. III, 17. Imhof, Titus Flavius Domitianus ©. 112. 2) vgl. Imhof a. a. Ὁ. ©. 62 f.

Te

Urfprung und Berfaffer be8 Briefe be8 Clemens ᾿ς. 261

fei, unb wahrfcheinlich evít unmittelbar nad) bem Tode bes faijerá am 18. Sept. 96. Wir müdjten bei diefer genaues ven Zeitbeftimmung aud) für den Fall ftehen bleiben, wenn Domitian nicht gerade bis zu feinem Ende, wie XZertullian (Apolog. 5) andeutet, die Verfolgung fortgefe&t hat. Der Bericht Hegefipps (bei Eus. h. e. III, 20) über bie Meilde Domitiand gegen die Verwandten des Herrn beweist dies jmar nicht, Steht aber auch nicht, wie häufig behauptet wurde, mit der gegentheiligen Annahme, daß erft mit dem Zode bes Kaiſers bie Verfolgungen ihr Ende erreicht hätten, im Widerfpruch 1); beides, weil eben Argwohn und Habjucht den Domitian vorzüglich bei feinen Verfolgungen leiteten. ebenfalls haben bie Cidjreden ber letzten acht Monate feiner Regierung, von denen Sucton (Domit. 15) fpridt und auf welche bie bezügliche Bemerkung Tertullians paffend bezogen werden kann, den: Raifer erft mürbe gemadt. Dieſe Er- eigniffe aber waren wieder der Art, daß aud) fie für ganz Kom als „plötliche und Schlag auf Schlag fid) folgende Unfälle. und Heimfuchungen“ (vgl. c. I) angefehen werden müſſen, welche audj nad) Beendigung der eigentlichen Ver⸗ folgung die Kirche von Rom nod) immer an bem dringen- den Vorhaben hindern fonuten, fid) pflichtgemäß der fo febr bedrängten Schweiterfirche von Korinth anzunehmen.

Diefe Abfafjungszeit des Briefes, welcher als offtcielle® Schreiben der römischen Kirche jedenfall8 vom Vorſtand derjelben ausging, weist uns aber fofort auf den berühmten römischen Clemens als Verfaſſer defjelben Hin, da biefer mad) der urfprünglichen und Tonftanten Zradition der römi- hen Kirche 3) erft an dritter Stelle von den Apofteln her,

1) vgl. Imhof a. a. D. ©. 116. 2) vgl. Lipfius, Chronologie ber römiſchen Biihöfe S. 149,

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ſpeciell gegen Ende der Regierung Domitians, dieſe Kirche leitete. Wir lernen die Hauptvertreter dieſer Tradition bei der Unterſuchung der äußeren Bezeugung des Briefes kennen. Sie iſt auf's engſte mit der Vorausſetzung verbunden, daß Clemens der Verfaſſer des Briefes an die Korinthier ſei; aber gerade der Umſtand, daß dieſe Vorausſetzung um die Mitte des zweiten Jahrhunderts ſchon unumſtößlich feſt⸗ ſtand, beweist, daß wir und mit jener Tradition auf ficherem hiftorifchen Boden befinden. Die entgegenftehende Tradition bon, ber unmittelbaren Nachfolge des Clemens auf Petrus it verdächtig wie in ihrem Urfprung fo in ihrer ort: pflanzung. Sie ftammt aus dem zur pfendoclementinifchen Literatur gehörigen Briefe des Clemens an Jakobus (c. 2. 19). In den Elementinen aber war Clemens in ein ſolches Ver⸗ hältnig zu Petrus gebracht, daß er jdjieBlid) nur fein un⸗ mittelbarer Nachfolger werden konnte. Unabhängig von ber pjendoclementinifchen Literatur ift dieſe Tradition nirgends mit Sicherheit nadjgumeijen. Zertullian (de praeser. haer. 32) berichtet nur die Ordination des Clemens burd) Petrus, was aud) nad) dem an diefer Stelle von Zertullian intendir- ten Zwecke, nümfid) die Fortpflanzung der apoftolifchen Tra- dition in ber Perſon des Clemens zu bezeugen, nicht noth- wendig auch die unmittelbare Nachfolge des Clemens auf Petrus einschließt. Vielmehr drängte bie pfendoclementinische Tradition fofort gegenüber der altkirchlihen zu allen müg- lichen Ausgleichungsverfuchen, und beweist fid) aud) dadurch

wo allerdingd die Annahme gemacht wird, daß bieje Trabition Linus, Cletus, Clemens in der römiſchen Kirche zeitweilig durch bie Chronif Hipkolyt® verdrängt worden jei. Vgl. darüber Peter? a. a. Ὁ. ©. 368 ἢ.

Urfprung unb Verfafler des Briefes des Clemens 2c. 963

a(8 eine jpätere und erzwungene.. So bei Rufin in ber Vorrebe zur Weberjegung der 9tefognitionen, welcher jid) mit der Annahme zu helfen ſucht, daß Linus und Gletu8 noch zu Lebzeiten des Petrus, Clemens aber gleich nad) deſſen Zobe bie römifche Kirche verwaltet hätte. Ferner in ben apoftolifchen Gouftitutionen (VII, 46), nach welchen Linus als erfter Bifchof von Rom von Paulus, Clemens als zweiter von Petrus ordinirt worden fei. Doch wir brauchen dabei nicht länger zu verweilen, da faum mod) Jemand gefunden wird, ber nicht formell, bezüglich ber Succeffion des Clemens wenigftens relativ ber firdjfidjen Tradition vor ber pfeubo- clementinifchen den Vorzug gibt. Nur materiell, bezüglich des einfeitigen Verhältniffes zu Petrus, folgen bie Gegner dennoch insgemein ber pjeubocfementinifdjen Zradition. Daher das berühmte Argument, welches nament(id) Hilgenfeld ftandhaft ber Autorfchaft des Clemens entgegengejett hat: der Brief ift paufinijd), ber vömifche Clemens aber war ein Berriner. Daß der römische Clemens ein Petriner gemejen, bleibt fo lange von Seiten Hilgenfelds eine einfache petitio principii, bi$ der Beweis erbracht ijt, daß die Urheber bet SBjeubocfementinen fid) nicht fáljd)(id), wie der Namen ber Apoftel Petrus und Paulus, aud) des Namens be8 Apoftel- Schülers Clemens bedienen fonnten. Ob fie dies gethan haben, hängt weſentlich von dem dogmatifchen Charakter des Briefes am bie Korinthier ab.

2. Der dbogmatifche Charakter des Briefes. Daß ber Brief paulinifch fei, hat [don Eufebius (h. e. III, 38) erfannt; nur der Tübinger Schule. ift e8 nicht gelungen, in ihrem Sinne fo oder anders dem Briefe einen beftimmten

1) vgl beſonders Apoftolifche. Väter. S. 95 ff.

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Charakter aufzudrängen. Während Hilgenfeld Apoft. Väter €. 99 feine Unterfuchung über den Urfprung unjeres Briefes mit den charakteriftifchen Worten begleitete: „Anftatt alfo mit Ritſchl auf Grund unjeres Briefes den römischen Clemens zu einem Pauliner zu machen, oder mit Köftlin auf Grund feiner Autorfchaft den Paulinismus des Briefes abauftreiten, werden wir uns auf ba8 beichränfen müſſen, was fid) aus diefem inhaltsvollen Briefe mit Sicherheit über feinen lir» iprung ergibt“, bat er [elbjt fteigend fo febr den Paulinismus des Briefes als einen vermittelnden anerkennen müſſen, daß er jogar dem Petrinismus neueſtens fchon nahe gefommen iit, menn er fehreibt 1): nihilo minus Veteris Testamenti mandata et instituta spud Clementem conservantur potius quam abrogantur, quae apud Paulum abrogan. tur potius. quam conservantur. Dennod wenden wir das befagte Argument nicht gegen Hifgenfeld um; mir fünnen demfelben entjchiedener dadurch begegnen, baf mit den petro» pau(inijdjem ober echt Fatholifchen Charakter des Briefes nachweifen. Dadurch ge[taltet fid) der Brief an fid) zu einer durchgreifenden Waffe gegen die Qvitif der "Gegner. Der Serfajfer nennt die beiden Apoftel Petrus und Paulus vereint „die größten und gerechteften Säulen“ der Kirche (c. 5), unb wie er fid) als Schüler ber beiden Apoftel hier Tennzeichnet, jo befennt er fid) als joldjem aud) burd) feine Lehre. Er kennt das Hoheprieftertfum Ehrifti (c. 86. 58) und beweist ein eigentlich kirchliches Prieſterthum | (c. 40 ff.) ?); er betont die vechtfertigende Kraft de8 Glaubens und zugleich die Nothiwendigfeit der guten Werke zur (ὅτε

1) Clem. Rom. epp. Prolegg. p. XXXVII vgl. p. XXXVI. 2) vgl. Hilgenfeld, Apoftol. Väter. ©. RO f.

Urſprung und Verfafler des Briefe des Glemen8 :c. 965

langung der Seligkeit (c. 32 ff.). Faſt wie um abfichtlich die Einheit der apoftolifchen Lehre zu bofumentiren, führt er den Abraham als Beifpiel dafür an, wie der Glaube im Gehorſam fid) berhätige und fo vor Gott vechtfertige (c. 10. vgl. Röm. 4, 3; Jac. 2, 21), läßt ihm gefegnet werden, weil er „Gerechtigkeit unb Wahrheit burdj den Glauben übte“ (c. 31) und fagt von ber Rahab: διὰ πίστιν xai φιλοξενίαν ἐσώϑη Ῥαὰβ πόρνη (c. 12 vgl. Hebr. 11, 31; Yac. 2, 25). Und es find nicht etwa unvermittelte Gegenſätze, welche ber Verfaſſer hier nebeneinander ftelít. Das fcheinbar Unvermittelte findet in feinem ganzen Lehr⸗ ſyſtem feine vofffommene Einheit. So ijt feine Nechtferti- gungslehre, obgleich er fid) über biefe Lehre nicht principiell verbreitet, deutlich als Conſequenz feiner Lehre von der Perſon Chriſti erkennbar und fann aud) mur im en s hiermit vollfonımen begriffen werden.

Chriftus ift nad) bem Briefe nicht in irgend bildlichem Sinne „der Sohn Gottes“, ſondern er trägt als Gott und Menſch dieſen einzigen Namen in ſeiner Erhabenheit über alle Engel, als „das Scepter der Majeſtät Gottes“ (c. 36). Gott iſt er von Ewigkeit, da er ſchon im A. B. durch den heil. Geiſt geredet hat (c. 22); in der Zeit iſt er „das Scepter der Majeſtät Gottes“ demüthig in Menſchengeſtalt erſchienen (c. 16), dem Fleiſche nad aus dem Geſchlechte

-Jakobs (c. 32), um alle Menſchen durch fein göttliche®, vor Gott jo foftbare8 Blut zu erlöfen (c. 2. 12). Er hat der ganzen Welt, allen Gefchlechtern erft die Gnade ber Buße gebradjt (c. 7); denn er ift ,unjer Heil, der Hohes priefter unferer Opfer, der Patron unferer Schwachheit“ (e. 36). Haben aber unfere Opfer erft Werth auf Grund feines Opfers, unfere Werke erjt Verdienftlichleit für ben

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Himmel (vgl. c. 34 f.) auf Grund ſeiner Verdienſte, ſo fehlt dieſe Verdienſtlichkeit ſelbſtverſtändlich wie den bloßen Geſetzeswerken der Juden ſo auch der Weisheit und den natürlichen Tugenden der Heiden, unſere Rechtfertigung kann nur mit dem Glauben beginnen (c. 32). Dieſer Glaube ift aber im Sinne des Verfaffers jo wenig ein bloßer δὲν danke in Worten mit Ausschluß der Werfe (vgl. c. 30), daß ihm vielmehr deshalb der Glaube den natürlich guten Merken gegenüber als allein rechtfertigend erjcheint, weil derfelbe unferen Werken die erfte übernatürliche Beziehung auf das Werk Chrifti gibt (c. 33): τέ οὖν ποιήσωμεν, ἀδελφοί, ἀργήσωμεν ἀπὸ τῆς ἀγαϑοποιΐας, καὶ ἐγκα- ταλείπωμεν τὴν ἀγάπην; Vollendet wird unjere 9tedit- fertigung wie die Verdienftlichkeit unferer Werke durch das Band der Liebe, welches uns mit Gott vereinigt, bie Menge der Sünden Debedt (c. 49) und unferen Merken fünden- tilgende Kraft verleiht (c. 50). Diefes Band ber Liebe ift aber nidjt8 anderes, als die Gnade des Hi. Geiftes, welcher über uns ausgegoffen ift und uns untereinander und mit Chriftus zu „lebendigen Gíiebern feines myftifchen Leibes vereinigt (c. 46). Wie daher der Glaube nad) dem Briefe deshalb das erfte Princip der Rechtfertigung wie der DVer- dienftlichkeit unferer Werke ift, mei er diefen Werfen bie erfte Beziehung auf das Werk Chrifti gibt, fo vollendet bie Liebe in nn8 beides, weil fie uns vollfommen mit Chriftus ' vereinigt, in und einen bleibenden Onadenftand begründet und uns zu Erben der unbefchreiblichen Seligfeit macht, die ung fo im eigentlichen Sinne nur Chriftus verdient Bat (c. 35 vgl. 36). Wir find durch diefen Gnadenftand, als Glieder des Leibes Chrifti nicht nur auf Erden unterein- ander verbunden, fondern bieje8 Band der Liebe wird aud)

Urſprung unb Berfaffer des Briefe des Clemens ꝛc. 907

durch den Tod nicht unterbrochen, daher nad) bem Verfaſſer die kirchliche Fürbitte für die Gefallenen ſich zugleich zu einer eigentlichen Anrufung ber Heiligen geftaltet (c. 56) !). Unterbrocdhen wird ber Gmabenjtanb burd) die Sünde, aud) bie verborgene, da Gott auch die Gedanken unb Rathichläge unferes Herzens erforjd)t und, wenn er will, feinen Geift, der in ung ift, wegnimmt (c. 21). Wiederhergeftellt wird ba$ Band der Liebe durch das gottgefällige Bekenntniß der Sünde (c. 51f.), menn wir uns, burd) die kirchliche Für- bitte unterftüßt (c. 56), reumüthig den Prieftern der Kirche unterwerfen und Strafe annehmen zur Buße (c. 57), wozu Bier bejonber& die Urheber der Unruhen in Korinth ermahnt werden. So ift ber Brief noch in einem höheren Sinne fatholifch, a(8 ἐδ des Nachweifes der Tübinger Kritif gegen- über bedarf; ein würdiges Erzeugniß ber Kirche, von mel» her Paulus (Röm. 1, 8) fagt, daß von ihrem Glauben in der ganzen Welt verlündigt werde, unb Xertullian (de praescr. haer. 36), daß in fie bie Apoftel Petrus und

1) Hilgenfeld, Apoft. Väter erklärt bie bezügliche Stelle c. 56) aljo: „Die Fürbitte um bie Wiederaufnahme ber Gefallenen wird nodj an Gott unb an bie Heiligen, alſo an bie Gemeinde gerichtet”. Allerdings find nad) dem Briefe bie lebendigen Glieder der Kirche auch Heilige (vgl. bejonber8 c. 80: aylov οὖν μερὶς ὑπάρχοντες) aber fie find e8, weil fie in lebendiger Beziehung zu den vollendeten Heiligen fteben. Die Fürbitte ijt alfo nicht auf die Gemeinde δι᾽ ſchränkt, und jo nur hebt fid) der fcheinbare Widerſpruch, bap bie Kirche fid) jelbft ausichlieglich anruft, vgl. Zipfius, de. Clem. Rom. ep. I ad Cor. disqu. p. 44: Deprecatio enim illa (7 μετ᾽ οἰχτιρμῶν μνεία) commune est totius ecclesiae officium. Ergo si vera esset Hilgenfeldi interpretatio, ecclesia semetipsam implora- visset. Quae cum ita sint, non possumus non de Sanctorum invocatione quae vocatur cogitare.. \

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Paulus die Fülle ihrer Lehre zugleich mit ihrem Blute ein- ftrömen ließen.

Der Fatholifche Charakter des Briefes erhält feine eigent- liche Bedeutung gerade durch bie Thatſache, daß er ein offi- cielfe8 Schreiben der römifchen Kirche ijt. Mögen zur Zeit feiner Abfaſſung die Differenzen zwifchen Juden- und Heiden- hriften mod) lange nicht volllommen ausgeglichen gewejen fein, die römische Kirche a(8 fofd)e jtand über bien Diffe⸗ renyen, mie und der Brief zeigt, den mir als eines der vor- züglichften Mittel zur Beurtheilung des älteften Zuftandes der römischen Kirche wie der Kirche überhaupt zu betrachten haben. Je meniger aber der Tatholifche Charakter des Briefes in Abrede geftellt werden kann, um fo weniger darf e8 ung wundern, , wenn unter den Gegnern die Verſuche fid) nod) mehren zu wollen fcheinen, den Brief gegen feine αμϑοτ liche Angabe einer einzelnen conciliatorifchen Partei in ber römifchen Kirche zuzufchreiben. Namentlich ift e8 wieder Hilgenfeld!), welder in biejer Hinficht ſchon das be- benf(idje Urtheil fällt: Clementis quam dicunt epistolam Romanae ecclesiae presbyterium ita conscripsit, ut Paulinae partis mentem expresserit, alteram vero partem non offenderit. ber gerade bieje partes find im Briefe am bie Korinthier nicht zu entdecken. Daher find Solche Berjuche nur ein offenbarer Beweis dafür, bap die Gegner, auch abgejehen von ber Autorjchaft des Clemens, ‚mit dem Briefe an fid), jo lange er in feinen gefchichtlichen Berhältniffen belaffen wird, nichts anzufangen mijjen. Es ift wahr, der Brief ift voll von Hochachtung vor dem Alten ZTeftamente, feinen Perſonen und Anftitutionen; ἐδ ift dies

1) Prolegg. p. XXXVII.

Urſprung unb Serfaffet des Briefe be8 Glemens ᾿ς, 269

einer ber hervorftechendften Charakterzüge bejjefben , welcher vielleicht mitgewirft hat, dem Clemens das große Anfehen in ebionitifchen Kreifen zu verichaffen ). Faſt alle hervor- ragenben Beifpiele der altteftamentlichen Gefchichte weiß ber Berfafjer in feine Ermahnungen zu verflechten. Es findet auf ihn Anwendung, wenn da8 der pfeudoclementinifchen Gpitome (c. 150) angebüngte Martyrium des Klemens diefen bei den Syuben fo beliebt fein läßt, weil er ihre Väter Freunde Gottes (vgl. c. 10) und ihr Gejeg nicht nur gött- fid), fondern aud) (gemijfermaBen) ewig (c. 40 f.) genannt Babe. (Genau betont ber Verfaſſer die kirchliche Kontinuität (c. 29. 31 f.); dennoch erfordert fein entjchieden chriftlicher Standpunkt, bag nach ihm unfer chriftlicher Beruf ale „aus- erwähltes Voll“ des Neuen Bundes (c. 50. 58) ganz und einzig auf Ehriftus beruht (c. 48): πολλῶν οὖν πυλῶν ἀνεῳγυιῶν, 7 ἐν δικαιοσύνῃ αὕτη ἐστὶν 7 ἐν Χριστῷ. Fehlt dem Briefe aber jeder judaifirende Zug, fo auch unb noch mehr jede antijudaistiiche Schärfe. Eine folche Tendenz müßte bod) namentíid) c. 32 irgendwie bemerkbar fein, während jid) hier der BVerfaffer, den realen Verhäftniffen ganz entjpredjenb, auf bie Ermahnung an bie vorwiegend heidenchriftliche Kirche von Korinth bejd)rünft, daß, ebenfo- wenig wie die Juden burd) ihre bloßen Geſetzeswerke, bie Heiden durch ihre Weisheit und natürlich guten Eigenschaften fünnen gerechtfertigt werden. Bezeichnend ijt auch, bap bie Frage, ob ber Verfaffer ein Judenchriſt oder Heidendhrift gewefen fei, fid) nad) dem Briefe gar nicht beantworten läßt. Ausdrüde wie „unfer Bater Abraham“ (c. 31) ober

1) Lipſius, de Clem. Rom. ep. p. 178 sq. Böllinger, Chri: ftentbum unb Kirche 2. Aufl. ©. 321 Ff.

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„unſer Vater Jakob“ (c. 4) find nicht entſcheidend für das eine, das lokale ἐν ἡμῖν (c. 6. 55 vgl. 37) fowie das fommunifative ἡμεῖς (c. 32) ober aud) die bem Verfaſſer nicht abgujpredjembe klaſſiſche Bildung nicht entfcheibend für das andere. Die große Vorliebe für das A. 3. unb bie große SenntniB beffefben , welche der DVerfaffer bekundet, würden immerhin eher dafür fprechen, daß er ein gebilbeter römischer Judenchriſt geweſen jei, menn nicht der Verfaffer aud) in biejer Hinficht ftet den principiellen Standpunkt der Betrachtung mwahrte, welcher den Brief überhaupt, namentlich aber in der Entjcheidung feiner eigentlichen Frage (e. 42—44) auszeichnet. Der Brief ift auch für ein Tendenzſtück irgend welcher Art zu fee. realen Verhältniffen entwachjen. Genau beftimms er feine Veranlaffung und halt fif am ber gründlichen Erledigung derfelben. Zwar find bie Ermahnungen, obgleich ἐδ an einer tüchtigen Gr» örterung zur Sache Teineswegs fehlt (c. 88—44), meift aff» gemeinerer Natur, aber ftet8 darauf gerichtet, das chrijtliche Bewußtſein ber Leſer überhaupt zu wecken und baburd) aud) feinem fpeciellen Zwecke zu dienen. Eine gewiffe Abfchwei- fung gibt fid) nur in der umftünblidjen Auseinanderjegung

ber Lehre von der Auferftehung ber Zobten c. 24 ff. fund.

Vielleicht ftieß biefe Lehre noch immer in Korinth auf große Schwierigkeiten, möglich aud), daß ber Verfaſſer dies nad) dem ihm befaunten erften Korinthierbriefe Pauli vorausſetzte.

Daß endlich der Fatholifche Brief in der Tradition von Anfang an den Namen trägt, an welchen fid) im kirchlichen Alterthum ſchließlich bie praftifchen 3Deftrebungen Tnüpften, welche bie Tübinger Schule friti[d) erneuert Dat, entjcheidet alferdings über Sein ober Nichtfein diefer Kritik. Wir ber gnügen uns mit dem Bemerfen, daß bie altkirchliche ober

Uriprung und Berfafier des S3riefe8 be8 Glemen8 2v. 271

petro-panlinifche Clemenstradition auch materiell durch ben dogmatifchen Charakter des Briefes unterftügt wird, unb daß eben die Thatſache, daß ber Brief ſchon um die Mitte des zweiten Jahrhunderts mit dem Namen des Clemens unzertrennlich, verbunden erfcheint, beweist, daß Clemens nicht ber Pjeudopetriner gewefen fein fann, wozu ihn bie pfeudoclementinifche Literatur gemadjt Hat. Wir fünnen uns aud hier auf ipjius !) berufen, welcher [ὧν εἶδε : „und die auf jeden Fall nicht jüngere Tradition Über Clemens als Verfaſſer des Briefes ftimmt übel genug zu ber An⸗ nahme, daß er im Unterfchiede von bem Paulusſchüler Linus von vornherein als ein angefehener Vertreter der petrinifchen Richtung gegolten Habe. Weberdies hätte bamm die aus— gleichende (P) petro-paulinifche Tradition fchmwerlich verfehlt, den bem Petrus zugeftandenen Ehrenvorrang aud) auf den Petrusſchüler Clemens zu übertragen, ihn alfo ftatt zum zweiten oder gar zum dritten, vielmehr zum erften Nad)- folger des Apoftelfürften auf dem römifchen Stuhle zu crei- ren“. Dur bie (egtere Bemerkung beftätigt Lipfins, ohne e$ zu willen ober zu wollen, aud) unfere frühere Behauptung, baB wir uns mit der petro-paulinifchen Elemenstradition auf Hiftorifchem Boden befinden. Wäre fie mirffid) eine ausgleichende und nur relativ vorzüglichere, fo ließe fid) faum begreifen, warum ‚ihre Vertreter ben Clemens nicht fammt dem Briefe an die Korinthier bis zu den Apojteln Petrus und Paulus aud) bezüglich ber Zeit feines Epiffopates hinaufgerückt hätten. Die beiden bloßen Namen Linus und Anencletus Tonnten dann bod) fein Hinderniß fein). Man

1) Chronologie der Röm. Biihöfe. " C. 151. 2) vgl. Zahn, der Hirt des Hermas. ©. 61 ff. Theol. Ouartalfchrift. 1876. Heft II. 18

272 Brüll,

mag darnach auch neben dem früher über die pſeudo⸗clemen⸗ tiniſche Tradition Geſagten die Bemerkung Hilgenfelds 3) noch weiter beurtheilen, daß die petriniſche Clemenstradition auf eigenen Füßen ſtehe, die petro-pauliniſche ganz auf der Vorausſetzung beruhe, daß Clemens der Berfaffer des Briefes an bie Korinthier fei.

II. Die äußere Bezeugung des Briefes. Wir be- idrünfen uns hinfichtlich der äußeren Bezeugung des Briefes auf eine kurze Kritil des Seugnifje8 des Eufebius über den- jelben und deſſen Quellen. Eujebius fieht den Brief ale echte Schrift des Apojtelichitlers Clemens an, welchen diefer gegen Ende der Regierung Domitians, wo er al8 Biſchof die römifche Kirche leitete, im Namen biefer Kirche am bie bon Korinth ſchrieb (h. e. IIT, 15. 16 vgl. 58). Eufebins jtügt fein Urtheil direkt einzig auf bie Thatſache, daß ber Brief als echte Schrift des Clemens allgemein anerfannt war, jeit jeher in vielen Kirchen bis auf feine Zeit als folche öffentlich verlefen wurde und fait fanonifches Anfehen befaß (h. e. III, 16 vgl. VI, 13). Wir wilfen nicht, wie ‚weit Eufebius bie allgemeine Anerkennung und den von ihm erwähnten Firchlichen Gebrauch des Briefes beim öffentlichen Gottesdienfte im Einzelnen nachzumweifen im Stande war ; aber gerade von ber Kirche, melde Hier mit der von Rom zumeiſt urtheilsfähig erfcheint, hat uns Eufebius in diefer Hinfiht ein Zeugnig erften Ranges in dem des Biſchofs Dionyſius von Korinth aufbewahrt. Diefer fehreibt mad) Eufebius (ἃ. e. IV, 23) in einem Briefe der Kirche von Korinth an die von Rom und ihren damaligen Bifchof Soter über den Clemensbrief Folgendes: „Heute Haben

1) Prolegg. p. XXIX.

Urfprung unb Verfafier des Briefe des Glemen8 sc. 973

wir den bf. Tag des Herrn begangen und an bemjelben euren Brief vorgelefen, den wir jowie ben früher von Clemens an uns gejchriebenen zu unferer Erbauung zu fefen nie aufhören werden“. Daß bier, wo mir e8 mit einem Zeugniß der Kirche von Korinth an die von Rom zu thun haben, im welchem e8 fid) um einen früher von der Kirche von Rom an bie von Korinth gejchriebenen Brief handelt, als deſſen Verfaſſer ausdrücklich Clemens und zwar im Sinne des Dionpfins der frühere römische Biſchof Clemens, genannt wird, von unferem Clemensbriefe Rede fel, kann nicht be. zweifelt werden. Daß der Brief des Divnyfins mod) zu Lebzeiten des Biſchofs Soter (F 174 oder 175) 1) von Rom gejd)rieben ift, jagt Gujebiu& ausdrüdtih und wird auch burd) die unmittelbar vorher von diefem aus dem Briefe des Divuyfing mitgetheilte Stelle nahegelegt. ‘Dem wider- fpricht nicht, baB von Soter in dem Briefe gefagt wird: o μακάριος ὑμῶν Ersloxonos Σωτήρ; ben aud) bei Eus. h. e. V, 16 wird ein Lebender μαχάριεδ angerebet, und der 3Bijdjof Alerander von Jeruſalem fchreibt nach Eus. h. e. VI, 11 von dem Glemen8 (von Alerandrien), burd) den er eben den Antiochenern einen Brief übermittelte: τὰ γράμματα ἀπέστειλα διὰ Κλήμεντος τοῦ μακαρίου πρεσ- βυτέρου.

Der hohe Werth des Zeugniffes des Dionyfins über ben Gíemenébrief befteht nun darin, bap ἐδ von ber Kirche ausgeht, an welche der Brief urfprünglich gerichtet war, und an die Kirche abgegeben wird, von welcher derſelbe ab- gefandt wurde, und dies zur Zeit der Enkel der Abfender wie "ber erjten Empfänger des Briefe, wo in beiden Kirchen

1) vgl. Lipfius, Chronologie der rim. Biſchöfe. Ὁ. 352. 18 *

274 Brüll,

noch ſolche lebten, deren perſönliche Erinnerung wenigſtens bis nahe an den Urſprung des Briefes hinaufreichte. Man kann e$ daher als ein urſprüngliches Doppelzeugniß der beiden Kirchen von Korinth und von Rom betrachten. Als ſolches charakteriſirt es ſich auch ſelbſt, da im Schlußſatz deſſelben geſagt wird, man werde es in Korinth mit dem kürzlich von Soter empfangenen Briefe halten, wie mit dem früher von Clemens empfangenen, nämlich vom Tage des Empfanges an ihn ununterbrochen zur öffentlichen Vor⸗ lefung beim Gottesdienfte benügen. So weit daher bie Gr» innerung bes Dionyfius zurückreichte, war bie8 mit bem Clemensbrief in Korinth gefchehen, worauf Eufebius befon- deren Werth legt.

Wir glauben das Zeugniß des Dionyfins mit Recht αἰ ein Zeugniß erften Ranges bezeichnet zu haben. Als ſolches betrachtete e8 früher aud) Lipfius 1), wenn er fchrieb: Cui quidem testimonio plurimum sane fidei habendum est. Scripsit enim Dionysius octoginta fere annis post Romanorum epistolam editam: scripsit ad eos ipsos Romanos, qui certissimam opinor illarum lite- rarum notitiam habebant; scripsit item Corinthiacae eeclesiae nomine, quam literis illis à Romanis ac- ceptis apostolicam fere auctoritatem habuisse testatur. Quid multa? nihil desideratur, quod fidem afferat Dionysii verbis.

Wenn Lipfins Deute wohl nicht mehr fo benft, fo mag nur daran erinnert werden, daB das Zeugniß be8 Dionyfins über den Clemensbrief fo geartet ijt, daß ihm aud) baraué fein Nachtheil erwachjen Tann, wenn Dionyfius in demfelben

1) de Clem. Rom. ep. p. 157.

Urlprung und Verfafjer des Briefed des Clemens ꝛc. 275

Briefe andere Thatjachen von zweifelhaften Werthe berichten jofíte. Gleichwohl rechnen wir dazu nicht die Nachricht an Soter, daß Petrus und Paulus beide wie in Rom fo aud) in Rorintd den Samen des Evangeliums gepflanzt hätten (vgl. Eus. ἢ. e. II, 25). Diefe Nachricht ſchließt gar nicht aus, daß Paulus allein der Vater der korinthiſchen firde war (1. Gor. 3, 6), wie Petrus der eigentliche Stifter ber römifchen Kirche, fondern fest wur voraus, baf beide Apoftel in beiden Kirchen ihre apoftolifche Wirkſamkeit entfaltet haben, wie dies mit bem erften Sorinthierbriefe Bauli (1, 12; 3, 22) aud) der Gfemenabrief (c. 47 vgl. 5) vorausſetzt.

II.

Der zweite Zeuge, welcher für uns das Urtheil des Euſebius über den Clemensbrief beſtätigt, ift Hegeſipp, wel⸗ cher zur Erforſchung der apoſtoliſchen Tradition an der Hand ber Succeſſion der Biſchöfe noch vor Anicet (nad) Lipſius + 166 ober 167), bem Vorgänger be8 Soter unb Nach—⸗ fofger des Pius (nad) Lipfins T [rübeften8 154 und jpäte- ften8 156), nah Rom fam und auf biejer Reife vorher aud) in Korinth war Y). Obgleich dieſer Hegeſipp erit um das Yahr 180 feine Denkwürdigkeiten ſchrieb, [o ijt doch fein Zeugniß für den Clemensbrief als eine Stimme

1) vgl. Zahn a. a. Ὁ. €. 66: „Die ungenaue Angabe Gujeba h. e. 11, 4) wird durch Qegefipp8 eigene Worte berichtigt (h. e. IV, 22, 8), wonad er vor 9(nicet (155—167) bingefommen und bot dem Ende von bejfen Regierung wieder fortgegangen [εἶπ muß. Borher aber war er in Korinth. Eufeb ließ fid) durch Hegefipps Aufzählung der Nachfolger 9(nicet8 bi8 zum Moment der Abfaffung feines Buches unter Eleutherug (177—190) ivreführen.

276 Brüll,

aus der korinthiſchen und römiſchen Kirche vor Dionyſius zu betrgchten und geeignet des Letztern Zeugniß weiter als ein urfprüngliches zu befräftigen,

Eufebius vuft bem Hegefipp zunächſt a[8 Zeugen der Thatjache an, daß um die von ihm für den Amtsantritt des Clemens angenommene Zeit, um das 12. Jahr Domi- tian® (vgl. h. e. III, 15), die Unruhen in Korinth waren, welche den Elemensbrief veranlaßten: καὶ ὅτε ys κατὰ vov δηλούμενον τὰ τῆς Κορινϑίων κεκίνητο στάσεως, ἀξιό- χρδως μάρτυς Ἣγέσιππος (h. e. III, 16). Man bat aus der Art und Weife, wie Eufebins fid) hier auf Hegefipp beruft, mit Unrecht oft den Schluß ziehen wollen, daß Hegefipp über den Clemensbrief felbft unb mamentfid) über feinen Verfaffer nichts gewußt habe, fondern nur bie Ver- anlaffung des Briefes gefannt; daß daher Eufebius wider Willen mit einem ſchwachen indirekten Zeugniſſe fid) bee gnügen müffe. In Wahrheit zeigt jid) Eufebins bier fo wenig, wie fonft irgendwo, im mindeften bemüht, die Echt⸗ heit des Clemensbriefes ausdrücklich zu erhärten. Er geht davon wie von einer befannten und alfgemein anerlannten Thatfache überall aus; einer Thatjache, welche ihm durch das Firchliche Anfehen und bte. allgemeine Neception des Briefes, wofür ihm namentlich) ba8 bejprochene Zeugniß be8 Dionyfins von Korinth zu Gebote ftand, hinlänglich vers bürgt erjdjien. Nicht einmal das ijt zuzugeben, was Zahn (a. a. Ὁ. ©. 66) zur Erklärung des in Rede ftehenden Citates beibringt, daß nämlich Eufebins deshalb feine Be— rufung auf Hegefipp befchränfe, weil er ihn nicht für ben gerade erwähnten öffentlichen kirchlichen Gebrauch des Briefes habe anrufen können. Wir werden jefen, daß Hegefipp diefen Firchlichen Gebrauch des Briefes ganz gewiß in Korinth,

Ursprung und SBerfaffer be8 Briefed be8 Glemen$ 2c. 277

wenn nicht gar aus eigener Anichauung, Tennen lernte. Mag er dies num aud) in feinen Denfwürdigfeiten nicht ausdrücklich erwähnt haben, fo will und mußte bod) Eufebius an der an» geführten Stelle feine Berufung auf Hegefipp aus einem anderen Grunde beichränten, ben ber Zufammenhang mit dem vorhergehenden Kapitel (h. e. III, 15) kaum kann überfehen faffen. Eufebius jett hier den Amtsantritt des Clemens in da8 12. Jahr Domitians. Woher er diefe Nachricht, wie auch bie je für die Amtszeit des Linus (vgl. ἢ. e. III, 18) unb Anencletud angenommenen 12 CYabre fat, wiſſen wir nidt: Hegefipp hatte ebenfowenig wie Irenäus beftimmte Yahreszahlen bezüglich ber Amtsdauer ber einzelnen Bifchöfe ?). Es fam ihmen nicht auf genaue Yahreszahlen, fondern auf das an, was fid) fucceffive unter den einzelnen Bifchöfen, namentlich der römischen Kirche, zugetragen hatte und ge: eignet war, die alte Lehre der Kirche von den Apofteln her den Irrlehren ihrer Zeit gegenüber fíar zu fellen. Den⸗ ποῦ ließen Hegefipp und Irenäus in Bezug auf bie Gon: trole ber dem Eufebius überlieferten Jahreszahlen nicht ganz im Stih. Bleiben wir bier bei Hegefipp, da mir auf Irenüus noch zurückkommen, ftehen, jo bejprad) er im An⸗ ſchluß an den Episfopat be8 Clemens unb feinen Brief an bie Korinthier die Unruhen, welche den Brief veranlaßten. Das führte ihn aber nothwendig wenigftens im Allgemeinen auch auf bie Zeit, wann bieje Tirchlichen Wirren jtattfanden. Da diefe Zeitbeftimmung fid) aber nicht bireft auf bem Episkopat des Clemens bezog, fo fonnte aud) Eufebins bat»

1) Döllinger a. a. Ὁ. ©. 819 führt irrthümlich, wie h. e. ΠῚ, 16 zeigt, bie bie älteften römiſchen Biſchöfe betreffenden Zeitbeſtim⸗ mungen be8 Gujebius$ auf Hegefipp zurlid.

‚278 - Brüll,

nach nur annähernd die Zeit des Episkopates des Clemens, ſpeciell deſſen Anfang, beſtimmen. Und das iſt es, was er h. e. III, 16 ſagen will. Ungefähr um bie von ihm im vorhergehenden Kapitel für den Amtsantritt des Clemens angegebene Zeit (κατὰ τὸν δηλούμενον) waren nad) Hegefipp die betreffenden Wirren in Korinth; nicht genau gab Hegefipp für diefe Unruhen, nod) weniger genau und fpecie. für den Amtsantritt des Clemens, das bem Eufebius in leßterer Hinficht überlieferte 12. Jahr Domitians an, fondern be- ftätigte daffelbe durch feinen Bericht nur annähernd, da er von ber Voransfegung ausging, daß die korinthiſchen Un- rufen zur Zeit des Episfopates des Clemens ausgebrochen waren, und daß ber burd) fie veranlaßte Brief der Kirche von Rom an bie bon Korinth von Clemens gefchrieben wurde. So erklärt fid) die reftringirende Citationsweife des Eufebius dem Zufammenhang gemäß ganz natürlich, ohne den geringften Schatten auf den Bericht be8 Hegefipp zu Ungunften der Echtheit des G(emenébriefeó zu werfen. ym Gegentheil fett die befprochene Stelle nothiwendig voraus, daß aud) Hegefipp den Brief und feinen BVerfaffer gekannt und genannt habe; um jo mehr, wenn wir beachten, was Hegefipp (bei Eus. IV, 22) felbft über die Art und Weife feiner Erforfchung ber apoftolifchen Tradition an ber Hand | der Succeffion der Bifchöfe.der römischen Kirche fagt: γενό- μενος δ᾽ ἐν Ῥώμῃ διαδοχὴν ἐποιησάμην μέχρις ᾿Δνική- του, οὗ διάκονος ἦν Ἐλεύϑερος " καὶ παρὰ Avıznvov δια- deysraı Σωτὴρ, μεϑ᾽ ὃν Ἐλεύϑερος. ἐν ἑκάστῃ διαδοχῇ καὶ ἐν ἑκάστῃ πόλει οὕτως ἔχει, ὡς νόμος κηρύσσϑι καὶ οἱ προφῆται καὶ Κύριος !).

1) vgl. Döllinger a. a. Ὁ. ©. 318.

Urſprung und Verfaſſer des Briefes des Clemens x. 279

Daß Hegeſipp den Clemensbrief und ſeinen Verfaſſer genau gekannt habe, zeigt auch weiter der ſo eben berührte Bericht des Hegeſipp über ſeine Romreiſe und ſeinen da⸗ maligen Aufenthalt in Korinth (bei Eus. ἢ. e. IV, 22), jomie die Art und Weife, wie Eufebius diefen Bericht ein» feitet. Diefe Einleitungsworte lauten: ἀκοῦσαί γέ τοι πάρεστι μετά τινα περὶ τῆς Κλήμεντος πρὸς Κορινϑίους ἐπιστολὴς αὐτῷ εἰρημένα ἐπιλέγοντος ταῦτα. war fagt Eufebius aud) Hier nicht ausdrüdlih, daß Hegeſipp den Clemens als Berfaffer des Briefes genannt habe; dennoch ift bie8 unbedingt gewiß, ba Eufebius font den Hegefipp nicht fo ohne weiteres Einiges über ben Brief bes Clemens jagen ließ; um fo mehr, ba aud) hier Eufebius den Hegefipp ja nicht für die Echtheit des Briefes anrufen will und der folgende Bericht des Hegefipp zeigt, wie jer diefer Brief den Hegefipp Interejfirt hat. Er erzählt nämlich, daß die Kirche von Korinth bis auf ihren Biſchof Primus, mit dem Hegefipp auf feiner Romreife in Korinth vertraut verfehrte, in ber rechten Lehre (ἐν τῷ 099 λόγῳ) verharrt habe. Diefe Bemerkung bezieht fid) offenbar auf das Ein⸗ dringen des Gnoſticismus in der Kirche von Korinth umb hat bezüglich biejer Kirche eine ähnliche Bedeutung, wie wenn Hegefipp nach einem in demjelben Kapitel von Eufebius angeführten Berichte über die Stammlirche von Jeruſalem ganz allgemein bemerkt, bag fie bis zu ben Zeiten ihres zweiten Bifchofs Simeon, be8 Sohn des Elopas, welcher nach Hegefipp (bei Eus. ἢ. e. III, 32) erft unter bem Raifer Trajan im Alter von 120 Jahren ben Martertod erlitt, „eine Jungfrau” genannt worden jei, daß aber von diefen Zeiten an die jüdiſch⸗gnoſtiſchen Irrlehren immer mehr auf fie eingeftütmt fein. Wir begreifen nun recht

280 Bel,

gut, wie Hegefipp nach der ausdrüdlichen Bemerkung des Eufebius jene Bemerkung über das Eindringen der falfchen Gnoſis in die Kirche von Korinth gerade im Anfchluß an den Clemensbrief machte. Waren ja die Wirren, melde diefen Brief veranfaßten, feine eigentlichen Lehrftreitigfeiten, Sondern zunächſt Verfafjungsitreitigleiten. ‘Die [püter vom Gnofticismns immer entftellten Lehren, namentlid) über Gott ale Weltfchöpfer und Begründer des Alten Gejetes (vgl. Irenaeus adv. haer. III, 3, 3), enthält der Brief nod) als gemeinfames und unbeftrittenes Gfaubenegut. Wie daher fpäter SYrenäus, fo hat auch fchon Hegefipp den Brief des Clemens als altkirchliches Zeugniß dem Gnofticismus emtgegengeba(ten. Diejer Brief wird c8 daher noch getoe[eu jein, um weldhen fid) die vertraulichen Heben vor allem drehten, welche nach der in Rede ftehenden Stelle Hegefipp mehrere age mit den Rorinthiern und ihrem Bischof Primus pflog, wodurd fie fid) gemeinjam über den rechten (umb alten) Glauben erfrenten. Hatte Hegefipp nun aud) nicht gerade Gelegenheit der Tirchlichen Verlefung des Briefes des Clemens in Korinth beizumohnen, fo founte er bod) hier nur bie Anficht über den Brief unb feinen Verfafler ge» winnen, welche ba8 Zeugniß des Dionyſius von Korinth, defjen Erinnerung gewiß bis zur Zeit des Primus λυτ reichte, wiedergiebt. Hat er biejer Anficht viglleicht jpütet nach Erforichung ber Tradition der römischen Kirche widers ſprochen? Das hätte Eufebius unbedingt mitgetheilt. Hat er aber nicht miberiprodjen, fo hat er bieje Anficht getheilt und eben im Anſchluß an den Episfopat be8 Klemens ben Brief beſprochen.

Daß Hegefipp bie in Korinth über den Clemensbrief gewonnene Anficht in Rom nur beftätigt fand, dafür bürgt

Urfprung unb Verfaſſer des Briefes des Clemens 2c. 28]

aud) der dritte Zeuge, welder für und das Urtheil des Eufebius über den Brief beglaubigt, nämlich Irenäus. Er fchreibt nad) Eufebius (h. e. V, 6) in Betreff der Sue⸗ ceffton der römifchen Bifchöfe von den Apofteln Petrus und Paulus an: „Nachdem nun die feligen Apoftel die Kirche gegründet unb erbaut Hatten, übergaben jte dem Linus bie Verwaltung des bifchöflichen Amtes. Diefen Linus erwähnt Paulus in feinen Briefen an Timotheus. Sein Nachfolger war Anencletus. ‚Nach biejem wurde an dritter Stelle von den Apofteln her die bifchöfliche Würde dem Clemens gu Theil. Diefer Hatte noch die feligen Apoftel gejehen und Umgang mit ihnen gepflogen. Ihm tünte mod) die Predigt der Apoftel in den Ohren und ihm ftand deren Ueberliefe- rung nod) vor Augen, doch nicht ihm allein, denn es lebten damals noch Viele, welche von den Apoſteln unterrichtet worden waren. Zur Zeit diejes Clemens ἐπί απὸ unter den Brüdern in Korinth eine nicht geringe Spaltung. In Folge deſſen fchrieb die Kirche in Nom eine febr tüchtige Schrift an die Korinthier, ermahnte fie zum Frieden und ernenerte ihren Glauben fowie die Weberlieferung, welche fie jüngft von ben Apofteln empfangen hatten“. Es folgt fofort bei Sjrenäus (adv. haer. III, 3. 3) eine nähere Darlegung diefer Weberlieferung des Briefes dem Gnofticie- mus gegenüber, mie wir fehon andenteten, mährend Eujebius ba$ an ber genannten Stefle übergeht, um gleich wieder zur Suceejfion der Nachfolger des Clemens nad) dem Berichte des Irenäus überzugehen. Wir fünnen uns bier anf bie nad) Eufebins mitgetheilte Stelle beſchränken.

Irenäus nennt nicht ausdrüdlich, wie Dionyſius, den Gíemené a[8 Berfaffer be8 Briefes, hat aber die gleichbes beutenbe Nachricht, daß unter bejjen Episkopat der Brief

282 | Brüß,

verfaßt (ei. Aehnlich wird fid) Hegefipp nad) dem früher Geſagten ausgedrückt Haben. Der Zeit nad) Liegt das Zeug⸗ niß des Irenäus ungeführ fo weit nach bem des Dionyfius, wie das des Hegefipp vor bemfelben, Irenäus zu dem⸗ jelben Zweck, wie diefer, unter Eleutherus (mach ipfius 1 189) nad) Rom fam. Das Zeugniß des Irenäus unter- jcheidet fid) von den beiden anderen dadurch, daß es nicht als ein Zeugniß der beiden Kirchen von Rom und Korinth betrachtet werden kann, fondern allein auf ber Tradition ber römischen Kirche beruht. Als blos römiſches gibt es fid) aud) zu erkennen. Liegt bei Dionyſius ber 9tadjbrud auf dem Tirchlichen Anfehen und Gebraudj be8 Briefes, bei Hegefipp auf ber an Ort und Stelle erforfchten Veran⸗ lafjung defjelben, jo bei Cyrenüue auf ber Perfon des Ver— fafjers. Nach biejer Seite hin führt uns denn audj ba8 Zeugniß des Irenäus über bie beiden anderen hinaus, indem er ausdrüdich die Nachfolge des Clemens an dritter Stelle von den Apofteln Betrus und Baulus her und feine Apoftel- fchilerfchaft berichtet. Wir können nicht mehr burdjjdjauen, wie Euſebius durch den Bericht be8 Hegefipp über bie 33er» anlaffung des Briefes bei der Beftimmung des Amtsan- tritte8 des Clemens unterftäßt wurde, wohl aber jehen wir ein, wie er bier durch ben Bericht des Irenäus ungefähr in die von ihm angegebene Zeit geführt wurbe, wenn wir genauer beachten, wie Irenäus die Succeffion des Clemens und namentlich feine Apoſtelſchülerſchaft berichtet. Er fagt, dem Clemens fei an dritter Stelle von den Apofteln Der (τρίτῳ τόπῳ ἀπὸ τῶν ἀποστόλων) bie bifchöfliche Würde zu Theil geworden. Es ijt fchon bem Wortlaute nad) unmöglich, bieje Angabe des Irenäus mit der [püteren Gombination Rufins in Verbindung bringen zu wollen,

A

Urfprung und füerfaffer bes Briefeß des Clemens 1. 983

wonach, wie ſchon früher bemerkt murbe, Linus und Gletus ποῦ zu Lebzeiten des Petrus, Clemens aber gleich nad) dem Tode bejfebem bie römifche Kirche perwaltet Hätte. Hefele Y geräth durch diefe Vermuthung nicht nur mit Eufebius, jonberr aud) mit Irenäus felbft in Widerfpruch. Wie weit nun aber bieje dritte Stelle von den Apofteln Der. wohl fag, fónnen wir aus der folgenden Beſchreibung der Apoftelichülerichaft des Clemens vermuthen. Irenäus hebt nadjbrüdlid) hervor, daß Clemens noch die jeligen Apoftel gefehen und Umgang mit ihnen gepflogen habe, baj ibm mod) ihre Predigt in den Ohren tünte und ifm noch ihre Ueberlieferung vor Augen απὸ. Er hält e8 nit für überflüffig, zu bemerken, daß damals nod viele lebten, welche nod) von ben Apofteln felbft waren unterrichtet worden. Es war aljo eine Zeit, wo ein folcher Apoftelichüler, wenn aud) nicht gerade eine vereinzelte Ausnahme, jo bod) auch nicht gerade etwas Gemwöhnliches mehr war. ipfius?) Hat diefe genauen Angaben des Irenäus vollftändig überfehen, menn er ihn deshalb mit jid) je(bjt im Widerfpruch fegen will, weil er bie Succejlion des Clemens erít an dritter Stelle von den Apofteln her und zugleich feine Apoſtel⸗ ſchülerſchaft berichtet. Sowohl der Bericht des Irenäus wie auch der Brief an die Korinther felbft (o. 5. 44.) tragen genau ba8 Gepräge ber Thatſache, daß Clemens bie Apoftel Petrus und Paulus nod) gefannt, aber εὐ} geraume Zeit nad) ihrem Tode die Leitung der römiſchen Kirche über» nommen unb den Brief an die Korinthier gefchrieben hat, Oder will Lipfins e$ al8 eine Unmöglichkeit anjehen, baf

1) Prolegg. p. XXI. 2) Chronologie ber Röm. Biſchöfe ©. 150.

284 Brüll,

gegen Ende der Regierung Domitians, wo der Apoftel Johannes noch unter den Lebenden war (vgl. Eus. h. e. III, 23), nod ein Schitler der Apoftel Petrus umb Baulus leben konnte? War Clemens beim Tode ber Apoftel etma 30 Jahre alt, fo zur Zeit der Abfafjung des Briefe 60 bie 70. Und liegt e& nicht nahe, daß man, fo lange nod) unmittelbare Apoſtelſchüler lebten, diefe vor allem zur Leit- ung der apoftolifhen Kirchen berief ? G8 lebten damals in Rom immerhin noch manche, welche bie beiden Apoftel mit Clemens nod) zu ihrer Generation zählen und namentlich das Ende berje[ben jid) im eigentlichen Sinne vor Augen ftelfeu konnten (c. 5: λάβωμεν πρὸ ὀφθαλμῶν ἡμῶν τοὺς ἀγαθοὺς ἀποστόλους). Mit Bezug auf bieje be» fonders Tonnte daher aud) Irenäus bie apo[tolijd)e Tradition eine jüngft (vewozi) von ben Apoſteln empfangene nennen. Co beftätigen bie drei Zeugen: Dionyfius von Korinth Hegefipp und Irenäus fat einjtimmig das Urtheil des Euſebius, daß der Brief ein echtes Werk des Apoftelfchitlers Clemens ijt, welcher benjefben gegen Ende der Regierung Domitians im Namen der Kirche von Rom an bie von Korinth jd)rieb. Auf Rechnung des Euſebius kommt nur die Vermuthung, welche er mit Origenes, Epiphanius umd Hieronymus theilt, daß ber DVerfaffer des Briefes der Phil. 4, 3 genannte Clemens [εἰ (h. e. III, 15 vgl. 4). Wir laffen diefe Vermuthung hier auf fid) beruhen, ’) da 1) Bezüglich der Verwendung, melde die Stelle Phil. 4, 3 in

der Tübinger Schule vielfach gefunden bat, mag bier einfach auf Lipſius verwiefen werden, welcher Chronologie ber Röm. Biſchöfe €. 150 desfalls bemerkt: „Auch wenn ber Brief (an die Bhilipper) unüdjt wäre, wird e8 doch aus chronologifchen Gründen bedenflich

bleiben, in der Stelle 4, 3 eine 9Injpielung auf die vermittelnde Stellung be8 römiſchen Clemens zwiſchen Baulinern und Betrinern

Urſprung und Verfaſſer bes Briefe bed Clemens 1c. 285

uns heute das DVerhältniß des Verfaffers gu einem anderen

Siemens mehr intereffirt. 2 unb bemgemäß in dem γνήσιος σύζυγος ben Petrus angedeutet zu finden (Baur, Paulus II, 70 f. 85 ff. Volkmar Theol. Jahrbb. 1856 ©. 309 f) Denn bi8 in bie zweite Hälfle des 2. Jahr: Bunbert8 läßt fif ba8 Schreiben unmöglich herabdrücken, früher aber ift und diejenige Geftalt ber Clemensſage, auf welche bier Bezug genommen fein müßte, nicht bezeugt.

4.

Ein patriſtiſcher Fund.

Von Prof. Dr. Funk.

Die Schriften der apoſtoliſchen Väter enthielten bis vor kurzem beträchtliche Lücken, indem in einzelnen Theilen entweder jeder Text oder wenigſtens ber Originaltext fehlte. Jenes traf bei den Briefen des römischen Clemens an bie Korinthier zu, von denen der erfte nad) c. 57 eine Qüde darbot, während der zweite noch vor bem Schluß von c. 12 ganz abbrad). Diejes war der Fall bei dem Barnabasbrief, dejfen Anfang und nur in einer alten lateinifchen Weber- ſetzung vorlag, und nod) weit mehr bei dem Paftor Hermä, von defjen Urtert nur wenige Fragmente erhalten waren. Die Mängel wurden aber in ber neueften Zeit beinahe gänzlich gehoben. Ein Manufeript auf bem Berg Athos enthielt den griechiſchen Text des Paftor Hermä bis Similit- IX. c. 30 und burd) bie Abfchrift, bie der Grieche Con- ftantin Simonides im Jahre 1856 an die Leipziger Univer- jitätsbibliothet verkaufte, wurde der Hier verborgene Schatz zu einem Gemeingut ber Welt der Wiſſenſchaft. Die Schrift wurde durch Unger und Dindorf fofort edirt und eine pere bejjerte Ausgabe erfchien im nächften Jahr in den Patrum

Sunt, Ein patriftifcher Fund. | 987

apostolicorum opera von Dreſſel. Im Jahr 1859 fand Conftantin von Zifchendorf im Katharinenklofter auf dem Berge Sinai den berühmten ſinaitiſchen Bibelcoder umb damit ward ber patriftiichen Literatur eine zweite Bereicher- ung zu Theil. In dem Gober ftand außer den hl. Schriften nicht bloß eim beträchtliches Stück, ungefähr das erfte Viertel (bi8 Mandat. IV. c. 2 unb zwei Süße aus c. 3) des Paftor Hermä, fo daß uns bieje Schrift injomelt nunmehr in einer doppelten Handjchrift vorliegt, fondern aud) ber ganze Barnabasbrief und bie Qüde, bie bejjen Original tert bisher am Anfang barbot, war damit ausgefüllt. Die Cntbedungen auf bem Gebiete der Patriftit waren aber nodj nicht zu Ende. Vor kurzem entdeckte der Erzbifchof Brhennios von Serrä in Macebonien in der Bibliothek de8 heiligen Grabes zu Conftantinopel einen Coder (Nr. 456) aus dem elften Jahrhundert er murbe, wie jein Schreiber, ber Notar Leo, am Schluß angibt, im Jahre 1056 gefchrieben, bezw. vollendet und von bem Patriarchen Metochins von Jeruſalem der genannten Bibliothek über- geben der neben bereits Belanntem aud) Unbelanntes und Neues enthält, nämlich den ganzen Text ber beiden Elemensbriefe, fo daß num auch die legte im Eingang er» wähnte Lücke ausgefüllt ijt. ‘Der gelehrte Metropolite Bat jene Briefe bereits ebirt *) umb ich werde mid) mit ihnen nod) weiter befaſſen. Zunächſt möge nur. noch bemerkt

1) To) ἐν ἁγίοις πατρὸς ἡμῶν Κλήμεντος ἐπισκόπου "Poum αἱ δύο πρὸς ἸΚορινϑίους ἐπιστολαὶ ἔχ χειρογράφου τῆς ἂν Φαναρίῳ Κων! πόλεως βιβλιοϑήκης τοῦ παναγίον τάφου νῦν πρῶτον ἔχδεδομιέναι πλῆ-- etis μετὰ προλεγομιένων καὶ σημειώσεων ὑπὸ Φιλοθϑέου Βρυεννίέου ——— Zeopov ἀναλώμασι τοῦ ἐπὶ φιλογενείᾳ καὶ ζήλῳ τῆς re κατὰ Χριστὸν καὶ τῆς προγονικῆς παιδείας διαπρέποντος κυρίου Ti ὍΣ γίου Ζαρίφη. ᾿Εν Ἰζωνσταντινοπόλει 1875.

Theol, Quartalſchrift. Heft II. 1876. , 19

288 | Bunt,

werden, baB Bryennios bald auch eine Ausgabe be8 Bar- nabasbriefe8 und der Ignatiusbriefe veranftalten wird, Die mebft ber διδαχὴ τῶν δώδεκα ᾿Αποστόλων wu. Τοῦ ἐν ἀγέοις Ἰωάννου τοῦ Χρυσοῦεόβου Σύνοψις. τῆς Παλαιᾶς καὶ καινῆς Διαδήκης ἐν vabet UROLEZUTENOY in ben Gober gleichfalls Aufnahme fanden.

Die Bereicherung des erjten Clemensbriefes, die wir ber Auffindung de8 Codex hierosolymitanus verdanken, umfaßt ſechs Gapite[ und befteht näherhin in bem Schlußſatz von c. 57 und in c. 58—63. Der Umfang des neuen Stückes ijt hienach nicht ſehr beträchtlich und aud) ber Inhalt bietet gerade nichts dar, was über bie Unruhen in ber forintfijd)en Gemeinde und die Bemühungen ber römi- iden Kirche zu deren Beilegung ein neues Licht verbreiten fünnte. Die Bemerkung, daß das Thema des Briefes in den erjten 57 Capiteln dejfelben bereit8 hinlänglich erſchöpft [εἰ und daß in ber nun eintretenden Qüde ſchwerlich etwas Bedeutendes gefehlt haben könne ἢ), hat fid) im ganzen αἱ richtig bewährt. Der ganze folgende Theil fanm ale Schluß angefehen werden. Nach ber langen Schriftftelle, welche c. 57 angeführt wird (Spridw. 1, 23—32), ergeht in c. 58 jofort die Aufforderung, dem Wort Gotted zu ge- horchen und ben Rath, der gegeben wurde, anzunehmen, und der 9(fforb, der damit angefchlagen wird, ffingt bis zum Ende fort, wenn er auch in c. 59—61 durch andere 9(fforbe in ben Hintergrund gedrängt wird; denn in oc. 62 wird jofort wieder auf ihn übergeleitet, in c. 63 wird er ähnlich wie in c. 58 wieder in feiner Neinheit und Stärke ange- Schlagen und fortan beibehalten. Die noch folgenden c. 64

1) Hilgenfeld Die apoftolifchen Väter 74.

Ein patriftticher Fund. 289

und 65 find diefelben, die bereits bisher al8 c. 58 und 59 befannt waren.

Allein wenn aud) der Schluß nichts weſentlich Neues mehr bieten fann, jo hat er bod) eine fo eigenthiinffiche Schönheit, eine (ofd)e Würde und Feierlichleit, daß er fid) a($ die Krone des Briefes bezeichnen läßt und daß feine Auffindung mit größter Freude zu begrüßen ijt. Seine Schönheit und Würde befteht näherhin darin, daß Clemens, nachdem er den Unruheſtiftern zu bemerken gegeben, ihr fortdanernder Ungehorfam werde wohl ihnen felbft, nicht aber auch ihm Gefahr bereiten, da er vielmehr den Schöpfer aller Dinge ohne Unterlaß bitten werde, bie Zahl feiner Auserwählten in der ganzen Welt voll zu erhalten, nun in der That ein Gebet für die Gläubigen und die weltliche Obrigkeit folgen läßt. Gott der Allmächtige, fleht, ev, möge die Augen unſeres Herzens eröffnen, auf daß wir ihn ete fennen, der alles ijt und alles wirft, Erhöhung und Gr» niedrigung , Reichtum und Armuth, Tod und Leben; er möge allen Bedrängten helfen, auf daß alle Völker fehen, daß er allein Gott ijt und Jeſus Chriftus fein Sohn und wir fein Volk und bie Schafe feiner Weide; er möge bie Sünden und Mifjethaten nachlafjen, ein reines Herz und lauteren Wandel, Eintracht, Friede und Gehorfam gegen die Obrigkeit und letzterer Gefundheit, Eintracht und Stärke verleihen, anf bap fie das Amt, das er ihr übertragen habe, glücklich und ohne Anftoß verwalte !).

1) Bezüglich des vollftändigen Textes des Gebete vermweife ich -

auf bie Ausgabe ber Glemendbriefe von Bryenniod oder bie in Bälde erjdjeinenbe neue Ausgabe ber Patres apostolici von Dr. von Hefele, in ber die jüngften Funde berüdfichtigt fein werden.

19 *

290 gunt,

Diefe kurzen Andeutungen über den neuen Schluß bes Clemensbriefes mögen fier genügen und πο einige andere Punkte berührt werden. Auf Grund von Berichten und Giflten wurden über den Inhalt ber ausgefallenen Capitel 58—63 verſchiedene Vermuthungen ausgefprochen und von einigen neueren Herausgebern, wie Hilgenfeld 1) und Light- foot, ) wurden die vermeintlichen Stellen zur Ausfüllung ber Lücke fogar in den ert aufgenommen. Der oder von Syerujalem, bezw. Conftantinopel fest uns nun im ben Stand, über Grund und Nichtigkeit biefer Gonjecturen zu urtheilen und die Bilanz, bie fid) ergibt, ift micht gerade eine günftige zu nennen. Nur in einem Fall hat fich die Bermuthung betätigt. Baſilius der Gr. führt de spiritu sancto c. 29 von Clemens das Wort an: ζῇ Θεὸς xol κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς xal τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον, und die Stelle findet fid) wirklich in der mum ausgefüllten Lücke (c. 58), in die fie von Wotton ?) und den meiften Gelehrten vermiejen wurde. Nur wird von Clemens felbft das ζῇ vor χύριος wiederholt und der Glaube an das Leben des Herrn Jeſus Chriftus damit nod) nachdrücklicher ausgefprochen. Hilgenfeld bezweifelte früher, ob fid) bas Gitat wirklich. auf unfern Brief beziehe, und meinte, über bie bloße Möglichkeit fei hier jedenfalls nicht hinaus- jufommen *%). Später aber gab er den Zweifel anf 9) unb wenn er die Sache ernftlid) erwogen und fid) vielleicht

1) Novum testamentum extra canonem receptum. I. Cle- mentis romani epistulae 1866.

2) S. Clement of Rome 1869.

8) S. Clementisromani ad Corinthios epistolae duo (1718) 221.

4) Die apoftofijdjen Väter 74 Annı.

5 Nov. test. extra can. rec. I, 62.

Ein patriftifcher Fund. 29]

nicht durch eine gewiſſe Voreingenommenheit hätte beſtimmen fajfen, jo hätte er ihn gar nicht auffommen laſſen follen, ba wenn überhaupt irgendwo jo hier zur Gonjectur ein ge⸗ nügenber Anhaltspunkt vorlag. Baftlius will ja ausdrüd- (ih einen Ausspruch von Clemens anführen und bei dem apologetifch-polemifchen Charakter feiner Schrift ift von vorn⸗ herein anzunehmen, daß er mit der erforderlichen Sorgfalt zu Werk ging und aus dem Brief jchöpfte, der zu feiner Zeit allein ein volles und unbeftrittenes Anſehen genoß. Die anderen Stellen, welche auf bie fragliche Lücke bezogen wurden, finden fid in den pfendojuftinifchen Quaestiones et responsiones ad orthodoxos 74 und in ben Eflogen des Syofanne8 Damascenus I, 49. ‘Dort wird bemerft: (ei) τῆς παρούσης καταστασεως τὸ τέλος ἐστὶν διὰ πυρὸς κρίσις τῶν ἀσεβὼν, καϑά φασιν αἱ | γραφαὶ προφητῶν τε καὶ ἀποστόλων, ἔτι δὲ καὶ τῆς Σιβύλλης, καϑώς φησιν μακάριος Κλήμης ἐν τῇ πρὸς Κορινϑίους ἐπιστολῇ, und die Stelle wurde in der Regel jo gedeutet, daß Pjendojuftin den römijchen Clemens aud) das Zeugniß der Sibylle für bie Feuerſtrafe der Gottlofen anführen laſſe und von Eolomefins ') und den meiften andern dem erften, von Burton unb einigen andern dem zeiten Brief zugewiefen. Die Vermuthung ftellt fid) in der einen wie in der andern Form als unrichtig heraus. Die Sybille wird weder im erften noch im zweiten Brief erwähnt und Pfendojuftin wurde fomit mißverftanden. Statt be8 χαϑώς ift vielleicht καὶ wg ober xoi καϑώς zu (eje ober δα Referat ift überhaupt jo ungenau unb unbeftimmt, daß es als Grundlage von weiteren Schlüffen nicht zu gebraucden

1) Cfr. Jacobson Patres apostolici (1838) I, 199.

-

292 gunt,

ift. Gbenfo find amd) bie Etellen, die Johannes von Da- masfus als rov acyíov λήμενεος ἐπισχύπου Ῥώμης anfüfet: αὐτάρκης sic σωτηρίαν καὶ εἰς Je0v ανϑρώπου ἀγάπη - εὐγνωμοσύνης γάρ ἐστε τὸ πρὸς τὸν τοῦ εἶναι ἡμᾶς αἴτιον ἀποσώζειν στοργήν, ὑφ᾽ ἧς καὶ εἰς δεύτερον xal ἀγήρω αἰῶνα διασωζόμεϑα " . . . Ἐπείρασεν 6 ϑεὸς τὸν ᾿Αβραάμ, οὐκ ἀγνοῶν τίς ἦν, ἀλλ᾽ ἵγα τοῖς μετὰ ταῦτα δείξῃ καὶ μὴ κρύψη τὸν τοιοῦτον καὶ διεγείρῃ εἰς μέμησιν τῆς ἐκείνου πίστεως καὶ ὑπομονῆς καὶ πείση καὶ τέχνων στοργῆς ἀμελεῖν πρὸς ἐχπλήρωσιν ϑείου προρτάγματος᾽ ὅϑεν ἐγγραφον περὶ αὐτοῦ ἱστορίαν γενέσϑαι ᾧκονόμησεν 3)... im Codex hierosolymitanus nicht zu finden und die Anſchauung, welche früher von Nolte in diefer Zeitfchrift ausgefprochen wurde (Jahrgang 1859 S. 276), daß fie den clementinifchen Homilien entnommen wurden, wird daher als richtig anguerfennen. fein, wenn fie gleih von Hilgenfeld al8 grundlos (temere) zurückgewieſen wurde ?). Glücklicher als mit Ausfüllung der größeren Lücke, welche der aferanbrinijd)e Bibelcoder, auf bem unfer bis- Deriger Zert der Clemensbriefe berühte, am Schluß enthält, war man mit Ausfülkung der kleineren Lücken, welche fid) beinahe durch den ganzen Brief Hindurchziehen. Die er- wähnte Handfchrift ift nämlich vielfah corrupt. Buchſtaben,

1) Der erfte Theil dieſes Satzes fteht, von ἀγάπῃ dbgejeben, ba8 durch στοργή erfegt ift, wörtlich in Clem. hom. III c. 8 und ber zweite ift tbeil8 dem Sinne nad) tbeil8 wörtlich ibid. c. 7 ent- halten. 2) Cfr. Clem. hom. III. c. 89, mo wenigſtens ber Anfang ber Stelle, bie Verſuchung Abrahams durch Gott (Genef. 22, 1) erwähnt wird, wenn auch bie nachfolgende Erklärung fehlt.

3) Nov. test. extra can. rec. I, 61.

Ein patriſtiſcher Fund. 293

Silben und bisweilen ganze Worte find im Laufe der Zeit unleferlich geworden unb die Klammern, mit denen bie bis⸗ berigen Ausgaben nicht gerade zu ihrer Zierde, aber im Intereſſe der wiffenfchaftlichen Genauigkeit verjehen wurden, geben darüber näheren Auffchluß, indem mit ihnen einges Ihloffen wurde, was nicht mehr in der Handſchrift ftand, fonbern erft durch Gombination wieder gefunden werden mußte. Die Confecturen, die in biejer Beziehung angeftelit wurden, erweifen fid) nad) dem neuen Gober, der unverfehrt erhalten blieb, im ben meiften Fällen als richtig und nur ba und dort ftellen fid) Keine Differenzen heraus, durch bie . jebo der Sinn kaum oder nur wenig berührt wird. Ich erwähne diefes, nicht a(8 ob ich bie bezüglichen Abweichungen hier aufzählen wollte, fondern weil in Hinficht einer folchen Bermuthung in neuefter Zeit die Behauptung ausgefprochen wurde, ihre Nichtigkeit laſſe fid) mwenigftens als zweifelhaft bezeichnen. Bei Πέτρος oder vielmehr Πέτρον ὃς, wie der Gober von Syerujafem liest, in c. 5 ift nämlich in der alerandrinifchen Handſchrift nur og erhalten geblieben, fo dab, menn man nur bie Buchftaben ins Auge fapt, ftreng genommen nicht gejagt werden Tann, daß hier Petrus ges nannt fei und Zeller glaubte, obwohl ihm ba8 Gegentheil. al8 wahrjcheinlicher vorkam, in feinem Schreiben über bie Betrusfrage an Hilgenfeld diefen Punkt hervorheben zu follen, da die Lücke ebenfo gut mit Ἰάκωβος ale mit Πέτρος auszufüllen [εἰ und da Jakobus ebenfo zu den στύλοε gehörte, wie Petrus, unb zu den Apofteln wenigftens habe gerechnet ‚werden fünnen, wenn er es aud) ftreng ger nommen nicht gewefen (ei. (P) ) In Zukunft wird ber

l) $ilgenfelb Zeitjchrift f. tv. Th. 1876, 4T.

294 gunt,

Zweifel nicht einmal mehr in der alferleifeften Form bot» zubringen fein, da in ber neuem Handfchrift mit beftimmten Worten Petrus zu leſen ift.

Was die Bereicherung anlangt, bie wir dem Codex hierosolymitanus für den zweiten Clemensbrief verdanken, jo umfaßt fie außer dem Schluß des zwölften Gapite(8 die Capitel 13—20 und nimmt ungefähr zwei Fünftel des ganzen Schriftftüdes ein. Sie ift jomit an fid und in noch) höherem Grad verhältnißmäßig beträchtlicher als die des erften SBriefe8 und man fónnte fid) Dienad) inhaltlich von ihr mehr Neues unb Bedeutendes verfprechen. Wenn diefe Erwartung fid) nicht erfüllt, fo liegt der Grund in dem Charakter und der eigenthümlichen Dispofition δε Schriftſtückes. Daffelbe ift nämlich feim Brief, wie die Meberfchrift angibt, ba e$ überall der Briefform entbehrt und da namentlich bie Adreffe und der Gruß an der Spike fehlen, mie fie allen an einzelne Kirchen gerichteten Briefen ber Apoftel und apoftolifchen Väter eigen find. Schon Grabe Hat auf diefen Punkt aufmerffan gemacht und das Dokument für eine Homilie erklärt und für diefe Anſchau⸗ ung jpridjt in der That fo viel, daß man fid) billig ver- wundern darf, wie fie Gebhardt und Harnad in der von ihnen beforgten neuen Ausgabe der Patres apostolici von Drefjel für unbegründet erklären fonnten "). Es fehlt ja, . wie bereit8 bemerkt wurde, am Anfang die Form des Briefes und biejer Mangel wird auch nicht etwa im ert gehoben. Nirgends tritt uns der Charakter eines Briefes entgegen und die gedachte Auffaffung legte fid) fo unfchwer nahe.

1) Patrum apostolicorum operg. Ed. post Dresselianam alteram tertia, 1875 p. LXXXIX.

Ein patriftifcher Fund. 295

Daß fte zugleich vollftändig richtig ift, kann jegt, ba wir im Befig des vollftändigen Textes find, förmlich bewiefen werden. Das Dokument zeigt einerjeit8 wie am Anfang fo aud) am Schluß feine Spur von einem Brief und gibt fid) anberjeit& an einigen Stellen ganz unzweideutig als eine Homilie zu erfennen. In c. 17 werben die „Brüder“ aufgefordert, nicht bloß im Nugenblid (ἄρτι) auf die Gr» mahnungen Acht zu haben, bie bie Presbpter an fie richten, fondern der Gebote des Herrn auch eingedenk zu fein, wenn fte fid) nad) Haus begeben haben und das Schriftjtüd ftellt fid) damit ziemlich deutlich a(8 eine Anſprache dar, welche im Gotteshaus gehalten, bezm. vorgelefen wurde. Noc mehr und bi$ zum Ausschluß jedes Zweifels ijt dieß im Anfang von c. 19 ber Fall. Die Stelle lautet: „Daher (eje id), Brüder unb Schweftern, nachdem die Bücher des Gottes der Wahrheit vorgelefen worden find, eine Ermahnung vor, auf daß ihr Acht habt auf das, ma$ gejchrieben {{{| damit ihr fowohl euch als mich rettet, der ich euch vorleje" und fie ijt fo ungmeibeutig, daß bie Frage, ob das Doku⸗ ment ein Brief oder eine Homilie ift, fortan als erledigt gelten darf. Die Tendenz der Homilie ijt aber praktiſcher Art. Die Gläubigen [offen zur Erfüllung ber Gebote Gottes und zur Buße ermuntert werden und diefem Gefichtspunkt ordnet fich der übrige Cyubaft unter. Die Aufforderung, den Willen Gottes ohne Furcht vor Marter unb ob zu tjun, findet fif) [don in c. 5; fie kehrt menn auch mit einiger Variation in den folgenden Capiteln immer wieder und bet diefem Sachverhalt ift e nicht zu verwundern, wenn das neue Stück Feine beſonders überrafchenden Auffchlüffe bietet. Die Variation über ba8 Thema zieht fid) einfach weiter und menm e8 auch an einigen neuen Gedanken nicht

296 gunt,

gerade fehlt, wie 3. DB. bie Ausführung in c. 14 über bie erfte und geiftige Kirche zeigt, welche vor der Sonne unb dem Mond gegründet morben fei, fo find fie bod) nicht von hervorragender Bedeutung. AL das Wichtigfte dürften wohl bie bereits mitgetheilten Stellen zu betrachten fein, durch die die Frage über den Charakter des Schriftftückes definitiv gelöft wird.

Wird hienach bezüglich, des zweiten Clemensbriefes eine Trage von der literarifchen Tagesordnung fortan verjchwin- den, jo fcheint dagegen eine andere wieder aufleben zu wollen, nadjben: fie geraume Zeit verftummt war, die Trage nad ber Acchtheit des Dokumentes oder mad) feiner Abfaffung durch den römischen Clemens. Bryennios legt wenigftene ba8 Gewicht feiner Stimme für die Aechtheit in die Wag- Schale, indem er behauptet, daß nichts Dinbere, es bem römischen Clemens zuzufprechen, da ἐδ alle die Merkmale ber Einfachheit trage, am denen die Schriften der apoftolifchen Männer zu erkennen feien, und da ἐδ, foweit er zu urtheilen vermöge, in ber Schreibmweife bem apoftolifchen Clemens nicht fremd [εἰ 7). Seine Anficht wird indefjen fchwerlich durch⸗ dringen. Er mag zwar als Grieche mehr als ein anderer im Stande fein, über die ſprachliche Seite ber beiden in SBetradjt fommenben Schriftſtücke ein Urtheil abzugeben und feine Stimme wird immerhin Beachtung verdienen. Allein er fcheint über die Frage etwas zu raſch Hinmweggegangen zu fein und vielleicht erlag er ber in folchen Fällen nicht jeltenen Verfuchung, dem Funde, ben ev madjte und durch ben fein Name mit der Gefchichte der clementinifchen Briefe in bauernber Verbindung erhalten werben wird, einen höhern

1) €. bie Prolegomena zu feiner Ausgabe c. 24.

Ein patrifttfcher Fund. 297

Werth beimeffen zu molfen, als ihm an fid) aufommt. Er fügt fid) wenigftens in feine weitere Unterfuchung ein, er beſchränkt fid) auf eine einfache unb bloße Behauptung und diefe fanm für uns um jo weniger maßgebend fein, a[8 die Iprachliche Differenz burdj bie Auffindung der zweiten Hälfte bet Schrift fid) nod) größer darſtellt als fie ſchon zuvor erſchien. Iſt fie auch nicht ganz fo groß, als zumeilen am» genommen wurde, fo ift fie doch unverfennbar vorhanden und der zweite Brief fteht, was Einfachheit und Klarheit der €pradje, Dispofition des Stoffes und Portfchritt des Gedankens anlangt, hinter dem erften fichtlih zurüd. Er madt ben Ginbrud, als ob ber Verfaffer feine Gedanken gerade fo zu Papier brachte, wie fte ihm eben im bie Feder famen, und um ihre weitere Ausführung und Tünftferijd)e Anordnung fid) nicht fonderlih bemühte. Die Partikeln γάρ, ὥστϑ unb οὖν find daher ungewöhnlich zahlreich und in ähnlicher Fülle dürften fie mur felten zu finden jein. In e. 10 beginnen drei Säge nad) einander mit yao, in c. 15 ftebt die Partifel fünfmal unb wenn diefe Eigenthümlichkeit viel leiht weniger ins Gewicht fallen follte, da wir ihr ad) wenn gleich, nicht in demfelben Maß im erften Brief be» gegnen, [o ift dagegen noch Hinzuzunehmen, daß fünf Kapitel mit cte, neut mit οὖν beginnen u. f. m. Die häufige Wiederkehr der Aufforderung zur Beobachtung der Gebote Gottes wurde Schon zur Sprache gebrad)t. Diefe Verſchie⸗ benheiten fchließen nun allerdings, was bem gelehrten Metro⸗ politen einzuräumen ift, die Identität des Verfafjerd mod) nicht nothwendig aus und fie laffen fid) vielleicht jegt nod) eher erflären als früher, indem fie fid) theilmeife auf ben derfchiedenen Charakter der fraglichen Schriftftüde zurüd- führen lajfen. Sie würden auch, menn εὖ fid) um fie allein

298 gunt, Gin patvifti[djer Fund.

Bandelte, von feinem befonmenen Kritiker zu [efr betont worden fein. Allein zur Sprachlichen Differenz gefellt fid). nod) eine febr mangelhafte äußere Bezeugung des Briefes, indem er er[t von Eufebins h. e. III. c. 38 und zwar mit bem Beifag erwähnt wird, er fei nicht jo belannt wie der erfte, weil er von ben Alten nicht gebraucht worden jei, und bei diefem Sachverhalt ijt jene nicht gänzlich) außer Acht zu laffen, wenn fie auch für fid) allein nicht viel zu bemeifen vermag. Das Schweigen der Alten felbft ijt freilich jeßt, da ber Domifetijdje Charakter des Schriftftückes feſtſteht, wieder beſſer begreiflich; denn derartige Anfprachen wurden häufig gehalten und bie eine und die andere mag auch fchrift- fid) .firirt worden fein, ohne daß ifr Vorhandenfein in ber Literatur deßwegen befonders bemerkt wurde. Wenn aber. auch das zuzugeben ijt, fo fehlt immerhin εἶπε genügende Gewähr für die Abfaffung unjerer Homilie durch Clemens unb fo wird fid) diefe nicht eigentlich behanpten laſſen. Ihr Anhalt weist zudem wenn aud) nicht mit voller jo bod) mit annähernder Sicjerheit in das zweite Jahrhundert hinüber, indem die Gegner, bie in c. 9 bekämpft werden unb deren . Grunbjag mar, ὅτε αὕτη σάρξ οὐ κρίνεται οὐδὲ ανί- σταται, wahrſcheinlich Gnoftifer waren, und fo werden wir auch baburd) von dem römiſchen Clemens entfernt. Zur Sewißheit oder zu einer mod) genaueren Beitimmung ber Entftehungszeit wird ἐδ aber bei ber ienfaftigfeit und Unvollftändigleit unferer Nachrichten über bie firchlichen und religiöfen Verhäftniffe in den beiden erften Jahrhunderten nicht zu bringen und die Frage, ob der Urfprung ber Homilie in bieje8 oder jenes Jahrzehent oder ſelbſt Vierteljahrhundert falle, al8 eine offene zu betrachten fein.

II. Recenfionen.

1.

Die Sonntagdruße vom Standpunkte der Geſundheitslehre, gemeinverftändlicy abgehandelt von Dr. Paul Riemeyer. Gekrönte Preisſchrift. Berlin 1876. Denide’3 Verlag. 8. IV unb 75 ©.

Die Fachmänner auf dem Gebiete der Politik umb der Geſellſchaftswiſſenſchaft ſagen ἐδ uns und die Erfahrung bejtätigt ἐδ, daß e8 gar manche fociale Schäden gebe, denen jede aud) bie früftigite und umfichtigfte Regierung machtlos gegenüber fteht und für bie e8 eine Heilung nur gäbe burd) Mittel, deren Anwendung ſchlimmer wäre als das Uebel, welches inan heilen möchte, weil fie zahllofe Einzelrechte verlegen und taufende von Eriftenzen bedrohen wärde. “Die Anhäufung des Kapitals in immer wenigeren großen Gentren, der Ruin des Seingemerbe8 durch bie Maſchine unb bie Sewerbefreiheit, ba$ Anwachſen des befitlofen Proletariats, Ausbeutung des Kleinen Grundbefigers durch Wucher und unbedingte Gütertheilbarleit diefe und ähnliche Dinge muß man, mie ἐδ (dint, einfach über die Geſellſchaft er» gehen laffen und von ber Zeit felbft ba8 Heilmittel erwar- ten; unb in ber bangen Erwartung ber Kataftrophen, welche

300 Stiemepet,

einer Beflerung der Zuftände vorhergehen müjjen, erinnert man ſich dann wohl zuweilen der höhern moralifchen Hilfe- mittel, welche geeignet fein fünnten, ber immer mehr um fid) greifenben Demoralifation und Verwilderung der Maſſen entgegenzuarbeiten,, freilich meift unter der Vorausſetzung, daß die Demoralifation nur in den niedern Schichten zu juden und daB die Bófern Klafien durch einen gewiſſen Grab der Bildung dagegen gefichert feien; man vergißt, daf die Entfittlihung von oben, von den höhern Ständen au: gegangen ijt und zum Xheil nod) ausgeht, und daß that- fächlich gerade eine Art von Bildung Libertiniftifch gemacht und Glauben und Treue, Religion und Sitte und damit eben die rechten moralifhen Mächte untergraben hat.

Es gibt aber aud) Schäden des gefellfchaftlicheu Lebens, welche nicht nur deutlich und greifbar hervortreten und barum faßbar find, fondern and) mit vergleichsweife geringem Kraft: aufmanb gehoben werden fünnten. nter diefe zählen wir wie ber Verfaſſer der vorliegenden Schrift bie Entheili- gung bes Sonntags, meídje ganz befonders darin be= fteht oder darin wenigftens ihren Grund bat, daß der Sonntag den arbeitenden Klaſſen nicht als Ruhetag ge- gönnt wird. É

Mit ber Sonntagsfeier verhält es fid) nicht mie mit focialen Experimenten, welche fid erjt bewähren müjfen ; fie braucht nicht erft wie manche Neuerungen mit Weberwindung alter VBorurtheile dem Volke annehmbar gemacht zu werden; ja fie braucht überhaupt nicht erjt eingeführt zu werden, man fol fie nur bejtehen laffen und man ſoll die Millionen, welche fie beibehalten wollen, in Schuß nehmen gegen bie Wenigen, welche fid) über bie Andern, über die „weißen Sklaven“, Gewalt angeeignet haben und ihnen den Sonntag

Die Sonntagsruhe vom Standpunkte ber. GejunbbeitSlebre. 801

rauben. Man braucht mit ber Wiedereinſetzung des Sonn⸗ tags in ſeine alten Rechte kein Gewiſſen zu verletzen, kein religiöſes Gebot außer Kraft zu ſetzen, man begegnet keinem ſittlichen Bedenken. Die Sonntagsfeier verwundet auch kein einziges Menſchenrecht und bringt Niemanden auch nur den geringſten Nachtheil. Ihre Durchführung erfordert fein Beamtenheer, kaum einen ſtaatlichen Machtaufwand. Sollte ᾿ (8 wirklich an ber Einficht der leitenden Kreiſe in die Der deutung der Sonntagsfeier fehlen ?

Seit man in der Gejellichaftslehre angefangen hat, religiöfe Einrichtungen und Uebungen wie alte Vorurtheile zu. behandeln ober wenigftens mit Mißtrauen anzujehen, müffen die Wahrheiten, welche den ehrwürdigen Traditionen der Religion zu Grund liegen, von den Vertretern anderer Wiffenfchaften joguíagen neuentbedt und verfünbigt werden. Ein folcher Prediger, zwar nicht der Religion, aber bod) der Humanität hat uns num den Dienft getan, in klarer unb beftimmter Begründung den Werth und die Nothmendig- feit der Sonntagsruhe nachzuweiſen. Herr Niemeyer weiß als Arzt nicht nur aus medicinifchen Theorien heraus fondern vermöge feines vielfeitigen und langjährigen Ver⸗ kehrs mit den verfchiedenften Klaſſen ber Geſellſchaft, nament- (ij aber mit der Klaffe der niedern Bedienſteten und bet Arbeiter, aus bem Leben Heraus zu entwickeln, wo bie Schäden unfrer Sorietät liegen. Der Titel feiner Schrift verheißt eine Beleuchtung der Eonntagsfeier nur aus dem Gefidjtépuntt ber Geſundheitslehre; in Wirklichkeit aber greift die Schrift viel weiter, indem fie die Verbindung der $ygieine mit ber Volkswirthſchaft aufweist und demnach die Bedeutung der Sonntagsruhe für die Gre haltung der Volkskraft und Gefundheit, mithin für einen

LI

302 Stiemeber,

ber gewichtigiten Faltoren des Nationalmohlftandes darlegt. Ya der Sufammenbang zwifchen der Gefundheitslehre und ber Volkswirthſchaft ift ein fo inniger, daß man unaus- weidjfid) zu ber Gonc(ufion gedrängt wird: ft der Nad- weis richtig geführt, daR bie Sonntagsruhe nad) 6 Arbeits- tagen eine phyfiologifche Nothwendigkeit und ein unabweis- bares Bedürfniß für bie körperliche Geſundheit ijt, fo folgt, darans erftens die fittfid)e Nothwendigkeit für bie Gejell- Schaft, bie menfchenmörderifche, Leib und Seele zerrlittende Sonntagsarbeit zu verhindern; und diefe Pflicht fülít mit doppeltem Gewidjt auf die Lenker der Staaten. Zweitens aber folgt, daß die Intereſſen der Volkswirthſchaft felbit am beiten wahrgenommen werden, wenn man allgemein zur Aufredthaltung der Sonntagsruhe 3nrüdfefrt. ‘Denn die Schonung der Volkskraft und Gefundheit erfegt den Ausfall an Arbeitszeit überreich , jefbft wenn man die Sonntags- arbeit bei jenen Anftalten und Gefchäften, deren Stillefteheen am Sonntag für eine gejchäftliche Unmöglichkeit gehalten wird, mie 3. 3B. den Verkehrsanſtalten, Hocöfen, Salinen, merklich einſchränken würde.

Seinen Beweis nun aber hat Hr. N. erbracht, wie man ihn eben vom phyſiologiſchen und anthropologiſchen Standpunft erbringen Tann ; es wird and) mit der noth- wendigen Beftimmtheit darauf aufmerffam gemadt, daß man den Menschen nicht blos als einen Gompler von Glied- mafjen oder Organen betrachten dürfe, fondern als ein geiftiges Weſen, deſſen perfünlich-moralifches Wohlbefinden richt am wenigſten feinen Werth als Arbeitsfraft und Glied de8 Ganzen mitbedingt unb das nicht einzig nur von Luft imb Waffer und fonftigen materiellen Erijtenzmitteln abhängt.

Die Sonntagsruhe vom Standpunkte der GejunbbeitSlebte. 303

Ein rechter. Schiiler des Hippofrates vergißt da8 mens sana in corpore sano nidt.

Dennoch ijt für uns der fragliche Beweis nod) fehr unvollftändig unb ungenügend; er müßte auf bem Wege der pibdjofogijdjet und der religiöfen Betrachtung weiter geführt und ergänzt werden. Wir jhäten wie N. den Werth bet Sonntagsruhe für bie Reftauration der fürperfid)en Organe und den Werth der für die Gefundheit [o wichtigen Elemente, der frifchen Luft, ber Neinlichkeit u. f. w.; wir anerfennen die Bedeutung der gefelligen Freude; wir fdjügen nod) mehr die Familienhaftigkeit und bie Pflege des Familienfinnes unb Samilienlebens, und es gehört unfers Erachtens zu den θὲς achtenswertheiten Punkten der vorliegenden Schrift, daß bie Bedeutung der Sonntagsfeier für das Familienleben in ein helles Licht gejebt unb auf bie Ueberfchägung des Vereins⸗ wefens, der Arbeiterbildungsvereine u. dgl. aufmerkfam ge» macht wird; aber in all den liegt noch nicht der ganze und volle Segen der Sonntagsfeier. ‘Derjelbe Liegt vielmehr darin, daß ber Menfch fid) feiner höhern Beftimmung bez wußt wird, bap er in Gottesdienjt und religiöfer Erhebung fif ale Bürger eines höhern Reiches fühlt, in welchen fein Unterfchied gilt zwifchen arm und reich, bod) unb niedrig; daß er wieder fittlic) gefräftigt wird, um feine irdifchen Pflichten im rechten Geifte zu erfüllen, fein Loos als ein von Gott ihm befchiedenes zu tragen, die Leidenfchaften in fif niebergubrüden und fid) der gejellffchaftlichen Ordnung mit bem Bewußtfein fittlicher Verantwortlichkeit einzufügen.

9t. hat vom Humanitätsftandpunkt aus vortrefflich und mit warmem Gefühl nadjgemiejen, wie bie Sonntagsfeier auf die Moralität ebenfo wie auf bie fürperfidje Leiftungs- fähigkeit der arbeitenden Klafjen wohlthätig einwirken könnte;

Theol. Quartalfeprift. 1876. Heft 11. 20

304 Niemeyer,

er hat ferner energifch dargethan, daß alle Surrogate für den regelmäßigen wöchentlichen Ruhetag, wie Abkürzung des Rormalarbeitstages, die abendlichen Unterhaltungen bei fajt nothwendigem Alkoholgenuß ober gar der „blaue Montag“, mehr fdjaben aí8 fügen, namentlich in moralifcher Hinficht. Er madt fid) endlich ein ganz artiges Bild zurecht von ber rechten Sonntagsfeier auch in den gedrüdteften Klaſſen. Aber eines fagt er und nit, nämlich mie es zu machen fei, daß diejenigen, für welche eine humane Gefeßgebung hauptffichlich in diefer Beziehung Sorge zu tragen” hätte, ihren Sonntag auch wirklich in der gewünfchten Weife halten. Dean fann wohl burd) ftrengere Gefege Sonntagsarbeit ver- hindern, die öffentlichen llebertretungen beftrafen; man Tann darüber wachen, daß bie Gefege nicht auf betrügerifche Art umgangen werden, daß 3. B. in Fabriken nicht der Sonn- tag fondern der Feierabend des Samftags für Reinigung der Mafchinen u. dgl. beftimmt würde; man Tann gegen folche Art der öffentlichen Quftbarfeit, welche dem Sonntag den Charakter der Weihe und Feierlichkeit raubt, einfchreiten. Ya Ref. würde fid) viel eher mit einer an englifch-ameri- fanijdjen Nigorismus angrenzenden Strenge der Sonntags- feier befreunden fünnen, als mit der faft totalen Ungebun- . benfeit und polizeilichen Synboleng, welche anderwärts ob- maítet und aus welder fo viele Entheiligungen, Exceffe und Skandale aller Art hervorgehen, bie bem Tag be8 Herrn zum Tag be8 Fluches machen um der Sünden willen, weldje an ihm gefchehen. Wie gejagt, die Polizei fünnte da vieles thun, aber die Hauptfache zu bewirken ift. fie unmächtig, fie kann nicht machen, daß der Sonntag wirflih gefeiert, geheiligt werde. Auch die englifch-amerifanifche Polizei fünnte die Sonntagefeier im puritanifchen Sinne nicht neu

Die Sonntagsruhe vom Stanbpundte ber Geſundheitslehre. 305

einführen, nicht einmal bie beitehende erhalten, wenn fie nit Schon in die Sitte des Volkes übergegangen wäre; und die Sitte felbft würde nicht Beſtand haben, wenn fie nicht von der Religion getragen und erhalten würde. Wir ac« ceptiven nun gerne, „daß iuft die Länder, welche durch ftrenge Sonntagsfeier berühmt find, nämlich Gnglaub und Amerika, uns Deutschen, die wir uns Wochen und Coni tags quälen, an Wohlftand und Behaglichkeit weit überlegen find”, ebenfo wie das Wort Macaulay’s: „Wäre hier zu Lande feit 300 Jahren der Sonntag nicht al8 Ruhetag ge- feiert, wäre an diefem Tage mit Haden und Spaten, Hammer und Klöppel gearbeitet worden, wir wären ein weit ärmeres und weniger civilifirtes Voll“. Wir find aud mit N. der Anfiht, daß die Befreiung von der Sonn- tagsarbeit einen civilifirenden und beffernden Einfluß auf die arbeitenden Klafjen ausüben Tónnte. Aber die rechte Sonntagsfeier jet ſchon Moral voraus und diefe muß in der Religion gegründet fein. "Die religiöfe Strenge ber Buritaner hat die vigoriftifche Sonntagsfeier zum Gefek gemacht , nicht umgelehrt hat ein ftrenges Polizeigeſetz den religiöfen Ernft erzeugt, der im Puritanismus zu Tage tritt.

Es ijt nicht diefes Orts, den Punkt zu bezeichnen, wo unjere religiöfe Anfchauung fid) von der puritanischen fcheidet. (6 Sollte hier nur darauf aufmertjam gemacht werden, daß man gute Sitten nicht durch Gejete, wohl aber gute Geſetze Qu8 guten Sitten madjen fann; unb die wahren Freunde des Volkes werden bod) wieder die Religion zu Hilfe nehmen müffen, weil tur aus einer reinen Religion reine und gute Sitten hervorgehen. (6. ijt immer diefelbe geheimnißvolle Wechſelwirkung: bie Erhaltung der rechten Ordnung in ber

20 *

306 Bad,

Natur wirkt fittigenb auf den ganzen Menfchen zurück; aber damit die rechte - Ordnung bewahrt werde, muß der Menſch ion von fittlihen Antrieben bewegt werben; bloße Rück⸗ fihten der Nützlichkeit ober Zwechmäßigkeit beftimmen den innern Menfchen nicht, fonbern nur ein ernftes, auf Neligion begründetes Pflichtgefühl.

Bleibt demnach die vorliegende Schrift für eine uni- verjellere Betrachtung einjeitig und ungenügend, weil fie vom religiöfen Stoment fo gut wie abfieht und auch 2. 9. der mofaifchen Gefeßgebung nicht nah allen Seiten Hin gerecht wird, fo verdient fie bod), für das was fie- leiftet und leiften will, bie volle Aufmerkſamkeit aud) der Theo⸗ logen, denen wir fie angelegentlich empfehlen möchten.

linfenmann.

2.

Die Dogmengeihihte bes. Mittelalters vom qhriſtologiſchen Standpunkt oder bie mittelalterliche Chriſtologie tom adteu bis ſechzeuten Jahrhnudert von Dr. Joſeph Bad, Profeffor und Univerfitätsprediger an ber Ludwig-Mari- miliang-Univerfitäit Münden. I. Theil: Die tmerbesbe Scholafil. Wien 1873. Wilhelm Braumüller, 8. 8. ef und Univerfitätäbucdhhändler. 6°. XVI wu. ©. 451. Deſſelben Werkes: II. Seil: Anwendung der formalen Dialektik anf das Dogma tow ber Berfon Chrifti. Realtion der poſitiven Theologie. Wien 1875. Wilhelm Braumüller. 69. XVI τ. ©. 767.

Da weder ber er[te noch der zweite Band des oben- genannten Werkes von Bach an die Redaktion der Quar-

Die Dogmengeſchichte b. Mittelalterd v. Kriftol. Standpunkte. 307

taljchrift zur Beſprechung eingefandt wurde, war eine folche auch überhaupt nicht beabfichtigt und menm mir nun dennoch) in eine folche eintreten, fo (iegt bie Veranlaffung darin, daß fiherem Vernehmen nad die hochbedeutfame Schrift nur ganz geringen Abjag bisher gefunden und die Vollendung derfelben aus biejem leidigen Grund ernftlich bedroht ijt. Wie Schon aus dem Titel erfichtlich, beabfichtigt der Berfaffer bie Entwidlung des chriftologifchen Dogmas von . bem durch bae fechite öfumenifche Eoncil von Conftantinopel (680) erfolgten Abfchluß ber Weonotheleten-Streitigkeiten bis dahin zu verfolgen, wo „eine neue Weltära ihr Meorgenlicht über das untergehende Mittelalter wirft.“ Da ber Vers faffer aber eine Dogmagefchichte des Mittelalters vom chrifto- logischen Standpunkt, nicht eine Gefchichte des Dogmas von der Perfon Chrifti jchreiben wollte (Dierüber unten), fo erklärt ἐδ fid), wenn gleich im erften Band neben den djrijtofogis iden Tragen noch eine Reihe anderer dogmatifcher Mlaterien behandelt werden. Zunächſt befpricht er bie Lehre der griechi« [den Theologen, beſonders ausführlich den Pfeudo-Areopagiten, den Abt Marimus Confeffor und Johannes von Damaskus, in’ einem weiteren Abfchnitt behandelt er die Chriftusvor- ftellungen, wie fie bei Cädmon und andern für die Angel: lachjen, in Heliand und Otfried’8 Chrift für bie Sachjen und Franken popufarifirt worden find. Sofort gibt er eine ausführliche Geſchichte des Adoptianismus und feiner Gegner, nicht minder ausführlich werden bie Abendmahlsftreitigfeiten des 8. und 9. Jahrhunderts (Paschafius Radbertus und feine Zeitgenoffen) und in einem fpätern Abfchnitt die im 12. Jahrhundert an Berengars Auftreten fid) anfnüpfenden Streitigkeiten und Fragen über daffelbe Myſterium ebenfo betailfirt behandelt. in längerer Abfchnitt ift bem Gott.

308 Bach, '

Schalfichen Streit, feinen Gegnern und Bertheidigern gewid⸗ met. Endlich befpricht er aud) das theofogifche Syſtem des Scotus Erigena und bie Anfelmifche Lehre über Freiheit, Sünde und Genugthuung.

Der zweite Band befpricht zunächſt die wiſſenſchaftlichen Hilfsmittel - der Theologie de8 12. Jahrhunderts, den Porphyrius und Bosthiuns, um fid) dann zu den von 39. jo genannten „Dialektifern“ zu wenden, jenen Theologen nämlich, welche die von den obengenannten Schriftitellern überlieferte Ariftotelifche Schuldialektik ernftlich auf bte chriſt⸗ lichen Dogmen das von ber Perſon Ehrifti infonderheit an⸗ zuwenden verfuchen, mie ber Verfaffer meint nicht ohne bem überlieferten Glaubensinhalt ba und dort Gewalt anzuthun. Um die befanntern Namen zu nennen, fommen bier Roscellim, Petrus Abälard (befonders ausführlich), Gilbert von Poitiers, Petrus Lombardus, Robert Buleyn u. a. zur Behandlung, indem zugleich bie fofortige Heftige Oppofition eines Wilhelm von St. Thierry, Bernhard u. a. mitbefprochen wird. Aber bie fuftematifche Oppofition, welche vom pofitiven Glau- bensftandpunft aus mit den Waffen derfelben Dialektit deren Weberfchreitungen zurückweiſt, folgt nad. An ihrer Spige ftehen die Vertreter der „fpeculativen Syſtematik“, wie fie 29. nennt, bie Myſtiker wie wir fie lieber mit ben hergebrachten Namen bezeichnen: Rupert von Deut imb die großen DVirtoriner, Hugo, Richard und Walther von St. Victor. Unter dem vielleiht nicht ganz pajfenben Titel: „Sefchichte des Adoptianismus des zwölften Jahrhunderts“ wird dann die Polemik Gerfodj8 von Keichersberg gegenüber der Chriftologie ber Dialektifer erörtert, ein weiterer fehr weitläufiger Abfchnitt behandelt dann die Theologie dieſes bisher nur wenig bekannten großartig angelegten Myſtikers

Die Dogmengefhichte b. Mittelalters v. chriftol. Standpunkte. 309

Gerhoch und feines gleichfalls fajt unbefannten vortrefflichen Bruders 9(ruo von Reichersberg. Ahr numittelbares Ein⸗ greifen in die Geſchichte ihrer Zeit und ihre perfönliche Güte wirkung auf einzelne pofitive chriftologifche Entjcheidungen abend- und morgenländifcher Synoden wird ebenjo wie bet bleibende dogmatifche Werth ihrer Aufftellungen eingehend erörtert. Den Schluß des Bandes bildet eine nur ffizzirte Gejdjidjte der „Kontroverfe über das Ausgehen bes bf. Geiſtes.“ Ein allerdings dringend nothwendiges Sad und Namens regifter wird uns am Schluß des nod) ausftehenden dritten Theil in Ausficht geftellt (II, ©. X).

Ein reicher Stoff, wie ſchon dieje kurze Meberficht zeigt und dabei vom DVerfafjer mit ungewöhnlicher Erudition θὲς handelt, wir haben offenbar eine Arbeit vieler Jahre vor und. Die behandelten Gegenftände find durchgängig aus den Quellen bearbeitet, für eine ziemliche Neihe von Theo» logen und Schriften, fo namentlich für den wichtigen Abs ' Ichnitt über Gerhoc und Arno von Neichersberg fußt ber SBerfajfer auf nod) ungebrudten Handfchriften der Münchener, Klofternenburger, Admonter, Lambacher, ber Wiener Uni- verfitäts- Bibliothek und anderer. Aber auch die vorhandenen Vorarbeiten fennt er in feltener Vollſtändigkeit, ſelbſt auf in Zeitfchriften verftreute Aufſätze nimmt er fFritifche De» ziehung und man ift erftaunt, bei SBejpredjung des Begriffs des himmlifchen Raumes die freilich mehr nur angehängten Berweifungen auf die mathematifchen und phyſiologiſchen Arbeiten von Genf, Riemann unb Wundt zu finden (II, 702), nur ein Beifpiel der feltenen Belefenheit des Ver⸗ fajfer8 in fdjeinbar. ganz entlegenen Gebieten. Und daneben die betaillirtefte Kenntniß der patriftifchen Schriften wie der Scholaftiter herab bis auf den Spracdgebraud,

310 Bad,

Beweis feines wahrhaft eifernen Fleißes. So gelang ἐδ dem Berfalfer, in manden der von ifm behandelten Barthien neue Gedanken herauszuftellen, aud) wo er fif) in wohlbefanntem Geleife bewegt wie 3. 3B. in der Satisfactions- lehre Anfelms überrafcht die Genauigkeit und Schärfe, mit ber er ba8 von Vorgängern Veberfehene herausitellt und in's rechte Licht (egt. Die ganze Arbeit durchweht ein indeß milder apologetifcher Grundzug. namentfid) gegenüber der Willkürlichkeit, mit ber fid) proteftantifche Dogmen⸗ Dijtorifer ba& überlieferte Material nach einem vorausgefeßten logischen Begriffsſchema willkürlich zurechtgefchnitten haben. So tritt er denn namentlich bem Vorwurf des Eutychianismus, den man gegen bie ganze Entwicklung der chriftologifchen Xehre vom 6. allgemeinen Goncil an erhoben hat, mit aller Schärfe entgegen, wobei er aud) auf die früheren Väter zurückgreift und Ausdrüde wie SecvdQguxr, ἐνέργδια, μία φύσις σεσαρκω- μένῃ nad) Zufammenhang und Sprachgebrauch zu rechtfertigen jucht (I, 48, 49) und indem er Johannes von Damaskus gegen die Vorwürfe von Baur und Dorner auf Rüdfall in Monophyfitismus vertheidigt (I, 62), trifft er unferes Erachtens zugleich aud) den richtigen SDunft in der Auffaffung des Papſtes Honorius (I, 62): „Da in Chrifto nur Ein Wollender, weil Eine Berfon ift, fo ift der Wille ein doppelter, der Alt des beftimmten Wollens ift Einer, eben ber Alt der Einen Perjon des Wollenden, welcher nad) beiden Naturen milf. Da nun in ber Perfon GBrifti fein Gegenfag ober Widerſpruch zu denken ift, fo ift auch fein Widerfpruch in dem Akte der Bethätigung des doppelten Willens, welcher Akt eben das gottmenjd)fid)e Wolfen ift“ (vof. aud) I, 65e). Weiterhin ftellt B. gegenüber proteftantifcher Befehdung bie Perennität ber Tatholifchen Abendmahlslehre feft, zeigt wie

Die Dogmengefhichte b. Mittelalters v. chriſtol. Standpunkte. 311

fein einziger Tatholifcher Schriftfteller der Vergangenheit im Sinn der Modernen ein „Symbol“ ohne Inhalt fent, nen find hier namentlich die Ausführungen über den Sinn be8 owe πνευματικόν oder fchlechtweg πνϑῦμα in feiner Anwendung auf den Leib Gbrifti im Abendmahl (II, 624 f. u. 0.) Die Ausführungen eines Rupert von Deus, Gerbod) und Arno von Neichersberg eben über biejen pues: matifchen, b. i. „über bie niederen Zeit und Naumesgrenzen erhobenen“ Leib Ehrifti Hatten diefe Münner lange Zeit auch bei katholiſchen Theologen in den Verdacht der Ubiqui⸗ tätslehre gebracht, einen Verdacht, den bie beiden letztge⸗ nannten Männer mit langer Unbelanntfchaft büßen mußten, da die Jeſuiten fich wohl hüteten durch die Herausgabe ihrer Werke den Iutherifchen Gegnern Waffen in die Hand zu brüden (II, 740 f). Durch genaues Eingehen auf die diesbezüglichen Ausführungen der genannten Männer mit ihren tiefern bogmatijdjen Vorausſetzungen gelang e8 B., fie volfftändig von dem bisherigen Verdacht zu reinigen. Bei Gottfchalf weiſt B. mit Recht auf bie in feiner Lehre ge- ftgene Leugnung der Realität der &aframente und bie eben» damit bedrohte Realität der fichtbaren Kirche als das bei feiner Beurtheilung maßgebende Hauptmoment Bin (I, 239), Poschaſius Nadbertus wird in orthoborem Sinne verftanden, inbeB zugegeben, daß feine Lehre von vielen mißverftanden wurbe (I, 181) und in diefem verkehrten Sinn ben Anlaß zu der SBofemif Berengars gab. Letzterer gab nad $3.6 Darftelung die Lehre von einer Verwandlung des Brotes und Weines in Chrifti Leib zu, aber mit Proteft gegen des Paschafins Annahme einer eigentlichen Neu— Schaffung des Leibes Chrifti und verwahrte Π wur gegen „feine Präfenz quantum ad sensualitatem", allein

,

312 Bad,

fein Begriff einer „intellektuellen geiftigen Gegenwart Chrifti“ drohte allerdings die wirkliche, veale Gegenwart felbft zu - verflüchtigen (I, 364 ff. 406). Sehr verbienftoolf erfcheint die Einleitung des zweiten Bands über bie mangelhaften wiffenfchaftlichen Hilfsmittel der älteren Scholaftit, über die Entftehung des Realismus unb Nominalismus, welch fegtevent 8. einen ganz anderen, ja von Duns Scotus an weit übers wiegenden Einfluß zufchreibt, a(8 die Vertheidiger ber Scho- fajtit gewöhnlich zugeben wollen. Ganz bejonber& hoch müfjen wir endlich das Verdienft $9.6 anfchlagen, daß er uns nidt bloß mit den berühmten faft vergeifenen Myſtikern Gerhod) und Arno von Heichersberg wieder befannt gemacht (vgl. feine Abhandlung in der öfterr. Vierteljahrsſchr. IV, 19 bi8 118), fondern durch reichliche Auszüge aus ihren zum Theil nod) ungedructen Werken uns eine nähere SSefannt- Schaft mit diefen hochbedeutenden Männern ermöglicht hat. Durch die Otepinbication diefer deutjchen Theologie hat er in die Dogmen- unb Kirchengefchichte des 12. Jahrhunderts geradezu ein neues Blatt eingefügk, indem er uns nicht bloß in bie tieffinnige Myſtik diefer Männer eingeführt, fondern auch die Hiftorifche Bedeutung derfelden erſtmals mit epi denten Gründen verfochten hat (vgl. bie gegen Reuter, Ge- ſchichte Alexanders III. u. a. unferes Erachtens nunmehr vollftändig gelungene Rechtfertigung der Reichersberger Chronik mit ihren Nachrichten über das Concil von Sen® 1164, den Brief Aleranders III. an Arno 2c. II, 720—722).

Dies einige Proben von bem Reichthum des hier ges botenen, im Ganzen gut gruppirten und überaus fcharfjinnig

1) II, €. X: „Die Herausgabe eine8 Tomus anecdotum der vorzüglichften handfchriftlichen Quellen muß auf günftigere Umstände warten.”

Die Dogmengefchichte b. Mittelalters v. chriſtol. Standpunkt. 313

behandelten Materials. Die Unparteilichfeit, mit welcher der Verfaſſer immer beide Bartheien reden läßt, ift wahrhaft rühmenswerth und thut er ſich fier und ba in ber Ser» theidigung auch von ihm nicht getheilten Anfichten faft zu viel, fein Eifer alles möglichit tief zu fallen, hat ihn wie wir noch jehen werden ebenfalls nur zu weit geführt. Wir fehen hinein in den Kampf der been und gewinnen damit ein wahres und zutreffendes Bild der Scholaftil mit ihren Vor: zügen und Schwähen. So wenig ber Verfaſſer fein Lob am rechten Orte fpart, fo wenig verhehlt er die Gefahr des Rationalismus, welche beftünbig auch der ſcholaſtiſchen Wiffen- ichaft ,burd) Uebertragung der gemeinen Logik auf die Myſte⸗ rien“ (II, 391) nicht bloß drohte (II, 82 ff.); troß derſelben wiſſenſchaftlichen Vorausfegungen und Hilfsmittel eim erbitterter Kampf ber Geifter, nicht bloß ein Abälard oder Gilbert von Poitiers auch ein Petrus Lombardus mug fid) ble exorbi- tanteften Angriffe auf feine Nechtgläubigkeit gefallen laſſen und wie wenig auch ber Gebraud ein und defjelben (lat.) Idioms bor Mißverftändniß mie pofitivem Irrthum fchüßt, fat der Verfaſſer durch feine trefflichen Bemerkungen über den Fortſchritt der lateinischen Sprade im Gebraud) ber Theologen gerade in Benutzung ber termini technici nad)» gewiefen (I, 156/7).

Durften wir im Bisherigen mit unferem Lobe nicht fargen, fo mögen uns jett and) einige fritijd)e Bemerkungen geftattet fein. Diefelben Kehren jid) einmal gegen die for» melle Geftaltung des ganzen Werkes. Nicht das möchten wir ihm zum Vorwurfe madjen, daß er befannte und oft behandelte Gegenftände fürger unb fnapper, wenig oder gar nicht gefannte bez. arg mißhandelte Schriftfteller in breiter Ausführlichkeit behandelte: des Verfaſſers Hinmeis darauf,

314 Bach,

daß er mit feiner Arbeit mehr nur eine „Lücke“ ausfülle, ein „Lückenbüßer“ fein wollte (II, 765), fann unjere Hoch⸗ achtung vor feiner Selbftverleugnung nur fteigern. Biel- mehr fcheint dem Ganzen ein rechtes Princip zu fehlen ober vielmehr das intendirte chriftologifche Princip will fid) nur gezwungen durchführen fajjen. ‘Der Hinweis auf bie Leibniz’- iden Monaden liegt nahe unb wenn ein Dogma, fo fpiegelt allerdings das chriftologifche alle andere dogmatifchen Fragen wieder. Aber Fragen wie die über das Verhältniß von Gíauben und Wiſſen, über ben Prädeftinationsftreit , bie Erbjünde,, unſeres Erachtens auch über bie Zrinität, das Wert der Erlöfung und felbjt über die Euchariftie und bie verflärte Leiblichfeit des Jenſeits erfcheinen der Lehre von ber Perjon Ehrifti zum Theil fait fremd, zum Theil [teen fie mit ber fegterr nur in einem lofen Zufammenhang. Stellt man fid) nun freifid) .auf den Standpunkt der in unferem Werk behandelten Myſtiker und damit auch des Verfaſſers felbft, jo wird die Sachlage etwas anderes, aber wie ber Verfaffer felbft hervorhebt, felbft ein hi. Anfelm läßt das juridifche Moment einfeitig in der Erlöfungslehre vor- treten (II, 646) und den andern ‘Dialektifern wird δεῖ Mangel der chriftologifchen Betrachtungsweife in ihrer Theo⸗ (ogie gerade zum Vorwurfe gemacht. Dagegen dem Berfaffer erweitert fid) der Sinn be8 Chrijtologifchen bi8 dahin, baf er von einem „chriftologifchen Charakter der Erkeuntnißtheorie“ (II, 94) redet, wie er fid) denn überhaupt niemal® prinzipiell über das Verhältniß der von ifm behandelten Materien zu dem borausgejegten „chriftologifchen Princip“ ausjpridt. Das ſcheint uns ein Fehler zu fein, fo fehr wir aud) aner- fennen, daß bie dankenswerthen Ausführungen felber uns mit demjelben verfühnen Laffen.

Die Dogmengeichichte b. Mittelalter o. chriſtol. Standpunkt. 315

Faſſen wir nunmehr die chriftologifche Auffaffung des Derfaffers fefbft in's Ange, wie er fie im Anfchluß insbe- jondere am die früher genannten Myſtiker fid) feftgeftellt. Mit Gerhoc denkt er fid) Chriſtus bezüglich der Menfchen- Natur Gott immer unterworfen, „aber in Zolge ber Ver- HMärung üt der göttlichen Berfon hat audj diefe Natur bie gleiche Witrde. Ehre und Herrfchaft mit dem Vater, wohl verftanden als concreter Theil der Hypoſtaſe gedacht“ (II, 445). Somit it in Chrifto der Menſch wirf(id) Gott, der Menſch Chriftus nicht bloß zu verehren, fondern anzubeten und wie die Folgerungen und Formeln alle lauten. Das ift der ,concrete"^ Gitanbpuntt der Chriftologie, wie ihn 3B. bezeichnet, wobei der 9tadjbrud auf die Einheit der Perfon fällt, vermöge ber Ein und derjelbe Logos von Ewigfeit her Träger und Subjekt der göttlichen Natur ijt, in ber Zeit aber auch Träger und Subjelt der menfchlihen Natur ge: worden ijt. Die naheliegende Oppofition, bie fid) nament- fif) an den Namen Petrus Lombardus mit feiner Behaupt⸗ ung: Gott fünne nichts geworden. fein (Nihilianismus) fnüpft, bezeichnet und befämpft nun B. fortwährend als Rückfall in ben Adoptianismus und will denjelben durch bie Bemühungen der Neichensberger Pröbfte auch kirchlich cen» jurirt wiſſen. Freilich muß 3B. zugeftehen, daß mit Duns Scotus bie feholaftifche Theologie wieder in den alten Fehler ber ,ab[traften^ Behandlung der hriftologifchen Frage zurüd- gefallen und dieſe verfeinerte Form des Neftorianismus fid) bi$ auf Vasquez, Suarez und eine ganze Reihe von Neufcholaftifern namentlich aus dem Cyejuitenorben erftrect der Neueren ganz zu gefehweigen. Das mag ifm ein Fingerzeig fein, bag Alerander III. trog der [türmijdjen Anklagen gegen die „neuen Juden“, die an der Zweiheit

316 Bach,

ber Naturen feithaltend von einer SBergottung bez. Aubetung der Menſchheit Gürifti als Eutychianismus nichts wiſſen wollen, mit Recht feinen Entjcheid geben wollte, die Theo⸗ (ogen vielmehr gerne zur Ruhe gewwiefen hätte, „weil απ derartigen fpigfindigen Tragen für bie Kirche Tein großer Vortheil zu erwarten fei, das unwiſſende Bolt aber auf Irrwege geführt werde” (II, 717). Es ijt eben immer die alte Schwierigkeit: die Betonung der Zweiheit der Na- turen fcheint der Einheit der Perſon zu nahe zu treten, die Betonung der Einheit der Perſon fdjeint der Zweiheit ber Naturen beg. der Realität der menſchlichen Natur Abbrud) zu thun. Geht man von der annehmenden göttlichen Perfon aus, fo verfällt für unfer Denten die menfchliche Natur immer der Gefahr, zum bloßen Werkzeug, zur bloßen Er⸗ Scheinungs- unb Offenbarungsweije des immanenten Logos herabzufinfen und e8 macht feinen wejentlichen Unterſchied, ob man mit den Dialektifern die Mienfchheit als blopen habitus be$ Logos fapt, diefen zu jener mur ein Relationg- verhältniß einnehmen läßt, oder mit den Myſtikern von einer natürlichen Prädispofition ber menjdjiden Natur zu ihrer Aufnahme in die Perfon des Logos redet. Mit leterem Be⸗ griff wiffen wir troß aller Zobpreifungen (II, 673) unferes Verfaſſers gar nichts anzufangen, ‚jedenfalls fo mie fo bleibt ber Handelnde, Leidende, Thuende der Logos. Go erklären fid die Vorwürfe proteftantiiher Dogmenhiftorifer über Eutyhianismus und Dofetismus der Theologen, fie treffen aber nicht die Theologen, fondern da8 Dogma jelber, das al8 das unergründlichfte aller Myſterien unferem Begreifen fid) fajt gana jprüb gegenüberftellt. Wie Anfelm jagt, be- fommen mir nad) bem gewöhnlichen Begriff von Perſon in Chrifto zwei Perfonen, nämlich bie Perfon des Logos und

Die Dogmengeſchichte b. Mittelalter v. chriſtol. Standpunkt. 917

die des Menfchen „sed non ita est‘, ἐδ ift mur Eine Berfon in zwei Naturen (II, 36) und eben ba8 glauben aber begreifen wir nidt. Der Verfaſſer aber hat fid) in feiner im übrigen febr erflärfichen Begeifterung für die Myſtiker und ihre Vorläufer, fo befonders den Hl. Hilarius und die Väter aus ber Alerandriniihen Schule, vielleicht zu raſch zu der Meinung hinreißen laſſen, als ob wir in ihren Löſungs verſuchen eme mirffide Löſung be& un- ergründlichen chriftologishen Problemes vor uns hätten, jebenfatíé erfcheint er bei der Beurtheilung ihrer Gegner als Adoptianer allzujehr von ihrem Bartei- Standpunkt beherrſcht. Es ift ein kühner Gedanke, Stellen wie Joh. 14, 28 (der Vater ift größer als ἰῷ) frifchweg mur auf bie Knechtsgeſtalt des Menſchgewordenen zu beziehen, nachher aber ihre Geltung menigftens von ber concreten Berfon Chriftt zu beftreiten, (II, 659), ober in derfelben bloß die Andentung zu finden, daß der Sohn mur dem SPrincip und Ausgang gemäß geringer als der Vater, feiner Subftanz nad) aber dem Vater gleich [εἰ (II, 693), aber wir zweifeln, ob er mit biejer interpretation den modernen proteftantifchen Ehriftologen ihre jubordinatianifchen Zweifel ausreden wird und wir zweifeln auch, ob den „Dialektikern“ wie der Mafle fpätichofaftifcher Theologen ihre vorfichtige Zurückhaltung al8 verfteckter Adoptionismus angerechnet werden darf. Die zögernde Haltung der Tirchlichen Auctoritäten (II, 727 ff.) und ber praftijdje Mißerfolg det ſcheinbaren Entſcheidungen be8 dritten (II, 730 ff.) und vierten Lateranconcils (II, 732 ff.), über deren Auslegung fij Thomiften und Sco- tiften nie einigen fonnten, beweift am Beſten, daß dieſe Eontroverjen an einem Punkt angelangt waren, mo das

318 Bach,

wechjelfeitige SDtigoerftünbnig eben nur die Grenzen unferes dogmatifchen Verjtändnifjes überhaupt ausmeift.

Sie befcheiden und den Vorwurf des Verfaſſers Düren zu müjfen, daß der Kritiker eben jeíber auf dem abftraften Standpunkt ber Dialektiker ftehe, an der unnatürlichen Spannung ber Gegenſätze von Gott und Menih, Trans⸗ cendenz unb Immanenz, Gmigfeit und Zeitlichkeit feſthalte (II, 68) und wir find weit entfernt, den dogmatifchen Ctanbpunft des DVerfaljers felbit damit bemängeln zu wollen, daß wir auf bie Stángel einer immerhin bered. tigten Lehrweiſe unb.bie relative Berechtigung ihrer wiſſen⸗ ichaftlichen Belämpfung aufmerkfam machen. Der geiftooll und tief angelegte Verfajfer Hat fid) von den ihm geiſtes⸗ verwandten tieffinnigen Deyftilern zu einer ſehr natürlichen Vorliebe für fie und zu einer gewilfen Entfremdung gegen die fafte, überall jcheidende und trennende, vielfach Hnar- ipaltende Dialektik hiureißen fafjen. Wenn man audj nur einige ber von ihm jefbjt gebotenen Auszüge aus den tief» frommen, wahrhaft poetifch. angehauchten Vätern lieſt, jo 3. B. namentlich über das verflärte Syenjeite und fein wunder- james Hereinragen in’8 Diesfeits, über die Liebe als das himmliſche Grabitation$gefeg, über die „Erhebung des Leibes in den Geijt und des Geiftes in Gott als fein Centrum ohne Vernichtung des Selbft oder der Natur des Selbit“ (U, 632), Gebanfen bie jid) dem Beſten in der ſpäteren Myſtik anreihen, [0 wird diefe Vorliebe des Verfaffers doppelt erflärlih. So wenn er 3. 3B. über Rupert von Deut ſchreibt: „Meberalf wo er commentirend-die bi. Schriften burd)blüttert oder den Eultus der Kirche nad) den verjchiedenen Bezieh⸗ ungen und feinen Liturgifchen Weifen befchreibt, zielt er auf die Einheit und den Mittelpunkt . der chriftlichen Weltan⸗

Die Dogmengeſchichte b. Mittelalters o. chriftol, Standpunft. 319

ſchauung: ber Eckſtein Chriftus, der Mittler alles Daſeins und ber Zielpunkt ber Weltgefchichte, von welchem fein Herz in Liebe überquilit, auf den er alf fein Hoffen und feine Sehnſucht jegt, deffen Kichtgeftalt durch aff die trüben Schatten des Erdenlebens und ber Gefhichte vor feinem Geiftesauge durchleuchtet. . . .. Wir begegnen hier nicht felten der tiefften Innigkeit eines reichen chriftlichen Geiſtes, der aus dem Gíenbe des irdischen Dafeins in die Fülle göttlichen Lebens zu fliehen weiß, deifen ewige Gejege er erforfcht und den Menſchenkindern als Geſetz ewiger Liebe verkündet“ (II, 244). Schön und wahr, aber bieje8 gläubige „con- templative Schauen” und Zufammenfchauen ijt nicht die Aufgabe ber nnterfcheidenden Wilfenfchaft, von der trans- fcendentalen Weberräumlichkeit und Ueberzeitlichkeit des Leibes wiffen mit nichts als eben nur die Worte und mie [eft auch ber Begriff des , pneumatijdjen Qeibe&^ alle Schwierigkeiten ber Abendmahlslehre mit einem Schlage zu heben scheint, die Scholaftit bat jid) und das mit Recht nicht mit ber bloß negativen Erfenntniß begnügt, daß „die menfchliche Natur vergeiftet fei", „Herrjhermacht über Zeit und Raum befige^, „ohne Raum, ohne Quantität und Qualität im gewöhnlichen Sinne fei” (II, 301), fondern gerade unter „Anwendung der Kategorien des Porphyrius“ (II, 381) zwifchen Subftanz und Accidentien, der natürlichen und bet iubftantiellen Präſenz des Leibes Chrifti genau unterfchieden. Wir haben fdjon bemerkt, daß ber Verfaſſer den Begriff Chriſtologie und chriftologifch in einem viel weiteren ale dem Berfünuntidjen Sinn genommen und bie8 wiederum auf Grumd feiner eigenthümlichen, aus den griechifchen Vätern unb Myſtikern gefchöpften Anfhauung über Chriſti Perfon und Werl. Er bewegt fid) in der Darlegung und Aus« Theol. Quarialſchrift 1876. Heft 11. 21

320 Bad,

führung biejer dee gern in kühnen Bildern umb in einer metaphorifchen Ausdrucksweiſe, die felbft wieder der Inter⸗ pretation bedarf. Haben mir den Verfaſſer recht verftanden, jo ijt fein Gebaufengang etwa diefer. Die ganze Schöpfung if von Anfang an auf die Incarnation be8 Logos und ihre Berflärung durch den incarnirten Gott menfchen angelegt. Dur die Sünde wurde die erfte Schöpfung nicht bloß εἰδι ὦ, fondern aud) phyſiſch verderbt, daher fie einer phyſi⸗ iden unb ethifchen Erneuerung bedarf. Darum wird der Gott met f d) als zweiter Adam in das menfchliche Geſchlecht äußerlich eingefügt, in ihm wird die menfchliche Natur Fleiſch Gottes, jo ijt bie menſchliche Natur Gott eingegliedert. Mit dem Gottmenjdjen muß nun jedes einzelne Glied in einen nicht minder innigen Gontaft treten als wir durch den 9tatur- verband mit dem erften fündigen Adam verbunden imb: objeftioe werden wir durch bie Saframente namentlich bic Zaufe und Eudariftie in lebendige Beziehung zum Gott⸗ menschen gebradjt. Das hier in uns angelegte und ge= nährte von dem Gottmenfchen Chrifto durd den Df. Geijt mittelft feiner Kirche übermittelte übernatürliche geben actualifirt fid) in uns ethifch durch Glaube, Hoffnung und Liebe und vollendet jid) phyfifch in der Hier angelegten, drüben jt) vollendenden Verklärung. So werden wir durch Ber- mittlung des Gottmenjchen mit und in ihm felbft vergottet

Wir fürchten faft den Vorwurf einer „rationaliftifchen“ Anterpretation diefer Ideen des Verfaffers hören zu müſſen und in der That liebt der Berfaffer wie bemerkt eine weit fühnere Bilderfprache, die freifid) von ihm jelber in der

kühleren Erklärung wenigftens zum Theil desavouirt werden

muß. So ijt ihm natürlih bie Sünde nicht wie er fid) einmal ansgedrüct „widernatürliche Naturbeftimmtheit“ (II,

Die Dogmengefchichte b. Mittelalterd v. chriftol. Gtanbpuntt. 32]

85), man darf e$ nicht ganz wörtlich nehmen, wenn e bet Abälard'ſchen Lehre von der Sünde den Vorwurf macht, „ihm bleibe bie menjchliche Natur immer als eine bei ber Sünde nicht beteiligte alfo gute" ftehen (ebendaf.), denn er ſelbſt drückt fid) fpäter dahin genauer aus: „Die traurigen Folgen (!) ber Sünde offenbaren fid) als zerftörende Mächte in der Gefchichte ebenjo mie im Geifte8s und Naturleben, beide Gebiete zu trennen ift [eere Abftraction.” So wird br Gedanke menigiten$ erträglid. Wenn an Honorius von Autun gerühmt wird, daß er bie Incarnation als einen ,to&mijdjen Prozeß, eine Einigung der getrennten Sphären der Tosmifchen Ordnung“ (IL, 304) gefaßt habe, jo darf man feinen neuen Gnoſticismus hinter der gnoftifchen Aus⸗ drudsweife fuchen, vielmehr ift damit bie in dem Gott: menjden Chriſto begonnene Erneuerung der Menschheit zu denken, bie ethiſch-phyſiſch (in der Verklärung) wirft unb endgiltig im Menſchen den ganzen Kosmos umfaſſen joll. Unzähligemal kehrt bie Wendung, daß wir. im „phyjiich- organischen“ Zujammenhang mit Chrifto zu treten haben tt ber zweite Adam im eigentlichen Sinne ‚der „Natur- grund ber Kirche“ (II, 519) jei, aber auch dies bezieht fid) zunächft auf. die Annahme unferer Natur (Chriftus dur, den Naturverband unfer Lebensgrund IL, 253) und auf bie in der Kirche mittelft der Sakramente uns ertheilte „Neu- befebung ber Geiftesfräfte“ (II, 363). Diefe felbft wird von ibm als „Uebernatur” (I, 36 u. II, 359 Ueberſchrift von $ 20: „Natur und Uebernatur”, die im Contert des gen uunſeres Erachtens nicht motivirt erfcheint), als „phyſiſche Dispofition der geiftigen Kräfte“ (1I, 104), „phyſiſch-geiſtige Lebensenergie“ (II, 107) bezeichnet, es wird von einer „Phyfiologie der Gnade“ (I, 120) geredet u. j. f., aber 21*

322 Bach,

damit gemeint ift die Mittheilung der zur Erreichung des übernatürlicden Endziels nöthigen Erlöſungsgnade. Diefe Gnade wird nad griechischen Vätern ald eine „übernatür- fide Potenz“ gefaßt, bie nad) ber Speculation derfelben nur die „Verwirklichung einer entfprechenden Natur (φύσεις, οὐσία) ijt“ (I, 36). Wie die Erlöfung zunädft (in ber Incarnation) eine phyſiſche ijt, fo wirken aud) die Safra- mente realphyſiſch und etfijd) zugleich (II, 277), ja fogar „vorerft auf unſere ungeordnete franfe Natur Heilend und reftaurirend“ (II, 93), wie es fcheint theils mit Bezug auf die fünftige [eiblid)e Verklärung, theils wegen des über- natürlihen Charakters der uns mittelft derfelben mitge- theilten Gnade u. j. f. Gbriftu8 als das gottmenſchliche Haupt der Kirche joff unmittelbar alfes neue geiftige und pbofijd)e Leben in den durch die Taufe mit ihm in organifd- phufifchen Zufammenhang Getretenen wirken, jo daß der Berfaffer die Kirche nicht oft genug als den myſtiſchen Leib Ehrifti ja [ogar einmal als „den wirklichen Leib Chrifti“ bezeichnet (IT, 363), aber die Vermittlung aller Gnade durd) den hi. Geijt ijt nicht vergeffem (II, 358), fo gerabe auch in der angeführten fcheinbar alles Maß überjteigenden Stelle: „Die Kirche ift der wirkliche Leib Chriſti und Ehriftus Steht zu uns in dem LXebensverhältnig des Orga- nismus, be8 Hauptes zu den Gliedern. Alle Gnadenwir- tungen des Hl. Geiftes auf die Menfchheit find eben der fortwirkende Lebensverkehr des Hauptes auf die Glieder (II, 363)". | | Wir ſehen, mir begegnen hier derfelben „tieferen“ Be- handlung ber Gnadenlehre, die und auch von anbermürté al8 die allem Nationalismus und Intellectualismus prinzipiell entgegengejegte gerühmt wird. Syn That und Wahrheit aber

Die Dogmengefchichte b. Mittelalters Ὁ. chriftol. Standpunft. 393

Daben wir nur eine einfeitige Anwendung ber Kategorien des Naturlebens auf das neue fittliche Leben des Menfchen vor uns. Diefe Analogie läßt fid) mum wohl injomeit am» wenden, als die durch die Gnade uns vermittelte ethifche Kraft unferen Geiftesvermögen eine deren natürliche Kraft überbietende Leiftungsfähigkeit übermittelt, weiteres aber fei[tet fie nicht nur nit, fondern führt von ber Wahrheit eher ab. Denn das auf Grund der Gnadenverleihung in un ermedte neue Leben ift ja ganz und gar an unfere Mit- wirfung und Selbftbeftimmung gebunden, alfo in allweg nicht phyfifche fondern ethifche Yebensbethätigung. Das wird mum von der Seite, bie hier gemeint ift, aud) in feiner Weiſe bdeftritten, man verwahrt fid) vielmehr überall au['8 Feierlichite gegen jede Confundirung diefer Anficht mit der guoftischen ober myſtiſch-lutheriſchen: dann fieht man aber auch nicht ein, warum man die abendländifche weſentlich Auguftinifche Faſſung der Onadenlehre zu Gunften ber myſtiſch⸗ unklaren Ausdruds- und Darftellungsweije nament- lich des Pjeudodionyfius verlaffen und aufgeben fol. Offen- bar hat Dionyfins bie der neuplatonifchen Philojophie eigene phnfifche ober phyfifalifche Auffaffungsweife be8 Guten auf die Lehre von der chriftlichen Gnade (nicht ohne die nöthigen Referven) übertragen und die hohe Auctorität des vermeinten Apoftelfchüilers erflärt uns feinen Einfluß auf bie Darftellung ber Scholaftit, aber immer jo, daß der fortmirfenbe Augu—⸗ ftinifche Einfluß bie kühne Bilderſprache des Orientalen bümpfte. Dean vgl. 2. B. die Darftellung der Gnadenlehre, wie fie Hugo von St. Viktor (II, 310) gibt, mit ber Areo- pagiti[d)en oder aud) mit ber Ausdrucksweiſe unferes Ver⸗ faſſers, bie felbft mo fie fid) an bie in den Anmerkungen verzeichneten Lineamente hält doc eine tiefere Schattirung

324 Bad,

des Ausdrucks anzubringen ftebt, ein Beweis für das Gefuchte md Outrirte in der Durchführung der einmal beliebten Analogie. Unter der Bergottung, der Antheilnahme an gött- licher Natur ift eben für dieſe Seit doch vorwiegend wo nidt ausschließlich bie ethifche Aehnlichkeit mit Gott zu verftehen, daß wir „volllommen werden“ gleich bem der „allein gut” i ft.

On einer fünftigen „Phnfiologie ber Gnade“ können wir alſo nichts anders fehen als etwa in einer „Anatomie und Phyſiologie des focialen Körpers“ , wie jie jet aud) gefchrieben wird : eine vielleicht geiftreich und tieffinnig durch⸗ geführte Analogie, bie nur den Fehler Hat, baB fie von Hand aus bem zu erflürenben Gegenftand wildfremd gegenüber fteht. Das Gerede von NRationalismus und Intellectualismus wird uns nicht irre machen. Was 39. einmal den prote ftantifchen Bearbeitern der Abendmahlslehre vorwirft, daß fle „fleifchlich“ immer gleich „wirklich“ nehmen, folglich jeden Bater und Theologen, der bie „fleifchliche Gegenwart“ Chrifti im Abendmahle abmeijt, aud) die „wirkliche Gegenmart" verwerfen laſſen (II, 291), fieBe fid) aud) gegen jene Tatho> tiichen Theologen kehren, bie „phufifch“ und „real“ identi- ficiren und beBmegen , wo fie eine phyfiſche Gnaden⸗ und : Saframentenlehre abgewiefen finden, fofort Verdacht ſchöpfen, ob dann nicht jede reale Wirkung ber Gnade ımd der Safra- mente geleugnet werde.

Indeß der Vorwurf auf Intellectualismus zc. im Munde unferes Berfaffers hat noch einen anderen Sinn. Er meint, die gewöhnlichen Theologen liberfehen in der Gnaden⸗ und Rechtfertigungslehre viel zu fer die in der Gnade und Recht⸗ fertigung fid) manifeftirende unmittelbare Thätigfeit des Gott- menſchen als des Hauptes der Kirche gegenüber den

Die Doßmengefchichte b. Mittelalter o. ἄτι οἵ. Standpunkt. 395

Gliedern derfelben: man trenne die Gnade vom Gott» men[djen, ber feine Lebenskraft in die Glieder der von ihm angenommenen Menſchheit mittefjt der Saframente tingieße, vergeffen zu fehr den Gott πὶ ἐπ ἐπι, der burd) bie Gonbuftoren der Caframente der Meenfchheit zugleich md in Einem phyſiſche und ethifche Lebenskraft, „eine neue gottmenschliche Energie” vermittle. Auch hier wollen wir nicht gegen die Vorftellung des Verfaffers ſelbſt rechten, fon. dern nur gegen feine Polemik mit ben Theologen. Er hat offenbar überſehen, daß ſelbſt ba8 Zridentinum der trennen- den und unterjcheidenden Xhätigfeit der Theologen durch die Unterfcheidung der mannigfaltigen causae justificationis nostrae feinen Beifall zu erkennen gegeben hat. Die ein- jeitig „ſpiritualiſtiſche“ Auffaffung der Gnade gilt von ber Beitimmung des Concils, wenn c8 dabei nichts vom Gott^ menschen erwähnt, fondern einfach fagt: Unica causa formalis justificationis nostrae justitia Dei est, non qua ipse justus est, sed qua nos justos facit etc., ba8 Goncil von Trient ijt e$, welches ganz nüchtern bie Zaufe als causa instrumentalis der Rechtfertigung be- zeichnet u. f. f. Man wird uns entgegenhalten, daß hier und anderwärts nur Eine Bedeutung der Gnade und des Saframentes zum Ausdruc gebracht fei, andermärts finde fif die nöthige Ergänzung: nun wohl, aber eben wie uns ſcheint ijt e8 die Hauptbedeutung, die hervorgehoben ift, ift der Gefidjtépunft gewählt, der a(6 der mafgebenbe und übers nicht untergeordnete anzufehen ift. Auch will uns die. Vorftellung des Verfaſſers von ber phufifchen Seite am ber Wirkſamkeit der &aframente ſelber gar nicht recht befriedigen. Es foll einmal die Vorftellung, daß wir burd) die Taufe mittelft des myftischen Körpers Ehrifti ihm dem Gottmen⸗

394 Bad,

des Ausdruds anzubringen liebt, ein Beweis für das Gefuchte πὸ Outrirte in ber Durdführung der einmal beliebten Analogie. Unter der Vergottung, der Antheilnahme an gött- licher Natur ijt eben fr bieje Zeit bodj vorwiegend wo nicht ausfchließlich die ethiſche Aehnlichkeit mit Gott zu verftehen, daß wir „volllommen werden“ gleich) bem der „allein gut" ift. E

Cyn einer fünftigen „Phyfiologie ber Gnade“ Tonnen wir alfo nichts anders fehen als etwa in einer „Anatomie und Bhnfiologie des focialen Körpers” ,. wie jie jegt and) gefchrieben wird : eine vielleicht geiftreich und tieffinnig durch⸗ geführte Analogie, bie nur ben Fehler Bat, daß fie von Haus aus dem zu erflärenden Gegenftand wildfremd gegenüber fteht. Das Gerede von Rotionalismus und Intellectualismus wird ung nicht irre machen. Was 99. einmal den prote- Stantifchen Bearbeitern der Abendmahlslehre vorwirft, daß fle „fleifchlich” immer gleich „wirklich“ nehmen, folglich jeden Vater und Theologen, der die „fleifchliche Gegenwart“ Chrifti im Abendmahle abmeijt, aud) die „wirkliche Gegenwart“ verwerfen laſſen (II, 291), fieBe fid) aud) gegen jene Tathos fijd)en Theologen kehren, die „phyſiſch“ und „real“ identi- ficiren und beBmegen, wo fie eine phyfifche Gnaden- und - Saframentenlehre abgewiefen finden, fofort Verdacht ſchöpfen, ob daun nicht jede reale Wirkung der Gnade imb: der Sakra⸗ mente geleugnet werde.

Indeß der Vorwurf auf Intellectualismus ac. im Munde unferes Berfafjers ‚hat noch einen anderen Sinn. Er meint, die gewöhnlichen Theologen diberfehen in ber Gnaden⸗ und Rechtfertigungslehre viel zu fer die in der Gnade imb Recht: Fertigung fid) manifeftirende unmittelbare Thätigkeit des Gott- menfden ald des Hauptes der Kirche gegenüber den

Die Dogmengefchichte b. Mittelalters v. chriftol. Standpunkt. 325

Gliebern derfelben: man trenne die Gnade von Gotts menſchen, der feine Lebenskraft in die Glieder ber von ihm angenommenen Menfchheit mittefft der Salramente eingteße, vergeffen zu fee den Gott menschen, ber durd die Gonbuftoren der Saframente bee. Meenfchheit zugleich und in Einem phyſiſche und ethifche Lebenskraft, „eine neue gottmenschliche Energie” vermittle. Auch hier wollen wir nicht gegen ble Vorftellung bes Verfaffers ſelbſt rechten, [0115 been nur gegen feine Polemit mit den Theologen. Er Bat offenbar überfehen, daß felbft ba8 X vibentinum der trennen- ben und unterfcheidenden Thätigkeit ber Theologen burch die Unterfchetbung der manmigfaltigen causae justificationis nostrae feinen Beifall zu ertennen gegeben hat. Die ein- ſeitig „ſpiritualiſtiſche“ Auffaſſung ber Gnade gilt von ber Beitimmung des Gonci($, menm c8 dabei nidjt& vom Gott⸗ menschen erwähnt, fondern einfach fagt: Unica causa formalis justificationis nostrae justitia Dei est, non qua ipse justus est, sed qua nos justos facit etc., δα Concil von Trient tft e$, welches ganz nüchtern bie Taufe aí$ causa instrumentalis ber Mechtfertigung θὲ» zeichnet u. f. Ff. Man wird uns entgegenhalten, daß hier und anderwärts nur Eine Bedeutung ber (nabe unb bes Salramentes zum Ausdruc gebracht fei, anderwärts finde jf die nöthige Ergänzung: nun wohl, aber eben wie un ſcheint ijt e$ ble Hauptbedeutung, die hervorgehoben tjt, ift der Gefichtspunft gewählt, der als der mafgebenbe unb übers nicht untergeorbnuete anzufehen ift. Auch will uns bie Vorſtellung des DVerfaffers von ber phufiichen Seite an ber Wirkſamkeit der Gatramente felber gar nicht recht befriedigen. (8 ſoll einmal die Vorftellung, daß wir burd) die Taufe mittelft des myſtiſchen Körpers Chriftt ihm dem Gottmen-

326 Bach, ᾿

iden ſelbſt als dem neuen Lebensprincip eingegliedert werden, als die tiefere gelten gegenüber ber rein juridiſchen Betrachtungsweife, daß wir burd) die Taufe das Anrecht auf alle Gnaden und Gaben Ehrifti erhalten. Wodurch anterfcheidet fid) num die Kaufe von der Euchariſtie? Gerade die djarafteriftid)e Eigenthümlichkeit der Gudjarijtie, daß wir durch biejelbe mit dem Leib Ehrifti in unmittelbaren Gontad treten, ijt nach ber Vorſtellung des Verfaffers ſchon innerhalb ber Zaufe anticipirt. Und wodurch foll Kd) nun überhaupt bie Euchariftie und die übrigen Salramente unterfcheiden, menn aud) in diefen der Gottmenſch unmittelbar wirkt ? Die hier drohende Gefahr, der Luther in feiner Ubiquitäts⸗ (ere erlag, wollen wir nur anbeuten und an bie nahe Be- rührung diefer Gedanken mit denen Iutherifcher Myſtiker erinnnern. Und was nun nod) die phyſiſche Wirkung ber Gaframente betrifft, in bem Sinn, daß bie fegteren in une den Keim der Verklärung wirken : fo fcheint ung überjefen zu fein, daß biefe leibliche Wirkungen der Erlöfung für bie Regel als Folge und Wirkung der Heiligung im Diesfeits erit in'8 Jenſeits fallen, bier mur ausnahmsweiſe in ber Form von gratis gratiae datae zur Erfcheinung kommen. Der „Geiſtleib“ jelbjt ober wie ber SBerfajfer nah Fries jid) einmal ausdrüdt: „die aus Grbgeijt gebildete Weſen⸗ beit des Meenfchenleibes“ , bie im Diesfeits verborgen, im Jenſeits offenkundig werden fol, ift eine kühne Bermuthung, aber Fein Nachweis jener Wirkſamkeit. Auch brüdt er fid) jelber anderwärts vorfichtiger aus, jo 3. B.: „Aud nad) dem Zode ijf die dee ber perjünlichen Einheit des Leibes mit der Seele nicht aufgehoben. Das Weſen des irdifchen Leibes b. ἢ. bie teleologifche Beſtimmung defjelben zur Her- ftellung des einftigen Auferftehungsleibes wird auch in bet

Die Dogmengefchichte b. Mittelalter v. chriftol. Standpuntt. 327

Auflöfung der niederen Stoffe nicht zerſtört kraft ber ihöpferifchen Macht und der myſtiſchen Einheit defjelben mit dem Leib Chrifti“ (II, 633/4).

Man fünnte und des Unrecht zeihen, daß wir bieje und andere Vorftellungen dem Verfaſſer unb nicht den von ihm behandelten Myſtikern zur Saft legen, würde derſelbe nicht jede Gelegenheit benuten, feine Zuftimmung zu diefen Ausführungen auszubrüden, ja geradezu die Aufforderung an die Theologen der Gegenwart ftellen, auf Grund fold) „teffinniger Sybeen^ eine nene ,foftematijdje chriftliche Philoſophie“ aufzubauen, „in welcher der Gottmen[d) leben⸗ diger Mittelpunkt ift“ (IT, 511 vgl. 479, 559 u. ö.). Wie die Ausführung gegenüber dem Nationalismus, Spiritualismus unb Pantheisinus unjerer Tage (II, 559) auszufallen hätte, ijt nur febr im allgemeinen angegeben (l c. u. 479. 519), ber ber fünftigen vom chriftologifchen Princip aus arbeitenden Wiſſenſchaft geſchöpfte Name einer „Hrijtfihen Philoſophie“ ijt uns für die Unklarheit des ganzen Gedankens ein binlänglicher Beweis.

Diefe fritijdjeu Bemerkungen, die ja nur der Auffaffung 35.9 über die Bedeutung des von ihm Gebotenen für δε dogmatifche Wiſſenſchaft gelten, vermögen indeß bem Werth der ganzen Leiftung aus früher angeführten Gründen einen wefentlichen Abbruch nicht zu thun und münjden wir von Herzen bem Werke vor allem den nöthigen Abjag beim theologischen Publifum. G8 wäre für das Tatholifche Deutſch⸗ land wirklich beſchämend, wenn bieje bedeutende Leiftung aus Mangel an Unterjtügung wie [jou jo manche in neuerer Zeit fteden bleiben müßte und bei bem Intereſſe, ba8 prote» ftantifcherfeits feit Dezennien gerade für die chriftologijche Stage Derrjdjt, dürfen mir für B.'s Arbeit wegen ihres

328 Thoemes,

biftorifchen Werths aud) von diefer Seite größere Aufmerk⸗ jamteit erhoffen.

Repetent Dr. phil. Rnittel.

3.

Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta quid valeant ad res ecclesiaticas politicas sociales. Commentatio literaria et critica. Pars prima. Scripsit Nicolaus Thoemes, Dr. phil. Berolini. Puttkammer et Mühlbrecht. 1875. p. 150.

Unter diefem jchiwerverftändlichen Titel, ber p. 13 mit dem etwas deutlicheren Ausdruck Thomistica de ecclesia et republica doctrina socialis (eigentlid historia Tho- misticae de ecclesia et reipublica doctrina socialis, . eine Probe aus ber hübfchen Zahl ber Druckfehler des Bude) erklärt wird, veröffentlicht der Verfaſſer eine thomiftifche Studie mit folgendem funterbuntem Inhalt. Zunächft belegt Th. bie Auctorität des HI. Thomas durch eine zahllofe Reihe alter und nener, kirchlicher und profaner Zeugnijfe, die übrigens ziemlich allgemein befannt find umd die er fpäter (p. 91. 92. 102. 104) nur benußt, um eine etwas fpitge Kritik an Thomas auszuüben. Dann. wird bie Literatur über ben bí. Thomas im allgemeinen und für bie Staatslehre im Befondern befprochen, zum Theil recht weitſchweifig, aber foviel wir fehen ziemlich vollftändig und mit zutreffender Kritik. Sofort behandelt er gegenüber dem Leichtfinn der meiften Arbeiten über Thomas bie Frage nach den Quellen ἔτ

Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta etc. 399

nad) Erhard und Quetif. Auch diefer Theil hat das Ver⸗ dienft wieder darauf aufmerffam gemacht zu haben, daß man aus den Kommentaren be8 DI. Thomas zu Ariftoteles nicht deffen eigene ere erfchließen darf, daß fein Gommentat jur Politif des Ariftoteles nur bis etwa zur Hälfte des dritten Buchs von Thomas felber Herrührt, endlich baB bie Schrift de regimine principum zwar von Thomas herrührt, aber nur bis 1. II. cp. 4. von ihm felbft ausgearbeitet ift. Cim fernerer Abfchnitt belehrt uns iiber bie verfchiedenen Thomiftischen Eintheilungen der Wiffenfchaft im allgemeinen und der Moral (unter die Th. die Socialwiffenfchaft unter» ordnet) im Befondern, worauf er ans des Hi. Thomas Einleitung deſſen Vorjtelung über Bedeutung, Würde aic. der Staatslehre hervorhebt. Nun wird vom Ziele des Men⸗ idet geredet fpeziell dem übernatürlichen, zu welchem fid) das Diesjeitd tur wie ba8 Mittel zum Zwecke verhalte. Hintennach Hinkt ein Abfchnitt de condicione naturae humanae, in weldem Th. fid) über den Urftand, bie Erb- fünde umb die Erlöfungsgnade nach ber Darftellung des Df. Thomas verbreitet. Ein fernerer Abjchnitt de virtutibus behandelt die der Ethik zufallende Pflichtenlehre, wie es ſcheint beBmegen herbeigezogen, weil (p. 71) Thomas ale species der prudentia die prudentia regnativa und mili- taris anführt. Der folgende Excurs de legibus belehrt uns über die verjchiedenen Eintheilungen der leges, wobei nur die Erflärung über bie Nothwendigfeit der lex humana, deren 3med bez. Toleranz gegen ba6 Böfe interefjirt. Für die Dürftigfeit ber Thomiftifchen Lehre entjd)dbigt uns bie angehängte arbor de origine juris et legum nad) Gerfon. Nunmehr wendet fid) ber Verfafjer ber Lehre von ber Kirche unb ihren Eigenfchaften zu, bebucirt mad) S. Thomas bit

330 Thoemes,

Nothwendigleit der Sakramente und findet gelegentlich des sacr. ordinis glücklich den Uebergang zur potestas ordinis et jurisdictionis. Zur Behandlung Tommen jedoch nur und dies fehr fury die Bischöfe und Erzbifchöfe und ausführlicher ber Bapft, bejfen Vollgewalt unb Ynfallibilität Th. aus S. Thomas begründet. Weiter wird fein Dispenſations⸗ recht bezüglich der Gelübde und des promifjorifchen Eides befprochen, ein Stud Ablaßlehre zum Beſten gegeben, weiter eine durchaus unbedeutende Bemerkung über die Univerfitäten und deren Ordnung durch weltliche und geiftlide SObrigteit, endlich nodj die echte des Papſtes in weltlichen Dingen, jpeziell fein Abſetzungs re ht gegenüber ercommunicirten und zur Härefie abgefallenen dürften befproden. Speziell wird bemerkt, daß er auch das Recht Habe ungläubige (im- fideles) Könige abzujegen, aber davon feinen Gebraud) mache bei denen, welche ber Kirche nicht im Zeitlichen untere worfen find ad scandalum evitandum. Ein letter Ab- ſchnitt de bonis et reditibus ecclesiasticis befchäftigt fid) neben andern kirchlichen Leiftungen vorzugsweife mit bem Zehnten, weiter wird das „Vaſallen“ verhältniß der Könige zum Papſte durch bie Zeitlage erklärt: einjt Gegner. Chriſti find die Könige jet feine Knechte geworden.

So wie die Arbeit vorliegt ijt fie offenbar wie das Latein in dem fie gefchrieben ungenießbar, auc bie Kritik des Verf. erjcheint uns durchaus oberflächlich, fo wenn er von St. Thomas eine befondere Erörterung über das Recht und die Tragweite ber kirchlichen Gejeggebung erwartet (p. 47), feine naturrechtlichen Grürterungen von der Anwendung auf den chriſtlichen Staat ausfchließt (p. 72), ihm wegen der mangelnden prinzipiellen Behandlung des Verhältniſſes von Kirchen und Staatsgeſetzen angefichts des feinerzeit brennen-

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Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta etc. 331

den Kirchenftreits Vorwürfe macht (p. 102), überhaupt feine Stantslehre überaus dürftig findet. Das fonnte und durfte Th. vom Hl. -Thomas nicht erwarten, daß er in einer Zeit der dürftigften Entwidlung des Staatsgedantens, wo der Staat eigentlih nur in der Summe mehr oder weniger selbftjtändiger Gemeinden und Gommunitüten beftand, feiner Zeit vorauseilend eine Staatslehre geichrieben Babe, wie fie Ariftoteles, der Hunderte von Staatöverfaffungen Hiftorifch hatte erforfchen künnen, liefern konnte. Und menn die Lehre vont Staat ijt dem hl. Thomas nur ein Theil der Moral, für ihn nur foweit intereffant, als fie für bie Moraltheologie beftimmte Probleme ftelt. Man täuscht fid alfo im vorn» herein, wenn man bei St. Thomas anderes als nur bürftige Andentungen, Grundzüge, Prinzipien, eine und andere zufällig bejprodjene Einzelfrage au8 der Lehre vom Staate fuchen müdjte. Hält es afjo 2:5. der Mühe für werth, fein Buch) vollſtändig und zwar beutjd) umzuarbeiten und zu vollenden, affo wirklich die Lehre des BC Thomas vom Staat und feinem Verhältniß zur Kirche zu behandeln, fo müßte er bem Ganzen eine Einleitung vorausſchicken über die Stellung ber Staatslehre im Ganzen der Theologie des Hl. Thomas und den bor diefein mit der ganzen Scholaſtik eingenommenen prinzipiell theologifchen Standpunkt. "Sofort mag er mad) den Andentungen des hi. Thomas (die Terte wären unter die Anın. zu verweilen und nicht nach ben Seiten der neuen Parma'er Ausgabe, fondern durchgängig nah Titel und Capitel der behandelten Schriften zu belegen) ausgehend von der Natur und Beſtimmung de8 Menfchen zum Gemeinſchafts⸗ leben die Nothwendigkeit des jtantlichen Zufammenfeing, deſſen Grunbformen ꝛc. nachweifen, es wäre ber Zweck des Staates und das dieſem entjprechende Geſetzgebungsrecht,

932 Thoemes, Divi Thomae Aquinatis opera et pracepta etc.

deffen Giltigkeit, Bedeutung und Umfang zu beftimmen und dann erft würe Bezug zu nehmen auf das Verhältniß des Staates zur Kirche, der ftaatfiden zur Tirchlichen Geſetz⸗ gebung, foweit [ἢ überhaupt über bieje Fragen direkt ober burd) Schlüffe aus bem Df. Th. etwas ermitteln fügt. Daß es überall an Lücken nid) fehlen würde, dafür ijt der Grund idon angegeben, das Ganze könnte fid) überhaupt dann eher als Nechtsphilofophie ober Naturrecht ober Staatslehre im Geijt mb Sinn und nad) den Prinzipien des bl. Thomas nennen. Ob c8 fid) der Mühe verlohnt, ein foídje8 Buch zu fehreiben, mag Th. jelbft entjcheiden. Sym Wefentlichen würden wir eben ein nad) Ariftotele8 gearbeitetes, theologifch da unb dort rectificirte8 Naturreht vom theologischen Ges ſichtspunkt aus bekommen, jo nad) Art der fpät- und neu⸗ ſcholaſtiſchen Bücher über 9taturredjt. Ein gar jo großes namentlich praftifches Intereſſe (mie ἐδ von Sybel vermuthete, ber ben Verfaffer feinerzeit zur Behandlung biejer Fragen ermunterte, vgl. p. 22 und ebenda Anm. 47) zumal für die Gegenwart können wir einer ſolchen Arbeit nicht vinbiciren. Die Prinzipien, von welchen jid) Thomas leiten laßt, find bie für bie theologifche Wiſſenſchaft überhaupt maßgebenden und über diefe Prinzipien ift ja eim Pactiren doch nicht möglih. Für Verhältniffe mie die gegenwärtigen find die Ausführungen bes hl. Thomas nicht berechnet und können nicht berechnet fein: er benft nur an eine Zeit, mo die Könige die „Rechte Chriſti“ b. i. gläubige Katholiken find, ober wo bie Kirche wie in ber eriten Zeit blutig verfolgt wurde. Für -Verhältniffe, mie fie fid 3. B. in Spanien für bie unter Herrfchaft der Saracenen Lebenden Chriften darftellten, ftellt er fid) auf den bereitS berührten Stand- punkt ber praftifchen Zweckmäßigkeit. Seine Andeutungen,

Kluge, Philoſophiſche Fragmente. 333

wie man um das größere Uebel zu vermeiden das Kleinere zulaffen dürfe (p. 98, 108: ne impediretur utilitas multorum, ad pacem servandam 141: ad scan- dalum evitandum) find ebenfali® gerade nicht neu, aber immerhin geeignet, bie für Herbeiführung eines den eite verhältniffen angemeffenen modus vivendi etwa maßgebenden Gefichtspuntte einigermaßen deutlich zu machen.

Repetent Dr. phil. Knittel.

4.

Philoſophiſche Fragmente. Mit Bezug auf bie bon θαι» mann'ſche „Bhilofophie Des Unbewußten“. on 1. Kluge, Pfarrer. Erfted eft. Motto: „Was bat der Weife voraus vor dem Thoren? Und was der Arme, außer er tradjte dahin, wo Xeben ijt". Salome. Breslau. Verlag von G. P. Aderholz! Buchhandlung. 1875. 6°. ©. 164.

Das ift ein Büchlein das ungemein anregend unb interefjant gefchrieben ijt. Der Verfaſſer geht nicht die gewöhnlichen Pfade zur Löſung ber philoſophiſchen Probleme, er weiß diefelben immer geiftreich anzufaſſen und mit packender Dialektik in feiner Meife zu verfolgen und zu löfen, die ticfjten Fragen werden angeregt und ihre Löſung fajt nut wie im DVorbeigehen gleid) einem pythiſchen Spruche bingeworfen, in wenigen Strichen wird eine oft meijtets hafte Kritit an den gedankenlos fortgeleierten Alltagsformeln unb Begriffsbeftimmungen der Schulphilofophie geübt, bie Gedanken werden dur fchlagende Bilder faBbar gemacht

334 Kluge,

unb für den abjtrafteften Gedanfen jtehbt ihm ans den wie ἐδ fcheint ihm mohl befannten Gebieten ber. Mathe⸗ mati und Naturwilfenfchaften ein anfchauliches Gleichniß zu Gebot, mit einjdjneibenber riti. dringt der Verf. nicht bloß in Logik und Noetik, Vfychologie und Metaphyſik ein, er gibt in großen Pinfeljtrichen gleich aud) feine Löſung drein und bod) hat das Ganze zulett etwas Unbefriedi⸗ gendes. Die Derborgefobenen Vorzüge deuten auch des Büchleins Schwäche an, e& will ja mur „philofophifche Sragmente“ bieten, aber eben das Epitheton „philo⸗ ſophiſch“ ſperrt fid) gegen die „Fragmente“, eine gefchloffene inftematifche Weltanſchauung möchten wir, nicht nur bie Trümmer einer fofdjen, ober be[fer nur einzelne Stücke berfefben bejdjauem. Zwar fehlt der rotfe Faden nicht, bie (piychologifche) Auffaffung des Menſchen al8 Synthefe von Natur und Geift beherrfcht und beeinflußt bie Aufeinander- folge und Entwidlung der ‚Sragmente‘, aber diefe Auffaffung felbft bleibt als bloße SBorausfegung ftehen denn bie in I. gegebene (djarffinnige bialeftijje Unterfuchung der Begriffe Allgemeinheit und Einfachheit wird doch jchwerlich als ges nügende Fundamentirung jener Beftimmung gelten dürfen, aus ber ber Verf. fo meittragenbe Schlüffe zieht und wenn mun von hier aus nod) vor⸗ und rüdwärts in die Gebiete der Logik, Pſychologie und Metaphyſik die Gedanfen- reihen weiter gezogen werden, fo brechen fie eben doch zulegt wilffürlich ab, um andern Plag zu machen. Wenn irgend- welche Wiſſenſchaft, fo ijt ἐδ eben bie Philofophie, welche fid gegen eine ‚fragmentarifche‘ Behandlung ſpröde jperrt. Was K. erzielen möchte, wäre: ftatt der abjtraften todten Formeln ber Philofophie eine lebendige Erfenntniß des Willens zu geben‘, der Hartmann’schen Philofophie des Unbemußten,

Philoſophiſche Fragmente. | 335

die bod) wenigſtens eine bejtimmte Löfung ber Welträthfel geboten, den mit den Ideen des Chriſtenthums harmoniren- den Inhalt feiner Philofophie au fubftituiren, πα ber langen rage um da8 Ob unb Wie des Erfennens aud einmal wieder die Erkenntniß felber zu bieten, der bisherigen Begriffsdialektik die das lebendige Sein erfaffende „Myftit“ einzupflanzen. Mit Wärme betont er wiederholt am Schluffe feiner feinen philofophifchen Unterſuchungen, namentlich bie religiös⸗praktiſche Tragweite derfelben gegenüber dem Hoch⸗ muth des gottverlafienen Pantheismus und Naturalismus. Diefe leßteren Geiftesrichtungen verfolgt ec mit befonderer Schärfe beflifjen, ihren volllommenen Banferott vor dem Forum des wiffenfchaftlihen Denkens nachzuweiſen. Am tiefften gehen unfere8 Erachtens K's piychologifche (gegen von Hartmann fpeciell gerichtete) Unterfuchungen über ba8 Berußtjein und Selbftbewußtjein. Der unbemupte ‘Drang zum Dafein wird als die jeder gefchaffenen Subſtanz mite gegebene dee gefaßt, bie jene lebendig auswirft je nachdem ohne (,unbemupt") oder mit Bewußtſein bezw. Selbftbe- wußtjein, und bie für die Entwicklung des menfchlichen Geiſteslebens daraus fid) ergebenden Folgerungen werden mit Scharfſinn verfolgt. An intereffanten Schlaglichtern auf das Gebiet ber anßerordentlichen Geifteszuftände wie bet Thierpfpchologie fehlt e8 nicht. Mit 9tadjbrud wird das autofrate Streben be8 menfclichen Geijte8 nad) einem ver- meintlichen abfoluten Erkennen auf bie ihm geſetzten Statute Ichranten verwiefen, beſonders gelungen ift der aus ber. Natur des Menfchen geführte Ermeis der alf unjerem (mit- theifbaren) Wiffen antlebenden finnlichen Befchaffenbeit. Gegenüber ber Lehre vom Seelenvermögen wird treffend gezeigt, daß bieje vermeintlichen Vermögen nur die doppelte Theol. Quartalſchrift. 1876. Heit II. 22

386 | Kluge,

vom Gentrum jur Peripherie (Wollen) und von ber Seri pberie zum Centrum (Erfennen) vordringende Aeußerung eines unb be[fefben Seelenlebens (‚Gefühl‘) fei. Entinenten Scharf- und Tiefſinn zeigen aud) die vergleichenden Unter: fuchungen über unfere Sinueswahrnehmungen u. |. f. ta táríid) ftimmen die Reſultate in vielen Stüden mit den von andern bewährten philofophifchen Forſchern der Neuzeit fejtgejtellten überein, aber überall faft ijt wenigſtens das Beweisverfahren des Verf. ein eigenthümlich tiefes und originale®.

Inder, wie ſchon angebeutet, c8 ijt ein ſchwankender Boden, auf bem fid jeine Erörterungen bewegen. Das ganze Gebäude ruht auf einer, mit der Scholaftik zu reden, Unterſuchung über die Univerfalten, wie der Verfaſſer denu aud) richtig mit der Scholaftit in der Materie das Indivi⸗ duationsprincip nachweisen will. Auch feine Lehre von der Idee ift ganz fcholaftifch, jo fehr jede äußere Anlehnung zu fehlen. (d)eint und fo verjchieden feine Sprache gegenüber den [djofajtijdjern termini lautet. Es ijt der ſtrengſte Rea⸗ lismus, welchen unfer Verf. vertritt. Darwinismus und verwandte Grjdjinungen befämpft er mejeutfid) als nomi⸗ nalijtije Srrthümer. Die Namen Realismus und Nomi- nalismus freilich fehlen, aber unter der durchaus modernen Worm finden fid) bie alten mob(befaunten, wieder zum Leben erwecdten Geftalten der Scolaftit wieder ein. Ob nur nedijd) verftedt oder unabfichtli) darauf geführt? So bleibt der Verf. beum aud) richtig in dem unerträglicden Dualismus von Geift und Natur fteden, der das Kreuz ber Scholaftit zeitlebens geblieben ijt. Gr muß fi mit dem Begriff ber Materie als ‚fubftanzieller todter Kraft oder Leblofer Kraft‘ (3. B. ©. 92) behelfen und dann au

Philoſophiſche Jragmente. 337

die göttliche Allmacht appelliren, damit fie der todten Sub- tanz durch GingieBumng der Formen zum (indivibuellen) Leben verhelfe. Jede ‚gefchaffene Subftanz‘ ift ihm durchaus ‚beziehungslos zu allen Gefdjüpfen' (S. 90), nur Gottes Allmacht kann zwifchen Geift und Materie (legtere unerfeuns bar gerade mie Gott! S. 18) vermitteln, das Wie ijt ein volfenbete& Wunder, denn ,Geift und Materie unterfcheiden fid wefentlich mie Xeben und Sob, wie Ya und Nein, wie die Natur des Allgemeinen und bie des Befon- dern! u. j. m. zwifchen beiden ift ein ‚unendlicher Unter» ſchied“ (S. 92. vgl. 102. 117). Kein Wunder, wenn der Verf. jeber (€. 92 Anm. 18) geftcht, daß er lange ge⸗ ſchwankt zwifchen ber Behauptung der Ewigkeit der Materie und ber Leugnung der Materie felbit und ihm gelegent« ih der Stoßjeufzer entführt (€. 128 Anm. 29): „die Pbbfif Bat die Farbigkeit der Materie zerftört; ich wünjdjte ihre Moterialität zerftören zu können“.

Aus der anti-Hartmann’schen Haltung des Werkes εἴς Härt e& fid) vielleicht, wenn für den Verf. die erfenntniß- theoretische Frage, bieje Vorausfegung aller Realphiloſophie (it Kant, in dieſem Sinne gar nicht zu exiftiren jcheint. Diefelbe gefliffentlihe Ignorirung diefer Tage war nun gleich der Haupteinwand, der von philofophifcher Seite gegen den großen aud) bon K. befämpften Dilettanten der Philo⸗ jophie erhoben wurde. K. gibt fid) trot feiner Polemik gegen v. Hartmann dem gleichen Dogmatismus Din, fein Stand: punkt zur erfenntnißtheoretifchen Frage ift ber Hegeld. So (abet aud) f. uns ein, gefälligſt nur ins Waſſer zu fteigen, um zu fchwimmen, aber die moralifchen Lehren, bie er dem philofophifchen Forfcher dafür auf den Weg mitgibt, aud) wenn er fie mit der Flagge der feligen Anna Katharine

22*

338 Kluge, Bhilofophifche Fragmente.

Emmerid) (ohne Zweifel der Sinn der geheimnißvollen A. 8. E ©. 161 Anm. 22) bedt, werden ihm jchwerlid das ern[te Kopfichütteln ber Philoſophen von der Zunft er: jparen. Die „lebendige*, Philofophie des Verf. wird fid) den Vorwurf nicht erjparen fünnen, daß fie vor ihrer Etablirung fid) flotterweife auch gar nicht um ihre vorhan- denen Mittel umgefehen habe. Die Berufung auf Gottes Wahrheit und Treue riecht gar zu theologifch (vgl. ©. 150: „Sewißheit ijt bie Nothwendigkeit des Sojeins in ber (ὅτε fenntnig. Da nun Gott das nothwendige Sein ift, fo ijt auch alle Nothwendigkeit aus ihm und daher alle Gewik- heit”). Des Berf. Beweis für das Dafein Gottes aus der „dee der beziehungslofen Nothwendigkeit“ (S. 97 vgl. 131) ift durchaus kein „myſtiſcher“, fondern findet fid) ſchon dem Wefen nad) bei Anfelm und Gartefiu&. Das ijt ja eben der Gedanke eines Aufelm, daß von allen Objekten Gott und am nüdjten und ficherften fein alfo auch unmittel⸗ bar von uns erfahren (des Verf. „lebendiger Ginbrud" ©. 52) werden miüjje und fchon Gartejiu8 hat das onto: logische Argument aud) in der Faſſung bargeftelt, daß bit Begriffe eines nothwendigen, unendlichen Seins nicht von den Gejchöpfen abjtrahirt, afjo von Gott uns unmittelbar müßten mitgetheilt fein, das Vorhandenfein ‘jener Ideen alſo das Dafein Gottes bemeije. Die von unjerm Berf. ebendeßwegen feftgehaltene Annahme der natürlichen Gottes idee in und mag dann vielleicht Urjache feiner nicht näher erflärten Abneigung gegen Arijtoteles wie feiner ebenfowenig motivierten Berufung auf Plato (S. 5. 148) fein. And) feine theologifchen Excurſe find, obwohl nur andentunge- weife hingeworfen (S. 26 Anm. 13. 33. 76. 83. 91. Anm. 17.127 Anm. 17. 135) nicht glüdfid) gerathen. Um nur

Freiburger Didcefan: Archiv. 339

Eines zu nennen ijt e$ müßige Spielerei, über die Natur: beichaffenheit be8 mit der justitia originalis ausgerüfteten Menſchen zu philofophiren, barf man nicht ohne weiteres eine fürmliche ruina naturae durch die Sünde lehren, darf man nicht vom Kampf des Tleifches gegen den Geift im eigentlichen Sinne reden, wehrt fid) bie gratia actualis entjdjieben gegen bie Identifieirung mit der „Lebensmacht“ des Verf. u. f. f.

Genug, der Berf. will ja mie e8 [deint, mit feinen ,atagmenten^ mur anregen, zum Selbftdenten reizen, zum Widerſpruch ftimuliren nad) Art des alten Sokrates und das [eiften fie vollauf. In diefem Sinne fünnn mir fie nur wiederholt empfehlen und deren glückliche Fortfegung wünſchen. reilich e8 weht darinnen manchmal eine ſcharfe Luft, die das Athmen erjchwert !

Repetent Dr. phil. Knittel.

5.

Freiburger Diöceſan⸗Archiv. Organ des kirchlich-hiſtoriſchen Vereins für Geſchichte, Alterthumskunde und chriſtliche Kunſt der Erzdiöceſe Freiburg mit Berückſichtigung der angrenzenden Bisthümer. Neunter Band. Freiburg i. B. Herder. 1875. XVI. 380 S.

Es liegt wieder ein Band des Freiburger Didcefan- Archivs vor und ich theile, indem id) auf die früheren Ans zeigen in ber Quartalfchrift 1872, 674 jf., 1874, 687 ff. verweife, den Hauptinhalt Turg mit. In der erften von

340 Freiburger Didcefan: Archiv.

Dekan Haid herrührenden Abhandlung €. 1—31 wird an den fiebenten Band angefnüpft und bie dort begonnene Gejdjidjte der Gonftauger Weihbifchöfe von 1550 bis 1813 weitergeführt und vollendet. Der bezügliche Zeitraum um: faßt über fieben Jahrhunderte und die Zahl der Weihbiſchöfe beläuft fid) auf 59 ober, wenn man den 1788 zum Coadjutor des Fürſtbiſchofs erwählten Dalberg einrechnet, anf 60. ALS der. erfte erfcheint Hermann 1076, der [egie ijt Ernſt M. Ferd. von Biffingen 1801— 1818. Die zweite Ab: handlung S. 33—100 ift eine von umfichtiger Forſchung und Gelehrſamkeit zeugende Beichreibung bes Linzgaues von Pf. Sambeth. In der dritten S. 101—140 gibt Dr. Gíag in ber Gejchichte des Gonftanger Bifchofs Hugo von Landen- berg einen beachtenswerthen Beitrag zur SReformationége: fhichte. Darauf folgen Beiträge zur Gefchichte der Ein führung der Reformation in Biberad) und zwar bie zeit- genöffischen Aufzeichnungen be8 Weltprieſters H. v. Pflummern, geboren 1475 in Biberach, geftorben und begraben 1561 in Waldfee, mitgetheilt von Kaplan Schilling, fowie bie Stüde aus den Annales Biberacenses des Obervogtd H. %. von Pflummern, in denen die Erlebniffe des Frauenkloſters zur ' Klaufe in den Fahren 1531 bis 1547 und die Erlebniffe des Kloſters Heggbach von 1546 bis 1552 nebft einer Ge: Ipenftergeihichte vom Jahre 1524 behandelt find, mitgetheilt von Dr. Baumann S. 141—246; ferner Beiträge zur Kloftergefhichte von Kreuzlingen und Münfterlingen von Staiger €. 265—334 und endlich eine Abhandlung über Radolfszell und feinen Gründer von Ginshofer €. 335—300. Den Schluß madjen einige Fleinere Meittheilungen.

Der Band bietet, wie hieraus erhellt, reichen und mannigfaltigen Inhalt und das Archiv dürfte namentlid

Teuffel, römische Literaturgefchichte. 341

von Seiten ber Geiftfid)feit der Diöcefe Rottenburg eine größere Berückfichtigung verdienen, als ihm bisher zu Theil geworden zu fein fcheint, ba bie Publicationen, die hier ge- boten werden, jid) auf einen fehr beträchtlichen Theil ihres Sprengel® beziehen. In dem Mitgliederverzeichniß des Bereins fehlen immer, noch einige Capitelsbibliothefen von Orten, die ehemals zur Diöcefe Conftanz gehörten unb für bie das Archiv von befonderem Intereſſe ift, weshalb ich dafjelbe auf’8 neue zur Berücjichtigung empfehle.

Sunt.

6. Sefchichte ber römiſchen Literatur von 88. ὦ, Teuffel. Leipzig.

Teubner. Erſte Auflage. 1870. 1052 S. Zweite Aufl. 1872. 1163 S. Dritte Aufl. 1875. 1216 ©. .

Allgemeine Gefhichte der Literatur des Mittelalters im Abend- land von Adolph Ebert. Erſter Band. Gefchichte der ἄτι: Jichelateinifchen Literatur von ihren Anfängen bis zum Zeit: alter Karls be8 Großen. Leipzig. Vogel. XII u. 624 ©.

1) Wenn ein Werk, wie die römifche Literaturgefchichte von Zeuffel, in vier Jahren (die Vorrede zur dritten Auf- lage murbe genau vier Jahre nad) der zur erften gejchrieben) drei Auflagen erlebt, fo darf jchon der Erfolg a(8 ein Beweis feiner Güte unb Trefflichfeit angefehen werden. ‘Die Arbeit verdient, ba mit der heidnifchen aud) die chriftliche Tateinifche Literatur in ifr behandelt wird und da zu einer vollen Wür⸗ digung der letztern auf die erftere ſtets wenigſtens einige Rückſicht zu nehmen ift, auch bie Beachtung der Leer ber Du. Schr: und fie wird jedem, ber fid) mit patrologifchen

342 Teuffel,

Fragen zu befchäftigen Dat, gute Dienfte leiften. Der Verf. verftand es trefflich, mit furgen Worten einen Schriftfteller zu zeichnen und vielfach find feine Charakteriftifen geradezu meifterhaft. Ich führe als Beifpiel feine Worte über Ter- tulfian an: „Eine merkwürdige Geftalt ift Q. Septimius Florens Tertullianus (um 150—230 mn. Ehr.), ein Scrift- fteffer voll Originalität und Genialität, begabt mit lebhafter Phantafie und jchlagfertigem Wite und von einer Qeiben- Schaftlichkeit, bie ifm oft eine Hinreißende SSerebjamfeit ver: (eit , noch öfter aber über ihr Ziel hinausſchießt und in ihrer büfterem Gut ſich felbft verzehrt, ohne Licht und Wärme zu verbreiten. Sein Lebenselement ift der Kampf und feine zahlreihen Echriften find überwiegend Streit ídriften, potemifd und apologetiih. Zuerſt verficht er ba8 Chriftenthum gegen feine Bedränger und Widerfacher , be fonders im Apologeticum; aber innerhalb des Ehriftenthums felbft fand fein ſchwärmeriſches Wefen volles Genügen erft an der Lehre des Montanus mit ihren phantaftifchen Weie- Jagungen und ihrer ftrengen Ascefe und Xertuífian wurde nun beren Vorkämpfer im Abendlande, bod) fo baf fein Iharfer Verſtand die Schroffheiten derfelben abſchwächte. Ton und Charakter diefer Schriften ift überall der gleiche: gebantenreid) und formlos, Teidenfchaftlich und ſpitzfindig, die Sprache beredt und markig, gedrängt und energiſch bis zur Dunkelheit“. An eine ſolche Charakteriſtik ſchließt fid) in jedem Paragraphen eine Reihe von Anmerkungen an und dieſelben enthalten je die biographiſchen Notizen der Alten über bie Lebensverhältniſſe, den literariſchen Charakter und ‚die Literarifche Bedeutung eines Schriftftellers, bie Titel feiner Werke und unter Umftänden eine kurze Inhaltsgabe, eine Zufammenftellung der Ausgaben und Bearbeitungen

Nömifche Literaturgefchichte. 343

u. 1. Ὁ. Das große Detail, das Hier geboten wird, ijt mit ebenfo großer Sorgfalt als CadjfenntuiB ausgewählt und man wird nur felten einen Fehler oder eine Lücke finden. Wenn ich im Folgenden einige Punkte anführe, wo id) entweder etwas vermiſſe oder eine Unrichtigkeit erfenne, [0 möge ber gelehrte Verf. daraus erfehen, daß der Schüler der Arbeit feines Lehrers wie mit Synterejje fo mit Sorgfalt gefolgt ijt.

Dei Minucius Felix 468, 8 find bie lleberjetgnngern von Allecker (Trier 1865) unb Bieringer (Kempten 1871. Bibliothef der Kirchenväter Bochen 22), bei Ambrofius 483, 1 bie Monographie von Baunard, düberjegt burd) Bittel (Freiburg 1873) überfehen. Die Charakterifirung be Montanismus 373, 3 ift unbeftimmt, ba gerade die gewichtigiten Momente, wie ba8 Verbot der zweiten Ehe und da8 Verbot der Wiederaufnahme der fehweren Sünder, fehlen. Bon Eyprian werden 382, 2 elf Predigten erwähnt, von denen id) bisher nichts entdecken konnte. Die Behandlung be Hilarins von Poitiers, Ambrofins und noch einiger anderer der fpäteren Schriftfteller diirfte gegenüber Minucius Seir und Firmicus Maternus etwas zu kurz ausgefallen fein. Die Prädieirung des großen Biſchofs von Mailand als ,wunerjüttfid) für die Macht und den Ruhm’ feiner Kirche“ 433 ift nicht blos eine [djiefe Vorftellung zu er» weden geeignet, fondern infofern aud) unridjtig, als die Handlungen, die ber Verf. bei der Wahl diefer Worte wohl im Auge Hatte, zunächft mur llebergriffe des Heiden⸗ thums und des Arianismus abwehrten. Mit der Behaup- tung 436, daß Rufin feine Berühmtheit vorzugsmeife der erbitterten Streitfchrift verdanfe, welche Hieronymus gegen den ehemaligen Freund richtete, dürfte die literarhiftorifche

344 Ebert,

Bedeutung be8 Ueberſetzers des Periarchon von Drigenes, ber feirdjengejd)id)te von Eufebius u. j. w. über Gebühr abgeſchwächt fein. Die Priefterweihe Anguftins ift nicht auf .ba8 Yahr 392, jonbern 391 anzufegen, ba der Aufenthalt, den er nach feiner SSefefrung zu TIhagafte nahm, nad) Bof- ſidius Vita s. Aug. c. 2 nur drei Jahre (388—391) beträgt. 455 ift be8 SOrofiu8 Commonitorium de errore Priseillianistarum et Origenistarum überfehen, ba8 der Schrift Auguftind Ad Orosium contra Priscill. et Origen. in ber 9tegef borangebrudt ift, unb nicht ganz richtig fcheint ἐδ mir zu fein, ba8 Hauptwerk diefes Schriftitellers ohne meiteres einen Geſchichtsabriß mit wilffürficher und ten denziöfer Auswahl des Stoffes zu nennen, ba e8 in erfter Linie einen apologetifchen Zweck verfolgt und erft in zweiter, weil der bezügliche Vorwurf der Heiden auf hiftorifchen Wege zu widerlegen mar, zu einer Art chriftlicher Univerfal- gefchichte wurde. Ob das evite gefchichtliche Auftreten Leo's des Gr. auf das Jahr 418 fällt, wie 459, 1 angenommen wird, ift zweifelhaft, da wir keineswegs wiſſen, ob der von Augujtin ep. 191 erwähnte Afoluth Leo der nachmalige Papft bieje8 Namens ift, und wenn ἐδ je richtig ift, was an dem gleichen Ort behauptet wird, daß Leo „jeder Regung von Selbftändigfeit energifch entgegentrat“, jo find jedenfalls bie zum Beweis angeführten Punkte unglüclich gewählt. 2) Nimmt Teuffel die chriftliche Literatur in ihrem ganzen Umfang in feine Riteraturgefchichte auf, [0 "bringt fie Ebert nur infoweit zur Darftellung, als fie einen allgemeinen unb nicht bloß einen theologifchen Charakter hat ober eine Weltliteratur ift, wie er in ber Vorrede jid) atsdrüdt. Zeigt feine Arbeit fo gegenüber jener einerfeitS eine Be— idrünfung, fo gehte fie anbr[eit& über diefelbe hinaus, fofern

Literatur be8 Mittelalters. 345

er bie einzelnen Schriften, bie in feinen Rahmen fallen, mit- ziemlich großer Ausführlichkeit behandelt und befonders von ihrem Inhalt je cine eingehende Analyje gibt. Wer daher zu den patriftifchen Werfen nicht ſelbſt zurückgehen will, fann fid) hier leicht und ſchnell über fie orientiren und auch der, ber mit den Vätern eine nähere Bekanntſchaft zu machen gefonnen ift, wird bie Schrift nicht ohne Genuß und Gewinn aus der Hand legen. Sie ift mit.Wärme und CadjfenntniB gefchrieben unb bietet mandjes Neue, wenn: gleich bie Ankündigung, dieſes oder jenes [εἰ bisher wenig oder nicht beachtet worden (auf der einen Seite 446 findet fie fid) zweimal) beffer "manchmal fehlen dürfte. ‘Dabei ijt aber [tet& bie Beſchränkung im Auge zu behalten, die der Berfaffer fid) auferlegte, und ſowohl was Autoren als was Schriften anlangt, Vollftändigkeit von vornherein nicht zu erwarten. Auch ift felbft ba, wo ber Verfaffer fein Urtheil mit apobiftijdjer Gewißheit abgibt und jeden Zweifel au$- Schließen will, eine nähere Prüfung nicht gerade immer überflüffig.. Ich verweife 3. B. auf ©. 62, mo mir bet gegenfätzliche Auftoß zur Bekehrung Cyprians und Arnobius’ durchaus nicht fo völlig einleuchten will, wie dem Verfaffer, auf S. 193, wo ber Vita Malchi c. 1 entnommen wird, Hieronymus habe eine Kirchengefchichte in Biographien der Heiligen und Martyrer fchreiben mollen, während in Wahr» heit dafelbft gefagt wird, er wolle in einer Kirchengefchichte bauptfächlich berückfichtigen, welchen Einfluß die Verfolgung und die Erlangung von Macht und Reichthum auf die Kirche ausübte, auf €. 446, mo bemerkt wird, bie Harmlofigkeit der Einleitung zum Commonitorium des Vincentins von Lerinum ſetze den antiauguftinifchen Charakter der Schrift außer allen Zweifel, als ob e8 für diefe Erfcheinung nicht

346 Potthast,

πο andere zuläffige Erklärungen gübe, und jdjfieBe bieje Anzeige mit der Bemerkung, daß mir auch die Beurtheilung des Juvencus nicht ganz richtig zu fein fcheint. Ach bin zwar weit entfernt, der Historia evangelica großen poeti iden Schwung zuzufchreiben, und e8 fann das um fo weniger meine Abjicht fein, a(8 der Dichter ficherlich felbft einen folhen gar nicht anftrebte. Auf der andern Seite ijt es aber auch zu weit gegangen, wenn feine dichterifche Thätig⸗ feit S. 112 lediglich auf die äußere Form des Verſes und des Ausdruckes permiejen und feine poetifche Begabung ledig lid) in fein formales Talent gejegt wird. Ich vermweife dagegen auf II, 1 jf, II, 25 ff., 45 ff., 515 ff. u. f. w., wo bod) einige dichterifche Begabung zu erkennen fein dürfte, und mache insbefondere noch darauf aufmerfjam, daß Juvencus II, 45 ff. gegen feine Regel nicht bem Evangeliften Matthäus folgt, obwohl die bezügliche Erzählung aud) bei ifm fid findet, fondern dem Evangeliften Markus und der Grund bieje8 Verfahrens ift, wie man bei einer: Vergleichung der beiden bibfijd)en Abfchnitte Leicht erfennt, offenbar ber, weil der zweite Bericht zu einer bidjterijd)en Geftaltung geeig- neter iſt. Funk.

7.

Regesta pontiflcum romanorum inde ab a. post Christum natum 1198 ad a. 1304 edidit Augustus Potthast Huxariensis Westfalus. Opus ab academia litterarum Berolinensi duplici praemio ornatum ejusque subsidiis liberalissime concessis editum. Vol. 11. Berolini, pro-

Regesta pontif. roman. 347

stat in aedibus Rudolphi de Decker. 1875. 4. p. 943 2158.

Das große Regeſtenwerk, deſſen erfter Band im Jahr—⸗ gang 1874 ©. 325 ff. angezeigt wurde, liegt mit dem Erjcheinen dieſes zweiten Bandes vollftändig vor und bie Wiſſenſchaft ift damit um ein Werk erften Ranges bereichert. Die Zahl der Negeften, die fid) im der erften Hälfte auf 11075 belief, ijt in der zweiten auf 25448 bezw. 26662 angewadjien, wenn wir bie 3ujdge dazıı rechnen, welche | nebjt zahlreichen Verbefferungen in dem Nachtrag ©. 2041 2138 geliefert werden, unb der AJeitabjd)mitt, der bier zur Verhandlung fommt , umfaßt die Jahre 1243— 1304. Der Stoff, ber zu durchforſchen war, war fienad) ein ungeheurer unb das Verzeichniß der benütten Bücher, das am Ende be8 Werkes beigefügt ift und das bie Seiten 2139—2157 füllt, obwohl die Bücher, denen nur die eine oder andere Negefte entnommen wurde, nicht hier, fondern am betreffenden SOvte im Werke jelbjt namhaft gemadjt wurden, eröffnet einigermaßen einen Einblid in die um- fajfenden und langwierigen Studien, denen fid) der Verf. zu feiner Arbeit unterziehen mußte. Daß das Werk troß diefer Anjtrengung nicht den Grab ber Vollfommenheit er: reichte, ber ihm im Tall ber Zulaffung zum päpftlichen Archiv, in bem die Regeften der Päpfte von Innocenz III bis Paul V in 2019 Bänden aufgejpeidjert liegen, ober burd) einen Römer hätte gegeben werden Können, mußte der Verf. natürlich felbft am meiften bedauern und fein Schmerz wird von vielen Seiten getheilt werden. Seinem Verdienfte vermag aber diefer Umftand feinen Eintrag zu thun. Bon jedem, der nicht Unmögliches fordert, wird

348 Wattenbach,

ihm für ſeine Leiſtung aufrichtiger Dank zu Theil werden und die Achtung vor derſelben wird in Folge der Kritik, die inzwiſchen der Abbate Preſſuti in Rom (I Regesti de’ romani pontefici dall' anno 1198 all’ anno 1304 per Augusto Potthast. Osservazioni storico-critiche Roma 1874) an ihr übte, bei einem unbefangenen und biffigen Beurtheiler nidt im minbe[ten finfen, ba ja abfolute Voll⸗ fommenfeit bei dem Verſchluß des päpftlichen Archivs überhaupt nicht zu erwarten war. Er felbft fprad) in ber - Borrede dem römifchen Rritifer feinen Dank für bie Förbe- rung aus, die feine Arbeit durch deſſen Schrift erfuhr, nnb nahm, was fie ihm Neues bot, bereit und gerne in feinen ergänzenden und verbeffernden Nachtrag auf. Die Freunde ber Wiſſenſchaft aber werden feine Leiftung höher anfchlagen als naferimpfende Nergeleien von einer Seite, die Beſſeres zu bieten wohl die Mittel, aber nicht bem Willen hat. Mag fie einjt audj durch eine römifche Pu⸗ blifation überflügelt werden: immerhin wird es bis dahin nod) lange Zeit anftehen unb vorerft wird fie für jeden, ber ſich mit der Gefchichte des 13. Yahrhunderts befaßt, ein wie unentbehrliches jo aud) ſehr nügliches 3Bud) fein, weßhalb fie der Beachtung der Qejer ber Qu. Schr. aufs angelegent- [idfte zu empfehlen ijt. Sunt. ᾿

8. Das Schriftisefen im Mittelalter von 88. Wattenbad. Zweite

vermehrte Auflage. Leipzig. Hirzel 1875. VIII u. 569 ©. .

Preis 11 M. - Die erfte Auflage diefer Schrift ift im Jahre 1871 er[djienen nnb die rafche Folge der zweiten zeigt, daß fie

Schriftweſen im Mittelalter. 349

einem Bedürfniß ſowohl entgegenfam ale "genügte. Der Stoff war inzwischen durch ähnliche Arbeiten auf beſchränktem Gebiet nicht wenig bereichert worden und fo darf fid) bie vorliegende Auflage eine bedeutend erweiterte und vielfach berichtigte nennen. Der Berfaffer gejteht zwar zu mod) feineswegs alle Werke, welche eine Ausbente für feinen Zweck verhießen, ſyſtematiſch durchgearbeitet zu haben. Allein damit wäre zunächſt nur der Umfang der Belege ein größerer geworden, im übrigen aber die Arbeit wohl diejelbe geblieben, da er bereits jet über ein jo ausgedehntes Material vers fügte, bap bie leitenden Gefichtspunfte als richtig gelten dürfen. Die Darftellung ijt, mie wir e8 bei dem Verfaſſer | gewohnt jind, vein jadjfid) unb ein kurzer Hinweis auf den Hauptinhalt der Schrift wird genügen um zu zeigen, mie viel des Intereſſanten und Belehrenden in ihr geboten wird. Das Schriftwejen wurde bis anf bie neuefte Zeit als Theil und Hilfswilfenfchaft der Dipfomatit und ber mit ihr verbundenen Paläographie behandelt unb darum wird in der Einleitung eine Have und überjichtliche Gefchichte diefer beiden Disciplinen vorausgeſchickt. Die Schrift felbft zerfällt in fieben Abjchnitte und diefelben handeln 1) von den Schreib: ftoffen, 2) von den Formen der Bücher und Urkunden, 3) von den Schreibgeräthen und ihrer Anwendung, 4) von der Behandlung der Schriftwerfe, 5) von ben Schreibern, 6) von dem Buchhandel und 7) von den Bibliothefen und den Archiven. Die mittefalter(idjen Schreibftoffe, bie zuerjt bes fprochen worden, waren Stein und Metall, Wadstafeln, Thon und Holz, Papyrus, Leber, Pergament, Papier und ba8 Meittelalter überfam jie alle mit Ausnahme des legten von dem claffischen Alterthum. Die Wachdtafeln, von denen kürzlich in bem Goldbergwerken Siebenbürgens mehrere aus

350 Wattenbadh,

dem Alterthum entdeckt wyrden, fanden eine vielfache Ber wendung bis gegen Ende des Mittelalters unb zu einzelnen Zweden, zum Verzeichnen der täglichen Dfficien in ben Kirchen und Klöftern, zum Werzeichnen ber Antheile ber Salzbornen in Bergwerken, wurden fie noch länger gebraucht. Der Papyrus erhielt fid) bis im'8 zwölfte Jahrhundert, wo er vermuthlich burd) das billigere Papier verdrängt wurde, auf das num auch die Benennungen zzazsvgos, charta übergingen. Er war namentlich in der päpftlichen Ranzlei gebräuchlich und behauptete (id) hier bis in'8 elfte Yahr- hundert, wo er dem Pergament den Pla räumte. Uebrigens find megen der DVergänglichkeit des Stoffes päpftliche Bullen auf Papyrus nur wenige auf uns gefommen. Wohl aber haben fid) in Frankreich Diplome auf Papyrus aus ber Merowingerzeit erhalten und Wien befigt fogar eine Hand⸗ des bi. Hilarins von Poitierd auf Bapyrus aus dem vierten Jahrhundert. In Deutfchland fam er nie zur An wendung, da hier, a8 man zu jchreiben anfing, Pergament der gewöhnliche Schreibftoff war. Die Entftehung des legteren fällt in das zweite Jahrhundert vor Ehriftus. Als 8. Eumenes II (197—158) in Pergamus eine große Bibliothek anlegte und die Ptolemäer die Ausfuhr des Papyrus aus Aegypten aus Eiferjucht verboten, wandte man fid) wieder dem altafiatifchen Schreibftoff, den Thierhäuten zu und verbefferte feine Zubereitung in einem Maße, daß er in diefer neuen Gejtalt al8 charta Pergamena bezeichnet wurde. Die Neuerung hatte eine andere für bie Schriften- form zur Folge. War bei dem Vorherrfchen das Papyrus bisher bie 9toffe mit Bezug auf den Stoff βέβλος, liber, charta, mit Bezug auf die Form volumen, κύλενδρυς und fpätgriehijch εἰλήταριον, eiAzvov, ἐξείλημα genannt

Schriftweſen im Mittelalter. 351

vorwiegend, fo erlangte jett auch die Buchform, die fid) juerft bei den MWachstafeln findet, eine größere Verbreitung, da das Pergament in ber Regel gefaltet wurde, und für umfangreichere und bedeutendere Schriften wurde diefer nenc Stoff dem alten alsbald vorgezogen. Er erfreute fid) einer größeren Dauerhaftigfeit und der Bergamentband faßte mehr als eine Papyrusrolle, da feine Blätter auf beiden Seiten beichrieben wurden. Das Material, aus bem das Perga- ment bereitet wurde, war nicht, wie das gewöhnliche Vor: urtheil annimmt, die Eſelshaut, fondern die Haut von Schafen, Ziegen und Kälbern. Als das römifche Reich dem Untergang anheimftel, geriet feine Fabrikation in's Stoden und num ward ein Verfahren, ba8 auch im Alters tum ſchon vielfach üblich mar, nod) häufiger üt Anwendung gebracht. Man wuſch altes Pergament ab, um Raum für neue Schreiberei zu gewinnen und ſo entſtand das Palimpſeſt. Dieſes dauerte, bis ſich die Fabrikation unter Karl dem Gr. erneuerte, und zu derſelben Zeit nahm auch der Luxus, gegen den bereits Hieronymus (Praef. in Job) eiferte, wieder einen Aufſchwung, indem man mit Gold und Silber auf burpurgefärbtes Pergament fchrieb. Als das Papier im Abendland in Gebrauch fam, wurde das Pergament befchräuft, aber nod) keineswegs verdrängt ; es blieb vielmehr ba und dort unb mamentfid) in Italien noch in ziemlich häufiger Anwendung. Der Urfprung jenes modernſten Schreibftoffes liegt im Dunkeln. Bei ben Ehinefen fol er uralt und im Fahre 704 foll er zu den Arabern gefommen fein, von mo tt zu den Spaniern und ben übrigen Völkern Europas ges langte. In Deutfchland faffem fid) die erften Papierfabrifen im Anfang des vierzehnten Jahrhunderts zwifchen Köln

und Mainz nachweifen und e8 mar zumeift Linnen» bezw.

Theol, Quartalſchrift. Heft IL. 1876. 23

352 Wattenbach,

Lumpenpapier, das hier bereitet wurde. Daſſelbe wird zuerſt von Petrus von Clugny (1122— 1150) erwähnt; dagegen foffen die Chinefen und Araber ihr Papier uriprünglich aus rofer Baumwolle verfertigt haben.

Indem id) απὸ dem dritten Abjchnitt nur das anführe, daß das Werkzeug, mit dem gefchrieben ‚wurde, im Alterthum bei Wachstafeln der Griffel, bei Bapyrus und Pergament dag Rohr war und bap bieje8 allmählig butd) bie Weber verdrängt wurde, bie zuerft unter bem. Oftgothen Theoderich erwähnt wird, und indem ich bezüglich des vierten ganz auf die Schrift jelbjt vermeije, gehe ich fofort zum fünften über. Die eigentlichen Bücherſchreiber waren im Mittelalter die Mönche und grunbjüglid) wurde dieſe Thätigkeit durd Gajfiobor in die Klöfter eingeführt, während die Regel Benedikts auf bie Vorausfegung einer Kloſterbibliothek für das Studium bejchränkte. Auch die Verhältniffe in den neubelehrten Rändern miejen bie Geiftlichleit auf eine gelehrte ZThätigkeit Din. Da ἐδ dort wie feine höhere Cultur über: haupt jo aud) feine Schulen gab, fo mußte fie, wenn fie die Bildung unter fif) nicht erfterben laſſen wollte, felbft Schulen errichten und ἐδ gefchah diejes zumeift durch die Mönche. Bald galt der Grundjag: claustrum sine armario (Bibliothef) est quasi castrum sine armentario und der Aufſchwung klöſterlicher Zucht war in der Regel von neuem Eifer im Bücherabfchreiben begleitet. Seldft Nonnen be theiligten fid) an biejer Arbeit und anBer den angeführten hätte der Verfaſſer auch noch die Abtiſſin Gabburga nennen fónnen, die Bonifacius (ep. 19. Migne Patrol. curs. compl LXXXIX, 712) bittet, ut mihi cum auro conscribas epistolas domini mei sancti Petri apostoli. Vom 13. Jahrhundert an gerieth bie Schreibtunft allerdings

Schriftmefen im Mittelalter. 353

in manchen Mlöftern in Verfall. Doch erhielt fie fid) in andern und die Brüder vom gemeinfamen Leben machten aus dem Schreiben ein Gewerbe. Widmeten jid) die Mönche - bem Unterricht und dem Abjchreiben von Büchern, fo wurden die Weltgeiftlichen durch gefchäftliche Schreibereien in An— Ipruch genommen und außerhalb Italiens, wo allein der Stand der Notare aus bem Alterthum ins Mittelalter jid) hinüberrettete, ſchrieben fie viele Jahrhunderte lange alle Urkunden. Schon unter den Rarolingern fielen Kapelle und Ronzlei zufammen, während bie Merovinger noch weltliche Ranzleibeamte Hatten und fortan ruhte außerhalb δεῖ apenninischen Halbinfel alle Correſpondenz im geiftlichen Händen. Jeder Mann von einiger Bedeutung mußte feinen clericus, clerc, clerk, Pfaff haben, der feine Briefe [a6 und fchrieb, eine Unzahl von Geiftlichen findet fif) in ber Stellung von Beamten und Schreibern und εὐ vom dreis zehnten Jahrhundert an wurden fie in diefer Beziehung allmählig durch Laien erjegt und verdrängt.

Einen Buchhandel gab e8 im Mittelalter nachweisbar nur in alien und vorzüglich in Nom. Er erhielt fid) bier aus dem Altertfum und entiprah einem 3Bebür[nip, da die Laien in biejem Lande nie aufhörten zu lejem. In den übrigen Ländern ift feine Griftenz unb fein Umfang meist in Dunkel gebül(t und jiher ijt nur, daß er von Anfang bis Ende’ nirgends bem Bedürfniß ber Bücherfreunde genügte. Er beichränkte fidj auf einzelne gangbare Artikel und zufällig in bem Handel gefommene alte SDianujcripte und wer eine Schrift zu befigen wünfchte, die gerade nicht: zu haben mar, was wohl in der Mehrzahl der Fälle zuges troffen haben wird, mußte fie fid) eben abjchreiben laſſen. Diefer Aufgabe genügten die stationarii, bie wenn aud)

| 23*

354 Wattenbach, Schriftmeien im PMittelalter.

unter anderem Namen fchon am Anfang des Mittelalters eriftirten und nach langem Zwifchenraum an den Univer- jitäten wieder zum Vorſchein famen. Sie gehörten mit dem gejammten Perfonal, ba8 an der Herftellung von Büchern Theil hatte, zur Univerfität, waren aber eigentlich gar feine Buchhändler, fordern vermietheten Bücher, bie De[timmt vorgefchrieben waren, zum Abjchreiben, was nad) obrigfeit- licher Zare bejorgt wurde, nahmen ferner den Nachlaß Ver—⸗ ftorbener und die Bücher abgehender Etudenten, aud) bie Bücher vou Juden, denen direkter Handſchriftenhandel unter: jagt war, in Verwahrung und vermittelten den Verkauf gegen eine bejtimmte Provifion. Der Handel war wenigſtens mit den currenten Zehrbüchern fein freier ; der Käufer mußte fie, wenn er die Stadt verließ, zu neuem Verkauf zurüd- laſſen und e8 war dieſes wenigftens in [püterer Zeit bet Tall, wie eine Verordnung von Bologna aus dem Jahre 1334 zeigt. Um diefelbe Zeit läßt jid) inbejjem anderwärts bereit& ein fürmlicher Buchhandel nachweifen und der Haupt. büchermarft war Paris.

Das Bisherige läßt erwarten, daß im Mittelalter vor- nehmlich die Geiftlichkeit auf Anlegung von Bibliotheken bedacht war. Ohne einige Bitcher konnte keine Kirche fein. Bei größeren Kirchen entftanden al8bald bedeutendere Samm: lungen unb die Klöſter betrachteten zeitweife bie Pflege ihrer Bibliothek ala eine ihrer vorzüglichiten Aufgaben. Leider haben einzelne den Ruhm, den fie fid) babutd) erworben, fpäter burd) große Nachläffigfeit wieder verdunfelt und zu ihnen gehört namentlich Monte Caffino. Deffentliche Biblio- thefen kennt erft das jpütere Mittelalter und die erſte große entftand durch die Bemühungen von Niccolo Niccoli und Cofimo de’ Medici im Klofter Gan Marco in Florenz, die

Endemann, Kanoniſtiſche Stubien. 355

zweite durch die Bemühungen ber Päpfte Nikolaus V und Sirtus IV in Rom. Die Handjchriften ftanden dort bis zum Sabre 1550 in Scränten, 6i8 zum Jahre 1685 wurden fie an Ketten gelegt und diefes Verfahren machte eine befondere Ueberwachung der gefenben überflüffig. Aehnlich verfuhr man früher mit den Büchern, die zu allgemeinem Gebrauche in den Kirchen aufgelegt waren und die Praxis tij BIS in bie Zeit Gregor be8 Gr. zurück, indem deſſen Intiphonarium im der peteréfirdje am Altare dev bf. Apoftel an einer Kette lag. Bekanntlich fand aud) Luther bie Bibel in Erfurt fo und bie confeffionelfe Gehäffigfeit ſchrieb ber Anfettung einen Zweck zu, ber dem wahren Zweck geradezu entgegengeſetzt ijt.

Indem ich bezüglich) des Übrigen reichen Inhaltes auf die Schrift felbft verweife, bemerfe ἰῷ nodj, daß €. 475 auch die Reportata Parisiensia von Duns Scotus erwähnt werden fonnten und daß die Lebenszeit von Bafilius dem Or. und Gregor von Nyſſa €. 268 ft. auf c. 400 beſſer auf c. 380 angefegt wird, ba ber eine 379 ftarb und der andere 394 zum fegtenmal in der Gefchichte erjcheint.

Funk.

9.

Studien in der romaniſch-kanoniſtiſchen Wirthichafts: und Rechtslehre bis gegen Ende be8 fiebenzehnten Jahr: bundert3 von Dr. Wilhelm Endemann. Erſter Band. Berlin. Guttentag. 1874. 471 ©.

Bier Studien, ungleih an Umfang und ungleid im Werth, werden uns in diefer Schrift geboten. In der erjten €, 9—71 wird eine lleberfidjt über die Gefchichte der

356 . . Qnbemann,

Wucherlehre gegeben, bie jmeite" Ὁ, 75—340 handelt vom Mechfel, bie dritte S. 343—420 von ber Societät, bit vierte ©. 423—471 von den Banken unb Bankgefchäften. Die erfte und die vierte treffen inhaltlich großentheile mit der Geſchichte des kirchlichen Zinsverbotes zufammen, bie ich vor kurzem als Programm zur Feier des Geburts- fejte$ des Königs von Württemberg fchrieb, unb fie unter: jcheiden jid) von meiner Abhandlung πᾶς dadurch, daß ich mid) auf das kirchliche und theologifche Gebiet befchräntte, während dort aud) die weltliche Jurisprudenz in den Rahmen ber Darftellung gezogen wird. Ich entbedte diefe Ueber: einftimmung erjt nad) dem Druck meiner Abhandlung und id) bedauere dieſes infofern, aí8 die jurijtijd)e Literatur, von ber ih durch das Buch Kenntniß erhielt, mich in ben Stand gefett hätte, die Lebenszeit einiger mittelalterlicher Kanoniften genauer zu bejtimmen. Weiter aber habe ich biejen Umſtand nicht zu beklagen; denn die Kenntniß der Gejchichte bes Zinsverbotes ober ber Wucherlehre, wie er fid) ausdrückt, hat durch den Verfaſſer nicht die mindefte Bereicherung εἰν fahren und feine Arbeit enthält nicht einmal alles das, was über den Gegenstand bereits feftgeftellt worden war. Ich will nicht von der einfchlägigen Literatur der Franzoſen reden, "die ibm eher entgehen konnte. Aber er machte [ὦ nicht einmal zu Nutzen, was die theologifche Realenchklopädie von Herzog unb die Schrift de usuris non Salmafins bietet und jo wird, wer nicht ganz Idiot in der Frage ift, aus feiner Gefchichte der Wucherlehre ſchwerlich viel Neues εἰ: fahren. Ich will darauf verzichten, die zahlreichen Fehler namhaft zu machen, bie ἰῷ in der Studie vorgefunden habe. Die Sade würde zu weit führen und eine im'$ Einzelne eingehende Kritik ijt hier um jo eher überflüffig, da das

Kanoniftifche Studien. 357

Ganze mangelhaft ift. Dagegen find bie Hauptfehler ber Abhandlung kurz hervorzuheben.

Seine Grundanſchauung gibt der Verfaſſer durch wiederholte Verwechslung ber Begriffe Zins und Wucher und namentlich durch die SBemerfimg ©. 3 zu erfennen: der Gedanke Tiege nicht allzu ferne, daß nunmehr, nachdem die Zinsfchranfen durch die Gefeßgebung der legten Jahre wenn nicht ganz, doch größtentheil® Hinweggeräumt worden Kien, der Begriff des Wuchers ganz zu den Akten gelegt werden dürfe. Diefe total verfchiedenen Begriffe find ihm jomit ibentijd) unb fein Standpunkt ift infofern im Wefent- lichen ganz derjelbe wie der der mittelafterlihen Scholaftif, über bie er jid) [o weit erhaben bünft. Von einer tieferen Auffoffung der Sache und von einer correcteren Begriffs- beftimmung ift bei ihm fo wenig etwas zu finden als bei jener und eim Unterfchied zeigt fid) nur in fofern, daß jene den Zins für fündhaft Hielt, während er, in der Periode ber Gründungen allerdings Feine vereinzelte Erfcheinung, ben Wucher als erlaubt betrachtet, Anſchauungen, die beide gleich einfeitig find, indem bie eine ba8 Recht der Moral, bit andere die Moral dem Hecht zum Opfer bringt. Was fodann die gefchichtliche Auffaffung der Frage anlangt, jo behauptete er S. 10, die Hauptgrundlage der chriftlichen Wucherlehre ober, wie er fid) mit Vorliebe audbrüdt, ber kanoniſchen Dogmatik, (ei das neue Xe|tament, die bezüig- (iden Ausfprüche des alten ZTeftamentes fein nur unter- ftügende Nebenmomente, während e8 fid) für das Alterthum und zum minbejtem noch für bie erfte Hälfte des Mittel- alters, wie ich in ber erwähnten Abhandlung nachgewiefen habe, gerade umgefehrt verhält. Er meint ferner, in welchem ᾿ Maße das Moralgebot, unentgeltlich zu leihen, in ben erften

358 Endemann,

SFahrhunderten unter den Chriften Anerkennung gefunden habe, werde jid) ſchwer mit einiger Beftimmtheit nachweisen fajjem, und weiß dann in der That über den näheren Stand ber Zinsfrage im chriftlichen 9[ftertfum fo wenig etwas beizutragen, a[$ er von dem Umſchwung, ber gegen Ende be8 achten Jahrhunderts in diefer Beziehung eintrat, eine Ahnung bat. Selbjt das bedeutfame Zinsverbot ber zweiten Sateran|gnobe vom Jahre 1139 entgeht feinem Auge und er beginnt feine Betrachtung über die SinSfrage im Mittel: alter unmittelbar mit den Decretalen Alexanders III und der dritten Lateranfynode vom Jahre 1179, gleich als ob bie Angelegenheit in den vorausgehenden vier Jahrhunderten gar nicht berührt worden wäre. Diefe Mängel dürften zur Genüge zeigen, wie wenig ber DVerfaffer im Stande mar, auch nur eine überfichtliche Gefchichte ber Wucherlehre zu fchreiben, unb id) gebe gerne zu, daß man fie billiger: weiſe von ihm aud) gar nicht erwarten durfte. Die Frage it für das Alterthum und das Mittelalter eine rein, bezw. vorwiegend theologische und bei dem Umfang der einjd)fügigen

theofogifchen Literatur fann an einen Yuriften, wie e& der

Berfaffer ift, eine jofdje Forderung nicht geftellt werden. Das Grgebnig der Arbeit würde bei einem Laien ſchwerlich bem Aufwand an Zeit und Mühe entfprechen. Nur follte man dann anderfeit erwarten dürfen, daß er einer Aufgabe, der er nicht gewachfen ijt, fid) gar nicht unterziehe oder e$ wenigftens mit einer gewiffen Beſcheidenheit tDue, während ber Verfaffer, ohne aud) nur die Vorarbeiten jid) nach Gebühr zu eigen gemacht zu haben, mit einer Prätenfion auftritt, als hätte er durd jahrelange Forfchungen die Frage für immer zum Abjchluß gebradt.

Befriedigender als bie erfte find bie drei andern Stu

KRanoniftifche Ctubien. 359

‚dien und bie Montes pietatis, bie in der vierten zur Sprache fommen, πὸ auch in Anjehung ihrer Gefchichte gut behau- delt. In der Studie über bie Societät ift für Theologen namentlich die Abhandlung über bie 9(emter[ncietát und bie Societas sacri officii im Dejonberm intereffant, ber größere Theil be8 Buches ijt bem Wechfel gewidmet und es mögen daraus noch einige Punkte mitgetheilt werden. Der Wechſel nahm im Mittelalter jeinen Urfprung und feine Anfänge (affen fid) bi& ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen, jomit ungefähr ebenjomeit a(8 die Banken oder Staatsanfehen. Sind die Nachrichten über ihn im jener Zeit noch ſpärlich und unbeftimmt, jo fließen fie im dreizehnten Jahrhundert etwas veichlicher und Karer. Aber ins volle Licht tritt er erft im vierzehnten Jahrhundert, wo er allmälig Gegenftand wilfenschaftlicher Erörterung wird und αἷδ der erfte Kanonift, ber fid) eingehender mit ihm befaßte, gilt Laurentius δὲ Rodulphis. Er unterfcheidet in feinem Tractat über den Wucher bereit8 zwei Arten des Wechſels, cambium per literas, bei dem es fid) um die räumliche Uebertragung einer Summe und zugleid) um bie Ausgleichung der Sere [Φἰεδει θεῖς ber Münzforten handelt und cambium siccum, dns im Grund nichts anderes als ein verfehleiertes Zins⸗ darlehen ijt, indem man 3. B. in Florenz eine Geldfumme aufnimmt und in derfelben Stadt in der gleichen Münzſorte, aber zu dem (höheren) Kurs, den fie in Venedig hat, zurück⸗ zahlt, jo daß bie Kursdifferenz an die Stelle des verpünten Zinfes tritt. Etwa ein Jahrhundert fpäter fchrieb Thomas de Bio, der nadjmalige Garbinal Gajetam, einen Tractat de cambiis, und ber Verfaſſer gibt ibm S. 153 das Seugnif, daß er zuerſt ben Wechſel als Kaufgefhäft zu begründen unternommen habe, eine bei dem Beſtand des Zinsverbotes

360 Mens,

nicht leichte Aufgabe, und bab feine Ausführung für ben größten Theil der theologifchen und vollends ber juriftifchen Doetrin der Folgezeit die Grundlage bildete. Ich befchränte mich bier auf bie Anführung diefer Bemerkungen und ge benfe, ba ich den Wechfel und feine Beziehung zur Zinsfrage bisher nod) nicht in den Bereich meiner Studien 30g, jpäter zu gelegener Zeit auf den Gegenjtanb. zurüdzulommen.

dunt.

10.

Geſchichtliche Darfielung von der Ausübung bed placetum regium in Württemberg mit Bezugnahme auf ba8 nor: male Berhältnig von Staat und Kirche. Eine firdjenvedit lide Studie von Dr. Sr. Joſ. Menz, Pfarrer in Bir lingen, Diöcefe Rottenburg. Rottenburg a. Nedar. Berlag von Wilhelm Bader. 1876.

„Credo cum placeto regio in unum Deum" fol einmal in ber Blütezeit der ſtaatlichen Bevormundung der Kirche ein Pfarrer gefungen haben, und man wird die Kleinlichkeit und Beinlichkeit, mit der ba6 placetum regium gehandhabt wurde, wohl kaum bejfer Tennzeichnen Fönnen. grenzt an's Unglaublihe, auf was alles diefes „unver- äußerliche Hoheitsrecht“ ausgedehnt werden wollte und es macht auf uns geradezu einen fomifchen Eindrud, menn wir 3. B. in einem Schreiben be8 Minifters des Kirchen: unb Schuliefens an den Generafoifar in Ellwangen vom 4. Januar 1817 darüber belehrt werden. „daß es zwar unftreitig zu bem Nechte ber Bifchöfe und der fie vertreten. den Generalvifariate gehöre, Difpenfationen von den Falten und dem Gebote der GntBaltjamfeit vom Zleifcheffen zu er-

Eine Tirchenrechtliche Stubie. 361

theifen, wenn fie auf das Anſuchen einzelner Gläubigen, gegeben werden, mithin feinen öffentlichen Charakter απ’ nehmen, als Gewiffensfache der Tandesherrlichen Genehmigung nicht bedürfen. Gehen fie aber in eine allgemeine Verfügung über und follen fie für die ganze Firchliche Gemeinde wirkſam werden, fo muß hierüber wie überhaupt für alle ins allge- meine gehende Anordnungen (fie mögen bindend oder Löfend fin) ba$ placetum regium eingeholt werden 10." Solche Dinge find oft genug vorgelommen und wer weiß, ob wir nicht bald wieder Aehnliches zu erfahren haben? Darum haben auch Schriften, wie die oben angezeigte, jeder Zeit für und ein Qyntereffe und in der Gegenwart im ganz be: \onderem Maße, und deshalb war ἐδ aud) gewiß ein guter Griff, wenn Hr. Pfarrer Dr. Menz gerade biejen Gegen- ftand au einer befondern Bearbeitung gewählt Hat.

Der Herr Verfaffer will, wie er felbft jagt, feine neue d. D. originelfe Arbeit dem Publikum unterbreiten, fondern nur das in verfchiedenen Quellen zerftreut Tiegende Material jammeln und überfichtlic darftellen. Demnach ift zunächit in der Einleitung von dem prinzipiellen und fodann von bem hiſtoriſchen Verhältniß von Staat und Kirche die Rede, woran jid) nach eine furge und gute Kritik einiger moderner Theorien über das Verhältniß von Staat und Kirche reiht. Nach diefen allgemeinen Erörterungen wird auf das eigent- fife Thema übergegangen, nämlid auf bie geſchichtliche Darſtellung des placetum regium in Württemberg. Es werden 4 verſchiedene Perioden unterſchieden. Die erſte, vom Verfaſſer die Periode „der ſtaatlichen Bevormundung der katholiſchen Kirche in Württemberg“ genannt, erſtreckt fif) vom ahr- 1803— 1817; die zweite geht von 1817 bi6 1827 und wird bezeichnet als die Beriode ber Fort-

362 Menz,

dauer der ſtattlichen Bevormundung der katholiſchen Kirche. ‚Streng genommen kann man .freilich von einer neuen Periode hier nicht reden; es war ja, wie vom Verfaſſer ausdrücklich hervorgehoben wird, im Jahr 1817 „der MWendepunft in Ausübung des ftaatlichen placet nur ein ſcheinbar guter." - Iſt dem jo, dann liegt auch fein Grund vor, eine neue Periode anzufegen ; inbejjem der Teichtern Ueberſicht halber mag c8 hingehen und in unferm Fall um jo mehr, αἱ dadurch die vielfach complicirten und theilweije unerquidlichen Verhandlungen der vereinigten Negierungen ſowohl unter ji als mit dem Hl. Stuhl deutlicher hervortreten. Die dritte Beriode (1827-53) wird charakterifirt als die Periode „bitterer Täuſchung“ umd zugleich als die Periode „energi- cher 9teffamirung der Tirchlichen Gerechtſame.“ Gewiß mit Recht; auf ber einen Seite find e8 die Negierungen, die es trot ihrer Zugeftändniffe bod) nicht über fid) bringen können, von ihrer engherzigen und ängſtlichen Bevormundung der Kirche abzulaffen, auf der andern Seite find es der Bapit und die Bifchöfe, die beharrlich und unerfchroden auf getreue ‚Erfüllung der Zugeftändniffe beftehen. So gibt e8 in biejer Zeit fortwährende Konflikte, bi& endlich in Folge der Zeit- ereigniffe überall in Deutichland bejjere Verhältniffe ange: bahnt wurden, bie vom PVerfaffer in einer 4, Periode θὲς handelt werden. Für Württemberg fommt ba in Betradit die Convention von 1857 und ba8 Gejeg vom 30. Januar 1862. Letzteres wird nun in fachgemäßer Weife nod) ge nauer analyfirt, namentlich wird ber Unterfchied zwiſchen den preußifchen Maigeſetzen 1873 und dem württembergifchen Geſetz vom 30. Januar 1862 ganz eingehend befprocen und den Schluß des Schriftchene bilden nod) allgemein Kirchen:

Eine kirchenrechtliche Stubie. 363

rechtliche Bemerkungen über Staat und Kirche, oder genauer nefagt über die Trennung von Staat und Kirche.

Aus bem Dargelegten ijt Hinlänglich zu erfehen, daß diefe „kirchenrechtliche Studie” des Intereſſanten und Belehrenden . genug enthält und einer genauern Beachtung namentlich von Seite des württembergifchen Klerus volllommen werth ift. Befonders ijt hervorzuheben, daß ber Herr Verfaſſer bei ent» ſchiedener Feſthaltung des kirchlichen Standpunftes dennoch überall ein maßvolles, befonnenes und richtiges Urtheil an den Zag legt, was ihm ficher nur zur Empfehlung dienen Tann. Die benügte Literatur ift mit der größten Gewiſſenhaftigkeit an- gegeben worden, ja c8 will unà fajt vorfommen, a(8 ob ber Verfaffer in diefem Stüd des Guten cher zu viel als zu wenig gethan habe. Wenigftens ijt c8 unferes Wiſſens fonft nicht Brauch, daß Colleghefte, die ohnehin fait jedes Yahr ein anderes Ausfehen befommen, oder gar Artikel ans Keinen und wenig verbreiteten Zeitungen, wie dies δ. B. bei dem in Hechingen erfcheinenden „Zoller“ der Fall ift, in wiffenjchaftlichen Arbeiten citivt werden. Webers haupt Hätte unſeres Erachtens die Darftellung an Gejchmad nur gewinnen fünnen, wein die vielfachen wörtlichen . An- führungen mehr beſchränkt worden wären ; fo aber find bie citirten Texte durch verfchiedene, In Klammern beigefügte Bemerkungen unterbrochen worden, was zur Folge Hatte, dal; die Darftellung oft Hart und jchmwerfällig wurde. Bes fonders läftig wird e8, wenn bie Qejer immer unb inumer wieder auf Ausführungen verwiefen werden, die bod) mur wenige Seiten vorher oder nachher zu finden find; es follte ber Gedächtnißkraft des Lefers fchon etwas mehr zugetraut werden. - Auch wäre es wohl zwedmäßiger gewefen, wenn etwas genauer auf die Diftorijdje Entwidlung de8 placetum

!

364 Menz, Eine Tirchenrechtliche Stubie.

regium eingegangen unb gezeigt roorben wäre, wie e8 [don im Mittelalter wenigftens de facto von den Regierungen der verfchiedenften Länder, namentlich zu Zeiten der Dis- Darmonie zwifchen Staat und Kirche, in der rückſichtsloſeſten Weiſe ausgeübt wurde. Eine theoretifche Rechtfertigung und Ausbildung hat es freilich erft nad) der Reformation εἴς halten und zwar zunächjt durch bie proteftantijdjen Kirchen- rechtslehrer, deren Anfichten dann jpüter auch von katholi⸗ ichen Gdriftitellern adoptirt wurden. Doch wir fünneu hierauf nicht näher eingehen ; intereffante Notizen hierüber gibt Papius im Archiv für Tatholifches Kirchenrecht, 1867 pag. 161 ff. Dafür hätte dann mondes andere, wie 3.35. die Gründe der Chriftenverfolgungen füglich weggelafjen werden Tünnen.

Trotz biejer Ausftellungen ftehen wir nit am, das Schriftchen namentlich den Geiftlihen unjerer Diöceſe auf's Wärmſte zu empfehlen.

Repetent Herter.

Theologiſche

Quartalfchrift.

Sn Verbindung mit mehreren Gelehrten

herausgegeben

von

D. y. Kuhn, D. v. Simprl, D. Kober, D. £infen- mann, D. funh unb D. Sdn,

Profeſſoren ber kathol. Theologie an der ff. Univerfität Tübingen.

Achtundfünfzigſter Jahrgang.

Drittes Quartalheft.

x Gübingen, 1876.

Verlag ber H. 2aupp'iden Buchhandlung.

Drud von $. Laupp in Tübingen,

J. Abhandlungen.

1. Handel und Gewerbe im drijtíiden Alterthum.

Bon Prof. Dr. eunt.

Handel und Gewerbe gehören zur natürlichen Ordnung der Dinge und jie finden fid) überall, wo das Eulturleben über feine erjtem Anfänge hinausgefchritten ijt. Die Thei- lung der Arbeit führt zum Handwerk, die Vermehrung der Dedürfniffe zum Handel. Jenes widmet fid) der Verferti— gung gewiſſer Arten von Gegenftänden, biejer Dejorgt bie räumliche Vermittlung ber Erzeugnifje zwifchen Producenten und Conjumenten. Beide ftanden in hoher Blüthe, als das Chriſtenthum in die Welt eintrat unb dasfelbe Hatte gemäß feiner höheren Sendung an diefer Ordnung an fid) nichts zu ändern. (G6 nahm nur infoweit Stellung zu ihnen, als fie vom Reiche Gottes abzulenken geeignet waren unb e8 ward demgemäß geboten, [ie weder als Selbſtzweck nod als bloßes Mittel der Bereicherung noch mit Verlegung der Pflichten gegen den Nächſten, fondern [ftet8 mit Bezug

24 *

368 gunt,

auf bie höhere Aufgabe des Menjchen aufzufaſſen umd zu betreiben. Es berührte mit einem Worte nicht bie natür- liche, jonbern nur bie fittliche Seite am Gewerbeleben, griff aber aud) ſchon baburdj, zumal feine erften Bekenner unter dem Einfluß des heidnifchen Gegenfages bisweilen weiter gingen, als an fic) geboten mar, jo Debeutjam in bie be ftehenden VBerhältniffe ein, daß aud) bie Literatur davon Notiz nahm. | Durh das Chriftentfum fam eine Cybee in bie grie chiſch⸗römiſche Welt, bie derjelben vorher entweder gänzlid unbefannt oder von faum merflicher Bedeutung war, die dee ber ntjagung. Ging das Sinnen und Trachten der Menſchen bisher auf größtmöglichen Genuß, fo lehrte das Evangelium Entbehrung um des Himmelreiches willen unb wie jchnell und mie weit feine Aufforderung befolgt murbt, zeigt die Bemerkung Juſtins, daß viele Perfonen männlichen und weiblichen Gefchlechtes, die dem Herrn vou Jugend auf dienten, auf die Ehe verzichteten und daß jeder Stand ſolche aufweife !). Die Gntjagung beſchränkte (id) midt auf diefen Punkt. Wenn bie Chriften vor bem fchwerften Opfer nicht aurüd[djeuten , werden fie aud) wohl feichtere gebracht haben und wenn fie mit dem Verzicht auf die Ehe zeigten, daß ihr Wandel nad) dem Worte des Apoftels Paulus im Himmel fei, jo werben fie [djmerlid) in andern Dingen irbijden Genüſſen nachgejagt haben. Pracht und Luxus wurden von ihnen verſchmäht und die Bedürfniffe auf das Nöthwendige bejdjrünft. In der Kleidung wie in ber Ein richtung des Haufes herrſchte die änßerfte Einfachheit und

1) Apol. I c. 15. Aehnlich fpricht fid) aud) Athenagoras Leg. c. 38 aus.

o

Handel und Gewerbe im chriftlichen Altertbum. 369

die Brauchbarkeit, nicht Schönheit, Pracht und ähnliche Rücfihten gaben dabei den Ausfchlag Das Nützliche wurde als das Beſſere anerfannt und 5a8 Geringere und MWohlfeilere bem Theuren und Koftbaren vorgezogen. Bon Clemens von Alerandrien 1) erfahren wir mwenigftens, bap ἐδ fo fein follte, und wir werden nicht fehl gehen, wenn wir annehmen, daß ἐδ auch vielfach jo war. Clemens ſelbſt hat die Lehren, die er gab, ſicherlich auch befolgt und das Leben derjenigen ſeiner Zeitgenoſſen, die gleich ihm vom Geiſte des Chriſtenthums wahrhaft erfüllt und durchdrungen waren, war ähnlich beſchaffen.

Die Lebensweiſe blieb aud) auf heidniſcher Seite nicht unbemerkt. ‚Unter den Vorwürfen, bie der ältefte [ateinifche Apologete abzumeifen Hatte, befanden fid) aud) bie: bie Chriften enthalten fid) ehrbarer Genüffe; fie befuchen feine Schaufpiele und nehmen nit an feftlidjen Aufzügen Theil; fie meiden öffentliche Gaftmähler und verabfchenen bie Speifen und Getränfe, welche auf den Altären der Götter geweiht werden ; fie unterlaffen ἐδ ebenſowohl ihr Haupt zu bekränzen als ihren Körper zu falben ?), und dieſe verſchiedenen Be— ſchuldigungen wurden, wie wir aus Tertullian erſehen, in ber einen zuſammengefaßt: die Chriſten feiert eine unpro- ductive Menfchenklaffe, indem fie durch ihren Abſcheu vor eben und Genießen, burd) ihren ab; gegen alles, was bie Welt fuche und Liebe, Handel. und Gewerbe fchädigen 5). Der Vorwurf fonnte erhoben werden, fofern die Chriften mit bem Verzicht auf Genüffe, welche ihren Zeitgenoffen als

1) Paedag. II c. 3.

2) Minuc. Fel, Octav. c. 12.

3) Sed alio quoque injuriarum titulo postulamur et in- fructuosi in negotiis dicimur. Apol. c. 42.

3 70 gunt, :

erlaubt und als ein großes Gut galten, einzelne Zweige des Gemerbeleben8 in der That beeinträchtigten. Aber er war durch unb durch einfeitig und darum im ganzen utt begründet. Da die Chriften, welche Entfagung übten um von den vielen, welche wohl den Glauben, nicht aber qudj die Werfe Hatten, gar nicht zu reden ihre Güter nicht unfruchtbar auffpeicherten, fondern zu Werfen ver Barmherzigkeit verwendeten, jo fürbertem fie Handel und Gewerbe in andern Zweigen und die chriftliche Religion äußerte überdieß im öfonomifcher Beziehung aud) mod) ba. burd) einen febr heilfamen Einfluß, daß fie bie Verachtung befeitigte, welche im heidnifchen Altertum auf der materiellen Arbeit [ajtete, Bei den Griechen und Römern galt der Betrieb eines Handwerkes oder eines Handels als etwas Cdjmutigeé und be8 frein Mannes Unmürdiges und nur dem Acerbau und dem Großhandel ward in der römifchen Welt eine bejfere Würdigung zu Theil !). Dieſe Anfchauung war mit den been des Chriſtenthums unverträglich unb wenn fie auch nicht bei allen Chriften fofort verfchwand, fo mußte fie bod) nad) und nach verdrängt werden. Iſt die Arbeit, wie ber Apoftel Paulus lehrt, eine Pflicht für jeden Menschen und muß jeder diefer Pflicht genügen, theils um jeinen Unterhalt zu verdienen, tbeil8 um Mittel zur Linde: rung der Noth des Nächten zu gewinnen (Epheſ. 4, 28. II. Theſſ. 3, 10—13), fo fann die förperliche Arbeit nichts Entwürdigendes haben und in Anbetraht der angeführten Momente war Tertulfian völlig im Recht, wenn er den Vorwurf der linprobuctibitit von feinen Religionsgenoffen

1) Cicero de offi. I c. 42. Döllinger, SHeidenthum unb Judenthum 672. 714.

Handel und Gewerbe int chriftlichen Alterthum. 871

abwied. Die Ehriften, erwiderte er, find gegen Gott ihren Herrn und Schöpfer zu dankbar, als dal; fie einer feiner Gaben verfehmähten, unb fig mäßigen fid) mur im Genuß, um nicht durch Webermaß oder durch fchlechten Gebraud, fif zu verfehlen; fie erfcheinen auf dem Forum und auf dem Markt, in den bern und Werkſtätten ſowie auf allen übrigen Verfehrsplägen ; fie betheiligen fid) an der Schiff. fahrt und am Kriegsdienft, fie treiben 9(derbau und Handel und wenden ihre Kraft und Kunſt überhaupt im Dienfte ber Mitwelt an; daß fie fid) dabei nicht ganz fo verhalten, wie ihre heidnifchen Zeitgenoffen und 3. 39. am Feſte ber Saturnalien nicht bei Nacht baden ober am Bacchusfeſt midt an ben öffentlichen Gelagen Theil nehmen nod). ihr Haupt befränzen u. f. w., vechtfertige jenen Vorwurf nod) nicht, ba fie Lebensmittel und Blumen ja immerhin, menm gleih auf andere Weife gebrauchen und ba man ἐδ ihnen vernünftigerweife nicht verargen fünne, wenn fie Kupplern, Giftmifdjern, Wahrfagern und ähnlichem Gelichter feinen Berdienit] geben; denn für ba8 Gewerbe diefer Leute um: productiv jein, ba8 fei in Wahrheit productiv 1).

Die Grmiberung zeigt, daß die Chriften ber erſten Sahrhunderte am Gewerbeleben jid) vege betheiligten. Selbft Bischöfe gaben fid) mit Handelsgefchäften ab ?) und Kalliftus, der nachmals den. Stuhl Petri beftieg, betrieb a(8 Sklave des Karpophorus ein Bankgeſchäft ). Cyprian, dem wir

4

1) Apolog. c. 42—48. Obige Darftellung ift feine mörtliche Ueberſetzung, fondern enthält nur bie Qauptgebanfen Tertulliane. Der Schlußſatz lautet bei ihm: his infructuosos esse magnus fructus est.

2) Cyprian. De laps. c. 6.

3) Hippoly t. Philosoph. IX c. 12.

372 gun,

jene Mittheilung perbanfen, äußert zwar zugleich einen Zabel. Doch gilt feine Mißbilligung fichtlich nicht dem Handel an . fij, fondern nur der Art und Weife, wie bie firdjfidjen Vorſteher fid ihm Hingaben, indem fie den Dienft Gottes gleichſam verachtend und in den Dienft der Welt tretend ihren Stuhl und ihre Gemeinde verließen und des Gemwinnes wegen jogar auf die Märkte fremder Provinzen fid). begaben. Sie galt der Gerinnfud)t, bie zu ihrer Befriedigung felbft höhere Pflichten Dintanjette, unb diefer trat auch die Synode von Elvira p. ἃ. 306 entgegen. Cie geftattete zwar den Geiftlichen zur Grmerbung ihres Unterhaltes einen Handel zu betreiben, fie befchränfte aber diefe Erlaubniß für die höheren Klerifer auf bie Provinz, in der fie febten, und verbot den Bischöfen, Prieftern und Diakonen, des Handels wegen ihren Sprengel zu verlaffen und in den Provinzen umbherziehend die gewinnbringenden Märkte aufzufuchen; nur bud) eine Mittelsperſon, einen Sohn, Freigelaffenen, Diener, Freund oder burd) irgend einen Dritten ſollten fie ihre Unter- nehmungen aud) in eine größere Ferne ausdehnen dürfen ?). Aber nicht bloß bie Gewinnfucht, die höhere Standespflichten außer Acht ließ, jondern bie Geminnfucht überhaupt fand Tadel. Irenäus betrachtet es zwar als ſelbſtverſtändlich, daß der Handeltreibende auf einen Gewinn bedacht ſei und zum mindeſten ſeinen Unterhalt mit ſeinem Gewerbe be— ſtreiten wolle 5. Aber das Haſchen und Jagen nad) Reid: thum konnte angeſichts der bibliſchen Worte, daß ein Kameel leichter durch ein Nadelöht als ein Reicher in den Himmel komme und daß diejenigen, welche reich werden wollen, in

] Harduin Conc. I, 252. can. 18 (al. 19). 2) Adv. haer. IV c. 89 n. 1.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Altertbum. 373

die Fallſtricke des Teufels gerathen, bei ben Vätern nicht auf Billigung rechnen und ZTertullian fügte darum felbit da, wo er die Ehriften gegen eine feindfelige Beſchuldigung zu vertheidigen hatte, veftringivend bei: fie bedienen fid) ber Gaben Gottes mit Maß. Lactanz verurtHeilt namentlich die mit Unredlichfeit verbundene Geminnjudjt. Er verlangt, daß der Verkäufer nicht, um einen höheren Preis zu erzielen, die Fehler feiner Waaren verfchweige, daß der Käufer nicht etwa Gold als unedle8 Metall in Empfang nehme, ſondern den Verkäufer über den Irrthum, in dem er fid) befinde, aufkläre und erklärt ba8 gerügte Verfahren, wenn es gleid) von einem Philofophen für weife gehalten wurde, für eine unwürdige Verfchmigtheit 1).

Zertullian fam in feiner Schrift über den Götzendienſt zum zweiten Mal auf das Gewerbeleben zu jpredden und fein Urtheil geftaftete fid) hier etwas anders al8 im Apolo⸗ getifum, indem er hier auf die Gefahren Hinzumeifen hatte, die Handel und Gewerbe unter Umftänden dem Seelenheil bringen , während er die Chrijten dort von dem Vorwurf der geiverblichen Unproductivität zu reinigen hatte. Die Wahrnehmung, bag bie Sünden ber Habfucht, ber Wurzel affer Uebel, der Lüge, bir Dienerin der Habjucht und des Meineides bei den Kaufleuten häufig vorfommen, veranlafte ihn bie Frage aufzuwerfen, ob der Handel mit bem Ehriften- beruf vereinbar fei, und feine Antwort ging zunächſt dahin: menn ble Habfucht, bie Zriebfeder des Erwerbes, aufhören würde, würde e8 bei dem Aufhören des Grundes des Er- werbes aud) zum Betriebe eines Handels keinen Grund mehr geben ?). Der Handel würde hienach nur in der Habſucht

1) Divin. instit. V c. 18. 1) De idololatria c. 11. Negotiatio servo Dei apta est?

374 gunt,

feine Quelle haben und das Wort kennzeichnet den Apolo- geten von Carthago , der audj ein hartes Paradoron nicht verfhmäht, wenn ἐδ fid) ihm gerade darbietet. Indeſſen wollte er mit ihm bod) nicht vollen Ernft machen. Er mußte einräumen, daß e8 einen gerechten Grund zum Ermerb gebe und daß fid) berjelbe auch ohne Habjucht und Lüge denfen (afje; er mies aber fofort aud) auf einen neuen Punft Din, ber die Erlaubtheit des Handels für den Chriften

iu Frage Stelle. Wenn die Kaufleute Gegenftände wie Weih⸗

raud) und dergleichen feil boten, deren fid) die Heiden bei ihrem Cult bedienten, fo machten fie fid) in feinen Augen des Gügenbienjte8 [d)ufbig und dasselbe traf in analoger Weife bei den Künftlern und Handwerkern zu. Seine Kunft, bemerkte er ausdrücklich, fein Gewerbe, fein. Handel, die irgenbroie zum Unterhalt be8 Gößendienftes beitragen, feien von der Sünde ber Cybofolatrie frei 1) und diefe Er— werbsarten feien darum von dem Chriften unbedingt zu meiden. Die Ginrebe, daß man fid) durd ihr Aufgeben der Mittel zum Leben beraube, fomme nach dem Empfang ber Taufe zu fpät und die Lehre des Herren unb das Beifpiel ber Apoftel zeugen gegen fie. Der Einwand, man- Yeide Noth und habe nichts zu ejfen, werde durch den Herrn ab- gefchnitten,, wenn er bie Dürftigen glüdlich preife und ver- (ange, daß man um den leiblichen Unterhalt-fich nicht θὲς

Ceterum si cupiditas abscedat, quae est causa acquirendi, ces- gante causa acquirendi non erit necessitas negotiandi.

]) De idololatria c. 11. Nulla igitur ars, nulla professio, nulla negotiatio, quae quid aut instruendis aut formandis idolis administrat, carere poterit titulo idololatriae: nisi si aliud omnino interpretemur idololatriam quam famulatum idolorum colendorum. |

[Lo

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthum. 375

fümmere. Der Einwand, daß man Vermögen brauche und für Rinder und 9tadjfommenjdjaft zu forgen habe, {εἰ mod) weniger zutreffend, δὰ ber Herr ἐδ feinen Jüngern zur Auflage mache, alles zw verkaufen unb e8 den Armen zu ichenten und da feiner, der zurückſchaue, nachdem er bie Hand an den Pflug gelegt, zum Dienfte tauglich fei; da wenn der Herr geboten, um Gottes willen die Eltern, bie Rinder und den Gatten zu verlajfen, noch weniger um der Kinder und Eltern willen Handel und Gewerbe beibehalten werden dürfen, wenn fie dem Reiche Gottes im Wege ftehen. Jakobus unb Johannes haben nad) ihrer Berufung ihren Vater unb ihr Schiff verlaffen, Matthäus habe der Zöllners banf den Rücken gefehrt und feiner von den Jüngern des Herrn habe bei feiner Erwählung erwidert: es fehlen ihm die Mittel zum Lebensunterhalt. Der Gläubige fürchte den Hunger um fo weniger, da er bereit fei, für Gott felbft den Tod zu erleiden !).

Der Npologete von Carthago war hier nahe daran, dem Handel das Zodesurtheil zu ſprechen, weil er ihn meift mit Sünde befledt ſah, und ähnliche Ausſprüche finden fid nod) bei zwei andern Vätern der älteften Zeit. An derfelben Stelle, wo Irenäus dent Handel die natürliche Tendenz zu gewinnen zufchreibt, bezeichnet er ben Erwerb al8 etwas Ungerechtes, weil er in der Habfucht feine Quelle habe *), und Lactanz erklärt, daß der Handel wenigitene

1) De idololatria c. 12.

2) Adv. hacer. IV c. 80 n. 1. Unde enim domus in quibus habitamus, et vestimenta quibus induimur, et vasa quibus uti- mur, et reliqua omnis ad diuturnam vitam nostram ministratio, nisi ex his quae, cum ethnici essemus, de avaritia acquisivimus, vel ab ethnicis parentibus aut cognatis aut amicis de injustitia

376 Funk,

bei dem Weifen nicht vorfomme, da er, weil mit dem Seinigen zufrieden und weil frei von der Begierde nad) fremden Gut, feinen Grund habe, Schiffahrt zu treiben und Güter aus fremden Ländern ‚herbeizufchaffen 1). Beide Urtheile wurden indeffen durch die Schwierigkeit veranlaßt, gegnerifche Einreden auf einem anderen Gebiete zu entkräften, und verlieren baburd) von ihrer Schroffheit, davon ganz abgesehen, bab das erfte fid) zunächſt und vorwiegend auf ba8 Erwerbsleben der Heiden bezieht und den Vorwurf ber Sabjudjt und Ungerechtigfeit auf die Gewerbsthätigleit der Chriften wenigftens nicht unbedingt und allgemein ausdehnt, wenn ἐδ Diefelbe aud) nicht ganz von ihm ausnimmt. Irenäus hatte nämlich die Anordnung Gottes in Grob. 11, 2. 12, 85 f., bie Israeliten follten jid) vor ihrer Abreije von ben Aegyptern Gold und Silber zur Leihe geben laffen und Dermad) auf ihre Wanderung mitnehnen, gegen den Vorwurf der Ungerechtigkeit in Schug zu nehmen und er genügte feiner Aufgabe, indem er den Erwerb und Befit jelbft in der angeführten Weiſe als etwas Ungerechtes be: zeichnete. Lactanz hatte die Antinomie zwifchen Gerechtigkeit unb Thorheit zu erklären, indem, wer aus Rückſichten der Gerechtigkeit bei einem Schiffbrich dem Nächften nicht das rettende Brett entreibe, um jid) felbjt am Leben zu erhalten, als ein Thor erfcheine, und er löste die Schwierigkeit mit der Behauptung, der wahrhaft Gerechte komme gar nie in bie Lage, fo handeln zu müffen, indem er mie feinen Handel fo auch feine Schiffahrt treibe. |

Die Gefahr, durch den Betrieb eines Handelsgefchäftee acquirentibus percepimus? ut non dicamus, quia et nunc in

fide existentes acquirimus. 1) Divin. instit. V c. 18.

Handel unb Gewerbe im chriftlichen Altertbum. 571

fid ber Citbe des Götendienftes fchuldig zu machen, murbe feit dem vierten Jahrhundert, da ba8 Heidenthum in ftets weiteren reifen dem Chriſtenthum den Platz räumte, immer geringer und zuletzt verſchwaud fie gänzlich. Aber die Habjucht, über bie ſchon die älteren Väter wiederholt f(agten, wenn fie vom Erwerbsleben fpradjen, blieb troß des chrift- lichen Belenntniffes nod) vielfach in beu Herrzen zurück und fie fuchte namentlich im Handel Befriedigung. Deßhalb be: rührten ihn aud) die folgenden Väter in der Regel nicht, ohne zugleih auf die Gefahren Hinzumweifen, mit denen er verbunden fei, und Ambrofius nennt ihn in einer Schrift allerdings, bie zunächft für feine Kferifer beftimmt war fo» gar eine ſchmutzige und fchimpfliche Erwerbsart I. Sichtlich hatte an diefem Urtheil aud) die antife Anfchauung über das Gewerbeleben einigen Antheil und dasſelbe war bei Gregor von Nyffa der Fall, wenn er in feiner Otebe über bie Verftorbenen vom Himmel jagt, daß man dort nicht durch Landbau und Echiffahrt ermitdet, wicht burd) Handel ober durch irgend einen Erwerb beſchmutzt werde, ſondern frei von ben Mühfeligkeiten de8 Bauens, Webens und aller anderer ſchmutziger Sünjte ein ruhiges Leben führe 5); denn er würde fid) in diefer Beziehung zweifellos andere aus- gedrüct haben, wenn ihm nicht jene Anſchauungsweiſe vor Augen gefchwebt Hätte. Chryfoftomus und Auguftinns bas. gegen beſchränkten fid) ganz auf das jittliche Gebiet, Jener nafm von dem DBeifpiel des Apofteld Paulus Anlaß, die Arbeit und noment(id) die Förperliche und gewerbliche Arbeit

1) Nihil itaque deformius quam nullum habere amorem honestatis et usu quodam degeneris mercaturae quaestu sollici- tari ignobili, avaro aestuare corde etc. De offic. III c. 9 n. 57.

2) De mortuis or. Opp. Paris 1615. IT, 1053.

378 | gunt,

al8 ein Mittel zu empfehlen, feinen Unterhalt felbft zu be- jtreiten, bie jünbbaftem Gedanken aus jeinem Herzen zu vertreiben und das Wort be8 Herrn zu erfüllen, dab es feliger jet zu geben als zu nehmen). Diefer fand - fi duch Pi. 70, 15 zu emer eingehenderen Prüfung der Frage nad) der fittlihen Erlaubtheit de8 Handeld peranfapt, indem er bier (a6: Os meum enuntiabit justitiam tuam, quoniam non cognovi negotiationes, tota die salutem tuam, während er bie den Originaltert allerdings ebenfalls nicht ganz treffende Resart der Vulgata: quoniam non cognovi literaturam, nur in einigen Sremplaren ber Df. Schrift vorfand. Gr fragt angefichts diejer Stelle, mas für Handelsgefchäfte , hier zu verftehen feien, und verweist auf die Lügen und falfchen Eide, deren jid) die Kaufleute aus Liebe zum Gewinne fchuldig madjen, um leßtere fchließ- (id) aufzufordern, fid) zu beffern und dem Handel zu ent- fagen, wenn ber Pjalmijt beBmegen, weil er ihn nicht ge: kannt habe, das Lob Gottes den ganzen Tag finge?). Die Aufforderung war aber nicht ernſtlich gemeint und fie wurde, wie e8 (dint, nur angebracht, um die Aufmerkfamfeit ber Zuhörer zu ſpannen. Sein praftifcher Sinn fträubte jid) gegen die Auslegung des Verſes, als enthalte er ein Verbot des Handels unb er zeigte bie Widerfinnigfeit und Unmög-

1) Sermo I in illud, Salutate Priscillam et Aquilam n. 5. Opp. ed. Montfaucon III, 179.

2) Quae sunt istae negotiationes? Audiant negotiatores et mutent vitam; et si fuerunt, non sint; non cognoscant, quod fuerunt, obliviscantur; postremo non adprobent, non laudent; improbent, damnent, mutentur, si peccatum est negotiatio ... Ergo si propterea iste tota die laudem Dei dicit, quia non cognovit negotiationes, corrigant se christiani, non negotientur. In psalm. 70 Sermo I n. 17.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthum. 379

fifeit diefer interpretation auf, indem er nadjmie8 oder vielmehr durch die Kaufleute, denen er die. Vertheidigung ihres Gewerbes felbft in den Mund legte, nachweiſen fief, daß der Handel an jid) nicht weniger zuläffig [εἰ a[8 jede andere gewerbliche Thätigkeit. Wir bringen, läßt er die Kaufleute jagen, Waaren aus fernen Gegenden an Orte, wo fie jonjt nicht zu haben find, und bie Differenz zwifchen dem Ankaufs- und Verkaufspreis ift ber Lohn unferer Arbeit und das Mittel zu unferem Lebensunterhalt 1). Wenn dabei Lügen und falfche Eide mitunterlaufen, fo treffen fie bie Perfonen, nicht da8 Geſchäft; denn wir könnten diefes aud) ohne Sünde betreiben und wir könnten, was namentlich die Lüge anlangt, dem Käufer ja fagen, daß bie Waare ung fo viel gefoftet habe und um [o viel wieder feil fei? wir würden ihn dadurch nicht vertreiben, fondern im Gegen⸗ theil burd) unfere Offenheit und Wahrheitsliebe anzichen. Man mag uns daher wohl von der Sünde abmahnen, dem ung unfer Gewerbe ausfegt, nicht aber von biejem ſelbſt und zwar um fo weniger, a[8 damit an fid) nichts gewonnen würde; denn im Intereſſe unferes Unterhaltes müßten wir dann ein Handwerk betreiben oder uns bem 9(derbau zus wenden und hier hätten wir, wie die Erfahrung zeigt, ebenfo wie beim Betriebe eines Handel8 mit der Gefahr der Sünde zu kämpfen. Die Handwerker lügen und ſchwören ebenjo wie die Kaufleute und die Landleute ergehen fid), wenn ihnen der Himmel zu fehaden droht, in Klagen gegen Gott

1) Ecce ego affero quidem ex longinquo merces ad ea loca in quibus non sunt ea quae adtulero, unde vivam, tamquam mercedem laboris mei peto, ut carius vendam quam emerim. Unde enim vivam, cum scriptum sit: dignus est operarius mercede sua? Ibid.

sIer fie nehmen bie Künfte eines Zanberers gegen beu ragef im Xniprud; ober jte wünſchen zum Nachtheil der Armen eine Hungersnoth Berbei, mm ihre Vorräthe theuer verfaufen zu kfönnen. Wenn man ihnen einmwende, daß die - guten Canbíente das nicht thun, jo haben jie zu erwidern, bag auch die guten Kaufleute von jenen Fehlern jid) fern halten und bab man, wenn man von den Sünden der Perfonen ohne weiteres auf die Sündhaftigfeit des Berufes ſchließen wollte, andj die Erzeugung von Kindern als etwas Böjes betradjen müßte, weil ſchlechte Mütter in Krankheits⸗ fällen oftmals zu jündhaften Mitteln ihre Zuflucht nehmen. Die Sünden ber Kaufleute treffen daher die Menfchen, uidit aber ihren Bernf und jene find jomit anzuflagen, nicht der Handel 1).

Anguftin erfennt diefe Vertheidigung ausdrüclic ale zutreffend an und verzichtet auf eine Gegenbemerfung, da man der Wahrheit feinen Widerſpruch entgegenzufegen habe. Aber nod) mehr aí8 der Handel gift ihm das fanbmet als eine fittfid) zuläjfige Erwerbsart und während er für jene die Erlaubtheit nachwies, bemühte er fid) einmal,

1) Ista hominum, non rerum peccata sunt. Potest mihi hoc dicere peccator. Quaere ergo, episcope, quemadmodum intelligas negotiationes, quas legisti in psalterio, ne forte tu . non intelligas et me a negotiatione prohibeas. Mone ergo, quemadmodum vivam: si bene mihi erit; unum tamen scio, quia si malus fuero, non negotiatio mihi facit, sed iniquitas - mea. Ibid. Die Erklärung, bie it n. 18 [obaun gegeben tirb, ift bie: negotiatio bedeute bier nicht Handel, fonbern Selbftgerechtig: feit, bie negotiatores feien bier nicht Kaufleute, ſondern diejenigen, bie anftatt Gott bie Ehre zu geben fi) ihres Thuns unb ihrer Werte rühmen, bie Gottes Gerechtigkeit mißkennend ihre eigene an deren Stelle jegen.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Altertbum. 881

dieſes und die Förperliche Arbeit überhaupt als pf(idjtmüfig barzuthun. Als einige Mönche in ben Klöftern bei Car- thago anfingen, die körperliche Arbeit, die bisher von [ümnmt: lichen Klofterbewohnern ohne Ausnahme verrichtet worden war, zu verichmähen, die Beftreitung ihres Unterhaltes von ande- ren zu erwarten, [id ganz auf geiftliche Uebungen zu bes ſchränken und fid) inSbefonbere den Weltleuten zu widmen, die fid) zum Gebet und zu frommen Lefungen bei ihnen einfanden, trat er auf Bitten des Erzbiichofs Aurelius von Gartjago der Neuerung mit aller Entfchiedenheit entgegen und erklärte die körperliche Arbeit für eine allgemeine menjch _ liche Pflicht ). Jeder, der nicht etwa durch Krankheit und unb Schwächlichkelt daran gehindert werde, den Worten des Apoſtels Paulus: mer nicht arbeiten will, foll aud) nicht ejfe, zu entjprechen, babe feinen Unterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen und eine Ausnahme bejtehe nur zu Gunften der Apoftel und Diener be8 Altares, welche von Altare Leben dürfen ?). Die Mönde haben auf diejes Privilegium um jo weniger einen Anſpruch, da fie zumeift den niedern und niederiten Ständen angehören und [omit an die körperliche Arbeit gewöhnt fele, fo daß ber Cnt. Schuldigungsgrund der Schwächlichkeit für fie nicht vorge- bracht werden fünne 9), und ba durchaus ungeziemend

1) De opere monachorum c. 1.

2) lbid. c. 20.

8) Nunc autem veniant plerumque ad hanc professionem servitutis Dei et ex conditioneservili vel propter hoc a dominis liberati sive liberandi et ex vita rusticana et ex opificum exer- citatione et plebejo labore, tanto utique felicius quanto fortius educati ... Tales ergo quoniam se, quo minus operentur, de infrmitate corporis excusare non possunt, praeteritae quippe vitae consuetudine convincuntur. Ibid. c. 22.

Theol, Quartalſchrift. 1876. Heft III. 95

382 gunt,

fei, daß in einem Stande, in bem die Senatoren arbeiten, die Arbeiter feiern ἢ. Daß die Arbeit ftrenge Pflicht fei, zeige der Apostel mie burd) Lehre [o auch burd) That, indem er burdj die Arbeit feiner Hände fein Brot felbjt erworben habe, und Landbau und Handwerk feien ehrbare und un- jchuldige Erwerbszweige, au beue nur der Stolz Anftoß nehmen fóune; jener [εἰ durch das Beiſpiel der Patriarchen, diejeß jei durch das Beifpiel des Nährvaters Jeſu Ehrifti geheiligt unb es habe aud) den heidnifchen Griechen als efr bar gegolten, da einige ihrer Philoſophen Scufter geweſen feien 9). Der fittlide Grund aber, aus dem fid) die körper⸗ liche Arbeit empfehle, [εἰ der, daß fie den Geift zu Höheren Gedanken frei (ajje und das Handwerk [εἰ barum dem Handel vorzuziehen, weil biejer umgelehrt beu Geijt für die irdischen Intereſſen in Anſpruch nehme, ohne den Leib zu befchäftigen ?).

Wie ber Schlußfat zeigt, fo war Auguftin gegen ben Handel bod) nicht ganz ohne Bedenken, menn er ihn aud nicht eigentlich verurtheilen wollte. Er ſchien ihm ber Hab: ſucht günftig zu fein und die Erfahrung, daß die Kaufleute mehr ber Geminnjudjt ergeben feien als die übrigen Gewerbes

1) Nullo modo decet, ut in ea vita, ubi fiunt senatores labo- riosi, ibi fiant opifices otiosi, et quo veniunt relictis deliciis suis qui fuerant praediorum domini, ibi sint rustici delicati. Ibid. c. 25. Auguftin batte bei bielem Sat ohne Zweifel ben Bf. Paulinug von Nola vor Augen.

2) Ibid. c. 18.

3) Aliud est enim corpore laborare animo libero, sicut opifex, si non sit fraudulentus et avarus et privatae rei avidus; aliud autem ipsum animum occupare curis colligendae sine cor- póris labore pecuniae, sicut sunt vel negotiatores vel procur& tores vel conductores. Cura enim praesunt, non manibus ope- rantur, ideoque ipsum animum suum occupant habendi sollici- tudine. Ibid. c. 15, =

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthbum. 883

treibenden, dürfte noch mehr als Grund feiner Abneigung gegen denselben betrachtet werden als die angeführte Ver⸗ gleihung, bie, wenn aud) nicht geradezu unrichtig, jo bod) mehr geiftreich als richtig ift. Mit diefer Abneigung jtaud er aber nicht allein. Epiphanius bemerkt ausdrüdlid) : bie Kirche habe an ben Handelsleuten Fein fonderliches Gefallen, fondern weife ihnen den unterften Rang an *), und Bapft Leo der Gr. verbot den Handel den Püönitenten 2). Seine Anfiht war dabei nicht, der Handel jei an fid) unerlaubt, ba er ihn fonft allen Gläubigen und nicht bloß ben Pöniten- ten unterfagen mußte. Er faf ihn vielmehr nur von Ge. fahren: umgeben und hielt e8 für ſchwierig, beim Betrieb der Saufmannjdjajt fid) vor der Eünde zu bewahren. Zu- gleich betrachtete er es als billig und angemeſſen, daß bere jenige, ber für unerlaubte Handlungen um Berzeihung bitte, fid) mancher erlaubter enthalte *) unb fo erließ er das εἰς wähnte Verbot. Dasjelbe wurde burd) bie Anfrage des Biſchofs Aufticus von Narbonne wahrjcheinlich erſt ver- anlaßt und wie e8 fo eine Neuerung begründete, fo fand c8 auch feinen größeren Anklang. Das Verbot ift bei beu ältern Vätern und Synoden nirgendg anzutreffen; es ift

1) Πραγματευτὰς οὐκ ἀποδέχεται, ἀλλὰ ὑποδεεστέρους πάντων ἡγεῖται. Expos. fidei c. 24.

2) Ep. 167 inquis. XI. De his qui in poenitentia vel post poenitentiam negotiantur. Resp. Qualitas lucri negotiantem aut excusat aut arguit, quia est et honestus quaestus et turpis. Verumtamen poenitenti utilius est dispendia pati quam peri- culis negotiationis obstringi, quia difficile est inter ementis vendentisque commercium non intervenire peccatum. |

8) Sed illicitorum veniam postulantem oportet a multis etiam licitis abstinere dicente apostolo: omnia mihi licent, sed non omnia expediunt. Ibid. inquis. X.

25 *

384 Funk,

namentlich auch nicht in dem einſchlägigen Schreiben des Papſtes Siricius an den Erzbiſchof Himerius von Tarra⸗ gona enthalten und in der Folgezeit begegnen wir ihm außer einer pſeudoauguſtiniſchen Schrift *) nur in der Verordnung der Synode von Barcelona, bie um das Jahr 540 abge halten wurde: ut poenitentes epulis non intersint nec negotüs operam dent in datis et acceptis, sed tan- tum in suis domibus vitam frugalem agere debeant ?).

Was die Betheiligung des Klerus. am Gemerbeleben anlangt, fo dauerte fie aud) mad) Conftantin dem Gr. nod) fort. Doc mar fie eine geringere und ihre allmählige Ab- nahme erklärt fid) aus einem doppelten Grund. Seitdem fid) in Folge der Staatlichen Anerkennung be8 Chriftenthums ein Kirchenvermögen bilden konnte, mar ber Klerus εἰπεῖ: jeit8 nicht mehr fo jehr wie früher darauf angemiefen, feinen Unterhalt aus jeinem Privatvermögen oder durch gewerb- liche Thätigkeit zu beftreiten, und anberjeit8 war feine Kraft, jeitbem das Chriftenthbum in jtet& weitere Kreiſe fid) ὑεῖς breitete, mehr und mehr durd) feine religiöfe Aufgabe in Anspruch) genommen. Doch ward das Kirchenvermögen nid)t jo bald fo groß, baB es zum Unterhalt ber ganzen

1) De vera et falsa poenitentia c. 15. In omnibus dolens aut saeculum derelinquat (poenitens) aut saltem illa, quae sine admixtione mali non sunt administrata, ut mercatura, militia et alia, quae utentibus sunt nociva, ut administrationes saecu- larium potestatum, nisi his utatur ex obedientiae licentia.

2) Harduin Conc. II, 1334 can. 7. Tho maſſin bemüht fij in feinen Traité du negoce (Paris 1697) chap. 11 das br- zügliche Verbot als ein altes nadjguiveijen und -auf ba8 paulinijche Wort: nemo militans Deo implicat se negotiis saecularibus (II Timoth. 2, 4) zurüdzuführen. Allein ben von ihm beigebracten Stellen ift ein eigentlicher Beweis nicht zu entnehmen.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Altertfum. 385

und in einigen Städten ziemlich zahlreichen Geiftlid)feit Hin- gereicht hätte, und bie Kleriker waren ihrerfeits nicht immer jo genügfam, mit bem fpärlichen Einkommen, das ihnen gereicht wurde, wenn fie je ihre Bedürfniſſe damit beftreiten fonnten, fid) zu bejcheiden )). Sie widmeten fid) daher auch mod) fortan dem gewerblichen Leben und mie in ändern Dingen wurde ihnen auch in diefem Spunfte feitens des römischen Staates einige Begünftigung zu Theil. Durch 8aifet Gonftantiu& wurde den Klerikern, bie zu ihrem liters halt ein Raufmannsgefchäft betrieben, im Sy. 343 bie Sym: munität von den Abgaben verliehen, welche die Kaufleute an den Fiskus zu entrichten hatten, und diefes Privilegium auch auf ihre Angehörigen und Sklaven ausgedehnt ἢ). ALS Grund wurde für dasfelbe alsbald angegeben, daß der Gewinn ihrer gewerblichen Thätigfeit den Armen: zu gut Iomme 5) Das Privilegium fcheint aber alsbald mißbraucht worden zu fein. Es gab Klerifer, die Handel und Gewerbe nicht bloß zur SSeftreitung ihres Unterhaltes, fondern aud) zur Erwerbung von Reichthümern trieben, und da bie frag: fife Immunität auch durch fie in Anfprud) genommen wurde, fo ward fie, wie das Gefeg übrigens aud) fchon -

1) Sulpicius Severus bemertt über bie Geiftlichen feiner Seit: Tanta animos eorum.habendi cupido veluti tabes incessit. Inhiant possessionibus, praedia excolunt, auró incubant, emunt venduntque, quaestui per omnia student. Chron. I c. 28 n. b.

2) L. 8 u, 10 Cod. Theod. de episcopis 16. 2. Et si qui de vobis alimoniae causa negotiationem exercere volunt, immuni- tate pafientur.

9) L. 10 u. 14 Cod. Theod. de episcopis 16. 2. Negotia- torum dispendiis minime obligentur, cum certum sit, quaestus, quos ex tabernaculis atque ergasteriis colligunt, pauperibus Profuturos.

386 gunt,

ursprünglich gewollt fatte, im J. 360 beftimmt und aus- briidíid) auf diejenigen befchränft, die, um ein bejcheidenes Ausfommen zu finden, einen fleinen Handel treiben würden, den andern aber, deren Nanıen in die Matrikel der auf leute eingetragen waren, und ebenjo den Grunbbefipern. im Klerus bie Gutridjtung der üblichen Eteuern zur Auflage gemadjt !). Die Kaifer Arkadius und Honorius erneuerten die Immunität mit diefer Beſchränkung im Jahr 401 ?). Aber Kaifer Valentinian III Bob jie im Cy. 452 auf unb verbot den Klerikern ben Handel geradezu, indem er für den Fall de8 Damiderhandelns ihnen die Privilegien ihres Standes überhaupt entzog 9). Ueber die Motive diefer Verordnung erfahren wir nichts. Wir werden aber mohl faum irren, wenn wir ba$ Geſetz mit der inzwifchen erfolgten Vermehrung des Kirchenvermögens und mit der jtrengeren Anfchauung in Perbindung bringen, weldje in der letzten Zeit über die Be- theifigung des Klerus am Handel fid) gebildet hatte.

. Bereit8 Ambrofius erklärt, daß menn das Gefeß fchon

1) L. 15 Cod. Theod. de episc. 16. 2. Clerici ita a sor- didis muneribus debent (esse) immunes atque a conlatione prae- stari (l. lustrali), si exiguis admodum mercimoniis tenuem sibi victum vestitumque conquirunt; reliqui autem, quorum nomina negotiatorum matricula comprehendit eo tempore, quo conlatio celebrata est, negotiatorum munia et pensitationes agnoscant; quippe postmodum clericorum se coetibus adgregarunt. De his sane clericis, qui praedia possident, Sublimis Auctoritas Tua non solum eos aliena juga nequaquam statuet excusare, sed etiam his quae ipsi possident, eosdem ad pensitanda fiscalis perurgeri.

2) L. 36 Cod. Theod. de episc. 16. 2.

3) Jubemus ut clerici nihil prorsus negotiationes exerceant. Si velint negotiari, sciant se judicibus subditos,* clericorum privilegio non muniri. Nov. 12.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthum. 387

den Dienern des Kaifers, dem Militär, den Verkauf von Waaren verbiete, nod). viel mehr der Diener des Glaubens von aller Art von Kaufmannfchaft fid) fern halten und mit dem Crtrag feines Gütchens ober, menn er feines θε 60, mit feinem Gehalte fid) begnügen folfe D, und Hieronymus fordert einen jungen Priefter auf, einen Klerifer, der Handel treibe und von ber Armuth zu Reichthum, von ber Niedrig- feit zu Anfehen gelange, mie cine Art Peft 21: fliehen, in- bem er ihm zugleich zu bemerken gibt, der Ruhm eines Biſchofs beftehe in der Linderung der Noth der Armen imb ba$ Trachten mad) Reichthum [εἰ für den Priefter eine Schande *). Durch Synoden wurden der gewerblichen Thä- tigkeit des Klerus menigftens einige Schranken gejegt. Die Synode von Gartfago vom J, 397 verordnete: ut episcopi et presbyteri et diaconi vel clerici non sint con- ductores neque procuratores privatorum neque ullo turpi vel inhonesto negotio fictum quaerant, quia respicere debeant scriptum esse: nemo militans Deo implicat se negotiis saecularibus 9) und ähnlich verbot bie Synode von Chalcedon vom J. 451 den Klerikern und Mönden, Güter oder Gefchäfte zu mieten oder fid) in weltliche Angelegenheiten zu mifchen, joweit fie nicht etwa durch das Gejeg zur Führung ciner Vormundſchaft für Minderjährige verpflichtet jeie oder vom Bifchof mit ber Sorge für die Waifen, Wittwen unb andere jchußbedürftige Berfonen betraut werden %). Der Betrieb des. Handels ift bier noch nicht wnterjagt und die Spike jener Decrete

1) De offic. I c. 86 n. 184.

2) Ep. 52 ad Nepotianum n. 5 sq. 3) Harduin ]. c. I, 963 can. 15. 4) Harduin l. c. II, 601 can. 3.

388 Sunt,

richtet fid) Hauptfählih gegen bie Uebernahme von Padht- gefhäften oder Gefchäftsführungen, bie ber Zeit als befonders anftößig und entehrend erjchienen. Aber die Synode von Arles, die im J. 443 oder im Cy. 452. gehalten wurde, ging Dereit8 weiter und verbot ben Klerikern aud) den Handel, indem fie verordnete: si quis clericus pecuniam dederit ad usuram aut conductor alienae rei voluerit esse aut turpis lucri gratia aliquod negotiationis exercuerit, depositus a clero & communione alienus fiat δ. Der Kanon Hatte allerdings nur eine bejchränfte Geltung. Er galt nur für bie Kirchenprovinz Arles, vielleicht nod) für einige weitere Provinzen, die allenfall® noch auf der Synode vertreten waren ?), und jedenfall® ging feine Berbindfichfett nicht über das ſüdliche Gallien hinaus, indem die Synode von Tour vom %. 461 ben Handel als ein für den Klerus erlaubtes Geſchäft anführt unb fid) auf das Verbot des Sinénefmenó oder be8 Betriebs eines Bank⸗ gefchäftes beſchränkt 5). Aber er ftand auch nicht ganz allein. Mit dem Kanon: sicut canonum statutis firmatum est, quicunque in clero esse voluerit, emendi vilius vel vendendi carius studio non utatur: certe si voluerit haec exercere, cohibeatur a clero *), jdjritt die Synode von Tarragona vom J. 516 wenigſtens gegen den f. g. Speculationshandel ein, und bie f. g. vierte Synode von Cartfago verbot dem Klerus den Handel überhaupt, indem ihre Verordnung, jeder Kleriker, der arbeitsfräftig fei, jolfe wie bie Wiſſenſchaft fo aud) ein Handwerk erlernen umb,

1) Harduin l c. II, 774 can. 14. 2) Hefele Gonciliengejdidte 2. A. IT, 299. 3) Harduin l. c. II, 796 can. 18. 4) Harduin l. c. II, 1041 can. 2.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthum. 389

ſo gelehrt er auch fei, durch Handarbeit, [εἰ e8 durch Betrieb

eines Handwerfes ober durch Aderbau, feinen Unterhalt jelbft erwerben 1), inbirect ein Verbot der Kaufmannfchaft enthält. Wir wifjen freilich nichts Näheres von ber Zeit, in der, nod) von bem Orte, an bem biefe Verordnung et» fajffen wurde, ba bie carthagifche Synode v. J. 898, der fie zugehören will, nicht eriftirt unb da die Kanones, bie bier Synode zugefchrieben werden, von verfchiedenen afrifanijd)en , orientalifhen und andern Synoden pers: rühren ἢ. Allein menm auch all das unbefannt ift, fo bürfte bod) das ficher fein, daß bie Verordnung immerhin von einer Synode ausging und nicht etwa mur bem Einfall - eines Privatmannes ihre Entſtehnng berbantt.

Wie bereit angedeutet wurde, bejchäftigten jich die Mönche des Alterthums beinahe ſämmtlich mit Handarbeiten und außer den Dingen, bie fie zu ihrem eigenen Bedarf brauchten, wie Brot und Kleidung, fertigten fie namentlich Zeppiche, Matten; Stühle, Körbe und anderes Flechtwert >). Die Producte wurden verfauft und der Erlös zur -Bes ſchaffung von Lebensmitteln und anderen erforderlichen Dingen und zu Werken der MWohlthätigfeit verwendet. Die alten Mönche trieben fo nicht bloß ein Handwerk, fondern aud Handel und fie befuchten aud) Märkte, um die Erzengniffe ihres Fleißes zu veräußern unb anderes, was fie zu ‚ihrem Unterhalt nothwendig hatten, einzufaufen. Der fromme Sinn, ber fie nament(id) im Anfang befeelte, läßt ung

1 Harduin l c. I, 982 can. 561—858.

2) Hefele Goncilienge[djidte 2. U. IT, 68 f.

8) Vita Pachoniii c. 7. 14. 25. 48. 47. Migne Patrol. eurs. compl. LXXII, 227—271. Aegyptiorum patrum sent. n. llsq. Migne ib. LXXIV, 884.

390 Sunt,

annehmen, daß fie bie Weifung des 9[pofteí$: ‚ne quis -

supergrediatur neque circumveniat in negotio fratrem suum (I Theſſ. 4, 6) befofgten. Die Vermuthung wird durch mehrere einſchlägige Bemerkungen bejtütigt, die fid) unter den nicht jpärlichen Nachrichten, welche über das Mönchthum aus dem Altertyum anf uns gelangt fiud, be finden und diefelben mögen zum Schluß nod) kurz ange führt werden. Als der Abt Pömenius einft von einem Möndh um Berhaltungsmafregeln für fein Benehmen auf bem Markt gebeten wurde, ermiberte er ihm: er folle nie über dem Werth (Marktpreis) verkaufen und fogar gegen den Käufer freundlich fein, ber ihm gewaltthätig etma mehr nehme, als er eigentlich bezahlt habe; er felbjt Habe, als er den Markt zu befuchen gehabt habe, niemals übermäßige Preiſe zu erzielen getrachtet und dem Nächften beſchwerlich fallen wollen, indem er jid) der Hoffnung Hingegeben, der Gewinn des Bruders gereiche ihm felbft zum Heil). Aehnlich Handelten mobi die meijten übrigen Mönche und

bor einem wird berichtet, er habe fogar eine Härte darin -

finden wollen, menn er das Erzeugniß feiner Thätigkeit um Geld veräußere. Sein Oberer, der Abt Bifteramon, be nahm ihm indefjen das Bedenken und bemerkte ihm: er folfe nur, wenn er den Berfauf zu beforgen habe, den Preis ber Waare ein für allemal nennen; wenn er ihn dann uod) etwas ermäßigen wolle, jo ftehe das bei ihm und c werbe ihm zu größerer Beruhigung dienen 9). Wenn εὖ hienach al8 fraglich) angefehen wurde, ob bie Mönche für

1) Aegyptiorum patrum sent. n. 5, Migne Patrol. curs. compl. LXXIV, 383.

2) Rosweid Vitae patrum V c 6 n. 11. Migne Patrol. c. c. LXXIII, 890.

Handel und Gewerbe im chriftlichen Alterthum. 391

ihre Broducte von den Weltleuten einen Preis fordern dürfen, jo mußte ihnen die Berechtigung, etwas unter fid) zu ver- faufen, mod) zweifelhafter fein und Baſilius ber Gr. er- Härte in der That: er [ei aufer Stand zu fagen, ob bie Schrift geftatte, daß unter den mönchiſchen Genoffenfchaften Kauf und Verkauf ftattfinde, da der Apoftel (II Kor. 8, 14) gebiete,, der Weberfluß der einen jolfe dem Mangel der andern abhelfen 1). Aehnlich, aber umfaffender und eine greifenber ift das Bedenken, das Papft Gregor der Gr. in diefer Beziehung Degte, menn anders feine Worte nicht als eine, leere Redensart aufzufaffen find. Er bezog nämlich) die Worte dr8 Herrn: umfonft habt ifr e8 empfangen, umfonft gebet ἐδ (Statt). 10, 8) auf das Verkehrsleben unb weigerte fid) demgemäß den Preis, den ihm der Patriard) - Eulogius von Alerandrien für eine Sendung Holz anbot, anzunehmen, weil er fie nicht oefauft oder feine Auslagen für fie gehabt habe *).

I) Regulae brevius tract. c. 285. Opp. ed. Garnier 1], 515. 2) Ep. VIIT, 29.

2.

Die Ariftliche 98eltanidjauung in ihrem Verhältniß zu den modernen Naturwiſſenſchaften 1).

Bon Prof. Dr. Schanz.

Es ijt ber neueren Eregefe bes N. T. eigentbitmtid, nah dem Vorbild der trefflichen Arbeiten eines Richard Simon vor allem dem menjdjiden Factor in dem Kanon de8 N. S. nachzuforfchen. Die Einleitung in das N. 3. ift eine hiftorifch-Fritifche geworden, indem fie nicht nur der von Eichhorn fo genannten niederen Kritik, dem Text, ihre S(ufmerfjamfeit [d)enft, fondern ganz befonders die Aufgaben der höheren ritif in den Kreis ihrer Betrachtung zieht. Schon Eichhorn fagt: „die Schriften des N. X. wollen menfchlich gefefem und menjdjfid) geprüft fein. Ohne Be jorgniB ein Aergerniß zu geben, Tann man daher bie Art

> ihres Ursprungs erforjchen , die Beſtandtheile ihres Stoffes unterfuchen und nad) den Quellen fragen, and welchen ihr einflußreiher Inhalt gefloffen ift. Je fritifd) genauer, je richterlich ftrenger , befto beſſer“ P). Die Kritik unterfucht

1) Eine afabemifdje Antrittärebe. 2) Einleitung in ba3 9t. 2. IV, 9.

Schanz, die chriftlihe Weltanſchauung zc. 893

nicht nur bie bf. Schriften nad) ihrem Urfprung und ihrer Authenticität, fonbern fie macht aud) den Hiftorifchen Verſuch, eine pofitive Vorftellung von ber Entftehung des Kanons zu geben ?). Und felbjt wenn man fid) zu der. jog. „kirch⸗ (if) befangenen^ Anficht bekennt, faun man fid) nur freuen, daß von den Vertretern ber fog. „wilfenfchaftlich unbefange- nen“ Anficht bie b. Schriften auf ihren hiſtoriſchen Gehalt unterfucht werden. Denn dies verfteht fid) doch für jeden Gläubigen von feldft, daß das N. SZ. auch den Anforderun⸗ gen genügen muß, welche eine objectiv gehaltene Kritik am den Inhalt eines jeden Schriftftüces zu ftellen das Recht hat. Wenn e$ gelingen follte, mit unzweifelhafter Sicherheit nachzumeifen, daß eine auf dem Standpunkt der Hl. Schrift fid) bewegende Exegefe mit den geficherten Reſultaten der Wiſſenſchaften fid) in Keiner Weiſe vereinigen laſſe, [0 wäre dies für ben Verehrer der Hl. Schrift zum nrindeften eine beunruhigende Erfcheinung. Der Natur ber Sache gemäß Dat fid) bie Hiftorifche Kritit ganz befonderd auf bie Er- forfhung der Evangelien gerichtet und eine förmliche Evan- gelienfrage gejchaffen, bie, wenn auch ein guter Theil ber Eregeten ein allerdings mehr fcheinbar al8 wirklich überein: ſtimmendes Nefultat erreicht zu haben glaubt, bis heute nicht genügend beantwortet ijt 3). Die vielen Bearbeitungen de8 Lebens Jeſu geben Zeugniß davon unb zeigen zugleich, daß mit der Frage nach den Hiftorifchen Verhältniffen der neuteftamentlichen Schriftabfaffung folgerichtig auch die Frage uad dem Mittelpunkt des ganzen Chriſtenthums, nad) ber

1) HSilgenfeld, Einleitung 1875 ©. 25.

2) Vergl. meine Abhandlung in der Quartalfchrift 1871. Die Narcushypotheſe €. 489 ff. Wich iia u8, Evangelium Matthäi bon Zahn 1876 ©. 38 f.

394 Schanz,

Perſon des Stifters der chriſtlichen i iwieder in dem Vordergrund geftellt wurde.

Eine nähere Betrachtung diefer Schriften legt die Ver⸗ muthung nahe, daß es oft nicht rein hiſtoriſche Bedenken ſind, welche die Verfaſſer die kritiſche Feder zuſpitzen laſſen, ſondern bieffad) ſolche Bedenken, bie aus der veränderten Weltanfchauung entlehnt find. Der Inhalt ber Hi. Schrif- ten wird oft aus feinem anderen Grunde beanftandet, als weil er den Boden des rein Natürlichen verläßt, weil er den Charakter des Wunderbaren an fid) trägt. Stillſchweigend oder zugeftandenermaßen gehen viele Kritiler von dem Grund: jag aus, daß jene Theile in den bi. Schriften die älteſten jeien, welche am wenigften Wunderbares berichten, während alles audere ald Zugabe der fpäteren, Wunder und Sagen bildenden Zeit bezeichnet wird. Man müßte bie Zeichen der Zeit durchaus verfennen , menn man leugnen wollte, bag in der Gegenwart eine foldhe Strömung viele Kreife der Gefellfchaft ergriffen und zu einem guten Theil ihre Duelle in bem Einfluß Dat, den die modernen Naturmiffen- . Schaften auf das. Leben und Denken der Menfchen ausüben. Hat ja bod) jener berühmte Kritiker, dem e$ auf anderem Wege nicht gelungen ijt, den Grund der chriftlichen Lehre zu verflüchtigen, geradezu im Namen einer großen Sfftinber: heit die Frage aufgemorfen, ob wir nod) Chriften jeien und auf Grund der modernen Meltbetrachtung die Trage ver: nent D). Die hrijtliche Weltanfchanung fcheint nach biejem Urtheil von jener ber Naturwiffenjchaften nicht etwa blog in imtergeordneten Punkten zu differiven, ſondern mit ber»

1) Der alte und neue Glaube, ein Belenntnik von D. Strauß 1872.

x

Die chriftlicde Weltanfchauung 2c. 995

felben in prinzipiellem Widerfpruch zu jte)en. Es kann aber feinem Zweifel unterliegen, daß, wenn dem [o wäre, dem regeten geradezu das Fundament ber Gregeje emt: zogen würde. Es ijt deßhalb Pflicht des Exegeten iie des Theologen überhaupt, die Reſultate feiner Wiffenfchaft mit denen anderer Dieciplinen zu vergleichen, wenn er aud) dabei gezwungen wird, den ihm zugewieſeuen engeren Kreis vielfach zu überfchreiten. Es muß ihm der Nachweis mig: (id. fein, daß bie ficheren Reſultate der Naturwiſſenſchaften mit der richtigen Auffoffung der religiöjen Ideen, der diri[t- [ien Lehren wicht im Widerfpruch ſtehen. Natur und Offenbarung find zwei Gebiete, welche fid) nicht ausſchließen, fondern ergänzen ſollen, fo gewiß die Wahrheit nur eine it, aber bie Unterfudung der Gebiete ift weſentlich vers ichieden. Der Naturforfcher ift lediglich auf den Weg der Erfahrung und des Experiments angemiejen und feine 9te- fultate haben nur injoweit auf Geltung Auſpruch, als fic auf diefem Wege gewonnen find. Darin befteht eben das Ginnefmenbe und Weberzeugende der eracten Wiffenfchaften, daß fie fid) auf dem einen jeden zugänglichen (Gebicte der Erfahrung bewegen und nichts als bie einem jeden ange- borenen Denkgeſetze vorausfegen. Die Theologie Tann fid), wenn fie fid) nicht felbft aufgeben will, nicht auf das rein natürliche Gebiet bejd)rünfen, aber fie jeßt bie Natur überall voraus, um auf ihr weiter zu bauen. Die hl. Schrift θὲς trachtet e8 nirgends als ihre Aufgabe, dem Menfchen Be— lehrungen oder gar Offenbarungen über das was wir im Worte Univerfum zuſammenfaſſen zu geben. Die Himmels» förper im Ranm und die Naturförper auf der Erde fommen nur infoweit zur Cpradje, ald fie zum religiöfen Leben ber Menjchen in Beziehung ftehen. Was ba über hinausgeht

396 Schanz,

hat ſie dem Forſchen der Menſchen überlaſſen. Das N. T. insbeſondere bietet bloß wenige Stellen, in welchen die Anſicht der Schriftſteller über die Natur zu erkennen iſt, aber es ſetzt das A. T. ohne weiteres als hl. Schrift voraus, ſo daß es ſich die dort gegebenen Grundzüge der Weltanschauung jelbft zu eigen -madjt. Dem chriftlichen Glauben liegt, unbefchadet der wiljenfchaftlichen Erklärung der Welt, bie theiftifche Gottesidee zu Grunde, nach welcher alles durch den allmächtigen Willen des Schöpfers feinen Anfang genommen hat und erhalten wird. Der Meuſch, a($ bie Synthefe aus Leib und Seele, erjcheint a(8 das vorzüglichite Geſchöpf auf Erden, bem eine höhere Beſtim⸗ mung zum Ziel gejegt ijt.

Diefe Weltanfhauung war aud) die Mitgift, welche bie Naturwiſſenſchaft, als ſie fid) von der allgemeinen Wiffen- Schaft löste, mit fid nahm unb lange Zeit als unantaft- bares Vermächtniß bewahrte. Man fand es fange jo fefbjt- verftändlich, daß die Natur und Offenbarung, natürliche und religiöfe GrfenntniB in befter Harmonie ftehen, daß etwaige Zweifel darüber als abjurb betrachtet wurden und manche Anſichten über Naturerfcheinungen, welche Heutzutage faft als gefährlich erfcheinen, unbeanſtandet Geltung erlangten. Ja die Theologie war es eigentlich, welche den er[ten Anftoß zur gänzlichen Umgeftaltung jener. naturwiffenfchaftlichen Disciplin gegeben Dat, welche heutzutage noch den erften Rang behauptet, der Aftronomie. Die nad) dem ptolemäi« chen Syftem gemachten Kalenderrechnungen wollten mit ben Himmelserfheinungen nicht übereinftinumen und veranlaßten ſchon den Garbinat Nicolaus von Cuſa zu der Vermuthung, daß man e8 mit feinem NRechnungsfehler, fouberm mit einem Tehler des ganzen Weltſyſtems der damaligen Wiffenjchaft

4 Die hriftliche Weltanfhauung 1. 397

zu tun Babe, daß Mittelpunkt und Peripherie anders gefaßt werden müjjeu *). Der Frauenburger Domherr gab dem neuen Weltſyſtem den Namen und legte damit den Grund zu der heutigen Aftronomie, zur eracten Naturwiſſenſchaft. Wenn e$ aud) unwahrſcheinlich ift, daß er mit ber Publi- cation feines berühmten Werkes aus Furcht oor bem zu ete wartenden Widerfpruh bis an ba8 Ende feines Lebens zögerte, da das SOriginalmanujcript die fortjchreitende Ver⸗ befferung mod) deutlich erkennen läßt ?) und e$ an Ermunte- rungen von einflußreichen Seiten nicht fehlte ?), jo willen wir doh, daß mit. dem fopernifanifchen Syftem aud) ber etíte Conflict der Naturwiffenfchaft mit den Vertretern ber Hriftlihen Weltanfchauung hervorgerufen wurde, obwohl Kopernifus dies durchaus nicht beabfichtigte %). Die Aftro- nomie hieß damals einfach Ptolemäus , wie die Naturkunde Aristoteles und bie Gefegkunde Syuftinian. Selbft bie Aftro-

1) Bergleihe mein Programm be8 GEymnaſiums in Rottweil: De aſtronomiſchen Anſchauungen bes dicic bon Gufa unb feiner Zeit. 1873.

2) Dasſelbe befindet fid) im Beſitz der gräflichen Noftig’fchen Familie auf ihrem Stammfige Mieszyce in Böhmen ober ihrem Familienmuſeum in Prag.

3) Papſt Clemens VII intereffirt fid) dafür, Cardinal Schonberg bon Gapua bittet 1536 inftändig um eine Abjchrift.

4) Das Wert mar Paul LIT geivibmet. Luther erklärte fid) dagegen (gutb. Tilchreden v. Walch 1743 ©. 2260) ebenjo Melanch⸗ ibon (Corp. Reform. XIII, 216. 217 und a. a. D.). Gin Decret der Indexcongregation von 1616 fujpendirte ba8 Werk. 1758 vet: ſchwand das Secret gegen die Erbbewegung vom Inder. Der dialogo des Galilei tourbe 1835 ebenfalià ausgelaffen. Näheres bei Prowe, Ueber die Abhängigkeit be8 fopernifu8 u. ſ. m. unb bei Hipler, Spicilegium Copernicanum. Die Galileiliteratur ift neuer: dings wieber ziemlich bereichert worden.

Theol. Quartalſchrift. 1876. Het ILL. 26

398 Schanz,

nomen fonnten fid) nur ſchwer zu ber neuen Anfchauung befehren, welche Kopernifus zwar αἴθ feine volfe Weberzeu- gung berfünbigte, aber bod) nicht volljtändig zu beweifen im Stande war. Denn Kopernilus weiß nur den fehönen harmonischen Zufammenhang und die bewunderungswirdige Symmetrie hervorzuheben, bie birecten. 3Bemeije , welche fein Cyitem als ba8 allein berechtigte erjcheinen laffen, wie die Aberration des Lichtes unb bie Parallare der Firfterne ge hören der Neuzeit an. Dadurch, daß die Erde aus bem vermeintlichen Meittelpunft der Welt Herausgeriffen wurde und mut mit den andern Planeten um die Sonne Treist, wurde bie damalige Weltanschauung total verändert, ber geocentrifche Standpunkt mußte dem Heliocentrifchen weichen. Die Grbe ijt nicht mehr bie Grundfeſte der Welt mit der Umrahmung des Himmels, fondern fie ijt in dem großen Univerfum nur ein einzelner und zwar Tleiner Weltlörper und bod) galt ἐδ bisher als ausgemacht, daß wie alle Gejtitne fid) um die Erde bewegen, fo alles was gefchaffen it auf fie Bezug Hat. Darum war ber erfte Eindrud diefer nenen Lehre ‚bei Vielen gleich dem eines alle Grund» lagen de8 Glaubens und Wiſſens erjchütternden Erdbeben. Man hielt jid) engherzig an den Buchſtaben der Hi. Schrift und fonnte fid) nicht zu bem Gedanken erjchwingen, daß veligiöfe Unterweifungen und Belehrungen fid) der Faſſungs⸗ fraft der jeweiligen Zeit anbequemen, in ber Form bem Pädagogen nahahmen müfjen, welcher den erften Unterricht des Kindes aud) anders ertheilt a(8 den des Knaben und des Jünglings. Man Hatte fif) zu wenig klar gemacht, daß die Offenbarung eine Belehrung über natürliche Dinge nicht Degmede, und hielt ein der früheren Aftronomie ent: nommenes Moment. der chriftlichen Meltanfchauung für

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Die chriſtliche Weltanfchanuung ac. 399

weientlich und nothwendig. Heutzutage hat man fid) längſt über jofd)e Bedenken hinweggeſetzt. Freilich erweitert fid), wenn man die Weiterbildung des Syſtems durch Kepler und Newton berüdfichtigt, dev Gefichtsfreis ins Unendliche, herrſcht Ein großes Geſetz über alle diefe unzühlbaren Himmelskörper im weiten Raum, alle Bewegungen Taffen fh duch mathematische Formeln zum voraus berechnen, allein dies alles ttügt nur dazu bei, unſre Einficht zu erhöhen, unjre Weltauffaſſung zu ffüren. Auch vom theiftifchen Got- te&begriff aus verſteht e8 jid) von ſelbſt, daß das Wert des Schöpfers ein vollendetes fein werde, in deffen Gang der Schöpfer nicht immer verbejfernd einzugreifen mótDig habe und wilfen wir aud), daß Lalande gefagt hat, er habe den ganzen Himmel durchforscht und Gott nicht gefunden, [0 hat Mädler, bem der Himmel aud) nicht unbefannt war, mit 9tedjt dazu bemerkt, 9alanbe habe fid) jar etwas un- gefickt ausgedrückt, aber fein Gedanke fei richtig. Das ganze Univerfum jei jo wohl eingerichtet, daß nie ein beſon— bere Eingreifen Gottes nothwendig fei, mas nur dazu θεῖς trage, eine höhere Idee vom Weltenfchöpfer zu erzengen. Es ift bod) gewiß bloß ein Wig, wenn man durch bieje Ausdehnung des Univerjums in unendliche Fernen den lieben Gott in Wohnungsnoth kommen läßt, menn man zu glauben vorgibt, daß, weil das Unten und Oben anders aufgefaßt werden muß, aud) der Himmel und die Hölle de8 Gläubigen befeitigt feien. Denn hat aud) auf der Stufe der Boritel- lung ein folder Gebaufe Tag gegriffen, der geläuterten Grfenntni& ift Geistiges und Materielles nicht identiſch, find Raum und Zeit nicht alles beherrfchende Begriffe. Gerade bier kommt ja die Naturwilfenfchaft der chriftlichen Welt- anichauung wieder entgegen. Es geht ba& Univerſum ſchon 26 *

400 Scans,

ber Zeit nad) nicht in ba8 Unendliche, unfer ganzes Sonnen- ſyſtem reift zu einem Endzuftand heran ἢ).

Wenn einmal aller Kraftoorrath in Wärme überge- gangen und alle Wärme in das Gleichgewicht der Temperatur gefommen ift, dann ijt jede Möglichkeit einer weiteren Ver⸗ änderung erfchöpft und das Weltall wird zur ewigen Ruhe verurtheilt fein. Die Wärmelehre bat das Geſetz aufge funden ?), welches mit Sicherheit ſchließen läßt, bap im ber Melt nicht alles Kreislauf ift, fondern die Veränderung - einem Grengauítanb zuftrebt. Entweder herrichen alfo nod) andere als bloß phnfifalifche Kräfte in der Materie ober das Weltiyftem finft in ein tobte8 Chaos, aus bem fid fein neuer. Weltbau geftalten fam. Das Weltfyftem Tann alfo aud) nicht anfangslos, nod) eine Production der Materie felbft fein, fondern fordert für feine Erklärung ein über die Materie hinausliegendes, fie beherrfchendes Prinzip ?). Die Erklärung aller Erfcheinungen in Ausdrücken von Stoff, Bewegung und Kraft ijt nichts weiter als eine Zurüdfüh- rung unferer Denkſymbole auf die einfachiten Symbole, ale die Erklärung eines Unbekannten burd) ein weiter zurüd- liegendes linbefannte. Woher Kraft und Stoff, woher die erfte bewegte Materie kommt, bae ift unferer natürlichen

1) G8 ift überhaupt etwas Eigenthlimliches mit bem Begriff des Unendlichen. Ich Habe mich darüber jon ausgeſprochen in meinem Programm „Der Cardinal Nicolaus von Cufa als Mathe matifer" Rottweil 1872, und auf die ba$ gegenwärtige Thema be: tübrenbe Bemerkung Reuſchle's bingemwiefen: „Was in einem um endlich fernen Zeitpunkt eintritt, tritt gar nicht ein".

2) Claufius über ben zweiten Qauptjag der mechanischen Wärme: theorie 1867. Vgl. die Schriften von Klein und Cornelius, Natur und Offenbarung 1871.

3) Dal. Huber, Die Lehre Darwins e. ‚185 ff

Die chriſtliche Weltanſchauung ac. - 401

Erfenntniß nicht nur unbefannt, fondern wird ifr aud) für immer ein Geheimniß bleiben '). Wohl will ber Natur forfcher damit nicht. jagen, bap man num über bieje dunkle Vorzeit alle beliebigen Speculationen als bare Münze aus- geben dürfe, aber dies ift damit zugeftanden, daß im Wefen der Dinge ein unlösbares Räthſel liegt, daß alfo aud) hier für die chriftliche Weltanfchanung, ber eine rein phyſikaliſche Erklärung nicht genügt, Dinlünglid) Raum bleibt.

Gilt dies vom Anfang der Dinge, fo find wir nicht weniger berechtigt, auch über jene Kataftrophe hinauszugehen, auf welche bie Mechanik des Himmels hinweist. Die Natur: wifienschaft Tann -uns darliber nur Vermuthungen geben, was ber Glaube dagegen jagt ijt gewiß nicht weniger ficher. - 66 mögen nad) dem Spruch ber Wiffenfchaft mit dem Ver- brauch der Kohlenfäure und des Waffers gleichzeitig bie Organismen und ber Menfh mit ihnen verichwinden; ἐδ mag das Ringen der Naturfräfte und Elemente, der Kampf ums Dafein unter bem belebten Weſen ſchließlich aufhören, t$ mag die ewige Ruhe des Gleichgewichts über bie Erbe herrſchen, das Menjchengefchlecdht, feine Eultur, fein Ringen und Streben, feine Schöpfungen und Ideale find defhalb nicht umfonft auf der Erde gemefen ?), bie Wiffenfchaft Hat hier ihre Grenze und ebendamit fein Recht, den chriftlichen

1) Dubois-Reymond, Weber die Grenzen be8 Naturerlen- nen? 4. U. 1876 ©. 16.

2) Hellwald eröffnet in feiner Culturgefhichte S. 679 für die ganze Natur eine jofdje troftlofe Ausficht. Der b. Apoftel Paulus bat hierauf ſchon eine Antivort gegeben, wenn er an die Thefjalonis her fchreibt: „In Betreff ber Entfchlafenen, meine Brüder, mollen wir euch nicht im Ungewiſſen laffen, damit ihr nicht betrübt jeib wie bie übrigen, welche feine Hoffnung haben“. 1 Theſſ. 4, 13.

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Anfhauungen vom Standpunkt exacter Forichungen aus entgegenzutreten.

Aber freilih, menn es wahr ijt, daß aud) in ber ganzen organifchen Welt nur phyſikaliſche Kräfte herrſchen, wenn ἐδ wahr ift, daß ber Menſch ebenjo machtlos wie das Thier und die Pflanze der unbeugfamen Weltmafchine eingegliedert ijt, um von ihren Rädern erbarmungslos er- griffen und zermalmt zu werden, fo ijt für jeden die Bes rechtigung, über diefen Kreis Hinauszugehen, befeitigt. Und hierin liegt ja die Hanptdifferenz zwifchen ber chriftlichen nnb naturmwillenjchaftlichen Weltanſchauung, jene Differenz, welche eigentlich den erbitterten Kampf zwifchen dem alten ‚und neuen Glauben in helle Flammen auflodern ließ. Der Newton’sche Mechanismus, welcher die Bewegung der Him- meíéfürper beherricht, μη feine Prinzipien aud) im bie organifche Welt, welche im Kreislauf des Pebens und Ster- benà den Zweck ihres Dafeins erfüllt. Wie die Erde ihre dominirende Stellung verlor, jo foll auch ber Menſch zum bloßen Erdenweſen herabgedrüdt werden, welches zwar über den andern weit erhaben ift, aber bloß wie ber Gipfel des Baumes über dem Stamm, in welchem” zwar bie Natur über fid) hinauswollte, aber bod) bie gefchloffene Kette nicht burdjbrad). Diefe Stellung, darüber mitb wohl Fein Zweifel fein, verträgt fid) nicht mit der djvijtlidjen Weltanjchauung ?).

1) Das Ausland macht das Gejtánbnig : „PB. Rauch nennt bie Darwin’fche Lehre und wir glauben mit 9tedjt durchaus materialijtij). Da von mander Seite, welche zwar dem Darwinis⸗ mus, nicht aber beffen logiſchen Conſequenzen zu huldigen vorgibt, öfter bie Behauptung aufgeftellt wird, Darwins Lehre werde nur bon ber materialiftiichen Schule in ihrem Sinne ausgebeutet, man leje Dinge heraus, welche gar nicht darin zu finden feien, [o ijt

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Der Menfch fann nur infofern, als er mit einem Geift befeelt ift, ba8 Object der Erlöſuug und Heiligung fein. Co fehr man fid) aud) Mühe geben mag, biefe Dinge ale unbedeutend hinzuftellen, alle Auslaffungen hierüber zeigen, daß bei einer jofdje Auffaſſung des Menfchen feine Bes ftimmung über das Diesfeits nicht hinausreicht und deßhalb von Religion im eigentlihen Sinne des Wortes nicht bie Nede fein fann, wenn imam aud) das Unmögliche möglich) maden will unb eine unabhängige Ethik zu vetten fucht !). Aber ift e8 denn aud) fo ohne weiteres richtig, was ums als Refultat der eracten Wilfenfchaft geboten wird ? Seitdem man gelernt hat im Bud) der Natur zu fejen, feitbem man fid) nicht mehr damit begnügt Dat, nur bie oberften Blätter bieje8 Buches zu entziffern, jonberm hinab» geftiegen ift in den Schacht der Erde, um ihr bie Gefchichte ihrer Entftehung abzulaufchen, Haben gewiß unfere Seunt- nifje über nnjerer Planeten und alles im und auf ihm be. deutende Tortjchritte gemad)t. Die Erde fat eine Entwid- . lung durchgemacht, welche durch die unfcheinbar wirkenden demijden und phyſikaliſchen Kräfte in langer Zeit und burd)

5

biefe8 GeftünbniB aus bem Munde eine8 [o competentem Richter® für uns, bie wir von jeher in Darwins Lehren bie kraftvollſte Unter: ftügung be8 Materialismus 'erblidten, überaus werthvoll“. 1873. Qt. 7 ©. 133. |

1) Jäger bat bie Stellung ber Darwin'ſchen Theorie zur Moral und Religion fowohl in einer bejondern Schrift ald aud) in ver: ihiedenen Abfchnitten feiner andern Schriften befprochen. Er Täßt fif und feine Gefinnungsgenofjen gern die „Halben” fchelten, ba bie Welt: und Gulturgefchichte niemals ben extremen Parteien Recht gebe. (In Sachen Darwin? 1874 ©. 258.) Ich Habe mich [don bei verichiedenen Gelegenheiten dagegen ausgeſprochen und bin hierin auch der Anficht von Strauß, ber bie Halben nicht begreifen Tann.

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manche größere Kataſtrophe endlich ihre jetzige Geſtalt her⸗ beigeführt Bat. Aber aud) die Flora und Fauna waren nicht immer wie ſie jetzt ſind. Es hat ja eine Zeit gegeben, in der andere Pflanzen und Thierphyſiognomien die Oberfläche der Erde charakteriſirten, ſie ſind begraben im Bett der Schichten, andere traten auf und giengen denſelben Weg; Schichte für Schichte birgt wieder andere Petrefacten; je weiter wir hinunterſteigen, um ſo tiefer ſtehen Pflanzen und Thiere im Syſtem. Da geht es von den Kryptogamen zu den Monocotyledonen und endlich zu den Dicotyhledonen, dort fommen Mollusfen und Eruftaceen, Fiſche, Reptilien und Vögel; zulegt treten die Säugethiere auf und, endlid) erfcheint ber Menſch. Woher diefer bunte Wechſel in ber organifchen Welt? Es gibt jo viele Arten, hat ein berühm« ter Naturforscher, Linne, gefagt, als gefchaffen worden find und aud) einem Cuvier ftand die Gonftanz der Arten feft. Heutzutage wird der Artcharafter bejtritten, das einzige bisher allgemein giltige Merkmal der Abftammung wird al8 ungenügend bezeichnet, alles fot fid) in einer fortwähren- den, durch äußere Urfachen veranlaßten und beförderten Ent- wicklung befinden, für ein höheres Prinzip fein 9taum mehr bleiben. So gewiß c8 aber aud) ijt, daß man den Arts charakter zu ftreng gefaßt, die Stabilität in der organifchen Welt zu eng begrenzt, bie natürliche Gntmid(ung zu [efr verfannt Hat, fo ficher ift e8 andererfeits, daß bie Heutige Naturwiffenihaft noch febr weit davon entfernt ift, uns die vielen Räthſel diefes Prozeffes zu löfen, daß ihr mod) zu gutem Theil jene Cractheit der Nefultate mangelt, welche jie berechtigte, der chriftlichen Weltanfchauung den Prozeß zu machen. Ein Erfahrungsbemweis ift für die Ver: wandlung der Arten bi8 Heute nicht geführt worden. Co

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weit unſere Kenntniffe in der Naturgefchichte zurüchreichen, fagen fie uns, daß zwar mande Art vom Schauplatz ber Erde abgetreteg und fajt fpurío8 verfchwunden ijt, aber bie Entjtehung einer neuen Art ift nicht beobachtet worden. Der Syſtematiker, welcher alte Werke nachichlägt, benft nicht daran, daß eine Pflanze ober ein Thier damals anders conftruirt war. Er findet wohl, daß die Beichreibung nicht gut, die Zeichnung nicht correct ijt, aber er erkennt bod) im ſchlechten Bild den gleichen Charakter. Die Gerfte, welche die Pferde des Atriden nährte, war unbezweifelt diefelbe ale die, welche wir heute haben, die Thiere, welche die Pyrami⸗ den bauen jafen, unterjchieden fid) in nichts von ihren jeßigen Nachkommen. Selbft der Tünftlichen Zuchtwahl ift es nicht gelungen, eine Taube zu züchten, welche nicht bei aller äußer⸗ (idjen Monftrofität deutlich den entfcheidenden Speciescharafter ber Taube bewahrt hätte. Es mag fein, daß Jahrhunderte zu wenig find, um eine Art in eine andere zu verwandeln, daß Meine Schritte und große Zeiträume fid) al& mirfjame Wünſchelruthe erweifen aber es läßt fid) nicht beweifen. Zwar bietet die Paläontologie ein reiches Bild der erfchienenen und wieder verjchwundenen Vorwelt, aber es fehlt noch viel dazu, ans den ähnlichen. Formen Entwicklungsreihen bilden zu können 1). Abgefehen von der zugeftandenen Lückenhaftig—

1) Unter bem Vite: „die [anglebigen und bie unfterblichen - Formen der Thierwelt“ veröffentlichte Trautfchold im Bulletin de la soc. imp. des naturalistes de Moscou 1874 einen 9(uffag, auf welchen ſelbſt bie Zeitjchrift für matbemat. und naturwiſſenſchaftl. Unterricht ihre Lefer aufmerkfam macht (1875. 1. Heft ©. 91 f.). Er fommt zu bem Refultat, daß e8 neben ber Veränderlichkeit der organischen Formen eine Beftändigfeit gebe, welche gewiffen äußeren Einwirkungen zu troßen vermag und "die einen Beweis innerer

Widerſtandsfähigkeit liefert, ber Schlecht zu bem [eibenben Verhalten ſtimmt, ba8 man ber organifchen Welt zubictiven mil.

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keit des Materials kommt man auch bei den ſogenannten Uebergangsformen über den Uebergang nicht hinaus. Die Ammoniten unſeres Jura zeigen z. B. wohl eine ſtufen⸗ mäßige Verwandtſchaft, aber ob wir es mit einer wirklichen Entwicklung zu thun Haben, geht daraus noch nicht hervor. Mir finden überall ſyſtematiſche Uebergangsformen und ſollen ſie als genetiſche deuten.

Die Embryologie kann in der Entwicklung des Indivi⸗ duums manchen Anhaltspunkt für die des Stammes geben, aber eine rein phyſikaliſche Erklärung genügt deßhalb noch nicht. Ein Hinderniß in der Entwicklung kann wohl Mon⸗ ſtroſitäten zu Tage fördern, aber die Exiſtenz des Indivi⸗ duums ſetzt doch die vollkommene Ausbildung voraus. Es entſteht aus keinem Keim ein Individuum einer andern Art als der, welche bie Abſtammung aufweist. Das Unent- widelte als die einfachere "Form ber Natur zeigt der Natur ber Sache nach die Charaktere noch nicht fo fdjarf ausge- prägt, zumal da in ber Folge zum Theil erft diejenigen Organe auftreten, welche S rüger der Unterfchiede find. Vorhanden find die Unterfchiede nichts befto weniger aud ſchon in dem rudimentären Stadium des Individuums, wenn aud) erít nur als Anlage wie insbefondere die Botanil

nachweist !). Aber aud) die zur Erklärung beigezogenen Factoren

—.

1) Bol. Wigand „Der Darwintemus und bie Naturforjchung Newtons und Cuviers“ 1874. I. €. 806. Es wird ihm jeder 3o tanifer beiftimmen, wenn er bemerkt: „An das Pflanzenreich bat man wohl iiberhaupt bei biefer ganzen Theorie nicht gebacht, ſonſt würde man vor der Conſequenz zurückgeſchreckt fein“. 807. Hart: mann Bat fid) durch bie Lectüre dieſer Schrift davon ebenfalls über: zeugt und ipenbet ihr nicht wenig Lob (Wahrheit unb Irrthum im Darwinismus 1875 €. 7 u. a. α. Ὁ). ᾿ :

Die chriftliche Weltanfchauung 2c. 407

führen theilweife in ein durchaus fpecnlatives Gebiet. Schon der Anfang der ganzen fupponirten Reihe ift in faft uns durchdringliches Dunkel gehüllt. Begreift man jdn ba8 Werden in dem gewöhnlichen Gang der Natur nicht, fo ift e$ unendlich fchwerer, das erſte Werden eines organifchen Weſens zu ergründen. Man hat fid) alle erdenkliche Mühe gegeben, um die Entſtehung des Organifchen aus bem Un: organischen nad)gumeijen, es ijt nicht gelungen. Die Gene- ratio aequivoca ijt heute jo unerwiefen als früher. Der viel befprochene Huxley'ſche Bathybius Haeckelii ift von jeinem Entdecker jelbft wieder in das Reich ber Zodten ver- wiejen‘, oder, wie ein Naturforſcher fid) euphemiftifch au8- briidt, jo precär geworden wie fein angebfidje8 Vorbild das Eozoon canadense !). Das Näthfel wird mur weiter zurücgefchoben, wenn bie Hhpothefe aufgeftellt wird, daß die Cebenéfeime auf andern Weltkörpern entjtanden und burd) den Weltraum der Erde zugeflogen feien, wofür die phyſikaliſchen Gejege gewiß nicht fprechen. Dem gegenüber ift man nad) ben auf ber Erde gemachten Erfahrungen gewiß

1) „Das mifjenfchaftlihe Dafein des Huxley'ſchen Bathybius Haeckelii, der in den früheren Auflagen bier eine Rolle fpielte, ilt leitbem fo precär geworben, wie das feines angeblichen foffilen Borbildes, be8 Eozoon canadense". Dubois Neymond 1. c. ©. 43. Man muß bie boffnungsvolen Ergießungen, welche fid an ben Bathybius:Urjchleim geknüpft hatten, gelejen haben, um den Humor zu begreifen, mit bem Ὁ. Hlertlin) in ben Hiftorifch-polit. Blättern (1876, 11. $.) einen ,9tefrolog" auf ihn fchreibtl. G8 war aber auch graufam von Prof. Semper in feinem Bortrag „der Hädeli2- mus in ber Zoologie” (1876) bie ſchönen Illuſionen zu zeritören unb dem beutjden Bublitum zu verkünden, daß biejer Urſchleim des Meeresbodens nach den Unterfuchungen feines Gntbedera nicht? anderes ijt, als in gallertartigem Zuftande niedergefchlagener Gyps (e. 90).

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ebenſo berechtigt zu ſagen, daß das Leben einſt erſchaffen worden ſei. Wenn die chriſtliche Weltanſchauung hier einen ideellen Factor concurriren läßt, ſo kann man ihr wohl entgegenhalten, daß ſie denſelben nicht demonſtriren könne, aber ſie befindet ſich nur in gleicher Lage mit ihrem Widerpart.

Doch ſehen wir einmal ab von dem dunkeln Anfang des Lebens, betrachten wir, wie ſich die einmal vorhandenen organiſchen Formen weiter entwickelt haben ſollen. Drei Punkte werden angeführt, um die bunte Mannigfaltigkeit ber Jetztwelt aus der einfachen Geſtalt der Urwelt zu er: Hären; bie Variabilität, die Vererbung und die natürliche Zuchtwahl im Kampf um das Dafein.

Es ijt -felten, bap bie Nachkommen eines organi- iden Weſens in -allem den Gíternformen und unter fi gleih find, es zeigen fid) Variationen nad) verfchiedenen Richtungen. Davon fann fid) ein jeder überzeugen, welcher die Jungen eines Thieres, die aus bem Samen derjelben Pflanze Hervorfommenden Sprößlinge fiet. In Farbe, Form, Größe u. f. τ. findet ftet8 ein Unterfchied ftatt. ‘Die ver fchiedenen Halme eines Getreidefeldes ober die Schafe einer Herde find nicht alle- nad) demfelben Modell mathematiſch ibentijd) gebildet, ja man wird jagen fünnen, daß faum zwei organifche Körper einander vollkommen gleich find. Wird diefer Unterfchied auf die Nachlommen vererbt, fo ift ἐδ möglih, daß er in derfelben Richtung wächst und ift er zumal dem Cynbipibuum zu irgend einer Lebensfunction nüglih im Kampf ums Dafein, dient er ihm zum Schuß gegen Feinde, gegen Wind und Wetter, zu befjerer Ergreifung der Nahrung, fo wird er mehr und mehr gefteigert, bi8 er endlich feinem Träger einen Charakter aufgedrüct bat, den man, wenn man die Entjtehung nicht wüßte, ohne

Die chriſtliche Weltanſchauung ac. 409

weiteres als den einer neuen Form, einer neuen Art be- zeichnen würde. So etwa kann man jid) die Entwicklung vorftellen, aber e8 bleibt bei der Vorftellung Es ijt jedem Individuum nur ein beſchränkter Raum für die Abänderung gegeben, innerhalb defjen fid). bie Variationen um ein Centrum drehen, wie das Pendel nach beftimmten Gejepen hin und ber (djmingt. Die Variabilität ift aud) keine richtungslofe, jondern bewegt jid) Dei den meilten Arten in der vom Charafter der Species angedeuteten Richtung. „Selbſt bei den am meiften variablen Gattungen und Species Rubus, Rosa, Mentha !), Pyrus, Columba überfchreitet die Zahl der Formen, aud) menn man auf die nod) [o untergeordneten Merkmale ber Spielarten Rückſicht nimmt, nicht eine geroijfe Grenze. rot ber bewunderungswürdigen Leiftungen der fünftlichen Zuchtwahl ijt e8 doch eine arge Webertreibung, wenn man vorgibt, bie Organijation eines Thieres fel unter der Hand des Züchters vollkommen plaftiich und bie Zucdt- wahl ein Zauberftab, jede beliebige Form ins Qeben zu rufen. Sn Wahrheit ift der Züchter auf die von ber Natur bar» gebotenen Eigenſchaften beſchränkt und die Natur felbft bringt nur ganz beftimmte Abänderungen Hervor, welche mit dem Charakter der "betreffenden Specie8 ganz genau zufammenhängen. Der Züchter würde e8 nicht wagen, auf die Erzeugung einer Purzelvarietät des Huhns, ober auf eine gefpornte Taube, einen Gartenmohn mit gelber Blüte, eine Stürbi8 oder Orange von blauer Farbe, eine gelbe Weinbeere, eine gelbe Gentifolie zu wetten, weil die Natur diefe Abänderungen nicht hervorbringt 2)“. Ya bie Varia-

1) Dazu fann man das viel beiprochene Hieracium beifügen. 2) Wigand ©. 53.

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bilität ijt in ihrem Grund und Wefen unbefannt. Denn ἐδ wird nicht erflärt, warum burdj irgend eine Affection be8 Reproductionsſyſtems beftünbig Kleine Varietäten im den neuentftehenden Organismen hervorgebracht werden. (68 muß benn auch: von den Vertretern des Darwinismus an- erfannt werden, daß gerade bet wichtigjte Erflärungsgrumd, bie Variabilität, eine für unfer wiffenfchaftliches Denken unzugängliche Thatſache ijt. Das Dunkel wird aber nicht aufgehellt durch die Gegenfrage, ob εὖ irgend eine willen: Ihaftliche Theorie gebe, an deren Ende nicht etmas Unerklär⸗ tes, Räthfelhaftes ſtehe. Wir wiſſen wohl, daß die Schwer: frajt', ber Aether des 9Bbpfifer8, das Atom des Chemilers etwas Käthfelhaftes ijf, wenn man und aber ausdrüdlid auf den Sofratifchen Weisheitsfprud) verweist 1): Nur ber (ft meife, ber weiß, daß er nichts weiß, fo ift zwar dagegen nicht8 einzuwenden, aber ebenjo wenig damit gewonnen. Mit der Variabilität fcheint die Vererbung im Wider: Spruch zu ftehen. Denn wäre e8 nicht ein Zufall, wenn ‚gerade eine "ber vielen Variationen jid) [tet8 in gleicher Richtung unb gefteigertem Maße vererbte? Könnte eine andere Variation nicht die erfte wieder aufheben und die Barietät auf die Urform zurüdführen? Schon ber Xhier- züchter muß forgfältig auf Vollblut fehen, der Gärtner. muß andere Mittel zur Pflanzenvermehrung anwenden als die Fortpflanzung, menn er gemifje Eigenthümlichkeiten erhalten oder fteigern will, im ber freien Natur wirkt aber bit

1) Süget 1. c. ©. 41. In einem ganz tadicalen Schriftchen: Religiöſe Streifzüge eines philofophifchen Tourijten b. Marr, Berlin 1876 finden wir denfelben Gebanfen ‚durchgeführt (S: 5); werden aber aud) aufs neue belehrt, weſſen fid bie chriſtliche Weltanſchauung on biejer Seite zu verſehen hat.

Die chriſtliche Weltanſchauung 2c. 411

unbeſchränkte Kreuzung der Vererbung entgegen, die Thiere nähern fid) bald wieder ihrem früheren Zuftand und die Varietäten der Pflanzen im Farbe und Ge[taft verichwinden oft wieder mit bent Individuum D). Eine Sunmirung unendlich vieler Abänderungen ift alſo oft gar nicht möglich. Denn wie hoch man aud) die natürliche Zuchtwahl im Kampf ums Dafein anfchlagen mag, ſchon die Vererbung der eriten Abänderung läßt fid) ſchwer begreifen. Denn im, Kampf ums Dafein entjcheidet die Nützlichkeit für die Beibehaltung, wie fant aber der Anfang der Abänderung nüßlid) fein ? Kann der Anfang eines Auges, der für das Licht noch ganz unzugänglich ift, von Nuten jeu? Oder menm gar das Auge am Embryo gebildet wird und die erjte Veränderung bei der Reproduction eintritt? Oder kann ein faunt merk: liher Anfag zu einem Horn, Schwanz, Federbuſch u. ſ. m. nüglic) fein? Noch weniger Beftätigung findet dieſes Prinzip im Pflanzenveih. Da finden wir [aft lauter ſyſtematiſche Charaktere morphologifcher Art 9. Welchen Nugen fat e8 aber für εἶπε Pflanze, ob fie zerjireute, entgegengefegte ober wirtelig gejtelíte, ob fie gefägte, geferbte oder geficherte, ge: {τὸ oder figende Blätter Dat? Mean findet à. 9. bei Paris quadrifolia, der Einbeere, in der Regel 4 gleich

1) Wagner geograpbijge und Jägers biologifche Migration beweifen zunächit nur, daß in der freien Natur Lei dem Sujamnten: [eben der Individuen eine Abänderung ſich ſchwer [ang erhalten kann. Eine Separation würde ja umgelehrt den Kampf ums Dafein wieder befeitigen.

2) Hierauf bat bejonders Wigand mit Recht hingewieſen, nach: bem Nägeli bereit8 gezeigt hatte, daß die natürliche Zuchtwahl nicht auf morpbologi]de Structurverhältniffe, jondern nur auf die Ans paffung ntorppologijd) gegebener Organe au beſtimmten Verrichtungen binivirfen könne.

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hoch inſerirte Blätter, 8 Staubfäden, 4 Stempel, öfter tritt aber ein 5. Blatt, 2 weitere Staubfäden und ein weiterer Stempel auf, die Azahl geht in die 5zahl über. Aus wel dem Grund !)? Wie erflärt fid) überhaupt ba8 Gefek ber Correlation, mad) dem bei ber Abänderung eines Organes aud) Veränderungen in ganz beftimmten andern Organen hervorgerufen werden? Was (off ber Grund der Vererbung fein, wenn die Nüslichkeit oft nicht erwiefen werden Tann ? Ja es herrfcht in Beziehung auf Vererbung eine foldye Regel: fofigfeit, daß Darwin felbft unter dem Eindruck der von ibm gefammelten Thatſachen nicht oft genug feine Verwun⸗ derung ausdrücen kann, wie capricids das Vererbungsgeſetz fei. Er gefteht jogar zu, von der großen Unwahrſcheinlich⸗ [eit der Erhaltung von Abänderungen, welche nur in einzelnen Andividuen auftreten, mögen fie unbedeutende oder jcharf marfirte fein, überzeugt worden zu fein ?). Aber aud) ab- gefehen davon, daB die Häufung der Variationen durch bit Zuchtwahl nicht erf(irt wird, gibt eine noch fo ſehr geftei- gerte Variation nod) feine Species, gejchweige denn eine Gattung oder Klaffe; eine nodj [o große Summe von Variationen würde nicht hinreichen, ein Moos in ein Farren-

1) 3d) fand außer den font angegebenen 3 und 6 Blättern aud) Exemplare mit 7 Blättern unb immer ijt e8 die „vierblättrige" Einbeere, denn bie Grundzahl läßt fid) nie ganz verdrängen, ber Typus bleibt bei allen Variationen feft.

2) Abftammung des Menfchen I, 132. IT, 109 3. a. a. Ὁ. Die Flora von Württemberg von Martens unb Kemler bat wohl eines der reichhaltigften Varietätenverzeichriffe. (G8 ijt faum irgendwo im Land ein variivendes Pflänzchen aufgetreten, das nicht erwähnt würde. Aber oft muß wieder bemerft werden, bap bie Variation verfchwand, oft wird man vergebens an ber betreffenden Stelle nad) dem auffallenden Exemplar fuchen. So geht e8 namentlid) aud) mit den Leucismen im Pflanzenreich, die ohnehin felten find.

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fraut zu verwandeln. Die Schwierigkeiten häufen fid) je höher die Organifation wird, je mehr e8 fid) um die Aus- bildung neuer Charaktere handelt, 3. 9. um „das Auftreten eines neuen Organifationsverhältniffes mie der Wirbelfünle, die Differenzirung des Pflanzenkörpers nad) Are und Blatt oder die Ausbildung eines indifferenten Organs zu einer eigenthümlichen Form, zu einem Staubfaden oder Flügel, die Umformung eines Qaubblatte8 in einen Staubfaden, eines Beines in einen Flügel, denn hier müſſen bie aufeinander- folgenden Abänderungen zugleich qualitativ verichieden fein“ !). Auch bie gejchlechtliche Zuchtwahl reicht hier nicht aus. “Die . feeundären Gejchlechtscharattere erklären um fo weniger als fie oft abwechfelnd bei beiden Gejchlechtern vorfommen. Selbft im Pflanzenreich gibt e8 folche bei einigen Orchideen, bei der ungleichen Blütenbildung beider Gefchlechter bei den Gupulifere und Betulaceen, wo bod) von einer gejchlechtlis hen Zuchtwahl feine Rede [εἶπ fann. Aud für alle niede- ven Thiere ift biefelbe ohne Bedeutung. Nun ijt aber bie gefchlechtliche Fortpflanzung trog aller Abjtufungen für das gejammte organifche Neich eine wefentlich jo gleichartige pbyjio- logiſche Thatſache, daß nirgends ein anderes Prinzip zur Erklärung gewählt werden fanmn. Man bewegt fich hier, wenn man mur äußere Urfachen gelten läßt unb Fein höheres Prinzip fennt, vielfach im Kreiſe. Das Wort Xeleologie ift aus dem Wörterbuch der Naturwiſſenſchaft geftrichen, aber das Wort Anpaffung erklärt oft ebenfowenig als jenes und beweist nur, daß ein unerflärter 9teft. überall zurüd- bleibt. Man findet eine Anpaffung der Organismen bei niederer und hoher Organifation, eine gegenjcitige Abhängig»

1) Rigand 1. c. ©. 89. Theol. Duartalfprift. 1876. Heft III. 97

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keit gewiſſer Organe, welche nicht durch gegenſeitige Anpaſſung entſtanden ſein kann. Trotz aller äußerer Einflüſſe ſind niedere und hoch entwickelte Thiere überall nebeneinander und aufeinander angewieſen. Alle find ihren Verhältniſſen an- gepaßt. „Zwar ift der Vogel höher differentiirt als ber Negenwurm, erfüllt er aber deßhalb feine Lebensaufgabe beſſer, ijt er feinen Lebensbedingungen befjer angepaßt als ber Regenwurm ben feinigen? Jeder Organismus, gleif- | viel ob einfach oder hoch organifirt, ift in Beziehung auf Anpaſſung an feine Lebensbeftimmung gleich) vollfommen“ ?). Wenn die Blume ihren Nectar in einer gefpornten Krone birgt und die Biene einen Saugrüſſel befigt, mit bem fie den Nectar erreichen und zugleich dabei ba8 Befruchtungs- gefchäft beforgen Tann, fo ift e$ gerade fo begreiflich zu jagen, die Krone jet für dieſes Inſect beftimmt, als zu erflären, die Krone [εἰ fo gewachfen, weil fie von bem Inſect befucht wurde und fie (ei von ‚dem Inſect bejucht worden, weil fie jo gemadjjen [εἰ ἢ). Die Abhängigkeit ijt

1) Bigandl. c. ©. 198.

2) ,&8 gibt Anpaffungscharaktere, unb zwar ſcheinen biefe bie Mehrzahl zu bilden, toeldje, um ftd) im Kampf ums Dafein περ bemeijen zu können, bereit? einen gemwiflen Grab von Ausbildung voraußfegen. So lange der Saugrüffel der Biene nicht bie voll fommene Länge Bat, um bi8 zum Nectarium der Blume zu reichen, fo lange die Ranke ber Schlingpflanze nicht die Fähigkeit des Win- benà und zugleich bie genügenbe Länge befigt, um eine Stüße fejt zu umfchlingen, jo lange hilft bieje8 Drgan dem Individuum eben gar nichts, das Inſect wird gar nicht zur Concurrenz mit denjenigen Individuen, deren Rüffel nod) unbollfommener ijt, gelangen, ſondern einfad) verhungern, bie Schlingpflanzge mit relativ vollkommener Ranfenbildung bat davon, wenn bie Ranfe nicht einen beftimmtien Ausbildungsgrad befitt , jdjledjterbing8 einen Vortheil“. Wigand, ©. 131.

Die djviftlid)e Weltanſchauung ac. 415

gegenfeitig, die Zuchtwahl fommt aber über eine einfeitige nicht Hinaus. Ya nicht mur einzelne Individuen find fo aufeinander angewiefen, im ganzen Neid) ijt berje[be Gedanke ausgefprochen. Das Pflanzenreich ift durc ba8 Borhandene fein unorganifcher Verbindungen bedingt, ift feinerfeits aber wieder bic nothwendige Vorausfegung des Thierreichs, für welches e8 bie unzugänglichen anorganischen Stoffe organifi» tem muß. Das Thier braucht zum Athmen eine entjpre- chende Menge Sauerjtoff, die Pflanze Kohlenfäure; nun athmet aber das Thier Kohlenfäure, die Pflanze Sauerftoff aus, fo daß zwifchen beiden Reichen ein continuirlicher Kreis⸗ lauf ftattfindet, den äußere Urjadjen allein nicht erklären. Eine jo alles umfafjende Regelmäßigkeit kann nicht .ein Wert des Zufalls, fondern nur ber Ausdrud eines allge: meinen, bie ganze Natur beherrichenden Schöpfungsplanes, ber Ausflug einer prüerijtirenben Intelligenz fein. Alle Formen , Farben und Melodien in der Natur find mehr begreifíid) unb mit bem Gaufalprinzip in befjerem Ein- Hang, wenn fie auf eine Intelligenz zurückgeführt werden. Die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels erjcheinen nicht bloß als das Product materieller Kräfte, jonbern ale das Abbild einer höheren Syutelligenz, das Unfichtbare am Gott kann aus der Schöpfung durch feine Werke gefchaut, Gott in der Weisheit feiner Schöpfung erfannt werden. Für bieje Ausfprüche des Völkerapoſtels Tajjen aud) Heute nod) die Nejultate der eracten. Wiffenfchaften Raum, denn je weiter wir im ber organijdjen Welt Hinauffteigen, um jo unficherer werden die Erklärungen.

Zwar fteht ber Menſch feiner leiblichen Organifation nad im manchen Punkten der Thierwelt nahe, aber er untere jcheidet fid) doch wieder in jo durchgreifender Weiſe felbit

27*

416 ' . 6datt,

von den höchſt organifirten Xhieren, den ſ. g. anthropoiden Affen, daß die Haffende Kluft mod) lange nicht überbrüdt ift, wenn man anders nur den ausgebildeten Menjchen mit dem vermeintlichen Vorbilde vergleiht. Er ijt nicht etwa einer Thierart beſonders ähnlich, ſondern in einem Punkt bat er mehr Aehnlichkeit mit dem Orang⸗Utang, in einem andern mit dem Chimpanfe und in einem dritten mit dem Gorilla 1). Ja ſelbſt der Mikrofephale zeigt in feiner Ge: hirnbildung nod) überall die Structur des menfchlichen Gehirns 2), fo daß aud) hier ber behauptete Atavismus be- jeitigt wurde und man fid) überhaupt genöthigt fand, den menſchlichen Stammbaum weiter binaufzurüden und in der älteften Zeit vom gemeinjamen Stamme abzweigen zu laffen. Es wäre ja auch fonderbar, wie ber Urmenfch fid) jelbft über feine Sphäre hinausgehoben und fid) in vielen Beziehun⸗ gen ber beften Hilfsmittel im Kampf ums Dafein beraubt haben jolíte. ‘Der’ junge Erdenbürger ift Hilflofer als das Thier, der aufrechte Gang wäre dem hisherigen Kletterer feine nügliche Errungenschaft für Ernährung und Vertheidi- gung, der Mangel eines Haarfleides hätte ifm erjt redt dem Einfluß von Wind und Wetter preisgegeben. Daher fommt ἐδ, bap jelbjt ganz entjchiedene Transmutiſten dieſes

1) Eine belehrende und erjchöpfende Darftellung dieſes Gegen: ftandes findet man bei Rauch, Die Einheit be8 Menfchengefchlechtes, Augsburg 1873, dem auch ba8 auf entgegengejeßtem Gtanbpuntt ftehende Ausland feine Anerkennung nicht verjagen fonnte.

2) Auf ber Anthropologenverfammlung in Stuttgart im Jahr 1872 bat v. Luſchka ben von Vogt behaupteten Atavismus glänzend foiberlegt und gezeigt, „daß man e8 bier nicht mit einem Rückfall in den Affentypus zu thun habe, fondern nur mit einer auf der unterften Stufe ftehen gebliebenen menschlichen Gehirnformation“. Cfr. Ausland 1872. N. 42. ©. 995 f.

Die chriſtliche Weltanfchauung 2c. 417

Gebiet af8 ein dunkles bezeichnen müjjen. Sie machen das Gejtánbmig, daB was von ber Abftammung des Menschen, von ber Nactheit desjelben, vom menjchlichen Bart, von ber menjchlichen Hautfarbe u. a. vom Standpunft der Selec« tionstheorie aus gejagt wurde, am wenigften befriebige, entfdjieben unzureichend fei. Und doch ijt dies erft bie eine Seite ber Betrachtung. Das Käthfel des menschlichen Dafeins wird mod) viel geheimnißvoller, wenn wir die geiftige Seite de8 Menfchen in das Auge fallen.

Sm Geiftesleben fehlt uns geradezu der Mafftab zur Beurtheilung. Die Naturgefege geftatten uns Feinerlei Ans wendung auf bie phyſiſchen Vorgänge, jelbft das Gefet von der Erhaltung der Kraft, welches, ſoweit unfre Erfahrung reicht, alle Naturkräfte beherrfcht, gibt uns feinen Auffchluß über das Weſen des Bewußtſeins. Quantitative Unter- Ihiede Tonnen durch nodj fo große Steigerung nicht in qualitative verwandelt werben, mie ſolche im Bewußtſein auftreten. Die geiftigen Erfcheinungen finden in chemifchen Kräften ebenfo wenig ihre Erklärung als fie fid) in Wärme oder efectrijdje Bewegung umwandeln lajjen. Für fie reicht ‚der Maßſtab des Phyfifers ebenjomenig aus als bie Wage de8 Chemikers, wir können fie weder mefjen noch wägen, es fehlt uns durchaus an ber nöthigen Einheit, um bae, was im Gefühl, Verftand und Willen vor fid) geht, in Zahlen ausdrüden zu können. Wir ftehen hier vor ber oberen Grenze des 9iaturerfennen8; wie Bewußtes aus 3Be- wußtlofem hervorgeht ijt für uns nicht nur ein Geheimniß, jondern wird auch ftet8 ein folches bleiben. Wir finden im Gehirn nur die Bewegung materieller Theilchen, überall kann aber Bewegung nur Bewegung erzeugen, die mechanifche , Urfache geht in ber Wirkung auf. Bei der geiftigen Thätig-

418 | Schanz,

keit iſt dies nicht der Fall. Das fonft allgemein giltige Cauſalgeſetz findet hier keine Anwendung. Schon lange hat man auf dieſen großen Unterſchied hingewieſen, hat man die Unmöglichkeit hervorgehoben, Geiſtiges als Product materiel⸗ ler Kräfte zu erklären, aber erſt in neuerer Zeit hat man dieſem Einwand mehr Gewicht beilegen müſſen, ſeitdem ſelbſt berühmte Phyſiologen ihn geradezu für unwiderleglich θὲς zeichneten unb die Frage ftellten: „Welche denfbare Ber- bindung befteht zwifchen beftimmten Bewegungen beftimmter Atome in meinem Gehirn einerfeits, anberjeit8 den für mid) urfprünglichen, nicht weiter befinirbaren Thatfachen: Ich fühle Schmerz, fühle Luft; ich fchmede Süßes, rieche Rofen- Saft, Höre Orgelton, jefe Roth und ber ebenjo unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: Alfo bim ih? Es ift aber durchaus und für immer unbegreiffid), daß e$ einer Anzahl von Kohlenſtoff⸗, Wafjerftoff-, &€tid[toffs, Sauerjtoff-Atomen nicht follte gleichgiltig fein, mie fie liegen und fid) bewegen, wie fie lagen unb fid) bewegten, wie fie liegen und fid) bewegen werden... &8 ijt in feiner Weife einzufehen, wie aus ihrem Sufammenmirfen Bewußtſein entftehen könne“ ἢ). Und bod) Bat ber Menſch Bewußtſein, erhebt er fich zum Selbftbewußtfein, doc Dat ber Menſch die Sprache zum Ausdruc der Gedanken, ijt er der fittlichen Vervollkommnung, des Fortſchrittes fähig. Die religiöfen und fittlichen Gefühle und Anschauungen mögen oft recht rob und ungebildet fein,

—“

1) Dubois-Reymond 1l. c. €. 29. Huber, Der alte und ber neue Glaube ©. 60. (Gingebenb bat Dr. Scheidemacher bie Frage in den legten Jahrgängen von Natur und Offenbarung be handelt. Auch in ber Gäa (1876 $. 6 €. 362 ff.) ift eine Abhand⸗ lung über ba8 Vernünftige und Bewußte in der Natur, bie mich abet weniger befriedigte.

Die chriftliche Weltanfchauung ac. 419

fie mögen fid) in vielen Punkten widerfprechen, fie bilden bod) einen Grundzug des menfchlichen Gefchlechts, welcher dasjelbe weit über das Zbierreid) erhebt. Die chriftliche Weltanfchauung Hat darum zwei verfchiedene Factoren im Menichen angenommen, einen geiftigen und einen Teiblichen, einen unvergänglichen und einen vergänglihen. Es Dat ber Monismus von jeher bei ber Wiffenfchaft mehr Anklang gefunden, aber in diefem geheimnißvollen Gebiet fann dem theiftiichen Dualismus die Berechtigung wenigftens nicht ab⸗ gefprochen werden. Das Menfchenwefen mag fid) anders aufgefaßt einfacher geftalten, erflärbar wird ἐδ dadurch nicht. Manche Süden im Syftem mögen im Laufe der Zeit aus- gefüllt werden, hier wird immer eine unberriüdbare Grenze bleiben.

Es zeigt (id) aljo, daß fid) in ber Weltanfchauung der modernen Naturwifienfchaften nod) manche Lücke findet, welche der chriftlichen Weltanfchauung Raum genug gewährt zu ihrer Entfaltung. Während man bisher die philofophijche Speculation von den eracten Wiffenfchaften möglichit fern zu halten ſuchte, verlangt man heutzutage nach ihr ?), findet man häufig in exact fein follenden Entwidlungen fub- jective Ergießungen. Die neue Weltanſchauung, welche der alten ihre Berechtigung ftreitig macht, führt fid) geradezu al8 neuen Glauben ein. Man muß felbft gejtehen, daß diefe Theorie nod) höchſt unvollkommen ijt und vieles uner- klärt läßt und zwar nicht bloß Nebenfachen, fondern rechte Haupt» und Garbinalpunfte ?). Das Näthiel des Daſeins

1) Jäger gibt ohne weiteres zu, daß ben rein jpeculativen Charakter ber Descendenzlehre Fein Transmutiſt leugne. In Gadjen Darwin's €. 168.

2) Strauß 1. c. €. 176.

420 Schanz,

iſt ſomit nicht beſeitigt, ſondern fordert nur um ſo mehr zu andern Verſuchen der Löſung auf. Die ganze Entwicklung der Naturwiſſenſchaften hat nicht nur dem Studium der Natur einen neuen Aufſchwung gegeben, ſondern aud) för⸗ dernd und anregend auf andere Gebiete gewirkt und auch der Theologe wird immer gut thun, von den geficherten Refultaten derfelben zu profitiren. Unfre Anfichten liber Gott und die Natur werden baburd) immer mehr geläutert und von jeder ſinnlichen Beimifchung befreit. Wie jede Wiſſenſchaft dem Exegeten neue Hilfsmittel zu bejferer Er- Härung ber hl. Schrift bietet, fo darf er auch der Natur- wilfenfchaft dafür dankbar fein. Es wird fid) zeigen, bof manches wohl zu engherzig aufgefaßt wurde, aber ber Grund des Gebäudes unb feine fe[ftem Pfeiler werden unerfchüttert bleiben. Die Menfchen mögen fid) befümpfen, wenn nur die Wahrheit gewinnt:, zu welcher der Weg eben oft durd Irrthümer führt. Wird ordnen unfer Leben aber nicht nad) ber mit dem Tage wechfelnden Meinung 3), fondern nad

1) Bei einer SBejpredjung der 3. Auflage des Buches: „Gott und die Natur“ von Ulriei macht ein Recenjent die Bemerkung, daß bie Irrthümer einzelner Naturforicher im ganzen gleichgiltig jeien, wenn nur bie fejtbeharrenden Zielpunkte des wiſſenſchaftlichen Gite bens zum Bemußtfein und zur Anerkennung kommen. „Aber frei’ lich tjt e8 deswegen nicht überpüifig, auch mit den Meinungen des Tages fid) auseinanderzufegen und fie, mo εὖ fein muß, in ihre Schranken zurüdzumeiien, und wir verfennen nicht, daß dies gerade naturwiſſenſchaftlichen Strömungen gegenüber eine gewifje Bedeutung erlangen fann. Die Frage wird zu einer brennenden, wenn von einzelnen Thatſachen ober Theorien aus ganze Weltanfchauungen aufgebaut werden, welche an Kühnheit mit den Conftructionen der phantafiereichiten Naturphilofophen mwetteifern, dabei aber doch bie unbedingte Gemwißheit und Unfehlbarkeit, bie nur ber ftreng eraclen Forihung zufommt, für fid) in Unjpruch nehmen”. Senaer Ziterat.- Zeitung 1876 Nr. 22 ©. 345. Dies war auch meine, Abficht beim

Die hriftliche Weltanfchauung i. 421

der durch Jahrhunderte bewährten Regel des Chriftenthums. Und man darf απῷ jet noch behaupten, daß unſer Daſein, auch in ben mobernften Formen, die Frucht einer hiftorifchen Cntmidfung ift, in welcher das Wert Jeſu die überwiegende Rolle fpielt und fo oft e8 auch aus dem reis der Geſell⸗ [daft verdrängt werden wollte, immer wieder mit neuer Kraft auf Denken und Handeln wirkte.

Antritt des alademifchen Lehramtes. Ich bin durchaus dagegen, bap man, wie e8 oft gefchiebt, ohne näbere Begründung unb mohl auch richtige Kenntniß den Naturforichern entgegentritt und über ihre Refultate ohne weiteres abfpricht und gebe Hartmann zum Theil Recht, wenn er den Aufſchwung be8 Darwinismus aud) dem Eifer zuſchreibt, mit welchem die Theologie aller Gonfeiftonen im Bunde mit der Philofophie benjelben zu befämpfen fid) beeilte (l. c. €. 1), aber dadurch wird ber Theologe nur um fo mehr fid) veranlapt fühlen, auf den Gebanfengang der Naturforjcher felb[t einzugehen, ba8 Wahre und Sichere zu acceptiren, das Zweifelhafte unb Falſche auszufcheiden. Freilich wäre aud) anbererjeit8 größere Schonung anderer Anfichten oft am Platz.

N

9.

Uriprung und Berfafler des Briefes des Clemens vou Kom an Die SKorinther.

Bon Dr. theol. Andreas Brill,

III. Die Perfon be8 Gfemen$. Um diefelbe Zeit ungefähr, in welche wir nad) der älteften Firchlichen Tra— dition mie nach dem Clemensbriefe ſelbſt deſſen Abfafjung anzufegen haben, begegnet uns in Rom der Gonfular Titus . Flavius Clemens, welcher wegen. Hinneigung zum Chriftens thum nad) dem Epitomator des Caſſius Dio’ (hist. Rom. 67, 14) nod; während feines Confulates, mad) ber ge naueren Angabe Suetons (Domit. 15.) gfeidj nad) Be- endigung desfelben im Januar 96, von feinem Vetter Do- mitian durch Hinrichtung aus dem Wege gejchafft wurde. Es legt fid) daher die Frage mad) bem Verhältniß dieſes Clemens zu dem als BVerfaffer des Briefes an die Ko- rintbier genannten nahe. War vielleicht diefer Confular der Verfaffer des DBriefes, wie dies früher Lipſius!) vermuthete und heute nod) Nitzſch anzunehmen geneigt ift? Wir fehen davon ab, daß der Brief an bie Korin⸗ thier wahrjcheinlich ert mad) bem Zode des T. Flavius

1) De Clem. Rom. ep. p. 184 sq. a. a. Ὁ. ©. 98.

Urſprung und Verfaſſer bes Briefe be8 Clemens 2c. o. Brüll. 493

Clemens verfaßt ijt; aud) davon, daß ber Brief eine jo erhabene und tiefe Anfchauung vom Chriftenthum und πᾶς mentlich von feinem Zufammenhang mit bem A. T. ver- räth, daß wir in dem Verfaffer mur einen hervorragenden apoftolifchen Mann erkennen fünnen; aber darauf legen wir enijdjieben Gewicht gegen die befagte Vermuthung, daß der Brief ein officielfe8 Schreiben der römischen Kirche ift und daß man, um überhaupt hier vom eigentlichen Epis- fopat abzufehen, keineswegs fatfolijd)e Anſchaunngen von einem urkirchlichen Presbyter zur haben braucht, um e$ un: annehmbar zu finden, daß ber Conful b. %. 95 ungefähr um diejelbe Zeit Presbyter, und zwar der erfte Presbyter der römischen Kirche gemefen [εἰ und a(8 folcher den Brief an die Korinthier gefchrieben habe. Wollte man bem T. Flavius Clemens aud) einen noch fo hervorragenden Einfluß auf die kirchlichen Verhältniffe feiner Zeit ein- räumen, fo fünnte man ihm bodj, wie Hilgenfeld') anbeutet, immerhin nur eine entferntere Betheiligung an ber Abfendung des Briefes zutrauen. Und aud) Volkmar (a. a. $9. ©. 321) erfennt nur die Möglichkeit an, daß der Gonfufar ein Presbhter honoris causa germejen [ei; ein Inſtitut, beffen Nachweis wir Volkmar überlaffen. Bollmar (a. a. Ὁ. &. 301 ff.) und mit ihm neueftens auf Hilgenfeld ?) fuchen eine viel weitgreifendere Hypo⸗

1) Prolegg. p. XXXI: T. Flavio Clementi in hac epistula nihil relinquo, nisi quod eam Corinthiis mittere potuit. cf. p. XXX: ipsius imperatoris patruelem, quamvis nondum con- sulem , ita locutum esse de illis »qui nobis imperant«, quasi ipse imperii plane expers esset, valde dubito; ecclesiastici im- perii scriptor non erat expers.

2) Prolegg. p. XXVIII sq. vgl. Seitjdrift für wiſſenſchaft⸗

424 Brüull,

theſe über den als Verfaſſer des Briefes genannten Cle⸗ mens zu dem Conſular zu vertheidigen, daß nämlich die ſpätere Tradition den gleichzeitigen Conſular an die Stelle des unbekannten Verfaſſers des Briefes geſetzt und ihn zum damaligen Biſchof von Rom gemacht habe. Kühn iſt dieſe Hypotheſe jedenfalls, auffallend ift fie uns nicht pon Seiten ber Gegner. Wo jo innere und äußere Gründe fid) ver- einigen, um die Echtheit einer Schrift zu bemeifen, wie bie8 beim Glemensbrief ber Fall ijt, da fann bie Dart: nüdige Beftreitung nur mit ber polfítünbigen Negation ber geichichtlichen Verhältuiffe enbigen. Wir haben dies früher binfichtlih ber eigenen Ausfage des Briefes, daß er ein Schreiben der Kirche von Rom als folcher fei, gefehen; dasjelbe mag hier bezüglich ber Perfon des Clemens com ftatirt werden. Noch weniger auffallend ift der Weg, auf welchem fid) bie Gegner des römischen Clemens entledigen wollen. Auf Grund der pfendoclementinifhen Literatur aber wird aus dem Confular Clemens, bejjen Bild ber Clemens der Homilien und NRekognitionen noch deutlid wiedererfennen läßt, fchließlih in dem einleitenden Briefe des Clemens an Jakobus der römische Biſchof Clemens. Zwar ijt bie Hypotheſe dadurch gerichtet, wenn nur im ber pfendoclementinifchen Literatur Clemens diefen doppeljinnigen Charakter trägt; daher die Bemühungen der Gegner aud) in der älteften firdjfid)en Zradition Spuren jener Ber: wechslung nachzumeifen. ($8 wird wenig nüfemn, menm mir bie Gegner darauf hinweiſen, daß Dionyfius von Korinth, Hegefipp unb Irenäus, welche offenbar den Brief einem

liche Theologie 1869 ©. 229 " in welcher Abhandlung Hilgen- feld gegen die gründliche Erörterung der bier zu befprechenden Trage burdj Sabn a. a. D. ©. 44 ff. fid) zu vertbeibigen fudit.

Urſprung und Berfafier des Briefe des Gíemen8 2. 495

früheren römifchen Bischof Clemens zufchreiben, dem Ur- jprunge desselben zu nahe ftanden, um in ber vorgeblichen Weiſe getünjd)t worden zu fein, bejonber8 wenn bedenkt, daß ihre Zeugniffe auf der Tradition der beiden Kirchen beruhen, in welchen gewiß damals nod) ba$ Andenken an den Verfaſſer des berühmten Briefes treu bewahrt wurde. Für und bleibt diefe Erwägung maßgebend, und wir fajfen und am wenigften darin durch die Ginrebe irre machen, daß Hegefipp auch fonft vieles Fabelhafte berichte. Seine hier in Betracht kommenden Angaben tragen nichts Fabel- haftes an fid), verrathen aud) nicht bie mindefte Tendenz, einem römifchen Bifchof Clemens den Brief zu vindiciren. Für bie Gegner aber fünnen wir mit ihren eigenen Waffen den pofitiven Beweis liefern, daß bie Firchliche Tradition bis auf Eufebius nicht bie geringfte Spur der angeblichen Täuſchung verräth, vielmehr diefelbe unmöglich erfcheinen läßt.

Hilgenfeld (α. a.O. ©. 234) jchreibt: „Bei res näu8 adv. haer. III, 3. 3. Tann mau noch nachrechnen, daß Clemens entweder in dem Jahre, ba Flavins Clemens Conſul ward (95), ober bod) in bem Jahre feiner Hin- richtung (96) Biſchof von Rom geworben fein fol." Wir haben aber jefbjt darauf Dingemiejen, daß Irenäus' Bericht und bezüglich des Episfopates des Clemens und ber Ab- faffung feines Briefes ungefähr in diefe Zeit führt. Dasjelbe gilt nad) Eufebins von Hegefipp. Die genaue Ausrechnung bringt jedoh Hilgenfeld?) nur babutd) zu Stande, daß er. die zudem ganz abweichenden Angaben des liberianifchen Katalog in den Bericht be8 JIrenäus hinein- lebt. Aber ift e8 denn, fragen mir zunächſt, eine Un:

1) Val. Prolegg. p. XXVIII.

426 Brüll,

möglichkeit, daß neben dem Conſular Clemens damals mod ein Vorſteher der römiſchen Kirche mit demſelben Namen in Rom gelebt Bat? Daß dies nicht nur möglich, ſondern mirf(id) mar, beweist ber Bericht des Irenäus evident. Der wirkliche oder vermeintliche Martertod des Flavius Clemens hätte auf alle Fälle den er[ter Anftoß dazu bilden müffen, ı denfelben zum damaligen römiſchen Biſchof fpäter zu creiren. Hätte nun defjen Bild irgendwie dem Irenäus bei feinem Bifchof Clemens vorgefchwebt, fo hätte er aud diefen nothwendig für einen Märtyrer angefehen, während er in feinem Berichte erft dem Namen bes Xelesphorus die Bemerkung beifügt: ὃς καὶ ἐνδόξως ἐμαρτύρησεν. Daß hier vom eigentlichen Martyrium Rede ijt, Tann jchon deshalb nicht bezweifelt werden, weil Irenäus bieje Be— merfung vereinzelt zu dem Namen des Zelesphorus Hinzu fegt. ALS einen großen Bekenner des alten Glaubens hat er, wie Hegefipp, aud den Clemens auf Grund feiner „tüchtigen Schrift“ gewiß angefehen. Kichtete aber re näus fein bejonderes Augenmerk auf den eigentlichen Mar- tertob, fo konnte ihm dies am wenigften bei Flavius Eile mens entgehen, welcher auf jeden Fall fo etwas wie ein chriftlicher Märtyrer bleibt. Er kann daher weder bewußt noch unbewußt bei feinem Biſchof Clemens am den Gor jufar gedacht haben. Das gilt aud) für Diejenigen, meld geneigt find, den Letzteren wirklich für bem Verfaſſer des Briefes zu halten. |

Doch deutlichere Spuren der zu bejprechenden Fiktion hat man bei Eufebius entbeden wollen. Er berichtet (h. 1. III, 18), daß aud) frühere heidnifche Schriftiteller ben glor- reihen Kampf der EChriften unter Domitian erwähnt hätten, und hebt nachdrücklich hervor, daß bieje die Zeit der 3er

4

Urſprung unb Verfafler des Briefe be8 Clemens 2c. 497

folgung genau angüben durch die Nachricht, daß im 15. Jahre Domitian’s zugleich) mit fehr vielen Anderen sabia Domitilla, : eine Schweftertochter des Flavius Clemens, eines der damaligen vömijchen Gonjuln, um ihres chriſt⸗ lichen Belenntniffes willen nad) der Synjel Pontia verbannt worden fei. Zwei Umftände hat man in diefem Bericht verdächtig finden wollen. Zunächſt, daß Eufebius die Do- mitilla eine Schweftertochter des Flavius Clemens nennt, während nach dem erwähnten Bericht des Dio Domitilla, die Gattin des Conſulars, nach der unweit Pontia gelegenen Inſel Pandataria verbannt wurde; ſodann daß Euſebius nichts von dem Martyrium des Flavius Clemens ſagt, ihn vielmehr nur einen der Conſuln jenes Jahres ſein läßt. Den erſteren Umſtand hat Volkmar (a. a. O. S. 304) in folgender Weiſe für ſich zu verwerthen geſucht: „die beiden Eigenſchaften des einen Clemens, einerſeits Conſul und beweibt, anderſeits Chriſt und Presbyter oder Biſchof von Rom zu vereinigen, war die fixe Biſchofsidee der Folgezeit gar nicht im Stande; ſie mußte aus den beiden Eigenſchaften des Einen Clemens zwei Clemens machen.“ Aber warum hat die Biſchofsidee der Folgezeit, welche feinen Sinn mehr für den beweibten Biſchof fatte 1), die Domitilfa dem Tlavius Elemens, den bod) Eufebius menigs [πὸ nod) nennt, nicht zurücigegeben ? Warum murde fie zur Schweftertochter des Flavins Clemens, nicht wieder zu

1) Biel Sinn feinen. ſchon zur Zeit ber Abfaffung des Briefes an die Korinthier bieje nicht mehr für beweibte kirchliche Vorſteher gehabt zu Haben, da u. U. bie Empörer gegen die rechtmäßigen Vorſteher auf größere fittliche Reinheit (c. 38. 48), fpeciell auf Sungfräulichkeit, gepocht zu haben fcheinen (vgl. Ign. ad Po- yc. 5.)

428 Brül,

feiner Gattin, oder viel einfacher und effefoolíer zur Schweiter be8 Biſchofs gemacht? Meberhaupt bleibt e8 anf jedem Standpunkte unbegreiflih), marum man mit dem Chriften- tbum dem Flavius Clemens auch fein Weib genommen habe. Eher ließe e8 fid) noch hören, daß der Konfular [εἶπε Chriftlichleit und befonders fein Martyrium zu Gunften des angeblichen Bischofs abgetreten habe, wenn nicht gerade das Martyrium des Clemens auch bei Eufe bins mod) vollftändig fehlte. Er berichtet deffen Tod mit ben Worten: ovalves τὸν βίον (h. e. IIT, 34), melde die Kenntniß [εἰπε Martertodes geradezu ausſchließen.

^ Hilgenfeld (a. a. DO. ©. 236) meint, e8 fünne nicht auffallen, wenn an diejer „nebelhaften Geſtalt“ das Dtar- tyrium nod) fehlte. Der Biſchof Clemens ijt aber weder bei Euſebius nod) aud) bei Irenäus eine „nebelhafte Ge: ftalt“ , und verräth auch nicht dunkel irgend eine Nehnlic- feit mit bent Confular; daher die bezeichnete Thatſache mehr wie auffallend bleibt. . Etwas ganz Anderes ift c8, wenn in der pjeubocfementinijd)en Literatur er[t in den jpätejten Schichten von dem Martertode des Clemens Rede ift; er mußte bier erft feine Rolle ausgejpielt Haben, che fein Martyrium berichtet werden konnte. Oder follten etwa Hegefipp uud Yrenäus ihren Clemens früheren Schichten der pfeudoclementifchen Literatur verdanten? Es würden fid gegen eine jolde Annahme die genannten Bedenken ebenfalls erheben, weil ihr Clemens nichts von bem Gore fular an [ὦ trägt. Die genannten Schwierigkeiten wären in dem Bericht be8 Eufebins nie entbedt worden, wenn man denfelben nur genau hätte anjehen wollen. Euſebius berichtet ja nach heidnifchen Schriftitellern, von welchen er für bie hier im Betracht kommende Notiz in der Chronif

lirjprung und Verfaffer des Briefe des Clemens ᾿ς. 499

den Chronographen Bruttius nennt ἢ). Warum follten diefe dem Flavins Clemens [εἰπε Chriftlichkeit, fein Martyrium, gar fein Weib genommen haben? Sie konnten allerdings feine Chriftlichfeit überfehen, nur darf man bier nicht mit Hilgenfeld (a. a. Ὁ. ©. 236) diefe Auskunft verfuchen, wo Euſebius (id) auf jolche Heidnifche Schriftfteller beruft, melde den chriftlichen Verhältniffen zur Zeit ‘Domitiane ihre 3tufmerfjamfeit zumandten. Wenn Eufebius ober piel» mehr Bruttius den Flavius Clemens nur einen Gon[uf jenes Jahres nennt, fo kann das nur [o lange auffallend erſcheinen, a(8 man völlig außer Acht läßt, bag e8 dem Eujebius Hier ſpeciel um ba8 15. Jahr Domitians zu thun ijt, ba er dadurch einen feiten Zeitpunkt für bie do- mitiatijdje Verfolgung überhaupt findet. Er hebt ja vor der von Bruttius entlehnten Notiz nachdrücklich hervor, daß die heidniſchen Schriftfteller aud) genau (Era? ἀκριβές) den Zeitpunkt ber Verfolgung bezeichnet hätten. Weder Brut- tht nod) Gujebiu& Tonnten hier be8 Todes des Flavius Clemens gedenken, da von bem Jahre Rede ift, mo er noch Eonful mar. Er wird fpeciell a(8 Conful des Jahres 95 genannt, weil er ein fo naher Verwandter der verbannten Domitilla war. So fchließt der Bericht des Eufebius gar nicht aus, bag Flavius Clemens ein berühmter chriftlicher Märtyrer war, zu den DVornehmen gehört habe, welche nad) Eufebius (ἃ. 1. III, 17) vor allem Opfer ber 3er»

1) Bol. Lipfius, Chronologie der römiſchen Bifchöfe S. 154: „Wenn ber armenifche Text (ber Chronik) einen Zweifel ließe, daß auch bieje Nachricht aus Bruttiug ftamme, jo. müßte ihn ba8 flare Zeugniß der Kirchengefchichte zerftreuen, bap Eufebiuß eben bieje Notiz aus heidniſchen Schriftftellern, b. i. eben au8 Bruttiuß, ge: nommen habe”.

Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IIT. 28

430 Brüll,

folgungswuth Domitians wurden. Die Frage nach dem Martertode des Flavius Clemens, ſowie die andere, wie ber Bericht des Dio über Domitilla mit dem des Brut— tius in Einklang gebracht werden kann, ſind demnach von der beſprochenen Hypotheſe ganz unabhängige Fragen, welche auf Grund anderweitiger Ouellen entſchieden werden müſſen !). Wir wollen nur kurz darauf eingehen.

Volkmar und Hilgenfeld haben ſich vergebens auf den

Bericht des Dio über Flavins Clemens und Domitilla

gegenüber Euſebius geſteift. Fragen wir jetzt objektiv, ob dieſer Bericht eine beſondere Auktorität beanſpruchen kann. Zunächſt haben wir es nur mit dem Epitomator Niphilin an der genannten Stelle (hist. Rom. 67, 14) zu thun. Auch berichtet Niphilin gerade hier jehr epitomarifch, wenn er den Acilius Glabrio Hingerichtet werden läßt, ba er jo- wohl wegen derfelben Verbrechen, wie Flavius Clemens und feine Gattin Domitilla, alfo wegen Gottlofigfeit und Hinneigung zu jüdiſchen Sitten, befchuldigt wurde, als qud daß er mit wilden Thieren gefämpft Babe. Bon dem Ehriftenthum des Acilius Glabrio berichtet Sueton (vgl. Domit. 10) wenigftens nichts. Dagegen kann wohl nid in Abrede geftellt werden, daß aud) Sueton die Hinneigung be8 Flavias Clemens zum Chriſtenthum fennt, wenn er

1) Ganz unridjig macht daher Lipfiug (Chronologie der Römiſchen Bilhöfe ©. 160 f.) bie Exiftenz des Römiſchen Biſchofs Clemens im Unterjchied von Flavius Glemen8 davon abhängig, ob diefer ein Gbrijt getvejen fel oder nicht. Se mehr man bie Gbrift lichkeit und damit das Martyrium des Flavius Glemen8 betont, um jo nothwendiger muß man unter der Vorausfegung der Iden⸗ tität ber beiden Glemen8 fordern, daß ber römische Biſchof Gle men? ſchon in der älteften kirchlichen Tradition als Märtyrer ge: feiert werbe.

Urſprung und Verfaſſer des Briefed des Glemen8 20. 431

diefen einen Dann von ber verächtlichiten Trägheit nennt (Domit. 15 vgl. Tert. Apolog. 42 ff.) Schwierig ift die Frage, ob diefe contemtissima inertia des Flavius Clemens in Verbindung mit der Hinrichtung desjelben ge- bradht werden kann, welche Sueton in demjelben Zujam- menhbang repente ex tenuissima suspicione erfolgen läßt. Auf ben erjten Blick fcheint ἐδ, daB Sueton beu Verdaht Domitians eben wegen ber fo verächtlichen Träg- heit des Clemens als einen ganz geringen bezeichnen wolle, daR alfo Flavius Clemens politifchem Verdacht zum Opfer fiel. Demnach hätte er den religiöfen Erfcheinungen feiner Zeit große Aufmerkſamkeit gefchentt, müre jedoch nur ein Ideinbarer Märtyrer, wofür er leicht gehalten werden fonte und mußte. So würde er fid) audj ganz bejonders nod) für die Rolle eignen, welche ihm in den Pfeudocle- mentinen augemiejen iſt. Immerhin fteht aber mit gleicher Berechtigung die Anficht gegenüber, daß Sueton nur jube jeltiv wegen der contemtissima inertia be8 Flavius Gíe» mens den Verdacht des Domitian einen ganz geringen vom pofitifchen Standpunkte aus genannt habe, obgleich bie Hriftliche Gefinnumg des Flavius Clemens und auch wohl bet Schuß, welchen er feinen chriftlichen Verwandten zu Theil werden ließ, bie eigentliche Urfache feines Marter⸗ tobe8 Difbeten. Gufebiu& fann hier weder für nod) wider angerufen werden. Auch erklärt fid) das Verſchwinden des Flavius Clemens aus ber chriftlichen Tradition, mie fchon Baronius (annal. eccl. a. 98 n. 7.) bemerkt, iw. 91. ſchon dadurch, dag auf Grund ber p[euboclementinijdjen Literatur jeit Rufin aud) in der firdjfidjen Tradition der Confular vor dem mit ifm ibdentificirten Biſchof Clemens weichen mußte. Wir wollen nicht entfcheiden, da auch die römischen 28*

432 Brüll,

Ausgrabungen bis jetzt in Betreff des Flavius Clemens über Hoffnungen nicht hinausgeführt haben’). Ob ferner bie Domitilla be8 Dio von ber des Bruttius zu umter- ſcheiden fei, Scheint uns fchon deshalb unwahrjcheinlich, weil die beiden Inſeln Pandataria und Pontia fo nahe zujam- menliegen; mehr nod), weil aud) die chriftliche Tradition nur eine nad Pontia verbannte Domitilla feiert *), und die römischen Ausgrabungen nur ba$ Andenken einer Do- mitilla divi Vespasiani neptis aufgebedt Haben). Wir geben hier mit Lipfins*) gegen Zahn bem Bruttius vor dem Gpitomator be8 Dio jdjon deshalb 9ted)t, weil auf) Sueton (vgl. Domit. 17) vonder Verbannung ber Do- mitilla, der Gattin des Flavius Clemens, nichts weiß. Zu: dem vermuthet be Roffi, welcher mehrere Sufchriften ber gens Bruttia in dem Gümeterium S. Domitilla fand, daß bie Bruttier ihre Grabftütte neben derjenigen der δα: vier hatten, und daß vielleicht gerade diefer Umftand bie Aufmerffamfeit des heidniſchen Auktors auf das Schidfal ber Flavia Domitilla gelentt habe). Bruttius würde demnach auch befonderes® Vertrauen bezüglich jeine8 2e richtes über Domitilla verdienen.

Wir fchließen die Unterfuchung über den Urfprung und den SSerfaffer des Clemensbriefes mit ber befannten Notiz über Clemens im Hirten des Hermas (Vis. II, 4.) Es ift allgemein anerkannt, daß Hermas fid) burd) diefelbe als

1) Qgl. Kraus, Roma Sotterranea ©. 79.

2) ®gl. Hieron. ad Eustoch. 86. Act. S. S. Mai t. III. p. 6. sqq.

3) Vgl. Kraus a. a. Ὁ. ©. 74 f.

4) Chronologie ber Römiſchen Biſchöfe €. 155, vgl. Zahn a. a. D. ©. 50.

5) Krauß a. a. Ὁ. ©. 44.

Urfprung und Berfafier des Briefes des Glemen8 ꝛc. 433

einen Zeitgenoſſen be8 Verfaſſers des Briefes an die Ko⸗ rinthier, mag ex dies wirklich gemejen fein oder nicht, θὲς zeichnen wolle. Auf alle Fälle muß aljo zu feiner Zeit die Annahme [djon allgemein verbreitet gewejen fein, daß Glemen8 der PVerfaffer des Bricfes fel; denn nur unter diefer Vorausſetzung konnte Hermas Hoffen, auf Grund feiner kurzen Notiz über Clemens als deffen Zeitgenoffe an» gefehen zu werden. Wie polfjtánbig aber die Tradition bon einem Biſchof Clemens als Verfaſſer des Briefe am die Korinthier zur Zeit be8 Hermas [don fertig war, fehen wir auch, wenn wir feine bezügliche Notiz etwas näher anjeben. Clemens erjcheint zunächſt dadurch vor den üb- rigen Presbptern der römischen Kirche, welchen Hermas jelbft {εἶπε Offenbarungen mittheilen foll, in einer bifchofs- ähnlichen Stellung, daß er biefelben den auswärtigen Städten vermitteln fol. Es iſt fein Zweifel, da Hermas den Brief des Clemens an bie Korinthier im Auge Dat, daß an bie auswärtigen Kirchen überhaupt, vor Allem an die Sauptfirdjen der Welt, gedacht werden muß. Beachten wir nun, daß er feine Offenbarungen ausdrüdlich von Rom aus der ganzen Kirche (τοῖς ἐκλεκτοῖς πᾶσι) mite getheilt wiffen will, fo gewinnt die Bemerkung, daß e8 dem Clemens obliege (ἐκείνῳ γὰρ ἐπιγέγραπται) eine befondere Bedeutung. Hermas fieht den Brief des Clemens an bie Korinthier als ein faltijde8 Zeugniß des Primates der römischen Kirche wie ihres Biſchofs an; und gerade diefem Umftande, durch den Hermas das Anſehen feines Werkes fügen will, verbanfte der Brief wie fein Verfaffer ihren großen Ruhm im ber firdjfidjen Tradition von beu älteften Zeiten her.

Der Uriprung des Gpijfopat8 nad Dem Briefe δεῖ Clemens von Rom an die forintiier, und ber Episkopat des Clemens.

Von Dr. Andreas Brüll in Schleiden.

Bei dem geringſchätzenden Urtheil über die älteſten traditionellen Angaben bezüglich der erſten römiſchen Biſchöfe, beruft fid) Lipſius mit Nachdruck auf bie nad) feiner Anfiht „anderweit Tängft zur Evidenz erhobene That- jade" , daß fid) ber monardifche Gpijfopat überhaupt εὐ! allmälig in ber Kirche entwidelt Babe, daß aljo ber Natur der Sache nad). eine jichere lleberfieferung über bie Sue- cejfion ber römifchen Biſchöfe εὐ} von der Zeit an mögs fid) mar, o die Vorfteher des Presbyterkollegiums ihre Mitpresbyter an Einfluß unb Machtftellung zuräcdzudrängen begannen. Lipſius verweist in biejer Hinficht [peciell auf den Hirt be8 Hermas: „Noch ber c. 142 verfaßte Hirt be8 Hermas klagt über die Streitigkeiten im römijchen Klerus niegi πρωτείας und nimmt offenbar gegen bie πρωτοκαϑεδρίταε für die urfprüngliche Gleichheit der Presbpter Partei‘. Allein immerhin [e&t der Hirt bes Herma bei diefer Auffaffung der in demfelben berührten Streitigkeiten den Gpijfopat bod) afe faktiſch (dou be jtefenb voraus. Ueber ben Urfprung desfelben gibt und vielmehr der Brief de8 Clemens von Rom, in beifen Zeit

Urſprung be8 Cpijfopatà nad) dem Briefe des Glenten8 ıc. 435

Hermas fid) verfett, die ficherfte Auskunft. Man bat fid) zwar proteftantifcherfeits ſchon längft daran gewöhnt, ben Clemensbrief vor allem gegen den apoftolifchen Urfprung 008 eigentlichen Gpijfopaté anzurufen; dennoc bleibt es deehalb nicht weniger wahr, daß berje(be von allen Schrif- ten des nachapoftolifchen Zeitalter, aud) die ignatianifchen Briefe nicht ausgenommen, hierüber das beftimmtefte Zeug: . nig im fatholifchen Sinne ablegt. Es ijt wahr, der Gle- menébrief hat e$ feiner VBeranlaffung gemäß gar nicht direkt mit der Eintheilung ober Abitufung des Tirchlichen Amtes zu tun, noch weniger fpeciell mit dem eigentlichen Epifko- pat; derfelbe ift vielmehr der Begründung der apojtolijd. göttlichen Grundlage des kirchlichen Amtes überhaupt ge: widmet. Da aber der Verfaffer in diefer Frage ganz auf fatholifchem Standpunkt fteht, [o führte ihm biejelbe ποιῇ» wendig zum eigentlichen Episfopat. In bem Nachweis des apoftolifchen Urfprungs desjelben gipfelt ebenfo die Be— weisführung be8 Gfemenébriefeó wie nad) Tatholifcher An⸗ ſchauung die apoftolifchegöttlihe Grundlage des Firchlichen Amtes in feinem Urfprung und in feiner Fortpflanzung auf dem Apoftolat und dem Epijfopat beruht. Hat jo ber Clemensbrief in der Frage nad) dem Urſprung bes Epis- topats eine gänz principielle Bedeutung, fo kann derfelbe ung weiter aud) das ſicherſte Urtheil ſpeciell über ben Cpiéfopat des Glemenó, deſſen Name unter den älteften römischen Bifchöfen vor Allem in Betracht fommt, ver» mitteln.

Veranlaſſung und Eintheilung des Kriefes.

Wie Schon Hegefipp (bei Eus. ἢ. 1, 4, 22) bemerkt, waren es feine eigentlichen LKehrftreitigkeiten, welche den

438 Brüll,

heber des Aufſtandes ſpeciell zur Buße, zum Bekenntniß ihrer Schuld und zur Rückkehr zum Gehorſam (c. 57 vgl. 51 f.)

2. Die Argumentation des friefes.

‚Den Mittelpunkt des Briefes feiner VBeranlafjung ge» mäß bildet der dritte Theil deöfelben, welcher fi), wie angedeutet, in brei verfchiedenen Gedanken bewegt. Zu: nüdjjt beginnt Clemens mit dem Hinweis auf die Ordnung im römifchen Heere, welche nur dadurch ermöglicht wird, daß die Soldaten den Auführern, diefe wieder einander untergeordnet find bis zu den Bräfelten hinauf (c. 37). Sodann geht er zur Beilegung der kirchlichen Wirren in Korinid zu dem bekannten DBeifpiel vom menfchlichen Leibe über, welcher nur dadurch erhalten werden Tann, daß die einzelnen Glieder in ihren Funktionen gewiffermaßen einander untergeordnet find, indem fie durd ihre inbibis duellen Vorzüge unb Fähigkeiten fid) zum Wohl’ und zur Erhaltung be8 ganzen Leibes einander ergänzen und unter- ftügen (c. 37). Bon diefem Beifpiel macht der Verfaſſer direft Anwendung auf die Kirche, melde zunächſt ihrem inneren Wefen nad), aí8 Gemeinschaft der Heiligen, der myſtiſche Leib Ehrifti ift (c. 46 vgl. 30, 56); aber aud) in ihrer äußeren Erjcheinung hier, wo ja von äußerer Unter» und Ueberordnung Rede ift, αἷδ ein organifches Ganze betrachtet wird, das in ber Einzellirche feinen realen Kefler bat (c. 38) 1): σωζέσϑω οὖν ἡμῶν (udt

1) Bon biejem GCtanbpunHe aus fieht ber Berfaffer aud) in ber Empörung gegen die rechtmäßigen Vorfteher in Korinth ein: fad) eine Selbftüberhebung über „bie Heerde Gbrifti" (c. 16, 57).

Urfprung bes Epiſtopats πα bem Briefe bed Clemend sc. 439

ὑμῶν vgl. Polyc. ad Phil. 11) ὅλον 40 σῶμα ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, xoi ὑποτασσέσϑω ἕκαστος τῷ πλησίον αὐτοῦ, καϑὼς καὶ ἐτέϑη ἐν τῷ χαρίσματι αὐτοῦ.

Auch die Kirche als Ganzes wie in ihren einzelnen Zheilen (den Einzellirchen), Tann nur baburd) in ihrer äußeren Ordnung erhalten werden, daß fid) Jeder ben tehtmäßigen Vorftehern je mad) der ihnen von Gott am. gewiefenen Stellung fo ift ba8 τῷ πλησίον αὐτοῦ dem Zweck des ganzen Briefed wie bem näheren Zuſam— menhang nach zu verftehen und [εἶπε perfönlichen natürlichen und übernatürlihen Gaben in Unterordnung unter bie in ber Kirche beftehende SOrbmung demüthig zum Wohl der ganzen Kirche verwendet (c. 38 vgl. 48). Iſt ja diefer bemüthige Gebrauch der perjünlihen Begabung aud) ſchon dadurch geboten, daß wir aus uns je(bjt nichts vermögen, unfere Gaben alfo Gottes Gaben find (c. 39). Der Berfaffer fteht in bem Abjchnitt c. 37—39 feines Briefe noch ganz auf einem allgemein fittlichen Etand- punkt der Argumentation ; daher et aud) das eigenthüm⸗ fife Wefen des FTirchlichen Amtes im Unterfchied vom Charisma noch nicht eigens hervorhebt, fondern dasjelbe in

Es ift berjelbe Standpuntt, von bem aus Paulus bie Cpisfopen der Heinaftatifchen Kirchen ermahnt, für bie Oeexbe (vgl. 1 Betr. 5, 2: τὸ ἐν ὑμῖν ποίμνιον τοῦ ϑεοῦ) zu forgen, über welche fie bet heilige Geift gefegt pat, bie Kirche Gottes zu regieren (Act. 20, 28).

1) gl. Ign. ad Magn. 6: μηδεὶς κατὰ σάρκα βλεπέτω τὸ nin- cov (vgl. ad Magn. 3). (Grfotbert bie zur Nächftenliebe erforber- lide Demuth ſchon, dag man den Nächten nicht bem Fleiſche nach mit natürlichen Augen betrachtet, fo bejonber8 bie Unterwürfigkeit, welche wir ben kirchlichen Amtöträgern fchulden (ad Magn. 18):

ὑποτάγητε τῳ ἐπισκόπῳ καὶ ἀλλήλοις.

440 Buß,

gewifier Weije med ale Charisma (vol. c. 38: χαϑὼς zei ἐκέϑη ἐν τῳ χαρίσματε avrov) auffapt!). Allein er fonnte bei biejer Auffaſſung nicht ftehen bleiben. Iſt e$ zweifelhaft, ob mir nad dem Glemensbrief nod an eigentliche Gfari$men, die damals in Korinth zur Er⸗ Icheinung famen, zu denken haben, jo fann faum ein Zweifel darüber bleiben, bag die SOppofition gegen die rechtmäßigen firchlichen Amtsträger in Korinth gerade auf wirkliche oder vermeintliche μετ] πε Borzüge nnb Gaben, bejonder auf höhere Erfenntnig, größere Rebefertigkeit und vollfommenere fitifidje Reinheit (Analoga der Charismen) fid) ſtützte (c. 38, 48 vgl. 13, 21, 57°). Sah fidj fo der Ber- faffer der principiellen Frage: Charisma oder Amt? b. ἢ. dem Beſtreben nad) freier 3Berfajjung | gegenübergejtelft, [0 fonnte er fid) nidjt damit begnügen, das eigenthiimliche Weſen des fird)fid)en Amtes im Unterfhied vom Charisma ftifífd)meigenb voranszufegen, fondern mußte dasfelbe pofi- tío begründen, um fo die abjofute Ueberordnung des Amtes in feiner Sphäre über die rein perſönliche Begabung zu beweifen (vgl. c. 48). : Der 9ibidjnitt c. 37—39 unferes Briefes bildet daher mur eine Vorbereitung der eigentlichen

1) In bem Sinne, wie der Apoftel Paulus (Rom. 12, 6 fi. 1 ὥστ. 12, 28 vgl. Eph. 4, 11) unter ftillfehweigender Voraus⸗ fe&ung be8 eigenthiimlihen Wefend bed Amtes bieje8 mit bem Charisma im meiteften Sinne be8 Worte unter dem allgemeinen Geſichtspunkt betrachtet, daß jede perfünliche Begabung ordnungs⸗ mäßig (vgl. 1 Got. 14, 40) ber Auferbauung ber ganzen Kirche dienen muß (vgl. 1 Cor. 12, 7).

2) Vgl. Hilgenfeld, Apoftoliiche Bäter €. 79: „Alles führt und auf eine Weisheit, deren Hochmuth in Form und Inhalt der Nede bervortritt, ald auf die Qauptquelle ber korinthiſchen Un: tuben, unb wo wäre ein jo(djer Weisheitsdünkel eher benfbar, αἱ auf bent Haffifchen Boden von Korinth?"

Urſprung des Epiflopat3 nach bert Briefe be8 Glemen8 sc. 441

Argumentation , welcher der SBerfajfer in den beiben fol» genden Kapiteln Schon näher tritt !).

Nachdem Clemens bie Lefer von der Nothwendigkeit ber Firchlichen Ordnung und ber durd fie bedingten Unter: ordnung unter die rechtmäßigen Vorſteher überzeugt und zum demüthigen Gebrauch der perfönlichen Gaben ermahnt hat (c. 40: προδήλων οὖν ἡμῖν ὄντων τούτων), fordert er fie vom Standpunkt der vollfommenen chriſtlichen Er- fenntniß aus (καὶ Eyxexupores εἰς τὰ βάϑη τῆς ϑείας γνώσεως) zur Betrachtung der bezüglichen pofitiv-göttlichen Yuftitutionen des A. T. auf. Dabei geht er aber über einen bloßen Analogiebeweis fchon hinaus, indem er durch die ganz confrete Haltung diefes Hinweifes auf bie alt- teftamentlichen Inſtitutionen (c. 40) 3) und bejonberé durch

1) €8 jei hier jchon bemerkt, daß fid) namentlich Ritſchl, Ent: ftebung der altfatholifchen Kirche 2. A. €. 349 ff. der undankbaren Aufgabe unterzogen bat, im Gegenjag zur ganzen Argumentation des Clemensbriefes den Nachweiß zu liefern, daß nad) Clemens ber göttliche Grund be8 Amtes im Charidma tube, unb bafjelbe vom Apoftolat unabhängig jei. Da ijt bod) Rothe's Offenheit zu loben, welcher Anfänge der chriftl. Kirche ©. 383 zum Schluß ber Argumentation be8 Clemens (c. 44) bemetit: „Es [tebt freilich in offenem Widerſpruch mit dem oben ©. 148-158 (über ben bemo: Iratijen Charakter der urjprüngliden Gemeindeverfaſſung) Gefag- ten, wenn toit bier immer betonen, daß bie erften chriftlichen Ge- meinbebeamten von ben Apofteln jelbft, und ba8 vermöge ihrer eigentbümlich apoſtoliſchen Machtvollkommenheit, —bejtellt worden ſeien. Allein dieſer Widerſpruch trifft nicht ung, ſondern ben Cle⸗ mens; denn in ſeinem Sinne raiſonniren wir hier. Er hat die Anſicht und die Ordnung ſeiner Zeit in eine frühere getragen“.

2) Wie überhaupt c. 40 nur vom A. T. Rede ijt, fo aud) im Schlußfag‘ be8 Kapitel® vom altteftamentlichen Hobepriefter, ben Prieftern unb Leviten. Erſt wenn e8 anbertveit feititeht, daß Ele: men? bie Dreitheilung be8 Amtes Tennt, können mir im biejem

ae

442 Brüll,

die direkte Anwendung desſelben auf die Euchariſtie (c. 41), als den Mittelpunkt des chriftlichen Gottesdienftes, die bes ftimmte Vorausſetzung ausfpricht, daß aud) die Kirche ein auf pofitiv » göttlicher Anordnung beruhendes Opfer (die Gudjarijtie) und ein unverlegliches Prieſterthum habe, welches um fo mehr Heilig zu Halten ift, je vollfommener unfere chriſtliche Erkenntniß jubjeftio und objektiv ijt (c. 41): ὁρᾶτε, adsApol, ὅσῳ πλείονος κατηξεώϑημεν γνώσεως, τοσούτῳ μᾶλλον ὑποκείμδϑα κινδύνῳ 1). So geftalten íi) diefe beiden Kapitel zur Theſe, deren Beweis der Ber: fafjer jpeciell nach der Seite hin, welche der Veranlaſſung des DBriefes gemäß zunächſt in Betracht fommt, im Fol-

"genden (c. 42—44) hiftorifch führt; nämlich mit Bezug

auf die beftimmten Berfonen (vgl. c. 40: duc zivw), welche mad) pofitiv « οὔ εν Anordnung zum Tirchlichen Dienft, fpeciell zum Opferdienft (vgl. aud) c. 44: προσε- γεγχόντας τὰ δῶρα), beredjtigt find. -

„Die Apoſtel“, jo hebt die eigentliche Beweis— führung des Briefe c. 42 an, „wurden von bem Herrn Jeſus Chriftus mit bem Evangelium an uns betraut (eunyyeklodnoar) ?), Jeſus Chri- ftu$ von Gott. E8 wurde alfo Chriftus von Gott gefandt, und die Apoftel oon Gfriftue,

Schlußja einen indirekten Hinweis auf die einzelnen chriftlichen Aemter erbliden. Died dann aber aud) um fo mehr, ba jdjon ber ſprachliche Ausdruck biejer Stelle an bie altfirchliche Liturgie (Feier ber Gudjarijtie) erinnern Tann.

1) Während im Anfang von c. 40 die ſubjektiv vollfommenere Erfenntniß be8 A. T. betont wird, fcheint im Schlußfag von c. 41, wo mittlerweile von ber Euchariftie Rede war, mehr die objektiv vollkommenere GrfenntniB, das vollfommenere Opfer, gemeint zu jein.

2) vergl. Hilgenfeld a. a. Ὁ. ©. 69 Anm.

Urfprung des GpiSfopat8 nad) dem Briefe be8 Clemens ıc. 443

gefhah alfo beideswohlgeordnetnad bem Wil— fet Gottes.“ Diefer umjtändliche Eingang, deſſen Be- deutung nicht leicht zu überſehen ift, aber δο fo oft ganz überfehen wurde, ift für die richtige Würdigung des Beweiſes des Clemens für die apoftolifch-göttliche Auftorität des Amtes in feinen beftimmten Zrägern vor allem entfcheidend. Es genügt dem DVerfafjer noch nicht, die Sendung ber Apoftel von Chriftus zu betonen; er geht hinauf bi$ zum Vater jelbft, um nur ja die von Chriftus gefandten Apoftel ale Gefanbte Gottes umd ihre Anordnungen, fpeciell die im Folgenden (c. 42 und 44) zu berichtenden, als göttliche Anordnungen erjcheinen zu laſſen. Wie die Sendung Ehrifti felbjt, fo ift auch gleichmäßig die Sendung der Appftel von Chriſtus nad dem-Willen Gottes. Wenn daher Clemens nad) diefer umftändlichen Auseinanderfegung fofort weiter berichtet, bap die Apoftel, nachdem fie die Aufträge de8 Herrn und den bl. Geijt empfangen, ausgiengen, das Reich Gottes zu verkünden, unb in den Gegenden umb Städten, wo fie predigten, die Erftlinge, nachdem fie bie- jelben im Geifte erprobt hatten (doxıuauavres τῷ πνεύ- ματι), zu Episfopen unb Diakonen derer einjeten , welde gläubig wurden (vgl. Act. 14, 23) fo fann nicht der mindefte Zweifel darüber bleiben, daß er bie Auktorität des Amtes in feinem Urjprung, in feinen erften Trägern, einzig auf die Ginjegung burd) bie von Gott und Chriftus gefandten Npoftel gründet. Das δοκιμάσαντες τῷ πνεύματε bezieht fid) offenbar blos auf eine vorherige Prüfung ber Gingue jegenden, fei e8 daß an die charismatifche Begabung der Erjtlinge felbft (vgl. Act. 6, 3), ober an ihre Bezeichnung burdj djari&mati[d) Begabte (vgl. 1. Tim. 1, 18; 4, 14), oder auch allgemein an eine geiftig-fittliche Prüfung derfelben

444 Brüll,

zu denken ift. Ebenſo wird das frei nach den LXX citirte Schriftwort (31. 60, 17): καταστήσω τοὺς ἐπισκόπους αὐτῶν ἐν δικαιοσύνῃ, καὶ τοὺς διακύνους αὐτῶν ἐν πίστει nur zur Amplififation des eigentlichen Beweijes angefügt, verräth aber eben das Beſtreben des Verfaſſers, das Amt

ber Episkopen und Diakonen als poſitiv⸗göttliche Inſtitution

zu erweiſen.

Wie in ſeinem Urſprung ſo beruht nach Clemens auch in ſeiner Fortpflanzung die Auktorität des Amtes einzig auf ber ber Apoſtel. Wenn nämlich die Auktorität des Amtes, zunächft de8 ber c. 42 genannten Episkopen und Diakonen in feinem erjten Trägern dadurch gefichert ſchien, daß bit. felben von ben Apofteln, afjo mittelbar von Chriftus und von Gott gefandt waren, fo erhob fid) fofort bie weitere Frage, wie e8 um die Auftorität des Amtes in feinen folgen- den Trägern, welche dasfelbe nicht unmittelbar von den Apofteln erhalten Hatten, beftellt jei. Waren aud) fie, die zur Zeit der Abfaſſung umjeres Briefes ſchon bei weitem bie Mehrzahl bildeten, al8 von Gott jefbjt gefandt und mit dem Amt betraut zu betrachten? Wie, wenn in der Folge: zeit und e$ war dies in Korinth ja fehon wirkfich der Fall ein ähnlicher Streit um das chriftliche Prieftertfum entjteht, wie einft zur Zeit des Mofes um das Tewitifche Aarons? Wird Gott da ftet8 unmittelbar bu rd) ein Wunder eingreifen müjjen, ober aber haben bie Apoſtel als Gefandte Gottes weitere Verordnungen getroffen, moburdj bas firdy liche Amt aud) in allen feinen folgenden rechtmäßigen Trägern ebenfo von Gott beftätigt erfcheint, wie das BPriejterthum Aarons für immer in feiner Yamilie und feinem Stamme durch das Wunder des blühenden Stabes bejtätigt wurde ? Sym diefer Weife leitet Clemens durch bie Erzählung dee

Uriprung bed Epiſtopats nad) bem Briefe be8 Clemens 1c. 445

befagten Wunders unb feiner Veranlafjung (c. 43 vgl. Num, 17) zur Fortfegung feines Beweiſes im c. 44 über: „Auch unfere Apoſtel erfanuten durd unfern Herrn Jeſum Ehriftum, daß um die Würde des Amtes (ἐπὶ τοῦ ὀνόματος τῆς ἐπισκοπῆς) Ὁ) Streit entitebeu würde. Aus diefem Grunde mu itellten fie in ihrer ffaren Borausfidt bie Borgenannten (die c. 42 genannten Episfopen und Dialonen) auf, und gaben iugmi[den eine weitere Verordnung, daß, wenn fie geftorben wären, andere erprobte Männer ijr Amt übernehmen jollten.“ Der legte Theil biejer Stelle: xai μεταξὺ ἐπινομὴν δεδώκασιν, ὅπως, ἐὰν κοιμηϑῶσιν, διαδέξωνται Erepos δεδοκιμασμένοι ἄνδρες τὴν λειτουργίαν αὐτῶν it bei der Benrtheilung der Argumentation des Clemens⸗ briefes und in der Gpiéfopatéfrage vor allem ftreitig gewefen. Es fragt jid), ob die Apoftel ober die vorgenannten Epigfopen und Diakonen Subjelt zu κοιρηγϑῶσεν und zu τὴν λειτουρ- ylav αὐτῶν find. Grammatiſch ift beides möglich; es fommt alfo ganz auf den Zufammenhang an. Demgemäß glauben fid) die proteftantifchen Erflärer faft bie auf den einen Rothe für das Lebtere entjcheiden zu dürfen. Wir können, obgleich biefe Anſicht merfivürbiger Weiſe auch von manchen Tatholifchen Erflärern der Stelle adoptirt wurde, dem nicht zuftimmen, und dies gerade des jdjon binlünglid) erlänterten Zufammenhanges wegen. Rothe (a. a. Ὁ. €. 374) ftügte feine Erklärung in erjter Linie auf bie Deutung des fchwierigen ἐπενομή κληρονομία ober „teftamentarifche Verfügung“, da Heſychius Errivouog =

1) vgl. Hilgenfeld a. a. Ὁ. €. 70 Anm. Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IL. 29

446 Brül,

xAnpovouog erflärt. Wir jehen von biefem und den zahl- reichen anderen, meiſt viel werthloferen Verfuchen, dem ſchwierigen Wort eine allfeitig genügende etymologifche Gr. flärung zu geben, ab. Wir bleiben bei dem Begriff ftehen, welchen das Wort ſachlich dem Zuſammenhang mad) um bedingt hat, nämlich den einer weiteren Verordnung (ἐπιενομέρ) oder vielmehr Anordnung Ὁ), welche zu der c. 42 berichteten Anordnung der Apoftel hinzufommt und die Fortpflanzung des Amtes, zunächſt de8 ber c. 42 genannten Epidfopen und Diakonen, betrifft. Welches ift nun bem Zufammen: hang nach ber Inhalt diefer weiteren Merordnung oder, wit wir dem Sinne nach wenigftens jagen müflen, Anordnung ber Apoftel? Etiva, wie die Gegner mollen, daß das Amt ber Episfopen und Diakonen überhaupt fortbauern fol, δα nad) dem Tode feiner erften Träger andere Episfopen und Diakonen ihnen folgen follen? Allein menm es fich aud, wie Hilgenfeld (a. a. Ὁ. €. 76) richtig bemerkt, be mals in Korinth um Beftand oder Aufhebung der Firchlichen Ordnung, nicht blos um eine bifchöfliche Vacanz, handelte, jo bod) immerhin nicht allgemein um die Fortdauer be Amtes, fondern um feine Fortdauer in den rechtmäßigen Trägern gegenüber den Anſprüchen perfönlicher Begabung. Handelte c8 jid) ja aud) einft zur Zeit des Moſes nidi allgemein um die Fortdauer des levitiſchen Priefterthums, jondern um die ercfufioe Fortdauer bei einem beftimmten Ctamme. Wenigftens [egt Clemens in feiner Argumentation von Anfang an den ganzen Nachdruck auf die auftoritative

1) Sn diefem Sinne bat Hilgenfeld 5. b. St. ἐπιτροπήν vorge: ichlagen. Vgl. Laurent 3. b. St.: Apostolos autem non legem tulisse, sed institutum quoddam creasse dicit Clemens.

Urſprung des Gpijfopat8 nach dem Briefe be8 Clemens ?c. 447

Uebertragung des Amtes burd) bie Apoftel. Beruht nad dem befprochenen umſtändlichen Eingang des Beweiſes in c. 42 bie Auftorität be8 Amtes in feinem Urſpruug, in jeinen erften Trägern, einzig auf der Auftorität ber von Gott unb Chrijtus gejandten Apoftel, fo fanu auch im bet weiteren SBerorbuung der Apojtel beziiglich der Fort: pflanzung des Amtes nur von einer weiteren Ucbertragung der apoftolijch - göttlichen Befuguiß aur rechtmäßigen Ueber- tragung des kirchlichen Amtes Rede fein, wodurch das Amt audj für alle Folgezeit unantaftbar auf apoftolijch- göttlicher Auftorität beruft. Man mag darnad) das απ- geblich unmwiderlegbare Argument Baur’s ἢ, welches man immer wieder gegen Rothe’8 Erklärung ber in Rede ftehen- den Stelle geltend gemacht Dat, beurtheilen, daß ε [id) nämlih nicht um Erhaltung der apoftolischen Machtvoll⸗ fommenfeit, jonberu um die Erhaltung des Amtes der Episfopen und Diakonen handele. Allerdings. handelt es fif, wie Clemens bezeichnend genug fagt, um die Erhaltung des Firchlichen Amtes überhaupt, um die Erhaltung der ἐπισκοπῇ; aber um die Erhaltung des Amtes als pojitiv- göttlicher Inſtitution fraft der Anordnungen der von Gott gejandten Apoftel. Daher mußte Clemens, joll er anders den begonnenen Beweis zu Gnbe führen fünnen, wie er dazu nad) c. 43 ausſchaut, machweifen, daß die Befugniß der Apojtel zur rechtmäßigen Uebertragung des Firchlichen Amtes nad) dem Willen Gottes (λειτουργία αὐτῶν) and) nad) ihrem Tode (ἐὰν κοιμηϑῶσιν) fraft ihrer end- gültigen Anordnung in der Kirche fortlebe. Diefe apoftolifche

1) Urfprung des Episkopats ©. 53 f. vgl. Hilgenfeld a. a. Ὁ. €. 70. Ritſchl a. a. Ὁ. €. 414 f. 29 *

a

448 Brüll,

Befugniß iſt aber die ausgezeichnetſte amtliche Befugniß des Episkopats nach katholiſcher Lehre. Zwar ſagt Clemens nicht ausdrücklich, daß es ſich bei der weiteren Anordnung der Apoſtel um die apoſtoliſche Stiftung eines weiteren Amtes handelt; aber wir werden dies ſchon nach Analogie der erſten Verordnung der Apoſtel (c. 42) ſchließen müſſen. Es find dann aud) von ſelbſt die Fragen gelöst, mer nach bem Zode ber erften Nachfolger der Apoftel das Amt fernerhin übertragen [of , oder wer für die Folge den Nachfolgern ber Apoftel ihr Amt verleihe. Das Amt überhaupt pflanzt fid durh das Amt fort, mit meldjem die Apoftel bieje Befugniß endgiltig verknüpft haben. Clemens fanm daher, nachdem er die apo[tofijd)e Stiftung eines jofdjen Amtes nambaft gemacht hat, fofort zur Anwendung feiner Argu- mentation übergehen.

Könnte noch ein Zweifel darüber beftehen , daß bet nächfte Zweck des Clemensbriefes der ift, bie apoftolifd- göttliche Auftorität des Firchlichen Amtes in feinem Urfprung wie in feiner Fortpflanzung zu beweifen, und bof fein Verfaſſer baburd) von felbft auf den apoftolifchen Urfprung des Episfo- paté geführt wurde, fo müßte bod) fchließlicy die Anwendung, welche Clemens von feiner ganzen Argumentation von c. 42 an auf die faktifchen Verhältniſſe in Korinth macht, biejen legten Zweifel heben. Er fährt nad) bem beſprochenen jtreitigen Satz alfo fort (c. 44): τοὺς ovv κατασταϑέντας un’ ἐκείνων, μεταξὺ ὑφ᾽ ἑτέρων ἐλλογίμων ἀνδρῶν, συνευδοχησάσης τῆς ἐκκλησίας πάσης ........ τούτους οὐ δικαίως νομίζομεν ἀποβαλέσϑαι τῆς λειτουργίας. Oder wer find die fier genannten ἕτεροι ἐλλόγιμοι avdess, welche nadj ben Apofteln und gleich biefen ba8 Amt über: tragen? Ritſchl (a. a. Ὁ. ©. 415) fann fid) bod

Uriprung des Gpiffopatà nad) dem Briefe be8 Glemen8 ꝛc. 449

wenigftend das nicht verbergen, daß es durch die Gegenüber ftellung der Apoftel und der „anderen hervorragenden Männer” ben Anjchein gewinnt, als könnten unter den Leßteren nur eigentliche Nachfolger ber Apoftel verfianden werden, und als müßte vorher von ihnen bie Rede gemejen fein. Er glaubt fie jedoch trot diefes allerdings jehr deutlichen Anſcheins für die Notabeln der Gemeinen halten zu bürfen,; aber das owevdornoaong τῆς ἐκκλησίας rang, worauf er fid) δεδία! [6 berufen möchte, kann bod) immerhin noch eher be= Wife, baß die „anderen hervorragenden Männer” eigent- fide Amtsträger find im Unterfchied von der Gefammtheit der Gläubigen, unter deren Zuftimmung fie ebenfo das Amt übertragen, mie die Apoftel die Einzufegenden vorerft im Geiſte erprobten (c. 42). ipfius!) hat gemeint, bie ἕτεροι ἐλλόγιμοι ἄνδρες feien wie bie unmittelbar vorher gengnuten Eregoı δεδοκιμασμένοι ἄνδρες aus der Zahl der Presbyter = Episfopen unb Diafonen, aber baburd) von biejer verjchieden, daß fie nod) von bem Apofteln jefbft nicht erft von deren Nachfolgern eingefettt wurden. Aber es fragt fid) dann bod) gunüd)ft, wer diefe Nachfolger der Apoftel find, von welchen hier Lipſius ohne weiteres fpricht. AS folche evjdjeinen ja offenbar die ἕτεροι ἐλλόγιμοι ἄνδρες, ohne daß Clemens etwas darüber jagt, ob fie Presbyter = Episfopen und Diakonen find, ober ob fie namentlid) wenn man fie mit Lipfins von den unmittelbar vorher ge: nannten ἕτεροι δεδοκιμασμένοι ἄνδρες unterjcheiden will tod) von den Apofteln jelbft eingefet wurden. Wir er- femen an was ipfius befanntlich neueften8 in Abrede ſtellt —, daß zur Zeit der Abfaffung unferes Briefes (nad)

1) De Clem. Rom. ep. I. ad Cor. p. 22 84.

450 Brüll,

c. 44 verglichen mit c. 5) noch manche unmittelbare Apoſtel⸗ {εν lebten, daß alfo auch im Aligemeinen wohl bie gegen- mürtigen Amtsträger noch von unmittelbaren Apoftelfchülern eingefegt waren. Deunod hält Clemens feinen Beweis ganz prineipiel. Er fpricht nicht von einem fpeciellen Auf- trag der Apoftel‘ zur Fortpflanzung des Amtes, fondern alfgemein von einer bezüglichen weiteren Verordnung oder Anordnung derfelben vor ihrem Tode, weshalb aud die perfönliche Ybentität der „anderen hervorragenden Män— ner“ und der zuvor genannten „anderen erprobten Männer“ nicht gerade in allweg behauptet werden kann. Mit Recht weist Hefele 3. δ. €t., um jo mehr da Clemens hiſtoriſch verfährt, daranf Hin, daß unter den „anderen hervorragen- den Männern“ Männer mie Titus und Zimothens zu vet. jtehen find, denen nad) bem N. S. die hier vorausgeſetzte Vollmacht von den Apofteln übertragen wurde. Nur wird durch bie aud) von Hefele in feiner lateinifchen Ueberfegung vertretene principielle Verfchiedenheit diefer „anderen hervor: ragenden Männer” von den „anderen erprobten Männern“ ber hiftorifche 3ujantmenfang gewaltiam unterbrochen, it dem fo bie ἕτεροι ἐλλόγιμοι ἄνδρες auf einmal ganz zu— fammenhanglos in den Zuſammenhang eintreten, wogegen ih, wie Rothe (a. a. Ὁ. €. 381) richtig bemerkt Hat, ſchon ſprachlich der Parallelismus der Sütze fträubt 9. Vleberjehen aber fat 9t ote, daR fpecie(( durch die Paſtoral⸗ briefe auch die weitere Verordnung der Apoftel bireft bes jtütigt wird, da nach ihnen Zimotfeu$ in Ephefus und Titus auf Kreta von Paulus gegen Ende feines Lebens mit

nn

1) vgl. c. 44: καὶ μεταξὺ ἐπινομὴν δεδώκασιν ....... τοὺς οὖν κατασταϑέντας un’ Exeivwr, μεταξὺ ὑφ᾽ ἑτέρων ἐλλογίμων ἀνδρῶν.

Urjprung des Gpilfopat8 nad) dem Briefe des Clemens 2c. 45]

einer ordentlichen bifchöflichen Wirffamfeit betraut wurden, wodurch fie über den Presbyter Episfopen und Diakonen ftanben mit ber befonderen Befugniß, burd) Handauflegung dag Amt fortzupflanzen ἢ).

Der Elemenebrief fennt den eigentlichen Episfopat ber Cadje nad) und bezeugt entfchieden deſſen apoftolifchen Ur— [prung. Mehr können mir nicht erwarten, da e8 bem Ver- faffer fern Tiegt, über die Eintheilung des firdjfidjen Amtes direft fid) zu verbreiten. Das Thema feines Briefes ift die Begründung der apoftolifch-göttlichen Auftorität des kirch— fihen Amtes überhaupt, wie er dies furz und bündig in dem Wunfche ausfpricht, ben er c. 54 den Korinthiern ins— gefammıt und befonders ben Urhebern des Aufftandes rhe- toríjd) in den Mund legen möchte: μόνον To ποίμνιον TOU Χριστοῦ εἰρηνευέτω μετὰ vOv καϑεσταμένων πρεσ- βυτέρων. Er nennt zunächſt in dem hiftorifhen Nachweis des apojtofifchen Urjprungs des Amtes die Episfopen und Diafonen (c. 42) und handelt dann weiter von bem Amte überhaupt , von ber ἐπισκοπή (c. 44) ?) und feiner Forts pflanzung. Daß dabei nur an das Amt ber c. 42 ge: nannten Gpisfopen gedacht werde, und nicht wenigitens zugleich) an das ber Diafonen, wäre eine ganz willfürliche Annahme, ba man dann auch das folgende προειρημένους ausschließlich auf bie Gpiefopen beziehen müßte. Allgemein jagt Clemens, daß die von ben Apofteln und ihren 9tadj- folgern Eingefegten nicht mit echt willfürlich des Amtes entfegt werden dürften, umb ebenjo allgemein, daß bie

1) vgl. Döllinger, Chriftentbum unb Kirche 2.4. S. 308 ff. 2) Sm weiteren Verlauf von c. 44 braucht Clemens ἐπισκοπή ganz allgemein wie λειτουργία ober ἱδρυμιένος τόπος.

452 Brüll,

Korinthier ,Ginige" unrechtmäßig entſetzt hätten. Sollen wir hier immer nur ausſchließlich am die Presbyter = Episfopen benfen ? Aber ἐδ ift bod) durch nichts ange: zeigt, bap ihre Auftorität allein angefochten werde, oder auch daß fpeciell von ihnen Einige unrechtmäßig abgeſetzt wurden !). Spridt daher Clemens immer nur von beu Presbytern, ofne wenigftens bie Diakonen beſonders zu εἴ: wähnen, fo führt uns dies mit Beitimmtheit auf die That: jade, daß er unter den Presbptern die Tirchlichen Amts: träger unterjdjieb(o8 verfteht, bie ἡγούμενοι (c. 1) ober προηγούμενοι (c. 21), bie Dialonen eingefchloffen, den eigentlichen Bifchof alfo audj nicht ausgejchloffen 9). Wenn an den beiden zuflegt genannten Stellen der Verfaſſer in unmittelbarer Verbindung mit der Ermahnung, die Pres- bpter zu ehren, von den νέοι [pridjt, ſo würde e$ bod) an der Stelle c. 1, nadj welcher die andere e. 21 zu erklären ift, Schon gegen den Satzbau verftopen, unter den πρεσβύ- τερον allgemein ältere Leute zu verftehen 9). Auch ftellt

1) Wenn 2ipfiuà8, De Clem. Rom. ep. I ad Cor. p. 41 meinte, das nroooereyxovras τὰ δῶρα (c. 44) füónne nicht zugleich von ben Diakonen verftanden werden, jo überfiebt er, daß auch bie Diakonen an der Darbringung ber Euchariftie mitbetbeiligt find (s. 40 vgl. 41 unb Ign. ad Magn. 2 ad Philad 4), und daß an der angebeuteten Stelle ja nidjt von ben Diakonen allein Rede tft.

2) G8 ijt nicht richtig, wenn man behauptet, Clemens braude bie Bezeichnungen Znloxoros und πρεσβύτερος noch promiscue. Er nennt bie eigentlichen Presbyter ἐπέσκοποι, wozu eg nad) bem 9t. 2. in feinem biftorifchen Nachweis des apoftolifhen Urſprungs be? 9(mte8 (c. 42) berechtigt war. Auch fand er bieje Bezeichnung in bem angeführten Schriftwort 3f. 60, 17 fchon vor. Die Bresbyter find πα ibm bie firchlichen Amtsträger überhaupt. .

8) vgl. Weiß (Theol. Lit.Bl. 1870 Sp. 781) : „Wie Fönnen πρεσβύτεροι im Gegenjatg zu νέοι bie Greije fein, da Clemens jagt:

Urſprung des Gpijfopat8 nad) bem Briefe be8 Glemen8 ꝛc. 453

Clemens, wie Hilgenfeld (a. a. Ὁ. ©. 75) mit Recht diefer Anfichtentgegenhält, c. 3 bie Aufftändigen den rechtmäßigen Amtsträgern geradezu als νέοι den πρεσβύτεροι gegenüber. Hilgenfeld (vgl. Lipfins, De C’em. Rom. ep. p. 29 sq.) meint, Clemens Debe aus der Gejfammtheit der kirchlichen Vorfteher die Presbyter befonders hervor. Allein auch diejt Anficht (üBt fid) durch nichts näher begründen; vielmehr zeigen die betreffenden Stellen (c. 1. 21 vgl. 3) offenbar, daß. ber Verfaſſer die fivdjlid)en Vorfteher iiberhaupt (die ἡγούμενοι oder προηγούμενοι) mit dem befonderen Neben- begriff ber Ehrwürdigfeit Presbpter nennt: An bie Firchlie hen Vorfteher überhaupt (Biſchof, Presbyter und Diafonen) haben wir daher aud) zu denken, wenn Clemens am Schluß feines Briefes (c. 57) die Urheber des Aufftandes ermahnt, fif bem Presbytern zu unterwerfen. Es ijf hier an das Presbpterium von Korinth in dem Sinne zu denken, wie Ignatius (ad Philad. 5) von bem gegenwärtigen Presby⸗ terium der Kirche: Bischof, Presbyter und Diakonen Ipricht, und wie Polykarp im der Weberfchrift feines Briefes an die Philipper im Namen de8 Presbyteriums von Sınyrna (die Diafonen eingefchloffen) bie Philipper mit den Worten

Srüber habt ihr Gottes Gebote befolgt dadurch, baB ihr a) ben ἡγουμένοις Geborjam und b) bie gebübrenbe vw»; ben bei εἰ befindlichen πρεσβυτέροις erwiejen habt? Die jungen Leute bier beginnt ein neuer Sa mit felbftändigem SBerbum habt ibr angehalten, Maß und Anftand zu beobachten, ben Frauen habt ihr aufgetragen, geborjam zu bleiben. Darnach war ber Fehler der Korinthier ein doppelter: a) daß fie bie Unterwürfigfeit gegen ihre kirchlichen bern und b) ihre Auftorität gegen die jüngeren Leute unb die Weiber von welchen alfo wohl bie Unruhen audgingen nicht gewahrt”. Auf junge Leute αἱ Urheber oder Hauptbe, tbeiligte des Aufftandes weist auch ihre Zeichnung c. 21 bim.

454 Brit,

grüßt: Πολύκαρπος καὶ οἱ σὺν αὐτῷ πρεσβύτεροι ...... Daß Elemens den damaligen Bischof von Korinth an feiner Stelle feines Briefes befonders ermähnt, findet feine hin- reichende Erflärung darin, daß dazu nirgendwo eine Veran⸗ laſſung vorliegt. Wie ber Verfaſſer principielf bie Auftorität des Amtes vertheidigt, jo ermahnt er aud) allgemein zur Unterwürfigfeit unter die rechtmäßigen firdjfidjen Amts⸗ träger P). Auf einzelne Anordnungen zur Beilegung ber forinthifchen Wirren geht er nicht ein. G6 bedarf daher ber aud) nod) von Döllinger (a. a. Ὁ. €. 314) gemachten Vermuthung nicht, daß ber Biſchof von Korinth damals gerade geftorben fel, und in Folge deffen ober gar fpeciell um bie Wieberbefegung des bifchöflichen Amtes bie Streitig: leiten entftanden feien. ^ In diefem alle hätte Clemens erft recht nicht zwar vom damaligen Biſchof von Korinth, aber vom Bifchofsamte in Korinth und von feiner Wieder: befegung im Einzelnen fprechen müſſen ?).

1) €$ bejtebt in diefer Hinficht ein großer Unterfchieb zwiſchen dem Glemen&brief und den ignatianijdjen Briefen. Der officielle Glemenàbrief, ber grundfäglichen Begründung ber apoftolifch-göttli- chen Auftorität des firchlicden Amtes gemidmet, macht den Episkopat nur der Sache nad) geltend, unb ber Berfafler fpricht, wie er einer principiellen Bekämpfung des kirchlichen Amtes in feiner rechtmäßigen Fortpflanzung und feinen rechtmäßigen Trägern gegenüberfteht, aud) nr allgemein von ben Firchlichen Vorftehern oder den Presbytern. Die ignatianifchen Briefe dagegen bewegen fich, ihrem Charakter ald Gelegenheitsfchriften entiprechend, immter wieder um die Ermahnung, bem Einen ἐπέσκοπος fid) feit anzufchließen, um durch ihn, ben Mit: telpunet ber Firchlichen Einheit, mit der rechtgläubigen Kirche ver: bunden und vor ber immer mehr um fich greifenden Härefie bewahrt zu bleiben.

1) Auch beim Briefe be8 Polyfarp an bie Philipper bedarf ἐδ ber Bermuthung einer augenblidlichen Sebisvacanz nicht, um ber Behauptung entgegenzutreten, baB zur Seit feiner Abfaffung in

litjprung des Epiflopat3 nach bent Briefe des Clemens ꝛc. 455

3. Der Episkopat des Llemens,

Wir glauben Hinfänglich nachgewiefen zu haben, daß Hegefipp und Irenäus nicht, wie Lipfius meint, die An» Ihauungen ihrer Zeit in eine frühere getragen haben, wenn fie den Clemens als Bifchof betrachten. Nicht einmal das Ichließt der Glemenébrief an fid) aus, daß zur Zeit feiner Abfaſſung aud) in 9tom und Korinth die Benennung ἐπέ- σχοπος ſchon ausſchließlich dem eigentlichen Biſchof zukam. Wir wollen nicht behaupten, daß damals aud) im Abend⸗ land fchon die ftrenge Scheidung des ἐπίσκοπος von ben πρεσβύτεροι bem Namen nad) übíid) war, mie wir dies aus den ignatiani[djen Briefen in Bezug auf Syrien und Kleinafien erfahren, nur ber Clemensbrief ſchließt dies feiner eigenthümlichen Anlage nad) nicht aus.

Hegeſipp und Irenäus Haben fid) aber deshalb für Clemens und feinen Brief an die Korinthier befonberé interejfivt , weil derſelbe ein officielles Schreiben ber römi- hen Kirche und ihres Bifchofe ift, für deren Primat ber

—r

Philippi Kein Biſchof geweſen ſei, wie ned) Zahn (Ignatius ven Antiochien S. 217) behauptet. Daß Polykarpus blos die Presbyter und Diakonen (e. 4), nicht auch ſpeciell den Biſchof, ermahnt, iſt leicht verſtändlich, wenn man nur beachtet, daß eben durch den Biſchof der Brief den Philippern übermittelt wurde, ohne daß er jedoch wie der Brief des Ignatius an Polykarp ſpeciell an den Biſchof gerichtet war. Daß aber Polykarp namentlich die jüngeren Seule ermahnt, den Presbytern und Diakonen wie Gott unb Chriſtus zu gehorchen (c. 5), rührt wohl daher, daß das Anſehen jener durch die Veruntreuungen des Presbyters Valens (c. 11 vgl. 4) beſonders erſchüttert ſchien, das Anſehen dieſer aber namentlich bei jüngeren Leuten leichter außer Acht gelaſſen wurde. Legt ja auch Ignatius beſonderen Nachdruck auf das Anſehen der Diakonen (ad Magn. 2. ad Trall. 2 f.

456 Brüll,

Brief ein hervorragendes faktiſches Zeugniß iſt. Man hat in dieſer Hinſicht ſeit jeher darauf hingewieſen, daß die Korinthier fid) ἐπ ihrer Angelegenheit gerade nah Rom wand- ten, und zwar zur Zeit, wo in Kleinaſien noch der Apoſtel Johannes lebte. Nur verſtärkt wird das in dieſer That—⸗ ſache geſuchte Argument für den Primat der römiſchen Kirche und ihres Biſchofs dadurch, daß nach dem Eingang des Briefes (c. 1 vgl. 47) die römiſche Kirche ſich viel- mehr aus eigenem Antrieb der Forinthifchen Angelegenheiten annahm und die geradezu für ihre Pflicht απα ἢ. Nur durch bie bomitianijdje Verfolgung wurde fie leider ver hindert, die nod) immer fortdauernden Wirren (c. 46), welche immer Aergerniß verurjadjten (c. 47), gleich im Anfang burd) ihren Einfluß zu erftiden. Man reicht daher bier nicht mit der Erklärung aus, daß die römifche Kirche ber politifchen Stellung Roms diefen ihren Einfluß vet. danfe. Warum follte fie daun im eigener DBedrängniß, unter politifchem Drud, es für eine dringende Pflicht gt halten haben, fo bald als möglich fremde Angelegenheiten zu fchlichten? Dieſe Thatſache findet mur in der anderen durch den Gíemenébri[ (e. 5 f.) ?) bezeugten Thatſache

1) vgl. c. 1: βράδιον νομίζομεν ἐπιστροφὴν πεποιηκέναι περὶ τῶν ἐπιζητου μένων παρ᾽ ὑμῖν (nicht περὶ τῶν ἐξητουμένων ὑφ᾽ ὑμῶν) πραγ- μάτων. Weiß a.a. Ὁ. Sp. 781 überjegt: auf bie bei euch berrfchen- den Streitigfeiten.

2) Ueber bie bezügliche Beweiskraft biefer Stelle bemerkt iL genfeld (Zeitichr. f. tv. Theol. 1872 ©. 354) mit Mangold (Römer: brief €. 156) gegen Baur und Lipfius: ,G(emen8 bat ja aus drüdlich angegeben, daß er Beifpiele von folcden anführen will, bie um Eiferd und Steibe8 willen bi8 zum Tode fonumen; in Berbin- bung mit ἕως Javarov 74dor (vollends ἔπαϑον) fann μιαρευρήσας nidt8 anderes als den SRartertob bezeichnen .... Wo nun Petrus ben Martertod erlitten bat, ἔξ nicht ausdrücklich gejagt ; aber was

Urfprung be8 Epiflopats nach bem Briefe des Clemens ꝛc. 457

ihre Erklärung, daß Petrus und Paulus burd) ihren Mlarter- tob in 9tom ber römischen Kirche und ihrem Biſchof bleibend ihren Vorang binterließen. Allerdings entſprach faktiſch diefer kirchliche Vorrang Roms feiner politiihen Stadt: ſtellung, wie ſchon Ignatius von Antiochien, welcher aud) die Beziehung ber Apoftel Petrus und Paulus zur römischen Kirche fennt (vgl. ad Rom. 4) in der Ueberſchrift feines Nömerbriefes nadjbrüd(id) betont: 7/746 xoi προκαϑηται iv τύπῳ χωρίου Ῥωμαίων b. ἢ. welche aud) den Vorfig führt an dem Orte des Gebietes der Römer, welche ift die Weltkirche in ber MWelthanptftadt ἢ. Sie führt beu Vorfig der Qiebe, wie Ignatins in der Ueberſchrift deffelben Briefes hervorhebt : xoi προκαϑημένη τῆς ἀγάπης b. ἢ. fie fteht amtlih (vgl. ad Magn. 6) der Liebe vor, welde alle Kirchen in ihrem Wohl und Wehe untereinander verbinden fol. Bittet daher Ignatius in feinen übrigen Briefen, daß bie einzelnen Kirchen für bie vermwaiste unb: verfolgte Kirche in Antiochien beten und diefelbe mad) Aufhörung ber Verfolgung durch Gefandte beglückwünſchen jolfem, fo fagt er bon der römischen Kirche, daB ihre Liebe num bie ber» waiste Kirche von Antiochien an Etelle ihres zum Marter- tob nad) Rom abgeführten Biſchofs regieren werde: μόνος αὑτὴν Ἰησοῦς Χριστὸς ἐπισκοπήσει, xal καὶ ὑμῶν ἀγάπη (ad Rom. 9). Es fanıı demnad bei dem προκαϑημένη τῆς ἀγάπης nicht ausfchließlich an den [djou von Dionyfius von Korinth (bei Eus. ἢ. e. 4, 23) gerühmten Wohlthä« tigfeitsfinn der römiſchen Kirche gedacht werden, vielmehr

liegt näher, alà an Rom zu denken, wo Paulus jedenfalls Märtyrer getootben tjt, und wohin und bie gleich folgenden Beifpiele chriftli- der Märtyrer in der Neronischen Chriftenverfolgung führen ?^

- 1) vgl. ifgenfelb a. a. Ὁ. ©. 190 Anm,

458 Brüll,

ijt bor allem ber Clemensbrief ein Ausfluß ihrer ober⸗ bifchöflichen Stellung über alle Kirchen, kraft welcher fie der Liebe vorfteht !). Daher erklärt e& jid), bag Clemens fo zu den Korinthiern fpricht, al8 wäre er ihr eigener Biſchof (e. 39. 56) 3. Daher erklärt jid) fermer die allgemeine Iehrhafte Haltung des ganzen Briefes und be jouber& die principielle Haltung der eigentlichen Argumen— tation deſſelben 9). Es fehlt beim Clemensbrief ganz die individuelle Veranlaffüng, wie wir fie bei den Briefen δε Ignatius und Bolyfarpus jo deutlich nod) durchſchanen; gab fier der berühmte Name der Verfaffer den Briefen Dafein und Bedeutung, fo verdankt der Name des Clemens feinen Ruhm einzig dem Briefe, welder ein fo hervorragendes Zeugniß für den Primat der römischen Kirdye und ihres damaligen Biſchofs Clemens ijt. Daß mam bieje Bedeutung des Gfemenébriefe8 von Anfang an erfannt und gewürdigt hat, dafür ijt die Stelle Vis. II, 4 im Hirt des Hermas vor allem ein unmiderlegliche® Zeugniß; eine Stelle, welche, wie fie eine der Barften in diefem dunfeln Buche ift, fo auch bejonber8 geeignet erjcheint, Licht über daſſelbe zu verbreiten.

Hermas kennt die beiden Aeınter der Episfopen und Diafonen (Sim. IX, 26. 27 vgl. Vis. III, 5), welde Clemens, deffen Zeitgenofje er fein will, in feinem Briefe an die Korinthier (c. 42) nennt. Sonft fpridt er all

1) vgl. Ign. ad Rom. 3: ἄλλους ἐδιδάξατε.

2) vgl. Hilgenfeld Prolegg. p. XXXI unb XXXV.

8) vgl. Hagemann, Die Römiſche Kirche S. 685. „Waß τάς lide Ordnung und Regel εἰ, ift hier in einer Art und Weije aud: geiprochen, welche faum etwas von ber gejeglichen tyorm vermiſſen läßt".

Uriprung be8 Epiſkopats nach dem Briefe be8 Clemens ꝛc. 459

gemein von bem προηγούμενοι τῆς ἐκκλησίας Vis. II, 2; IIT, 9) ober den πρεσβύτεροι οἱ προΐσταμενοι τῆς ἐκκλη- σίας (Vis. II, 4 vgl. 3). Wir geben gern zu, daß an diefen Stelien im Allgemeinen eben die Presbpter Epi⸗ ffopen gemeint jind, obgleich nicht überſehen werden darf, daß nach Vis. II, 4 Hermas ben Presbyter = Epislopen und Diakonen ber römifchen Kirche feine Offenbarung verfünden foll, wie dies wohl burd) die Bemerkung bezüglich ber Grapte hier aufer Zweifel geftelit wird. Daß aber unter den Presbyter = Episkopen der römiſchen Kirche, welche Hernias zunächſt im Auge hat, Clemens die Stelle be8 Biſchofs einnahm, bezeugt die Stelle Vis. II, 4 beftimmt. Dies geht Schon daraus hervor, daß ἐδ ihm obliegt, den Verkehr mit den auswärtigen Städten zu führen. Es find aber feine beliebigen Städte, am weldje hier zu denken ift, fondern, ba Hermas an diefer Stelle ben Brief des Clemens an bie Korinthier im Auge hat, fo ijt an bie Hauptkirchen der Chriftenheit, wie deren Korinth eine ijt, zu denken. Beadhtet man nun, daß Hermas feine von „der Kirche“ empfangene Offenbarung für die ganze Kirche beftimmt willen will, fo können mir in dem auf Clemens bezüglichen ἐκείνῳ γὰρ ἐπιγέγραπται nur einen prägnanten Hinweis anf die oberbijd)ojlid)e Stellung des Biſchofs der römischen Kirche auf Grund des Clemensbriefes erfennen. Tiefe Auf: faffung der befprochenen Stelle gibt auch die befte Aufflä- rung der wiederholt im Hirt des Hermas berührten Strei— tigfeiten der Presbypter um die erjte Kathedra (Vis. III, 9) oder περὶ πρωτειῶν καὶ περὶ δόξης τινὸς (Sim. VIII, 7). Man ſpricht Hier immer von einer Bekämpfung des cute ſtehenden Episfopats feitens des Hermas; aber in biejem Falle würde er fid) bodj nicht gegen die Presbpter in der

460 Brül,

Mehrheit, fondern’in der Art, wie er Mand. XI gegen den gnoftifchen Propheten auf ber erften Kathedra polemifirt ἢ), gegen den Einen wenden, weldyer den Bifchof zu fpielen judjt. Wir glauben, die gedachten Anspielungen find gegen die Mitglieder des römiſchen Clerus gerichtet, welche ben aufleimenden montaniftifchen Ideen, denen Hermas bei aller Gejpanntfeit feiner efchatologifchen Erwartungen bod) prin- eipiell überall entgegentritt 3), günftiger waren, al8 c8 fid mit ben Grunbjágen des römiſchen Bifchofs vertrug. Es find gläubige und gute Männer, welche aber im ihrem Eifer zu, weit gehen unb dadurch ber Ehrſucht, des Strebens nad) dem Primat, verdächtig erfcheinen. Daher Sollen fie, anftatt übermäßige fittliche Forderungen zu ftellen, fid) felbit zunächſt von diefem Streben nad) Einfluß reinigen und Frieden untereinander halten. Nur in Einigkeit unterein- ander (und mit dem erften Bifchof) werden ihre Neform- verfuche heilbringend fein, fonft ftatt Heilmittel Gift. Der SSerfajfer (teft bem römiſchen 3Bijdjof nahe, menn aud) feine vor allem auf bie Presbyter ber römischen Kirche berechnete Schrift, welcher er durch den Namen bes Clemens officiellen Charakter vindiciren will, nur eine Privatarbeit üt. Viel⸗ leicht gewinnt von diefer Seite her auch die bekannte Nad- ridjt des muratorijdjem $yragment8, mouad) Hermas, ber Bruder des römischen Biſchofs Pius, ber Verfafjer des Hirten ift, nicht wenig an Glaubwürdigkeit. Der Name

.l) vgl. Lipfius, „der Hirt des Hermas und ber Montanidmus in Rom“ in Zeitjchr. f. to. Theol. 1865 und 1866.

2) vgl. Lipfius in Beitfchr. f. w. Theol. 1866. S. 71 if. An ben Biſchof fann Mand. XI fchon deshalb nicht gedacht werben, weil bod) von ibm nicht gejagt werben fónnte, daß er fid) gefliffent: [i aus den Gemeinbeverfammlungen zurückzieht.

Urfprung des Cpijfopat8 nad) bent Briefe be8 Clemens 2c. 461

des wirklichen Verfaſſers war ja, wenn er auch nicht etwa ber apoftolifche Hermas (vgl. Röm. 16, 14) fein will, ſchon burd) bie Zurückdatirung feiner Schrift in bie Zeit des Clemens Hinlänglich verdeckt.

Wenn aber jdon um bie Mitte des zweiten Jahr⸗ hunderts ber Glemenébrief, wie der Hirt des Hermas beweist, al8 ein jo hervorragendes Zeugniß für den Primat ber römischen Kirche und ihres Biſchofs angefehen wurde, fo war auch ber römische Bifchof Clemens die geeignetjte Perſon, um in der pfeubocfementinijdjen Literatur der Tendenz zu dienen, den von Petrus burdj das urfprüngliche Kerygma Petri auf Jakobus übertragenen Primat von Rom nad Antiochien zu verpfíangen. Man hat fo viel, und zwar meijt auf ganz untergeordnete Gründe hin, für und wider geitritten, ob der pjeubocfementinijd)e Brief des Klemens an Jakobus urfprünglich zu den Homilien ober zu ben Re— tognitionen gehört habe. Man hätte zunächft bie tiefe Kluft in Betracht ziehen follen, wodurch der Brief des Clemens an Jakobus ſachlich von der Erzählung der Homilien und Rekognitionen gejchieden ijt. Trägt der Clemens ber Ho- milien und Relognitionen ganz den Charakter des befannten Confulars Titus Flavius Clemens an fid, fo erfdjint Glemen$ in dem pfendoclementinifchen Briefe an Syafobus plöglich als Bifchof von Rom. Zwar mußte Clemens nad) der Rolle, welche er als Hauptfchüler und nächfter Begleiter des Petrus in den Homilien unb Rekognitionen fpielt, ſchließ⸗ (id der endgültige Nachfolger des Petrus als Biſchof werden; aber an Rom folite man dabei am allerwenigjten benfen.. Jit doch ber jüfe und umvermittelte llebergang aus dem Orient in den Occident, von Antiochien nad) Rom, wie er durch bie Voranftellung des Briefes des —— an

Xyeol, Quartalſchrift. 1876. d 111. 30

462 STAR,

Jakobus vor die Homilien oder Rekognitionen vollzogen wurde, in der Fortführung ber Erzählinig biejer nad) jenem Briefe in der pjeubocfementinijdjen Epitome (c. 144) nod) deutlih erfennbar. Hier burdjmanbert Petrus mit Glemene einfad) Städte und Gegenden, um wie burd) einen Feder: trih von Antiohien nad) Rom verfeßt zu werden. Xudj nachdem die Eltern be8 Clemens auf Befehl des Kaifers ganz angemeffen burd) bie Epitome (c. 143) nad) Rom jt rüdgebradjt find , verraten Petrus unb Gíemené zunächſt noch gar feine Neigung dazu, wenn aud) fofort mad) beue [εἴθε c. 144 die Romreiſe derfelben ganz unvermittelt [ὦ vollzieht. Sollen wir barnad) etwa, wie die Tübinger Schule faftijd) von diefer Annahme ausgegangen ijt, ans nehmen, daß burd) den Brief des Clemens an Jakobus der Eonfular J. Flavius Clemens tendenziös zum Bifchof von Rom erhoben werden fol? Aber ift e8 (don gar nid wahricheinlich, daß ber Gonjular, der jid) wohl recht gut zur Ausfhmücung des wahren Apoftelfchülers Clemens oer werthen ließ, ber urjprüngliche Held der Pſeudoclementinen (ti, fo ift weiter bei jener Annahme nicht zu begreifen, warum die eigentliche Erzählung der Homilien ober Nelognitionen nicht bis Rom fortgefetst wurde, fondern dies durd bie loſe Verbindung des vorangeftellten Briefes geſchieht. Wohl aber begreifen wir diefe Thatfache und die große Kluft, melde zwifchen biejem Briefe und ber eigentlichen Erzählung befteht, wenn wir beachten, daß der Brief des Klemens an Syakobus nach ber Weberfchrift dejfelben ebenfo wie der dem urfprüng- lichen Kerygma Betri "oorangeftellte Brief des Petrus an Jakobus der Tendenz dienen joíf, den Primat des Petrus auf Jakobus (τῷ xvoiq καὶ ἐπισκόπῳ τῆς αγίας ἐκχκχλη- σίας und τῷ κυρίῳ καὶ ἐπισκόπων ἐπεισκύσεῳ) und fpeciell

Urſprung be$ Epiſtopats nach dem Briefe des Clemens 2c. 463

burd) bie clementinifche Ueberarbeitung des Kerygma Petri von Rom mad) Antiohien, der Erbin des Episfopats des Jakobus zu Jeruſalem, zu übertragen. Wird ja aud) in bem Brief des Clemens an Jakobus (c. 1) fo recht nebenher bemerft, daß Petrus, der nad) den Pſeudoclementinen ganz bem Orient angehört, bis hier nad) Rom gefommen ift. Man wird nun freilich die früheren Andeutungen auf Rom, wie fie namentlich in den drei erften Büchern der Recog⸗ nitionen jich finden, betonen; allein aud) ba bleibt es eben bei Andeutungen auf Rom, wohin Petrus wohl Tommen ol, ohne jemals dahin zu gelangen. Während nad) der ums vorliegenden clementinijchen Bearbeitung des Kerygma Petri allerdings fchon gleich bei der Ankunft des Clemens von Rom in Cäfaren bei Petrus von Rom ale letztem Reife- jiel Rebe ijt (Rec. I, 13 vgl. Hom. I, 16), feheint ur- ſprünglich, wenn anders aus den drei erften Büchern der Recognitionen nach der nunmehr allgemeinen Annahme das urſprüngliche Kerygma Petri am beften zu erkennen ift, erit von dem Punkte an von Rom als Reiſeziel die Rede gewefen zu fein, wo der Magier Simon als Repräfentant des Gnoſticismus an die Stelle be8 Paulus al8 inimicus homo tritt (Rec. I, 74) !). Gerabe biejen Simon-Paulus mum will bie Erzählung der Necognitionen durchaus nad) nah Rom bringen (Rec. III, 63. 64.). Wenn Simon, der gleich Paulus den Heiden und der Stadt der Heiden angehört, doch nicht dahin gelangen Tann, [o rührt das nur daher, weil Petrus, ber dem auserwählten Volke, ben Juden» Hriften, aunüdjjt predigen muß (Rec. III, 65 vgl. 69. 74)

1) vgl. Hilgenfeld in Zeitſchr. f. tv. Theol. 1868 ©. 380; „Rom als Reifeziel gehört lediglich den Auftritten in Gájarea an". 30 *

464 Brüll, Urſprung bes Episkopats nach bem Briefe bes Clemens ἐς.

ihm dahin nicht folgen kann. Wir wollen Bier nicht unter: fuchen, ob das ur[prüngfidje ferpgma Petri diefen zur Be- fümpfung des Paulus nad) Rom geführt hat. Eine Tendenz hat in diefer Hinficht ficherlih nicht, wie bejonber& Baur und Lipfius behauptet haben, obgewaltet, da nad) dem Briefe des Petrus an Jakobus auch dem urfprünglichen Kerygma Petri fchon die Tendenz zu Grunde lag, den Primat des Petrus auf Jakobus zu übertragen. Nach der pſeudocle⸗ mentinijden Literatur gehört Paulus nah Nom und wird Simon Magus durch diefen dahin verſetzt; Petrus aber gehört nad) Jeruſalem und Antiochien, wo feine Kathebra fteht (Rec. X, 71 vgl. 68 und IV, 15). Darin findet e$ auch feine Erklärung, daß ber Brief des Clemens an Jakobus (c. 19) ben Tod des Petrus zu berichten verfpridt, ' während die Homilien und 9tefognitionen die Erzählung gar nit bis zum Tod des Petrus fortführen. Freilich follte ber Tod be8 Petrus in Nom der Wahrheit gemäß nicht be richtet werden ; daher wird möglichft darüber gefchiwiegen. . Diefe wenigen Andeutungen mögen zeigen, bag in ber pfeude- clementinischen Literatur zwar der DVerfuc gemacht worden ift, die Berfon und den Primat des Clemens von Rom ale Nachfolgerö des Petrus möglichſt zu verdunkeln, daß dieje Literatur aber dennoch wider Willen Zeugniß für ben be rühmten Clemens von Rom geben muß.

P Mittheilungen über und aus adt ſyriſchen Reden des

dl. Jakob von Sarug Biſchofs von Batna in Meſo— yotamien über das Leiden Chrifti ober feine Kreuzigung.

Bon ἢ. Pius Zingerle.

Safob von Sarug ift betanntfid) der bebeutenbfte und angefehenfte fyrifche Kirchenvater nad) Ephräm. Mehreres bier über ihn unb feine zahlreichen Schriften zu bemerken, iheint mir überffüjfig, da die Freunde ber fyr. Literatur ohne Zweifel die fleißige unb fehr belehrende Schrift von 905. B. Abbeloos „de Vita et Scriptis S. Jacobi Batnarum Sarug: in Mesopotamia Episcopi disser- tatio etc.“ fennen, unb aud) im Conspectus Rei Syro- rum Literariae von Dr. Guftav 33idel über ihn und feine Schriften Aufllärung finden. Erwähnung verdient ferner auch die Abhandlung: Saint Jacques de Sarug par Thomas Jos. Lamy, Extrait de la Revue catho- lique. Louvain“. Erwähnt werden mag in Bezug auf die Lehre des großen Mannes, baf er eine Weile im Verdachte be& Mouophnfitismus war, wovon er aber von mehreren Gelehrten ganz gereinigt unb feine Orthodorie anerkannt und vertheidigt wurde.

466 9Rittbeilungen über unb aus acht fyrifchen Reben

Nach biejer SBorbemerfung glaube id) nun füglid an die Mittheilungen aus ben umb über bie 8 Reden gehen zu dürfen. Sieben derfelben jchrieb id) aus bem febr großen Baticanifchen Coder 117 ab; bie Ste entnahm ich einem ſyr. Gober be$ Museum Borgianum in der Propaganda. " Diefelbe handelt aber nidjt vom Leiden Chrifti, fondern ijt eine SBertfeibiguug feiner yottmenfchlichen Perſon gegen bit Juden und Θποί εν. Sie findet fid) audj im Cod. Vatican. 118. Die Reden find übrigens im zwölfjylbigen Metrum verfaßt, dns bekanntlich fein Lieblingsmetrum war.

An der 1. Rede wird Ehriftus mit Bezug auf I. Mof. 49, 9 al8 „der junge Löwe von Juda“ in feiner Geduld und Sanftmuth bei allen Unbilden dargeftellt, [εἰπὲ Gottheit verbergend, die Meenfchheit allen Leiden preisgebend. Nachweis, mie die Weiffagungen ber Bropheten und bie Vor- bilder des Alt. 39. an ihm in Erfüllung gingen. Aufruf an die Propheten zu fommen und zu fchauen, wie c8 geſchah; 3. B. „Komm', Jeſais unb fie) das Lamm der Gottheit, wie es geopfert ijt, gemorbet, an'$ Kreuz gehängt und mit feinem Blute befleckt! Zacharias, δ.) empor und ſchau in [εἰπε Händen Zadar. XIII, 6) bie Wundenmale alle! David, fein Vater, fomm’ und betrachte ihn auf Gofgatfa, wie fie feine Füße durchbohrten und ihm G[fig gaben u. f. w. Eine wahrhaft bidjterijdje Wendung diefer Aufruf an David und bie Propheten. ϑὲα Darftellung der Leiden des (ὅτ: löfer8 wird die Trauer der ganzen Schöpfung darüber ge: jhildert, wieder auf febeubige Weife: „die Schöpfung ward verwirrt über c8 Sohnes Sob, erbebte, entjete jid), der Döfe heulte auf, die Hölle ward erjdjüttert, ber Tod vet. nichtet. Die Leuchten wurden verfinftert, verbargen ihre Strahlen, gerietben in Beftürzung 1. f. m." Erfcheinungen

bes bi. Jakobs von Sarug. 467

und Wunder bei und nad bem obe Jeſu, feine Hinab- fahrt in die Unterwelt, Eindruck derfelben auf die Geijter ber Hingefchiedenen. Die Rede bewegt fid) dann weiter in Gegenfägen zwifchen der göttlichen unb menfchlidien Natur des Heilandes, 3. B. „Nackt gelajjen ward, ber bie Lilien fítibet; Effig tranf, der mit feinen Fluten reichlich den Erd» frei tränkt. Geöffnet ijt die Seite deffen, der bem Mofes da8 Meer eröffnete, und eine Dornenkrone umringt Syenen, welcher ber Sonne das Licht bereitete u. ſ. f.“ Diefe Anti- thefen ziehen jid) die ganze übrige Rede hindurch, durchaus ortbobor bie göttliche und menjcdliche Natur des Heilandes in feinem Leiden fefthaltend. So weit über den Inhalt und Charakter der erſten diefer acht Reden. Sie enthält 163 zwölffylbige Verſe.

In der 2ten Rede wird Chriſtus a[8 ber gute Hirt eingeführt und der Verfaſſer richtet im (Gingange folgende Bitte an ihn: „O Hirt, ber fid) felbft zum-Xode für bie Schafe Hingab, möge burd) ba8 Leiden deines Todes mein Geiſt ergfühen, dir lobfingen! Chriftus, höchfter der Hirten, der zum Opfer ward, möge burdj deine lebenvolle Ermor- dung meine Zunge bereichert werden, zu verherrlichen!“ Der Redner bittet dann den Herrn, von feiner Herde alle Grü- beleien und Streitigkeiten fern zu halten und die Kirche im drieden zu bewahren. Hierauf wendet er fid) am diefelbe jelbft und ermahnt fie, in Forfchungen fid) nicht einzulafjen. Flucht ber Jünger, Verrätherei des Judas aus Habfucht, Gefangennehmung Jeſu, feine freiwillige Hingabe zum Leiden. deber die Furcht der Jünger fagt er: „Es drängte jie bie Furcht vor dem Tode und die Liebe zu Jeſus. So jtanden fie zwifchen Schredten in tiefem Leidwefen. Die Liebe zum Sohne Gottes hielt fie feft, ihn nicht zu verlaffen; dagegen

468 Mittheilungen über unb aus acht ſhyriſchen Reben

trieb fie die SLobeéfurdjt an, fid) zu entfernen“. Diefer Gedanke wird weitläufig ausgeführt, und fo kann man bie Darftellung diefer Scene al8 den Hauptitoff der 2ten Rede anfehen. Der Glaube wird redend eingeführt, wie er den Apofteln zu fliehen räth: „Entfernt euch, (apt ihn alfein den Weg zum Tode wandeln ! Er will nicht in eurer Be⸗ gleitung dem Mord entgegengehen ; und zürmt nicht, wenn ihr vor den Krenzigern flieht. Er verlangt nicht euren Beiftand, bap ihr mit ifm fterbet. Wenn er aber auf: erftanden ift, dann macht euch aufs Leiden gefaßt u. ſ. m. l^ In diefem Tode zieht fid) bie Rede des Glaubens weiter ' fort. Chriftus allein erlöst bie Welt durch feinen Tod imb fein Blut. Er ijt der Hirt, welcher für feine Schafe das Leben Hingibt ; durch ihm wird das, Menfchengefchlecht ans dem Staub erwedt. Nach biefer langen Rede des Glaubens werben die Zuhörer ermahnt, die Apoftel nicht zu tadeln, daß fie geflohen. Aa, der Prophet Zacharias wird in θὲ: geifterter Rede wieder eingeführt, wie er bie Apoftel ermahnt, fid zu entfernen, indem er rief: „Schlage den Hirten unb bie Schafe werden fid) zerftreuen;“ (Zadar. XII, 7). Die Zuhörer werden dann zu fortgejegter Aufmerkſamkeit aufge, fordert. Alles Irdiſche vergefiend follen fie nur an Sen Leiden denken, wodurd Tod und Hölle befiegt wurden. Der Zod war von nun an nicht mehr zu fürchten, und fo gingen fie. ihm freudig entgegen. Legende, daß ber hl. Petrus ab. wärts gelehrt gefreugigt worden fe. Schluß mit Wieber- holung des Gedankens. Die Apoftel feien ihrer Flucht wegen zu entichuldigen; bie Welt zu erlöfen fei nur das Wert Chrifti gewefen.

Die dritte Nede Teidet an ungebüßeticher Länge umd Weitfehweifigkeit. Sie handelt von der Verläugnnng umb

des bi. Jakobs von Gatug. 469

Buße des Bf. Petrus, unb kann daher mit der 14tem (ὅτε mahnung Ephräms zur Buße zufammengeftellt werden, worin ebenfalls ber büßende Apoftel dargeftellt wird, wie bie Buße ihn ergriff, tröftete unb er feiner Reue Ausdruck verlieh. Der Inhalt des breiten Geredes füft fid) in folgende Punkte zerlegen: 1. Bitte um bie Gnade, würbig über ben Gegen» ftand zu fprechen, was nur im Geiſte ber Liebe gefchehen lünne; 2. von ber Liebe Gottes, daß er feinen Sohn für und bingegeben. Mit Liebe foll auch ber Menfch ihm nahen; 3. Jeſus fitt aus Liebe zu den Menſchen. Erit mit Punkt 4 beginnt die Betrachtung über die Verläugnung Petri, im Vergleiche zur Liebe des Herrn; 5. Chriſtus litt allein und verlaffen ; des Apoftel® Furcht unb inneres Leiden ; 6. Anlaß zur Verläugnung, Darftellung der Begebenheit; Verblendung des Apofteld; 7. Verfuch, ihn einiger Maßen zu entfchuldigen, Fortfekung ber Gejdjidgte, Widerfpruc im Betragen be8 Apoftelfürften; 8. Wiederholt von ber großen Liebe bes Heilands und von der Furcht Petri [don von ber Werne; 9. Belehrung des Apoftels burd) den Blick Jeſu; fein Schmerz über das DVerläugnen be8 Herrn; Deutung des beredten Blickes Ehrifti; 10. Die Verlägnung war nicht vorberbeftimmt, fonberm freie That; über das Weinen de8 Petrus. 11. Monolog; Selbſtanklage des Apoftels. Reuige Apoftrophe an andere Apoftel zur Theilnahme; 12. Unentfchloffenheit des Df. Petrus. Er wirb burd) die Gnade getröftet und zur Buße ermahnt; 13. Gebet bes Apoftels um BVerföhnung; 14. Petrus ein Vorbild wahrer Büßer; 15. Aufmunterung,, feinem Beifpiele zu folgen. Vorzüge des Df. Petrus; 16. Lob der Buße; 17. Wiederholung des Charakters des Apoftels ; 18. endlich eine Ermahnung an die Zuhörer, ihm nachzufolgen.

*

470 Mittbeilungen über unb aus acht ſhriſchen Reben

Nach diefer genauen Inhaltsangabe genügt es wohl, al8 Probe nur Eine Stelle mitzutheilen. Dazu mag bit Stelle Nr. 9 über die Bedeutung des beredten Blickes Chrifti auf Petrus binreihen. Sie lautet: Nachdem er aber bie Berläugnung vollbracht hatte, blickte der Herr ihn an. Da fam er zur Befinnung, und fein Herz entfeßte fid) über feinen Frevel. Der Hahn frübte und Simon εἴν innerte fid) an ba8 Wort des Sohnes ). Da ergriff ihn Schmerz iiber das, was er befinnungslos gethan. Er warf einen Blick auf fich, mie er vom der Höhe ber Apoftel- würde berabgeftraucdelt unb in bie tiefe Grube der üge ge: » fallen fei. Er verachtete nun Sich felbft, weil er anftatt wie ein Jünger Liebe zu bemeifen zum fchänblichen Stande der Berläugnung fid) erniedrigt hatte. Die Vieberlegung trat ein und jaß zu Gericht über ihn, unb von feinen eigenen Gedanken ward er wie mit Stöden gefchlagen. Er ſchämte fid) vor fid) jelbft unb brauchte feine andere Zurechtweiſung mehr. Bon fid) felbft fühlte er fid) gerichtet. Unfer Herr blickte auf ihm unb richtete weile fchmweigend ihn ohne ein Wort. Der Blick des Herrn war voll Sinn und Wahrheit und zeigte ftifí wie durch Worte dem Haupte ber Jünger [εἶπε Ctrafmiürbigfeit. Er bfidte auf Simon und fprad gleihfam zu ihm: Warum, o Simon, verläugneit du mid zur Zeit bes Leidens? O Freund, wo ift wohl die deiner Apojtelmürde geziemende Liebe? u. f. m.

Den Stoff ber Aten Rede bildet ber Nachweis, mit an ber Berfon Jeſu die Weiffagungen des Alten Bundes in Erfüllung gingen. Sie lüßt fid) in folgende zehn Punlte

zerlegen: *

1) παῖδ. XXVI, 34. Wahrlich ich fage dir: In biejer 9tadjt wirft du, ehe ber Hahn frübt, mich dreimal verläugnen.

des Bí. Yalobs von Garug. . 471

1. Ausdrud des Schmerzgefühle der Kirche, deren Repräfentanten bie Apoftel find, bei bem Leiden des Erlöfers.

2. Sie beruft die Propheten des Alten Bundes um Belehrung über ihre Weiffagungen vom Meſſias.

3. Die Propheten treten auf und zwar zuerft

4. Zacharias und David, ihre prophetifchen Stellen anführend, bie dann vor den Augen ber Kirche in Erfüllung gehen;

5. wird Jeſaias als Führer der Kirche aufgeführt. Stellen aus ihm.

6. Die Kirche wendet fid) an David, fie nad) Golgatha zu führen, um die Erfüllung feiner Weiffagungen über Jeſu— Xeiden und Tod gf fehen.

7. Davids Ermwiderung.

8. Ermahnung an die Zuhörer.

9, Ehrifti Leiden auf Golgatha nad) Davids Worten, Die Kirche ruft wieder den Prophet Zacharias herbei, über die Wunden Cyefu befehrt zu werben.

10. Erfüllung ber Weiffagungen beim Tode des Er- löſers.

So hat die ganze Rede lebendige dramatiſche Haltung. Es lohnt ſich der Mühe, Einiges daraus mitzutheilen. „Betroffen über das Leiden des Herrn war die Kirche nahe daran, zu zweifeln, ob er wohl ihr wahrer Verlobter ſei. Sie berief daher die Propheten, um von ihnen über den Erlöſer belehrt zu werden, wie fie nämlich in ihren Offen— barungen feine Ankunft verfündeten. „Kommt, erflärt mir, 0 Verkünder der verborgenen Dinge, ob ihr gefchrieben habt, daß ber Bräutigam fterben werde, wenn er mich erlöft. Deffnet eure Schakfammern und bringt bie Schätze eurer Erklärungen hervor und berichtet mir, was ihr über ihn

479 3Rittfeilungen Über und aus acht fgrifchen Neben

ansgefagt habt! Thut eure Bücher auf, damit ich die in euren Worten liegende Wahrheit jefe, bei den Verirrungen nicht irre und die Wahrheit nicht verliere! Mit Mühe bin ich dem Irrthum der todten Götzenbilder entgangen ἢ). Kommt, "gebt mir Anweifung , bab id) nun , da ich (vom Serthume) zurücgefehrt bin, nicht mehr auch verirre!“ u. f. Ὁ. Dann werden die Propheten aufgeführt, wie fie der Kirche ihre Weiffagungen anführen, 3. 8. Zacharias bie Vorherfagung Kap. XIII, 7 von Zerftreuung der Schafe, wenn der Hirt gejchlagen fein wird; David Pi. XL, 10: „Selbft der Mann meiner Freundfchaft, auf den ich ver- traute, ber mein Brot aß, erhebt wider mid) bie Ferſe,“ u. 7. Ὁ. Hierauf wird die Prophetie des Jeſaias Kap. LIII, 7 u. f. f. angeführt. So zieht fid) die 9tebe noch mehrere Blätter Binburd) mit Aufzählung von ORG über bag Leiden Jeſu fort.

Borbemerfung zur V. Rede.

Am Baticancoder 117 fteht über diefe Rede bie Rand⸗ bemerfung, baB fie von einem gewißen Georgius Bifchof in Arabien, im Bersmaße des hi. Jacobs verfaßt fei. Affe mani jagt aber im Kataloge der fyrifchen Handjchriften, fie werde in allen Gobice8 und in ben Brevieren bem Bf. Jakob zugefchrieben.

Die 5te Rede Handelt von bem begnadigten Räuber am Kreuze unb feinem Gange zum Paradiefe, aud) wieder mit Tebhafter Darftelung mancher Scene. Die Haupt punkte find folgende :

1) G3 bat ben Heidenchriften Kampf und Mühe gefoftet, oom Gügenbien|t fid) zu befebren.

bed bi. Jakobs ton Catug. 473

| 1. Bitte zu Chriftus um die Gnade, würdig ipredjen

zu fünnen; feine unbegreifliche Herrlichkeit. Schwanken des Redners zwifchen verfchiedenen Stoffen aus dem Leben und Leiden Jeſu.

2. Das Schmerzliche der Betrachtung über das Leiden de8 Herrn. Ginbrud bejjelben auf Himmel, Erde und bie Apoitel. |

3. Der Mutter Gottes Trauer, ihre Aufforderung an die Engel.

4. Tröftende Antwort des Erzengels Gabriel; die Früchte des Leidens und Sterbend Jeſu.

5. WundersErjcheinungen bei feinem Tode.

6. Uebergang zur Gefchichte des Räubers an des Hei- lands Seite; fein reuevolles Gebet zu ihm.

7. Gnübige Antwort des Erlöfere.

8. Der Räuber erhält einen Brief zum Ginfajje ins Paradies und reift damit zu ihm ab.

9. Ankunft beim BParadiefe; Tragen des hütenden Cherubs an ben Ankömmling.

10. Erwiderung des Räuber, worin er feine Miffes thaten erzählt. ' Erjtaunen des Cherubs über feine Ankunft; er weift aber den Räuber zurüd.

11. Diefer erzählt feine Belehrung. Des Cherubs Erftaunen über die Sendung desjelben.

12. Der Räuber begläubigt fid) als wirklich abgefandt vom (Gríüjer jefbjt und liefert Brief und Schlüffel aus, und bennod) bejteht der Cherub nod) auf feiner Weigerung.

13. Der Räuber betheuert wiederholt, daß ihn ber Heiland wirklich gejd)idt habe, bejchreibt des Herrn Tod und mie er allein ihn bekannt habe; [pridjt dann vom

474 Mittheilungen über unb aus acht ſyriſchen Reben

Berdienftlichen feines Glaubens, da er nicht Zeuge ber Wunder Jeſu geweſen.

14. Ueberzeugt läßt der Wächter endlich den Räuber in das Paradies ein.

15. Dieſer berichtet demſelben das Hinabſteigen Chriſti in die Unterwelt und den Zweck dieſer Hinabfahrt.

16. Einladung an die Engel, zur Verherrlichung des Erlöfers aud) hinabzufteigen.

17. Der Cherub erwidert, dieß [εἰ unnöthig, der Hei: land befiege allein Tod und Hölle.

18. Der Räuber erllärt, im Paradiefe zu bleiben. Schlußgebet um Frieden.

Aus diefer Inhaltsangabe erhellt, wie reich und nur zur weitläufig und bie bramatijd) (ebenbig diefe Rede Jakobs ijt. Leider ift fie, wie ich fchon bemerkte, ungebührlich, ja unerträglich lang, daß e$ unmöglich ift, ohne immerjort fteigende Umngeduld fid) durchzuarbeiten. Zur Probe möge eine Stelle folgen. Auf den Zweifel des Cherubs, ob Gfri- ſtus den Räuber wirklich; zum Paradies abgeid)idt, antwortet derfelbe: Er fab αἰ. dem Kreuze meine Unerfchrodenheit, wie ich heidenmüthig den Kreuzigern drohte. Er fab, wie Himmel und Erde bei feinem Leiden ftill ruhten und über meine Verherrlichung ") alle Schaaren fid) vermunberten. Als ih am Kreuze ihn (al8 Gott) bekannte, erftaunten die Engel über mich und bie Feuerweſen jaben, wie er den Brief hieher zu kommen fdjrieb, indem er mir betheuerte: „Wahrlich, wahrlich (ag! id) bir, nod) Heute wirft bu mit mir im Neiche dich erfreuen“ (Xuf. XXIII, 48). Als id

1) b. i. über mein Bekenntniß, womit ich ihn verherrlichte.

des bi. Jakobs von Sarug. 475

ihn bekannte, faub'fid) Kein anderer, der ihn befannt hätte, außer ich, weder irgend einer von den Engeln, noch von den Menfchen. Still fchwiegen die Reihen und Taufende, t$ bebten bie Schaaren u. f. w. u. f. m.

II. Rerenfionen.

1.

Gerhohi Reicherbergensis Praepositi opera hactenus inedita. Curavit Friedericus Scheibelberger. Ton. I. Libri ΠῚ de investigatione Antichristi unacum trac- tatu adversus Graecos. Lincii 1875. Sumptibus M. Quirein. 396 p. 8.

Der Bropft Gerhoh des Chorherruftifts Reichersberg in der’ Diöcefe SPajjau ijt, was Gelefrjamteit unb Eifer für Tugend und Frömmigkeit anlangt, eine ber bemerfend- wertheften PBerfönlichkeiten des zwölften Jahrhunderts. Im Fahr 1093 zu Bolling geboren erhielt er feinen Unterricht in ber Stiftefchnle feiner Heimath fowie zu Freifing und Moosburg! und nachdem er fid) zum Behuf einer weiteren Ausbildung mod) drei Fahre in Hildesheim aufgehalten, wurde er burdj den Bijchof Hermann von Augsburg (1096 —1133) zum Meifter der hohen Schule in diefer Stadt und bald darauf zum Kanonikus ernannt. Die Εν τε Stellung, in bie er baburd) gerietb , gefiel ihm nicht auf bie Dauer. Er 3og fih allmählig von ber Gemeinfchaft der Taiferlichen Partei zurück, verließ gufegt Augsburg und

Gerhoh, Reicherbergensis Praepositi. 477

juchte im Klofter 9taitenbud) in der Nähe. feiner eimatb, einer Stiftung des Herzogs Welf von Bayern und des Biihofs Altmann von Pafjau, eine Zufluht, bis bae Wormſer Goncorbat bie Synpejtiturfrage löste und dem lang- jührigen Streit zwifchen sacerdotium und imperium ein Ende madjte. Als ba8 Yahr darauf im Lateran eine all- gemeine Synode abgehalten wurde, begleitete er den Biſchof Hermann nad) Rom und bemühte fid), ben Papjt mit ihm zu verfühnen. Aber das Weltleben vermochte ibn nicht mehr zu befriedigen. Er ließ jid) barum mod) im J. 1124 als Chorherr in Raitenbuch einkleiden und wenn er aud) nod) dem Nufe des Biichofs Kuno (1126— 1132) nad) Regens⸗ burg folgte, fo gab er nad) deſſen Tod feinem Drang zu einem zurückgezogenen Leben fofort wieder Raum und ber Crabijdof Konrad von Salzburg ernannte ihn zum Propft in Neichersberg. Die Würde rubte 37 Jahre (1132— 1169) in feinen Händen und das Klofter perbaufte ihm einen glänzenden Aufjhwung (vgl. die Abhandlung über Gerhoh von Jodok Stülz in ben Denkſchriften der Wiener Akademie I. 113—166 und Wattenbach Deutichlande Ge; ſchichtsquellen 3. A. I. 218 ff.).

Der Seelenfriede, nad) bem er jo jefr verlangte, war ihm inbejfen nod) nicht für immer zu Theil geworden. Das Schisma, das ihn früher fo ftarf beängftigt hatte, erneuerte ih im 3. 1130 wieder, nachdem e$ [don im 3. 1124 wenigftens gedroht hatte, und hielt beinahe ein Decennium an. Es erftand ein römiſcher Gegenpapjt, nachdem der faiferíidje abgetreten mar, und wenn diefe Spaltung Deutſch⸗ land weniger berührte, indem die Obedienz Anaklets II. fid) borwiegend auf das untere Italien beichränkte, jo war δας gegen der Conflict zwiichen Papſtthum und Kaijerthum,

Tpeol. Quartalfeprift 1876. Heft 111. 3l

478 Gerhoh,

welcher bab darauf unter Barbarofja ausbrach, für die Heimath Gerhoh’8 von um fo tiefer greifenden Tolgen. Schon unter Hadrian IV trat eine bedeutende Spannung ein und Gerhoh ftand damals entjchieden auf der Seite des Kaiſers, indem er den vom Papft bean[prudjten Mar⸗ ſchallsdienſt verwarf, da er bier nur bem Stolze diene, dort Unwillen und Haß erzeuge und ſo nichts wahrhaft Gutes hervorbringe. Als aber die Cardinäle nach dem Hingang des Papſtes den Kanzler Roland wählten, der zwar wohl der tüchtigſte unter ihnen, aber nach ſeiner Ge⸗ ſinnungs- und Anſchauungsweiſe and) einer der extremften war, indem er auf dem Reichstag zu Beſangon im J. 1157 das ftaijertfum ausdrücklich für ein päpftliches Lehen εἴς Härte, als das Mort Hadriand von ben beneficia, bit er bem Kaijer verliehen, fo großen Anjtoß unb Unwillen erregte, fam e$ jofort zum vollen Bruch. Gereizt durd diejen Schritt und begünftigt durch eine Doppelwahl, indem eine kleine Minorität den Garbinal Oectavian erhob, nahm nun der tfatfrüftige Barbaroſſa bie Entjcheidung ber römi- ichen Frage für fi in Anſpruch und die Folge mar, ba er einjeitig für ben Ganbibaten ber Minderheit Partei nahm, ein nenes Cjióma. Den Bropft Gerhoh konnte biejt Wendung nur mit tiefer Betrübniß erfüllen. Die für beide Theile unheilvollen Kämpfe zwifchen Staat und Rirde er neuerten fid) wieder und zu dem Kampf zwifchen Papft und Raifer fam ein Kampf zwifchen den beiden Päpften, der für eine dugftfide Seele nod) bennrufigenber war. Die Gntjdeibung für die eine Seite 3og je den Bann von der andern nad fid) und Gerhoh hielt e8 bemgemüB zunächſt für das iBejte, Neutralität zu beobadjten. Nach einiger Zeit gab er zwar [εἶπε UnentjdjiebenDeit auf unb die Nad

Reicherbergensis Praepositi. 479

richten, bie ihm über den Hergang bei der Wahl zulamen, beftimmten ihn, fid) für Alerander zu erklären, die Synode von Pavia und die Stellung, welche die Prätendenten zu ihr einnahmen, indem der eine „demüthig“ auf ihr erichien, während ber andere „menjchliches Urtheil verſchmähend oder, was glaubwürdiger ift, in ber Anweſenheit des Kaifers, ber von ihm beleidigt worden, mißtrauend“ fid) ferne hielt, bewog ihn fid zu Victor IV hinzuneigen und bie Schwan- fung wurde ifm dadurd) erleichtert, daß er auch auf ber Seite Aleranders mauches wahrnahm, was jeinem frommen Gemüth und feinem lauteren Eifer miffief. Als aber bie Synode von Toulouſe fid für Alexander ausſprach, wurde fein Zweifel aufs neue rege und er hielt e8 wieder für gerathen, mad) dem Beiſpiel der Ungarn fid) neutral zu verhalten und feinem der beiden Püpfte zu huldigen, weil man jo ber Gefahr des Schismas ferner bleibe, bis ein Generalconcil die Frage zum Austrag gebradjt und in&bejonbere ben Punkt unterfucht habe, ob der Kanzler Roland, wie nicht bloß feine Feinde, fonberm glaubwürdige Männer verfichern, feine Erhebung dem Gold bes Königs von Sicilien und der Stadt Mailand verdante, bic um einen YBundesgenoffen zur gewin- nen, die Wahl eines Feindes des Kaijers betrieben. Aleran- der werde durch die Vorrechte des römifchen Stuhles nicht von der Pflicht entbunden, auf jener Verſammlung fid) eine zufinden und fid) vor ihr zu rechtfertigen. ‘Denn wenn aud) der vechtmäßige Papſt über menfchliches Urtheil und Gericht erhaben fei, fo [εἰ die Rechtmäßigkeit feiner Würde in Folge ber Smie[pültigfeit der Mahl zweifelhaft und zudem [εἰ er nach ber Lehre des Herrn umd’ des Apojteld Paulus unter alfen Umftänden gehalten das Aergerniß zu entfernen, δα fh an feine Erhebung thatfächlich knüpfe, und die Bedenken 31*

480 Gerhoh,

zu zerftreuen, die gegen feinen guten Auf erhoben werden. Wenn die Römer, wie Einige behaupten, auf Erden nie manden und aud) dann nicht eine Rechenſchaft ſchuldig wären, wenn ihr Thun zum Aergerniß gereiche, was [ei bann zu erwarten, al8 daß fie vielleicht einmal ben Ein- flüfterungen des Stolze8 und der Habjucht, der zwei fchlim- men O9tatbgeber, bie in ihrer Stadt felten fehlten, Gehör ſchenken und die alten Kirchengefege aufheben unb neue idmieben, daß fie nach ihren Belieben die alten 3Bietbümer befeitigen und eine neue Umfchreibung vornehmen, bei der ihr Golddurft eine bejjere Befriedigung finde, ja daß fie zulegt affe Kirchen in einen Schafftall zufammenziehen und den römiſchen Bifchof zum einzigen und alleinigert Hirten machen oder daß fie, wenn bieg zu fchwierig fein follte, SBijdjüfe und Könige völlig ihrer Gewalt unterwerfen unb diejenigen, welche gegen ihre Weifungen nicht gefügig find, ercommuniciren, daß fie jid) in die Streitigfeiten der Staaten einmifchen, denjenigen, bie fid) zur Bezahlung einer größeren Seldfumme verftehen,, mit Cenfuren zu Hilfe fommen und die Cenſuren felbjt wieder um Geld löfen, bis endlich, wie zu befürchten fei, das Volt wider fie aufftehe und fid) ihrer Obedienz entziehe, mie es audj den Griechen gegenüber gt than habe. De investigatione Antichristi praef. II und I c. 57—66. 82.

Bon der Stimmung, bie ben berühmten Propft von Keichersberg damals befeelte, erfahren wir namentlich durch die Schrift, die foeben citirt und die im vorigen Jahre zum erjten Mal, ſoweit fie noch erhalten ift, ganz edirt wurde, nachdem Gretſer (Opp. VI 245 ff.) und Stülz (Archiv für Kunde üfterreichifcher Gefchichtsquellen XX 140—185) nur 3Srudjtüde aus ihr mitgetheilt Hatten.

Reicherbergensis Praepositi. 481

Sie entftand, da ber Verfaffer nad) I c. 61 während bes Schreibens von der Synode von Toulonſe Nachricht empfängt, die entweder auf das Jahr 1160 (Hefele E.&. V 525) oder auf das Jahr 1161 (Harduin conc. VI. II 1586) fällt, und da Mailand, das fid) am erften Mär; 1162 ergab, nach I c. 66 nod) im Belagerungszuftand erjcheint, in den Jahren 1160—1162 und wurde durd) den Erzbifchof GberBatb von Salzburg veranlaßt, ber bie Anfichten Gerhoh's de investigatione Antichristi zu vernehmen winjchte, Ueber das Ziel, das er verfolgte, fpricht fid) der gefebrte Propſt im der erften Vorrede dahin aus, er wolle, während beinahe alle Schriftjtelfer bei der Unterfuchung über das Reich des Antichrift ihren Blick in die Zukunft gewendet hätten, die Kämpfe der Kirche in der Vergangenheit und die Graufamfeit der ungerechten Könige in Betracht ziehen, welche die Kirche verfolgt haben, und erwägen, ob man in ihnen eine Erfüllung des Geheimniffes ber Bosheit zu er» bliden vermöge, ober ob wirklich ein folches Thier erfcheinen müſſe, für das man den Antichrift gewöhnlich halte, das bet Herrn verleugne und fid) fir Chriftus ausgebe, das in einem fteinernen Tempel feinen Sit auffchlage und fid) gleichfam als Gott barftefíe und unter anderen Tügenhaften Zeichen materielfes Feuer vom Himmel herabrufe, das bie zwei Zeugen Henod und Elias tödte und anderes voll: bringe, was ifm mehr eine firdjfid)e Meinung als ber Gíaube zufchreibe, und gemäß diefer Erklärung unterzieht er im erften Buch, nachdem er zunächft bie auf ben Antihrift lantenden Schriftftellen entfprechend interpretirt, die Ver: hältniffe der jüngften Vergangenheit einer prüfenben Betrach— tung und erkennt er in ben Schismen feit Gregor VII und Heinrich IV und in bem Verderben in der Kirche, in ber

482 Baer,

fBefted)(id)feit der römijchen Gurialijten, in bem Mißbrauch ber Appellation u. f. m. die Wirffamkeit des Sohnes ber Bosheit. ES kommen jo bie midjtigiten Begebenheiten des legten Jahrhunderts zur Sprade und die Schrift ift gleich ber des Hi. Bernhard de consideratione ein bemertens- werthes Stimmungsbild, wenn gleich ihre hiftorifche Bedeu⸗ tung im engern Sinn eine geringere ift, da ber Verfaſſer weniger erzählend als veflectivend verfährt. Das zweite, dem eine Abhandlung über ba8 Filioque angehängt ijt, läßt fif) im allgemeinen ale ein theologifcher Zractat und dns dritte, von dem aber leider nicht mehr ganz vollftändig zwölf Kapitel erhalten find, als eine Fortfegung desjelben bezeichnen.

Der Herausgeber Hat fid) durch bie Veröffentlichung der Schrift ein großes Berdienft erworben und e8 ijt zu hoffen, bie in Ausficht geftellten zwei weiteren Bände möchten dem erjten bald nachfolgen.

Funk.

2.

Studien and dem Gebiete ber Raturwiſſenſchaften von Dr. Karl Ernſt v. Baer, Ehrenmitglied der Kaiſerlichen Aka⸗ demie der Wiſſenſchaften zu St. Petersburg. Mit 22 in den Text gedruckten Holzſchnitten. St. Petersburg 1876. Verlag der Kaiſerlichen Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff (Karl Röttger). XXV und 480 S.

Der Darwinismus uud bie Raturforſchnug Neivions uud Envierd. Beiträge zur Rethodik der Raturforſchung und zur Sperieöfrage von Dr. Albert Wigand, Profeffor der Botanit an der Univerfität Marburg. 1. Band. Braun: ſchweig, Drud und Verlag von Franz Vieweg u. Sohn. 1874. XVII u. 462 ©. 2. Band. 1876. XV u. 515 €.

Studien aus bem Gebiet der Naturmiffenichaften. 483

Die Wogen des Kampfes, den der Darwinismus in der Naturwiffenfchaft hervorgerufen hat, tragen ihre Wellen in alle Gebiete des Wiſſens und mur wenige Zweige bet Wiffenfchaften dürften von denjelben unberührt bleiben. Je prinzipieller jid) ber Kampf gejtaítet, defto näher tritt an jeden Gebildeten die Aufgabe heran, and) feinerfeits darin Stellung zu nehmen und bie heiligften Güter des Lebens zu vertheidigen. Zwar wollen manche fchon die Anzeichen wahrgenommen haben, welche den Rückzug, vielleicht bem Untergang des Darwinismus jignalifiren, allein fo jicher es ift und als Fortjchritt verzeichnet werden muß, daB im eigenen Lager der Darwinianer bei mandjen nach bem be: täubenden Lärm der (legten Jahre wieder die nlchterne Veberlegung eingetreten ijt und eine heilfame Reaction gegen eingefchmuggelte Gontrebanbe veranlaßt hat, jo verfehlt wäre ἐδ, daraus voreilige Schlüffe zu ziehen. Wie gering deren Sicherheit ift, zeigen die beiden oben genannten Naturforfcher, welche felbft zur Klärung ber [d)mebenbem Frage einen guten Theil beigetragen haben. Während Wagner den Darwinis- mus troß be8 zunehmenden Lärms unverkennbar auf dem longfamen, aber ficheren Rückzug erblidt (II S. V), legt Baer das Geftändnig ab, bag die Wellen des Kampfes hoch gehen und der Darwinismus in neuerer Zeit an Anfehen unb Anhängern unverkennbar viel gewonnen hat (S. 238). Die Schriften von Baer und Wigand zählen zu den wenigen von Naturforichern verfaßten Büchern, welche dem ‘Darwi- nismus gegenüber bie objective Haltung vollftändig bewahr- ten und verdienen beffalb aud) am diefem Orte eine furge Veiprechung.

1) Schon im Jahr 1863 fat der hochverdiente 3Ber- faffer einen Band Reden herausgegeben, welche von ibm .

484 Baer,

bei wifjenfchaftlichen SBerfammfungen gehalten worden find, im %. 1873 folgte dem erften Theil der 3. nad), welcher hiftorifche Fragen behandelt und 1876 erjchien der vor» jtehende 2. Theil, der den bejonberem Titel „Studien aus bem Gebiet ber Naturmwiffenfchaften“ führt. Diefer enthält 5 größere Auffähe: 1. Ueber den Einfluß der äußeren Natur auf die focialen Verhältniffe der einzelnen Völker und bie Gefchichte der Menſchen überhaupt. 2. Weber den Amed in den Vorgängen ber Natur. Ueber Zweckmäßigkeit ober Zielftrebigfeit überhaupt. 3. Ueber Flüffe umd berem Wirkungen. 4. Ueber Zielftrebigfeit in den organiſchen Körpern insbefondere. 5. Ueber Darwin's Lehre. Uns intereffirt bier nur ma8 über den zweiten, vierten und fünf- ten Punkt gefagt ift, für beffem Bearbeitung der Verfaſſer qud) eine befondere Veranlafjung Hatte. Da er ba8 um gewöhnliche Gíüd Hatte, von den Darmwinianern imb ihren Gegnern als Zeuge angeführt zu werben, jo faf er fid veranlaßt, [εἶπε Stellung zum Darwinismus offen zu ct Hären. Es ift gewiß anguerfennen, wenn eim im Dienfte ber Wiffenfhaft ergrauter Naturforfcher gegen den Strom ſchwimmt und ganz offen feine Bedenken gegen eine Theorie ausfpricht, welche, mas ihr an Gründlichkeit unb Vollftändig- fit des Beweifes fehlt, durch um jo größere Zuverfichtlichkeit und um fo höheres Selbftbemußtfein an erfegen ſucht. Es find biefe Bedenken aud) ebenjo gründlich als anziehend gt ſchrieben. Da bei alfer Wilfenfchaftlichfeit mehr die Dar: ftellung des Redners und Erzählers als des Gelehrten ge wählt ift, fo zeichnet (id) die ganze Schrift mod) burdj ihre Klarheit und leichte Verſtändlichkeit aus, bie auch dem ges bildeten Laien die ectüre erleichtert. Wenn ich aber aud Lob unb Anerkennung gern in hohem Maße fpende, fo fami

Studien aus dem Gebiete der Naturmwifienichaften. 485

ἰῷ doch nicht volfftünbig in ba& Lob Jener einftimmen, welche num den Darwinismus ein für allemal befeitigt fein fafjen. Denn Baer bringt was ganz in der Ordnung it nicht bloß feine Bedenken, fondern aud) feine Gegen« bedenfen zur Sprache und bemerkt ausdrücklich, baB er nicht gegen ben Darwinismus auftrete, fondern nur über ihn fid) erkläre, wobei freilich Erklärungen gegen bie Ueberfchreitungen nicht gut fehlen fünnen (240). Er findet als Hypotheſe den Darwinismus im höchften Grade beachtenswertf. ‘Da die Naturforichung feine beftimmte Vorftellung gibt, wodurch die verjchiedenen Lebensformen geworden find, fo müffe man zugeben, baB ber Gedanke, die verfchiedenen Lebensformen ſeien aus einander hervorgegangen, viel nüfer (iegt, als daß einzelne Formen beſonders geworden find (283). Eine Trans» formation ober Transmutation zieht er nicht in Abrede, allein et will diefelbe in bejchränfterem Umfang gelten lafjen und kann fid) nicht zur Selectionstheorie bekennen, durch welche Darwin die Umformung erflären will (433). Aber um fo unbarmberziger bedt Ὁ. die Schwachen Seiten ber Darwin’- (den Theorie auf. Die Beweife für bie Urzeugung, welche die Grundlage bilden follten, entbehren der Beweiskraft und audj ber Bathybius Haeckelii findet feine Gnade. Dieter Urfchleim ift dem Verf. übrigens noch ein Bodenſatz von organischen Stoff aus der Neuzeit (416), ein Product der Zerfegung von Thieren und Pflanzen (281), während feine unorganiſche Beſchaffenheit bereits nachgemwiefen iſt. Die Abftammung des Menfchen von dem Affen fat aud) gar feinem Beweisgrund für [fid (344) und für bie ge- Schlechtliche Zuchtwahl hat er vollends nur die Anerkennung : „Mir fcheint, um e8 unumwunden auszufprechen, biefe lange Abhandlung, fo intereffant bie Zufammenftellung dem 3oo-

486 Baer,

logen [εἶπ mag, ein fchlagender Beweis, mie weit bie Phantafie eine lieb gewordene VBorftellung ausbilden kann“ (347). So wenig fid) alfo ber Berf. aud) burdj die Darwin'ſche Theorie befriedigt findet, fo fiet er jid) bod) wieder wie manche Naturforjcher genöthigt, eine Urbildung anzunehmen, ihre hiftorifche Eriftenz anzuerkennen ; nur bürfe man deßhalb nicht der Meinung jein, dag man über die Art des Vorgangs etwas wiſſe (416). Cine nothmwendige Folgerung hieraus dft die Annahme einer mehrfachen Urzeugung und mehrfader Entwiclungsreihen (454), fo bag 38. feine Anficht Schließlich dahin formulirt, bajg er jowohl an Neubildung aí8 limbil. dung glaube Es fónne ein Naturforfcher überhaupt die Transformation ober Descendenz nicht (eugnen, obgleich eint allgemeine Umformung durchaus unerwiefen fei, weil der Raturforicher nidjt an Wunder, ὃ. ἢ. an Aufhebung der Katurgefege glauben dürfe. Dies ift allerdings der Haupt: und Gardinalpunft, welcher Glaube unb Naturwiſſenſchaft Tcheidet, welcher zroifchen dem alten und neuen Glauben bie große Sceidewand bildet. Dan glaubt dem Wunder ein für allemal bie Thüre gemiejen zu haben unb macht wohl der Theologie die Zumuthung, in biejem Punkt etwas nad) zugeben, damit eine Verftändigung zwifchen Glaube umb moderner Bildung möglich [εἰ Doch muß man geredt fein und anerkennen, daß der Naturforjcher als jolcher nur die Aufgabe hat, die Naturgefege aufzufuchen: was außer ihnen liegt, exiftirt für ihn gar wicht. Wollte er weiter, fo wäre das für ihn geradezu ein llebergang in ein fremdes Gebiet. In einem folchen ijt freilich eine ganz andere An⸗ nahme möglich. „Wer diejes Bedenken des Naturforichere nicht hat, mag immerhin δα 8. Auftreten neuer Organismen als ernente Schöpfungsafte betrachten. Denn daß die ver»

Studien αὐ dem Gebiete der Naturwiſſenſchaften. 487

ſchiedenen Organismen nicht zugleich aufgetreten find, for dern nacheinander in langen Intervallen, ift nur zu gewiß. Der Naturforfcher thut beffer, die gewaltigen iden feines Erkennens fid) und andern offen zu geftehen“ (423).

Zu diefer Annahme drängt insbefondere aud) bie Scheu der Darwinianer vor 'alfem was mit der bisher viel ge» rühmten Zweckmäßigkeit in der Natur zufammenhängt. Die Befeitigung diefes wefentlichen Factors ber Naturbetrachtung muß den denkenden Menſchen mißtrauiſch gegen die ganze Theorie machen, die Herrſchaft des Zufalls im Reich der Ordnung und Harmonie ſteht zuſehr im Widerſpruch mit den Denkgeſetzen. Aber der Grund dieſer radicalen Aus⸗ merzung jeder Zweckmüßigkeit dürfte zum Theil darin gt» fucht werden, daß PBhilofophen und Theologen biejelbe oft üt einer Weife bejtimmten, mit der fich der Naturforjcher durch⸗ aus nicht befreunden fann. Es ijt nicht zu leugnen, daß dieſes Kapitel einer gründlichen Otenifion unterzogen werden muß. Auch ber nüchterne Naturforfcher kann es nicht verfennet, daß bie Vorgänge in der Natur fid) jtet8 auf ein künftiges Bedurfniß beziehen, die Grundlage für eine ganz bejtimmte höhere Stufe find und eben darin bie causa finalis zeigen (58). Aber in ber Beftimmung diefer causa ijt viel nefiindigt worden. Man gieng immer zuerft auf die wichtigften und umfangreichiten Fragen (o8 und verirrte fi ba in ein Gebiet leerer Bhantafieen, wie jener Schulmeiſter, der bie Vorjehung nicht genug dafür Toben fonnte, daß fie bie größeren Flüffe dahin geleitet habe, wo die großen Städte liegen, ober wie der Anatom Spiegel, nad) dem ber Menfch deßhalb das ftürffte Geſäß erhalten Dat, damit er auf einem weichen Bolfter figen fünne, menn er über die Größe Gottes nadjbenft (62). Dem gegenüber ift e$ nicht zu verwundern,

488 Baer,

daß man die abfolute Nothwendigkeit überall zur Geltung zu bringen fuchte. Allein Zweck und Nothwendigkeit ſchlie⸗ Ben jid) gar nicht aus, denn Zwecke oder, wie ber Verf. lieber jagt, Ziele werden in der Natur nur durch Roth: wendigkeiten erreicht. „Zu erfajfen , wie in zielftrebigen Nothwendigfeiten unb nothwendig verfolgten Zielen das Na- turleben befteht, fcheint mir die wahre Aufgabe der Natur- foridung. Was riter führt, gehört dem Gemiütbe an oder beſſer gefagt : ift eine Forderung des Gemüths, welcher bie Phantafte leicht fid) zu Dienften ſtellt“ (73). Darum fett der Verf. für ben Zweck das Ziel, für bie Zweckmäßig⸗ feit die Zielftrebigkeit. Der Zwed erinnert zu fehr an bie menschlichen Berhältniffe und führt bei ber Betrachtung der Dinge nad) unten und oben auf 9(bmege. Man legt in bit niedern organifchen Weſen ein Bewußtſein hinein und glandt mit einer Gedankenreihe, welche bloß vom eigenen Selbft ausgeht, wirklich zum geiftigen Grund der gefammten Natur zu fommen, während wir in Wahrheit nur die Kenntniß, melde wir von uns jelbft haben, aufblähen (76). Der von ums felbft genommene Maßftab [oi für den Grumd aller Dinge paffen, der Maßſtab ift faífd) und mit ihm wurde zugleich die ganze Sache weggeworfen. Da hierin ohne Zweifel viel Berechtigtes ift, jo ift e8 von Intereſſe, von bem wohlwollenden Naturforfcher zu hören, wie τοῦ bie Naturbetrachtung den Stenfdjen in der Grfenntnig Gottes führen kann. Er fagt: „Vermeiden fann ich e8 nicht, bit Mebergeugung auszusprechen, daß die Naturforfchung und nur zu der Anerkennung eines allgemeinen Urgrundes führen fann und aud) führen fol, indem fie die Harmonie unter den verfchiedenen Naturkräften nadjmeiet. Daß fie uns abet zu einer wirklichen Erfenntniß diefes Urgrundes führen

Studien aus dem Gebiete der Naturwifienihaften. 489

fónnte, halte ich für unmöglich“ (77). „Es thut mir leid jagen zu müfjen, daß id) die ftolze Weberzeugung nicht theilen kann, die SRaturforjdjung führe zur Erkenntniß Gottes, wenn man damit eine wirklidhe GrfenntniB meint. Mir icheint, fie führt bloß bis zur Gränze diefer Erfenntniß. Zur Anerkennung eines gemeinjamen Urgrundes führt uns die Harmonie der Naturkräfte und dieſer Urgrund Tann nicht verjchieden ‚jein von bem erhabenen Weſen, nad) wel» chem das religiöfe Bedürfniß ber Menjchen hinweist“ (79). Eine ftrenge Demonftration ijt hier allerdings nicht möglich, denn e8 muß immer noch ein fubjectives Moment in ben Beweis aufgenommen werden, was aber aud) im Gebiete des Geiftes nicht fehlerhaft fein kann. Man wird nie pere geijen dürfen, daß bie Gotteserfenntniß in ihrem Anfang etwas .anthropomorphiftifch ijt und darum als inabüquat und unvollfommen bezeichnet werden muß. Selbit bie Stei- gerung ins Unendliche genügt nicht, jo lange man nicht auf dem Wege ber Negation in ein fpecififch verfchiedenee Gebiet übergeht und fid) aud) ba nod) gejteht, daß es von Gott beffer zu jagen ift, was er nicht ift a[8 was er ijt. Dies find übrigens Gedanken, welche den verehrten Leſern längit befannt find, e8 wollte nur darauf hingewieſen mere den, mie man von ber Betrachtung der Natur. zur Erkenntniß des Schüpfers gelangen fan.

2) Wigand ijt hierin weiter gegangen al8 Baer. Er verfährt ftrenger mit dem Darminismus in ber Descendenz- theorie unb fudt die natürliche Erfenntniß aud) nad) oben zu einem pofitiven Abjchluß zu führen. Er Hat im ftreng wiſſenſchaftlicher Weife sunüdjft vom Ctanbpunft des Bo⸗ tanifer8 aus die Widerlegung des Darwinismus unternom⸗ men, inden er Schritt für Schritt den Aufftellungen des-

490 Wigand,

ſelben folgt und mit eben ſo viel Scharfſinn als Gelehrſam⸗ feit die Blößen und Täuſchungen der Theorie aufdeckt. Er iſt zu keiner Conceſſion bereit und hält beſonders an der Conſtanz der Arten feſt. Dies macht ihm zwar Hartmann zum Vorwurf, kann aber bod) nicht umhin, die großen Berdienfte des Werkes anzuerkennen. Im 1. Band wird ber Artbegriff, die Variabilität, bie künſtliche Zuchtwahl, ber Kampf ums Dajein, die gefchlechtliche Zuchtwahl befproden unb bie Gonjequeng des Syſtems geprüft. In einem Anhang find nod) viele Anmerkungen und Grcurfe beigefügt. Es iit nicht müg(id) und aud) nicht nöthig hier einen Auszug zu geben, da am einer andern Stelle wiederholt auf die Beweis⸗ führung Dingemiefen ift, aber mit 9tedjt darf fid) der Verf. im Vorwort zum 2. Band darauf berufen, daß feine feriti be8 Darwinismus manches zur Klärung ber Geifter bti getragen Bat. Daß ἐδ ihm gelungen ift, den munben διε ficher zu treffen, darf er allerdings aud) aus bem woüthen- den Auffchrei oder dem dumpfen Murren gewiffer Gegner entnehmen, „welche durd die Form, in welcher fie ihren Unwillen äußern und burd) die nidjtigen Vorwände, womit fie jid) meine Kritik vom Leibe zu Halten judjen, ihre eigene Unfähigkeit ober die Unhaltbarkeit ihrer Sache Tundgeben und beweifen, daß mein Schlag richtig gezielt war“ (II €. V). Dies mußte man freilich daraus ſchließen, daß man fid) fogar gezwungen jab, um im ihrem anerzogenen Darwinismus durch diefe Schrift wankend gewordene Schüler wieder auf den richtigen Glauben des Lehrers zurückzubringen, [πε {πᾶ eine bejondere Widerlegung zu fchreiben. So menigiten8 berichtet ein Hauptvertreter des Darwinismus in Württemberg, Hr. Prof. Jäger von Stuttgart in feiner Schrift: In Sachen Darwins insbefondere contra Wigand.

Der Darwinismus und bie Raturforſchung sc. 491

Stuttgart 1874: „Das GeftünbniB zweier meiner Schüler, daß fie burd) das Wigand’sche Buch wirklich irre gemacht murben, ijt bie Beranlajfung zur Abfaffung vorliegender befonder8 gegen Wigand gerichteten Schrift“ (IV). Aber bod) Tcheint aud) ihm Wigand manchen wunden Puuft ge- troffen zu haben, der nun als unhaltbarer Poſten aufzu- geben ijt, ba er, um nicht ba$ Ganze zu verlieren, fid) zu Gpncejjionen verftehen mußte. Die Zransmutationsfehre bien ihm in mehreren Punkten theil® einer Meodification, theil8 einer fchärferen Faſſung bedürftig. So hattte Wigand den Boden geebnet, um im 2. Theile, der die allgemeine methodologifche Kritik enthält, das erfenntniß « theoretifche Facit aus bem Darwinismus zu ziehen, auf die wahren Grundlagen ber Naturforfhung und auf bie durch das Weſen ber Natur und unferer Vernunft gemiefenen Wege hinzumeifen. Daß er dadurch gezwungen wurde, das Gebiet ber Naturwiſſenſchaften zu verlaffen und auf das der Philo- fophie überzutreten liegt in der Natur ber Sache. So febr man aber aud) mit Recht gegen philojophiiche Speculationen über bieje8 Gebiet mißtrauifch [εἶπ muß, jo willlommen muß man e8 heißen, wenn ein Naturforfcher einen ſolchen Verſuch macht. Die Darftelung mag freilich nicht immer das rein philofophifche Golorit zeigen, aber man vergit den realen Boden nicht jo leicht, man fieht überall nod) bie naturmijjen[d)aftfid)e Baſis und Dat darin einen Compaß, ber im ziellofen Meer philofophifher Speculation ganz zu fehlen pflegt. Es darf und [off der Naturforicher zur eigenen Orientirung auch die Perfpective, die fid) ihm von feinem fejten Boden aus öffnet, ins Auge faffen, es muß ihm unter der Boransfchung, daß er fid) dabei des Punktes, wo feine eigene Aufgabe endigt, beftimmt bewußt bleibt,

492 Wigand, Der Darwinigmus unb bie Raturforkhung zc.

vergönnt fein zu philofophiren. So betrachtet denn ber Ser. die Lehre Tarwine als wifjenfchaftliche Hhypotheje und als Philojophem , befpricht die Möglichkeit des Naturerfen- nens unb jchreitet fort zum (egten Grund, zum Schöpfungs- begriff. Er führt bie Entwicdlung, welche Baer bei bem Grenzgebiet jteben ließ, über bie Grenze der eracten Wiffen- ichaften Hinaus, um dem Streben des vernünftigen Geiftes Genüge zu leijten. Ohne ber Naturwiffenfchaft ihr eigenes Gebiet ftreitig zu machen, führt ihn bod) „die vernünftige Betrachtung der Natur mit logifcher Nothwendigkeit zur Annahme eines perjünlichen Gottes als des Schöpfers ber Welt, desjelben, welchen alle Völker ber Erde in mehr oder weniger beftimmter Ahnung verehren, welden vor allem der chriftliche Glaube in der Kirche aller Zeiten und Ge jchlechter befennt, von welchem auch Newton im Anſchluß an feine bemunderungswürdige Theorie von der Bewegung der Himmelsförper Zeugniß gibt“ (278 f.) „Nur ber jenige hat ein Recht, den perfönlichen Schöpfer zu Teugnen, welcher die 3medmüpigfeit und zugleich die Geſetzmäßigkeit in ber Natur Teugnet und in derjelben nichts als ein &pid des blinder zwed - und gejeglojen Zufalls erblidt“ (331).

Man wird in derartigen Schriften nicht feine eigenen Aufhanungen in allen wiederfinden, aber wenn ἐδ bisher ihwer war zur Orientirung über diefe bremmende Trage entjpredenbe Schriften aus dem Kreife der Naturforfcher anzugeben, fo gereicht e8 zur Befriedigung, daß durch die bejprodjenen bem Mangel nicht bloß abgeholfen, fondern

Ρ aud) ein reiches Arfenal zur Vertheidigung geboten ijt.

& dan;.

Lipfius, Lehrbuch der evangelifchproteftantiichen Dogmatit. 493

3.

Lehrbuch Der ebaugelildproteftantilden Dogmatif von Dr. Richard Anelbert Lipfins, Großherz. Sächſiſchem Kirchen: ταῦθ und ordentlihem Profeffor der Theologie zu Jena. Braunſchweig, G. A. Schwetichfe u. Sohn (M. Bruhn) 1876. 8°. VIII u. 874 ©.

Die durchaus ablehnende Haltung, welche wir von unjerm Standpuntt aus dem des Verfaſſers vorliegender Dogmatik gegenüber einnehmen müjjen, bringt e8 von felbjt mit fih, daß unfere Befprechung des vorliegenden Werkes den Rahmen einer bloßen Anzeige nur wenig überfchreitet.

Der bogmatijdje Stoff wird im Anſchluß an die θεῖς kömmliche Eintheilung in zwei Theile zerlegt: die „theologische Principienlehre” und das „dogmatifche Syſtem“. Der erjte Zheil bejpridjt die befannten Einleitungsfragen über 9tefigion und Offenbarung, deren Begriff wie deren Gejchichte und jofort die dem Proteftantismus eigenen und als folche ge- rechtfertigten dogmatiſchen Grfenntnigquelfen. Auch ber ‚zweite Theil fchließt fid) an die gewöhnliche und übliche Gin» theilung an. In der Gotteslehre Tommt Dafein, Wefen und Eigenschaften Gottes zur Sprache, anhangsweife erfcheint die trinitarijdje Gottesvorftellung abgehandelt bez. negirt. Unter ber Ueberfchrift: bie Lehre von der Welt und vom Menfchen wird einerfeits die Schöpfung und VBorfehung Got- t$, anbererjeit$ der Menſch im Urzuſtand, als gefallener, al8 Gegenstand ber vorbereitenden Gnade in8 Auge gefaßt, anhangsweife merben Engel und Zeufel abgemanbeft bezw. wieder abgethan. Die dritte Abtheilung enthält „die Qebre von bem in Chriftus erjchienenen Heil“. Zunächſt bietet der Verf. uns unter dem Titel: „die ewige göttliche Heils-

Xheol. Quartalichrift. 1876. Heft III. 32

494 gipfus,

ordnung unb ihr VBerhältnig zur Gefchichte überhaupt (Deko: nomie des Vaters)“ [eine Auffaffung bezw. Kritik der Prä— dejtinationslehre. Unter der Rubrik: „die gefchichtliche Dffen- barung bes Heil8 und die Begründung ber Heilsgemeinſchaft in Chrijtus (SOefonomie de8 Sohnes)“ wird Chrifti Perjon und Werk nad der firdjfidjen Auffaffung und dann nad der des Verf. abgehandelt. Der Endabfchnitt: „die gt Schichtliche Verwirklichung des Heilslebens in den einzelnen und in der Heildgemeinfchaft (SOefonomie be8 Geiſtes)“ bietet die bogmatijdje Lehre über Gnade, Rechtfertigung und Gnadenjtand einerſeits, die Wefre von den Gabe mitteln und der Kirche anbererjeite. Ein Anhang handelt „von ber Hoffnung auf die fün[tige Vollendung des Heils“, die diesmal „vielleicht“ als „Möglichkeit“ (&. 871) feit: gehalten wird.

Bon welchem Prinzip nun geht ber Verfaſſer diefer „evangelifch-proteftantifchen Dogmatik“ aus? Die Dogmatil ift ihm bie wilfenfchaftliche Darftelfung der religiöfen Welt: anfchanung des ChriftenthHums und des in ihr vorausgeſetz⸗ ten religiöjen Verhältniffes vom Standpunkt des chriftlichen Glaubens aus und für die Genoffen des Glaubens zum Zwede gemeinjamer Berftändigung über den Anhalt desfelben und über den diefem Inhalt angemejjenften gebanfenmäßigen Aus: brud (€. 1). Aber was verfteht er nun eben unter biejent „hriftlichen Glauben“, von mo aus er feinen Standpunft nehmen will? 8 ijt felbftwerftändfich nicht ber confeffionelle protejtantifche oder irgend ein confeffioneller Glaube im ob jectiven Sinn, nodj aud) etwa der fubjective Fiducialglaude im altproteftantifchen Sinn, fondern eben der individuelle Glaube des Berf., feine perfönliche Auffaffung vom Weſen des Chriftenthums. Im Anflug an Schleiermager be

Lehrbuch der evangeliichproteftantiichen Sogmatil. 495

zeichnet er baher als das religiöfe Prinzip des Proteftantismus „das in Chriſto perfónfid)em Selbftbewußtfein thatjächlich verwirklichte, mittelft des Glaubens an ihn aí8 Thatjache des gemeinjamen und individuellen Bewußtſeins jid) Deut. fundende veligiöfe Verhältniß ber Sohnfchaft bei Gott, in welchem an die Stelle ded Gegenfages zwiſchen Gott und Menfch bie Lebensgemeinfchaft be8 Menfchen mit Gott in ihrem wahrhaft geiftigen Sinne, a(& unmittelbar perfönfiche Gegenwart des göttlichen Geiftes im Meenfchengeifte getreten it^ (€. 109). Mit andern Worten: da8 Bewußtſein ber Verföhnung und Einheit mit Gott trot aller Naturabhängig- feit und in Meberwindung der aller moralifchen Gntmidfung anflebenden Scladen ijt ihm das Weſen des religiöfen Ölaubens , ber baburd) zum jpegifijd) chriftlichen wird, daß fid) dies Bemußtfein erftmals in Chrifto in feiner vollen Energie und zwar in den Schranken ber Zeit und Nationali- tät aber bod) ohne eigentliche jündhafte Anomalie ausge: Iprochen und entmidelt Dat, aljo mo ἐδ wieder erjcheint, überall an. ihn als Vorbild und Stifter anfnüpft. Ob das wirklich der Kern des Glaubens im proteftantifchen Sinne ijt, darüber haben wir nicht mit dem Verf. zu rechten. Bon diefem Ctanbpunft aus unternimmt e8 nun der- jelbe die chriftliche Weltanjchauung im Sinn eines geläuter- ten Theismus zu rechtfertigen, indem er zu zeigen verjucht, wie fid) diefer zulett als Kern und Stern aus den Schalen und Involuten der chriftlichen dogmatifchen Vorjtellungen herausfchälen (affe. Das Verfahren ber jichtenden und aus— fcheidenden Kritif ift aus Strauß und Biedermann, von welchen den Verfaſſer fein ftrenger Theismus unterjcheidet, jattjam befannt. Nach einander werden die verfchiedenen in die Schrift hineingetragenen biblifchen Vorftellungen und 32 *

496 gipftus,

Lehrbegriffe auseinandergefeßt, bie aus bem Durcheinander derjelben fich kryſtalliſirende Kirchliche Lehre in ihrer all; mäligen Entwidlung verfolgt, an deren Abjchluß ber ebenjo nothwendige Prozeß der Zerjegung beginnt, ber ebenfalld mit fritijdjem Behagen durchgefoftet wird, bi& der. Kritiker am Ende das niedergefchlagene Reſiduum einer möglichft alige- mein gehaltenen religiöſen Wahrheit al8 übrig gebliebenen „Gehalt“ aufzeigt. Es kann wenig Intereſſe bieten, den Berfaffer, deffen dialektifche Gewandtheit alles 20b verdient, in bie Gingefpfabe diefer Kritit zu verfolgen;ees genügt zu erwähnen, daß ihr alle aber auch, gar alfe ſpezifiſch chriftli- chen been, vom Begriff der Offenbarung an bis herab zur Eichatologie zum Opfer fallen, fein Ehriftusbild bei weiten auch nicht einmal das Schleiermacher'ſche ijt. Was für ein pofitiver Gewinn wäre alfo nod) aus bem

| Buche zu ziehen? Mean könnte zunächſt .an den negativen

benfen, daß der Verf. aufs Neue alle die bem pofitiven Dogma entgegenjtehenden Bedenken, die Schwächen alter und neuer Löſungsverſuche wieder in'8 Licht ge[tefít Dat ἢ. So wird man das Bud allerdings audj in Zukunft. neben den befannten dogmatifchen Werten von Strauß, Schweizer,

1) In der Darftellung der Fatholifchen Lehre find ung ale gröbere Irrthümer aufgefallen, daß der Verf. bie Gnade der Berufung mit der äußern Verkündigung be8 Evangeliums durch bie Kirche identificirt (€. 351 f. 608), durch bie Eriöfung Chrifti nur bie der Taufe vorausgehenden Sünden gefühnt fein läßt, mährend δα Meß— opfer zur Sühnung der nad) der Taufe begangenen Sünden bet Gläubigen geftiftet fein fol (S. 511 u. 737) und daß er bezüglich der jog. unvolllommenen Neue bemerkt: „ber Priefter Tann αὐ dem Schaf der guten Werke die unvollftändige Neue ergänzen” (©. 627). Auch bezliglich be8 opus operatum begegnet un® zweimal ber befannte Vorwurf (€. 722 unb 738).

Lehrbuch der evangelifch-proteftantiichen Dogmati. 497

Biedermann. anzufehen haben al8 Arjenal und Rüftlammer alter und neuer gegen das pofitive Chriſtenthum gefchmiede- ten Waffen, deren Handhabung gegen das Gpriftentfum nur die etwas fchmerfällige orm der Darftellung erfchwert. Da- gegen pofitiven Gewinn wird der gläubige Dogmatifer wenig oder gar feinem aus bem Buche zu ziehen vermögen. Als instrumenta doctrinae wird er jebenfafíG Dejjer eigent(idj philofophifche ben Standpunkt des Theismus pertretenbe Werke verwenden als diefe Dogmatik, die weder Fiſch noch διε ift. Der Verfaſſer Hat freilich für feine Perſon zu einer Metaphyſik, bie die Realität der religiöfen Weltan- ſchauung „auf rein begrifflichem Wege bebucirt", „alles Ver⸗ trauen verloren“. Aber der Weg der religiöfen Erfahrung, den er uns im Anfıhluß an Schleiermacher weifen möchte, bietet beim Verf. überall wie feinem Vorbild jelbjt in ber Gotteslehre fo problematifche 9iejuítate, daß man füglich zweifeln darf, ob der von ihm gebotene Grjatg irgend mehr al8 die verachtete Schulmetaphyfit ausrichtet. Nejultate vollends wie €. 319: „So wenig wie die Naturwelt ohne das Uebel, [o wenig ijt bie fittliche Welt ohne das Böſe benfbar^ haben auch für eine theiftiiche Weltanfchauung einen gar bedenffichen Klang.

Der Verf. ift redlic) bemüht, bie Grundanfchanungen des Chriſtenthums gegenüber Pantheismus und Deismus, Determinismus und Pelagianiemus, Yudaismus und agas nismus, Doketismus und Ebionismus, Traditionalismug und Indepedentismus und wie bie Schlagwörter affe lauten, aus- zufcheiden und klar heranszuftellen. Aber ift e8 nicht ein troftlofes Schaufpiel, in der ganzen Gefchichte des Chriften- thums nun jene „Orundanfchauungen” in fortwährender Verzerrung und Verkehrung, (tet8 in die Hüllen phantaftifcher

l

498 ipfius, Lehrbuch der evangeliſch⸗proteſtantiſchen Dogmatik.

Zuthat und Einbildung eingewidelt verfolgen zu müſſen, bis endlich ein benfenber Kopf der Gegenwart gewandt genug ijt, fie in ihrer Reinheit herauszufchälen, indem er freifid) mit der Behauptung einer fteten Umwandlung bes religiöfen Bemwußtfeinsinhaltes bei veränderter Weltanſchau⸗ ung (€. 71) bem Leſer den fchlechten Troſt nod) mitgibt, daß der Sifpphusarbeit eben mod) fein Ende ift umb fie mit jedem Fortſchritt des miljenfchaftlichen SSemuftfein8 aufs Neue zu gefchehen Dat und ihre Löfung wieder anders aus⸗ fallen muß (€. 6)? Ein trojtfoje8 Schauspiel jagen mit, ba8 da Gott bie arme Menfchheit aufführen läßt und wir zweifeln, ob für diefen Gott irgend eine Scele gewonnen wird. Wir meinen, dem Buche des Verf. werde e8 gehen wie den allegorifchen Auslegungsverfuchen der antiken Mythen, die und bei fo manchen redlichen Philofophen alter ‚Zeit be gegnen : die fchneidende Kritik, welche jie an ben Buchſtaben des alten Glaubens anfegten, verftand alle Welt und machte fid) jeder (Gebi(bete zu eigen, man lachte über bie alten Götter, aber auch über bie geiftreichen und gefünfte(ten Ver⸗ iude, Hinter fo viel Spren einige Körner zu fuchen, Hinter dem Buchjtaben einen tiefern Sinn und Gehalt auszumittern, von dem fid) feiner der Gläubigen jemal® etwas Hatte träumen fajfen.

Den Berf. jammert ſichtlich der allgemeine Niedergang ber 9tefigiofitüt und des Chriftenglaubens in der Gegenwart, wie einftens aud) ein Plutarch und andere in alten Tagen über die troftlofen religiöjen Zuſtände ihrer Zeit gejeufzt. Er fagt mand) treffendes Wort gegen Darwinismus unb Diaterialis- mus, über den Werth unb bie Bedeutung der Religion. Aber wenn er glaubt, mit diefem dünnen Ertract von Gri (tentum. und Offenbarungsglauben bie religiöſe Welt heilen,

Vogt, Sammlung firdjlidjer und ftantlicher Verordnungen ꝛc. 499

bungrige Seelen erquiden zu fünnen, jo gemahnt uns ba6 an jenes Herrenwort vom Stein, ben man den Kindern nicht ftatt be8 Brotes bieten foll (Matth. 7, 9).

Rep. Dr. phil. Knittel.

4.

Sammlung kirchlicher und flaatlider Berorbuungen für Das Bisthum Rottenburg von Adolf von Vogt, Syndifus des bifchöflichen "Drdinariats in Rottenburg. Schwäb. Gmünd, Verlag von Georg Schmid. 1876. VI u. 828 ©.

Herr Syndikus v. Vogt hat im Jahr 1863 eine Zu- fammenfteffung der fTirchlichen Verordnungen für das Bis⸗ tüum Rottenburg veröffentlicht und derfelben im Cy. 1870 eine Fortſetzung folgen laſſen. Da bie erjtere [jon lange vergriffen ift und feit bem Erfcheinen ber leßteren wieder zahlreiche und jehr wichtige Verordnungen feitens der kirchli⸗ chen Oberbehörde erlaffen wurden, fo hat fid) ber H. Berf. entichloffen, eine neue Sammlung zu veranjtalten. Die: jelbe liegt jet in einem umfangreichen, elegant ausgeftatteten Bande von 828 Seiten vor. Die beiden frühern Samm⸗ lungen find in den *betheiligten SKreifen allgemein befannt und allfeitig als treffliche Leiftungen anerfannt. Die eben erichienene neue Sammlung ift nach denfelben Grundfägen, mit der gleichen Sorgfalt‘ und Genanigfeit, mit der nämli⸗ den Cadjfenntnig wie ihre beiden Vorgängerinnen bearbeitet und wir haben in den angebenteten Richtungen unjerm am» ertennenden Bemerkungen, mit welchen wir bie früheren

500 Bogt,

Publicationen (Ouartaljcrift, 1863. Θ΄. 169 f. und 1870. ©. 541 ff.) begfeiteten, nichts mejentfid Renes hinzuzufügen. Ras die kirchlichen Berordnungen betrifft, fo wurden aus der Zahl der früher aufgenommenen diejenigen, weld nur einen tranfitorifchen Werth hatten, ausgejchieden, an ihrer Stelle mandje älteren, bie nod) jebt von Bedeutung find, aufgenommen und namentlid die ſeit bem CY. 1870 erfchienenen beigefügt, jo bap nicht nur viele Artikel mejeut- li) erweitert und vermehrt, fondern and zahfreihe ARubrifen ganz nen eingefchaltet wurden 3. B. Applicatio pro populo €. 10 ff. Auswanderer ©. 38 ff. Jagd ©. 209 f. Ynvali- denftiftung €. 227 f. Kaiſer €. 243 f.. Kinderrettunge- an[ftaíten S. 247 ff. Miniftranten S. 374. Penfionirung €. 436 ff. Polizeiauffiht €. 559 ff. Predigt €. 569 f. Sponfalien S. 622 f. Waijenhaus, wofelbft €. 743 ἢ. jehr zwedimäßig eine von der Blindeninfpection gefertigte Zu: fammenftellung derjenigen gejeßlihen Beftimmungen, meld für die Aufnahme der Kinder maßgebend find (aber viel[ad), felbft von Seiten der mitwirtenden Behörden nidjt die et: forderliche Beachtung fanden), beigefügt wurde. Nicht weniger zwedmäßig und banfenémertf ijt die Einrichtung, daß bei verjchiedenen Tirchlichen Verordnungen zur näheren Crläute rung derfelben in den beigegebenen Noten auf bie einfchlägi- gen Gríaffe der bürgerlichen Behörden verwiejen wird, wie ©. 38. 76. 97. 162 f. 164 f. 559.: 606. 620 ac. Indeſſen der Hauptwerth der neuen Sammlung und ihr characteriftifcher Unterfchieb gegenüber bem frühern liegt darin, daß bie auf Fatholifch-Firchliche Verhältniſſe bezüglichen ftaatíiden Verordnungen in erfchöpfender Vollſtändigkeit fowie alles Dasjenige aus dem bürgerlichen Rechte, befon- ders aud) aus den neneften Reichsgeſetzen (S. 37. 57. 59.

Sammlung τ εν und ftaatlicher Verordnungen 2c. 501

64. 166. 203 f. 373. 564. 702 f. 767 f. 788 f. 790 f.) aufgenommen ijt, was der Geiftfichfeit bei Beforgung ihrer Amtsgefchäfte zu willen nothwendig ober zweddienlich jein Tann. Wir verweifen in diefer Beziehung auf die entweder ganz neu Dingugefommenen ober bod) beträchtlich erweiterten Artikel Amtlicher Gefchäftsverkehr, Amtsſigill, Aufbeſſerung des Pfründeinfommens, Ansländifche Geiftliche, Begräbniß, Betteln, Bevölkerungsliſte, Goffecten, Confeffionsmechfel, Dekane, Diffentirende, Eidesabnahme, Epidemien , Geiftes- franfe, Gerichtliche Klagen gegen Geiftliche, Gemitterfüuten, Gotteéader, Hebammen, Sympffiften, Kirche in ihrem Ver- hältniß zum Staate, Kirchenbücher, Kirchengebäude, Kirchen» ftellen, Beſetzung und Bewerbung, Rulterfordernijfe und Kult» foftenverzeichniffe, Lehramtsfandidaten, Lehrlinge und jugend- liche Fabrifarbeiter, Meßnerdienfte und Meßnereigehilfe, Miti- tärpflicht, Oberamt, gemeinschaftliches, Patronatrecht, Pfründ⸗ befchreibung und Pfründbefoldungen, Pfründſtocksrechnungen, Pfründgüter, Pfründfapitalien, Portofreiheit, Rang, Staats⸗ anzeiger, Standesherren, Steuern, Stiftungsrath und Kirchen« fonpent, Thierfchugverein, Unterftügungswohnfig, Verfehluns gen der Geiftlichen und Strafen.

Durd) bie Beigabe eines fehr genauen und ausführlis hen (34 Seiten umfaffenden) Negifters {{ bie Benützung de8 Buches außerordentlich erleichtert. Drud und Ausftats tung find tadellos, die Gorrectur, einige Keine Verſehen abe gerechnet, äußerft pünktlich bejorgt.

In ber llebergeugung, daß bie neue Sammlung nidjt nur das Studiun unferer Diöcefan- und Randesgejeßgebung zu fördern in hohem Grade: geeignet fei, fondern aud) in ber amtlichen Praxis ein zuverläßiger Führer und Nathgeber fein werde, möchten wir diefelbe allen Betheiligten aufs Angelegentlichite empfohlen haben. Kober.

502 Alzog, 5.

1) Theologiſche Bibliothet. Handbuch ber Patrologie ober ber älteren chriftl. Siterürgeldjid)te von Dr. Johannes Alzog, geiftlihem Rath zc. 1. Dritte neubearbeitete und ber

' mehrte Auflage. Treiburg i. B. Herder. 1876. XIV u. 572 ©. 8.

2) Der Apoftel Barnabas. Sein Leben unb der ihm beigelegte Brief, wiflenichaftl. gewürdigt von Dr. Otto Sranusberget, Priefter der Didcefe Augsburg. Gekrönte Preisfchrift. Mainz, Supferberg. 1876. VIII u. 278 ©. 8.

3) Patrologiſche Nuterſuchnugen. Ueber Urfprung der proble matijden Schriften der apojtol. Väter. Don Gonflantit Skworzow, Profeſſor ber Patrologie an der Akademie zu Kiew. Leipzig. Fleiſcher. 1875. VI u 170 ©. 8.

1) Seit Beröffentlihung der zweiten Auflage dieſes Buches ijt eine Neihe von Schriften auf dem Gebiete der Patrologie erjchienen, theils Werke alfgemeinever Art, tfeilà Monographien und Detailunterfuchungen, und dem Verfaſſer ermudj8 in erfter Linie die Pflicht, fie durchzuarbeiten und fie, fo weit fie bie Wiffenfchaft förderten, für feine meu Auflage zu verwerthen. Er ijt ihr mit großer Gewiſſen⸗ Daftigfeit nachgefommen und wer die vorliegende Auflage ' mit den früheren vergleicht, wird au jebr vielen Stellen feiner verbeffernden Hand begegnen. Indem aber feine Batrologie jet in bie Herder’jche theologische Bibliothek Anf- nahme fand, trat noch eine andere Aufgabe an ihn heran. Mit 9tüdfidt auf die Bände, welche von diefem größeren Werke bereits erfchienen find, ward eine Erweiterung bes Inhaltes a(8 geboten erachtet und ba aud) jonjt eim folcher Wunſch geäußert wurde, fo glaubte er fid) ihm nidt ἐπὶ: ziehen zu dürfen und er entípradj ihm in der Weife, daB

Patrologie. 503

er den neuen Stoff in den Rahmen der früheren Ausgaben einfügte. Die Anlage des Werkes blieb fo im weſentlichen die bisherige. Zwiſchen bie alten Paragraphen wurden aber einige neue eingefchoben, indem einzelne Schriften und Schrift: fteller, wie die Bifchöfe Archelaus von Cascar und Alexander von Lykopolis (8 30) und die Ytala und Vulgata ($ 37) mer aufgenommen, ober wie Hofins, Lucifer und Pacian (8 68) viel eingehender behandelt wurden ; andere aras geaphen wurden nach Bebürfniß erweitert, in$befondere Tour» den bald größere bald Kleinere Stellen aus verfchiedenen Vätern und namentlich ben Dichtern ausgehoben und theils im Urtext, theil® in Ueberfegung als Stilproben mitgetheilt. Die Schrift erjcheint fo beträchtlich vergrößert und die Er- weiterung beträgt nad) bem feitherigen Format fast dreizehn Dogen oder etwa ein Drittel. Die beifüllige Aufnahme, die [ie Dereit8 bisher gefunden, wird ihr de&halb in nod) erhöhten Grade in Zufunft zu Theil werden und der Wunſch des gelehrten Verfaflers, zum Nuten ber Theologie: Studieren: den wie der uratgeiftlichen gearbeitet zu haben, wird fein eitler fein.

Weiter ift auf die Arbeit, da fie bereits im Jahrgang 1867, ©. 92 ff. eine einläßliche Beiprechung gefunden, hier nicht einzugehen und ich erlaube mir zum Schluß nur nod) einige Noten zur allenfallfigen Berückſichtigung in einer neuen Auflage beizufügen. S. 30 dürften der Barnabas— literatur noch angereiht werden: Müller, Erflärung des Barnabasbriefes 1869 und Heydecke, Dissertatio qua Barnabae epistola interpolata demonstratur 1874 und €. 165 verdient die hervorragende Leiftung des Profeffor Dr. Ott in Rottweil: „Die neueren Forfchungen im Gebiete des Bibellatein“ in ben Jahrbüchern für claffifche Philologie

504 Braunsberger,

von Mafius und Tledeifen Jahrgang 1874 eine Erwähnung. Bon der ©. 285 angeführten Monographie Ullmann's über Gregor von Nazianz (Darmftadt 1825) ift 1867 von Perthes in Gotha eine zweite Ausgabe veranftaltet worden und die Dindorf’fche Ausgabe des Epiphanius erfchien nicht 1860 ff., wie S. 303 angegeben ijt, fondern 1859—62. Die fünfte Auflage der Tübinger Patres apostoliei ift nod) nicht erfchienen; aber ihre Ankündigung durd den Verf. €. 21 foíf für ben Referenten ein Sporn fein, fid ihr fortan mefr zu widmen.

2) Die Barnabasliteratur, bie fürzlih (Qu.Schr. 1876, 110 f.) verzeichnet wurde, Dat ingmijd)en bereit wicder eine Bereicherung erfahren und der Berfafjer ber vorjtehenden Schrift Hat bie vorhandene umfangreiche Literatur tüchtig durchgearbeitet und ba und dort auch auf einen bisher nur wenig oder nicht beachteten. Punkt Hingewiefen. Die Arbeit zerfällt in zwei Theile und der erfte enthält eine eingehende Unterfuchung über das Leben des Apoſtels Barnabas, im zweiten, der bem Barnabasbrief gewidmet ift, wird bejonders ausführlich liber ben Urfprung und über bie ältere Gefchichte be8 Briefes gehandelt. Br. befennt fid) zu der in der Gegen- wart beinahe allein vertretenen Anficht, daß der Brief nid von dem Apoftel Barnabas herſtamme, und erörtert nid bloß die äußern unb innern Gründe, bie für einen ander mweitigen Urfprung fprechen, fondern handelt aud) ziemlich eingehend von den Beweiſen, die bisher gegen bie Aechtheit vorgebracht wurden, aber nad) feinem Dafürhalten nid ftichhaltig find. Der BVerfaffer des Briefes ift nad ihm ein Heidenchrift und ebenfo find bie Qefer menm aud nidt ausschließlich fo doch vorwiegend Heidenchriften. Da bit meiften Chriftengemeinden ber damaligen Zeit, wird gefchloffen,

Der Apoftel Barnabas. 505

ans Juden⸗ und Heidenchriften gemifcht waren, fo wird e8 fid) ähnlich aud) mit den Kirchen verhalten haben, an die unjer Brief gerichtet wurde, und bem entipredhend werden die Judenchriſten, die im denjelben jid) befanden, vom Verfaſſer ſchwerlich ganz außer Acht gelafjen worden fein. Als Zweck wird mie die Zurückweiſung des jüdischen Joches fo in gleicher Weiſe die Beförderung eines tugend- haften Qeben8 angenommen und mit dem Zugeſtändniß, daß eine jtreng einheitliche und zugleich ungezwungene Gliederung, nicht möglich fei und daß ber Verfaſſer wohl ſelbſt nicht daran dachte, alle einzelnen Gedanken nach einem ganz funftgerechten Plane aneinander zu reihen, dem Schreiben die Integrität zugefprochen. Die Entjtehung wird zunächſt in die Seit zwifchen 70 und 137 verfegt und dann nod) der Anſchaunng . eine groge Wahrfcheinlichleit guerfannt, nad der der Urſprung in das erjte Drittel des zweiten Jahr⸗ hunderts fällt. Die Arbeit ijt, wie bereit6 bemerkt wurde, eine tüchtige Leiftung, menm fie aud) feine mejentfid) neuen Refultate zu Tage förderte und nicht frei von einzelnen 33er» ftößen ift, und e8 ijt zu wünſchen, der Verf. möchte bie literarifche Laufbahn, die er mit Ehren betreten, noch weiter verfolgen und feine Kraft auf einem Felde erproben, das nod) weniger angebaut ift und mehr Ausbeute verjpricht ale die Barnabasfrage.

3) ὅπ der in dritter Linie genaunten Schrift werben die problematifchen oder diejenigen Schriften aus der Periode der apoftolifchen Väter behandelt, über deren Aechtheit fid) die Alten zweifelnd oder verfchieden ausgefprochen haben, fo daß fie bis jeßt fraglich (ei, umb e8 wird ber Verſuch ges madt, die Frage mad) ihrem Urjprung hauptſächlich anf Grund der inneren Zeugniffe zu füjen. Näherhin werden

506 Skworzow,

der Barnabasbrief, der Hirt des Hermas, der zweite Clemens⸗ brief, die Briefe des Ignatius und die areopagitiſchen Schrif— ten in Betracht gezogen und die Studien ſind nicht ohne Intereſſe. Sie bieten manches Neue und wenn die Er- gebniffe ebenjo feft begründet wären, als jie überrafchend und originell find, jo würde die Arbeit einen nicht unbe- deutenden Pla in der patrologijchen Literatur einnehmen. Aber bie Umficht, die Genauigkeit und die Grümdlichkeit im Berfahren, "ohne die die bißherigen Stejultate ber Wiſſenſchaft nicht umgeftürzt werden können, werden nur zu jefr ver: mißt unb Combinationen gemacht, für bie dem unbefangenen Beobachter die erforderlichen Meittelglieder fehlen. Um den fühnen Hhpothefen einen weiteren aft zu geben, werden aud) Ctügen nit verfehmäht, bie durch die Hiftorifche Kritit bereits zur Geniüge als morſch dargethan worden find und ich erinnere nur an ©. 32, wo das Verbot bed Kaifers Antoninus, einen Gfrijten a(8 folchen anzuklagen (Euseb. h. e. IV c. 13) umb an ©. 159, wo der (pfeudo- ifidorifche) Brief des Papftes Cajus an ben Biſchof δες für ächt erklärt wird. Auf alles Einzelne einzugehen, würde zu weit führen und es dürfte zur Illuſtration des Verfah⸗ rend des Verf. hinreichen, bie Hauptgedanken feiner Schrift kurz anzuführen.

Für bie Beitimmung der Entftehungszeit des Barnabas- briefes wird von c. 4 ausgegangen und in bem feinen Horn der dort angeführten Daniel'ſchen Weiffagung der elfte römische Raifer, Domitian, erblickt, indem die drei geftürz- ten Hörner auf die wirklichen oder wenigftens in Anjprud genommenen Siege diefes Fürften über die Briten, Dacier und Germanen bezogen werden. Beſtimmter wird ber lr fprung in das Jahr 91 verlegt, weil der Autor die Apo⸗

Batrologifche Yinterfuchungen. 507

falppfe noch nicht fenne und die Meinung zu widerlegen ; ſuche, al8 ob bie Ehriften die jüdischen Gebräuche für mwün- fchenswerth hielten, müfrenb Domitian fid) damals als Gott procíamirt und bie Chriften wegen Beobachtung ber jübifhen Satungen habe verfolgen laſſen (€. 1—14). Dem Hirten be8 Hermas (€. 15—43) wird eine auti» gnoſtiſche Tendenz (gegen den Walentinianer Markus) zu- gefchrieben und feine Gntftebung im Ginffang mit dem Muratoriſchen Fragment in die Mitte des zweiten Jahr—⸗ Dunbert8 verlegt. Der zweite Clemensbrief (€. 44—55), ber ihm ähnlich, nur kurze Zeit vor ihm gejchrieben und jeinem Verfaſſer befannt gewefen fet, ſoll eines der beiden Schreiben fein, deren Abfaffung dem Hermas Vis. II c. 4 aufgetragen wurde, und ἐδ wird damit an eine Anficht über die gegenfeitige Beziehung der beiden Schriftſtücke geftreift, die Schon im Jahr 1861 in ber Qu.Schr. vorgetragen wurde, die aber a(8 grunb(o8 aufgegeben werden muß, feitbem durch die Auffindung de8 Codex Hierosolymitanus ber homiletifche Charakter de& zweiten Clemensbriefes außer Zweifel geftellt ijt. Die ignatianifchen Briefe werden in zwei Claſſen ge» fondert und ber einen die drei nur lateinisch vorhandenen (zwei an den Apoftel Johannes und einer an die feligite Jungfrau), deren Berfaffer fid) in der Ueberfchrift einfach Ignatius nennt, ber zweiten die zwölf anderen zugewiefen, deren Verfaſſer Ignatius Theophorus Deigt. Jene werden als „eigentlich ignatianijd)" oder ächt anerkannt, inden „fie ſowohl nad ihrem Charakter a($ auch nad ihrem Anhalt im höchſten Grade einem Zeitgenoffen und Begleiter ber Apoftel angemefjen* feiert; die Briefe der zweiten Glaffe jolfen unter bem Pontifitat des Papftes Anicet (158—169) ent[tanber und die längere 9tecenjion ſoll die urſprüngliche

508 Skworzow, Patrologifche Unterfuchungen.

oder wenigftend dem Original am nüdjteu ftehende fein.

Bon einem Gang des Verfaffers zum Martyrium [εἰ ftreng "

genommen in ihnen nichts zu finden und bie bezliglichen Morte feien anders a[8 bisher zu fafjen, da man fid) fonft in ein Labyrinth von Widerfprüchen verwidle. Ignatius Theophorus habe fid) vielmehr nad) Rom begeben, um bie Süretifer umb näherhin die Nachfolger be8 Marcion zu bes fümpfen, und er habe bieB incognito thun wollen, weßhalb er bie Römer (c. 2) bitte, über ihn zu ſchweigen (©. 55 IT). Wie ber Paftor Hermä, der zweite Elemensbrief und die Briefe des Ignatius Theophorus, [o follen embfid) auch die areopagitifchen Schriften (S. 98—170) eine anti« guojtijd)e Tendenz haben und weil fie e8 nicht mehr auf einen Sieg über den Gegenfaß, fondern auf feine Verſöhnung abfehen, jollen fie nicht im zweiten, fondern im dritten Jahr⸗ hundert entjtamben fein, wo die Irrlehre bereits im Nieber- gang begriffen gemejen jei. Der. VBerfaffer ſoll ein Zeitgenofje Plotin’d und fein Lehrer Hierothens ſoll, ba die Schrift de divinis nominibus jidj al8 Kommentar‘ zum Beriar: chon des Origenes darftelle, fein anderer als ber große Ales ranbriner fein. Aus bem Schlußſatz des dritfen Kapitels der gedachten Schrift wird ferner geſchloſſen, ber Autor [εἰ jelbft ein Alerandriner und endlich wird er zu einem Lehrer der alerandrinifchen Katechetenjchule erhoben und Dionyfius der Große genannt. Die Stellen, in denen fid) der Ber- faffer al8 einen Zeitgenofjen umd Begleiter der Apoftel zu erkennen gibt, werden auber8 gedeutet die Worte von ber Zuſammenkunft, die die Brüder veranftalten, um den Leib zu fehen, welcher die Quelle des Lebens ijt und Gott getragen hat, [offen auf die Synode von Boftra und bie dort gepflogenen Verhandlungen über die Natur und Menſch⸗

Reuter, Aufllärung im Mittelalter. 509

werdung Chriſti fid) beziehen und fo der Vorwurf einer Fälſchung von Dionyfius abgelehnt. Auch Hermas wird von diefer Beſchuldigung freigefprochen, da unter dem Clemens in Vis. II c. 4 nidjt der Papſt, fondern eine andere und (piter [ebenbe Perfon bieje8 Namens zu verftehen [εἰ unb endlich fol aud) bezüglich der ignatianifchen Briefe von einem Betrug nicht bie 9tebe fein können, ba ber Verfaſſer der zweiten Claſſe nicht der Apoſtelſchüler Ignatius fei und fein wolle unb da bie vorgenommene Verkürzung feiner

Briefe nicht unter jenen Begriff falle. sunt.

6.

Geſchichte der religiöfen Aufklärung im Mittelalter von Ende des achten Jahrhunderts bis zum Anfange des vierzehnten von Hermann Reuter. Erſter Band. Berlin. Herb. 1875. XX unb 335 C. 8.

Der Gefchichtfchreiber des PBapftes Alexander III bietet in der vorftehenden Schrift eine Arbeit, die gleich der frühe- ren einen hervorragenden Plag in der Literatur behaupten wird. Neu durch ben Inhalt ift fie vortrefflich in der Aus⸗ führung und beinahe auf jedem Blatt zeigt fid) der Meijter, ber mit nimmer raftendem Fleiße an feinem Werke thätig war, bis er ihm den erreichbaren Grad der Vollkommenheit gegeben. Da er bei feinen Quellenftudien die Wahrnehmung machte, bab im Mittelalter mehr, als bisher befannt war, aufflärerifche Ideen vorhanden waren, fo begann er das ermfchlägige Material eifrig zu fammeln, um die Gefchichte der religiöjen Aufflärung in diefem Zeitraum zu fehreiben

Theol. Quarialſchrift. 1876. Heit III. 33

510 Reuter, Aufklärung im Mittelalter.

und eine Seite bebjelben ins Licht zu Stellen, bie in der Literatur bisher übergangen- oder nur fehr einfeltig behandelt worden war. Seine Unterfuchungen erftreden fid näherhin auf die Zeit oom Ende des adjten bis zum Anfang des vierzehnten Jahrhunderts und der vorliegende erfte Band erftredt [id bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts, bem die zwei legten Büdyer gewidmet find, während das achte und neunte Jahrhundert im erſten, das zehnte und elfte im zweiten Bud zur Darftellung fommen. Als hanptjächlichfter Ver⸗ treter der Aufflärung oder „der Oppofition der als felbft- jtändiges Licht fi mijfenben Vernunft gegen den als fid idu vorgeſtellten Dogmatismus“ erjcheint im elften Jahr⸗ hundert Berengar von Tours, im zwölften Abälard ; im neunten werden Claudius von Zurin, Agobard von Lyon, Gottjdjalf und Scotus Erigena unter diefem Gefichtspunft behandelt und eine Betrachtung über die carolingifche Eultur und bie libri carolini vorau$gejdjidt, deren Urfprung im achten Jahrhundert nun nidjt mehr zu beftreiten fein wird, da die feit geraumer Zeit verfchollene Handfchrift ber ναί» fanijden Bibliothek nad) der Meittheilung Neifferjcheids in bem Breslauer Lectionsfatalog für das Winterfemeiter 1873/74 im Coder No. 7207 daſelbſt wirklich mod) vot: handen ijt. Als Aufflärer im eigentlichen Sinn Tann it deffen im neunten Jahrhundert nur Scotus gelten. Die andern Männer biejer Zeit find nur mit großen Einſchränkun⸗ gen jo zu nennen und der Verf. gibt c8 hinlänglich zu vers jtehen, bap wir uns hier nod) auf einem ſchwankenden und unfichern Boden befinden. Hätte e8 fid) ihm nicht nahe gelegt, die Spuren der Aufklärung, deren Gejchichte er jchreiben wollte, jo weit af8 möglich zurüdzuverfolgen , jo hätte er dieje Männer vielleicht gar nicht mehr in den Rah—⸗

Scäffle, Der foctate Körper. 511

men feiner Dorftellung gezogen und wie mir fdjeint, Hätte er (id) in feinem Urtheil über fie mit Rüdjiht auf bem vorausgeſchickten Begriff der Aufllärung in manchen Punkten etwas anders faſſen, oder wenigitens einer nod) größeren Behutſamkeit in der Wahl der Ausdrücke fid) bedienen follen.

Funk.

7.

Ban uud Leben des ſocialen Körpers. Encyclopädiſcher Ent: wurf einer realen Anatomie, Phyſiologie und Pſychologie der menſchlichen Geſellſchaft mit beſonderer Rückſicht auf die Volkswirthſchaft als ſocialen Stoffwechſel. Von Dr. Albert E. Fr. Schäffle, k. k. Miniſter a. D. Erſter Band. Allgemeiner Theil. Tübingen 1875. Laupp. XXIV und 850 ©.

Was ber gelehrte Verfaſſer üt dem vorliegenden Wert bietet, ijt für den Kenner feiner frühern Arbeiten nichts ganz Neues. ES ehren manche Ideen wieder, bie er fchon früher in befonderen Schriften fowie in Abhandlungen der ib. Zeitfchrift fir gef. Staatswifjenihaft ausgejprochen, und er weist in der 3Sorrebe felbjt barauf hin. Namentlich fommt Hier die „Theorie der ausſchließlichen Abfatverhält- niffe” und die Abhandlung über die „Güter der Darftellung umb Mittheilung“ in Betracht und wie mit jener Arbeit zum vorjtehenden Werk der Grund gelegt wurde, jo ward mit diefer der Schlüffel zu ihm gewonnen. Sie verjdjaffte ibm den allgemeinften Einblid in bie fociale Fuultion der Sym⸗ bofif, Tradition und Communication oder den elgentDümli»

33

510 Reuter, Aufklärung Im Mittelalier.

unb eine Seite be&jelben ins Licht zu ftelfen, bie in der Literatur bisher übergangen- oder nur jehr einſeltig behandelt worden mar, Seine Unterfuchungen erftredien fid) näherhin auf die Zeit vom Ende des achten bis zum Anfang des vierzehnten Jahrhunderts und der vorliegende erfte Band erftredt fid) bi8 zur Mitte des zwölften Jahrhunderts, dem bie zwei legten Bücher gewidmet find, während das achte und neunte Sahrhundert im erften, das zehnte und elfte im zweiten Bud zur Dorftellung fommen. Als hauptfächlichiter 33er; treter ber Aufflärung oder „der Oppofition ber als jelbft- ſtändiges Licht fidj wiljenden Vernunft gegen den als (idt- ſcheu vorgeftellten Dogmatiemus“ erjcheint im elften Jahr⸗ hundert Berengar von Tours, im zwölften Abälard ; im neunten werden Claudius von Turin, Agobard von Lyon, Gottídjalt und Scotus Erigena unter diefem Gefichtspunft behandelt und eine Betrachtung über die carolingifche Eultur und bie libri carolini vorausgefchicdt, deren Ursprung im achten Jahrhundert nun nicht mehr zu beftreiten fein wird, ba die feit geraumer Zeit verfchollene Handjchrift der pati» kaniſchen Bibliothek nach der Meittheilung Reifferſcheids in den Breslauer Lectionsfatalog für das Winterjemeiter 1873/74 im Coder No. 7207 daſelbſt wirklich noch vor: handen ijt. Als Aufflärer im eigentlihen Sinn Tann im deffen im neunten Jahrhundert nur Scotus gelten. Die andern Deänner biejer Zeit find nur mit großen Einſchränkun⸗ gen jo zu nennen und der Verf. gibt c6 hinlänglich zu vers ſtehen, dag wir uns hier mod) auf einem ſchwankenden und unfichern Boden befinden. Hätte εὖ fid) ihm nicht nahe gelegt, die Spuren der Aufklärung, deren Geſchichte er jchreiben wollte, jo weit als möglich zurückzuverfolgen, fo hätte er dieje Männer vielleicht gar nicht mehr in den Rah—⸗

Schäffle, Der ſociale Körper. 511

men feiner Darftellung gezogen unb mie mir fcheint, hätte er fid) in feinem Urtheil über fie mit Rüdjiht auf den vorausgejchiekten Begriff der Aufllärung in manchen SPuntten etwas anders faſſen, oder menigftens einer nod) größeren Behutſamkeit in der Wahl der Ausdrücke fid) bedienen follen.

gunt.

T.

Ban und Leben des jocialeuw Körpers. Encyclopädiſcher Ent: wurf einer realen Anatomie, Phyſiologie und Piychologie ber menfchlihen Geſellſchaft mit befonderer Nüdficht auf die Volkswirthſchaft als jocialen Stoffwechſel. Bon Dr. Albert €. gr. Schäffle, f. f. Miniftera. D. Erfter Band. Allgemeiner Theil. Tübingen 1875. Laupp. XXIV und 850 ©.

Was ber gelehrte S3erfajjer in dem vorliegenden Wert bietet, ift für den Kenner feiner frühern Arbeiten nichts gang Neues. ES kehren manche Ideen wieder, die er ſchon früher in befonderen Schriften fowie in Abhandlungen ber Tüb. Zeitfehrift für gef. Gtaatémijjen[djaft ausgefprochen, und er weist in der VBorrede felbjt darauf hin. Namentlich kommt Hier die „Theorie der ausfchließlichen Abſatzverhält⸗ niffe” unb die Abhandlung über die „Güter der Darftellung und Mittheilung“ in Betracht und wie mit jener Arbeit zum vorjtehenden Werk der Grund gelegt wurde, jo warb mit diefer der Schlüffel zu ihm gewonnen. Sie verjchaffte ibm den allgemeinften Einblid in die fociale Funktion der Sym⸗ bofif, Tradition und Communication ober den elgenthümli⸗

33 *

512 edite,

chen pſychiſchen Mechanismus des focialen Körpers und εἴς munterte ihn, [εἶπε Unterfuchungen auf bem Felde focialer Anatomie, Phyfiologie unb Pfychologie zu vervolfftändigen und die Ergebniffe feiner Forſchung fyftematifch darzuftellen. Hat num aud) diefe Arbeit für den Qeferfrei8 der Qu—ſchr. nicht in allen ihren Theilen das gleiche Intereſſe wie bie im Jahrgang 1874 ©. 165 ff. angezeigten, indem ber hier ausgeführte Aufbau des focialen Körpers nad) feiner theo- retifchen oder fyftematifchen Seite mehr die Aufmerkſamkeit des engern Kreiſes der Fachgelehrten als eines weiteren Publikums in Anspruch nehmen dürfte, jo verdient Tie bod) injofern in diejer Seitjd)rift zur Anzeige gebraht zu werden, als fie nicht bloß eine Nationalöfonomie, fondern eine voll» jtändige Gefellichaftslehre enthält und ein neues Zeugniß von ber jcharfen Beobachtungsgabe und der feltenen Pro- ductivität des Verfaſſers ablegt.

Es ift hier nicht der Ort weder eine genaue Analyje des Werkes zu geben, da diejelbe bei dem Neichthum des Inhaltes einen größeren Raum erfordern würde, als ihr bie Qu.jchrift zu bieten im Stande ift, nod) eine ins Ein- aene gehende Kritif zu üben. Doc möge auf. einen Punft befonder8 bingewiefen werden. Der Verf. zieht zur Veran- ſchaulichung ber Gliederung des focialen Körpers die Hiftologie ober Gewebelehre herbei umb nachdem er [don in feinem „Kapitalismus und Socialismus“ bargetfan, daß die Familie für den jocialen Körper dasjelbe ijt, was die Zelle für ben organischen Körper, jo mad er jegt mit diefem Gedanken vollen Ernft unb umfaffenden Gebraud). Er weist eingehend die Analogien der focialen und organifchen Zellen, Gewebe und Organe nad) und wer feinen Ausführungen folgt, wird feine Refultate überrafchend finden. Ref. gefteht offen, daß

Der fociale Körper. 513

er einiges Mißtrauen faßte, als er bie bezüglichen Aus- einanderfegungen zu leſen anfing, da ihm nod) die Annlogien vorschwebten, bie ein Staatsrechtslehrer ber Gegenwart zwi⸗ Schen einzelnen Organen des gejellichaftlichen und menſchli— hen Körpers 200, indem er ben Staat mit bem Mann, die Kirche mit der Frau, den männlichen Geift mit dem Regiment, den Verftand mit bem Stantsrath, das Gedächtniß mit dem Minifterium des Innern, den Geruchsfinn mit der auswärtigen Verwaltung u. f. m. verglich (Bluntfchli, Pſy⸗ chofogifche Studien über Staat und Kirche 1844), und er fürdjtete, ähnlichen Auseinanderfegungen zu begegnen, die, wie man auch über fie felbft urtheilen mag, zu wiffenfchaft- licher Erfenntniß wenig ober nichts beitragen. Seine Bes Sorgniß wurde aber in demfelben Maß gehoben, αἱδ er in der Lektüre des Buches vorrückte und die Reſultate des- ſelben werden in ber Hauptfadhe um jo eher Anerkennung erlangen, als ber Verf. in feiner Ausführung durdaus Maß hielt unb neben der fchlagenden Analogie den großen Unter» ſchied nidjt überſah, der trot aller Aehnlichkeit zwijchen beiben Gebieten befteht und der darin feine tieffte Quelle hat, daß die organijde Zellen» und Gewebebildung auf phnfifchen, bie fociale aber zum größten Theil auf geiftigen Kräften beruht. Die Schrift ift daher allen Freunden ber Socialwifjenfchaft zu empfehlen und wir fehen mit geſpann⸗ ter Erwartung dem Erjcheinen des zweiten Bandes oder

befonderen Theiles entgegen. Sunt.

514 Specht,

8. Die Wirkungen bes endarikifden Opfers. Hiftorifch-dogma- tiihe Abhandlung von Dr. Themas GCpedt, Priefter ber

Didcefe Augsburg. Augsburg 1876. Verlag der Kranz

felder'ſchen Buchhandlung. 4 ©. Vorr. u. Reg. ©. 195.

Vorliegende, zum Zweck der Erlangung des theologischen Doktorats gefchriebene Abhandlung über „die Wirkungen des euchariftifchen Opfers" motivirt die Wahl des beregten Themas durch den Hinweis, daß unfere theologijche Literatur darüber eine Monographie nicht befitt und aud) die gewöhn⸗ fien Compendien der Dogmatik, entfprechend ihrer Anlage und ihrem 3mede, nur jehr kurz davon Handeln“ (Vorr.). 9n feiner Bearbeitung will fi der Verf. hauptſächlich an die alten Theologen aus der nachtribentinifchen Periode an⸗ ichließen, deren Reſultate in freier und fefb[tftünbiger Weife berüdfid)tigen und rechtfertigen (1. c.). Die „Erftlinge- arbeit“ des Verfaſſers zeichnet fid) auch wirklich aus durch dogmenhiftorifche Kenntniffe, wumfajfenbe Bekanntſchaft mit "den Quellen der einfchlägigen Literatur, genaues Eingehen auf die von den Schultheologen geftelften dogmatifchen Fragen und deren Detail und ift nad) diefer Seite wirklich inftructiv. Daneben dürfen wir allerdings auch die ihr unfers Erachtens anklebenden Mängel nicht verhehlen. Wir gehen daher etwas genauer auf den Inhalt der Arbeit ein.

Mit richtigem Takt befpricht die Einleitung „Wefen und Zweck“ des euchariftiichen Opfers „fowie feine Stellung im Cultus“. Aber gerade bie Hauptfache, auf die bei ber Stellung be8 Themas alles ankam, ift unjere8 Erachtens

nicht Scharf Heransgeftellt ). Sprit man nämlid; von | 1) Vollends gehört eine Hereinziehung des himmlifchen Opfer?

(Hebr. 8, 1—6) €. 2—4 gar nicht hieher und kann [ebiglid) nur verwirren.

Die Wirkungen bed euddariftifchen Opfers, 515

„ben Wirkungen des euchariftifchen Opfers*, fo kann letzteres nicht nad) ber Seite in's Auge gefaßt fein, wonach εὖ mit dem Kreuzopfer identisch und deffen reale obwohl unblutige Oteprüfentation ift. Als folchem kommen bem Meßopfer, eben weil es mit dem Kreuzopfer ibentifd) ijt, feine. eigenen Wirkungen zu, biefe beden fid) mit ben Früchten des Kreuz⸗ opfer® , finden dieſes ein für allemal bereits gejegt, vor⸗ handen und wirkfam. Es handelt ſich nielmehr um bae euchariftifche Opfer als Gulthandlung der Kirche, bie im demjelben durch das Eine ihr von Chrifto hinterlafjene und anbefohlene Opfer recht eigentlich und wörtlid) burd) Syefum Chriftum einerjeità Gott die jdjulbige Verehrung, Anbetung und Dankfagung erweist, andererfeitd ihre Gebete, Anliegen und Fürbitten porbringt. Darauf war von vornherein der Nachdruck zu legen und banad) ber bogmenhifterifche Stoff Soviel möglich ſcharf abzugrenzen, die Unterfcheidung bietet aber auch, mie wir fehen werden, den Schlüffel zur Löſung der dogmatiſch⸗wiſſenſchaftlichen Fragen.

Die Zerlegung ber Arbeit in einen „dogmengeſchicht⸗ fidjen" und einen „bogmatifch-kritischen Theil“ ijt volljtánbig berechtigt ja gefordert, nicht bloß „weil“, wie der Verfaſſer bemerft, „auf diefe Weife da8 Geſetz der Dijtorijd)e Gor» timuitüt auch [don äußerlich mehr hervortritt und weil bag gegentheilige Verfahren deu Fluß ber dogmatischen Behand⸗ [ung ungebührlih hemmen würde”, jonbern weil nur fo die dogmengefchichtliche Aufgabe im Unterfchieb von δεῖ dogmatifch-fpeculativen ihre volle, vechte und felbjtitánbige Beantwortung erfährt. Die dogmenhiftorifche Darjtellung jelbft zeugt von reicher Erudition, ijt aber freilich zum Theil etwas zu weit ansgreifend, wobei man indeß billiger» peije nicht außer Acht lafjen darf, daß die Natur des Stoffe

516 Specht,

die enge Begrenzung bloß auf die beregte dogmatiſche Frage ausſchließt. Eigentlich nur Vorfrage ift e$, ob bie Euchariftie wirklich immer als Opfer in der Kirche gefaßt werde. Ein ſpecieller Nachweis war nur gefordert betreffs der Frage: für wen und zu welchen Zwecken wurde es von Anfang an dargebracht? Hauptquellen bilden die alten Liturgien und die mehr gelegentlichen Aeußerungen der Kirchenväter, theo⸗ logiſche Unterſuchungen dürfen wir natürlich und zwar lange, lange bis in die Zeiten der Scholaſtik herab nicht ſuchen und find dieſelben überhaupt erſt durch den reformatorifchen Gegenfaß recht in Fluß gerathen. Aus der Fülle des Be⸗ fannteren interefjirt, daB jchon Zertullian der Aufopferung ber Mefie für den einzelnen oben gebenft (€. 51) und wenn er weiterhin der Darbringung des Mekopfers bei ber Bermählung gebentt (»confirmat oblatio«) (S. 61), fo wird e8 ficher nicht zu kühn fein, eine fpecielle Commemo- ration der Vermählten während ber Meſſe vorauszufegen. Das wären alfo die älteften uns befannten Spuren der fog. Application der Mefle. In den Oblationen der Gläubi- gen hätten wir dann bie ältefte Form des Stipendiums, nur daß eben jene nicht dem einzelnen Priefter, der ba8 Opfer barbradjte, fondern dem Klerus in commune zugewendet wurden. Erſt die Regel Chrodegangs geftattete, „daß ein einzelner Priefter für feine Meſſe ein Almofen att» nehmen darf“ (S. 84), aber, bemerkt der Verf.: „man fieht, daß es fid) Hier nicht um die Einführung einer neuen, Sondern um die Normirung einer [djon beftehenden Gewohn- heit handelt“.

Wenn ἐδ fid) im zweiten dogmatiſch-kritiſchen Theil nun um bie genetifche Gntroidíung ber Wirkungen des Meß⸗ opfer6 aus feiner Natur und Wefenheit handelt, fo war

4

Die Wirkungen bed euchariftifchen Opfers. 517

wie bereit8 bemerkt, bie oben beregte Auffaffung der Meſſe als des höchſten Guítafte8 ber Kirche zum principtelfen Aus⸗ gaugépunft zu nehmen. In formeller Beziehung erjcheint jo bie Meſſe als nicht Fpecififch vom Gebet, Opfer und etwa nodj Sakramentale unterfchieden, aber wie die Euchariftie als Saframent durch ihren Inhalt fid) fofort an bie Spite alier übrigen ftellt , fo tritt ba& Mefopfer nach ber eben bejtimmten Seite wieder um feines Anhalt willen an die Spige aller Culthandlungen, ijt die denkbar höchfte Torm des Eultus ἢ. Diefem Opfer, biejem Gebet Tommt wegen besjenigen, ber dem himmlischen Vater fort und fort bargebradjt wird, allerdings eine Kraft und Wirkfamteit zu, wie feinem andern Opfer, aber weil e8 das Opfer der Kirche ift, von vornherein Teine unendliche, fondern endliche, be» ſchränkte. Die Kirche befigt alfo ein Meßopfer, ein Mittel, vermöge deſſen fie mit der höchſten Bürgſchaft ber Gemwäh: rung ihrer Bitten um [pecieffe Application der Früchte des Kreuzopfers für ihre Glieder im Diesfeits und Jenſeits, foweit fie deffen bedürftig find, im geiftlichen und zeitlichen Anliegen flehen kann (fructus generalis) “Diejenigen, welcher fie bejondere gebenft vefp. ihren Minifter den Priefter befonders gedenken Heißt, {πὸ natürlicher Weiſe auch bezüglich der Zuwendung jener Früchte Gott in bes jonberer Weife empfohlen. Diejenigen, welche der Meſſe anmwohnen, erlangen theil8 auf Grumd der Meinung und des Willens der Kirche, theil® weil fie ein eminent. pet» dienftliches Werk eben durch bieje Anwohnung vollbringen, ebenfalls ein Anrecht auf beſondere Gnade (fructus specialis).

1) Vgl. die Theorie des Duns Scotuß C. 138 ff,, bei bem bie SSorftellung : bie Euchariftie ift ba8 Opfer der Kirche, in aller Schärfe beraustritt.

518 Specht, Die Wirkungen des euchariſtiſchen Dyfer2.

Der einzelne Prieſter vollbringt ebenfalls mit ber Dar- bringung des Mebopfers ein eminent gutes Werk (fructus specialissimus) u.j. f. Schwierigkeit madjt uur der fructus ministerialis, über den inde bie Ausführungen S. 162 ff. des Verf. fomenig als die anderer Theologen recht befriedigen. Da ein Werhfel der Disciplin hier ficher vorliegt, jo fünnte man vielleicht daran benfem, die Kirche habe bem Priefter als minister ecclesiae die ftilljchweigende GrlaubniB ein für allemal eingeräumt, an ihrer Statt Eine oder mehrerer zu einem beftimmten Zwed ganz bejonberé zu gedenken, ganz befonders im Namen ber Kirche um die Application der Früchte des Opfers für eine beftimmte Berjon zu bitten. Jedenfalls fcheint e$ uns, als ob unjere Auffajjungsweife mehr Licht in die Sache brüdjte, einfacher die vorliegenden Schwierigkeiten löste, entjchiedener dem protejtantifchen Miß- verftändniß und fo namentlich aud) der verkehrten Auffafjung von ber Application des Opfers für ble Verjtorbenen eut; gegenträte, a(8 dies bem Verf. am ber Hand des weitläufigen cafuiftifchen Materials feiner theologiſchen Vorgänger gelingt. Wir- beftreiten nicht, baB bem Berf. die Auffaflung be8 Mekopfers, mie jie hier zum Ausdrucd gebracht wurde, ebenfall® mehr oder weniger beutfid) vorgejchwebt Bat, aber wir vermiffen, wie gejagt bie ſcharfe Unterfcheidung, die bier not) thut, und die Anwendung jener Unterfcheidung für die wiſſenſchaftliche Behandlung der ftrittigen Tragen. Daß mir Dienad) bie Dispofition des zweiten Theile, nämlich) eben von dem gedachten Gefichtspunft aus regulirt gewünſcht hätten, brauchen wir eigentlich kaum mehr zu erwähnen. Diefe feitijd)en Bemerkungen treffen indeß zunächft bit berfömmliche Behandlungsweife unferer Frage und den Verfaffer nur infofern er fich eben diefer jchlechtmeg ange»

Strad, Katalog ber Hebrätfchen Bibelhandſchriften. 519

ihloffen δαί. Davon abgefehen zeigt ber Verf. auch im biefem dogmatisch « fritijdjen Theil genaue Kenntniß bet Theologen und allfeitige unb umfichtige Erwägung ihrer Gründe und Gegengriünde. Möge die Arbeit denn mit andern ein Bauftein werden zu einer den neueren proteftanti» ſchen Bearbeitern jo namentlih Ebrard, Kahnis, Rückert gegenüber ficher wieder zeitgemäßen größern und zuſammen⸗ faffenden Arbeit über das Abendmahl im Geifte der großen Sranzofen Antoine Arnauld und Pierre Nicole.

Kep. Dr. phil. Knittel.

8.

Retaleg ber Hebrüiſchen Bibelhandſchriften der Kaiferlichen Deffentlihen Bibliothek in St. Peteröburg. Erfter und zweiter Seil. Von A. atfabg und $. 8. Sirad. St. Peteräburg, G. 9tider. 1875. Leipzig, I. G. Hinrichs. XXXIII und 216 ©,

€, girfotitíd und feine Gntbedungen. Ein Grabftein den bebräifchen Grabichriften der Krim. Von Dr. $. 8. Strand. Leipzig 1876. (S. G. Hinrichs in Commilfton).

Der „Katalog“ gibt weit mehr als der Buchtitel per» fpriht. Wir werden zupörberft in der Einleitung mit ber Geſchichte wohl der bedeutenditen Sammlung von Bibel- handſchriften und zugleich mit dem völlig gelungenen Verſuch einer jetzt als evident betrachteten Literarifchen Täuſchung, denen Gelehrte wie Zifchendorf und Chwolſon zum Opfer fielen, bekannt gemacht, einem intereffanten Seitenftüd zu den Moabitika, bae im Wefentlichen in der Krim und in Petersburg fid) abfpielte. Abraham Firkowitſch, in laräi-

520 Strad,

(der und rabbiniſcher Literatur wohl erfahren und a[8 un- ermidlicher Sammler hebräifch-biblifcher Handfchriften ans erfannt und von bleibendem Berdienfte, Hatte feine gejam- melten Manuſcripte der Kaiferlichen Deffentlichen Bibliothet vor 2 Jahrzehnten zum Kauf angeboten, meldjer 1862 auf Grund von Gutachten der Herrn Chmwolfon, Zijdenbor[ umd Beer zu Stande Tam. In einer Denkjchrift Hatte ber farüijd)e Rabbi u. A. bemerkt: Die älteften Rollen find einige Jahrhunderte vor Chrifto gefchrieben worden ; andere gehören unftreitig in das erjte und die unmittelbar auf dieſes folgenden Jahrhunderte des ChriftentHums. Die in diefen Handſchriften vorkommenden Varianten, welche jogar de Roſſi (der gelehrte Geiftliche in Barma, ber für Kritik des alt- teftamentlichen Textes eine neue Grundlage ſchuf) nicht εἴς wähnt, erklären viele Stellen der Heiligen Schrift, welche ohne fie vielleicht auf immer unverftanden geblieben fein würden. Viele von ihnen ftellen den Wortlaut von Verſen wieder Der, bie in dem jet üblichen hebräiſchen Texte pers ändert find. Etliche Varianten ber Firkowitſch'ſchen Eodices find ganz offenbar die urjprünglichen Lesarten, nad) melden bie Septuaginta überjeBten : denn die Meberfegung der Sept. entfpricht ihnen vollitändig und wird durch fie gerechtfertigt. In den Epigraphen der Handichriften ift bie Zeit angegeben, in welcher fie gefchrieben, geweiht oder verfauft worden find. Der Sammler (egt Hier großes Gewicht darauf, daB fid) im diefen DBeifchriften Nachrichten finden über die Erbauung verjchiedener Städte und Feſtungen, jomie über bie Kriege des Cyrus und Cambyſes gegen bie Schthenfönigin Tompyris, durch welche Erzählungen Herodots beftätigt werden, Nach⸗ richten über bie Gothen, eine Menge von Notizen, welche für bie alte Geographie wichtig find, Mittheilungen über

Katalog ber Hebrätichen Bibelhandſchriften. 521

die erſten jüdischen Emigranten aus Paläſtina, über das Geſchick ber bisher für verloren gegoltenen zehn Stämme, über die mehrere Jahrhunderte vor Chr. gejdjefene Aus⸗ wanderung bon Juden nach der Krim, wofür aud) Herodot unb J. Flavius ald Zeugen angeführt werden, über den Urfprung des Talmuds und bie Verbreitung beffelben in der Krim, die Gefchichte der Karaiten (bie bloß bie heilige Schrift, ohne die Talmudtradition anerkennen). Die mit fo großer Beftimmtheit vorgetragenen Aufſchlüſſe über bie Nachſchriften der Handfchriften, welche die bis jet bekannt gewordenen älteften hebräifchen WBibelmanuferipte (aus bem zehnten Jahrhundert) um ſechs⸗ bis ueunhundert Jahre über» boten, machten verdientes Auffehen und gewannen in gelehr⸗ ten Streifen begeifterte Gläubige. Man befreundete fid) um jo mehr mit den neuen Sünden, als neben überra[djenben Notizen jener Nachſchriften, mie daß der heilige Wladimir, Groffürft von Ehiew, eine Botſchaft zu dem Chazarenfürften fandte, um bie jübijdje Aeligion erforjdjen zu laffem, oder baB die Raraiten vom Joch der Krim’fchen Gothen im Jahr 805 befreit wurden und die gothifche Feftung Dort damale eingenommen worden fei, zwei bis dahin gänzlich unbelannte Weltären von wie man annahm weittragender Bedeutung für die alte Chronologie ebendort zum Vorjchein fane. Die eine der beiden Aeren, ble auch auf Grabjchriften por» fonımt, batirt sad) der Schöpfung und ftimmt mit der nad dem Seder Olam, welches fchon in der erften Häffte des zweiten Jahrhunderts nad Chr. abgefaBt worden ijt, bei den Juden üblich gewordenen Zeitrechnung nad) ber Schöpfung nicht überein, ba es Hinter leßtere um 151 Jahre zurückgeht; bie zweite Aera in den Epigraphen der Codices und auf Grabjchriften batirt nach der Verbannung der zehn

522 Strack,

Stämme. Somit wäre, was die erſtgenannte Aera betrifft, doenmentariſch conſtatirt, daß die Juden ſchon um die Zeit Chriſti nach der Schöpfung gerechnet haben, während man bis jetzt allgemein glaubte, daß dieß erſt ſeit dem zehnten Jahrhundert in Uebung gekommen ſei. Auch die bibliſche Chronologie gewänne eine geſichertere Baſis. Nach den Berechnungen z. B. des Seder Olam läßt man den Auszug ber Israeliten aus Aegypten gegen 1300 vor Chr. ſtatt⸗ finden (€. X). Darnach hätte, wenn man die des Weiteren in der Bibel angegebenen djronologijdjer Data bis zum Ende des Erils zufammenzählt, Cyrus erft gegen Ende des fünften Jahrhunderts „gelebt. Hält man nun an der Be- rechnung des Seder fejt, [o muß man die bibliihe Chrono» logie nad) dem Auszug beanftanden und gewaltjam corrigiren, beziehungsweife fürgen ; bie neuaufgefundene Aera dagegen, nach welcher alle Daten des Goeber Dlam um anderthalb Jahrhunderte hinaufrüden, ftellt die Richtigkeit der bibli- ſchen Chronologie in helles Licht vielleicht nur in etwas zu helles, ba die Probe beinahe zu gut gerathen ijt.

Noch auffallender [teft [Ὁ die Sache mit ber zweiten bisher gänzlich unbefannten Aera, obgleich diefelbe, wenn authentiſch, unbe[tritten von der höchſten Bedeutung wäre, ober wenn man jo will, längjt hätte fein müflen, wenn nicht ein unbegreifliches neidifches Geſchick fie der gefefrten Welt, wie e$ jcheint auch der des Judenthums, vorenthalten hätte. Es ijt bie nad) dem Exil der zehn Stämme datirte Zeitrechnung. Ὁ. Chwolfon bat ganz Recht, wenn er bie biblische Chronologie von jeher das Kreuz ber Chronologen nennt und angefichts ber nod) namhaft größeren Verwirrung, die in der aſſyriſch-babyloniſchen und ägyptifchen Chronologie herrſcht, nad) einem feften Punkt des Archimedes ausfchant,

Katalog ber Hebräifchen Bibelhanbichriften. 523

b. B. nad einem einzigen fichern Datum, mit bem man mad) oben und unten, nad) rechts und links ficher operiren fünne. Er glaubt denn nun diefen feſten Punkt in der fraglichen Wera glücklich gewonnen zu haben. Aus ihr hätten wir als gewiß anzunehmen, daß die Verbannung ber zehn Stämme nit 725 ober 722 oder 715, fondern 696 vor Ehr. ftattgefunden Hat, im fechsten Jahre des Hiskia. Die Belagerung Jeruſalems burd) Sanherib im vierzehnten Regierungsjahr deffelben Königs Πεῖ fomit 688, mad) bem Keilinfchriften das dritte Fahr Sanheribs, der jomit 691 den Thron beftieg, was jett aud) der aſſyriſchen Chronologie wenigftens für das fette Jahrhundert dieſes Grofftantes einen feſten Punkt verleiht. Es cergäbe fid) nod) daraus ein weiterer „archimedifcher“ Punkt auch für bie fpätere ägyptiſche Chronologie, die daran aud) feinen Ueberfluß Dat: zur Zeit jener Belagerung Serufalems burd) Sanherib re: gierte nämlich ber ägyptifch-äthiopifche König Tirhaka, ber Jeruſalem entjegen wollte. Nach dem Manethoniſchen Dy⸗ naftienverzeihniß war er der dritte ber 25ſten Dynaftie und ſuchte während ber erften ſechs Jahre feiner Regierung ad) Ausweis der ihm zu Ehren errichteten Denkmale Syerujatem zu Hilfe zu fommen. Cr muß alfo zwifchen 693 und 688 den Thron beftiegen haben. Auch der Meijter der Paläo- graphie, H. Zifchendorf, „fteht nicht an (€. XIV) zu bes zengen, bag ihm eine jehr große Anzahl ber Firkowiß’jchen Sanbfdjriften und Urkunden den Eindrud des Hohen und höchften Altertfums machte und etwaige Zweifel an εἶπ: zelnen Unterfchriften die große Mehrzahl derfelben keines— wegs berühren. Tüchtige aber ber Paläographie unfundige Gelehrte affeltiren Häufig burd) ihre Zweifel am Alter feltener Handihriften die Miene der Kennerſchaft; allein bie ln»

524 Strad,

wiſſenheit zeigt fid) nicht minder durch ungerechten Zweifel als burdj unfritifche Gläubigkeit“. Schon weit vorjichtiger üuBerte fid) die Hiefür aus den Herren Brofjet, Kunik, Schinheerr und Weljaminow » Sereom gebildete Commiffion ber Kaiſerl. Akademie. ber Wiffenfchaften. Sie meint (©. XV f): Man kann nicht jedem Worte, jeder Beilchrift glauben. Findet man dod aud) in mittelalterlichen Hand- Schriften zuweilen Epigraphe, welche in ſehr fpäter Zeit verfaßt wurden mit der Abficht, den Werth der Manuſcripte in den Augen ber Käufer unb Antiquitätenliebhaber zu ers höhen oder um den Lefern irgend welche hiftorifche Erfindung mitzutheilen. Sie jchreibt den Epigraphen der genannten Bibelhandfchriften geradezu keineswegs die behauptete Wich⸗ tigfeit zu, 5a einige derfelben bie feriti. nicht aushalten und in einer oder andrer Beziehung fichern Daten wider- iprechen, die aus andern glaubwürdigen Quellen befannt find. Und bie betrifft gerade die wichtigeren Beifchriften, wie bie, welche (Molle A 1) die Juden fchon unter bem Berferfönig Cambyſes nah der Krim auswandern läßt (diefe Nachricht erſchien übrigens ſchon Chwoljon nicht hin⸗ länglich Diftorijd) beglaubigt, da es allerdings eine dahin lautende Zradition unter den Krim’fchen Juden im fechsten Jahrhundert nadj Chr. gab (auch das ijt zweifelhaft mit bem Alter des betr. Epigraphen), dieß aber natürlich über die Hiftorifche Nichtigkeit ber Tradition nicht entjcheibet), jodann die, welche (Rolle F 2) über bie Befreiung ber Karaiten vom Joch ber Krim’fchen Gothen und über bie Einnahme der gotfijden Feitung Dori im Sahr 805 θὲς richtet unb nicht zu dem ftimmt was fonft über biefes ὅτε eigniß befannt iit. Die Erzählung von ber Gefandtfchaft, welche der Fürft von Chiew zu den Chazaren geſchickt habe,

Katalog ber Hebräifchen Bibelhandichriften. 525

nm den jüdifchen Glauben kennen zu lernen, fcheint der Gommifftor componirt zu fein nad) einer zweifelhaften Tras dition, welche aus ber Chronik Neftors entlehnt ift. In⸗ befjem konnten die gegen bie Aechtheit der Epigraphe aus« gefprochenen und motivirten Bedenken bie afabemi[dje Com⸗ miſſion nicht verhindern, den hohen wiljenfchaftlichen Werth ber von A. Firkowitſch gefammelten Manuſcripte anguet» teunen, welche denn aud) auf Grund verjchiedener Gutachten auf Allerhöchften Befehl 1862 angefauft wurden.

Nun enthalten aber, wie die beiden DVerfaffer bes Kataloges nad) gewifjenhaft feftgeftelltem Befund ber Cad lage behaupten, die Bibelhandfchriften in Petersburg fein einziges Epigraph au8 ber Zeit vom 4. bis 9. Jahrhundert ; dem 10. Jahrhundert gehören unr zwei unfraglich ächte Epigraphe am (aus den Yahren 916. 956 in c. B 3), bem ll. Jahrh. mur eines vom J. 1009 im c. B 19& Die beiden letztgenannten Handjchriften gehören jedoch nicht zu der großen Sammlung Firk., auf welche fid) das Gutachten Chwolfons bezog. Die Umächtheit der Beifchriften ergibt ih in vielen Fällen fchon aus ber Erwägung be8 materiel; (en, äußerlichen Thatbeftandes, ba an einzelnen Daten radirt ijt, andere von offenbar fpäter Hand hinzugefügt oder burd) Veränderung von Zertmorten, Epigraphe, die urfprüngfich jeder Zeitbeftimmung entbehrten, mit einem jehr frühen Datum verjehen wurden. Sole Fälfhungen wurden häufig durch Weberftreihung mit Gatlüpfeftinftur , welche verblis dene Schriftzüge wieder lesbar machen follte, unfenntfid) zu machen gejudjt. In vielen Beifchriften fat ſodann die Zinte ein ganz frisches Ausfehen unb ijf gar nicht in das Pergament eingedrungen, dagegen erllärt fid) das alter» thümliche Ausfehen mancher Handjchriften leicht aus bem

Theol. Quartalſchrift 1876. Heft III. 34

526 Strack,

Umſtande, daß dieſelben aus ſ. g. Genizas, feuchten Keller⸗ räumen unter den Synagogen herſtammen. Als ſpãtkaräiſch bezeichnen die Verff. die Nichtauwendung der Finalbuchſtaben in einzelnen Worten. Dazu kommt ein eigenthümlicher Stil und die Verwendung verſchiedener, ſonſt erſt ſpät nachweis⸗ barer Abkürzungen. Geſchichtliche Verſtöße ſind namentlich das unbelegbar frühzeitige Vorkommen tatariſch-arabiſcher Namen in der Krim, von Städten, die erſt weit ſpäter zu Bedeutung gekommen. Somit wird aufrecht zu halten ſein, daß hier ein ſtark verzweigtes Syſtem von Fälſchungen, die dem Karäer Firkowitſch in der Hauptſache zur Laſt fallen, vorliegt. Es wurde aber durchgeführt nicht oder doch nicht ſo faſt aus Gewinnſucht, um den Handſchriften höhern Werth zu verleihen, ſondern theils aus religiöſen, theils aus praktiſch politiſchen Gründen, um den puritaniſchen Karäismus zu verherrlichen, denſelben als das wahre, traditionslos unverfälſchte Judenthum, das ſich ſeit dem 6. Jahrhundert vor Chr., ſeit Cambyſes Zeit auf der Tauri⸗ ſchen Halbinſel erhalten habe, nachzuweiſen. Den Karaiten, welche ihr religiöſes Syſtem ausſchließlicher Bibelautorität gegen die „ſtaatsfeindlichen und fanatiſchen Tendenzen des Talmudismus“ in das günſtigſte Licht zu ſtellen wußten, wurden ſeit den zwanziger Jahren von der Kaiſerl. Regierung mehrere Privilegien verliehen, das Recht der Freizügigkeit, Freiheit vom Militärdienſt u. a. Dieſer günſtigen Stim⸗ mung des Gouvernements ſollte wie es ſcheint in bem pere ſuchten Nachweis der Urſprünglichkeit des Karäismus in der Krim eine geſchichtliche Stütze verliehen werden und hierzu wurde der hiſtoriſche Thatverhalt umgedreht: der Karäismus durfte nun nicht mehr eine im 8. Jahrh. entſtandene Sekte ſein, die erſt allmählig in Oppoſition mit dem talmudiſch⸗

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Katalog der Hebräiſchen Bibelbandichriften. 597

orthodoren Rabbinismus trat, ba letzterer vielmehr fefb[t nad) farüijdjer Anficht erft im 10. Jahrh. dort in das rein erhaltene Syubentfum einzubringen und e8 zu zerfeßen an: fieng. Dem prätendirten hohen Alter unb der Selbititän- digkeit des taurifchen Karäerthums follten ganz befonders die beiden fonft völlig unbefannten Aeren dienen. Die Krim’fche Schöpfungsära berichtigt den rabbanitifchen Irr⸗ tbum des Seder Olam, welches bie Perferherrfchaft von Vollendung des zweiten Tempels (516) bis zu ihrem Ende (331) nur 34 Sabre dauern läßt, durch die Ergänzung der hier fehlenden 151 Jahre, und follte fid) als bie auf der Krim allein üblihe und baburd) auch den dortigen Karäismus als das alte ächte Judenthum documentiren ; wo fie aber vorkommt, erweist fie fid) a8 gefälſcht (©. XXIV). Nicht anders fteht e8 mit ber Erilsära, die in fünf unächten Grabfchriften und elf Epigraphen vorkommt, von denen bie meiften aud) aus fonftigen Gründen für unddjt anzujehen find, und in fid) ſelbſt ofme Baſis im Alter- thum, daher eine neue Erfindung ift. Denn aus bem Fragment des alten jüdifch-alerandrinifchen Hiſtorikers De. metrius, ber für die Zeit von Wegführung der zehn Stämme

bi8 zur Thronbefeftigung Ptolemäus IV, b. i. 222 vor Chr.

473 Jahr 9 Monate angibt, aljo die Wegführung 696 anjegt, ift um fo weniger zu entnehmen, als das ifm 2115 gefchriebene Fragment nur in fer verderbter Gejtalt vor- handen ift, und nad) Freudenthal (Hellenijt. Studien ©. 62) am ficherften Ptolemäus III (Jahr 246—245) zu leſen ift, wonach dann nidjt 696, jondern 719 fid) als Exils- und Ausgangsjahr der Berechnung ergibt.

Nichtsdeftoweniger hat bie Sanımlung einen ganz be- deutenden Werth, da fie umbezweifelt die älteſten Bibelhand-

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ſchriften aus dem 10. 11. 12. Jahrh. enthält, denen fid nur ganz wenige in andern großen Bibliothefen in Bezug auf das Alter zur Seite ftellen Tönnen. Die werthoollite Handſchrift ift ber Prophetencoder (B 3), beffen genauer Beihreibung €. 223—235 gewidmet ift, einmal wegen feines Alters (ans Jahr 916), ſodann wegen der eigen thümlichen Bolal- und Accentzeichen jogenannter babyfonifcher Bunktation und weil er faft durchweg der früher nur aus einigen wenigen Lesarten befannten orientalifchen Zertrecenfion folgt. Es ijt vom Unterzeichn. im vorigen Jahrgang diejer diefer Zeitſchrift ©. 655 f. Mehreres über einen burd) $. Strad beforgten Abörud des Hofen unb Joel aus diefer Handichrift mitgetheilt worden. Die Sammlung enthält audj im B 19 das ältefte (aus Fahr 1009) ficher datirte und zugleich) das ganze Alte Teſtament in der Grundfprade umfafjende Manujcript, in mehreren Codices eine reichhaltige unb belehrende Maſora und zum Theil nicht unwichtige für Herftellung eines guten Textes verwendbare Varianten. Auf all das forie aud) auf bem für bie Gejdjid)te meift des 14. Jahrhunderts keineswegs bedeutungslofen Anhalt der üdjten Beifchriften ijt hier nicht mäher einzugehen. Be⸗ merfenswerth ijt, daß während int Abendland die Pentateud- rollen Schon frühe durchweg aus Pergament bejtanden, hier mehrere aus Leder gefertigt find, wie fie mod) jegt im Kaukaſus, in Perfien und einem Theile Arabiens auf Leder gejchrieben werden.

Daß der „Katalog“ ein Mufter forgfältiger und ge: wiffenhafter Darftellung und Befchreibung wurde, war namentlich von H. Strad zu erwarten, bem vorzugsweije das auf Maſora und Varianten Bezügfiche als Aufgabe zu⸗ fiel, während fein College mehr bie Biftorifch geographifchen

Katalog der Hebräiſchen Bibelhandſchriften. 529

Notizen zu ſammeln hatte. Von erſterem berühren wir noch den

2) „Grabſtein ben Grabſchriften der Krim“: was bes fagen foll, daß ἐδ aud) mit den jehr alten Datirungen auf jenen Grabſteinen, melden Chwolfon eine eigene Arbeit ge» widmet fatte (Achtzehn Hebräifche Grabjchriften aus ber Krim, St. Petersb. 1865), zunächſt den acht im Petersb. Kaif. Muſeum befindlichen, mehr als mißlich ftehe unb aud) hier ber farüifdje 9tabbi jid) eine Reihe Fälſchungen, ve[p. Rück⸗ datirungen erlaubt habe, um feiner Sekte bie gefchichtliche Priorität über der talmmdijch rabbanitijen Synagoge zu ermeijot. Die Mittel, die er Hiefür zur Anwendung zu bringen hatte, waren einfach und „ſinnig“: die deutlich er» fennbare Veränderung von nm in 7 bewirkte (don einen Unterſchied von 1000, bie von m in N einen ſolchen von 600, und die von ^ in p eme Differenz von 100 Jahren. So ergibt fid) als bae wahre Alter des Grabfteins bei Chw. Zaf. I, 3, der angeblich aus Jahr 89 n. Chr. ſtammen ſoll, deutlich das Jahr 1449 u. f. f. Die Grabſchriften ſtehen mit den Epigraphen der Manuſeripte in direktem Zu⸗ ſammenhang. Denn die Epitaphe haben zum Theil dies felben Perjonen mit den Epigraphen und die erwähnten bisher unbelannten Aeren, was natürlich nicht den Werth ber Sammlung, wie deren Beſitzer vorgab, fonbern nur das Mißtrauen in biefelbe erhöht, ba8 bereits früher jid) geregt hatte. Die wichtigfte Grabſchrift ift bie des Karäers Sangari (€. 13), mefdjer nad) Tradition den Chafan ber Chafaren um die Mitte de8 8. Jahrh. zum Judenthum —befebrte. Schon 1840, mo fie befannt geworden, erklärte der gelehrte Jude Rapoport biejefbe für unglaubwürdig unb Gräß Der. nad) (Θεῷ. V, 214) für einen „groben Betrug“. Auf

530 Strad, Katalog der Hebräikchen Bibelhandichriften.

einer Grabſchrift, angeblih aus Jahr 824 ftebt ber Name Effendi, der erft in weit [püterer Zeit von den Türken aus dem byzantiniſch griechichen Afentis (Herr) umgeftaltet mor- ben ift. Auch diefe Schrift H. Strads bietet manchfache Aufklärung für Archäologie und Gefchichte.

Natürlich pat anf die eingüngliden Anfechtungen der HH. Strad, Harkavy u. A. Hin ber Hauptvertheidiger ber Aechtheit ber Epigraphe und Epitaphe, Chwolſon, die Flinte nicht aljogleich ins Korn geworfen. In einer Erflärung im neneften Heft der Seitjdjr. der Deutfchen Morgenl. Gef. (XXX, 2 ©. 391) nimmt er den Kampf auf der ganzen Linie auf und verfpricht, den von ihm, mie er behauptet, Ichon geführten Nachweis bald zu veröffentlichen, daß die Angaben Harkavy's in Bezug auf äußere Beichaffenheit ber Epigraphe theils unwahr, theils nicht bemeifenb feiem , baf von allen im „Katalog“ gegen bie Aechtheit angeführten Beweifen fein einziger ftichhaltig fei, endlich daß die beiden Krim’schen Aeren, die um 151 Jahre a(8 die übliche, längere Weltäre und die „nad bem Exile“ ΟΝ Ὁ) unzweifelhaft gebräuhlih waren und die älteften unb wichtigſten Grab- Schriften , in denen diefelben vorfommen, unftreitbar ächt find. Wir haben alfo Bier ein Ceitenftüd zu den Moa⸗ bitifa, ein intercffanteres infofern, a(8 dabei bod) mam Wer Gewinn für bie Entwirrung der älteren bunfeln Ge» Ichichte einzelner Provinzen des byzantiniſchen Neiches ab. fällt. Ein noch größerer allerdings für caprizirte Necht- baberei, Zuftgefechte und zünftiges Sopftfum.

Himpel.

Bibliſcher Commentar über bie poetijdjen Bücher sc. 581

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Bibliſcher Commentar über bie poetifdjew Büder des Alten Teſtaments von Franz Deliti, Dr. und Prof. ber Theol. 4. Band: Hohes Lied (und Kohelet). Mit Ercurfen von Conſul Dr. Webftein. Leipzig, Dörffling u. rante. 1875. 184 ©.

Das hohe Lied. Neu unterfucht, überſetzt umb erflärt von Prof. Dr. Bernhard Schäfer. Mit empfehlender Gutfeigung des bifchöflichen General-VBicariat3 zu Münſter. Münfter 1876. Drud unb Berlag der Theiffing’ichen Buchhandlung. 275 ©.

Einer der fchwierigften und zugleich anziehendften Stoffe für die Erflärung, das hohe Lied, Dort nicht auf, bie Geijter der verjdjiebenartigiten Richtungen und Tendenzen zu bes fchäftigen, mie er ἐδ fchon zur Zeit ber Kirchenpäter, der alten und neuern rabbini[d) talmudifchen Schulen, der mittel- alterfichen Theologen und in erneutem Auffchwung der Theo⸗ logen aller Hanptbefenntniffe der jpätern Zeit gethan Bat. . Die adjt Heinen Capitel des Liedes Haben eine faum über- febbare Literatur gefchaffen, welche die Grunbgebanfen des⸗ felben fo ziemlich allen Hauptgebieten des Wiſſens und Lebens, der philofophifchen Speculation, Myſtik und Theo⸗ logie, der allegorifirten Hiftorie, der gemein fleijchlichen, bräntlich oder ehelich feujdjen, endlich der rein überfinnlichen göttlich. menschlichen Liebe zuzuweiſen gefucht Haben. Bedenkt man, daß bis zur Stunde noch bie bipergirenbften Anfichten über Inhalt und Zweck des Liedes aufrecht erhalten werden, fo möchte man an einem Fortfchritt, wenigſtens an ben Wirkungen eines wahren Fortfchrittes auf Wiſſenſchaft und Leben zweifeln, obwohl nicht zu vertennen fein wird, daB

532 Delitzſch,

eine Reihe fantaſierender Erklärungsverſuche, wie die ge⸗ ſchichtlich⸗prophetiſch-allegoriſchen, welche einen Abfchnitt ber alten Gefchichte Israels, oder ber hriftlichen Gefchichte, ober jene oder bieje, wenn midjt gar beide in ihrem Gefammt- verlaufe verhüllt im Liede dargeftelit fanden, wohl für immer abgethan fein werden. Lebe Betrachtungsweife, die ſinnlich füfterne, bie fid) den König Salomo mit dem gefüllten Harem aud) fürs Hohelied nicht nehmen laſſen wollte, wie bie myjtifche und orthodore, und nicht zum wenigften die , bor» ausſetzungslos“ wiſſenſchaftliche, Dat von je hier mehr εἰπε getragen als ausgelegt, weil e8 nirgends fchwerer fällt, als beim hohen Xiede, von aller eigenen Gedantenzuthat abzu⸗ jehen und durch felbitlofe Verfenkung in’ bert Gegenftand das in ihm puifirende geiftige Leben zu fchöpfen. Nachdem das Lied fait unangefochten af8 Schöpfung Salomo’8 ober bod) de8 Salomonifchen Zeitalter gegolten, ift man neuerdings aud) Hierin uneins geworden und jüdifche Gelebrjamteit nimmt in einem ihrer Hauptvertreter, dem Gefchichtfchreiber Grüt, feinem Anftand, zu „beweifen“, daß das Hohelied in feiner gräcifirenden Sprache, griechischen Sitte und Symbolik die ſyriſch⸗mazedoniſche Zeit verrathe, daß fein Verfaffer bit Idyllen Theokrits und die griechifchen Erotiker gefannt habe und theilweife nachahme. Er ftelite Diernad) unter Salomo und feinem Hofleben ben Hof von Alerandrien zur Zeit des Ptolemäus Euergetes (247—221) bar und demfelben ein ideales Bild reiner jüdischer Liebe entgegen. Alle dieje Wunberlicjleiten gewinnt man aber nur, wenn man den Text an vielen Stellen unnatürlich dreht, gewaltfam auf willführliche Vorausfegungen zieht und den zeitgefchichtlichen Nahmen abjichtlich nicht erfennen milf.

Es ift num nicht in Abrede zu ftellen, daß im Kommentar

Bihlifcher Commentar über bie poetifchen fBfldjer c. 533

von Delitzſch, welcher Schon 1851 eine Bearbeitung des hohen Liedes erjcheinen ließ, das Verſtändniß deffelben name haft gefördert und ber Qüjung ber in ihm vorliegenden Probleme näher getreten ijt, ohne daß der gejchichtlich natür- fihe Grund und Boden, in bem εὖ dem göttlichen Geifte gefiel jegliches Verheikungswort und jegliche typifche Geitalt eingujenfen, um fie aus bemjelbem für die Zeitgenoffen et» kennbar herauswachſen zu laffen, gänzlic aufgegeben wird. Die Förderung ift zunächft eine tertkritifche und philologifche, - indem. in fegterer infit durchlaufend die Dialekte, ins» befondere das Arabifche, aud) mit bereiter Beihilfe ber Ara- biften Fleifcher unb Wetzſtein beigezogen und für die Grund» bedeutung ber Stammmorte verwendet wird. “Die Arbeiten von Deligfch gewinnen dadurch entjchieden an Werth umb laſſen mehr in bie Werfftätte der Gedanfen und der Bildung des conformen Ausdrucks bei den Semiten hineinbliden. Nicht minder hat Verf. fid) um Herftellung der richtigen Dispofition und des Zufammenhangs ber einzelnen Theile bemüht, und das vielfach Gegmungene und [ubjeftio Will führliche anderer Erklärungen hiebei burdj manche entjchieden einfachere unb an[predjenbere erjegt. Gibt man einmal den einheitlichen Charakter bes Liedes zu, wozu man in der That beffer berechtigt ift af& zum Gegentheil, und hält man nicht bie reine, fondern bie typiſche Altegorefe feft, fo ijt ἰεδὲ eine gemuBreidje und bilfige Anfprüche befriedigende Lektüre des Liedes geboten , bie von den Extremen profaner Grotif und willkührlich dichtender Allegorie gleich weit ente fernt ijt. Wir müffen den Verf. aber hier, wo e8 fid) um den Kernpunft einer der wichtigften Fragen der Interpreta⸗ tion Handelt, zuerſt jefb[t fid) ausſprechen laffen. Die Iynagogal firdj(idje Auslegung, idjreibt er ©. 5, hat troß

534 Delitzſch,

zweitauſendjährigen Mühens noch keine ſichern Ergebniſſe, wohl aber unzählige Abgeſchmacktheiten zu Tage gefördert, beſonders da wo das Lied die Liebenden nach ihren Glied⸗ maſſen von oben bis unten, von unten bis oben beſchreibt. Aber trotz alle dem bleibt es ſtehen, daß ſich im Hohenliede das ueya uvornpıov (pf. 5, 32 ſpiegelt. Es verhält fid) damit ähnlich wie mit der von arabiſchen Dichtern vielbe⸗ ſungenen Liebe Juſufs und der Suleicha, welche von der Myſtik zum Bilde der Liebe Gottes zu der nach Vereinigung mit ihm verlangenden Seele gemacht worden iſt. Sulamith iſt eine hiſtoriſche Perſon, nicht die Tochter Pharao's, wie ſeit Theodor von Mopſueſtia (geſt. 429) und Abulfaragius (geſt. 1286) oft, auch noch von Boſſuet behauptet worden iſt, ſondern ein Mädchen vom Lande und niedrigen Standes, welche durch ihre Leibesfchönheit und Seelenreinheit Salome zu einer Liebe Dinrip, bie ibm über die lleppigfeit der Poly- gamie hinweghob und ibm die parabiefijdje Ehe, wie fie Gen. 3 angefichts des erftgefchaffenen Weibes ausgefprochen ift, zu jelbfterfebter Wirklichkeit machte. Diefes Selbit- erlebniß befingt er hier, indem er es nad) Dichterweife ibea- [ifirt. Man muß bei diefer Auffaffung weiter annehmen (was fidj übrigens unter allen Umftänden empfiehlt, wenn das Lied von Salomo ift), bag e8 in die frühere Königszeit Salomo’3 füllt, der fpäter immer mehr ber Qeibenjd)aft und Sinnlichkeit zur Beute wurde und fid) davon nicht mehr loszumachen vermochte... Denn daß er fid) im höhern Alter befehrt unb auf bie bejjern Pfade feines frühern Lebens zu- rüdgegangen fei, ijt grundlofe Meinung mancher Väter, welche ſchon durch das völlige Schweigen des Chroniften hinfällig wird. Das Hohelied, das einzige erhaltene von den vielen Liedern des Königs, ijt in den Kanon aufge-

Biblifcher Commentar über die poetifchen Blicher sc. 535

nommen, weil fein Verfaffer, ein Sohn Davids, des Trägers der meifianifchen Verheißung (2 Sam. 7) und Erbe des Königthums, in dem fie fid) zu realifiren Hatte, troß feines Ipätern tiefen Abfalls von der Cybee jeines Königlichen Berufs, ein zeitweiliger Typus deffen war, ber von fid) fagte, baf er mehr ale Salomo fei Mth. 12, 42, und weil in Folge bejjen trog der Untreue unb Unvolltommenheit der menjd)* (iden Träger feiner ewigen Gebanfen diefer ftet8 treu blei⸗ bende Geift des Herrn auf ihm zeitweilig tute und ihn im Hohenlied zu einer Darftellung befähigte, welche fpäter den finnlihen Schranken enthoben und ohne Zwang als Ausdruck des Liebesverhäftniffes Gottes zu feinem Volke gefaßt werben .fonnte. Und auf den Gründer der Kirche bezogen, der höhern Fortſetzung des Gottesſtaats Israel, erhielt vollends ber irbijdje Inhalt eine himmlische Wand: (ung und PVerflärung.

Es bleibt ganz wahrscheinlich, daß bei der Aufnahme in den Kanon bie Vorausſetzung mitentjchied, daß der Ver: febr Jehova's und der Gemeinde in dent Liebe gefchildert jei,. obgleich auch ber, von Typus unb Allegorie abgeſehen, durchaus ethifche und ideale Gehalt des Liedes, das ein Proteft gegen die Polygamie und bie Verherrlichung des fittlichen Eheverhäftnifjes ift, bei Entfcheidung über bie Auf- nahme mitwirfend gemejen fein muß.

Die gefchichtliche Thatſache, bag das Lied in Synagoge und Kirche durchweg nicht typiſch als Hinweis auf Voll» fommenes mittelft des irdifch und natürlich Unvollkommenen, wenn aud relativ Meinen und Zugendhaften, das immer thatfächliche Gefchichte ift, fondern von vorn herein alfegorifch gefaßt und verwendet worben ift, wobei ber nächſte Wortfinn, . bie nüdjfte, natürliche Bedeutung des Liedes fortfällt, hat

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den Berfaffer des Eingangs am zweiter Stelle genannten Buches veranlaßt, die ausschließlich allegorifche Erklärung conjequent fejtguBaften unb in ein rundes Syſtem zu bringen. Daffelbe läßt an fid) nichts zu wünſchen übrig und ift jeden- falls als Zufammenfaffung und läuternde Sichtung, aud) theifweife SDurdjarbeitung der patriftifchen und mittelalterli« hen Allegorefe des Liedes inſtruktiv. Das Lied wäre hier nah (€. 24) ein ideales Drama, das der DVerfaffer im Geift gefdjaut Bat und vor unjerm Augen entrofít, ähnlich wie bie Propheten ober Johannes in feiner Offenbarung Scenen gefihaut haben, die feine biftorifchen Realitäten waren, fondern alfegorifch gedeutet werden mußten. ‘Der große Gompler von Xiebeserweifen von Seite be8 Liebenden Gottes und Gottesfohns, unb die große Sehnfucht von Seite der Geliebten, ber Menfchheit und Kirche, wäre bier zu⸗ jammengefaßt in bie Idee der bräutlichen Qiebe und erläutert burdj eine Reihe allegorifcher Bilder. Wir müſſen aber zunächft bod) betonen, daß bei den apofalyptifchen Bildern, fowie aud) prophetifchen Darftellungen, die Verf. weint, und von denen er in erfter Linie bie Nachtgefichte &acd)arja'$ zu nennen hatte, gar Tein Zweifel an ihrer rein ſymboliſchen Bedeutung möglich ijt, ba fie ganz von vorn herein dieſelbe auéjdjtepíid) geltend machen. Beim Hohenlied verhält ſichs hiermit grunboer[djieben. Man muß fid mit Hilfe .der Tradition, von außen hergebrachter Mittel, Askefe, myſtiſcher Gontempfation , praftifch-firchlicher Verwendung von Liedes⸗ ftellen erft in die fymbolifch »-allegorifche Bedeutung hinein⸗ zwingen unb ben erjten, nächſten Ginbrud des Liedes gt» waltfam zurücddrängen. Eben bieje Erfahrung hat unbe fangene gläubige Grfíürer mit der typifchen Deutung be- freundet, welche bem Wortfinn, der mit Macht fid) aufdringt,

Bibliſcher Commentar über bie poetiichen Bücher sc. 537

zunächit fein Recht füpt. Gegen die typifche Erklärung wendet jid) Verf. mit nicht geringerer Entfchiedenheit, als gegen bie profanserotiihe, melde Salomo im Lied bie Rolle eines lüfternen Verführers, ber nicht zum Ziel fommt, zutheilt. Er meint, daß „diefelben Gründe, welde eine buchftäbliche Deutung als ungulüjfig erfcheinen laffen, amd) topifche Auslegung verbieten". Denn beim Typus finde ja ein wirklicher Vorgang ftatt, der jedoch nicht Selbſtzweck ift, fondern eine höhere Wahrheit vorbildet, die Schilderung eines thatfächlichen Xiebesverhältniffes Tiege aber ein für allemal nicht vor, obſchon die aufgetragnen Farben einem ſolchen entlehnt jelem. Davon, befürchtet Nef., wird Verf. bie Wenigften Überzeugen. ‘Denn die Gründe, bie er dafür weiter angibt, find theils exegetifch leicht zu befeitigen, theils beruhen fie darauf, daß dem Dichter jede Idealiſirung, jedes Herausheben aus .dem Gebiet finnlicd natürlicher und gefchichtliher Wahrheit und MWahrfcheinlichkeit verfagt jein fol. Im äußerten Soll, der aber nod) gar nicht einge- treten, müßte für einzelne Scenen gejagt werden: die Schil- derung eines thatjächlichen Liebesverhältniſſes Liegt für fie nicht mehr vor, in Folge ber dichtend ibealifirenben Ber arbeitung. Wir geben zu, bag diefelbe in einzelnen Fällen fid ber typijchen. Darftellung felbjt bewußt werben zu wollen Scheint und in Folge Einfluffes der uralten VBorftellung Got- tes als des Ehegemahls feines: Nolles in diefelbe überzu⸗ gehen im Begriffe ijt. und jedenfalls dann biejer Ausdeutung eine bequeme Handhabe leiht. Dies mag nicht ohne höhere Fügung gefchehen fein. Mit beiden Füßen in die allegorifche Auslegung, welche fpätern Urfprungs und durch praftifche Bebürfnijfe bedingt war, einzufpringen vermag Ref. ein für allemal nicht, ba ifm bie Gonfequengem eines folchen

538 Delitzſch,

(— Schrittes nicht, ſondern) Sprunges als viel zu unge heuerliche und die Tatholifche Exegeſe geradezu compromitti« rende erfcheinen. Mußte denn, um mur eines zu fagen, Salomo immer als König,’ fonnte er in der dichterifchen Bearbeitung des von ihm durchlebten Romans nicht ad als Schäfer und Gärtner auftreten? Und mu fte Sulamith immer a($ Hirtenmädcen dargeftellt werden, aud) nadjbem fie des Königs Geliebte und Angebetete geworden? Das Gegentheil davon ift bei dem genialen Dichterfönig ungleich wahrjceinlicher , und menn mie e8 Deipt Liebe erfinderifch madt, jo muß das bod) vor Allem beim liebenden König als Dichter in eigenfter Sache gelten. ©. 43 heißt e8: „Zökler nimmt in unferm Liede bereitS eine lüfterne Ent- artung Salomons an und behauptet, bag er zeitweilig durch die tugendhafte Sulamith befehrt worden fei. Und biejer Salomon foll Ehrifti Vorbild und Sulamith Vorbild der Kirche fein!“ Soll diefer Ausruf überhaupt einen Sinn haben, fo muß Verf. bie Vorbildlichkeit &alomo'& überhaupt negiren und wegſchaffen. Er wird dieß nicht thun dürfen weder beim jüngern Salomo mit „fechzig der Küniginen und achtzig ber Kebsweiber und Jungfrauen ohne Zahl“ 6, 8, πο im Hinblid auf den ältern mit je 700 iub 300. Ueber diefe Thatjachen ber Königsgefchichte und das My— jterium göttlichen Liebeserbarmens in Vorausdarſtellung und Anbahnung des Erlöfers im Davidifchen Königshaufe trof jener Thatſachen Kommt man nicht hinaus, außer mit An« wendung rabifaler Bibelfritit, mit der fid) aber dann und wann buperconjervative Tendenzen berühren. in ganz utt geheurer Gegenſatz bleibt fo wie jo zwifchen Salomon und Chriſtus; wie mag man mur den im Hohenlied nod) fehr ge- milderten als Ynftanz gegen den Typus defjelben erheben ?

Bibliſcher Sommentar über bie poetijdjen Bücher sv. 589

Man fíage bann lieber gleich Gott und bie Borfehung an, daß fie fi in Auswahl der Werkzeuge fo ftarf verfehen haben. Bleibt überhaupt bie Vorbildlichleit jenes Davidjohnes wie die Davids ſelbſt beſtehen, fo ift fie noch, menſchlich ge- fprochen, am pajjendjten in dem im Hohenlied zur Dar⸗ ftellung gebrachten ethijch-reinen Liebesbund deffelben zu er» kennen. DVollends bei Sulamith füllt jeder Grund weg, fie nicht als Typus gelten zu laffen. Eine zartere, nod) mehr aus Aether und Duft gewebte Darftellung ift. nicht zu treffen und man hat längft mit 9?ed)t den idealen, tugendhaften Typus derjelben im Gegenjag zu der prophetifcheallegorijchen Darſtellung Israels als untreuen Cheweibes und 3uflerin gegen die allegorifche Erklärung des Hohenliedes geltend ges madt. ift auch nichts weniger a(8 auffallend, daß ber König einmal einer züchtigen Schönheit vom Lande fid) gs wandte und diefe einem - fittlich veredelnden Einfluß auf ihn übte: ift denn gar feine Vorbildlichkeit befjer gewahrt, wenn dieß niemals, unter keinen Umſtänden ftatthatte? Das Wunder, daß ber hi. Geijt in die Seele eines Haremsfönige eine Reihe apofafgptijd)er Bilder, enthaltend die Gejdjidjte der Gríójung vom Sündenfall an durch Menſchwerdung und Tod des Heilandes bis zur Wiederfunft, Gericht und ewiger Vollendung des Gottesreichs gemalt habe, ohne irgend welchen Anfnüpfungspunkt an Geſchichte und dogmatifch- ethiſches Bewußtſein der damaligen Gegenwart, ift fo un: endlich groß, bap ihm die Glaubhaftigfeit abzugehen droht. Wir mijjen das unmöglich mit der aus der heil. Schrift befannten Gejdjid)te be& Königs zufammenzureimen. Wenige jtens thäte man bejfer, bem Salomo dann die Autorfchaft abzufprecyen und einem beſonders begnadeten propbetifchen Manne fpäterer Zeit zuzulegen. Die rein allegorifche Gr»

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fíürung wirb immer an der Schwierigkeit fcheitern, biefen Theil der Offenbarungsgefchichte mit der fonftigen Gefchichte Salomo’8 und eines Zeitalter8 in Harmonie zu bringen. Eine pragmatifche Gejdjid)te der Offenbarungsgedanten aber ohne bejtändigen Kontakt mit und ohne Orientirung an der fonftigen Gefchichte der Träger der Offenbarung und weiterhin ber Zeitgeſchichte Israels ijt ein Phantafiegemälde, deſſen ſchönſte Partien fid) an den harten Telfen der biblifch- gefchichtlihen Thatſachen in Nebel aufzulöfen drohen. Wenn ©. 43 das Wort Theodorets Vertretern der tupifchen Deutung entgegengehalten wird: ideo necessarium duxi- mus, ut falsas ac perniciosas istorum opiniones con- futemus, fo mögen die „wiflenfchaftlichen” (nicht bie prafti» iden Allegorifer) das Wort des Laktanz (Inst. div. I, 11) hinnehmen: non res ipsas gestas finxerunt. poetae, quod si facerent, essent vanissimi, sed rebus gestis addiderunt quendam colorem. Wie bei Hiob, für mel» chen eine maßvolle und bejonnene Gregeje einen realen 33or» gang als Grundlage dichterifcher Bearbeitung annimmt, wird e8 fid) aud) beim Hohenlied verhalten : der königliche Verfaſſer, unbejtritten ein Stern erjter Größe iu ber claſſiſchen Literatur feines Volkes, verwob bie durchlebte doppeljeitige Situation des Fürften und Hirten, welch legtrer ja aud) ein ganz ge- wöhnliches Bild für bem erftern mar, jomie die einer Hirtin und Prinzeffin miteinander. Dort fteigt er herab, fid Icheinbar verdemüthigend, in Wahrheit aber um geläutert, fittlih erhöht zu werden; hier wird fie äußerlich erhöht, überragt aber an innerer, fittlicher Hoheit den Glanz des Throned. Wir verfennen das Inadäquate zu bem beiden Antitypen feinen. Augenblick; ἐδ fehlt aber motfmenbig (tel die Gongrueng zwifchen Typus und Gegenbild, und felbit

Bibliſcher Commentar Uber bie poetiſchen Bücher ze. 541

den in unjerm Fall gejteigerten Mangel berfefben ertragen wir weit leichter, als die bei näherm Eingehen auf das Gedicht jid) auf allen Seiten documentirende moralijche Un⸗ möglichkeit und bogmatijdje Unglaublichkeit ber pringipis ellen Allegorefe. Einen mbftijdjen Sinn, ober geradezu die Anlage des Liedes zu einem folchen, bie gleichjam nur eines Ruckes bedurfte, um in ihn verflärt zu werden, vers fennen wir alfo in feiner Weile, aber ba8 Syftem darin mit bem Muthe, ein folches bis in die äußerſten Conſequen⸗ zen in allen Einzelheiten des Liedes durchzuführen, das myftifche Element al8 primäres und ausfchließliches, ſcheint und unannehmbar, und Verf. felbft muß zugeben, daß bie ‚Iholaftiiche Gregeje burd) den Muth ihrer Syjtematifirung ber Allegorefe des Hohenliedes die Schrift vielfach zu einem Complex pon Albernheiten und Verrüctheiten, ein gefundes Mahl einfacher Gerichte burd) die fabeften Beigaben unge» nießbar gemacht Hat. Die ©. 62 f. angeführten Aeuße⸗ rungen der Propheten, Chrifti und der Apoftel konnten ge» macht worden fein, aud) menn gar kein Hoheslied vorhanden geweſen müre, da fie in nichts über die uralte Vorjtellung in Ysrael von Gott als Eheherrn und feinem Volke als Gemahlin hinausgehen und diefelbe fehr feujdj und refervirt behandeln. Wir ftimmen völlig bei, wenn e8 ©. 79 heißt: G8 geht nidjt an, promiscue einen Vers auf die Incar⸗ nation, den folgenden auf die Gnadengemeinjchaft mit ber Seele, den dritten auf die Kirche in ihrer Entwidlung, einen andern auf die Kindheit der Kirche zurüdzuführen, oder wenn ebendort die Methode verworfen wird, einen sensus triplex anzunehmen und jeden Vers als sensus adaequatus auf Chriftns und die Kirche, als sensus principalis auf die fef. Jungfrau , aí$ sensus partialis auf Chriftus und Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft III. 35

542 DER,

bie Sede zu beziehen. Wir geben aud) gerne zu, bag Berf., nachdem er fi einmal anf den aflegorifchen Standpunkt geftellt, innerhalb deffelben vergleichsweile befonnen und nüchtern Hanthiert und einen Fortfchritt der Gebanfen und Zhatfachen der Offenbarung im Liede ausfindig gemacht fat, der wohl annehmbar wäre mit der Annahme der ganzen Methode felbft, gegen: welche wir uns erflärt haben.

Wir wollen noch wenige Einzelheiten aus der Erklä⸗ tung berühren, welche in einen Literaffinn und alfegorijdjen Sinn getheilt ift. Natürlich) Tann erfterer nur zum Zweck haben, die Situation der einzelnen Scene, deren Zujammen- fammenhang mit bem VBorangehenden, die Berfonen feitzu- ftellen und gefchichtliche oder archäologiſche Erläuterungen vorzubringen. ὅπ der erften Abtheilung,, welche bis 2, 8 reidjenb bie Bermählung Chrifti mit ber menfchlichen Natur vorführen fol, fällt auf, daß 1, 6: „Meiner Mutter Söhne grolíter mir und machten mid) zur Weinberghüterin“ bie Söhne ihrer Mutter die Heiden fein follen, welche bod) nicht fie zur Hiterin be8 Weinbergs, ὃ. D. ber Theofratie gemacht Haben können; auch nicht „allenfalls“ bie ißraeliti- ſchen Könige, oder bie Phariſäer. Sogleih Bier ſchon flimmert e8 in der allegorifchen Auslegung bunt durdein- ander. Selbſt das (meit fpäter) eroberte und gerftürte Serufalem {|| fid) fdjon ein. Nah S. 120 follen bie Heerden ber Genoſſen de8 Königs entweder im Gegenjat zu den folgenden „&ezelten der Hirten“ geſetzt und ale Miethlinge zu deufen fein, ober al8 ba8 Gegentheil. Zu 1, 9: „Meinem Gefpann an Pharao’8 Wagen ὑεῖς gleiche id) bid) meine Freundin“ hatte Hengitenberg, eben- falls 9(([egorifer, bemerkt: Sulamith wird mit der ganzen

äghptifchen Cavallerie verglichen, darum ift fie eine ideale

Biblifcher Commentar über bie poetijjen Bücher ꝛc. 543

Berfon, und üfníid zu 2, 7: die Braut (afe gefchichtliche Einzelperfönlichkeit) würde nicht bei den Hindinen, fondern bei den Hirfchen beſchwören. Solchen faft frivolen Aeuße⸗ rungen, gleichfam einer Entfchädigung für den Zwang ber Allegorefe, welche als Gründe für legtere angeführt wurden, begegnet man bei Sch. nicht, aber bod) faum weniger pro» blematifchen Erklärungen unb Motivirungen: 1, 10 die ſchönen Wangen in den Kettchen, ber fchöne Hals in den Schnüren wären bie Graben ber alt- und neuteftamentlichen Offenba- rung, das Meyrrhenbüfchlein 1, 13 eine bejtünbige Erinnerung für die Braut an das Leiden Chrifti, gegen den Zufammen- hang, Ἰοοπα e$ in bonam partem zu verjtehen ift.' Der bl. Thomas fatte e$ gar auf das Begräbniß Chrifti, und die Eypertraube V. 14 auf bie Auferftehung bezogen. Auch $5. 17: „Cedern find das Gebülf unjres Haufes, Und Cypreſſen unſer Getäfel” foll man wieder ans Verjchiedenite denken können, bie 9(pojtef, Kirchenlehrer, Sacramente, Dog⸗ matif, bie heil. Menjchheit Ehrifti. 2, 10—15 die Rebe Salomo’8 an die Braut wird mit Marc. 1, 15 patalíte liſirt: die Turtel (das Girren der Zurteltaube vernimmt man im Lande) wird mit Galmet a($ pia anima in exilio plorans coelestique sponso jungi cupiens erflärt, jo» gleich aber beigefügt: fie fanm aud) den Df. Geift bedeuten, der am Sordan auf den Heiland Herablam. Das ganze Srühlingsliedchen ift aber voll freubiger Stimmung und ein Klageton nur Dereingubringen, wein gar feim Zuſam⸗ menbang mehr gilt, und jtedt in 124 (die Blumen ſproſſen, die Seit des Gefangs ijt ba) Magnificat, Benebictus fanımt Nune dimittis, fo fann eben Calmet nicht Recht haben, fondern die Turtel ift wirklich der Df. Geift. Sogleich wieder foll aber $8. 13 (ber Feigenbaum bat feine Früchte

gewürzt, bie Weinftöde blühen und duften) bloß die [pürli» hen Früchte der Synagoge bedeuten man fehnt fid) wirklich heraus aus diefem ungeheuerlichen und widernatür- fien Zwang ber Mißdentung. Das Fangen der Füchſe 2,15 ift lange nicht fo dunkel, daß feine natürliche, fondern nur eine allegortiche Deutung möglich; bie Aufforderung erklärt fi aus der Situation Sulamiths als Winzerin und Salomo's, der auf ber Jagd fid) befindet. . G8 fehlt fid) nicht, daß er $8. 16 „weidend unter Lilien“ a(8 Hirte idea⸗ liſirt ift; an jofdje Sdealifirungen fnüpft bte Allegorie an, fie find aber nicht von fid) aus fehon alfegorijd). Aehnliche metaphorifche Art findet fid) aud) darin, daß bie zerffüfteten Berge. 2, 17 am Schluß zu Balfambergen werden. Auch da8 bedeutet nur, daß bie Hinderniffe der Vereinigung gt Ihwunden, die Feljenklüfte zu Würzhügeln geworden find. Die Allegorefe berührt fich bei folchen Stellen oft eigen: thümlich mit der radikalen Kritif und e$ lohnt fid), darauf anfmerkfam zu madjen. Beide fteigern und übertreiben bie Scpierigkeiten dunkler Stellen und Zufammenhänge bis aut Unmöglichkeit eines vernünftigen Sinnes und Contertes, bie einen, um Wiberfprüche nachzuweiſen, die andern ad *m. D. g., um mo möglich einige llebernatur darin zu finden. Aber das Verfahren ift exoft daffelbe: man ermüdet ab» fihtlih im Denken und überredet fij, es gehe nicht mehr vorwärts, nur ein Deus ex machina fünne mod) helfen; der i[t bei ben Otabifafen die Einheitslofigfeit, da8 Fragmen⸗ tarifche der Schrift, bei den Allegorikern Bier der tiefe Hinter: grund der Myſtik; aber beide Theile bauen nicht mehr, Sondern zerftören das Wort der Schrift burdj den Bann ber Tradition ober ber abjolnten Wiffenfchaftlichkeit. Auch 3, 1—5 betrachtet Verf. als einen Triumph der Wllegorie,

Bibliſcher Commentar Aber die poetifdjen SBüdjer:c. 545

denn als äußere Wirklichkeit [δι fid) was hier erzählt wird, unmöglich begreifen; barum nothwendig nur alfegorijd). Nur ja nicht al8 Traum, ber es dennoch ift, womit dann ber Abfcehnitt gut bem Vorigen correfpondirt, was Sulamith ale äußern Vorgang erzählt, und mit 5, 2 ff., was ja felbft als Traum bezeichnet ift. Man (eje über 3, 1—5 die allegorifche Auslegung und urtheile, ob bie 9tebe Sulamiths al8 Traum gefaßt abgefchmadt, unanftändig und unfinnig je. Daß ber Traum als folcher nicht angedentet wird, heißt nichts im Vergleich zur alledem, was dort durchaus unangebeutet auf allegorifchem Weg gefunden werden milf.

Auch in der Schilderung der Braut durch Salomo 4, 7—16 vermögen wir nichts Lüfternes noch Unäfthetijches zu finden, fall8 man nur die Dinge nicht mit manichäiſchem Makftab mit. Die feine Grenzlinie ijt vollftändig ein- gehalten, zumal für einen morgenländifchen Dichter, der überall den erfchloffenften Sinn für freatürfie Schönheit zeigt. Konnte es ihm aber etwa eher erlaubt fein, göttliche Wahrheiten in Halb unanftändiger Hülle auszudrücken ? Dabei befennen wir gerne, daß bie duftig zarte Hülfe, bie fid Teicht ergebende Verwendbarkeit einzelner Stellen für höhern Sinn, das Ginfabenbe derfelben zu alfegorifcher Deus tung, das Ungezwungene des llebergang8 zu folder bier jtärfer hervortritt und auf einen höhern Geift hinweist, wie 4, 15, bemerken aber audj, daß 4, 16 nur finnlos ijt, menn man fid) vorftellt, daß Nord- und Südwind zu gleicher Zeit mehen folfen. Zu 8,7 f. finden wir wieder angegeben, daß das Hochzeitögeleite entweder die Shnedriften ober aud) die Schergen der Hinrichtung oder die fchüchtern folgenden Apoftel mit Maria bedeute. 3, 10 f. foll das Schmad)- und Schmerzholz des Kreuzes vorgebildet fein, während

Cheologifche

Quartalfd rift.

In Verbindung mit mehreren Gelehrten

beraußögegeben

von

D. v». Kuhn, D. ». Simpel, D. Kober, D. finfen- mann, D. Fnuk unb D. Sam,

Profefforen ber kathol. Theologie an ver f. Univerfität Tübingen,

Achtundfünfzigſter Jahrgang.

Viertes Quartalheft.

Gübingen, 1876. Verlag der H. Laupp’fchen Buchhandlung.

forud von H. Laupp in Tübingen.

L Abhandlungen.

1. Das Verhältniß der Evangelien des Marcus und Lucas.

Bon Karl Nippel.

Bei Zufammenftellung der vier Evangelien zeigt fid nicht bloß 3mijden bem Matthäus und dem Markus—⸗, fondern auch zwifchen dem Markus» und bem Lufasevange- lium deutlich eine Verwandtſchaft. Beſonders jind e$ aber einige Abjchnitte, in denen bieje Verwandtſchaft auffallend vor unjer Auge tritt.

Vergleichen wir 3. B. den Abfıhnitt Dark. I. 21 III. 5 mit bem Abfchnitte Quf. IV. 31 VI 40, jv fónnen wir Folgendes bemerken: Dieſe Abfchnitte erzählen aus dem öffentlihen Leben Jeſu die Begebenheiten eines Zeitraumes von ungefähr 5 Deonaten. Bon allen, gewiß zahlreichen Greigniffen diefes Zeitraumes erzählt jeder diefer beiden Evangeliſten

1) diefelben Begebenheiten (mit Ausnahme des nur im Lucasevangelium erzählten Fiſchzuges Petri ;

36 *

552 Nippel,

2) in bderjelben Ordnung;

3) mit benjefben Umftänden ;

4) in derfelben Kürze oder Länge.

Wem follte in diefem Abfchnitte des Markus⸗ und be8 Lukasevangeliums die Webereinftimmung beider Evan- gelien nicht auffallen? Cine ähnliche Webereinftimmung findet fid) aud) noch in einigen andern theils größeren, theils Heineren Abjchnitten beider Goangelien! Zufälliger Weife Tann eine folche Webereinftimmung nicht entftanden fein. Die Benützung de8 Matthäusevangeliums durch Markus und Lukas erklärt bieje Webereinftimmung aud)nidt. ES erzählt Matthäus zwar auch bie meiften obgedachten Begebenheiten, aber nicht alle. Es fehten im Matthäusevangelium folgende Begebenheiten Mark. I, 23— 26. ἐμὲ, IV 33—35 Jeſus treibt einen Teufel aus; Mark. I, 55—39, Qut. IV, 42—43 Jeſus begibt fid) in aller Frühe in bie Ginjamfeit, und wird von den Berlafjenen geſucht; Marl. I. 45, Luk. V. 16 Jeſus begibt fid abermal in bie Ginjamfeit. Ferner erzählt Matthäus jene ber oberwähnten Begebenheiten, welche er berichtet, in einer anderen Ordnung. |

Da nun bie auffallende Uebereinftimmung ber (oar gelien Markus’ und Qufa$ im einigen Abfchnitten weder zu- fällig entftanden fein Tann, noch [ἰῷ burd) bie in beiden Evangelijten gefchehene Benügung des Matthäusevangeliums erflären läßt, fo muß entweder ber eine der Evangeliften Markus und Sufa$ das Evangelium des anderen vor fid) gehabt, oder es müſſen beide aus einer ambermeitigen, nicht mehr vorhandenen, ganz unbefannten Quelle gejchöpft haben.

Letzteres anzunehmen, ift jedoch etwas febr Mißliches.

Das Verhältniß ber Evangelien be8 Markus unb Lulas. 553

Denn eine von zwei Evangeliften benübte Quelle muß bod) folgende Eigenjchaften gehabt haben :

1) muß fie eine alte,

2) eine glaubwilrdige,

3) eine [djon wenigftens etwas verbreitete Quelle ‚ges weien fein.

Wie aber läßt e$ fid) denn erklären, daß eine folche Quelfe nicht bloß verloren ging, jonberm auch nirgenb eine Spur davon zu finden ift? So lange nicht bei einer forg- fältigen Bergleihung die Unmöglichkeit fid) zeigt, daß das eine biefer beiden Evangelien die Quelle des anderen tar, find wir zur Annahme genöthigt, daß ber eine ber beiden Evangeliften aus dem Evangelio des andern fchöpfte. Auh den Fall, daß der eine der beiden Evangeliften wohl aus dem Gpangefio des anderen ſchöpfte, baB aber neb it. dem beide nebjt bem Meatthäusevangelium ποῷ aus einer ſchriftlichen nicht mehr vorhandenen Quelle jchöpften, können wir aus demſelben Grunde nur dann ſetzen, wenn ohne eine fofdje Annahme die Verwandtſchaft beider Evangelien fid durchaus nicht hinreichend erflären ließe. Wir ftellen deßhalb gleich bie Frage: Hat einer diejer beiden Evange⸗ fijtet aus dem Gbangelium des andern gefchöpft? Und welcher ? Lukas aus Markus? Oder Markus aus Lukas?

Prof. Dr. Schanz fagt: „Der größte Theil der pro- teftantifchen Exegeten betrachtet da8 Markusevangelium als - ba$ urjprünglid)e, während katholifcherfeits, von ber neueſten Grídjeinung abgefehen (Sepp, das Hebräerevang. ober bie Markus» und Matthäusfrage und ihre friedliche Löſung. München 1870) die alte Ordnung des Kanons aufrecht er- halten wird“ 1).

1) Theol. Quartalſchrift. 53. Jahrgang. 1871. ©. 490.

554 | Nippel,

Wenn ber Herr Prof. unter ber alten Ordnung des Kanons die Reihenfolge verſteht, in welcher die Evangelien im Kanon ftehen, (o wäre bezüglich der Beantwortung der Frage: hat Markus aus Lukas, oder Qufa8 aus Markus geſchöpft? fo ziemliche Einftimmigfeit unter den Gregeten vorhanden. Denn ſowohl die proteftantifchen Cregeten, welche a8 Markusevangelium als das urſprüngliche betrach⸗ ten, als aud) bie Fatholifchen, von denen bie alte Ordnung des Kanons aufrecht erhalten wird, hielten ba8 Markus— ebangelium für älter, af8 das Lukasevangelium, und fónnten daher unmöglich zugeben, daß man das Yufasevangelium für eine Quelle des Mearfusevangeliums Halte. Allein e8 gibt nicht bloß einen Theil der proteſtantiſchen Eregeten, welche bae Marfusevangelium nicht als ba8 urfprüngliche betrachten, fondern e8 gibt auch fatfofijd)e Gregeten, nad) denen bit Evangelien wicht in der Reihenfolge gejchrieben find , wie fie im Kanon ftefen ; nad) denen insbefondere Lukas vor Markus ſchrieb. Echon Yrenäus mug das Marfusevans gelium für jünger als das Lufasevangelium gehalten Haben, da cr fagt, daß er fein Evangelium der Lleberlieferung zufolge μετὰ τὴν τῶν ᾿Αποστόλων ἔξοδον gefchrieben habe ἢ). Für älter a(8 das Mlarfusevangelium wurde das Qufae; evangelium aud) gehalten von Clemens Alex., qui affirmat, Evangelia, quae habent genealogias i. e. Matthaei et Lucae, prima esse composita προγεγράφϑαι Ta περιέ- yovra vag γενεαλογίας ?). Unter den anderen Exegeten, welche das Lukasevangelium für älter halten al8 ba8 Markus— epangefium muß vorzüglich 9tboff Maier genannt werben. Meßmer, ber ba8 Markusevangelium für älter hält, als

1) Messmer, Introd. in libr. nov. test. p. 31 u. 3 2) Messmer, Introd p. 16. n. 8.

Das Verhältnig der Evangelien be8 Markus unb Lukas. 555

δα Lukasevangelium, jagt: Cl. Adolf Maier, qui Marcum post mortem Apostolorum ac tertium scripsisse putat, vix non fallitur« 1). Da Mebmer nur des Ausdrudes: Cl. Maier »vix non fallitur« ſich bedient, ohne ben Herrn Brofejfor förmlich zu miberlegen, fo ift daraus fdjon erjichtbar,, daß die Begründung Maiers eine ziemlich fefte jein muß.

Sehr leicht (üBt e& fid) denken, daß Markus als ber [fete der drei Evangeliften Gründe hatte, einmal an Mat—⸗ thäus, dann wieder an Lukas fid) zu halten; allein went wir Lukas als den dritten Cvangeliſten betrachten jollten, jo müpten wir annehmen, daß Lufas IV, 31 VI, 10 bem Markus folgte, der bier mit Matthäus zum größten - Theile nichts gemeinschaftlich Hat, und da, wo Marfus ILL, 6—12 mit Matthäus geht, ihm verlaffen hatte. Ferner Marf. III, 13—19, wo Markus wieder allein ftand, müre ihm Lukas wieder gefolgt, und Mark. III, 22 IV, 20, wo Markus wieder mit Matthäus geht, Hätte ihn Lukas wieder verlaffen, um ifm Mark. IV, 21—25, wo er fonft allein wäre, wieder zu folgen. Mark. IV, 30—834, wo Marfus wieder mit Matthäus geht, hätte ihn Lukas wieder verfaffen, Mark. IV, 34 V, 43, wo Markus wieder, wenigftens in Bezug auf Ordnung unb Umftände, allein ftand, wäre ihm Lukas wieder gefolgt, um ihn- in dem Augenblidte, wo er (Markt. VI, 1—5) ganz mit Matthäus geht, wieder zu verlaffen. Wie joff man erflären, daß Lukas den Marks gerade dort zum Führer genommen. habe, wo er von Matthäus abweicht, und dort, wo er mit ihm übereinftimmt, nidjt. Da müßte Lukas eine befondere Anti-

1) Messmer Introd. p. 32 n. 8.

556 Nippel,

pathie gegen Matthäus gehabt haben. Auch die Annahme, Lukas habe fo gehandelt, weil ‚das Matthäusevangelium feinen Leſern Dereit8 befannt mar, ba8 Markusenangelium " aber nicht, erklärt bie Cadje nicht, da Lukas aud) mit bem Matthäusevangelium Vieles, febr Vieles, was bem Markus⸗ evangelinm abgeht, gemeinfchaftlich Hat.

Den von Ad. Maier angeführten Beifpielen *) würden wir gerne nod) andere, und zwar mit Beifügung des Textes anfchließen, damit ber Lejer das fombinirenbe Verfahren des Markns fo recht vor Augen fefe, allein wir wollen ohnehin feiner Zeit ba$ ganze Markusevangelium ‚mit den Paralfelftellen der übrigen Evangelien zufammenftellen, und werden bei diefer Sufammenftelfung auf bie Belege für das fombinirende Verfahren des Markus aufmerfjam machen.

Bei Zufammenftellung der Evangelien Markus und Lukas können mir and) bie Beobachtung madjen, daß mandhe Stellen des Lufasevangeliums im Markusevangelium eine Erklärung oder Erläuterung finden, und zwar find jene Stellen, welche im Markusevangelium eine Erläuterung fin- den, oft bloß im Lulasevangelium, und deren Erläuterung nur im Markusevangelium verftünb(id).

Vergleichen wir 3.3. €uf. V, 15. 16 mit Mark. I, 45. Nachdem Lukas V, 12—14 die Heilung be8 Ausfätigen erzählt hat, führt er fort: „Es breitete jid) eben bie Rede von ihm nod) mehr aus, und ἐδ fam viel Bolt zufammen, um ihn zu hören, und geheilt zu werden von ihren rant: heiten. Er aber entmid) in bie Wüſte und Detete". Lukas (ápt hier unerffürt, wie, nachdem Jeſus bem Geheilten

1) Maier, Einleitung in bie San des N. T. Freiburg im Breisgau 1852. ©. 36. 37.

Das Verhältniß ber Evangelien des Markus und Lukas. 557

geboten hatte, Niemanden etwas zu jagen, fid der Ruf Sefu mod mehr ausbreitete, und wie Jeſus, ba viel Bolt aufammenfam, in bie Wüfte entwich. Nun fagt Mar» tus T, 45: „AUS er aber hinausgefommen war, fing er an, die Sache zu verfündigen und auszubreiten, fo daß Jeſus nun nidt mehr öffentlich in die Stadt gehen konnte, fondern draußen an öden Orten blieb; aber fie verfammelten fi] zu ihm von allen Seiten“. Es ijt erfihtlih, daß Markus erftens erklärt, wie ungeachtet des Verbotes, von der Heilung etwas zu fagen, ber Ruf S eju fid) verbreitete, indem ber Gereinigte bas Verbot nicht beobachtete, wenn Markus zweitens zeigt, daß Jeſus nicht, als viel Volt zufammengelommen war, ihn zu hören, unb fid) heilen zu faffen, ba8 Volk etwa im Stiche ließ, fondern daß er gleich nad) der Heilung des Ausfäbigen in bie Ginjamteit jid) θὲ» gab, wo fich wieder Scharen um ihn her verfammelten. Was für einen Grund hätte Lukas Haben Tonnen, die Ord⸗ nung Mark. I, 45 in uf. V, 15. 16 umguünbern Bergleichen wir Qut. V, 17—19 mit Mark. ITI, 1—4, jo füónnen wir Folgendes bemerten. Während Lukas ohne Beitimmung von Zeit unb Ort nur fagt: Es gefchah an einem der Tage, daß er faß und lehrte, beftimmt Markus bie Zeit, ba er jagt: nach einigen Tagen‘, dann ben Ort, und fo in weiterer Bedeutung die Stadt, nämlid) Kapharnaum, unb in engerer, ba er fagt, Daß es befannt war, daß Syejite üt einem Haufe fag. Während ferner Lukas nur erwähnt, dag man vor Vollsmenge feinen Play fand den Kranken zu Syefu zu bringen, fagt Markus deutlicher, baB fo Viele gefommen waren, fo baß fie auch draußen vor ber Thüre feinen Pla hatten. Während endlich Lukas fagt: ba bie Träger feinem Plag fanden, den Gichtbrüchigen hineinzu⸗

558 Nippel,

bringen, ftiegen fie auf das Dach unb ließen ihn durch bie Ziegel mitten vor Jeſu hinab, fagt Markus, fie deckten das Dach ab, mo Jeſus war, unb ließen, als fie e8 ge- öffnet hatten, das Bett, worauf ber Gichtbrüchige fag, herab, So erflärt Darf. V, 16.17 offenbar Luk. VIU, 36. 37, denn wenn Lukas VIII, 36. 37 fagt: „Die aber, welde es gejehen hatten, erzählten ihnen, wie er von ber Legion befreit worden“, und Hierauf fortfährt: „Da bat ihn bie ganze Menge des SBoffe8 in der Landfchaft ber Gerafener, daß er von ihnen wegginge, benn [ie waren von großer Furdt ergriffen“ fo erhellt aus biejem Worten dee Lukas weder die Urjache ihrer Furcht, noch der Beweggrund ihrer Bitte. Wenn nun Markus V, 16. 17 fagt: „Die aber zugefehen hatten, erzählten ihnen, wie ἐδ dem, der vom Teufel bejejfen war, erging, und aud) von den Schweinen“ jo ijt ber Ausdrud des Qufa8 wie er von der Legion befreit worden, erklärt und baburd) aud) bie llrjad)e ber Surdj und der Beweggrund der Bitte erfichtlich gemadjt. Bemerfen wir ferner, wie Qufas VIII, 39 nur fagt, daß der geheilte Beſeſſene feine Heilung in der Stadt ὑεῖς fünbigte, während Marfus V, 20 erwähnt, daß er fie in den zehn Städten verfündigte, [0 fünnen wir leicht einen Grund finden, daß Markus bie Aenderung, oder vielmehr Ausdehnung macht. Markus erzählt nämlich VII, 31, wie Sefus nad kurzer Entfernung wieber in diefe Gegend fat, dort den Zaubjtummen Deilte und ihm Tanfende nachge- folgt waren. Dadurch, bap Markus V, 20 erwähnt, bet Seheilte habe in den 10 Städten feine Heilung verkündet, erklärt er den großen Sujammenfauf ber Menſchen VIII, 1, ba Yefus wieder in diefer Gegend war (Marf. VII, 31). Daß Markus diefe Abficht Hatte ijt erkennbar, da weder

Das Verhältniß der Evangelien be8 Markus und Lukas. 559

in ber zu Marf. V, 20 parallelen Stelle Luk. VIII, 39 nod) in ber zu Mark. VII, 31 paralielen Stelle Matth. XV, 29 der zehn Städte Erwähnung gefchieht, mithin biejer Umftand von Markus nicht aus bem Matthäus- ober Lukas⸗ evangelium entnommen. ijt. Hätte Lukas jedoch ba8 Markus⸗ enangelium vor fid) gehabt, fo läßt fid), wenn aud) Lufas die Heilung des Taubftummen ans was immer für einem Grunde überging, nicht begründen, daß er die Nachricht, ber Geheilte habe feine Heilung in den 10 Städten erzählt, dahin abgeändert hätte, er habe dies bloß in feiner Vater⸗ ſtadt gethan.

Erwähnenswerth dürfte auch fein, daß bei ber Erzäh- (ung der Vermehrung ber fünf Brote €ufa8 X, 14 fagt: κατακλίνατε αὐτοὺς χλισίας ἀνὰ πεντήκοντα. Machet, wie Kiſtemacker überjegt, daß fie fid) reihenweife niederfegen, je fünfzig und fünfzig, während Markus diefen Auftrag Jeſu nicht berichtet, allein VI, 40 fagt: καὶ ἀνέπεσον πρασιαὶ πρασιαὶ ανὰ ÉxowOv xol ἀνὰ πεντήκοντα. Leicht fonnte Markus bieje Aenderung machen, denn ba bie Gefammtzahl ber gefpeisten Männer 5000 war, jo waren ἐδ, menn fie fid) im Reihen zu 50 feßten, gerne 100 Reihen, und zählt man die Reihen der Breite nach, waren ἐδ 50 Reihen zu 100 Mann. Umgekehrt jedoch hätte Lukas, auf die Erzählung des Markus: fußend, nicht erzählen Tünnen, daß Jeſus geboten habe, e$ follen fidj alle Männer in Reihen zu fünfzig Mann fegen. Nicht überfehen dürfen mir aud) den Umftand, daß Markus bei Erzählung der Vermehrung ber 7 Brode, welche Erzählung Lukas nicht Dat, feine Be⸗ merfung über das reibenmeije Citgen madjt. Wäre bieje Bemerkung bei Erzählung ber erſten Brotvermehrung von Markus felbftftändig gemacht worden, würde er fie wohl

560 Nippel,

auch bei Erzählung der Vermehrung der 7 Brote gemadht haben.

So haben wir aljo gefehen, wie viele Stellen des Lulasevangeliums im Markusevangelium eine Erläuterung finden. „Jener Autor“, fagt Sepp, „ift offenbar der jüngere, welder bie müógtiden Mißver- ftändniffe bes anderen beridtiget“ 1).

Bei Zufammenftellung be8 Markus» mit dem Lukas⸗ Evangelium können wir die weitere Beobachtung machen, daß manche Stellen des Rufasevangeliums in den Parallel⸗ ftellen de8 Markusevangeliums ihre Vervollftändigung unb Ergänzung finden.

So heißt e8 3. 3. Quf. X, 5: καὶ ὅσοι ἂν um δέ- δωνται ἱμὰς, ἐξερχόμενοι ἀπὸ τῆς πόλεως ἐκείνης, καὶ τὸν κονιορτὸν ἀπὸ τῶν ποδῶν ὑμῶν ἀποτινάξατε, εἰς μαρτύριον ém αὐτούς, während c8 Mark. VI, 11 beißt: καὶ ὅσοι ἂν un δέξωνται ὑμᾶς, μηδὲ ἀκούσωσιν ὑμῶν, ἐκπορευόμενοι ἐχεῖϑεν ἐκτινάξατε τὸν χοῦν τὸν ὑποκάτω τῶν ποδῶν ὑμῶν εἰς μαρτύριον αὐτοῖς.

Das: μηδὲ ἀκούσωσιν ὑμῶν bei Markus ift offenbar eine VBervollftändigung von Quf. IX, 5, indem e$ Dinbeutet auf folche, welche bie 9(poftel zwar aufnehmen, aber ihnen kein Gehör ſchenken werden.

Ebenso ift Marl. VI, 12. 18 eine Vervollſtäͤndigung von Luk. IX, 6, indem Markus erſtens den Gegenftand der Predigten der Apoftel angibt, nämlich, daß man Buße thun fole, indem Markus 2. erzählt, daß die Apoftel and) viele Teufel austrieben, und indem er 3. bemerkt, daß fie viele 8rante Durch bie Salbung mit Dele Deilten.

1) Sepp, Qebtierebangelium ©. 47.

Das Verhältniß ber Evangelien ded Markus und Lukas. 561

Gleichfalls ift Mark. VI, 30 eine Vervollftändigung von Quf. IX, 10 indem Lufas nur fagt, daß bie Apoftel Je fat berichteten, was fie gethan hatten, während Markus fagt: Sie berichteten i)m von Allem, was fie gethan und mas fie gelehrt hatten.

ft es denkbar, daR Lukas den vorgefundenen Text des Markus fo veritimmelt hätte

Cine beachtenswerthe Erjcheinung ift auch folgende. Sm Markusevangelium gibt e8 mehrere Stellen, welche zwar in feinem Cvangelio eine eigentliche Parallele haben, aber zu an relativ anderen Orten des Lukasevangeliums be: findlihen Stellen in einer unläugbaren Beziehung ftehen, nub zwar wie eine im Markusevangelium gegebene Antwort zu einer im Lulasevangelium enthaltenen Frage, oder wie die im Marfusevangelio enthaltene Löſung eines im Lukas⸗ evangelio gegebenen Räthſels. Es mögen nun einige folche Beifpiele folgen.

| Betrachten wir die Stelle Start. III, 17 καὶ Ἰάκωβον τὸν τοῦ Ζεβεδαίου, xoi Ἰωάννην τὸν ἀδελφὸν τοῦ Ioxo- βου" καὶ ἐπέθηκεν αὐτοῖς ὀνόματα Βοανεργὲς ἐστιν Υἱοὶ βροντῆς, fo werden wir in feinem der übrigen Evangelien eine Andentung finden, daß ber Herr den beiden Zebedänsfühnen einen Beinamen gegeben hat. Seken wir aber num diefer Stelle die Stelle Zul. IX, 51—56 au bic Seite, jo läßt fi eine Beziehung der einen Stelle auf bie andere nicht verfennen, unb wurde auch fchon, unter andern von (bem unglüdjeligen) David Strauß erfannt; allein (in feiner Teidenfchaftlichen Verblendung) 208. er eine ganz bere fehrte Fofgerung. Er jagt nümíid: „Wenn mir von bem Erbieten ber Brüder fejen, auf eine jamarifche Stadt, die Sefum nicht aufnehmen wollte, Feuer vom Himmel fallen

562 Nippel,

zu laſſen, jo fcheint der den Brüdern gegebene Beiname Boanerges ober Donnerfühne (Mark. 3, 17) darauf Hinzu- deuten, daß folcher Feuereifer bei beiden bleibende Tempera⸗ mentseigenfchaft war“ D. Unferer Anficht nad) jedoch zeigt diefe Stelle nichts weniger, al8 daß ein fo heftiger Charafter in beiden Brüdern und namentlich in Johannes war. Wir dürfen nicht überſehen, daß der Herr den beiden Brüdern diefen Beinamen nicht gab, nachdem die von Lukas in obiger Stelle erzählte Begebenheit fid) zugetragen Hatte, (und von einer andern vor ber Apoftelmahl Statt gehabten die Hite der Brüder zeigenden Begebenheit leſen wir auch nichts). Und e8 dürfte deinnach die Beilegung be8 Namens nidt die Yolge des auf joldje Art fid) &ufernben Feuereifers der beiden Brüder gewefen fein, jonberm umgelehrt der Umſtand, daß ber Herr bei jener Gelegenheit, bei welcher er den Zwölfen die Macht gab, Kranke zu heilen und Teufel auszutreiben (Darf. ΠῚ, 13), den Zebedäusföhnen den Namen Boanerges gab, dürfte in ihnen die Meinung hervorgerufen haben, daß der Herr ihnen baburd) auch eine befondere Gewalt über Donner und Blig verleihen wollte. Warum ber Herr ihnen den Beinamen Boanerges gab , können wir nicht jagen. Bei dem Umjtand, bap fie im Matthänsevangelio gewöhnlich bie Zebedäusfühne genannt- werden, fo daß Matthäus fogar XX, 20 jtatt Salome das Weib des Zebedäus oder jelbft die Mutter der Zebedbäusfühne jagt, Zebedäus aber einen ähnlichen Laut Hat, wie Zevc Θεὸς, der Gott des Donners, konnte vielleicht der Herr fie jcherzweife jo genannt haben, allein den am wenigften geregelten, den Digigften Feuereifer dürfte unter den Apofteln wohl Simon gehabt

1) Strauß Leben Jeſu. Leipzig 1863. ©. 76.

Das Verhältniß ber Evangelien bes Markus und Lukas. 568

haben, wie fein Beiname der Zelote, ſchließen läßt. Unſerer Anfiht nad fat Markus bei Erzählung der Apoftelwahl hervorgehoben, daß Jeſus ben Zebedäusföhnen den 3Bei- namen Boanerges gab, damit ber Xefer fid), wenn er quf. IX, 51— 56 liest, erklären fünne, wie denn Jakobus und Syofanne8 auf den Gedanken famen, den Herrn zu fragen, ob er wolle, daß fie Feuer vom Himmel herabjenden follen. Es dürfte bie Erfcheinung des Elias bei der einige Zeit vorher in ihrer Gegenwart gejchehenen Verklärung des Herrn (Luk. IV, 30) und die bald barnad) gefprochene Vorherſagung Jeſu: „Der Menſchenſohn wird in die Hände ber Menſchen überliefert werden“, ihres von Jeſu gegebenen Namens Boanerges wegen an die Begebenheit 4. Kön. 1, 2—12, welche aud) in der Nähe von Samaria ftattfand, erinnert und zur Meinung gebradjt haben, der Herr tónnte wollen, daß fie, wie Elias, Teuer vom Himmel herabrufen. So macht denn die Stelle Mark. III, 17 die Frage’ der Zebe däusſöhne Quf. IX, 54 erklärlich.

Wir mahen aud) aufmerfjam, baB die Beziehungen der Stellen be8 Marfusevangeliums III, 17, XIII 37, X, 88—39, und XV, 28 zu Quf. IX, 54, XII, 41, XII, 50 unb XXII, 37, wie wir bereit jahen, auch von Anderen bemerkt und zugejtanden wurden. Während jedoch nad) unferer Darjtellung die Beziehung diefer Stellen fid) einfach und natürlich erklärt, fommt Strauß aus der Beziehung von Mark. III, 17 zu uf. XII, 54 auf die Behauptung der Berjchiedenheit des Charakters des Apoſtels Johannes und des Verfaſſers des Fohannesevangeliums 5), muß Holg- mann aus der Beziehung von Marf. XIII, 37 zu Cut.

1) Strauß Leben Jeſu. Leipzig 1864. ©. 56.

564 Nippel,

XII, 41 den gewiß verkehrten Schluß maden, dag Qut. XII, 41 durd) Mark. XIII, 37 veranfaft {εἰ 1), muß Weiß aus der Beziehung Mark. X, 38. 39 zu Luk. XII, 50 durch bie fupponirte apoftolifche Duelle vermitteln 5), müfjen endlich Weiß, Zifchendorf und Andere das Dofein von Mark. XV, 28 mittelft eines Interpolators aus quf. XXII, 37 fließen laſſen.

Cyebod) erklärt bie Belanntfchaft be8 Markus mit bem Lukasevangelium allein noch nicht hinreichend das Dafein obiger Stellen des Markugevangeliums. Hinreichend erflärt find fie εὐ, wenn nidjt bloß Markus das Lulasevangelium fannte, jondern auch wußte, daß die Xefer, für bie er fchrieb, e8 Tannten.

Nur wenn Markus mußte, daß feine Lefer bie Begeben- heit Quf. IX, 51—56 kannten, mar die VBeranlaffung zu der Bemerkung: er nannte fie Boanerges, ὃ. i. Donner- finder, Mark. III, 17 vorhanden.

Gbenjo mar die Erläuterung der Bedeutung des Aus⸗ brude8 Taufe Luk. XII, 50 burdj die Stelle Mark. X, 38. 39 nur dann begründet, wenn Markus für Lefer fchrieb, denen die Stelle quf. XII, 50 befannt mar. Ferner [egt der Ausdrud: „Könnet ihr euch taufen laffen mit der Taufe, mit der ich getauft werde“, und „ihr werdet mit der Taufe getauft werden, mit ber ich getauft werde“ (Dart. X, 38. 39) ſchon als befannt voraus das Wort Jeſu: „Ich muß mid) mit einer Taufe taufen faffen" (Quf. XI, 50).

Ganz befonber8 aber ijt die Schriftftelle Dark. XV, 28 dur Quf. XXII, 37 erft dann begründet, wenn nicht

1) Holgmann, [onopt. Evang. €. 152. 2) Weiß, Markusevangelium. ©. 806.

Das Verhältniß der Evangelien be8 Markus und Lukas. 565

bloß Markus legtere Stelle Tannte, fondern aud) feine Lefer die im Lulasevangelio enthaltene Weiffagung Jeſu Tannten.

Wenn nun fchon diefe Stellen darauf hinmweifen, daß das Lulasevangelium ben ejecit bed Markusevangeliums ber fannt fein mußte, jo wird bieje Thatſache durch folgende Beobachtung über allen Zweifel erhoben.

Daß Markus felbjt das Qufasepangefium kannte, das dürfte bem in diefem Artikel bisher Gefagten zufolge fejt ftehen. Vergleichen wir nun die Erzählung der wichtigften Periode bes Lebens Jeſu in den beiden Evangelien Markus unb Lukas miteinander, fo werden wir finden, bap Markus die herrlichiten im Lukasevangelio enthaltenen Epijoden der Geſchichte der Leidenswoche übergeht, und nur ein paar unbe beutenbe demjelben entnimmt. So übergeht er das Weinen Sein über Syerujalem Quf. XIX, 41—44, die Begeben- heiten beim legten. Abendmahle quf. XXII, 24—38; das Blutſchwitzen Jeſu auf dem Delberge Quf. XXII, 47. 48; das Verhör Jeſu vor Herodes Luk. XXIII, 5—16; bie Begegnung der weinenden Frauen von Serufalem Luk. XXIII, 27—31; das Gebet Jeſu für feine Kreuziger ἐμέ, XXIII, 33. 34; die Begebenheit mit den mitgefreuzig- ten Schächern Zul. XXIII, 38—43; ba$ legte Wort Jeſu vom Kreuze Quf. XXIII, 48, die Neue des bei ber feugi» gung anmejenden Volles Quf. XXIII, 48; daß Joſef von Arimathäa nicht einjtimmte in den Beſchluß des hoben Rathes, quf, XXIII, 50, obfchon er XV, 43 erwähnt, daß Joſef ein vornehmer Rathsherr war. Ferner übergeht er den Gang Petri zum Grabe €uf. XXIV, 12; die Gefchichte de8 Ganges nad) Emmaus Quf. XXIV, 13—35, bie er, offenbar als befannt vorausjegend, nur andentete Mark. XVI, 13. 14. Und wenn XVI, 14 fagt: Sie glaubten

Theol. Duartalfchrift 1876. Heft IV. 37

566 Nippel,

aud) ihnen nicht, widerjpricht er dem Bericht des Lulas- evangeliums nicht, wie Quf. XVI, 37. 41 zeigt, jonberm erflärt vielmehr, wie die verfammelten Syünger nad der Rückkehr des Kleophas und jeine8 iBegleiter& und nachdem diefe erzählt Hatten, was ihnen begegnet war (Quf. XXIV, 35) noch jo erfchreden und in Furcht gerathen fonnten, als Jeſus fam (Quf. XXIV, 37).

Wie ift es benfbar, daß Markus, wenn er das Lukas⸗ evangelium fannte, fo viele und [dne im demjelben bes richtete Epifoden ans ber Leidensgefchichte übergangen habe, außer, wenn er wußte, baß fie feinem Leferkreife ohnehin befannt waren ? Ä

Iſt aud) gíeid), wovon wir in dieſem Artikel uns Hin» (ünglid) überzeugen konnten, eine 3Bermanbt[djaft bes Markus evangeliums mit dem €ufasenangefium unverkennbar, [o ift bod) bie Verwandtfchaft des erfteren mit bem Matthäus» evangelium ungleich größer, und zwar ber Art, daß, mie befannt , Auguftinus an Markus einen Abbreviator und Pediffeguns nicht des Lukas aber des Matthäus erblidt.

Bei DVergleihung des Markusevangeliums mit den Evangelien von Matthäus und Lukas wird uns bie DBeob- achtung nicht entgehen, daß, wenn Markus eine Zeitlang mit Matthäus fortgeht und ihn verlajjend mit Lukas geht, fi) in der Regel ein Grund finden läßt, und zwar entweder weil er durch das Lukasevangelium die chronologische Ord⸗ nung herſtellt, oder weil er an den kurzen Bericht des Mat⸗ thäus mande im Lufasevangelium enthaltene Umftände Deis fügt, oder weil er eine Stelle des Lulasevangeliums erläutern ober vervolljtändigen, ober einem Mißverſtändniſſe deffelben entgegentreten will. Iſt er aber eine Zeit mit Lukas vor- wärts gegangen, und verläßt er ihn wieder und geht mit

Das Verhältni bec Evangelien be8 Markus und Lukas. 567

Matthäus weiter, fo ift oft fein Grund erfichtlih, aus mel» deum er den Lukas verläßt, als um wieder mit Matthäus weiter zu gehen. 3. B. Mark. I, 14—20 ift parallel zu Matth. IV, 17—22. Hierauf weiht Markus von Mat—⸗ thäus ab und geht I, 21—39 mit Lukas IV, 31—44 offen- bar der chronologiſchen Drdnung wegen Marf. VI, 14 ijt parallel zu Statt. XIV, 1. 2. Mart. VI, 17—19 zu Meatth. XIV, 3—12. Start. VI, 32 zu Matth. XIV 13. Start. VI, 16.16 Bat inm Matthäusevangelio feine Parallele, aber bei Quf, IX, 8. u. 9. und erzählt, was bie Leute über Jeſus urtheilten. Ebenſo findet Mark, XV, 30 bei Mat- thäus feine Parallele, allein es erzählt diefer Vers einen Quf. V, 10 berichteten Umftand. Dasfelbe gilt von Mark. XI, 5. 6 coll. Luk. XIX, 33. 34. So fügt Mark. IX, 49. 50, bann Marl. XII, 41—44 bei, um Quf. XXI, 1—4 zu erflüren. |

Es drängt fid) uns der Schluß auf, Markus müjfe fein Evangelium gefchrieben haben, um feine mit dem Lukas⸗ ebangelium bereits vertrauten Qejer aud) mit dem Inhalt be8 Matthäusevangeliums bekannt zu machen, und zwar auf eine folhe Art, daß da8 was bem ufaéepangelium widerfprechend erfcheinen fünnte mit deinfelben in Harmonie gebracht, oder wenn die Darjtellung der Harmonie für feine, wie wir fchon im erften Artikel aufmertjam machten, Kindern, denen noch Feine feſte Speife gereicht werden kann, ähnlichen Lefer unthunlih mar, umgangen wurde, unb daß Markus bei biefer Gelegenheit manches Mifverjtändniß widerlegt, oder einem folchen vorbeugt, und gefegenbeit(id) and) eine oder die andere zeitgemäße Erläuterung oder Weifung gab.

Daß bie Hauptabficht des Markus war, feine gejer mit dem Inhalte de8 Matthäusevangeliums belannt zu

37 *

568° Nippel,

machen, erhellt ganz deutlih aus ber Vergleichung des Anfangs des einen, mit dem Anfang des andern diejer beiden Evangelien.

Matthäus beginnt fein Evangelium mit den Worten: B1BA0Z γενέσεως IHZOYX Χριστοῦ υἱοῦ Δαβὶδ viov βρααμ, Buch der Abftammung Jeſu Chrifti des Sohnes Davids, be8 Sohnes Abrahams.

Es ift dieß fo zu-fagen, bie Auffchrift, ber Titel des Buches, der nad altem Gebrauche oft nicht vom Geſammt⸗ inhalte, fondern vom erjten Theile eines Buches hergenom> men wurde. Für bie Lefer be8 Markusevangellums war der Nachweis ber Abftammung Jeſu Ehrifti von Abraham ber ohne Bedeutung; aud) mußte es bem Markus bedenklich Scheinen, feinen mit der im Lukasevangelio III, 23—38 enthaltenen Stammtafel Jeſu befannten Lefern die im Mat- thäusevangelio vorfommende Stammtafel befannt zu machen. Da er aber das Matthäusevangelium feinen Leſern bod) vore führen milf, fo wollte er offenbar bie Aufjhrift, den Titel nicht weglaſſen. Ohne das Gefchlechtsregifter aufzunehmen, fonnte er jedoch die Auffchrift des Matthäusevangeliums nicht brauchen. Deßhalb jagt er ftatt: BIBAOZ γενέσεως APXH τοῦ εὐαγγελίου. Auch der Ausdrud υἱοῦ 4“αβὶδ υἱοῦ ᾿Αβραὰμ des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams, iit für ihm ungeeignet, deßhalb jagt er υἱοῦ τοῦ Θεοῦ des Sohnes Gottes.

Daß mit dem Auftreten des Johannes das Evangelium, bie frohe Botfchaft, den Anfang nahm, deutet Matthäus an, indem er II, 2 fagt: „Und er (Johannes) ſprach; „Shut Buße, denn das Himmelreich ijf nahe gefommen“. Daß mit dem Auftreten be8 Johannes das Evangelium feinen Anfang nahm, war aber aud). ben Lefern des Markus⸗

Das Verhältniß der Gbangelien be8 Markus unb Lulas. 569

evangeliums 1) bereits befannt, weil e8 Zul. XVI, 16 heißt: „Das Gefet und bie Propheten bis auf Johannes, von da an wird das Evangelium be8 Reiches Gottes verkündiget”. Und daß Markus diefe Stelle des Lulasevangeliums im Ange hatte, werden wir bald fehen. | Mark. I, 14 ift parallel zu Matth. IV, 12. 17. Nur fügt Markus die Worte weg: Thut Buße, denn das Himmelreih ijt nahe gefommen, ſtatt welcher er zu „predigen“ ben Gegenftand der Predigten Jeſu beifügt „das Evangelium vom Reiche Gottes“. Diefe Worte entjprechen bem Ausdruce im Lulasevangelium XVI, 16: „von da an wird das Evangelium des Reiches Gottes geprebiget". Markus Hätte vielleicht $5. 2 fagen können: „Der Anfang des Evangeliums des Reiches Gottes“, allein der Stelle Matth. I, 1 wegen, wollte er nicht unterlaffen, zu jagen: „Jeſu Ehrifti, des Sohnes Gottes“. Beide Genitive, nämlih „Jeſu Chriſti, des Sohnes Gottes“ und „des Neiches Gottes“ fonnte er nicht füglich anwenden, jo ließ er alfo 93. 1 den Genitiv „des Neiches Gottes“ fallen, und fagt nun 35. 14: Jeſus predigte das Evangelium vom Reiche Gottes. | Matthäus fagt IV, 17: Bon da an fieng Jeſus an gu predigen und zu fagen „thut Buße” u. f. m. Da er jedoch III, 3 ſchon gefagt Hatte, daß aud) Johannes gepredigt und gefprochen habe, thut Buße u. f. m. muß es feinen Xefern Elar fein, daß das Anfangen IV, 17 fid nit auf den Gegenftanb der Predigt beziehe, fondern auf bie

1) Wenn wir von ben Lefern de Markusevangeliums reben, | veritehen wir jenen Kreis, für melden Markus fein Evangelium geichrieben hatte.

570 Rippel,

Perfon des Prediger. Markus Hat nur I, 1 unter bem Anfange des Evangeliums Jeſu Chrifti ben Gegen- ſtand vor Augen, welchen er jedoch noch nicht näher aus⸗ gedrüct hatte, was bem oben Gejagten zufolge erft V. 14 geichieht, deßhalb fagt er Bier nicht: Jeſus fleng an, das Evangelium vom Neiche Gottes zu predigen, jonberm Jeſus predigte ἐδ.

Da Markus I, 1 offenbar die Stelle Luk. XVI, 16 vor Augen hatte und unterfie zu jagen: Evangelium des Neiches Gottes, um die Worte Jeſu Chrifti beifügen zu fónnen, und da er ben Ausdrud: Evangelium des Reiches Gottes bod) für jo wichtig hielt, da er ihn, nm ihn nicht zu übergehen e. I, v. 14 nachholte, fo zeigt jid), bap ibm, wie wichtig ihm auch der Ausdrud war: Evangelium des Neiches Gottes, dennoch ber Ausdrud: Evangelium Jeſſu Chriſti nod) wichtiger war, was eine VBeftätigung ift, daß Markus die Abficht Hatte, feinem Evangelium eine der Auffchrift des Matthäusevangeliums möglichſt ähnliche Auf⸗ Schrift zu geben. Darin liegt aber eine Beftätigung, daß Markus die Abjicht gehabt Habe, bae Matthäusevangelium mit, in Berücfichtigung der Bildung und des Charakters feiner Leer, ihm gmedbienfid) oder nothwendig fcheinenden Abänderungen, Zujägen unb Weglafiungen vorzulegen. In dem Umftande, bab das Markusevangelium bie Beitimmung fatte, bei bem der hebräifchen Sprache unfunbigeu LXefer- freife des Markus den Abgang des Matthäusevangeliums zu erfegen, erbliden wir bem Grund ber Ordnung bes Ganoné. Bevor das Markusevangelium erichien, war bie Ordnung der Evangelien Matthäus, Lukas. Hütte das Markusevangelium nicht ben Zweck gehabt, den Abgang des

Das Verhältnig der Evangelien be8 Markus und Lukas. 57]

Matthäusevangeliums zu vertreten, fo würde bie Ordnung wohl geworden fein Matthäus, Lukas, Markus.

Um in einem Beifpiele zu zeigen, wie das in biejem Artikel entwickelte Verhältniß be8 Markusevangeliums zu den Evangelien Matthäus und Lukas auf gleich natürliche Meife fowohl die Vebereinftimmungen des Markusevange⸗ fiums mit den beiden anderen, als aud) die Abweichungen von denfelben erklärt, wollen wir die Gefchichte der 3Blinben- heilungen bei Syericho Matth. XX, 29—34. Marf. X, 46 —52. ul. XVIII, 35—43 hierzu wählen.

Matthäus fagt XX, 29: „Da fie von Jericho aue»

gingen, folgte ijm viel Volks nadj". Matthäus hatte aber

mit feinem Worte erwähnt gehabt, daß Jeſus nach Syeridjo gefommen [εἰ ‘Dem Meatthäusevangelium nah wäre ἐδ auch denkbar, daß Jeſus ſchon Matth. XX, 17, mo c8 Heißt: „Jeſus ging mad) SYerufalem Hinauf, und nahm bie 12 Jünger auf dem Wege abjeit8 zu fid) unb jprad) zu ihnen: Siehe, wir gehen hinauf nach Syerufatem u. f. w.*, zu Jericho befand, ober Jericho fchon Hinter feinem Rüden gehabt habe. Lukas berichtet, daß Yefus, bevor er nad) Jericho fam (XIX, 1) einen Blinden geheilt habe. Markus Deftimmt nun die von Matthäus nicht mit Worten ausgejprochene, aber im Sinne gehabte Zeit, indem er zuerit jagt (X, 46) „Und fie famen nach Jericho“.

Matthäus fagt ferner nur, bag Jeſu viel Volks πα)» folgte. Die Anweſenheit feiner Apoftel ift nur Matth. XX, 17. 20. 24. 25 und felbft 29, ba ἐδ heißt: ba fie pon Jericho ausgingen, erfichtlih. Markus hebt nur das, was Matthäus wohl als jelbftverftändfich betrachtete, hervor, indem er ftatt: da fie von Jericho ausgingen, fagt: als er (Jeſus) von Syeridjo ausging mit feinen Syüngern.

*

572 Nippel,

Matthäus fagt V. 30: Siehe, zwei Blinde ſaßen am Wege. Markus vebet X, 46 nur von Einem, ben er mit Namen nennt, nämlich Bartimäus, und beifügt, der Sohn des Timäus. Markus deutet dadurch offenbar darauf Bin, daß bei Syeridjo infoferne zwei Blinde’ geheilt wurden, in⸗ foferne der Eine vor ber Ankunft Jeſu in Yericho, der Andere nad) feiner Abreife von Jericho geheilt worben war, welche beide ähnliche Erzählungen von Matthäus cumulative erzählt werden.

Da εδ den Lejern des Markusevangeliums bereits aus dem Lufasevangelium befannt war, daß ein Blinder vor ber Ankunft Jeſu in Syeridjo geheilt worden war, fo nennt Markus den Blinden mit Namen und Bezeichnung feines Baters, damit feine Lefer daraus erfannten, daß bier von einer zweiten Blindenheilung die 9tebe fei, umb damit fie Gelegenheit befümen, bei dem Geheilten oder beffen Ange- hörigen jefbft nachzufragen, was vorausfegen würde, daß das Markusevangelium zu einer Zeit gefchrieben wurde, zu welcher wenigftens Timäus, wenn nicht aud) Bartimäus ποῦ am Leben war. Matthäus berichtet den Umftand des Bettelns nicht; Markus jedoch erwähnt, daß, wie ber Blinde, von bem Lukas XVIII, 85 redet, bettelte, Bartimäus ' ebenfall8 gebettelt habe.

Matthäus fagt, daß die zwei Blinden hörten, bof Jeſus vorüberging. Lukas ſagt XVIII, 36. 37, daß der Blinde das Volk vorübergehen hörte und fragte, was das wäre ? und daß man ihm geantwortet habe, daß Jeſus von Nazareth vorübergefe. Markus berichtet aud), daß Bartimäus gehört habe, daß εὖ Jeſus von Nazareth fet, der vorübergehe, aber erwähnt nicht bie vom andern Blinden geftellte Frage, was das fei (daß nämlich fo viel Volk vorübergehe). Denn

Das Berhältniß ber Evangelien be3 Markus und Lukas. 573

Bartimäus hatte vielleicht bie Gefchichte der erjten Blinden» heifung erfahren, und wie Zachäus auf einen wilden Feigen- baum, vor dem ber Weg Jeſum vorüberführte, ftieg, um Jefum zu fehen (Quf. XIX, 4), jo hatten vielleicht Freunde oder Verwandte, oder irgend eime mitleidige Seele, oder fein Kamerade, ber geheilte Blinde felbft, den Bartimäus an einen Platz gefegt, an dem ber Herr vorübergehen werde, ihm die erftere Heilung erzählt und ihn dann aufmertjam gemacht, bag jetzt Jeſus vorübergehe.

Matthäus ſagt, beide Blinde hätten gerufen: Herr bi Sohn Davids erbarme bid) unfer. Matthäus erzählt aud XV, 22, daß das chananäifche Weib gerufen habe: Herr, du Sohn Davids erbarme: dich meiner! während VII, 26 nur fagt: „Sie bat ihn, daß er den Teufel aus ihrer Tochter treibe“, und wir gaben bereit im vorigen Artikel den Grund diefer Abweihung an. Bon Bartimäus aber erzählt nur Markus, daß er gerufen habe: „Jeſu, bu Sohn Davids, erbarme bid) meiner“. Allein dieſer Ruf mar ja feinen Lejern aus uf. XVIII, 38 ohnehin befannt. Und hatte Bartimäus die Gefchichte der, eben einen Tag früher oder ſchon am felben Tage gejchehenen Blindenheilung erfahren, fo war e$ natürlich, daß er ben: felben Ruf, wie jener Blinde, ertönen fief.

Matthäus berichtet weiter, ba8 Volt habe die Blinden bedroht, daß fie ſchweigen jollten, fie aber Hätten um fo lauter gerufen: bu Sohn Davids erbarme dich unfer. Lukas erzählt denfelben Umftand von dem Blinden, der vor Cyeridjo geheilt wurde. Der Ausdrud: Cyefu, du Sohn Davids, pflegte die Pharifäer und hohen Prieſter befonders zu empören. Darum fuhr man den Blinden [o an und for» berte, daß er ſchweigen follte,. worauf er um fo lauter rief:

574 Nippel,

bu Sohn Davids, erbarme dich meiner. Bemerkenswerth ift, daß Matthäus, der fein Evangelium, wenigſtens nod) δαδ der zweiten Periode, aus welchem Markus fchöpfte, für Judenchriſten fchrieb , nicht bloß die Bitte der Blinden, fondern and) den Ausdrud Sohn Davids wiederholt, was Lukas nicht thut. Markus, beffen Leſerkreis das Lulas⸗ evangelium befannt war, und für den ber Ausbrud Sohn Davids feine fofdje Wichtigkeit hatte, bedient fid) der Worte des Lukas.

Matthäus fagt Hierauf, Jeſus fei ftill geftanden, habe den Blinden gerufen umb gefagt: Was wollt ihr, daß ich euch thue ?

€ufa$ fagt, Jeſus jei ftiff geftanden und habe geboten, daß man den Blinden rufe. Und als er gefommen, habe ihn Jeſus gefragt: Was milljt bit, daß ich bir thue?

Markus erwähnt gleichfalls, daß Jeſus ſtill geftanden [εἰ und geboten babe, den Blinden zu rufen. Hierauf aber erzählt Markus ganz allein einen Umftand, aus dem flar hervorgeht, daß ber von ihm erzählten Blindenheilung die von Qufa$ erzählte voranging, und bie& feine Leſer wußten. Er Sagt nämlih: Sie riefen ihn, b. i. entweder bie Apoftel, oder bie, bie ihm die Heilung des andern Blinden erzählt, und ihm etwa gerathen Hatten, Jeſum, wenn er werde vot: überfommen, anzurufen !). Sie riefen ihn alfo und fpra- hen zu ihm: „Sei guten Muthes, fteh auf, ſieh er ruft bid). Sieh er ruft bid), wie er den andern Blinden gt rufen“. Und a[6 er den andern gerufen, ward er geheilt. Da marf der Blinde fein Gewand (feinen Mantel) ab,

1) worunter vielleicht der früher gebeilte Blinde felbft, ber ja Jeſu nadjfolgte und Gott verherrlichte, wie Lukas jagt.

Das Verhältniß der Evangelien be8 Markus unb Lukas. 575

ſprang auf (in freubiger zuverfichtlicder Erwartung der baldigen Heilung) und fam zu Syeju.

Hierauf berichtet Markus, wie die beiden andern Evans geijten, daß Jeſus die Blinden fragte: Was willft du, daB id) dir tfue?

Matthäus fagt, die Blinden haben geantwortet: Herr, daß unfere Augen geöffnet werden. Lukas fagt, der Blinde habe ge[prodjen: Herr, daß id) jefenb werde. Matthäus bedient fid) eines Ausdrucks, ber feine Lejer an die Stelle des Propheten erinnerte: Tunc aperiuntur oculi cae- corum !). Markus Hält fid) wieder im Ausdruck an Lukas. Warım Markus ftatt be8 von Matthäus und von Lukas gebrauchten Ausdrudes: Herr (xvore) fidj des Ausdrudes Rabboni bedient, wird ein jpüterer Artikel zeigen.

Matthäus fagt hierauf: Jeſus habe fid) ihrer erbarmt, ihre Augen angerührt und fie feien al8bald fehend geworben, und ibm gefolgt.

Lukas jagt, Jeſus Habe gefprocdhen: Sei fehend, dein Glaube hat dir geholfen, worauf er fogíeid) fehend geworden und Jeſu nachgefolgt [εἰ und Gott verherrlicht habe.

Markus jagt mie Lukas, Jeſus habe gefagt: Geh Hin, dein Glaube fat dir geholfen, worauf der Blinde alsbald jehend geworden und Fein nachgefolgt jei. Wenn Markus hier verſchweigt, daß er Gott verherrlichte, geſchah c& wohl, weil er fdjon oben 95. 50 bie Freude des Bartimäus am. deutete,

Wenn oben Lukas erwähnt, daß alles Volt, das bie[t Wunder fah, Gott pries, fo haben Matthäus und Markus Ihon vor Erzählung ber Blindenheilung erwähnt, daß viel Volk Jeſus begleitete.

1) Iſaias XXXV, 5.

576 Nippel,

So dürfte die Erzählung der Blindenheilungen bei Jericho anjdjaufid) zeigen, wie das im biejem Artikel ent- wicelte Berhältniß des Markusevangeliums zu den Evangelien Matthäus unb Lukas die Webereinftimmungen ſowohl de ersteren Evangeliums mit fegteren, als auch die Abweichungen von benjelben leicht unb ungezwungen erflärt; fie dürfte namentlich betätigen, daß Markus felbft nicht bloß das Lufasevangelium Tannte, fonbern baß er deſſen Kenntniß auch bei feinen Leſern vorausſetzte.

Was nun inébe[enbere den Leferkreis betrifft, für den Markus fein Evangelium fchrieb, machten wir fchon im früheren Artikel darauf aufmerfjam, bag fie den Korinthern glichen, denen die Worte des Apoftels I. Korinth. VI, 9—11 unb I. Korinth. IIT, 1. 2. gelten, an welche Korinther aud oben angeführte Worte Kor. I, 26— 29 gefchrieben find.

Die Bildungsftufe diefes Leferkreifes laßt die Annahme nicht zu, daß jedes Glied desfelben, oder auch nur eine größere Anzahl biejer Glieder im Beſitze des Lukasevangeliums geweſen jei.

Gegen diefen Beſitz fpricht auch. bie Armuth der erjten Ehriften, von der ἐδ unter anderm im Briefe an Diognet can. 5 heißt; „Sie find bettelarm und machen Viele reid. Sie leiden an Allem Mangel und haben an Allem Weberfluß". Wie konnte alfo Markus die Senntnig des Lukasevangeliums von ihnen vorausfegen ?

Diefe Frage [08t uns Apoftelg. IV, 42 „Die Menge ber Gläubigen aber war Ein Herz und Eine Seele; and fagte nicht Einer, daß etwas von bem, mas er befaß, fein fet, fondern fie hatten Alles miteinander gemein“ und weiter oben II, 44: „Es waren alle Gläubigen beifammen und hatten Alles gemeinschaftlich“.

Das Verhältniß der Gbangelien des Markus unb Lukas. 577

Dieß galt aber ganz bejonber8 von den Schriften der Apoftel, bie man als einen heiligen Schag Einzelnen wohl nicht einmal anvertraut hätte. Sie waren Eigenthum der hriftlichen Gemeinden, und wurden am erften Tage der Woche bei den Zufammenkünften zur Brotbrechung gelefen, wie an Sabbaten die Schriften der Propheten in den Syna- gogen. | Dieß wat aud) den apoftolifhen Aufträgen gemäß. So (jen wir 1. Theſſ. V, 27: „Sch bejdjmüre euch bei dem Herrn, daß diejer Brief allen heiligen Brüdern vorgelefen werde” und Coloff. IV, 16: „Und wenn diefer 3Brief bei euch vorgelefen ijt, fo forget, daß er auch in der Gemeinde zu Laodicäa vorgelefen werde, und den von Qaobicüa fejet auch ifr".

War aber den Lejern des Markusevangeliums (Ὁ. i. jenen Berfonen, für welche Markus unmittelbar ſchrieb) das Lulasevangelium daher bekannt, weil es bei den fonns täglichen gottesbienftlichen Verfammlungen vorgelefen wurde, wie Können wir denn annehmen, daß diefen Lejern des Mars Iusevangeliums das Matthäuns-Evangelium unbe faunt war? Wurde denn bieje8 Evangelium bei den fonn- täglichen Verſammlungen nicht vorgelefen? Wenn e$ ges (jet wurde, wie konnte e8 ben Lefern des Markusevange⸗ liums unbefannt bleiben? Und wenn e nicht gelefen wurde, marum wurde e$ nicht gelejen ? Und wenn Markus feine Leſer mit dem Inhalte desfelben befannt zu machen ber abfichtigte, warum Dat er er[t ein eigenes Evangelium ver- faBt, unb nicht gleih ba& Matthäusevangelium [efbjt zur Vorlefung übergeben ? |

Diefe Fragen finden in der folgenden von Papias be. richteten Weberlieferung ihre Begntwortung: »Ἱ]ατϑαῖος

578 Rippel,

μὲν οὖν EBoaldı διαλέκτῳ, τὰ Aoyıa συνεγράψατο ; ἡρμή- veve διαϊτὰ, ὡς δύνατο ἕχαστος« ἢ). Diefe Worte deuten darauf hin, daß fie vorgelefen wurden, aber nur mübjam und nur theilweife verftanden. Und warum fo schlecht verftanden? Offenbar ber hebräijchen Sprache wegen. Und e8 ift wohl wahrfcheinfih unb fehr natürlich, daß es in heidenchriftlichen Gemeinden, wozu, wie wir jdjon zeigten, die Lefer des Markus gehörten, gar nicht verftanden worden wäre, daher auch in folden gar wicht gelejen worden fein mochte.

Allein da ἐδ [don nachgewiefen worden ift, bag Markus den griechiichen Matthäus vor Augen Hatte, kommen wir wohl mit unſerer Anfiht wieder um 30 oder 40 Jahr zu Spät. Wie Sepp nad) Euseb. hist. eccl. VI, 14 jagt „verfaßte Markus fein Evangelium und händigte es denen ein, welche ihn barum erjudjten. Als Petrus Kunde erhielt, legte er zwar keinen Widerfprud ein, ertheilte aber nur feine ausdrüdlide Billi- gung“ ἢ. Diefe Manchen anftößig fcheinende Stelle des Clemens Alerandr. dürfte, wenn das Evangelium zu feinen Lebzeiten abgefaßt wurde, durch das in diefem Artikel ert: wicelte Reſultat auf eine einfache, natürliche, allen Anftoß bejeitigende Weife ihre Erklärung finden. Petrus bilfigte wohl nidt, daß. Markus fid jo viele Abweichungen vom Matthäusevangelium erlaubte. Er legte aber feinen Wider Spruch gegen diefes Evangelium und gegen beffen Gebraud) bei deſſen gottesdienftlichen Verfammlungen ein, weil alle

1) Euseb. hist, eccl. III, 89. 2) Hebräerevangelium S. 38.

Das Verhältniß ber Coangellen bes Markus unb Lukas. 579

Zuſätze, Abänderungen und Auslaſſungen begründet waren, und weil nichts gegen die Wahrheit zu finden mar.

Doch müſſen wir einer fo eben gemachten Bemerkung gleich miber[predjen. Wir fagten, c8 feien alle von Markus gemadjten Zufäge, Abänderungen und Auslaffungen des Matthäusevangeliums begründet gewejen. Nun läßt es fid) zwar nicht läugnen, daß viele begründet feien, aber von vielen andern wird man feinen Grund angeben Fünnen.

Nachdem wir mum bereits gefunden haben, daß e8 bie Abficht des Markus war, feine Lefer mit dem Inhalte des Matthäusevangeliums befannt zu machen, jede im Marfus- evangelium vorkommende Abweichung vom Matthäusevan⸗ gelium begründet ijt, und nun Fein Grund fid) finden Ließe, warum Mearkus viele Stellen ja gauge Abjchnitte des State thäusevangeliums gänzlich ignorirt und übergangen hätte, wenn ihm das jegige Matthäusevangeliun vorgelegen wäre, jo wiederholen wir unfere Behauptung: dem Markus lag nicht das ganze jebige Matthäusevangelium vor, und Mat⸗ thäus ‚hatte zu feinen Evangelium , wie e8 bem Markus vorlag, fpäter Zufüge gemadt.

2.

Bein eines Garbinala beim „Gettedfreunn im Oberland‘.

Von A. Lütolf in Luzern.

Dank den Forſchungen des Profeſſors K. Schmidt in Straßburg wurden die Schriften desjenigen merkwürdigen Mannes, der ſo anregenden und entſcheidenden Einfluß auf Johannes Tauler, Rulmann Merswin und mandje andere zur damaligen Myſtik und Asceje geneigte Perſönlichkeiten ausgelibt hat, langer und unverdienter Vergefjenheit ἐπ τ πὶ.

Was aber feit dem Beginne folder Wirkſamkeit diejer Mann mit aller Befliffenheit fuchte, völliges Unbekannt⸗ bleiben nümlidj, das ift ihm fo gut gelungen, daß er θεῖς nahe ein halbes Jahrtauſend zuerft ganz unbefannt blieb, dann aber für einige Zeit nur unter faljdjem Namen in die Literatur eingeführt wurde.

Dies fam fo. Als Profeffor Schmidt zum erftenmale auf den Dann, den fe(bjt die Zeitgenoffen jeit defjen Rüd- tritt aus bem Weltleben nur unter bem Namen be8 „Got⸗ tesfreundes im Oberland“ kannten, bie Aufmerkſamkeit Din» fenfte, führten irrige Gombinationen dazu, ihn mit jenem Niklaus von Bafel zu verwechfeln, ber ein paar Jahre vor

Lütolf, Beſuch eines Card. beint Gottedfr. im Oberland. 581.

dem Pifaner Eoncil zu Wien mit den zwei Genofjen Jo⸗ hannes und Syafob wegen Härejie hingerichtet worden ift. Unter diefem Pſeudonym erjchienen dann aud 1866 zu Wien feine Schriften; und nod) in neneften Werken, mie bei Sriedjung (Raifer Karl IV. und fein Antheil am gei⸗ ftigem Xeben feiner Zeit, Wien 1876) figurirt er unter diefem Namen, obwohl bereits Preger dagegen Zweifel er» hoben, dann aber 9B. Denifle in Graz unwiderleglich bar» getan bat: der „Oottesfreund im Oberland“ fei jener Niklaus von Baſel nicht ; [ei vom Tatholifchen Glauben nicht abgewichen und habe, über hundert Jahre alt, 1419 mod) gelebt.

Die Frage: mo im Oberland der Gottesfreund ges wohnt habe, glaubte Schmidt dahin beantworten zu dürfen, es {εἰ dies unweit Don Luzern, im Herrgottswalde gemefen ; Preger wies auf die Vogeſen fin und Denifle bezeichnete ſolches neulichſt 1) nod) als zweifelhaft. Daß aber diefer Ort im Entlebud (Kanton Luzern) und zwar ba, mo es am Fuße des a(8 Kurort vielbefuchten Schimberg jest mod) „su den Brüdern“ heißt, zu fuchen fei, und daß hier „der große Gottesfreund“ als Ineluſe lebte, haben mir in befonderer Abhandlung nachgewiefen.

Diefelbe war für die Zeitfchrift ber gefchichtsforfchenden Geſellſchaft der Schweiz bereits gedrudt 5), a(8 uns eine unerwartet aufgefundene Notiz 9) mitgetheilt wurde, die nicht

1) $n $aupt'8 Zeitſchr. f. deut. Alterth. Neue Folge VIL, 487. Denifle fannte aber meine Aufftelung nur aus Beitungs- berichten.

2) Jahrbuch für ſchweiz. Geſchichte. J, 8—46 und 255. Züri, €. Höhr 1877.

3) Dur Herrn Staatdarkhivar Th. v. Liebenau in Luzern. Siehe folgende Anmerkung. Wir fonnten biefelbe auch am Schluffe

Theol. Quartalſchrift. 1876. Qeit IV. 38

582 Zütolf,

nur nujere Anficht beftätigte, fondern aud) zu weitern Un- terfuchungen führte.

Es gejchah nämlich im Jahre 1420 oder 1421, bof ein Cardinal, bejfen Name leider nicht genannt wird, im Entlebuch, ba8 nunmehr, feit e8 von SOejterreid) an bie von Luzern gefommen, durch (ugermi[d)e Vögte verwaltet wurde, erfchien und unter amtlihem Chrenbegleit auch zu ben „Brüdern am Schimberg“ fid) begab. Der begleitende Vogt Urih Walcker (befannt aus der Schlacht bei Arbedo 1422) verzeichnete die barüber aufgelaufenen Koften einfach in feiner: Jahresrechnung, ohne jegliche genauere Angabe über bit Berfon des Cardinals und beffen Abfichten 1).

Wer ift mun biefer Cardinal? Bezügliche Nachfor: chungen in jchweizerifchen und andern Archiven blieben bis

be8 erwähnten Jahrbuches mittbeilen, aber bte anfchließenden Stu⸗ dien erft feitber aufnehmen und namentlich bas Jahr ber Anweſen⸗ heit be8 Garbinal8 in ber Schweiz ftatt auf 1420, wie e3 im Jahr⸗ buch gejdjeben, auf bie erfte Hälfte be8 Jahres 1421 firiren.

1) Die Stelle im amtlidjen Rechnungsbuche I, 25 lautet: „Stem fo bat er (Waller) verrechnet von be8 Cardinals wegen X VI gulben unb im bon 11 pferben XXIII tag roßlön, und bie tagaerung im unb die mit Im ritent, unb ben brübetn in jchimberg; geblirt fid) alles in einr fum liii lib. ballet". Die Zeit, c. 1420,21 ergibt fid aus ber vorausgehenden und nachfolgenden Rechnungsſtellung. Da: mals nämlich traten die Vögte von Entlebuch, jemweilen auf zwei bi8 drei Jahre gewählt, gleich nach bem 24. Juni (Johannes Bapt.) ihr Amt an unb legten dann jebe8 Jahr im Laufe des Herbfted Rechnung ab. Walder erhielt ba8 Amt um Johannes Bapt. 1419 auf 3 Sabre und erftattete die erfte Rechnung Freitag vor S. Martin 1420; bie zweite Freitag bor Kreuzerhöhung 1421, bie dritte Mitt woch vor €. Gallus 1422; bie zweite Rechnung umfaßte aljo bie Zeit vom 24. Juni 1420 bi8 zu ebenbemjelben Tage 1421; bet Garbinal war fomit in der zweiten Hälfte des Jahres 1420 ober in der erften bed Jahres 1421 ba.

SBefud) eines Gatbinal8 beim Gottesfreund im Oberland. 588

jest ohne Reſultat. Wir find daher zunächft auf bie An- gaben bei 9tagnafb, bem Fortfeger bed Baronius für bieje Zeit, angewiefen, um erfahren, wo biejer und jener Gar» dinal damals, das heißt 1420/21 fid) befunden habe, und da die Aufträge, welche die Garbinüle da und dort auszu⸗ führen Hatten, bisweilen längeren Aufenthalt erforderten, mijfen wir bi$ auf bie Zeit zurlidigehen, ba Papft Martin V. aus Deutfchland wieder nadj SYtalien zog !).

Bon Eonftanz, das er am 16. Mai 1418 verlieh, gelangte Martin über Schaffhaufen, Baden, Lenzburg ?), Solothurn 5), Bern *), Freiburg, Genf ), Sufa, Turin, Mailand 9) und Bavia Tod) von elf Garbinüfen begleitet Dienftag den 25. October nad) Manta, wofelbjt er mum

1) Die folgenden Daten, wo feine anderen Belege angegeben werden, find Rainaldus entnommen unb zwar ad ann. 1418 num.: 8. 9. 12. 14. 24—27. 29. 34. 85. 86; ad. ann. 1419 num.: 9. 4. 6. 10; ad ann. 1420 num.: 1. 2. 8. 9. 14. 20. 27. ad ann. 1421 num.: 2. 4. 7. 8. 22; ad. ann. 1422 num. 27.

2) Zuftinger, Bernerchronit. Ausgabe v. Stuber G. 241.

9) Nach einer Notiz am Ende des älteiten Jahrzeitbuches der granciscaner in Solothurn fam ber Papſt dahin am 21. Mai (in vigil. s. Trinit.) 1418 und verblieb im Franciöcanerflofter dafelbft bi8 zum dritten Tage.

4) Näheres bei Juſtinger bajelbjt. Der Bapft war in Bern bei den Predigern vom 25. Mai bi8 3. Juni; in Freiburg hielt er Tage fid) auf.

5) Su Genf waren bie Herren, wie Juftinger fagt, weniger gut gehalten a[8 zu Bern und man madte ben Wit: non sumus Gebennis, sed Gehennis. Aebnlid die Gallia Christ. XVI, 4. 34 f- vgl. aud) Beſſon, Memoires pour l'hist. ecclesiast. des dio- céses de Geneve, Tarentaise, Aoste et Maurienne pag. 90.

6) Ueber den glüngenben Empfang bier unb in Pavia: Giu lini, Memorie spettanti alla storia di Milano. Vol. VL 224 f., mit Abbildung ber zu Mailand errichteten Statue Mar- tins V.

. 88*

584 28tetf,

bis im ba$ nachſte Fahr Hinein verblieb. iym Frühjahr 1419 begab er fidj über Jerrara, Ravenna, Forlı mit Ber- meidung von Bologna nad) Florenz unb erft am 9. Sep⸗ tember 1420 Bub er fid) von banuen, um über Biterbo am 28. September enblidj wieder Rom zu erreichen.

Bon Zeit zu Zeit mum wurden von feiner Seite 2t gaten nad) verfhiedenen Orten entjendet, während andere fortwährend in der Nähe des Bapftes weilten, fo daß man theils mit voller Gewißheit, tbeif8 mit Wahrjcheinlichkeit von den meiften Cardinälen nadjgumeijen vermag, daß fie während 1420/21 nicht im Entlebuch gewefen fein Törmen.

Unter diefe find vorab zu rechnen der unterm 13. Februar 1419 ald Eardinallegat nad) Venedig abgeorbuete Petrus Biſchof von Sabina, dem Schon im folgenden Jahre Franciscus Laudo Patriarch) von Grabo folgte 1); ferner jene vier Spanischen Garbinüle Peters von Luna die, nachdem fie diefen aufgegeben, bei Papft Deartinus am 17. März 1419 zu Florenz fid) einfanden und von ihm in ihrer Würde be faffen wurden, nämlich: Joannes Murillius abbas montis Aragonum tit. S. Laurentii in Damaso presbyter, Carolus de Urries S. Georgii ad Velabrum, Alfonsus Carilus s. Eustachii ?) Petrus Fonseca S. Angeli, diaconi; von diefen wurde der dritte im Auguft 1420 zum

1) Gams, Series episcopor. Cardinal Petrus ftarb ſchon den 9. September 1420 zu Florenz, Es ijt jedoch zu bemerken, ba in einer Urkunde Mantua 7. Jänner 1421 ber Patriarch von Grabo Johannes heißt: Wadding Annales Minorum T. X zum J. 1421 num. 10.

2) Bor ihm war 1417 Jacobus insulanus card. tit. s. Eu- stachii in Rom und im Batrimonium thätig gemejen. Ueber bed legteren Verdienſte um bie Wiſſenſchaft f. €. v. Reumont, Gejd. ber Stadt Rom III, 305.

Beſuch eines Garbina[8 beim Gottesfreund im Oberland. 585

Garbinaf(egat im Exarchat Ravenna ernannt ') unb ber vierte nach Aragonien und Conftantinopel entjendet. In bet Mark Ankona maltete Gabriel Condulmar vom Zitel de8 D. Clemens (ber fpätere Bapft Eugen IV.) al® Cardinal⸗ (gat 3), während Alamannıs, der Cardinalpriefter vom bf. Gujebiu8 erft in Spanien dann im Spoletanifchen bis zu feinem im September 1422 erfolgten Tode °) bejchäftigt wurde. Sodann erfotberten aud) die Dinge im Neapoli- tanifdjen bie Anmwefenheit von Garbinülen, wo wir den Gat» dinaldiaton vom Hl. Hadrian Ludwig Fiescho *) wie den Cardinal Petrus vom Titel s. Mariae in Dominica treffen. Giordano Orfini Cardinalbifchof von Albano und Erzbischof von Neapel hatte 1421 mit bem Gardinalbifchef von Porto °) in Sytaliert wider die Fraticellen vorzugehen. Aus Franf- reich zuriicigefehrt fand in Ungarn und Böhmen bis zu

1) Theiner Cod. dipl. Dominii tempor. s. Sedis III, 268; Wadding Annales Minorum X, 829.

2) Theiner ibid.; 9. o. Reumont bei Zahn, Sabrbüdjer für Kunſtwiſſenſchaft II, 75 f. Ein GBaraftecbilb von Vespa- siano da Bisticci in X. Mai Spicileg. Roman. I, 5 ff. u. dazu 158 ff.

8) Egg sS, Purpura docta 1. III pag. 8.

4) Georgisch Regest. verzeichnet von ihm einen Ablaßbrief für bie Kirche des b. Bartholomäus zu Monte Caffino d. d. VIII Kal. Mart. 1421.

5) Sn ber Urkunde be8 Papfte vom 30. Dez. 1421, Rom, et: féeint Antonio Gorario als ep. Portuensis et Basilicae Vatican. archipresbyter: Hannibal, Bullar. Basiliose Vaticanae II, 80. Hingegen nad Gallia Christ. XIII, 1280 und Dumont Corps diplom. II, 2, 148 hätte damals bieje Würde Lubmwig bon Bar, der im Deober 1420 mit SHausangelegenheiten in Lothringen befchäftigt war, getragen. Es fam, wegen ber verſchie⸗ benen Obſervanz, damals eben mieberholt vor, daß zwei Carbinäle denſelben Titel befaßen.

586 Staff,

fenem Tede (Quai 1419) ber Garbinafpriefter vom h. Girtié, Fohannes Dominiei feinen angeftrengten Wirkungs⸗ kreis ἢ. Nicht weniger wurden Gardinäle für Frankreich in Sniptud genommen: fo ber Gerbinafbiafou tit. s. Marise movae Amadens von Caínciió und Wilhelm Filaftra Gar. dinalpriefter von €. Markus; jobann, πο απ Genf vom Papfı eutjendet, der Cardinalbiſchof Johannes von Dftie und Petrus ab Alliaco, vom Titel des Bi. Ehryjogouns, weld) letzterer Frankreich nun fchwerlich mehr verließ, indem er nad) kurzer Zeit ſchon ftarb 55; erfterer Hingegen befand fi am 16. September 1420 wieder in feiner Wohnung zu Floreuz *). Seiner Geiſtesrichtung nad) fdheint er ber Asceſe nicht fremd gemejen zu fein *), zählte aber aud) wie Giorbano Orfini und andere Garbináfe Martius V. zu beu gelehrten Freunden der Wiffenfchaften 5). Aucd waren wäh- rend des Eoncil8 zu Gonitanz, mo er al® Präfident eine hervorragende Stellung einnahfm, Abgeordnete Luzerns im Prozefje wider den mod) während der Kirchenverjammlung zu Gouffang ermordeten Luzerner Propftes Niklaus Bruder *) mit ibm, wie mit den Gardinälen Giordano Orfini umb Branda Gaftiglione in Berührung gefommen unb er jelber ftand als ehemaliger Domherr von Genf nod immer in

1) tixf. Genf 10. ufi 1418: Theiner Cod. dip. Hungariae II, 196 unb 203.

2) Rah Gams ibid. 527 am 9. Auguſt 1420; andere geben dad Jahr 1419, wieder andere 1425 an; bei Potthast Biblioth. Suppl. €. 293 ijt ein Drudfehler anzunehmen.

3) S ejfon ibid. pag. 90.

4) Bgl. bie 1426 zu Rom gehaltene Trauerrede bei Befjon 453 seqq.

9) 9L v. Reumont bajelbít unb bie Trauerrede a. a. Ὁ.

6) Geſchicht Sfreund ber fünf Orte ΧΙ, 109 ff.

Beſuch eines Garbinal8 beim Gottesfreund im Oberland. 587

Beziehungen zu diefer Kirche, die er um biefe Zeit tefta» mentarifch bedachte 1), [0 daß der Gedanke, er hätte unter - den Brüdern am Schimberg, von denen einer ein τε δι gelehrter Domherr gemejen, Bekannte haben können, nicht ferne liegt. Allein bie oben berührten Aufenthaltsorte Laffen t$ doch nicht als wahrjcheinlich annehmen, daß der bereits neunundfiebenzig jährige Greis um 1421 audj noch in bie Schweiz gefomtmen fei. ‘Der Cardinalpriefter Antonius vom Zitel der heiligen Sufanna hatte um 1420 eine Unterfuchung wider einen der Härefie angeklagten Auguftiner-Eremiten zu fiihren ?) ; von Petrus Cardinal Tit. s. Stephani in Monte Coelio ift aus biefer Zeit uns nichts Näheres befannt 5), ebenfowenig etwas von Cardinalbifchof von Pränefte, Angelus de Anna, einem Camaldulenfer 9, von Petrus Cardinal v. €. Maria in Cosmedin, nod) vom Gardinal Tit. s. Laurentii in Lucina Simon δὲ Cremaudo ber in fein Bistum Poitiers zurückkehrte 5), und dreien im Teftament des Garbinafbifdjof8 von Oftia 1422 angeführten Garbtnü- [en 9. Zum Cardinalbifchof von Tusculum mar feit bem Tode Balthaffer Coſſa's (22. Dezember 1419) mod) fein anderer erhoben.

Bon allen diefen υἱεῖς oder fünfundzwanzig 7) damals

1) Sein Teftament vom 12. Auguft 1422, zu Rom, ift abs gebrudt Bei Beffon ibid. 446—452. Dazu Gallia Christ. XVI, 576.

2) Bullarium Roman. ed. Taurin IV, 694.

3) Vrgl. Ughelli Italia sacra I, 270; dazu Raynald ad ann. 1425 num. 1.

4) Ughelli ibid. 217; Gams ibid.

5) Eggs Purpura doct. 1. III. pag. 15.

6) „Dominos de Ursinis Venetiarum seniorem, de Saxo

et de Comite, s. Romanae Ecclesiae Cardinales“. 7) Bei bet Papftwahl in Gonftang waren nad) PBapft Martin’s

588 9fitolf,

noch lebenden Cardinälen nun, ble tn der vorftehenden lieber fit nadjgemiefen find, haben wir über einen einzigen nur eine beftimmte urkundliche Angabe, welche feine An- wejenfeit in der imnern Schweiz im Jahre 1421 faft mit Sicherheit erfchließen läßt; e8 iff dies der Garbimalpriefter vom heiligen Clemens, gewöhnlich Cardinal von Piacenza genannt, Branda Caftiglione ?),

Um 1350 dem Mailänder Adel entftammt Ma- phäus hieß fein Vater wurde Branda ein tüdjtiger 9tedjtégeleftter nnb Sprofeffor zu Pavia 9); unter Papſt Bonifazins IX. mar er zu Rom 9[ubitor der 9tota, vollzog Sefandtichaftsaufträge mit Erfolg und Anerkennung, machte fid) bei K. Sigmund beliebt, erhielt da8 Bisthum Piacenza (1404), da8 er jedoch, als er die Partei Gregors XIL

lrfunbe, Rom 18. Januar 1421, gerade 23 Gatbinále betbeiligt: Hannibal ibid. II, 76. 3361. Hefele, Goncilienge[dj. VII, 826; Bon der Hardt, Concil. Const. Tom. V; p. 2. pag. 12 zählt 22 Carbinäle auf, bie in Gonftang waren unb von biejen iji nad Juſtinger baj. 248 Garbinal Lanbolf dafelbit geftorben. Die 4 neubingufontmenben ſpaniſchen Garbinüle mitgezählt und bie in zwiſchen verftorbenen abgerechnet, würde für 1421 eine Anzahl von 26 oder 27 ergeben, jo daß zur Vollſtändigkeit unferer obigen Nach⸗ forjdjung nur 1 ober 2 fehlen, nicht über 24—26 follte bie Zahl gemäß den zu Conſtanz gemachten Vorfchlägen fteigen: Hefele bal. €. 335 f. Am 2. März 1481 bei der Wahl Gugen'8 IV. betrug im Ganzen die Zahl berjelben 20, davon waren 18 in Rom anwejend: A. p. Reumont baj. III, 71. 252. Hiedurch Cia- conius Vitae papp. et cardinal. IL 1095 Hinfichtlich be? Conclaves bei der Wahl Martins berichtiget.

1) Ein Charakterbild von ihm entwarf Vespasiano de Bisticci, ibid. pag. 155—158.

2) Ex war ed nod) 1889: Tiraboschi Storia della Letter. Ital. VI, 630. Ueber bie verwandtichaftlichen Verhältnifſe: Litta, Famiglie celebri di Italia unter Castiglione di Milano Ta- vola IV,

Beſuch eines Cardinals beim Gottesfreund im Oberland. 589

verlieh, wieder verlor; aber Johann XIII. erhob ihn zum Garbina(priefter vom heiligen Clemens !). Als folder ers theilte er im Auftrage des PBapftes, den 8. Sigmund hierum erfucht batte, am 7. October 1418 von Papia aus bem Schottenabt Georg in Nürnberg Vollmacht wider. ben Biſchof Anfelm von Augsburg eine Unterfuchung vorzunehmen 3),

Nachdem im Sommer 1419 der Cardinal Johannes Dominiei zu Peſth .geftorben, wurde am bejjen Stelle Fer binanb Biſchof von Succa abgeordnet 9), den wir am 15. December 1419 mit A. Sigmund zu Brünn, in den erften Sagen des Jahres 1420 auf dem Reichstag zu Breslau antreffen, wo (don am nächften Sonntag Lätare die Kreuz⸗ bulfe verkündet wurde 9). Hierauf, am 13. April 1421 bevollmächtigte zu Rom der Papft den Cardinal Branda, um in Deutfchland ein Kreuzheer wider die Böhmen auf» zubringen, nachdem er bereit am 8. desfelben Monats den geiftlichen und weltliden Herren in Deutichland feinen Sardinallegaten dringend empfohlen hatte 5). Auf Mitte Auguft follte ber Feldzug beginnen 9). Am 21. Syuni 1421 war Cardinal Branda bereits in Lüttih, wo am 1. Auguft

1) Tiraboschi ibid. Ughelli Ital. sacra II, 231. Es gab damals burd) Gegenpüpite erwählt zwei Cardinäle vom Titel bed b. Clemend. Weber [εἰπε SBerbienfte um bie Kunft fee Zahn δα]. III, 75 (von U. p. Reumont) unb II, 155 ff.

2) Augsburger Chronik von Burk. Sint (Sräbteeoniten V) IT, 360.

8) id bad), Geſch. K. Sigmunds Hi, 82. 87. 47. fum zweitenmale geſchah bieB mit Urk. Rom 12 Kal, Marcii a? Pontif. V. (1422): Theiner Cod. dipl. Hungar. Il, 208. |

4) Raynald. ad ann. 1421 n. 6 theilt das betreffende Schreiben mit.

5) Ibid. num. 8.

6) 31d bad daſelbſt ©. 180.

590 Lütolf,

Diele das Kreuz nahmen !) Die weitere Thätigkeit des Legaten berührt uns für unfere Frage nit mehr.

Für das Sytinerar desſelben zwifchen bem 18. April unb 21. Juni 1421 kennen wir nun bisanher feine aus: brüdfid) auf feinen Namen lautenden urkundlichen Angaben ; alfein die Thatſache, daß nach Johannes Baptiſt 1420 und vor demfelben Feſte (24. Juni) 1421 ein Cardinal im Entlebud) war; ferner, daß ber ihn betreffende Rech⸗ ] nungspoften zu Ende ber freilich etwas fummariſch gehal⸗ tenen. Rechnung erfcheint berechtigt doch zu bem Schluffe, baB jener Kardinal faum ein anderer als Branda Gaftigfione gewefen unb mithin fein Beſuch bei den Brüdern am Schimberg in ben Mai oder Aufang des Yuni 1421 zu jegen fei. Thatfache ift dann weiter, daß noch im gleichen Jahre nicht bloß aus St. Gallen ?) und fehr wahrfcheinfich aud) aus Zürich ὅ), fondern namentlich aus ber dem Thale Ent- lebuch nicht ferne liegenden Stadt Surfee, die 1376 den Gottesfreunden am Schimberg ihren Schirm zugefagt, und aus Bafel, von wo fie ausgegangen, gente bi8 nad) Böh⸗ men wider die Hufiten ausgezogen find 9).

1 Magnum chronic. belgic. bei Pistorius Scrippt. rer. Germ. 3. Edit III, 899; daraus auch bei Raynald. 1. Ὁ. num. 8. 9.

2) Die Duelle der zweitfolgenden Anmerkung.

9) Sicher tft, daß ber Rath von Zürich an Johannes Baptift 1421 beſchloß, 24 Mann zu 9toB wider bie Quften auszurüſten: 9tatb8protofol[l v. 1898—1498 im Staatsarchiv Zürich.

4) Am Donnerftag nad) Fronfaſten im Herbft 1421 richteten bie Diener unb Söldner von Bafel auf ihrem Zuge wider bie Qu fien an Bürgermeifter und Rath von Bafel ein Schreiben, wornach bei ihnen in ber Stabt ,,3og" 90 Mann waren, barunter 18 von

Beſuch eined Cardinals beim GotteSfveunb im Oberland. 591

Nur wenig früher oder jpäter al bet Cardinal die Zeitangaben geftatten hierin einen Kleinen Spielraum fam Margarethe von Kenzingen zum Gottesfreund im Oberland; unb war c8 fpäter, ‘jo liegt der Gedanke nahe genug, fie babe auf irgend eine Weife vom Ber [πῶς des Cardinals etwas gehört und [εἰ jo bem vers borgenen Aufenthalte des Gottesfreundes auf die Spur ger tommen ?).

Immerhin wird man e8 fortan nicht mehr als „zwei- felhaft“ bezeichnen fünnen, wo ber Aufenthalt bes Gottes- freundes im Oberland zu fuchen fei und e8 ijt damit aud) feitgeftellt, daß er im Juni 1421 noch gelebt habe. |

Möge e8 weiteren Nachforfchuugen *) gelingen, bie an- dern bedentendern geiftesverwandten Freunde des trauten Genofjen Taulers und Rulmann Meerswins, etma ben ihm (eit früherer Zeit zugethanen Mailänder, ober jenen vot. nejmen Genuefen, der um Gottes willen Alles dahin⸗ gab, mit ihren Namen fennen zu lernen. Was erjtern belangt, fo fragt man fid) mohl, ob vielleicht die Bekannt⸗ Ihaft des Cardinals mit dem Gotteöfreund von biejer Seite herrühre, oder ob er allenfalls εἰπῇ! mit dem Dom herrn Cyuriftern, der nun am Schimberg Wohl aud) ale Incluſe lebte, zufammen ftudirt und Freundichaft ges ichloffen habe.

St. Gallen und 6 von QGurjee. Mittbeilung aus bem Basler Staatsarchiv burd) Herrn Archivar Th. v. Liebenau.

1) Der Bericht über biejen Beſuch in bem nun von B. Hein ri Denifle in Haupt's Beitfchrift daſelbſt €. 478 ff. mitgetheilten Leben der Margaretha von SKenzingen läßt für die Seit, ba bieje8 gefchah, immerhin einen Spielraum für 6—8 Monate zu.

2) Man hätte dabei Lothringen, Ungarn, Mailand und Genua im Auge zu behalten.

592 Lütolf, Beſuch eines Carb. beim Gottesfr. im Oberland.

Möglich, daR die Aufhellung der perfünlichen Bes ziehungen jener Männer noch mehr Licht bringen würde nicht bloß im bie Gefchichte des frommen Lebens damaliger Zeit, fondern audj im die Vorgänge zur DBefeitigung des päpitlicden Schismas.

3. Studien über die Grundfragen der Symbolit.

Bon Stepetent Dr. phil. Knittel.

1) Allgemeine Borbemerfungen.

Das Erfcheinen zweier Werke über Symbolif in neues fter Zeit, deren erſtes den Kürzlich verftorbenen Sohn bes berühmten Exegeten Franz Delisih, Johannes Delitzſch zum SSerfajfer, das zweite den ebenfalls nod) nicht lange hier verjtorbenen, im Gebiet der altteftamentli- chen Gregefe wohlverdienten Dehler zum Verfaffer, unjetn Johannes Delitzſch aber zum Herausgeber hat, ift die Ver- anlaffung nachfolgender Studien über und zur Symbolik geworden ἢ). Auf erfteres Werk, das nad) bem Tode be

1) Der genaue Titel ber Werke lautet: Das Lehrſyſtem ber römiſchen Kirche, bargeftellt unb beleuchtet von Syobamnme8 Delitz ſch, Doctor ber Philoſophie, Licentiat ber Theologie, Privat: bocent an ber Univerfität Leipzig. Erfter Theil: Das Grunddogma be8 Romanismus ober bie Lehre von ber Kirche. Gotha, Verlag von 9tub. Befler 1875. Lehrbuch der Symbolit von Dr. Buftav Friedrich Debler, weil. ordentl. Profeſſor ber Theo» [ogie unb Ephorus des evangelifch-theologifchen Seminars in Tübin⸗ gen. Herausgegeben von Dr. Johannes Delitzſch, außerorbentl. Profeſſor ber Theologie in Leipzig. Tübingen, Verlag von J. I. Heckenhauer 1876. Früher erſchienen ift das ſymboliſche Wert Reiff's

594 Knittel,

fherf. ohnedies ein Torfo bleiben wird, bejonbere Beziehung zu nehmen, verhindert gutentfei(8 der wohl durch die Zeit- ereigniffe veranlaßte Son Teidenjchaftlicher confeffioneller Abneigung, der dasselbe durchweht. Diefelbe hat den Verf. bis zu perfönlichen Invectiven gegen lebende und todte tathofiihe Theologen geführt: jo fpricht er nicht nur im Allgemeinen von „lügenhaften Behauptungen römiſcher Theo- fogen“ (€. 90), [oubern wirft bem fel. Möhler mad) fBaut'$ Vorgang vor, er habe vielleicht zwei Begriffe „ver wechſeln wollen“ (S. 44), redet von einer wahrhaft ſcham⸗ fofen Behauptung des verft. Voſen (S. 61 Anm. 2), be merit Zanner'n gegenüber: „das heißt den Gegenfag bös- willig auf den Kopf ftellen" (©. 313), meint von der fer genröther’fchen Auslegung. der bekannten Irenäusſtelle (adv. haer. III, 3, 2): „Hergenröther [djümt fid) nicht, dieſe Erklärung porgutragen" (S. 248 Anm. 1), wirft Bifchof Martin „rohe Verhöhnung der umnfichtbaren Kirche“ vor, „welche der Glaube und ber Troſt aller wahren Gbrijten iji" (€. 50) und ben Verfafler der δεῖ, Populärſymbolik und jegigen Altkatholiken Buchmann bedenkt er gar einmal mit dem Ausruf: „Welch eine nichtsmürdige und abgefchmadte Garicatur des proteftantifchen Schriftprincips“ (Ὁ. 320), dazu noch bie zweimalige Reproduction des nicht gang un⸗ befannten Wige® vom hi. Geijt, der im Telleifen nad) Trient wandert (€. 11. 67), Berufung auf das famofe ungarijdje Fluchformular (S. 88. 381), bejfen Unechtheit jeit Köllners Symbolik ber katholiſch-römiſchen Kirche (©. 496 und ausführlich 160—162) auch in proteftantifchen

, in Bafel unter bem Titel: „Der Glaube ber Kirchen und Kirchen⸗ parteien nad) [einem Geift unb innern Sujámmenbang".

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 595

Kreifen allgemein anerkannt fein. folfte 1), Bhantaftebilder über die mittelalterliche Papſtlirche (S. 27), Conſequenz⸗ macherei, bie ihn nicht nur Tatholischen Theologen , ſondern jelbft dem gegenwärtigen Papfte gegenüber zur Behauptung fortführt, er babe fid) „durcd die Macht des Zeitgeiſtes oder andermeitige Beeinfluffung“ zu inconfequentem Ciberae lismus fortreißen fajfen (€. 50) u. a. Gegen einen ſolchen Rückfall in den Stil der alten Controverspredigten werden gewiß auch mobímeinenbe gläubige Proteftanten mit und pros tejtiren. Oehlers Werk ijt, wie wir gelegentlich mod) fehen werden , aud) nicht ganz [rei von verlegenden Bemerkungen, doch ohne perjönliche Injurie. | Beginnen wir nun gleich mit der Frage von ber ſym⸗ bolifchen Behandlung dogmatifcher Lehrpunfte überhaupt. Die Symbolik jegt [uf bie Aufgabe, die unter den vers jchiedenen driftlichen (Haupt-JEonfeffionen controperjen Lehr⸗ punkte zunächit vergleichend zufammenzuftellen und anf Grund diefer vergleichenden Zufammenftellung fritijd zu beurtheilen. - Aber Schon ber erfte Theil der Aufgabe, ber alferdings für mande Symbolifer zur Aufgabe der Symbolit überhaupt wird, ijt gar nicht fo leicht al8 man vielleicht glauben könnte. Der Beweis liegt in. der gleichmäßig bei Tatholifchen mie protejtantifhen Symbolifern faft jtereotyp. wiederfehrenben Klage über wechſelſeitiges Stigoerftünbnig. Und doch Icheint nichts leichter zu fein, αἷδ aus ben vorhandenen Kirch. lichen Symbolen, coucifiarijd)en Lehrentiheidungen, ſymboli⸗ Ihen Büchern u. j. m. bie einjchlägigen Texte zujammenzu« ftellen, wie bie8 3. DB. Oehler überall mit wahrem Bienen-

1) Freilich auch Hofmann bat in feiner Symbolif ©. 57 Anm. 1 ein: „dgl. das ungarijde Fluchformular“.

596 : Anittel,

fleiß tfut, und danach deren Sim zu eruiren. Gben das Lebtere ift das Schwierige, indem nämlich der Symbolifer gar zu gern geneigt ift, von feinem ablehnenden und negirene den Standpunkt aus diefen Sinn feftzuftellen, ihn aber eben damit nad) der Behauptung des Defendenten aíterirt; Wir gíauben, baf der Symboliker hier, will er wirklich unpar- tbeiijd) fein, au die Auslegung bewährter Latholifcher Theo- logen gebunden ift, wie bie8 3. 39. Schulze 1) in feinem leider viel zu wenig beachteten Buche mit Gíüd und in einer der wechjelfeitigen billigen Beurtheilung gewiß ginftigen Weife gethan. Daß ganz diefelbe Forderung aud) dem katho⸗ liſchen Theologen gilt für Feſtſtellung des Sinnes ber pro: teftantifhen fymbolifchen Bücher, ijt felbftverftändlich, wenn gleih hier die Gefahr, fid) von fubjectiven theologifchen Cynterpretationen täufchen zu laſſen, vielleicht nod) näher liegt al8 dem viel mehr gebundenen Tatholifhen Theologen gegenüber. Ohnedies wie viele protefiantifche Theologen find in ber Lage, wie Köllner (Symbolik aller djrijt(idjet Eonfeffionen. Zweiter Theil, ober: Symbolit ber fato lifcherömifchen Kirche), über eine [o ausreichende Kenntniß der Tatholiichen Theologie und ihrer Gefchichte zu verfügen, um eventuell auch katholiſchen Theologen ein mangelhafte und unvollkommenes Verſtändniß der eigenen Lehren mit Fug nachweiſen zu Tünnen. Unter aflen Umftänden aber wird der proteftantifche Symboliker in feiner Behandlung der normativen Qefrentjd)eibungen der Tatholifchen Kirche jid jtreng an die hergebrachten fatbofijdjen Auslegungsgrund- füge binden müjjen, unbefümmett darum, ob fie ihm prt:

1) Veber romanifirende Tendenzen Ein Bort zum Frieden von F. $9. Schulze, Charitöprediger in Berlin. Berlin 1870. Stilte und van Muyden 96 Friedrichsſtraße.

Studien über bie Grundfragen ver Symbolik. 597

ſönlich zufagen ober unbegründet erfcheinen. Der prote- ftantifhe Symboliker darf alfo nicht, weil e8 ibm fo Scheint, in der Erklärung des Tridentinums, daß der Sext ber Bulgata als authentifcher anzufehen fei, bie Subftitution einer Ueberſetzung an Stelle des Urtertes finden (jo Oehler €. 398 f.), fondern muß fij über den Sinn jener Erklärung bei den fatbofijd)en Dogmatifern und Eregeten Raths er» holen. Ebenfo wenn 3. B. ber Umfang Tirchlicher Lehr- ent[deibungen auf die Gegenftände des Glaubens und bet Sitten bejchräntt wird, jo mag er für feine Perjon von der Hinfälfigkeit diefer Schranke überzeugt fein, aber er muß bod) im Einzelnen und bei den concreten Fragen zufehben, wie von den Theolögen jener Unterjchied gefaßt und durchgeführt wird und darf ebenjomenig, weil etwa er meint, die Unterjcheidung von particulären und umi- verfalen päpftlichen Lehrentfcheidungen [εἰ an jid) unhaltbar, mit Abfehen von derfelben Turzweg alle päpjtlichen Breven und Bullen zu katholiſchen Glaubensquellen jtempeln (jo “ε €. 216 fi. und in bem von ihm bei Oehler eingefchobenen Zert ©. 305). Von befonderer Bedeutung wird bieje Forderung, daß fid) der protejtantijje Sym⸗ bolifer an bie Tatholifchen Auslegungsgrundfäge Binde, gegenüber den rein negatio gehaltenen dogmatifchen Ent- fcheiden, bie in den dogmatifchen Genjuren (3. 3B. 0e8 Bajus, des Duesnel, dem Syllabus) liegen: hier ijt eine bloße Berufung 3. $9. auf ben Sylabus, auf bie Genjur der Cüte Quesnels (3. B. Oehler &. 248. 469) noch völlig ungenügend, weil mie SOebler a. a. Ὁ. felbjt bemertt, feine pofitive Lehre aufgeftefít ift, diefe vielmehr erft auf Grund eingehender Diftorijd)er , juribijdjer und theologifcher Unter- fuchung gefucht werden muß. Ebenſo verkehrt aber als ein Theol. Quartalichrift. 1876. Heft IV. 39

598 Knittel,

principielles Ablehnen ber Autorität bewährter katholiſcher Theologen ift eine voreilige Berufung auf diefelbe zu Gunjten einer dogmatifchen Marotte und man darf, menn man einmal mit Oehler Oswalds Behauptung von einer gewiſſen „Er- gänzung des Erlöſungsverdienſtes des Herrn durch δα Berbdienft der Maria“ jeitirt (Ὁ. 399), namentlich wit vergefjen beizufügen, daß diefe und andere dogmatifche Ueber- ichwänglichleiten das betreffende Buch auf den Inder ge bracht haben.

C$ wäre alfo fchon eine ziemlich fehwierige Aufgabe, bie controverfen dogmatifchen Lehrfäte in einer Weife neben einander zu ftellen, bie auf den Beifall ber Theologen all der vertretenen Confeffionen rechnen könnte. Die Kritil mischt fid) faft unwillkürlich auch Schon in die ,comparatibe Darftellung be8 Lehrbegriffs“ ein, um bie Winerſche Bezeich⸗ nungsweije für diefe Aufgabe ber Symbolik zu aboptiren. Ihre einzige Aufgabe aber ift fie ficherlih nicht, bie com- parative Darjtelung wird mit innerer Nothwendigkeit zur je nad) bem Standpunkt des Symbolikers verſchiedentlich gehaltenen kritiſchen Vergleichung. Wie muß fid) num diefe, die im Ganzen DBergebradjte, auch von Oehler aboptitte Methode der Symbolik vorausgefeßt, geftalten

Diefe Methode bedingt von felbjt eine Auseinander- reißung des dogmatiſchen Stoffs nad) den vom Beginn ber Kirchenſpaltung an ziemlich gleichmäßig feftgeftellten cou: troverjen dogmatifchen loci. Bon den dogmatifchen Materien fommen aljo nur bie der confeffionellen Beftreitung anheim- gefallenen zur Beſprechung und diefe wiederum in ber Weife, daß bei jedem einzelnen locus nacheinander die verjchiebenen Kirchenparteien gegen einander zum Wort fommen. Da- durch wird von felbjt mehr oder meniger ber Einblid in

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 599

ben innern Zufammenhang des dogmatiſchen Syſtems einer beftimmten Confeſſion verhindert, ein Ginbfid, ber für Be⸗ urtheilung des Einzelnen von ber Höchiten Bedeutung ijt. Die Kritik felber aber ijt nothwendig behindert und befchränft und eben deßwegen ungenügend und unvolllommen. Auf den vollftändigen Beweis bezw. Gegenbeweis aus Schrift bezw. Ueberlieferung fann fie fid) ohmedies nicht einlaffen und mit dem Benergeln und Bemängeln des Einzelnen, Das fi) als einfache Conſequenz tieferer Grundlagen ergibt, ijt ebenfall® wenig ausgerichtet. Gerade bae Dehler’fche Buch hat uns, unter biefemt Gefichtspunft der Benrtheilung be- tradjtet, am wenigften befriedigt und eine Reihe von Zrr- thümern unb Unrichtigkeiten im Einzelnen wären viel leichter für feinen Berfaffer zu heben gewefen, falls er jid) in das Ganze der fatfolifd)-bogmatifdjen Vorjtellungen Hätte binein- zudenken verſucht. | Alfo überhaupt feine Symbolik oder nur mad) Art ber ältern DVerfuche von Marheinecke, Köllner, neuerdings von Hofmann, Karften, Reiff, Delitzſch, bag nämlich nachein- ander und jedes für fid) gefondert das Tatholifche, Lutherifche, teformirte Syſtem der Dogmatit zur Darftelung Tommt ? Sicherlich madjt e$ diefe Behandlungsweife leichter, fpeziell in den Sinn und Geift des Tatholifchen Lehrſyſtems einzu- dringen, wie bie feltene Unparteilichkeit wenigftens Köllners beweist , aber bie Methode felbft-ift nicht die alleinfelig- madjende, wie die allerdings nur begonnene Arbeit pom Delisfch zeigt, wogegen Sculze’8 beregte, im Ganzen der herfümmlichen Methode jid) anbequemenbe Arbeit von großer Unbefangenheit des Urtheils rühmliches Zeugniß ab- legt. Bielmehr wird man den Symboliker nur erinnern müffen, auf ben innern Zujammenhang der controverfen 39 *

600 Knittel,

Lehrſtücke ein wachſames Auge zu haben und denſelben in der Darftellung wie Beurtheilung derſelben ins rechte Licht zu ſetzen.

Damit aber ift zweierlei im Vornherein verhindert, uämlich daß in untergeordneten Punkten unberedjtigte und ungehörige viti angewendet wird. Was foll man 3. B., das Dogma von ber Zransjubftation mit all feinen Folge⸗ rungen vorausgefeßt, vom bogmatifchen Standpunkt ans gegen die Kommunion sub una einwenden, ba bod) die Wahrheit jener dogmatifchen Lehre vorausgefegt unb von ganz fubtilen Schulcontroverfen abgefehen bie Gläubigen aud) unter Einer Gejtalt den ganzen Chriftus empfangen ? Andererfeits wird die Polemik des Proteſtantismus Teine fo widerfpruchsvolle, wie fie leider auch in dem Oehler'ſchen Buche und entgegentritt, indem man in ber Gnadenlehre dem fatbo(ijden Syſtem Semipelagianismus wo nicht gar Pelagianismus vorwirft, in der Saframentenlehre, biejem bom Zribentinum felbit als consummatio der Gnaden⸗ und Rechtfertigungslehre bezeichneten Lehrſtück, den netto ἐπί: gegengefetten Irrthum einer magijchen, von der Willens: dispofition ded Empfängers abfehenden Gnabenwirkung. Beides kann ja doch unmöglich zufammenbeftehen, wofern man nicht wirklich im Ernſt an ein friedliches Zuſammen⸗ wohnen zweier fo heterogener gebrpuntte, „ben Dualismus einer magijden und pefagianijdjen Auffaſſung“ wie Reiff €. 203 fid) ausdrüdt, in einem Syſtem glaubt, deſſen ftrenge innere Confequenz fonft anerkannt, ja gegen liberale Vertreter desfelben nachdrüdlih unb aud) in polemi[djem Sinn hervorgehoben wird.

Alfo ein förmliches Qineinbeufen , ein geiftiges Sich⸗ bineinverfegen in das fremde dogmatifche Syſtem fordern

Studien über ble Grundfragen der Symbolik. 601

wir vom Symboliker, fof er feine Aufgabe wirklich gerecht und unparteilih Töfen. Er [01 fid) allerdings „jo ganz auf den GCtanbpunft bor fremden Kirche verfeßen“, „baß jeder Angehörige diefer Kirche feine Darftelung fid) am» eignen Tann“. Debler, bem wir diefe Worte entlehnen, und der gleich Eingangs feiner Schrift S. 8 davor gewarnt, gegen den Katholicismus „allzu gerecht (T) zu jein^ be» zeichnet biefe Forderung (S. 24) Köllnern gegenüber, ber fie nicht nur formuliet fondern durch Befolgung derfelben zu einer feit feinem Buch Taum wieder erreichten gerechten und würdigen Auffaffung bes Tatholifchen Lehrſyſtems ge⸗ führt wurde, „als völlig unvollziehbar“ „vor allem im Intereſſe der Wahrhaftigkeit und der chriftlichen Treue“. Man traut faum feinen Augen, eine auf ben erften Blick jo gerechtfertigte syorberung nad) Objectivität der Darftellung gerade mit biefen Gründen zurücgewiefen zu fehen. Solite eine Aufgabe, welche 3. 3. die Gefchichte ber Philofophie längft gelöst hat, auf theologiichem Gebiet abfolut unlösbar fein? Längſt haben wir gelernt, 3. 3B. das philofophiiche Syſtem eines Spinoza bolffommen treu und objectiv bare zuftellen, mag unfer eigener philofophifcher Standpunkt fein welcher er will; biefelbe Unparteilichkeit der Auffaffung und Daritellung ſollte einem chriſtlichen Religionsſyſtem gegen- über unmöglich fein? Und müſſen wir weiter fragen: bat eine Kritik des Tatholifchen Lehrſyſtems etwa „vom Stand. punkt der Erfenntniß, welche der evangelifchen Kirche ber» liehen ift", irgend welchen Werth, wenn fie nicht das fatbo- liſche Lehrſyſtem fo wie es ift angreift? ſchlägt fie nicht in die Luft, wenn fie auf eine Darftellung der Tatholifchen Lehre fid) ftügt, bie der Tatholifche Gegner mehr oder weniger als unrichtig und unzutreffend bezeichnen muß? Gerade

602 Knittel,

bie beftändigen Vorwürfe gegen Möhler, daß er mur ein Zerrbild ber proteftantifchen Lehre gegeben und gegen diejes von ibm ſelbſt zurechtgemachte Xuftgebilde feine polemijdjen Waffen kehre, follten die Proteftanten auch ihrerſeits über- zeugen, mie noth eine objective, treue Erfenntniß unb Dar- ftellung der Tatholifchen Lehren ijt, [01 unfer wechfeljeitiger Kampf fid) nicht ewig in dem alten Geleife der [agen über wechfelfeitige Meißverftändniffe und Verdrehungen be. wegen.

Ueber den Standpunkt confelftoneffer VBoreingenommen- heit müjfen wir uns afjo von vorn herein erheben, welde das Reſultat der vergleichenden Unterfuchung anticipirend im voraus [Ὁ bie herkömmliche und überlieferte Sprade ber Polemik aneignet. Kigentlih wird und muß ja bod febenbige8 Wahrheitsinterejje bie Seele jeder Symbolif und Polemik fein, fanm felbft für Hafe der Zwed, den „Ueber muth etma$ zu beugen, der feit Möhler’8 Symbolik die fatholifche Literatur erfüllt“, nur ein untergeorbmeter fein. Zu diefem Anhängfel confeffioneller Voreingenommenheit vechnen wir aber auch ben unbejehenen Gebrauch der Schlag wörter der alten Polemik, den Ton perjünlicher Gereiztheit, den bie polemifche Darftellung anzufchlagen liebt. Als Ouid» fall in die gewöhnliche Sprache ber Polemit müjjen wir (ὃ 3. 3B. begei)uen, wenn ἐδ bei Dehler ©. 67 heißt: „So war an bie Stelle der einzigen Mittlerſchaft Chrifti eine menjdjide Meittlerfhaft, am die Stelle be8 Werkes ber Gnade ba6 opus operatum im Sakraments⸗ und Pöni- tenzwejen mit jeiner Verdienſtlichkeit getreten, die Kirche fomit burdj Paganismus und Judaismus entartet“. Die Vorwürfe auf „Paganismus unb Judaismus“ Tehren wider

Studien über bie Grundfragen der Symbolit. 603

€. 104 !), wo zugleich von „Ereaturvergätterung als Anbe- tung der Hoftie und Heiligenverehrung” die Rede ift. ©. 116 begegnet uns der Vorwurf der „pelagianifirenden Werkge⸗ redjtigfeit", nachdem ſchon ©. 68 der Scholaftif ihr „Pela⸗ ganismus“ vorgeworfen wurde. Ebenfo erregt bie Darftels lung &. 228 ben Schein, af8 ob bie fatfolijdje Kirche äu⸗ Beren Zeichen bie Macht zu rechtfertigen beilege, und mod) deutliher S. 313, wo e$ heißt, bie englifche Kirche „wahre das evangelifche Princip“, durch ausschließliche Zurückführung der Wirkſamkeit der Gnabenmittel auf bie Ginfegung und Berheißung Chrifti unb aud) die im Ganzen richtige Dar- ftelfung der Lehre vom opus operatum nad) Bellarmin (S. 564) zeigt, daß Ochler den fatfofijd)en Theologen in unferer Frage nicht vecht trant. Die Berufung auf das befaunte „Telleifen“ (djenft uns Dehler aud) nidjt (S. 35), über die Beſchlüſſe des Zrienter Concils bemerkt er (S.85): „daß in Bezug auf kluge SBolitif im Bekennen und im 23er» ihweigen das Zridentinum ein Meiſterſtück ijt, kann nicht geleugnet werben“. Wäre ἐδ nicht weit nüger, wir liefen derartige Vorwürfe, die ja in der Hauptjache doch nichts beweifen unb bie man burd) Hinweifung auf recht menjchliche Vorgänge auf den alten allgemein anerkannten Goncilien, auf die SBerünberungen des Textes der confessio Augustana in der Abendmahlsiehre (S. 185) ja leicht paralyfiren fann 2), aí$ „Unarten der alten SBolemif^ (Ochler ©. 7)

1) Welch verwerflihes Spiel mit ſolchen Nomenclaturen ges trieben werben Tann, zeigt neuerbingà wieder bie Dogmatik von Lipſtus.

2) 8l. das treffende Wort Dehlers (S. 2): „Wie alles Menſch⸗ liche, ſo iſt auch der Gang der kirchlichen Bekenntnißbildung mit viel menſchlicher Schwachheit und Unlauterkeit, Leidenſchaft und Beſchränktheit behaftet”.

604 Knittel,

einfach fallen, ebenfo mie den Gebrauch folcher allgemeinen und unbeftimmten Formeln wie pelagianifirend, Semipela- gianiémue, J(nguftiniómné 2c., nm genau und in conereto fatBofijdje (nicht „römifche*, wie es allgemein proteftantijdje Mode zu werden droht ober gar „papiftifch”, mie fid) mod) die nenefte Auflage von Winers gen. Buch auszudrücken fiebt) und proteftantifche Lehren neben- und einander gegen- überzuſtellen. Ob ba6 freilich möglih ift, fo lange man Äberhaupt mod) Bücher über Symbolik fchreibt, ijt eine andere Frage.

Damit fommen wir auf einen weiteren Punkt. Weber Spymbolit zu fdjreiben ift folange noch von praftifcher Be⸗ deutung, als es wirklich nicht bloß eine fatBofi[dje, fondern auch proteftantifche Kirchen und Kirchengemeinjchaften gibt mit binbenben Symbolen, folange man auch proteftantifcher: ſeits (um zunächft bei ben Lutheranern ftehen zu bleiben) in ber confessio Augustana, ber Apologie berjelbem, Zur thers fíeinem und großem Katechismus, den Schmalkaldiſchen Artikeln unb der Goncordienformel wie ber alte Ausdrud fautet „die ausgelegte Hl. Schrift“, in diefen ſymboliſchen Schriften alfo normative, den einzelnen bindende Gíaubené: regeln erblidt. Hatte fdjon früher der Streit niemals ganz gerubt, inwiefern diefe Echriften alle oder nur zum Theil und inwieweit fie normativen Charakter haben, fo ijt heutzutage deren bogmati[dje Geltung aus verfchiedenen Urfachen in weiteren Kreifen mehr oder weniger beanftandet, der fog. Symbolzwang zum Theil abgejdjafft, zum Theil in einem Sinn verjtanden, der ihn in feinen Wirkungen illuſoriſch macht. Namentlid) Hat aud) die Durchführung ber Union in den verfcjiedenen Ländern zu einer freieren Auffaffung ber Eymbole geführt, principielf ijt δα8 Bedürfniß

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 605

ihrer Verbeſſerungsfähigkeit, menige ftrenge Lutheraner aus⸗ genommen, aud) von ben ftrenggläubigen, fonfefftonati[ti[d) gefinnten Theologen anerfannt.. Nun betreffen bekanntlich die ſpezifiſch lutheriſchen Symbole, um immer bei biefen ftehen zu bleiben, gerade die dem Symboliker zufallenden dogmatifchen Vorftellungen, um fo mehr follte man aljo in unfern ſymboliſchen Werfen erwarten, daß fle von jener freien 3S(uffajjung in Darftelling und Kritik Gebraud) machen. Uber davon ift merfwürdigerweife in unfern ſym⸗ bolifchen Werken fo gut mie gar nicht die Rebe, vielmehr wird ohne Meiteres die alte Lutherifche Lehre in der Hegel als bie fehriftgemäße dargeftellt und an ihr werden dann die entfprechenden Tatholifchen Vorſtellungen gemeffen und gewogen und verurtheilt. Man darf fogar unverhohlen in gläubigen Kreifen trot der ſechs erften allgemeinen Concilien fubordinatianifche Lehren vortragen, die Chriftologie zu res formiren [udjen, aber menn man auf den „Artikel der jtehen- den und fallenden Kirche”, die Rechtfertigungslehre kommt, da haben die Intherifchen Symbole ganz und volllommen recht, das Zridentinum volllommen unrecht, der Verſuch, wenigſtens das Wahre an ber gegnerifchen Auffaffung Bere anszuftellen, wird gar nicht einmal gemadjt. Was ijt daran ſchuld? Vielleicht zulegt eben der bem Symboliker als fol- dem aufgedrängte confefjionelle und confeſſionell befchränfte Gejidjtépuntt.

Allerdings bie Darftellung des Dogmatikers entgeht der. hier angebeuteten Klippe leichter. Sofern er nicht prin- cipiell darauf aus ijt, eine befenntnißtrene Intherifche Dog⸗ matif zu fchreiben, er aljo lediglich am die Lehre der heil. Schrift und feine Auffaffung diefer Lehre gebunden erfcheint, kann er von rein hiſtoriſchem Standpunkt aus unbefangen

606 ftnittet,

die verſchiedenen von ber latholiſchen wie proteftantijden Sirde vertretenen Auffefjungen des Wortes Gottes bie kritiſche Revne pajfiren. lafſen aber müjjem wir um fragen: Tann jid) nidjt auch der Symboliker auf benjelbeu freien dogmatiſchen Standpunkt erheben ?

Soir antworten unbedingt mit Ja, indem wir ale Ermeis unſeres Satzes auf die Behandlung der reformirten Oíanbenéjáge bei unjern proteftantifchen €gmboliferu Bur weifen. Zwiſchen dem Lutheranismus und ber reformirten Kirchengemeinfchaft war feiner Zeit der confeffionelle Gegen: fag nidjt minder ober vielmehr noch mehr zugeſpitzt als ber zwifchen Katholicismus und Proteftantismus. Seitdem das ander8 geworden, ſeitdem man fid) auf das den beiden Schwefterlirden gemeinfame Gut religiöfer Üeberzengungen befonnen hat, ift denn and) Urtheil und Kritik ruhig, θὲς fonnen und objectiv geworden und biefe Urtheile adoptiren auch unfere Symboliter. Dürfte nicht ein weiteres Beſinnen auf den mit der fatfofifjen Kirche gemeinfamen | fat hriftficher Ueberzeugungen eine ähnliche Objectivität ber Aufs faffung und .Billigleit des Urtheild wieder hervorzurufen geeignet fein, wie fie früher eine Zeit lang der religiöfe Onbifferentiómn8 bezw. Nationalismus ermöglichte und wie fie uns fporadifch immer wieder bei einzelnen 3. 39. den wiederholt genannten Köllner und Schulze entgegentritt ? Möchte der „Kulturkampf“ die gläubigen proteftantifchen Theologen nicht blind machen gegen den viel rabicalern Kampf, ben Glaube und Unglaube nod) auszufechten haben !

Doch bieje Hereinziehung von Zeitfragen fann man zurückweiſen und uns Tatholifchen Theologen den Vorwurf machen : auch der objectivften und bilfigiten Kritik gegemüber ift euch ein Entgegenlommen nicht möglich in Folge eurer

Studien über bie Grundfragen ber Gimpbolit. 607

ftarren und ftrengen Gebundenheit an das kirchlich firirte Dogma. Ohne uns meiter auf diefen vielfach wie wir glauben mißverftandenen Begriff de8 Gebundenfeins am bie tirchlich firirten Glaubensbeftimmungen einzulajjen, wir erinnern nur an ben Begriff Entwicklung des firdjfidjett Dogmas, ben jede fatfoti[dje Dogmatit zu unterfuchen umb zurechtzuftellen hat, mie anbererjeit8 den proteftantifchen Vorwurf der Veränderungen des kirchlichen Lehrbegriffs bemerfen wir zu unferer Frage Folgendes. Das firdjlid) firirte Dogma auseinander zu fegen, in feinem dogmatifchen Zuſammenhang aufzuzeigen, gegen Angriffe zu rechtfertigen, in immer vollfommenere Erfenntnißformen einzngießen , ijt eben Sache ber Tatholifchen Theologie. Um dieſe erwirbt fi) alfo eine Kritit wahrhaft Verdienfte, welche ihr bie Schwierigkeiten der von ihr zu behandelnden Gegenftände aufzeigt, die ber kirchlichen Faſſung entgegenftehenden Bes benfen aufdedt, bie Blößen der bisherigen bogmatijdjen Beweisführung bloßlegt, bie Mangelhaftigkeit der dogmati- iden Grfenntnig aufzeigt u. j. m. Eine fofdje Kritik nun eben würde eine wirklich objective und vorurtheilslofe Sym⸗ bolif bieten und damit zum mindeften negativ zum Weiterbau der dogmatischen Wiſſenſchaft ihr fürderndes Theil beitragen. Zwar wäre aud fo des Streite® noch fein Ende; wie der fatbofijdje Theologe aulegt eben zu Gunften feines unvolfflommenen Scrift- und Ueberliefe⸗ rungsbeweifes bie linpolíftánbigfeit der Schrift und die aller biftorifchen Forſchung anffebenbe Unvoliftändigkeit unb Un⸗ vollkommenheit der Grfénntnig anenft, [o wird er in [pecus lotiven Fragen zufeßt bem proteftantichen Vorwurf des Yrrationalismus mit dem Hinweis auf das Minfteriöfe aller Glaubensſätze begegnen: dem mag fo fein, aber ficher tft

608 ftuittet,

aud) To mod) das Interefſe wahrer Wiſſenſchaftlichteit in höherm Maße gefördert, als menn bie Theologen fort und fort im alten Zant und Hader über medjefjeitige Miß⸗ verfländniffe, Berdrehungen und Sherfáfjdjungen ihre beften Kräfte verzehren.

Und darauf wäre endlich noch anfmerffam zu machen, δαξ gewifle auf der Peripherie be8 Dogma’s liegende, fefbft aber mehr der Praxis und bem Cultus anheimfallende Dinge wie bie Heiligen = insbefondere Marienverehrung , niemals ohne eigene fromme Erfahrung, ohne perfünliches Einleben fo recht begreifllich unb fapfid) gemacht werben können. Auf diefen Erfahrungsbeweis wird daher der Tatholiihe Gym. bolifer um fo mehr hinweifen müfjen, als bie moderne pro- teftantifche Theologie feit Schleiermacher geneigt ift, auf bie: felbe af6 bie fpezifiſch chriftliche Erkenntnißweiſe zu podjen. Ohnedies ift befannt, bag bie Grumderfcheinungen und Haupt: formen diefer Devotion affe auch fchon der Urzeit der Kirche angehören, bei Auguftin 3. B. aufs Weitläufigfte referirt werden. In ihnen alfo wenn in irgend etwas muß fidj eine gemein diriftfidje imb. glänbige Erfahrung aussprechen.

Rad) diefen allgemeinen Bemerkungen über die Sym⸗ boli! und ihre Aufgabe überhaupt, greifen wir num die Baupt- fählichften loci ber Symbolik heraus, nicht um uns in ein ausführliches Detail einzulaften, ſondern, . indem wir bei unfern Lefern die Belammtichaft mit den Controverspunkten voraudjeGeu, möchten wir mehr nur auf bie nod) objchweben- den Mißverftändniffe katholifcher Lehren aufmerkſam machen, die controverfen Fragen richtig jtellen, für eine und andere vielleicht aud) mit bem SBerftánbniB bie Berftändigung erleich- tern, den Zufammenhang der einzelnen bogmatijdjen Lehren berausftellen, bie dem katholiſchen Symboliker nod) zu (ofen-

Studien Über die Grundfragen der Symbolik. 609

den Aufgaben aufzeichnen, in einzelnen Punkten auch bie uns vorjchwebenden Löſungsverſuche andeuten.

2) Zur Lehre von der Kirde unb ber Tradition.

Wir beginnen mit ber Erörterung diefer Frage bep. wegen, weil mir hier den tiefftem und letzten Trennungs⸗ grund be8 Proteftantismus erkennen. Auch Neander (in feinen nachgelafjenen und von Meßner 1863 herausgegebenen Borlefungen über Katholicismus und Proteftantismus) geht bei feiner Erörterung der „Grundprinzipien der Gegen[áge" zunächſt von dem nämlichen Gedanken aus: das Grund- princip des Katholicismus [εἰ vielleicht ba8 Princip von der Kirche (€. 27) und meint: „Wlerdings ift died ja der Grundartifel, auf dem das ganze Dafein des Katholicismus beruht“. Er weist im Befondern darauf hin, daß nicht der materielle Irrthum, fondern die Auflehnung gegen bie Kirche ben üretifer mache unb umgefefrt: „wenn ein Prote- ftant zur Tatholifchen Kirche übertritt, [o gebt e8 bei ihm von biejem Punkt der Anerkennung der Kirche aus, srft dadurch fanum fein Webertritt entjchieden werden" (S. 28). Er füft zwar diefen Gedanken fofort fallen, weil er ftatt des bloß negativen Princips der Auflehnung gegen die vors bandene Kirche ein pofitives (udjt, aber dennoch tritt unſer Gedanke wieder in feiner Formulirung des Hauptgegenfages heraus: „unmittelbare Beziehung des religiöjen Bewußtſeins zu Chriſtus“ einerjeits, und auf der anderen Seite: „Ddiefe Beziehung beruhend auf ber Vermittlung burd) eine äußer⸗ fide Kirche“ (S. 30). Bon Chriftus alfo, näherhin bem Wert feiner Erlöfung und Offenbarung ift auszugehen und die Frage ijt bie, wie e8 mad) Chrifti Willen vermittelt werden joll.

61% fiint,

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Wir von umjerm fatfo(ijdeu Ctanbpunft ans aniwer- tem: barf die Stiftung der Kirche, meídyr ber Herr jeime Echte zu fieter Berfündigung, jeine Saframıente zur rechten Berwaltung auvertraut Bat und der er zum rechten Rollzug ziefer ihrer Aufgaben dem BÍ. Geift verheißen und verfichen hat’). Die ganze weitere Zchre vom der Kirche, bie jog.

1) Ganz fai$elijd ijt bie Art und Weije wie von Debler ©. 220 bie Aufgabe der Rirde bejimumt wird: Die Nice „ift coetus

Studien über bie Grundfragen ber Symbolik. 611

Ekkleſiaſtik, ijt dann mur bie weitere und, mie auch prote: itantifcherfeits in der Negel, ja mit einem gewiljen trop de zéle erflärt wird, bie conjequente Entwicklung dieſes fatholifchen Formalprincips. Gegen jenen Cat alfo Bat bie protejtantijdje Polemik ihre Spige zu richten und nicht gegen die Entfaltung desſelben, bie ber Natur der Sache nad) mit äußerlich juridifchen Elementen zu rechnen hat, die der Ver⸗ tfeibigung immer eigenthümliche Schwierigkeiten, ber Polemik ein bequemes Operationsfeld bieten. Und volllommen be: weifen kann und will ja bie chriftliche Dogmatik kein Dogma auch das von der firdje nicht, auch mir bekennen gleich Zuther und betonen mit ibm: „Ih glaube an eine Hl. katholiſche Kirche“. Alfo aud) mit dem Hinweis auf die bem Proteftantismus gehäffig erjcheinende Folgerung: extra ecclesiam nulla salus dürfte nicht viel ausgerichtet fein. Wie weit bie Aufftellung diefes Axioms zurückgeht, hat aud) Neander (a. a. DO. ©. 186) hervorgehoben und mit gewalt⸗ thätigen Mißdeutungen desjelben, wie fie Delitfch beliebt, it ja fachlich bod) nicht δαϑ Mindeſte ausgerichtet 1). Eben»

vocatorum, eine Heildanftalt, welche αἵ joldje eine pädagogiſche Aufgabe hat, nemlich bie Aufgabe, bie communio sanctorum mit: telft der Gnabenmittel fortwährend zu erzeugen”.

1) Um nod) einmal auf ihn zurüczufommen, fo argumentirt er ©. 44 folgendermaßen: „Man frage nur im Grnfte bie, welche auf römischer Seite von einer unfichtbaren Kirche reden: Kann jemand Glied der unfichtbaren Kirche fein, ohne ber fichtbaren Papſt⸗ firche anzugehören? Antworten fie mit Ja, fo ftehen fie nicht auf römifchem jonbetn auf proteftantifhem Standpunkt. Antworten fie mit Nein, jo wie fie e8 von ber Selbftverabjolutirung ihrer Kirche αὐ thun müffen, fo ift ihre Untericheidung zwifchen fichtbarer und unfichtbarer Kirche .... nur eine unrebliche llebetbedung bes ma: terialiftifchen Kirchenbegriffs des Romanismus“ u. f. f. D. überſieht im Eifer gleich die getauften Kinder der Häretiker, die er uns doch

612 Knittel,

ſowenig darf aber auch der richtige Sinn jener Sätze über⸗ ſpannt und damit alterirt werden, wie bie8 bei Dehler der Fall ift (S. 72): „Auf Tatholifcher Seite gilt, daß wie ih zu dem äußern Kirchenverband ftehe, id) zu Gbrijto ftehe, auf evangelifcher Seite gilt, daß ich ein Tebendiges oder tobte& Glied des kirchlichen Verbands bin, je nachdem ih zu Ehrifto [tefe^. Als ob bie Tatholifche Kirche die Unterfheidung von lebendigen und todten Gliedern der Kirde nicht ebenfalls fennen und in diefem Sinne die Unterſchei⸗ dung einer fichtbaren und unfichtbaren Kirche ebenfalls an. erfennen würde, vgl. Oehler ©. 203°). Somit fann aller- dings die katholiſche Kirchengefchichte von einer Zeit der Pornofratie reden, aber „die Möglichkeit, daß die eigentliche Braut Chrifti zur Hure geworden“, ift auf diefem Stand- punkt nicht vorhanden.

Ebenſo deutlich möchte jet bie Hinfälfigkeit der Unter ſcheidung zwifchen Katholicismus und Proteftantismus εἰς fcheinen, als ob (egterer den Gläubigen in ein ummittel- bares Verhältniß zu Ehrifto bringe, er[terer zwifchen Chriſtus

©. 58 „gönnt”, aber aud) die freilich von ihm als inconfequent ver: worfene Beftimmung Pius IX (&. 80) unb die ebenfall8 bon ihm verworfenen Erklärungen ber Theologen über materiale unb formale Häreſie. Die von ihm gejtellte Frage tjt alfo allerdings mit Sa zu beantworten, für bie nähere Begründung aber ijt auf die Dogmatik zu bertveifen, welche ja bie Taufe ber Häretifer anerkennt und in bet vollkommenen Reue eventuell ein Mittel findet, aud) ohne Empfang be8 Bußſakraments feiner Wirkung theilhaft zu erben.

1) Au Hofmann 1. c. €. 27. Anm. 7 überficeht ben Unter: ſchied zwiſchen bem Sag, bap die Kirche der von Chrifto eingejegte ordentliche Heildweg [εἰ und dem andern, auf meldjem Wege Gott außerorbentlicheriveife fchulblos Sytrenbe ohne bie mittelbare oder unmittelbare Thätigleit ber Kirche eventuell zu retten bermöge.

Studien über bie Grundfragen ber Symbolik. 613

und den einzelnen die Kirche ftelle. In ein unmittelbares Verhältniß zu Chrifto kann feit der Himmelfahrt Gbrijti niemand mehr treten. Die Frage ift alfo von vornherein zu Gunften irgend einer Vermittlung zu ftellen: ber Pro- teftantismus findet diefe Vermittlung in dem von beam Wirken des Hl. Geiftes begleiteten unmittelbaren Eindrud be8 Bibelworts auf feine Lefer und Hörer, der Katholicismus in der von Chrifto geftifteten und feinem hl. Geifte geleite- ten Kirche. Gbenfomenig ift der Vorwurf auf Verfälfchung des biblifchen Gotteswortes durch rein menſchliche Zufäte principiell berechtigt. Die Tatholifche Kirche berühmt fid) ja zu Gunften der Reinerhaltung ihrer Tradition der Affiftenz desjelben Hi. Geiftes, bejjen Erleuchtungstraft aud) ber Pro» teftantismus zu Gunjten des gläubigen Bibelforfchers im Anfpruch nimmt (Neander a. a. Ὁ. ©. 70. 97). Ins⸗ befondere aber möchten wir zu Gunften des Tatholifchen Sra» ditionsprincips, gegen deffen Broteusgeftalt (vgl. 3. B. Oehler €. 263) fo viel gejagt worden ift, hier nod) eine Bemerkung einlegen: Nimmt man einmal an, Chriftus habe der Kirche den ganzen Schat feiner Offenbarungen Hinterlaffen und kommen dieſelben durch die berufenen und befühigten Träger und Organe derflirche wirklich zum Ausſpruch unb Ausdrud, jo erfcheint al8 unmittelbare Quelle des Glaubens für ben Einzelnen offenbar die amtliche Tirchliche Lehrverkündigung. Die Kirche weiß den Schag ber Offenbarungen in Ehrifto niedergelegt zum Theil in der Schrift als der gefchriebenen, daneben aber auch in der ungejchriebenen Weberlieferung. Aber weder diefe nod) jene laſſen fid) von der Kirche als ber vom Hi. Geift befähigten Vermittlerin trennen, ba e$ fid ja nicht nur um den Buchftaben, fondern aud) um den Sinn von Schrift und Weberlieferung handelt. So erklärt Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IV. 40

614 Ruittel,

es fi, menn man unter Tradition amdj ben jog. .firdy- dn €inn^ verjicht, oder bie Art imb Zeile, wie δὲς Schrift und Ueberlieferung von der Kirche jemeifig ausge⸗ legt umd verftanden wird. Die 9Wujfajjungen ber Tradition bad im Sinne der Gejammtoffenbarung des Herru, bat im Gegenjag gegen die Echrift, bald als Bezeichnung für die kirchliche Lehrauffaſſung find nicht fid) wechieljeitig aus fchließende fondern vielmehr einander zutreibende unb er gänzende Momente‘). Der Nachweis, dag fid) biejer innere Zufammenhang ber Momente audj dogmenhiftoriich recht⸗ fertigen faffe, gehört nicht bieber, bier glanben wir, gemügt e$ nadjjumeijen, bap bie hier vorliegenden Tirchlichen Bor- ftellungen fif) confequent aus der katholiſchen Anfchauung von der Kirche erklären.

Cft die Kirche alfo, darum dreht fid), mie wir meinen, der eigentlihe fundamentale Gegenfat von Katholicismus und Proteftantismus, bie von Gott berufene unb mit jeinem GSeift verfehene Vermittlerin der. chriftlichen Heilsgüter ? Und um zunäcft bei dem Einen ftehen zu bleiben: Sit fie die berechtigte und befähigte Nermittlerin der Offenbarung Chriſti? Der Proteftantismus antwortet mit Nein umb verweist auf ba8 Wort Gottes in der Hl. Schrift. Nun muß er fid) aber affe die Einwendungen gefallen Laffen, die die Tatholifche Polemik fchon bei Irenäus und Zertullian gegen das Schriftprincip erhoben hat (vgl. die ausführlichen Crürterungen in Kuhns Dogmatif TI. Aufl. I. 42 ff.) unb feine Zurückweiſung derſelben möchte wohl ſchwerlich als

1) Damit erledigt fid) bie hauptſächlich auf bas lLeberjeben bieje8 Punktes geſtützte Polemik Voigts gegen ben Begriff ber Zra bition in feiner „Zundamentaldogmatil" €. 630—694.

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Studien Über die Grundfragen der Symbolik, 615

gelungen erfcheinen, folange er nicht gezeigt, daß das Bibel⸗ wort volljtändig bem Zwecke genügt, Chrifti Offenbarung einem jeden vollfommen, deutlich und beftimmt kundzuthun. Dem Proteftanten wird e$ vielleicht nicht fo leicht, fid) ganz bie Tragweite unb Bedeutſamkeit biejer Frage vorzu- halten, welche diefelbe für den Katholiken hat. Ge ijt zufeßt dasfelbe Intereſſe an der Sicherheit unb Sicherftellung des Heiles, das den Katholifen eben nur hier an diefem Punkte [fon bemegt, wie e8 ber Proteftant der Frage von bem rechtfertigenden Glauben gegenüber in fid) vorfindet !). Und das führt nun noch tiefer in den hier gähnenden Gegenjat der Auffaſſung hinein. Dem älteren Proteftantismus zufolge genügt als Quinteſſenz der gläubig feitzuhaltenden, in ber Schrift mit der größten Beftimmtheit und Klarheit aus- gefprochenen Glaubenswahrheiten eben das Materialprincip ber proteftantifchen Kirche: „der Menſch wird auf Grund des SBerbienjte8 Chrifti vor Gott gerecht allein burd) ben Gíauben^ (vgl. Hofmann a. a. Ὁ. ©. 282. Anm. 16) und ebenjo zeigt die Unterfcheidung von articuli principales und minus principales daß der Proteftantismus Teines- wegs mit und das Bedürfniß fühlt, zu fordern, daB von Gfrifto für bie ftetige unverfälfchte Weberlieferung feiner Gefammtoffenbarung gejorgt worden fe. Das aber ift

1) Lipfius in feiner Dogmatif €. 631 madt einmal mit Recht darauf aufmerkſam, daß ber Proteſtantismus die Rechtfertigung be Cünbet8 immer nur innerhalb ber Kirche vorgehend fid) vente. Wie alfo ber einzelne in dieſe Kirche bineingerathen bezw. hineinzubrin- gen ift, darüber war fid) der ältere Proteftantismus, der feine Ans bünger lebiglid αὐ der beftebenben Kirche rekrutirte, nicht far. Wie fid) derfelhe überhaupt anfänglich zur Heidenmiffionirung ftellte tejp. dagegen erflärte, darüber vgl. Grant, Gefchichte ber prot. Theologie II, 120.

40 *

616 $niltel,

nnjer Standpunkt, und ftellt fif bie obem geftellte Frage uns unter diefem Gefidjtepunft bar, will t8 ums nicht im den Sinn, daß irgend eine biejer Dffenbarungs ideen Chrifti folle auf den Boden gefallen fein. Und wit unwillkürlich wirkt diefe Auffaffungsweife ber Sache aud auf bem Protefiantismus ein, da er jedem fo viel möglich bie BL Schrift in ihrer urjprünglichen Reinheit bis auf den Buchſtaben erjchließen möchte unb gegen die „Authencität“ der Bulgata eine fo fchneidige und Scharfe Polemik führt.

Andererjeits wird der Proteftantismms fid) der Aufgabe zu unterziehen haben, madjgumeijen, daß auf Grund feines Formalprincips wirklich von Chrifto zu aller Zeit in aus- giebiger Weife für jenes SHeilsinterefje des Menſchen in feinen Sinne Sorge getragen worden fei.

Cnbfid) um die Frage auf ihre äußerfte Spige Hinaus- zudrängen, werden wir an ihn die Frage zu ftellen Haben: Iſt e8 mit ber Idee Gottes als des Allvorfehenden, Alt- mweifen und abfolut Mächtigen vereinbar, daß er das Gefchenf feiner Offenbarung , feine Wahrheit und Gnade im der Weiſe menfchlicher Wilffür und Verkehrtheit überließ , daß nach und nad) feine Kirche mehr die wahre ift, alle Wahr: heit und Irrthum gemifcht übermitteln, die eine mehr, die andere weniger Gnadenmittel beſitzt und verwaltet 1) u. dgl. Das ijt das „Rüäthfelhafte” in ber Annahme eines fpätern Vorfalls ber Kirche, wie Thierſch (Vorlefungen über Katho⸗ licismus und Proteft. 2. Aufl. &. 107) e8 aud) willig an-

1) Der letztere Punkt füllt für den Proteſtantismus weniger in’8 Gewicht, weil ibm das „Wort“ daß erſte, vorzüglichfte und bauptfächlicäfte Gnabenmittel ijt. Eben weil in ber Kirche alle Gna⸗ ben: unb Heilgmittel überhaupt niedergelegt jind, wird fie von katholiſchen Dogmatikern gern als Grundjaframent gefaßt.

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 617

erfannt Bat, eine Löfung wird man freilich bei ihm fo wenig a(8 bei einem andern proteftantifchen Symboliker finden. (6 liegt nahe, diefe und derartige Fragen al® gar zu ſehr & priori geftelit einfad) zurückzuweiſen, etwa wie nicht felten gejchieht mit Hinweis auf ba& Schidjal, welches die altteftamentliche Offenbarung in den Tagen ber Entartung des Judenthums zur Zeit Chrifti befahren mußte. Uber an eine fürmliche Verfehrung der altteftamentlichen Lehre unter den Händen ber Schriftgelehrten und Pharifüer zu denken, verbietet das Wort bc& Herrn: „Auf den Stuhl Mofis haben fid) gefett bie Schriftgelehrten und bie Phari- fer. Alles nun was fie immer eud. fagen, haltet und thuet“ (Statt). 28, 2.3.). Aber die Ver» derbniß der mojaijd)en Offenbarung jelbft einen Augenblic angenommen‘, jo müfjen mir die Analogie felber als ungue treffend bezeichnen: e8 handelt fid) ja nicht mehr um bie unvolllommene mofaifche Offenbarung und Ordnung, bie vervollkommnet bezw. abgetfan werden müßte, ἐδ handelt ih um die polífommene Offenbarung be8 Heils in Chrifto, die der ganzen künftigen Weltzeit in bdiefem ein für affemot erichienen und gegeben ift ?). Und wieder fragen wir, ift

1) Um bie nicht gu bejtreitenbe Berriffenheit be8 gegenwärtigen Proteſtantismus gegen katholiſche Angriffe zu beden, verfteigt fid) Deligfh einmal (S. 49) zu ber der Tübinger Schule entlehn« ten Behauptung: daß es „uechriftliche Lehrdifferenzen” von noch fundamentalerer Bedeutung gegeben babe al8 die welche gegenwärtig im Proteſtantismus beftehen. Ob fid wohl D. auch der Gonfequengen dieſes Cages bewußt geworden? S. 288 drüdt er fid) wirklich viel dorfichtiger au8. In ber That wenn man nicht wenigſtens bet Ur: ἥτε gegenüber mit der Kritit Halt macht, dann verſinkt man mit bem Rationalismus (n8 Bodenloſe unb bie Polemik hört auf, eine bloß interconfefftionelle zu fein.

618 Sniitet,

für bie Nealifirung der Zwede diefer abſchließenden und voſſtommenen Offenbarung hinreichend Sorge getragen ? Wir glauben, bieje Frage bejahen zu Tonnen, indem wir auf die Stiftung der Kirche Dinmeijen unb nun jelbft- verftändlicher Weife aus ber dem Proteftantismus mit und gemeinfam als göttlich und infpirirt anerfaunten. Dffen- barungsurfunbde der Schrift diefe Stiftung felbft nachwei- ſen. Auch die Qebre von ben jog. Kennzeichen der Kirche ift keineswegs fo rein äußerlich zu fojfem und darzuftellen, wie dies die proteftantifchen Symboliker (vgl. 3. B. Dehler, €. 203 ff.) thun: vielmehr müffen jene Kennzeichen der wahren Kirche aus den Offenbarungszweden felber abge- leitet werden, follen fie wirklich den ihnen zugemutheten Dienft [eiften. Eine jode Beweisführung ift aber fo wenig 3.8. principiell zu beanftanden, a[8 bie apologetifche DBeweisführung zu Gunften der chriftlichen Offenbarung überhaupt. Die ganze wiffenjchaftlich-npologetifhe SBemüb: tung der praeambula fidei geht ja nie darauf aus, jelbjt Glauben zu erzeugen; weil aber ber wirkliche Glaube der, obwohl principaliter und primo loco ein Gnaden⸗ geſchenk Gottes, bod) aud) freie fittliche That des vernünf- tigen Menfchen ift, fo bleibt jener ihre Bedeutung, auf diefe fittliche Selbftthätigkeit des Menſchen einzumirken. Die von den proteftantifchen Symbolifern als Kennzeichen der wahren Kirche angegebenen: „gefunde Lehre des Evan- geliums unb vechter Gebrauch ber Saframente” enthalten doch bie offenbarfte petitio prineipii und die lutheriſche Betonung des Artikels: „ih glaube an eine Df. apofto- fiíde unb katholiſche Kirche“, um diefes feit Quther immer wieberfehrende Sophisma doch auch gelegentlich zu berühren, Schließt eine wifjenfchaftliche Beweisführung fo wenig aus

Studien über bie Grundfragen ber Symbolik. 619

al8 irgend einer der andern 12 Artikel des apoftolischen Glaubensbekenntniſſes )). Und muß nicht aud) der Pro- teftantismus und hat er von Anfang an fid) ernftlich an die Aufgabe gemacht, fi in feiner Iutherifchen wie reformirten Form als die wahre Kirche zu ermeifen ? Dehler freilich meint (S. 236): „die evangelifche Kirche . fordert einfad): Verſuch's mit dem göttlichen Wort und mit dem Saframent, welches dir die evangelifche Kirche bietet, ob fie bir fid) [egitimirt af8 bie den Weg zur Wahrheit wirklich seigenbe". Kann man ein foldhes Gíau- ben „auf Probe” anders als irrational nennen, wofern man nicht an eine Alleinwirkfamkeit der Glaubensgnade denft? Und mie, benft Oehler dabei aud) daran, daß Muhamed und Buddha gerade fo gut diefelbe Forderung ſtellen könnten? Wenn Oehler weiterfährt (S. 236 f): „Sie (bie evangelifche Kirche) begehrt alfo feine andere Legitimation als diejenige, burd) welche fid) ber Herr bem Petrus Tegitimirt fatte, ba diefer ſprach (Syob. 6, 68 f.): „Herr wohin follen wir gehen? Du Haft Worte bes ewi⸗ gem Lebens und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bift Chriftus, der Sohn des febenbigen Gottes”, fo über. [et er, daß der Herr fid) allerdings auch burd) Wunder legitimirt Bat und auf diefen Wunderbeweis als den allen Unglauben eigentlich evt verbammenben Beweis aufmerfjam gemacht Hat. Und aus Zeichen, „welche dem natürlichen Menfchen imponiren“ (vgl. Oehler a. a. $O), muß ja jede Theorie der Offenbarung, jede Apologetit des Chriſtenthums, wie felbft Rothe zugegeben Dat, die Göttlichkeit des Chriften-

1) Reiff (€. 218) nennt ja bie Kicche geradezu „das katholiſche Geniralbogma". Alſo Dogma!

620 Knittel,

thums und aller ihm vorausgehenden Gottesoffenbarungen zu erweiſen fuchen.

Nochmals affo: in der Lehre von der Kirche Liegt der principielle Gegenfat von Proteftantismus und Katholicie- mus und die endgültige Löſung biefer Frage bat von den . Zwedten ber Offenbarung auszugehen wnb zu zeigen, ent meber wie biefe in der Stiftung der Kirche verwirklicht er Scheinen oder wenn nicht, wie fonft für ihre Realiſirung vot Gott geforgt worden ijt. Die Lehre von ber Vermitt- fung ber Offenbarung in Chrifto hängt αὐ 8 Innigſte mit ber Frage von ber Göttlichkeit diefer Offenbarung ſelbſt zufammen, ja Sein ober Nichtfein der letztern wird am Ende für das con[equente Denken von ber Beantwortung . ber erftern Frage wejentlih mit abhängig fein *). Ober ift e8 nicht die Klage aller chriftlichen Mifftonäre, baf bie confe[fionefíe Gefpaltenheit der chriftlichen Neligion das Haupthinderniß ihrer Ausbreitung, daß das erfte Argument gegen bie Wahrheit der chriftlichen Lehre feitens ihrer Zu: hörer der Hinweis auf die ftreitenden SSerfünbiger fei? Daß der Nothbehelf der neuern gläubigen Theologie, bit Lehre vom Fünftigen taufendfährigen Neich, diefem wie Reiff (S. 587) fid) ausdräct, „unerläßlichen Boftulat der fit»

1) Es madjt immer einen vielleiht von unferm Tatholiichen GCtanbpunft aus erllärlichen peinfiden Eindrud, den proteftan: tifchen Apologeten eine jo lange Reife gemeinfamen Weges mit bem Tatholifchen ziehen, den gemeinjamen Kampf gegen ben Ra tionali8mu8 durchfechten zu fehen, bi8 im Nu mit bem Hingang Chrifti, bie Wege außeinandergehen, bie bi8berigen Freunde Feinde, bie bißherigen Feinde Freunde werben. Die proteftantifche gläubige Kritik geht mit der ungläubigen Hand in Hand in ben Tragen über die Geſchichte des Chriſtenthums, erſt vor ber Perſon des Gr: löſers macht fie ehrfurchtsvollen Halt!

Studien über die Grundfragen. der Symbolik. 621

hengefchichte”, „ber einzig tröftliche Abfchluß ber Sym⸗ Dofif^, aud) wenn fie nid)jt von unfrem katholiſchen Stand- punkt von vornherein als verwerflich zu erachten wäre, gegen die beregte Schwierigkeit nicht auflommt, brauchen wir nad) dem Geſagten weiter nicht mehr zu erörtern.

3. Zur Lehre von ber Gnabeunb Rechtfertigung.

a. Die Lehre vom Urſtand.

Es ift eines der Derdienfte der nadenlehre von Kuhn, wieder mit bejonberem Nachdruck auf bie hier obs ſchwebende (Grunbbiffereng aufmerffam gemadt zu haben (vgl. insbef. ©. 286 ff.) und wir fünnen uns befmegen unter ausdrüdlichen Verweis auf feine meifterhaften poles mifcher Ausführungen um fo kürzer faffen, obgleich mir allerdings eine Berückſichtigung berjelben bei unfern neuerm Symbolifern vermiffen. Delitzſch Hat fid) in bem Oehler⸗ hen Buch (€. 361) mit dem kurzen Verdikte begnügt: „Ohne Zweifel hat Kuhn die Lehre feiner Kirche ent[tefít". Gehen wir alfo auf bie objchwebende, unſeres Erachtens wejentfidje Differenz im engen Aufchluß an Kuhn's Dar⸗ ftelung nur in etwas anderer Weife ein.

Der Proteftantismus weiß von Gnade nur unter ber Borausfegung ber Sünde zu fprechen. ALS göttliche Eigen- haft muß er fie alfo faffen im Sinne von Barmherzigkeit gegen den Sünder, in ihrer Bethätigung muß fie ihrem Grundweſen Nachlaffung der Sünde, Hinwegfehen über bie Sünde fein. Schon hier fiebt man alfo: e8 it keineswegs blos ein Wortftreit, wenn gegenüber dem Proteftantismus fatholifcherfeits von Gnade aud) dem mod) unverdorbenen jündelofen Menfchen gegenüber geredet wird. Gnade kann

622 Kittel,

alfo vorhanden fein auch ohne Sündennacdjlaffung unb war nad) Fatholifcher Anfchauung wirklich vorhanden und wurde verliehen dem erjten Menfchen. Seten wir nun bier vor- aus, was von feiner Seite beftritten wird, daß die Gnade ihrem Wefen nad) fein. Naturgeſchenk, fondern eine mora- lifche, in biefem allgemeinen Sinn übernatürliche Gabe ijt, jo muß von unferm Standpimft aus fie ihrem Inhalt nach von vornherein als Heiligungsgnade bejtimmt, die Kraft der Sindennadhlaffung Tann nur a(8 der Gnade ac- cefforifch gefaßt werden, Gnade fanm vorhanden fein und war vorhanden, ohne daß zuvor ba8 ber Heiligung ent: gegenftehende Hemmniß der Sünde aus dem Wege geräumt wurde, aber allerdings wo ſolches wie beim jetzigen Men⸗ iden vorhanden ift, Tann fie fid) nur bethätigen zugleich als Deifigenbe und redjtfertigenbe , Tetsteres indem ſie das der SHeiligung entgegenftehende Hindernig der Sünde aus dem Wege fdjafft und fo erft jene ermöglicht.

Giefegt, bie Lehre von ber urfprünglichen Gnade wäre damit erichöpfend dargethan, wie fie e8 in der That nicht it, fo fiepe fid) jelbft jo zeigen, daß bie Tatholifche 3Be- ftimmung ber urfprünglichen Gnade als eines Accidens Tei» ne8meg8 die ihr gemachten proteftantifchen Vorwürfe ver- dient. Adam, um nun die concrete Anwendung auf den erften Menfchen zu madjen, wäre neben feinen Naturgaben mit einer Neigung zum Guten, einem lebendigen Sinn für das Göttliche ausgeftattet gemejen. Diefe Gaben kann man bod) nicht olne weiteres mit Naturgaben im engern unb eigentlichen Sinn zufammenwerfen als Berftand, Wille, Gemüth sc, es wären moralijche, in biejem Sinn über- natürliche, ober der Naturmitgift gegenüber accidentelle Ga- ben gemejen. Der Ausdrud accidentell würde die Realität

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 623

jener Gabe jo wenig alteriven al8 derjelbe Ausdruck, wenn er von der Concordienformel auf die Erbjünde bezogen wird, in ihrem Sinne bie Wirklichkeit der Erbſchuld auf- heben fol. Und bod) bringt aud) Oehler ©. 358 wieder diefen Vorwurf (ebenfo 9üeiff ©. 160, deffen Darftellung über bie Fatholifche Lehre vom Urzuftand ein wahres Meufter - von Unflarheit und Ungenamigfeit ift), obgleich er nachher in einem eigenen Sen (S. 362 ff.) die „Mängel der evan⸗ gelifchen Lehre” hervorhebt. Als ob nicht bie menfchliche Natur vorhanden wäre ob mit ob ohne jene Ausjtattung, bie alfo nothmwendigermeife al8 eine moraliiche, übernatür- fide (im weitern Sinn), afjo accidentelfe gefaßt werden mug !).

Doc fajfen wir diefen Streit und ſuchen wir ung die protejtantifche Beſtimmung, bie justitia originalis gehöre zum Wefen be8 Menjchen, im anderer Weife ver- ftändlich zu machen. Wir fehen davon ab, daß Adam als Grmadjener nidt a[8 Kind ind Dafein trat und nehmen nun an, auf Grund ber fchöpferifchen Güte Gottes [εἰ er unmittelbar vom erjten Augenblic® feines Dafeins mit jener guten moralifchen DBefchaffenheit ausgerüftet gewefen, Die wir (da, wie aud) Dehler ©. 363 zugibt, von actuelfen Tugenden felbjtverftändlich die Rede nicht fein kann) oben αἰ Sinn, [ebenbige Neigung für das Wahre und Gute bezeichnet haben. Wir acceptiren alfo in diefem Sinn den Ausdrud Oehlers (€. 358): „Sie (bie proteftantifche Kirche) betrachtet die justitia originalis nebjt der Uniterb-

1) Wenn Dehler €. 362 die Nichtunterjcheidung von Natur und Perfönlichkeit im alten Iutherifchen Lehrſyſtem tabelt, fo bat et den richtigen Punkt getroffen, nur daß bie ganze Darftellung eine unklare ift.

624 Kittel,

fidjfeit al8 in dem göttlichen Ebenbild enthalten, demnach zum Weſen des Menfchen gehörig, a(8 concreata“. Der Mensch ift alfo fraft fchöpferifcher Segung von vorn herein und von Haus aus in alfmeg dafür ausgerüftet, burd) 93e thätigung feiner natürlichen Kräfte das ihm conaturale Endziel zu erreichen, Cybea(menjd) im vollen Sinn des Wortes zu werden. Einer weitern Gabe, eines fernern Accefforiums von Gnadenausrüftung bedarf er nicht. Soweit nun, fagen wir, hat ber Proteftantismus τοὶ unb wenn wir von lüberffüjjigen Schulcontroverjen abjehen, audj ber fatbolijdje Theologe gibt ihm vollfommen redit. Damit ift aber der Gegenjatg zwifchen proteftantifcher und fatfofijder Anſchauung nicht verringert, fondern gerade in's rechte Licht geftellt. Gerade nemlich jene proteftantijche Theſe ift nicht bie Tathelifche, fondern nur die Vorausſetzung ber Teßtern, burd) welche fid) bieje ſelbſt rechtfertigt. Von Natur aus, fagen aud) unfere Theologen mit dem Heiligen Thomas, ift der Menfc angelegt und vollkommen befähigt zur Crreihung des dieſem conaturalen Endziels, bie ganze bem Menschen hiezu verliehene Ausräftung fann mit den obigen Reſtriktionen als natürliche gefaßt werden, ijt alfo keinesfalls Gnade, unverdiente, dem einmal geſchaf⸗ fenen Menfchen nicht fehuldige Gabe. Aber und damit hebt der f(affenbe Gegenjag zwiſchen Proteftantismus umb Ratholicismus an, Gott hat dem Meenfchen eine höhere als die blos conaturale, eine jupernaturale, alle natürlichen Kräfte des Menfchen überfteigende Beſtimmung gegeben und ihn Diegu mit der entjprechenden Fähigkeit ausgerüftet, bie alfo ebenfalf8 weil die Tragweite ber natürlichen Kräfte de8 Menfchen überjteigend, im engern Sinn des Wortes

Studien Über die Grundfragen der Symbolik. 625

übernatürlich ijt )). Zu ſolchem Ziel den Menfchen zu erheben, war Gott bem von ifm gefchaffenen Menſchen⸗ wefen nicht fchuldig, ihm bie zur Erlangung desfelben nó» thige Gabe zu verleihen, ift alfo wirklich reine Gnade, freies, unverdientes Wohlmollen Gottes, die fid) dem Men⸗ ſchen gegenüber fozufagen felber überbietet. Das die fatho- (ijde Anfchauung von der urfprünglichen Gnade ebenſowohl wie von ber Erlöfungsgnade 3).

An diefem Punkte aljo ſetze die proteftantifche Polemik an, alfe andern Angriffe berühren nur Nebenpunfte. So 3. 3. ber auf Grund der pſychologiſchen Vorftellungen der fpätjcholaftifchen Theologen über den Naturftand des Men⸗ iden immer und immer wiederholte Vorwurf einer viel zu niedrigen Auffaſſung des reinen, lautern Menſchenweſens im fatholifchen Syſtem. Gegen fie bemerkt 3. B. Oechler (€. 361 f): „Eben barum fteht die dee des Menfchen im proteftantifchen Syftem höher als im rümijden. Ein Zuftand, ber nad) römischer Lehre nod) der natürlichen Be- ftimmtheit des Menſchen entfpricht, wird im proteftantifchen Syſtem bereit8 als ἀταξία und Korruption gefaßt.“ Dar-

1) Somenig handelt e8 fid bloß barum, bap, wie Sartoriuß (Soli Deo gloria p. 45) meint, die Gnade nur „mit: und nachhel⸗ fenb^ wäre, alfo „pelagianifch” mit „jemipelagianifch-fupernaturalifti- Idem Zufag”.

ὦ) Mit Unrecht findet alfo Dehler (€. 357) πα bent Vor: gange Schnedenburgerd in ber Zatholifchen Vorftelung vom Ur: ftande eine Annäherung an die Neformirten, bie, „wenn fie aud) den Katholiten gegenüber die Natürlichkeit des anerfchaffenen Eben: bildes fefthalten, doch immer geneigt find, bie wirkliche Bethätigung desſelben von einer gratia secunda, von einer zur Schöpfung bin zutretenden übernatürlichen Gnadenwirkung abhängig zu machen.” Die Unrichtigkeit diefer Behauptung erhellt aus dem oben Ausge⸗ führten ohne weiteres. |

626 $nittel,

über mögen Philofophen und Theologen ftreiten, ob dem reinen aber natürlichen, b. B. auf bie eigenen gottverlichenen Kräfte geftellten Menfchen der Widerftreit zwifchen Geift und Fleiſch, beſſer finnlichen Trieben und geiftigen Impulſen eigenthümlich fei, vielmehr darauf kommt alfe8 am: mag der mwatürfidje Menſch unb die Tüchtigkeit und Energie feiner Kräfte noch fo Hoch geftellt werden, er ift nicht ber erfte, von Gott mit der justitia originalis ausgejtattete Menſch. Eher könnte man noch jagen, e8 [εἰ ein blos (P) formeller Streit: der Katholicismus wie Proteftantie- mus feße das wirkliche, concrete. Ziel des Menſchen in bie unmittelbare Anfchauung unb den unmittelbaren Genuß Gottes, diejer Dafte den Menfchen als folden und geftügt auf feine natürlichen Gaben hiefür befähigt, jener dagegen ftelle eine folche Fähigkeit für das Gefhöpf als ſolches in Abrede, müſſe aljo eine bejonbere, weitere übernatürliche fBefüfigung des Menfchen für Erreichung jenes Zieles po. ftuliren. Und allerdings richtig ift, die ausgeführte Lehr- meife ift in ihrer vollen Entwidlung erft ein Werk ber firchlihen Scholaftit, bem doctor gratiae κατ᾽ ἐξοχῆν, bem HI. Auguftin ift fie, wie erjt neuerdings Ernſt (die Werke und Tugenden der Ungläubigen nad) Gt. Auguftin) ausführlich bargetfan Dat, fremd. Daß fidj ber Auguftir nijde und diefer einer fpätern Gutmid(ung der kirchlichen Dogmatik angefórige Lehrtropus nicht widerfprechen , hat Ernſt im-a. Wert vgl. bei. €. 225 ff. gut dargethau ἢ). Das Verkennen diefes Unterfchieds aber Bat allerdings in

1) Selbft Neander bat nicht perfannt, bag bie Grunblagen bet ſcholaſtiſchen Doctrin bei Auguftin gegeben find (vgl. €. 101 f.), und fie aus ber Polemik gegen bie beiftifche Gottesanfchauung bes Belagius abgeleitet.

Studien über die Grundfragen ber Symbolik. 627

der alten wie fpätern Scholajtit viel Verwirrung angeridj- tet und zu einer Reihe Fünftlicher Deutungen: Auguftinifcher Stellen geführt, gegen welche fid) bann bie Oppofition der Qteformatoren, be8 Bajus und Janſenius als Verfäljchungen Anguftins erhob. Doc davon haben mir nicht be8 meitern zu reden, vielmehr nochmals zu widerholen, daß wir bier in ber Lehre von dem übernatürlichen Charakter der Gnade an dem eigentlichen Divergenzpunkt proteftantifcher und fatholifcher Gnadenlehre angelommen find. Diefe Auffaf- jung der Gnade wirft nun ihr idt auf bie gefammte Rechtfertigungs- und Sakramentenlehre, ijt von hödjjter Bedeutung für die ganze Tatholifche Sittenlehre, jo nament- fid) auch die Lehre von den Räthen, rechtfertigt weiterhin die dem Proteftantisinus [o wenig faßbare Heiligenver- ehrung u. a.

Wir haben hier nicht die Aufgabe, eine fpeculative fung der Frage vom übernatürlichen Endziel und ber übernatürlichen Ausrüftung be8 Menjchen zu verjuchen. Nur gegen die Mißverftändniffe protejtantijd)er SBofemifer und Symbolifer haben wir jene Lehre zu verwahren, Mißver- ftändniffe die freilich in der Kegel erft an andern Lehr- punften hervortreten wie im der Lehre von ber Erbfünde, der Rechtfertigung, dem opus operatum der Saframente. Wir fommen auf diefelben je an den betreffenden Stellen jurüd, bemerfen aber int Allgemeinen fchon hier folgendes.

G8 liegt nahe, diefe Lehre von dem natürlichen und übernatürfidjen Endziel dahin zu mißverjtehen, daß man annimmt, ber Menjch habe gleichjam die Wahl, ob er nur nad) jenem trachte oder mit Hilfe der göttlichen Gnade auch ποῦ das [egtere anftrebe ; dann wäre aljo der gnade— beraubte jetige Menfch zwar nicht im Stande, fein über»

628 Kittel,

natürliches Endziel zu realifiren, aber bod) fein natitrliches, feine natürliche Seligkeit Tónnte er afjo erringen auch ohne Chrifti Erlöfungsgnade , diefe erjcheint nur beziehungs- weife, bedingungsweife nöthig, für den Fall nemlich, daß der Menſch aud) das übernatürliche Endziel erreichen foll. Das iff dann ber ber fatfolijdjen Graben - und Rechtferti⸗ gungéíeDre feit Luthers Tagen endlos vorgeworfene Pela- gianismus ober Semipelagianismus: ber Menjch fann felig “werden auch ohne Chriftus, bie Gnade Chrifti macht's bem Menſchen nur Leichter, jagt Pelagius, die Gnade Chrifti verfchafft ihm nur einen höhern Grad von Seligfeit, joll ber fatfolijd)e Theologe lehren. Schon dieſes Mißverſtändniß ijf nun von vornherein abzumweifen. Denn ganz abgefehen von der Tatholifchen Lehre von der Erbfünde, diefem alten aud) der natürlichen Seligkeit im Wege ftehenden Hemmniß, lehren alle fatfolijdjen Theologen, daß de facto, nuu einmal Gott dem Menſchen ein übernatürliches Ziel beftimmt und ihm die Mittel zur Erreichung desfelbe verliehen Dat, bem Menjchen nur Ein Ziel mehr zu erreichen möglich jei, eben das übernatürliche ἢ. Würde alfo Gott den Menfchen wie er konnte, ofne Gnade belafjen haben, jo wäre allerdings

1) Hieraus erhellt, was e8 mit dem Vorwurf Neanders (S. 106), der im Großen unb Ganzen jonft den Sachverhalt richtig bar[telli , aber biejen Punkt Üüberjehen, auf fid bat. „Wäre wirklich bie justitia originalis für ben Menfchen nur zufällig, [0 wäre aud) bie Erlöfung für ihn nur etwas Acceflorijches.” Und gerade ba8 limgefebrie von bem Gage be8 Sartoriuß (Boli Deo gloria €. 44) trifft zu: „Aus bem Abgang eines Übergerechten plus folgt ja noch nicht nothwendig ein ungerechteß minus unb der Verluft einer be[onbern Zulage nacht darum nicht zum Bettler”. Der Ab: gang ijt nemlich ein felbitwerfchuldeter und ber Menſch allerdings feinem übernatürlichen Biel gegenüber ein „vermögensloſer Bettler”.

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 629

fein. Ziel jenes natürliche gewefen, wie die Theologen aim. nehmen, eine aber immer nur mittelbare Erfenntniß Gottes und die andern ariftotelifchen Bedingungen natürlicher Selig- feit hinzugenommen, nun aber Gott einmal befchloffen, dem Menschen durch Verleihung feiner Gnade zur Grreihung des übernatürlichen Ziels, ber unmittelbaren visio et fruitio Dei zu verhelfen, bleibe nur mehr dies allein übrig, jede Verfehlung desfelben jchließt einen fchuldhaften Verluſt ber göttlichen Gnade alfo Sünde in fid) und fo fommt es, daß wer das übernatürliche Ziel nicht erreicht, aud) die natür- fife Seligfeit nicht gewinnt, fondern verworfen wird 1). Damit ijt num offenkundig allem und jeglichen Pelagianis- mus im fatfolijden Syitem Thür und for verriegelt. Diefer. Vorwurf ift unferes Erachtens fallen zu laffen und alle Kritit würde fid) eben nur. um bie Denkbarkeit jenes felbftverftändlich zulegt myſteriöſen 33erfültnijje8 einer über- natürlichen Beſtimmung des hiefür mit Gnade ausgerüfteten natürlichen Menfchen drehen. Die Scholaftif hielt fid) an Ariftoteles: bie Beftimmung, die er bem Menfchen gibt, die natürliche Cefigfeit, wie er fie befchreibt, wurde pon den Scholaftifern acceptirt: in der Tirchlicyen Lehre fanden fie ein höheres Ziel des Menfchen, eine anders geartete Cefigfeit dem Menſchen in Ausficht ge[tefít, eben deßwegen aber. auch von andern als bloß natürlichen Kräften geredet. Somit waren alle die Voransfeungen jener Lehrweiſe ges

1) Hieher gehört bie ſchwierige Schulfrage nad dem Schickſal ber ungetauften Kinder. Wenn viele Theologen ihnen eine Art natürlicher Seligfeit zufprechen, jo ift ihre Meinung nod) feineswegs bie, al8 ob auch ben Grmadjjenen ein folches Biel als möglich in Ausficht zu ftellen fei, bei biejen ift imnter die perfünliche Verfchul: dung zur Erbfünde binzugelommen. *

Theol. Quartalſchrift 1876. Heft IV. 41

630 Kittel, "

geben, bie mir im obigen explicirt haben: in ba8 über. natürliche Endziel ijt das matlirliche aufgenommen, von ber Kraft der Gnade werden alle Geiftesfräfte zu höheren Leiftungen befähigt, das ganze natürliche fittliche Leben Dat zugleich einen übernatürlichen Charakter.

Auch der andere Vorwurf proteftantifcher Polemik, der dem Vorwurf be8 Pelagianismus gerade entgegeugejette, kann vielleicht jetzt leichter verftändlich gemacht, wie wider: legt merben. Die übernatürfiche Kraft, welche bem Menſchen verliehen wird, ift etwas feine natürlichen Kräfte fchlechthin Ueberfteigendes, die Tüchtigfeit und Gite, welche die Gnade den von ihr berührten Seelenkräften verleiht, überjchreitet deren natürliche Leiftungsfähigfeit. Die Gnade löst nicht bloß bie im Menſchen bereit vorhandenen, aber jchlummern- ben fittlichen Kräfte, fondern fie verleiht benjefben darüber hinaus eine noch höhere Energie: der menſchlichen Natur fommt alfo, fo gewiß bie Gnade etwas Webernatürliches ijt, in diefem engern und eigentlichen Sinn nur eine fogenannte capacitas passiva zu, aus fid) und burd) fid) fommt fie nie zu jener höhern Leiftungsfähigfeit, fie muß ihr Schlechthin bon oben herab gejchenft, von außen herein mitgetheilt, εἰπε gegoffen werden. Iſt bem fo, jo [djeint bie Gnade dem Menfchen mur in ber änßerlichjten Weife gíeidjjam wie ein Gewand übergeworfen zu jein, der alte Iutherifche Vorwurf, fo wirft fie magiſch auf den Menfchen ein, ber neuere pro- tejtantijd)e Einwand, der freilich in der Kegel εὐ in ber Lehre von der Wirkſamkeit der Saframente ex opere operato erhoben wird, wogegen 3. 35. Reiff richtig ©. 164 f. bie allgemeinere Faſſung vorzieht, wenn cr der Tatholifchen Anſchauung „die áuperfidje, magische Vorftellung de8 Vers hältniffesg von Gnade unb Natur“ vorwirft. Der hiemit

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 631

erhobene Einwand wäre, mie man fieht, vollfommen richtig, wen mit feinen Vorausjegungen der Gefammtinhalt ber fatholijchen Gnadenlehre bereits erfchöpft wäre. Wir haben aber oben vorausgeſchickt, daß alle ftreitenden Parteien im Vornherein darüber einftimmig find, die Ginade [εἰ ihrem formellen Wefen nad) nicht als Naturgabe, fondern ale moralifche,, iibernatürliche im weitern Sinn zu faffen. Sit dem fo, fo fest fie beim Erwachſenen (vom Rinde fehen wir ab, da die hier objchwebende Schwierigkeit bei allen Parteien die gleiche ift), foll fie von ihm empfangen werben, eine ihr entfprechende freie Selbjtbethätigung voraus. Sie fann ihm nicht angethan, nicht umgehängt, nicht angezaubert werden, fondern er muß fie freiwillig aufnehmen, milfent(id) ihr entgegenfommen, jid) auf fie vorbereiten und für fie empfüngfid) fein. Ueber ba8 Wie diefer Vorbereitung reden wir Bier noch nit, daß aber eine foldhe im allge— meinten unerläßlich ift, ijt nunmehr wohl jefbftoevitünb(id). Frei alfo oder mie ber herkömmliche Ausdrud lautet: me- diante dispositione liberi arbitrii empfängt der Menjd) in der Gnade eine bie ⸗natürliche Leiſtungsfähigkeit feiner fittlichen Vermögen überfteigende Kraft, deren Bethätigung alſo ebenjo wie ihr erjtmaliger Empfang fort und fort an den freien Willensgebrauch des Empfängers gebunden ijt. Mag man das fchwierig zu denken und myſteriös finden, wir haben feinen Grund das zu bejtreiten, aber miberjpred)enb ift bieje Vorftellung nicht. Der Vorwurf des Paganismus wie des Judaismus erjcheint fomit als gleid) ungehörig und unberechtigt.

Bliebe mod) bie Einrede übrig: zu was biejer gauge Happernde künſtliche Begriffsapparat? Warum nicht bie einfachere proteftantifche Auffaffung der Cade? Zu was

41 *

682 Knittel,

diefes fünftfide Auseinanderhalten von natürlich und übex⸗ natürlih? Wozu diefe jedenfalls begrifflih, pom Scotifti- ihen Standpunkt aus aud) zeitlich nachfolgende Ver - und Nachbeſſerung an dem gejchaffenen Menſchen? Allein ohne tiefere Eingehen auf bie ganze Vorftellung eines natürli⸗ den und übernatürlichen Endziels find folche Fragen unferes Erachtens rein müßige unb frheitern an der ſtreng logiſchen Geſchloſſenheit ber befümpften Begriffe. Die unmittelbare Anſchauung Gottes, diefes Ziel ber Stenjdjencreatur,, über: fteigt an fid) affe Kraft eines bloß gejchöpflichen, ſelhſt engli- hen Weſens. Alfo mußte Gott entweder dem rein. crea- türlihen Menfchen von jenem. Ziel ausſchließen, ober, ihm die Fähigkeit zur Erlangung desſelben nur, nachher, maj (logiſch) vorausgehender jchöpferifcher Setzung besjelben Der» leiden, aljo nur in biejem Sinn nad Thomiſtiſcher Anſicht, „anerichaffen“ ? Dazu verpflichtet war er nicht, fo gemi jene Seligkeit außer. Verhältniß zur creatürlicden Genuß⸗ fähigkeit überhaupt ftand. Setzte Gott dennpdh, eine ſolche übernatürliche Seligkeit. bem Menſchen als Endziel. und ver⸗ lieh er ihm hiezu bie nothiwendige übernatürliche Kräftigung, jo mar das im Bollfinn des Wortes Gnade, freies, under. dientes Geſchenk Gottes. " jj e

b. Die Lehre von der Grbjünbe, —" N"

Die Lehre von der Erbfünde fteht im innigjten Zufam- menfang mit der Lehre von der urjprüngliden Gerechtigfeit unb injofern iff von vornherein Har, daß bie aufgezeigte Differenz im biejer Lehre aud) in der Auffaſſung der Erbfünde geltend macht. an

Wie fchon bei ber Lehre von ber Gerechtigkeit erfichtlic, find wir gerne bereit, die mehr formellen Schwächen der luthe—

Studien (über bie Grundfragen der Symbolik. 633

riſchen Symbole zurücktreten zu Yaffen und uns an die Faffung zu halten, in welcher die modernen Symbolifer bie altlutheri- schen Dogmen vortragen. Iſt bie anfängliche Ausrüftung de8 Menfchen nur eine. natürliche, fo kann für den Fall, daß man von Grbjünbe im Ernft redet, der auf Grund derfelden eingetretene Verluſt nicht anders a[8 bie Natur treffen unb fdjübigen. Unterfcheidet man num nicht zwifchen der menschlichen Natur als ſolcher und der dem concreten Menfchen berlichenen natürlichen Güte und Heiligkeit, [ὁ bekommen Möhler unb die Tathofifchen Symboliker Recht und der Vorwurf des Manichäismus, ber bei Flacius offen» fnribig heraustrat, ijt nidjt abzumweifen. Wird aber, wie bie proteftantifche Theologie durchgängig thut, wenigſtens an diefem Lehrpunft zwijchen menſchlicher Natur und Per⸗ ſönlichkeit, zwiſchen natürlicher Kraft und deren Neigung, Beſchaffenheit, Inhalt unterſchieden, ſo ſteht die Sache etwas anders. Nun bleiben dem Menſchen die natürlichen und darum unverlierbaren Kräfte der Erkenntniß und des Willens, aber die Kraft ſeiner Erkenntniß in göttlichen Dingen iſt, etliche Funklein abgerechnet, erloſchen, die Neignng des Willens zum Guten iff verſchwunden und at der verbotenen und verkehrten Neigung zum Böſen oder der Goncupi&ceng ἢ)

1) Wir machen bier auf eine eigenthlimliche Taktik ber pros teftantifchen Polemik aufmerkſam. Dan liebt e8 nemlich, den Be- griff eoncupiscentia gehörig herauszuftaffiren, das finnliche und jelöfttfche Trachten des natürlichen Menfchen recht grell auszumalen und macht dann dem fatboliciàmus den Vorwurf, blefent fittlich jo tiefftehenden Suftanb den Charakter ber Sündhaftigkeit abzu⸗ ſprechen. Ganz mit Unrecht, bie Trage wäre bie, ob jener Sujtanb, den auch wir als möglich zugeben, bloß Folge der Erbſünde, ober ein erft Durch perfönliche Sünde berbeigeflihrter if. Wenn bagegen eine förmliche Fortdauer ber Copcupiscenz im Gerechtfertigten ge:

654 Knittel,

Pla gemadt. Eo denn aud) Oehler, der willig die über: triebenen Ausdrücke Luthers anerkennt und fie aus dem Gegen íag gegen die fatholifche Auffaſſung entſchuldigt (6. 371).

Anders die Fatholifche Auffaffung der Grbjünbe, bie fi) übrigens feine&meg8 vollfommen qusfchließend gegen die proteftantifche Auffaffung verhält oder wenigſtens verhalten muß. In Folge der eríten Siinde büßten Adam und in ihm alle feine Nachlommen ohne weiteres die übernatürlichen Gnadengaben vollftändig ein (spoliatus in gratuitis) aber auch, das ift wenigitend die gewöhnlide Annahme, die natürliche Güte be8 Menfchen ward zwar nicht aufgehoben, aber bod) gefhwächt und vermindert (depravatus oder vul- neratus in naturalibus).

Bleiben wir gunádjjt beim Erftern a(8 dem von allen ohne Ausnahme als Hauptſchaden anerkannten Verluft- ftehen und fügen wir nod) Ding, daß biejer Verluft αἰ irgendwie bem Menſchen zur Schuld anredjenbar, alfo als Siinde, nad) katholiſcher Anſchauung gefaßt werden muß, fo erhefft ohne weiteres die Nichtigkeit aller alten und neuen Vorwürfe, bie auf Verfennung der Erbfünde im Fatholifchen Syfteme lauten. Es handelt fid) nicht bloß mie Dehler meint (S. 379), um „die Entfleidung der naturalia von einem ihnen umgehäng- ten Schmud“, der gnadeentblößte Menſch ijt aufer Stande und zwar abjofut außer Stande, das ifm vor mie nad)

lehrt wird (vgl. Debler ©. 573), jo müffen wir unfererfeit3 auf ba8 Bedenkliche einer Theorie aufmerffam machen, bie verfuchliche Anwandlungen, an deren Auftauchen ber Menſch nach feinem eigenen moralifchen Bewußtfein nicht ſchuldig ift, nod) vor fie bie Suftint: mung be8 Willens gefunden haben , auf diefelbe Linie (wenigſtens dem Weſen nach) jtellt wie freigewollte unmoralifche Begehrungen. Unſeres Erachtens ijt damit die Gefahr fittlicher Gleichgültigkeit gegeben.

Studien Über die Grundfragen der Symbolik. 635

gebliebene übernatürliche Endziel zu realifiren ,. weder ijt ihm jeßt Statt des übernatürlichen ein natürliches Endziel gleichfam im Weg der Subftitution geítedt, noch auch könnte er behindert von ber auf ihm laftenden Erbſünde diejes wirklich erlangen und genießen. Und doch müffen wir aud) bei Oehler ©. 381 wieder lefen: „Alles natürliche Streben, [0 Dod) e8 unter den Menſchen geachtet und fo werthvoll e$ in jeiner Sphäre fein mag, reicht bod) nicht aud) nur annäherungsweife an die Herrlichkeit der Kindſchaft Gottes, zu welcher die menjchliche Natur gefdjaffeu und welche ihr in Gfrifto wiedergebragt ijt. Während die römifche Lehre den Gegenjag des Zuftandes des natürlichen Menſchen und de8 Gnadenſtandes abjchwächen will zu dem graduellen einer niedern und höhern Lebensvollkommenheit, ftellt die evan- gelifche Lehre nach der Schrift beide in qualitativen Gegen: fat als Finfterniß und Licht, Tod und Leben einander gegenüber, der römischen Lehre wirft fie vor, daß diefe bie Tiefe des Falles nicht zum Necht fommen lajje, aud) bie Wirkung ber Erlöfung verringere und bem Kreuze Chrijti Schmach anthue“. So verkehrt wie möglich, menigjten8 ſoweit e$ fid) um die Kritif der Tatholifchen Lehre Handelt, die gerade nicht einen bloß grabuelfen Unterjdjieb zwijchen Natur- und Gnadengaben annimmt und eben deimwegen allem bloß natürlichen fittlichen Streben des Menfchen endgiltigen Erfolg angefichts des geſteckten übernatürlichen Endzield abſprechen muß 1).

Schon hieraus erhellt die Unmöglichkeit, daß der ge-

1) Dies ift der Punkt, von wo aus fid) bie befannten Auguftini: Iden Sätze über bie Sündhaftigkeit der guten Werke der Ungläubi- gen wohl begreifen und rechtfertigen laffen. Vgl. Grnft a. a. D. Dejonber8 ©. 167 ff.

636 Knittel,

fallene Menſch in feinem jetzigen Zuſtand fid) ſelber erlöſen fünnte unb der Erlöſungsgnade Chriſti nicht bedürftig wäre: wie foll er das Hemmuiß ber Erbfünde aus dem Wege räumen, unb wenn, mie mit natlirfiden Kräften den Himmel erftürmen ὁ. Unmöglich.

Comit ijt ffar, aud) jene Theologen, welche das Weſen ber Erbfünde nur in bem verjchuldeten Verluft der urfprüng- lichen Gerechtigkeit ſetzen, haben fid) feinen einzigen der vielen proteftantifchen Vorwürfe verdient, wenn fie aud) den irre parabeln Schaden der Sünde Adams in etwas anderer Weiſe auffaffen als ihre proteftantiihen Gegner. Es fragt fid) min aber: nähern [1 diefelben oder wenigſtens viele bets jelben in ihrer weitern Ausführung der Lehre von der Erb- fünde, wie fie oben al8 die communis sententia der pro- teftantischen Theologen bargeftefft ijt? Hier num treten un verschiedene Richtungen entgegen.

Biele Theologen wollten, fefthaltend an bem befannten Ariom: naturalia post peccatum permanserunt integra von einer eigentlichen Schädigung der natürlichen Güte in Zolge ber Erbſünde be8 Menjchen nichts miffen. SDiefe, jofern fie feine perfónfidje That des mit ihr behafteten Menschen ift, erzeugt aus fid) nod) nicht bie Neigung zur MWiderfeglic)keit gegen das natürliche Gejeg, das finnliche Begehren des Menfchen ijt an fid) nichts Böſes, injofern ἐδ fid) aber im jeßigen Zuftand naturgemäß vor der Be: thätigung der geiftigen Zricbe und Strebungen vegt und erjtarft, erlangt es eine gewiſſe gefährliche Präponderanz n. f. f. Andere anfnüpfend an den gefeierten Df. Anguftin anerfannten auf Grund und in Folge ber Erbfünde aud) eine Schwähung der natürlichen Güte des Menfchen, die fid) afe fittliche Unfreiheit, Hang zum Verbotenen, Eon»

Studien fiber die Grundfragen der Smybolif. 637

eupiscenz Ὁ) geltend made. Selbftverftändlich nähert Tid) diefe Richtung in dem Grabe, als fie ble auch natürfid)e mora» liſche Unfähigkeit des Erbſünders fteigert, ber proteftantifchen, ohne (id) indeß je fomeit wie diefe zu verlieren unb. voit einer volfftünbigen moralifchen Verderbniß bes Erbſünders als jochen, von einer profunda et tetra corruptio naturae, totalis virium spiritualium carentia zu reden. Somit blieb ihnen und blieb insbefondere der erfteru Kichtung Raum genug für die Annahme der Möglichkeit natürlich guter Handlungen auch nod) des gefallenen Menſchen, Tonnten von den fcholaftifchen Theologen eine Reihe cafuiftifcher Fragen über die Tragweite der natürlichen Willenskraft des gefallenen Menschen, über die ihm möglichen „philofophifchen“ Tugenden aufgeitellt werden, morunter allerdings die fid) befand, welche bei Dehler (S. 380) fo ſchweres Nergerniß gefunden: ob der natürliche Menſch ans eigener Kraft Gott über alles Tieben fönne u. a. Die Theologen alle aber, aud) bie laxeſten, leugne⸗ ten trog eventueller Bejahung diefer und ähnlicher Fragen bie Erbfiinde keineswegs ?), wie Zwingli, ber beBungeadjtet bei Oehler (S. 383) ganz glimpffid) durchkommt, verfannten alfo nicht, bap jene fittlichen Thaten in der Wurzel verberbt feien wegen der fündebeladenen Perſon des Thäters und

1) Durchaus unrichtig ijt die Dehler’fche Behauptung (C. 379), daß bie römifche Lehre „die Sünde vorzugsweiſe auf ein Leber mächtigmwerden des finnlidjen Triebes" zurückführe. Lebteres ift den Theologen vielmehr bie Folge oder beſſer Erſcheinungsweiſe, das Materiale der Grbjünbe. |

2) Kölner, Symbolif IT, 299 behauptet daher nur, bap bie Seugnung der Erbfünde fid) als „Schlußfolge” aljo Conſequenz jener [agen Theorie herausſtelle, melche bie Grbjünbe bloß im Berluft ber Beiligmadjenben Gnade beftehen affe. Pighius batte biefé „Schlußfolge” allerdings gezogen.

638 | Kittel,

halten wie mit Einem Munde daran feft, daß zuletzt und ohne Eingreifen der göttlichen Gnade jene natürlich guten Werke, ebenfowohl wie bie proteftantiichen opera mere eivilia, doch fruchtſos (opera sterilia) wenigftens für die Ewigkeit bleiben. Der Fatholifhe Theologe ijt noch nad zuweifen, ber gleich Zwingli von einem ewigen Leben aud) der gerechten Heiden weiß, fofern bieje wirklich außer aller Beziehung zur Gnade Chrifti geblieben find.

Aber, und das ijt allerdings der bie ganze protejtan- tiiche Darftellung der Lehre von der Erbfünde beherrichende Gejidjtépunft, ift nicht bie proteftantifche Lehre um defjen- willen der katholiſchen vorzuziehrn, als jener zufolge der bie Deenfchheit in Adam betroffene Echaden ein viel tieferer und rabicaler ijt? Sunüd)ff nun wäre erjt. nachzuweifen, ob über Richtigkeit oder Unrichtigfeit einer Lehre ber gedachte ihr fremdartige Gejichtspunft der Beurtheilung überhaupt berechtigt ijt. Sodann irreparabel (für Menfchen) ift ber Schaden nad) fatolijdjer wie protejtantifcher Auffaffung, es handelt fid) nur um das Juwiefern. Und bier nun meinen wir, ftehen der protejtantijchen Lehre Schwierigleiten der ernjtejten Art entgegen. Soll wirklih meine ſchwerſte Sünde ein involuntarium fein? Läßt fid) auf Grund einer mir perfönlich fremden That eine völlige Verfehrung meiner natürlich guten Neigungen und Zriebe denfen 1)

1) Sicherlich ijt die Art und Weile, wie Sartorius ©. 18— 28 unb ©. 57 ff. den Zuftand des Grbjünber8 bejchreibt, eine in allweg übertriebene: er denkt bod) offenbar an bem Erwachfenen, bei bem es wahrhaftig nie bloß bei ber Grbjünbe geblieben ift. Daß der- jelbe in der von Sartoriuß gejchilderten Weiſe gejunfen fein fan, aber NB. durch perfünliche eigene Schuld, können wir zugeben, aber nothivendig ift biefe Verjunfenhett in ber Erblünde nicht ge- gründet.

Studien Über die Grundfragen ber Symbolik. 639

ft eine folche fiftorijd) unb pſychologiſch nachweisbar und nicht vielmehr das Gegentheil ? Iſt ber Menſch überhaupt nod) ohne Fortdaner jener geiftigen Kräfte, moralifcher Triebe voller Menſch unb nicht vielmehr nur mehr der Schatten unb Umriß eines ſolchen? Selbft die „Fünklein des Guten“ in ihm noch zugegeben, wird man fid) nicht verhehlen können, daß bie proteſtautiſche Auffaffung der Erbjünde ba8 Gcheimniß εὐ] vollfommen unergründlich und fatafiftiich granenhaft Dinjtelit.

c. Stetbivenbigfeit unb Wirkjfamfeit der Erlöfung im Allgemeinen.

Außer Stande, wie der gefallene Menſch ijt, das ihm vor mie nad) gejtedte übernatürliche Ziel zu erreichen und Gott wegen der Erbfünde und aí$ Erwachjener aud) wegen mie ausbleibender perjünlicher Sünden verantwortlich, müßte berje(be nothwendig verloren gehen, falls ihm nicht in GChrifto und feinem Erlöfungswerf Rettung angeboten würde. Die Nothwendigfeit der Erlöſung im fatholifchen Syſtem Tann alfo vernünftigermeife keinem Zweifel unter- liegen 1): uns handelt e8 jid) einmal nicht bloß um bie

1) Nur nebenbei die Bemerkung, daß e8 ein arges Mikverftänd niB der proteftantifchen Symbolifer (vgl. a. B. Debler ©. 398 1. und namentilch Sartoriuß, Soli Deo gloria ©. 67) ijt, wenn fie ber Lehre von der unbefledten Empfängniß Mariens den Sinn unter: (deben, al8 ob damit Maria überhaupt bon der Erlöfung Chrifti ausgenommen wäre. Daß ijt, mie der Hare Tenor bet betreffenden päpstlichen Bulle beweist, durchaus falih: um ber Erldſungsthat Ehrifti willen und im Hinblid auf fte ijt Maria in zuvorkommender Weife von ber Erhſchuld befreit unb bom erften Augenblid ihres Daſeins mit der göttlichen Gnade befchenkt worden. Aifo nur in der Art wieMaria die Erlöfung Chrifti vermittelt wurde, unterſchei⸗ bet fte ftd von ben übrigen Erlösten.

640 SU T es δ...

„Wieberherftellung eines accefforifihen Zuſtandes“, τοῖς Nean⸗ der [ὦ ausbrüdt (S. 109), und fomeit e8 fid) um Wieber- berftellung eines accefforifchen Zuftandes handelt, ift dies Accefforium Für die Heilserlangung bes Menſchen von ab; foluter Bedeutung. Chriſti Verdienft bewirkt nemlich zweierlei: einesjeit8 jofí um feinetwilfen ber gefalfene Menſch Verzeihung der auf ihm Taftenden Erbfchuld und der weitern perfönlichen Verſchuldungen erlangen, fodann [off er nicht nur Stärkung und Kräftigung ber gejchwächten natürlichen fittlichen Kräfte empfangen, jondern vor allem jene übernatürliche Ausrüftung berjelben , welche ihn allein in den Stand ſetzt, ſein über- natürliches Ziel zu erreichen. Die Nothwendigfeit der Gr» löſung Chrifti ift fomit vom katholiſchen Dogma in 'alfiveg ebenjo gefordert wie von der proteftantifchen Auffaffung des Sündenfalis aus: bier wie dort ift. in feinem ander Namen a(8 in Chrifto Heil für EE ſundigen Menſchen zu | finden.

"Freilich reine restitutio in integrum findet weder nach proteftantifcher noch katholiſcher Lehre wenigftens nicht in biefer Zeit ftatt. Keine Rede davon, daf mad) prote- ftantifchee Anfchauung ἴτας der chriftlichen Gnade bie ur» ſprüngliche reine .Gerechtigfeit bem Menſchen reftituirt würde, wir betonen dies hier nur, um zu conffatiren , baß jeden“ falls vom biefer Seite aus e& mit ber „Herrlichkeit der göttlichen Gnade“ nicht fo glänzend beſtellt iſt, als ber aus- ſchweifende Gebrauch biejer und ähnlicher Ausdrüucke folíte erwarten laſſen. ‘Aber and) das katholische Dogma verfennt den Schaden, den ber religiös » fittliche Entwidlungsgang des Menfchen in Folge ber eriten Sünde genommen, keines⸗ -wegs, wie. ans ber Lehre von der ‚Rechtfertigung und. Heili⸗ gung im Einzelnen erhellt.

Studien über bie Grundfragen ber Shmboli. 641

Sn welcher Weiſe wüjfem wir. ‚uns ‚nam, entſprechend der. Lehre pom Urjtand und, der, Erbjiinde die Wirkung. ber Erlöfung auf. ben, gefallenen Menſchen denken? Gemeinſam fordert katholiſche und proteſtantiſche Lehre. die Aufhebung der. auf ben gefallenen Menſchen foftenben Schuld, gemeinjam fordern. ober, Fünnen wenigſtens beide Anschauungen ‚fordern die at[müfige Meftitution.. ber geihwärhten., fittlichen, Kräfte he8 Menſchen, ausschließlich dagegen. katholiſch ijt bie For⸗ derung „auf Reſtitution ber ſpezifiſch übernatürfidjen Bega⸗ ‚bung. Gnadeentblößt mie der jetzige Menſch iſt, ift er ja „außer Stande, wahrhaft Übernatärlich ‚gute ſittliche Akte, zu ſetzen, als melche, doch bie Vorbedingung aller DEREN Seligkeit find, we

Wie, aber und auf pelch Weiſe en ins arfallene Menſch dieſer Gnadengüter Chriſti theilhaftig 2. Dem Pro⸗ teſtautismus iſt die ſittliche Kraft des Erbſünders vollſtändig erloſchen, alſo muß dieſe ihm erſt wieder mitgetheilt, ſtreng genommen anerſchaffen werden, wofern man nemlich wirklich vollſtändig Ernſt macht. mit der. altproteſtantiſchen Lehre von,, bem, totalen Verluſt der fittlihen. Freiheit. Inſoweit gälte, allerdings, ba8 Motto ber befgnnten Schrift von, Gar» foriu$: Soli Deo glorie, Gott, würde infplang, alles tun nnd. ber, Menſch, jid) rein paſſiv wenn. nit direkt wider- ftreßend verhalten, injolang als bi8 er ‚eben yon. ber Gnade bie. verlorene, fittliche Kraft erlangt hätte. Erſt vpn da ay fann von Zuſammenwirken güttlid)er, Gnade und menjdjlidyer Freiheit Überhaupt geredet werden 1), In dem Grade aber

1) Nur ſcheint und mit ber Wieberperleihung jener. fitklichen Freiheit bie Heiligung des Sünders im Weſentlichen jchon geſetzt und angelegt, alfo wenn als Sorbebingung der Rechtfertigung gefaßt, dm diefe bie Heilung als zweites Moment niiteingefegt.

642 Knittel,

als man von der ältern ſtrengen Lehrweiſe zurückkommt und nicht bloß die ſchroffe lutheriſche Ausdrucksweiſe, ſondern auch den ſtrengen lutheriſchen Gedanken fallen läßt, kann man ſich der katholiſchen Anſchauung über das Verhältniß des Sünders zur Gnade annähern. Die natürliche ſittliche Freiheit ift bem Menſchen nad) Fatholifcher Auffaffung nicht vollftändig genommen, fondern nur vermindert worden, er ijt alfo einer fittlihen Bethätigung nod) füfig. Wie am Aufang, fo muß alfo auch jebt noch die Gnade mediante dispositione liberi arbitrii dem Empfänger zu heil werden. Diefe kann aber, von andern BVerjchiedenheiten Soll hier abgefehen werden, nicht mehr wie am Anfang mit einem Schlag und zumal, fonderu muß allmälig dem Men⸗ jchen vermittelt werden. Aus fd) ift der Wille unfähig zu einer auch nur vorübergehenden übernatürlih guten Bethä⸗ tigung, folglich muß die Gnabe ihm als berufende unb eine ladende zuvorfommen, foll er nad) unb nad) für ben Empfang der habituellen Rechtfertigungs- und Heiligungsgnade geneigt und empfänglicd; gemacht werden. Auf die Fragen über das Mie unb Inwiefern Dat bie 9efre von ber Vorbereitung auf bie (Dabituelle) Gabe einzugehen. Nur dagegen fónnen wir nicht lebhaft genug remonftriren, daß SOebfer (umb ähnlich Neff €. 188) diefe Vorbereitung in einem ganz verkehrten und dem Fatholifchen Dogma widerfprechenden Sinne auffaßt. Oehler fennt zwar bie Qefre von der Nothwendigkeit der gratia praeveniens et excitans, bemerft aber bags (S. 408): „In diefer Lehre ijt nad) evangelifcher Anſchauung der große Irrthum der, daß der natürliche Wille, um zur Belehrung mitzuwirken, bloß einer grabuelfen Steigerung der ihm ſchon innemohnenden Kraft, welche durch die Sünde gelähmt war, bedürfen, foll, während e8 jid) doch darum handelt, bap ein

Studien über die Grundfragen der Shmbolif. 645

verfehrter Wille umgefehrt werde, indem ein neues Lebens- prinzip in ihm lebendig wird“. Wer fagt denn Oehler daß die zuvorfommende Gnade die bem Menfchen εἰπε wohnende fittliche Kraft nur graduell fteigere? Gerade umgekehrt, fie fudjt den Willen empfänglich zu madjen für Aufnahme der fpegifijd) übernatürlichen habituellen Gnade, der fie al8 actuelle den Weg bahıt. Eher kann man von den proteftantijchen Theologen, welche cine totale Vernich— tung der jittlichen Kraft be& Meenfchen in Abrede ftellen, behaupten, daß ihnen zufolge die gelähmte fittlihe Kraft be8 Menjchen nur grabucfl durch die Gnade gefteigert werde. Vollends Hat niemals Kein Theologe and) Fein Ecotiftifcher, behanptet, baB der unbejdjübigte Wille des Menſchen ſich ohne Gnade zur justificatio disponiren faut (Oehler, ©. 467) ) umd ganz umbegreiflih ijt e8, wie Oehler dazu fommt, jejnitiihen Theologen die Anficht zuzuschreiben (€. 469), ba8 initium fidei, ipsum credere, desiderare iti omne ab ipso homine! Ein einziger Blick in das 5. Gapitel ber sess. Vl. conc. Trid. hätte ihn vor biejer folojjalen liuridjtigfeit bewahren fónnen und cbenfo vor ſeiner Verwunderung (S. 476) darüber, daß bie confutatio pontifieia die Sätze der Augsburger Coufeſſion über das - Unvermögen des Menſchen, aus cigener Kraft fein Heil zu wirfen, gebilligt habe.

Aus dem tridentinischen Cat, daß ber Menſch ber erwedenden göttlihen Gnade zuftiinme, mährend er ihr

1) Debter vermechfelt bier die Schulcontroverje, ob ber Menfch fid) auf den Empfang der gratia prima oder fidei (nicht ber gratia secunda oder justificationis) au$ eigenen Kräften vorbereiten fónne unb in welchem Sinne bie8 möglid) fei. Darauf einzugehen ift aber bier nicht der Ort.

Men anittel,

auch widerſtehen könne, hat man allerdings theologiſcherſeits und wie uns ſcheint mit Recht geſchloſſen, daß für Annahme und Nichtannahme der gratia prima, eben alſo der zum Glauben erweckenden Gnade, der frühere, natürlich von der Thätigkeit der allgemeinen göttlichen Providenz keineswegs verlaſſene natürliche Willensgebrauch von Werth und Bedeutung ijt und deßwegen bie Frage von ber Vor—⸗ bereitung auf bie Gnade erörtert und fie zugleich in Bezug zu der geheimmißvollen QeDre von der göttlichen Prädeftis mation gebradjt. Das find aber Sculfragen, worüber kirchlich nichts definirt ift, befimirt aber und von ben Xheo- ogen durchaus und allgemein rvecipirt ift ber Cat, daß nicht bloß bie habituelle Rechtfertigung und Heiligung, fondern auch ſchon ifr alfererfter Anfang, die Vorbereitung und An- bahnung berfelben Werk der zuvorkommenden göttlichen In⸗ fpiration ober Gnade fei. Und es find ebenjo viele Unrichtig- feiten ald Säge, menn Reiff (S. 158) behauptet: „Diele zuborfommende Gnade befteht Lediglich in bem Akt der äußern SBerufumg .... Es ſcheint fo ganz als befige der natürliche Menſch an fi bie Kraft zum Glauben, Lieben, Hoffen und als handle es fid) nur darum, biefeíbe etwa aus ihrem Schlummer aufzumeden"... „Das Natürliche, weit ente fernt etwas durchaus Verkehrtes zu fein, ift vielmehr von dem im Stand der Gnade vollbranhten Guten nur dem Grade mad) verſchieden“. Schon früher ijt daranf auf: merfjam ‚gemacht worden, daß nad) fatfofijdjer Anſchauung um der Mebernatürlichfeit der Gnade willen jefbft bem Men- jhen in statu naturae purae nur eiue capacitas passiva zugejchrieben wird: unt mie viel mehr muß e8 die Gnade fein, welche dem gefallenen Menſchen, mit der Goncorbien- formel zu reden, die capacitas activa, bie facultas appli-

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 645

candi se ad gratiam (mir müffen ergänzen habitualem) verleiht. Aber freilich ift bie Vorftellung mum nicht bie, daß ber menfchliche Wille, der unmittelbare Träger und Empfänger der Gnade fid) rein paſſiv aljo unfrei verhalte das ift eine contradietio in adjecto und würde bie Gnade aus einer moralischen in eine Naturgabe verwandeln. Nein die Kirche lehnt diefe Vorftellung, bie den Vorwurf einer magijdjen Wirkung der Guade rechtfertigen würde, ab, aud) ber Gnade gegenüber bleibt ber Meenfch frei, felbft- ftünbig, aber nicht abjolnt, aufer infofern er fie abmeijeit fam. Nimmt er fie an und wirft er mit ihr, fo ijt alles weitere fittliche Thun des Menfchen zwar ebenfall® rein feine freie Willensthat, aber diefer Wille wird ja bereits mit übernatürlicher Kraft ausgerüftet gedacht, fomit ift aud) das pelagianifche Extrem vermieden.

d) Die Borbereitung auf bte Rechtfertigung.

Nicht mit einem Schlag fondern nur nad) und nad) unter bem jtetigen Einfluß der Gnade wird ber Menſch gerechtfertigt. Wäre fie eine Naturgabe jo fónnte fie den Menſchen äußerlich angehängt und aufgedrungen werden, nun fie aber eine moralifche Gabe ift, fordert und verlangt fie die freie Neception feitend ihres Empfängers.

Das Tridentinum nimmt nun wie männiglich befannt bei feiner Beichreibung der Vorbereitung des Menjchen auf bie Mechtfertigung den erwachjenen Heiden in'8 Auge, aljo nicht den bloß mit der Grbjünbe behafteten Menfchen, fon- dern den erfahrungsmäßig mit perjönlicher Schuld beladenen Menſchen. AS folder ijt er aljo nicht bloß aller Gnade beraubt und mit der Erbfchuld behaftet , fondern in Er- kenntniß und Wille pofitiv und perjün(id) von Gott abge»

Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IV. 42

646 Knittel,

wendet, als Heide ohne Erkenntniß alfo auch ohne Liebe zum wahren Gott. Somit erjcheint es felbftverftändlid, wenn in diefem Meenjchen zuerjt die Erfenntniß des maf ven Gottes gepflanzt wird. Zur äußerlichen Evangeliums: verfündigung tritt bie Gnade als erleuchtende ?), die innere Zuftunmung des Hörerd zu bem äußerlih ihm vorgehal- tenen Wort Gottes ermirfenbe. Daß dies Wort Gottes aber nicht äußerlich-hiftorifh von ifm feftgehalten werde, jondern innerlich von feinem Gemüth ergriffen, in feinen Forderungen an feine moralifche Willenskraft erfaßt werde, dazu wirkt num die Gnade a(8 actuale weiter; unter ihrem Einfluß, von ihr gemedt und angeregt füngt er am von Deifjamer Frucht von der zuvor erkannten göttlidhen Straf- gerechtigkeit erfaßt zu werden, andererfeits auf die ebenfalls ijm burdj ba$ Kvangelium vorgehaltene Barmherzigkeit Gottes zu Hoffen, fo entftehen in ihm immer unter bem jtetig fortwirfenden Einfluß der göttlichen Vorbereitungs- guabe die erften ſchwachen 9tegungen der Liebe zu Gott, des Haffes vor der Sünde, des Borfages der fittlichen Erneue- rung, ber Beſchluß durd; Empfang des gottgeordneten Gna⸗ denmittel® wirkliche Habituale Sündennachlaſſung und fitt- liche Erneuerung zu empfangen.

Diefe Vorbereitung auf die Rechtfertigung ift aber qus gleich aud, nicht mie 3. 39. Reiff (S. 178) meint, „eine Art von Nechtfertigung“ (N), jonberm ber Anfang ber Redht- fertigung ſelbſt: in und mittefjt jener von der Gnade her- oorgerufenen Acte des freithätigen Menſchen vollzieht fid feine geiftig-fittliche Ummandfung, bie fid) volljtändig in der

1) Dennoch behauptet Neiff €. 158, bie zuvorkommende Gnabe bejtehe „Iebiglich in bem Akt ber äußeren Berufung.”

Studien Über die Grundfragen der Symbolik. 647

Hegel im Moment de8 Saframentsempfangs realifirt. In jenem Prozeß wird der Menſch nad) und nach ſittlich um. gewandelt einerjeit8 und daß fid) Gott entjchließt über bie Sünde hinwegzufehen und nach nnb nad) bie genannten Acte im Sünber zu erweden, beweist andererjeits die bereits vorhandene Wirkſamkeit fowohl feiner verzeihenden αἰ hei— ligmachenden Gnade.

Dieſe Güte find fo einfach, ergeben fid) aus den Be- ftimmungen δε Tridentinums fo ohne weiteres, daß man ji) über ihre heftige Befehdung feiten& Der proteftantifchen Symboliker billig wundern muß. Laſſen bod) auch fie ben Menfchen borerft burd) ba8 Feuer ber Bußpredigt unb Buß⸗ empfindung durchgehen, efe mit der Grmedung des rechte fertigenden Glaubens die Gnabe am Menfchen ifr Wert vollendet, Doc; befehen wir uns diefe Einwände näher.

Der er[te Vorwurf wird gegen ben Begriff der Vor- bereitung als jolcher erhoben. „Dieſer modus praepara- tionis“, jagt Dehler S. 500, „iſt .. eine durch die göttliche Gnade nur gemedte und unterftüßte Selbftbelehrung.* Ein unverjtändlicher Vorwurf, denn wir wüßten nicht, mic eine Belehrung des Menſchen ohne feine Mitwirkung fid) voll» ziehen jolfte, meinen vielmehr jede Belehrung {εἰ nothwen- big „Selbftbefehrung.“ Daß aber von einer Belehrung des Sünders, die motu proprio und nicht vielmehr Spi- ritu sancto excitante et cooperante erfolgte, bie Rede nicht fein kann, welche die Gnabe nur erleichterte und befchlen: nigte, ba8 beweist der von Dehler felbjt unmittelbar vors Der angegebene Context des ZTridentinums. Dennod) muß der Vorwurf jo gemeint fein, wenn Oehler unmittelbar meiterfährt: „Wie oberflählih aber ijt diefe Behandlung des Anfanges der Belehrung! Kann iiberhaupt von einem

42 *

648 Knittel,

foíden Anfang die Rede fein? Denn was foll es heißen, e$ werbe in biejem Dispofitionszuftand von Hoffnung, Liebe zu Gott und Haß ber Sünde nur der Anfang gefordert? Iſt denn nicht ber Anfang das Schwerfie? Mit Redt jagt Eortorins (Soli Deo gloria €. 197): „Es ift dies eine Forderung, mie menn ein Arzt, ber zu einem gefähr- lih Kranken gerufen wird, zuerft von ifm als Dispofition zur Heilung verlangen würde, er folle zuvor halbwegs fid) jelbft befferm, bann werde er der Arzt, eine heiffräftige Dofis nachfolgen fajfen !^ (€. 500 f.). Bon Sortorius ἢ) wundert uns eine derartige Befangenheit nicht, vergleicht er jedoch fchließlich bie vom Tridentinum geforderte Dispofition mit dem befannten Bekenntniß des Phariſäers (S. 206), und Schiebt er Möhlern mit feiner Polemik gegen die proteftan« tiihen terrores conscientiae den Vorwurf der „Schwäche des Gewiſſens“ in die Schuhe. Dagegen wundern wir ums, wie Dehler nad) all feinen Excerpten aus dem Tridentinum einen Vorwurf wiederholen mag, ber dem ZTridentinum bie Lehre unterfchiebt, die Vorbereitung auf die Rechtfertigung [εἰ Werk des Menſchen jelber. Die Frage, ob ber Anfang der Bekehrung gerade das Schwerfte ijt, laſſen wir billig anges ſichts befannter Gleichniſſe be8 Herrn dahingeftellt fein, jeden⸗ falls ift nad) fíarer fatfofiljer Lehre Vorbereitung und Anfang, ebenfo wie ihr Fortgang und ihre Vollendung,

1) Sartoriuß ftreift übrigens einmal in Benützung unferes Bildes an bie fatbolijde Anfhauung wirklich an, nur baf er fie für bie proteftantifche ausgibt. Er redet nemlich €. 129 von einem nod) franfen Menfchen, „ber wohl auch zitternd bie Arznei ergreift, bie ihn heil macht Durch bie Kraft, bie fte ibm gibt, nicht aber durch ba8 Zittern, womit er fie nimmt oder einnimmt.” Alſo „ergreifen“ muß er fie, dürfen wir nur noch ergänzen.

Studien liber bie Grundfragen der Symbolik. 649

d08 Beharren unb Wahsthum in ifr von ber göttlichen Gnade als dem prävenirenden und principalen Factor bes jtimmt.

Alfo meinen wir, der Begriff der Vorbereitung auf die Gnade, die zugleich Anfang der Umwandlung des Men- iden ift, bleibe billigerweife unbeanftandet.

Aber man beanftandet vielleicht, wie aus einer oben angeführten Weußerung Dehlers hervorgeht und wie Sartorius €. 196 ff. weitläufig auseinanderfegt, daß eben immer nur ber Anfang von Hoffnung, Liebe, Reue sc. gefordert werde. Aber, um Gotteswillen, einmal muß ja bod) ange: fangen werden und ber Anfang fanıı bodj nicht fofort audj die Vollendung fein. Möhler hat ganz recht, wenn er bie vom Tribentinum aufgezählten Momente der Vorbereitung zugleich al8 „Momente einer fuccejfiven Gutroid(ung^ bars ftefít, „durch welche die Seele bi& zum entfcheidenden Mo⸗ ment der Rechtfertigung (id) Hinaufringen müffe“ (Sartorius €. 200), da das Zridentinum ja felbft von ihr ale bem exordium justificationis nostrae redet. ‘Die volllommene justificatio ift nicht mit einemmal und Einem Schlag ba, fondern nur nad) und nad) und affmülig bemächtigt jid) die göttliche Kraft der Wiederherftellung und Erneuerung des ganzen Menfchen mit allen feinen Kräften, bieje(ben anregend, erfüllend und nad und nad) burdjbringenb. In jebem Moment diejes von höheren Kräften gewirkten geiftig- fittlichen Prozeſſes kann ein Stillſtand in Folge ausbleibens der menfchlicher Mitwirkung ftattfinden, daher mit Recht nur von einem exordium justificationis und einer bloßen praeparatio ad justificationem geredet wird, erſt dann wenn ber Prozeß ber Geiftesummandlung zu einem relativen Abschluß gefommen, wenn die innere Gefinnung und Neis

650 Kittel,

gung, das Streben und Lieben ein habituell andered gewor⸗ ben ift, Dat bie Rechtfertigungsgnade für einjtweilen ihr Werk vollendet. Auch der Proteftant wird fid) den Vor⸗ gang der Belehrung ſchwerlich anders vorftellen, falls er e8 mwirflic; mit den Namen: Erneuerung und Wieder: geburt Ernft nehmen will, falls der rechtfertigende Glaube in feinem Sinn wirklich bae Feuer ber göttlichen Buße durchgemacht haben muß. Den Vorwurf eines ὕσεερον πρότερον Tann man bod) nur dann erheben, wenn der redjt- fertigende Glaube im protejtantifchen Syitem ebenfalls ohne allen voransgehenden Prozeß der Neue und Buße gedacht würde.

Aber, unb das iff num der weitere Einwand, gefekt aud) daß mit dem Katholicismus eine ſolche Art von Bor- bereitung auf die Gnade angenommen wird, ba ja auch ber Proteftantismmns vor dem Glauben Reue und Buße fordert ?), fo darf dies Thum doch bei Leibe nicht als verdienftlich, meritorif) in irgend welchem Sinn gefaßt werden, ber ganze Prozeß der Buße, den ber von ber göttlichen Gnade berührte unb ergriffene Sünder durchzumachen hat, hat mit der Rechtfertigung felber gar nichts zu thun. Oehler flei- bet feinen diesbezüglichen Vorwurf in die Worte ein &. 501: „Durch jene (sc. vom Zridentinum geforderte) Dispoſition nun, bie ber Menſch zum Empfang der Rechtfertigung fid)

1) Ob vom katholiſchen Ctanbpunft aus „das Schuldbewußt⸗ fein gar nicht gründlich gemect werde”, (Dehler &. 505 vgl. Sar⸗ toriu8 194 u. a.) follte man billigerweife proteftantifcherfeit® nicht entſcheiden wollen. Uebrigens pflegt man von berjelben Seite aua ben Volksmiſſionen, welche das Schulbbewußtfein ja eben „gründlich wecken“ tollen, gerade in entgegengefegter Richtung Vorwürfe zu machen.

Studien liber bie Grundfragen der Symbolik, 651

gibt, jene vorläufige Selbftbefehrung des von ber Gnade berührten Menſchen, die felbit af8 justificatio prima 1) bezeichnet wird, wird ba8 meritum de congruo begründet: Gott wird dadurch bewogen, bem Menjchen die Gerechtigkeit einzuflößen . . .“ (ogf. aud) €. 535). Später (&. 507) ftellt er den Gegenſatz zwifchen proteftantifcher und fatfos licher Qefre von ber Vorbereitung auf bie Gnade jo dar: „Hier nur die Eine Forderung, daß der Sünder fein Leben im das Licht des Geſetzes des Heiligen Gottes ftelle und dann mit dem Zöllner in aufrichtiger Neue flehe: Gott {εἰ mir Sünder gnábig; auf römifcher Seite dagegen bereits ein Sram halber Tugenden, die, menn fie aud) nicht von Rechtswegen fo bod) aus Billigkeitsrückſichten, weil fie ein anftändiger Anfang von Beiferung find, ein halbes, Gott jut Gnade bewegende 8 Verdienſt in jid) fchließen.” Auf den einen Theil des Vorwurfs, als ob mir eine vom Men⸗ fen ausgehende Halbe Selbftbelehrung annehmen, ift ſchon geantwortet. Damit ijt aber bereits der Schlüffel zur Wi⸗ berfegimg auch der andern Hälfte des Vorwurfs gegeben. Die Dispofition auf die Rechtfertigung geht von der Gnade aus, biefe will den Menſchen wirklich rechtfertigen und alles was (ie vorher tut dient nur dem Einen Zwed, ben Men⸗ [fen für bem wirklich fruchtbaren Empfang der Recht—⸗ fertigung aufgelegt und geneigt zu machen. Jeder Schritt, den fie in biejer Norbereitungsperiode zurücklegt, erfcheint jo immer zugleich als eine Vorjtufe, auf der fie nun weis terfchreiten Tann, folange, bis fie ihr Werk volfbrad)t fat. Inſofern Tann man allerdings fagen, es [εἰ zu erwarten,

1) Wo? Dehler'n fcheint bie fcholaftiiche Unterſcheidung der gralia prima—gratia fidei unb der gratia secunda gratia habi- tualis justificationis vorzuſchweben?

652 Knittel,

daß die Gnade ſich nicht begnüge, bei irgend einer Vorſtufe des Rechtfertigungsprozeſſes ſtehen zu bleiben, daß fie viel- mehr, fobald ihr ber Menſch entgegengefommen ift, weiter fchreite und meitergebe, und man kann mit Necht, wenn man nur nicht an dem vielleicht ungejd)idten Ausdruck haf⸗ ten will, fagen: ber auf einem gewifjen Dispofitionsmoment angelangte Menſch habe ein Hecht zu erwarten, bap e8 bie Gnade Diebei nicht bemenben laſſe, fondern ihn bis am'é Ende, bis zur wirklichen Rechtfertigung führe). Ohne eine Solche Zuverfiht fommt ja aud) ber proteſtantiſche Büßer aus ber Verzweiflung nicht hinaus, fondern bleibt unbefehrt, wenn wie Sartorins ung verjidert (S. 127), „die Nechtfertigung nur die andere Seite, die pofitive Kehrfeite ber Belehrung ijt, deren erfte negative Seite in der Zer- knirſchung beiteht.“

Es wird bem Proteftanten immer fehwer werden, [id in den vorliegenden Sachverhalt unparteiifch Dineingubenter. Sein Geſichtspunkt ift unmwillfürlih vom proteftantifchen Nechtfertigungsbegriff als bloßer Sündennachlaſſung ge: nommen. Er muß aber, [01 er bie fatfolijdje Lehre von ber Vorbereitung auf und dem Anfang der Rechtfertigung richtig auffaſſen und unbefangen beurtheilen, jid) auf den Standpunkt der katholiſchen Rechtfertigungslehre fteffen. Diefe bekennt eine wirkliche innere fittliche Umwandlung, bie an einem beftimmten Punkte vollendet, aber ebendeßwegen vorher angebahnt, angefangen und fortgefegt fein will ?).

1) 9teanber €. 104, der fid) über den Begriff be8 meritum de congruo in nüchterner unb verftändiger Weife ausſpricht, ver: meist auf ba8 Wort des Herrn: „mer ba bat, bem wird gegeben werden”.

2) Gang deutlich zeigt fif jene Verwechslung bei Sartoriud

Studien über die Grundfragen der Symbolik.‘ 653

Wird endlich diefe Lehre von der Vorbereitung auf die Rechtfertigung unter dem Gejichtspunft des „Troſtes“, der „Gewißheit ber Seligfeit“ abgehandelt, fo ift ba8 wieder eine der vorliegenden Sache act. jid) frembe Auffaſſungsweiſe. Borerft müßte ber als Ariom behandelte Sag, daß jeder feiner Seligkeit in biejer Zeit abjolut ficher fein müſſe, überhaupt erſt αἵδ᾽ biblifcher Demiejem fein, wie er es nicht ift.- Dann feunt nicht auch das proteftantifche Syitem einen „geheimen“, „verborgenen Rathſchluß Gottes“, einen „Wahn: glauben“? wird nicht aud) vom Proteftantismus Bußge⸗ finnung als Borausfeßung, bie nova obedientia als Frucht des vechtfertigenden Glaubens gefordert? Wie, wenn jene Vorausfegung ausgeblieben, diefe Frucht niemals reifen will? Mo bleibt dann nod) die Gewißheit der Seligfeit?

Sn einem gemijjen Sinn fami man allerdings jene Dispofitionsakte al8 Bedingungen anjehen, an welche bie wirfliche Verleihung der NRechtfertigungsgnade geknüpft ijt? Sie find allerdings nicht bloß dies, [onberm auch die wirk—⸗ jamen Anfänge ber Rechtfertigung felber, die, foll fie fid) vollenden und vollziehen, jene voransgehenden Acte fordert. Bleiben wir μπᾶ bei dem Begriff Bedingung ftehen, fo erjdjeint jene Dispofition als eine Forderung, die Gott im voraus an ben Sünder ſtellt, foll er gerechtfertigt werden, eine Forderung, bie dem freien Willen des Menfchen ge. ftellt wird, indem er freilich fofort demfelben aud) die Kraft ber SBolfóringung zur Verfügung ftefít. Gott Tann aljo, wir erlauben uns bieje Möglichkeit feftzuhalten, obgleich Reiff (€. 83) ba8 eine „elende halbe Abfindung nad) Art €. 198, wenn er e8 a[8 ben Tatholifchen Irrthum bezeichnet, daß

„was wirkſam ev[t auf bie Bofition der Rechtfertigung folgt, als botangebenbe Difpofition zu ihr bezeichnet werde.”

654 ftnittel,

feifídjenber Menſchen“ nennt, eventuell wie 3. B. beim Rückfall des bereits befehrten Sünders , erſchwerte tyorbe: rımgen ftellen und ftellt ſolche wirflih nad fatfolijdyet Lehre bem nad) ber Taufe gefallenen Ehriften*). Zu ihrer Erfüllung gibt er feine Kraft, aber auf ihrer Forderung befteht er, [01 der Menſch wirklich ein zweitcs-, brittcémal zc. Verzeihung von fchwerer Schuld erlangen. Daß er nidt Gnade für Recht ergehen läßt, ift Gabe, baf er ferner menigften8 tfeifmeije auf Erfüllung jener Forderung aud) erft nach wieder erlangter Rechtfertigung, ja [efbft erft im andern Leben dringt 7), ift wieder Gnade von ihm, mod) mehr, daß aud) von diefen äußerlich belaftenden Folgen ber Sünde Befreiung auf Grund beftimmter zunächſt kirchlich georbneter Mittel möglih ift. Man fieht mie fi auf ſolche Weife die Lehre von ben zeitlichen Strafen und Sa⸗ tißfactionen ebenfo wie vom Fegfeuer rechtfertigen Täßt: aud) hier und nod) mehr in den Mitteln ihrer Abbüßung ift 3u(etgt bie göttliche Gnade ber vorausgehende und prin- cipale Factor, alle Büßungen und Satisfactionen haben wirf- (ifj, wie Steiff zugibt und dennoch bezweifelt (S. 173) „eine Gültigkeit“ , nur im Zuſammenhang mit Chrifti Sühnung.

1) Wie bieje Forberungen zum Theil 3. 39. als Bekenntniß ber einzelnen fchmeren Sünden in ben Organismus be8 Gaframents jelbft als effentielle ev. integrirenbe Momente eingegliedert find, bat: über bat die ausgeführte Sakramentenlehre zu reden.

2) Der gerechtfertigte aber noch nicht von aller Sündenftrafe befseite Menſch ift des Himmels ficher, Daher man nicht mit Debler bon einer mangelnden „vollen Sicherheit” reden Tann, „da niemand willen Tann, ob er für bie Sünbenftrafen [djon hinreichend genug getban Dat" (&. 504).

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 655

e) Die Rechtfertigung: ihr Wefen, Wahatbum und Berluft. |

Wir fefe ab von dem unendlichen Streit über den Sinn der Panliniſchen Rechtfertigungslehre und deren Per: hältniß zu der be8 Jakobus, find aber unfererfeitS ber Mei- nung, daß man mit Unrecht die brennenden Streitfragen des 16. Jahrhunderts ohne weiteres in die npoftolifche Zeit zurückverlegt, für ihre Entfcheidung jid) unbedenklich an bie Ausdrücke und Ausdrudsweife des Römerbriefes gehalten hat. Unſeres Erachtens find dem Apoftel Paulus die übri- gens mit Fug gefchöpften Ausdrüde νόμος und πίστεις nur die Bezeichnung für den Gegenjag von jüdifcher und dhrijt- liher Religion, Iuden- und Chriftenglauben, wie wir uns heutzutage auébrüden würden. Die nähere Begründung und meitere Ausführung diefer Anficht gehört aber nicht hierher.

Wir menden une [omit ohne weiteres der zwiſchen bem Proteitantismus und Ratholicismus objchwebenden Differenz über das Wefen ber Rechtfertigung zu. Allbekannt ift, daß der erftere das Wefen der Mechtfertigung in bie bloße Sün⸗ dennachlaffung fett, der (eptere in bie Sündennachlaſſung und Heiligung zugleich. Subjectiv refleetirt fid) bie am Menschen gefchehene Gottesthat in der Nechtfertigung nach proteftantifcher Anfchanung im Glauben, gläubigem Bertrauen des einzelnen, für feine Berfon um Chrifti willen Eünden- nachlaffıng erhalten zu Haben, nad) fatholifcher Anfchauung in bem burd) die Liebe informirten Glauben, ober in Glaube, Hoffnung und Liebe als ben (og. theologifchen oder aud) eingegoffenen Zugenden. Die Heiligung wird proteftantifcher: ſeits nur aí$ eine der 9terftfertigung immer unb nothwendig

656 Knittel,

nachfolgende gefaßt, während fie Tatholifcherfeits in den Be- griff der Rechtfertigung ſelbſt mit hereinbezogen wird. Verſuchen wir nun die katholiſche Rechtfertigungslehre näher zu erhärten, ſo iſt vor allem auf das hinzuweiſen, was wir gleich anfangs, wo wir von der urſprünglichen Gnade redeten, über Beſtimmung und Ziel des Menſchen bemerkt haben. Der Menſch iſt von Gott beſtimmt zu einer übernatürlichen Vereinigung mit ihm, visio, intuitio, fruitio Dei im Himmel. ‘Der feifigmadjenben Gnade, des gottgeordneten übernatürlichen Mittel8 zur Erreichung jenes Zieles beraubt, ift er unvermögend, biefe ihm vor wie nad gebliebene Beftimmung zu realifiren. Weil aus eigener Schuld jener Gnade beraubt, ijt er Gott pofitiv verfchul- det, hat ein Anrecht nur auf göttliche Beſtrafung. Wird er als Erwachſener vorausgefett, jo ijt er immer aud nod) mit pofitiven Brüchten befajtet, in Geift und Wille mehr oder weniger aud) von feinem natürlichen Ziele, der natürlichen Erfenntniß und Liebe Gottes, abgemenbet. Hat num Gott befchloffen, um der Verdienſte Ehrifti willen ihm aus Gna⸗ den dennoch wieder die Erreichung feiner übernatürlichen Beſtimmung zu ermöglichen, fo bedarf e8 dazu ein Meh—⸗ reres. Der Sünder bedarf des Nachlaſſes ber auf ihm laftenden Erb» beg. perfönlichen Schuld —, darüber ift fein Streit zwijchen Katholicismus und Proteftantismus. Aber jo ift er mod) außer Stand, das ihm gebliebene übernatürs [fide Ziel zu vealifiren. Auch die Theologen, welche von einer pofitiven Schwächung ber natürlichen Kräfte des Men⸗ iden in Kolge der Erbfünde nichts mijjen wollen, geben zu: der Menſch, jetzt mur auf feine natürlichen Kräfte ange: iwiefen, ift außer Stande fein übernatürliches Ziel zu reali- firen. Er bedarf aljo der Sünder neben der Naclaffung

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 657

aud) ber Meittheilung, der „Eingießung“ übernatürlicher Kräfte, um jetst wirklich vollkommen in den Stand gejegt zu fein, fein übernatürliches Ziel zu realifiren.

Nun Scheint uns erhelit aud) deutlich, warum fich der Proteftantismus fortwährend weigert, dieje fatholifche Recht: fertigungsfehre anzuerkennen. Bon übernatürlichen Kräften zur Erreichung eines übernatürlichen Ziels weiß der Pro- teftantismus nichts. G8 Kann fid) alfo aud) beim Prozeß ber Wiedergeburt des Sünders um Chrifti Gnade willen nicht um die Verleihung folcher übernatürlichen Kräfte Dau deln. Sunüdjft handelt e& fid) nur um Aufhebung der auf dem Menschen laftenden Schul. Man fünnte nun glauben, mad) Aufhebung ber Schuld [fei der Menſch ohne weiteres im Stande, feine natürlichen Kräfte wieder gut und gott« wohlgefällig zu gebrauchen; aber die eigenthlimliche Schärfe der proteftant chen Lehre von der Erbflinde verhindert dad: Der Erbfchaden hat fich audj der natürlichen fittlichen Kräfte bemäd)- tigt und nur nach unb nach gelingt e8 dem fchuldfreiert Mien- ſchen, unter dem Einfluß einer zweiten, der Heiligungs-Gnade, fi bie fittliche Herrfchaft über feine ungeordnete und ungezü⸗ gelte Natur zu erringen. Wer bie Herrlichkeit der Gnade mehr in's Licht fett, welche Theorie die δες des Menfchen höher ftedt, ift hier bod) wohl für affe erſichtlich, welche biefen Geſichtspunkt ber Beurtheilung als maßgebend für bie Necht- fertigungslehre anfehen.

Aber aud), wenn wir uns bie protejtantifche Nechtfer- tigungslehre ganz vom Gefichtspunft ihrer Erbjündenlchre au$ anfchauen, will jie und nicht recht begreiflich erfcheinen. Es iſt nemlich jede Vermittlung zwischen Rechtfertigung und Heiligung abgebrochen, aus dem post hoc ein propter hoc zu machen wird uns ja auf'8 Ernftlichite verboten. Geſetzt

65 8 Knitte l,

nun, die proteſtantiſche Lehre ſieht wirklich das Weſen der Rechtfertigung in der Sündennachlaſſung, und ausſchließlich in ihr, ſo begreifen wir die weitere Forderung der Heiligung nicht. Von ſeiner Sünde losgeſprochen iſt der Menſch ohne weiteres aud) nod) zum Erben des Himmels declarirt, natürlich aus überftrömender und überfließender Gnade. Allein das wird und mit Recht von broteftantijcher Seite geleugnet, niemal8 wird auerfannt, daß dem bloß gläubigen, aber ohne Rene und ernftlihen Willen der Lebensbefferung ge- bliebenen Menſchen das ewige Leben in Ausſicht zu ftellen fei, bie Concordienformel erſchöpft jid) fürmlih in Aus» brüden, wie daß ber Glaube fein wahrer fei, wo nicht bie guten Werke nachfolgen. Nun gut, dann muß diefe Stim- mung, bieje Reue jamt jenen Vorſatz, bieje innere Um— wanblung, deren Wefen wir im die Liebe zu Gott feßen, bereit auch im Moment ber Abfolution vorhanden, bez. durch bie göttliche Gnade mitgefeßt worden fein. Die Recht: fertigung ift dann Heiligung zugleich, mit jener ift zugleich auch diefe prütcipiell angelegt und ihrer Wurzel mad) gejett fur; wir haben bie katholifche Rechtfertigungslehre. Dann wäre ber zwilchen ben ftreitenden Parteien objchwebende Streit mehr nur ein Schuljtreit, ob nemlich Sündennad) fajjung oder aber Heiligung das vorangehende und princi: pale Moment bilden, ob Gott aljo zuerft aus freier Gnade die Sünde nidjt mehr anredjne; und hernach die Heiligung ichenfe, ober ob er zuerjt den Menjchen fittlih umwandle und hernach erit die auf ihm beftehende Schuld erlaffe, Fragen, über die jid) befanntfid) auch bie jcholaftischen Theo— flogen in ber Xehre vom Bußſakrament geftritten ). Aber

1) Gern wird bie Differenz in δὲς Lehre von der Rechtfertigung

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 659

bie Sache liegt anders, proteftantifcherfeitg will man jenen innern Sufammenfaug von Rechtfertigung und Heiligung nicht zugeben, man bleibt babei: beide Begriffe feien noth⸗ wendig auseinanderzuhalten, wie wenig wir auch begreifen können, daß die Heiligung, die als „nothwendige“ Folge ber Rechtfertigung, als „Frucht“ derfclben bezeichnet wird, in diefer nicht felber ſchon ihrem Keim nad) enthalten fein jolf.

(8 jpieft memlid) hier wieder, wie dies uns fchon wiederholt begegnet ift, eine Vorausjegung wit fereim, Die wir als der wiffenfchaftlih.n Behandlung der Sache fremd und fernliegend bezeichnen müſſen. Nur fo, indem die Recht— fertigung vein auf ;bie fidueia specialis befchränft wird, [εἰ den bedrängten Gewiffen Troft, Sicherheit und Gewif- heit der Seligkeit (jo Ochler S. 503 f.) gegeben, während

und Heiligung proteftantifcherfeitö fo bargeftelft, bab man vermu⸗ tben könnte, ἐδ handle fid nur um bie beregte Schulftreitigfeit. Sp 3. 8. Debler ©. 508 f.: „In dem Herzen, bejjen Schuldbann ge: brodjen ift und ba8 Vergebung bat, kann nun ber BL. Geift bie Reg: ungen und Bewegungen be8 neuen 2eben8 wirken. Indem uns ber bi. Geift εὖ bezeugt, daß wir um Chriſti willen Gottes Wohl: gefallen Haben und von Gott zu Kindern angenommen find, fann er ung treiben, ben zu lieben, der ung guer[t geliebt bat. Der ftas tholit jagt: ἔταξε der Liebe zu Gott, bie id) in mir finde, hoffe ich, werde er mir gnädig fein. Der ebangelijde Chrift fpricht: (Gott bat mir Gnade und Vergebung zugewendet, bieje Liebe drängt mid), ihn wieberzulieben. Mit andern Worten: die Rechtfertigung macht richt zuerft einen guten, ſittlich gebefjerten Menſchen, [onbetn ein begnadigtes Gottesfind und bie Heiligung ift bie Folge und Frucht der Rechtfertigung, indem ba8 bet Schuld entlaftete Herz burd) den bl. Geift erneuert wird, woraus dann von‘ jelbit als Früchte bie guten Werke folgen.” Nun er[t mwird die Hauptjache beigefügt: „Man joll nun aber das was auf die Rechtfertigung nothwendig folgt, ebenjotoenig foie das, was ihr vorangeht, in ben Rechtfertigungsact jelbft einmengen.

660 ' o $uittel,

jie andernfalls „darauf angewieſen aus ihren Werfen ihren Glauben zu erweiſen, bei der Unvollkommenheit aller Werke auch der Gerechtfertigten,, bei der Unmöglichkeit die Wirk: ungen ber Gnade von den Wirkungen be8 eigenen liberum arbitrium zu unterfcheiden”, aus dem Zweifel nie heraus: fommen. Wie bemerkt, bieje rage Tann lediglich nicht für die wiffenfchaftliche 3Bertfeibigung der Rechtfertigungslehre herbeigezogen werden, wir geben aber außerdem nochmals zu bedenken, ob die Forderung einer der fiducia specialis immer und überall vorausgehenden eontritio, die weitere Forderung der guten Werke als nothwendiger Früchte des Glaubens dem gefürchteten Zweifel ifrerjeit8 nicht minder Thür und Thor öffnen.

Was alfo aud) Oehler (S. 509), Särtoriuns (S. 161) u. a. dagegen einzuwenden haben, die prote[tantijdje bloße Nebeneinanderjegung von Rechtfertigung und Heiligung ijt unhaltbar, wie man in alter und neuer Zeit auch prote- ftantifcherfeits zum Theil zugeben wollte, der Glaube ift nicht der rechte, mit meldjem nicht aud) zugleich die Liebe oder der Wille, die göttlichen Gebote zu beobachten, einge- goffen und mitgetheilt wird (vgl. Schulze €. 153 ff). Die Schwierigkeit, an deren Löſung vielmehr fatfolijdje und proteftantiiche Theologen zu arbeiten hätten, betrifft das Verhältniß und die Verbindung beider Momente. Einerſeits Sündennachlaſſung, diefe volffommen, anber[eit8 Heiligung, bieje individuell verfchieden, immer aber mehr oder weniger unvolllommen !). Darüber haben wir hier nicht weiter zu

1) Damit erledigen fid) von felbft jene Einwände, bie indbe: fondere Sartorius (OC. 215) in mahrhaft Teidenfchaftlicher Weile gegen die Tatholifche Lehre erhebt, a[8 ob mit der Rechtfertigung immer zugleich „die Heiligung in der vollfommenen Liebe” gegeben

Studien Über bie Grundfragen der Symbolik. 661

reden, nur noch Gin protejtantijd)e8 Mißverſtändniß möch- ten wir abfehneiden. Dean begegnet nemlich nicht felten ber Vorſtellung proteftanti[djerjelt8 , als ob ohne wirklich nad)- folgende Vollbringung guter Werke ber Gerechtfertigte feiner Begnadigung bez. Befeligung nimmer gewiß fein Tünne. Das ijt faljd) wie fchon die Lehre ber fofortigen Beſeligung der getauften Kinder beweist. Vielmehr den Fall ange- nommen, ber mitteljt des Empfangs des Saframents der Zaufe Gerechtfertigte und Geheiligte fterbe fofort, fo geht er auch fofort in den Himmel ein und erlangt den Grab der Befeligung, der feiner im Moment des Sterbens vor- handenen heiligen Gefinnung und Stimmung entfpriht. Der Wille gilt bier wie überall jelbjtverftändlich für bie That 1). Die ewige Seligfeit ijt aud) hier vom Erwachſenen ijt die Rede nicht bloß Gnade fondern zugleich aud) Lohne Nur durch freie Zuftimmung und Mitwirkung hat ihn bie Gnade wirklich befehrt. Die Belehrung ift wie göttliches Önadengefchent jo auch fittliche und in diefem Sinn per» dienftliche That. Das ift aber nicht die Regel, vielmehr fei. Als ob das Tridentinum nidjt von ben peccata ignorantiae et infirmitatis fpräche, welche auch der Gerechte noch fortwährend fid) zu Schulden kommen laffe, zu geſchweigen von feiner Lehre über dad incrementum acceptae justificationis.

1) Man [ἰδὲ deßwegen, wie ungereimt e8 ift, wenn Debler der katholiſchen Rechtfertigungslehre gegentiber auf bie bem Schächer (S. 516) und Zöllner (613) verliehfene Gnade hinweist. Sartorius S. 221 präcifirt bie zwiſchen Proteftantigmus und Katholicismus obichmebende Frage fo: „it bie werkthätige menjchliche Liebe, bie wir empfinden unb ausüben, oder ift die gnübige göttliche Liebe, bie wir glauben unb empfangen burd) das Evangelium, der Grund unferer Rechtfertigung und Seligfeit " Mit Unrecht, denn und ift ber Grund unferer Rechtfertigung eben immer die frei empfangene Liebe, bie weil frei aufgenommen, ſchon an fich auch unfer Werk ift und werkthätig fid) erweist.

Theol, Quarialſchrift. 1876. Heft IV. 43

662 Knittel,

in der Regel foff ber Menſch nunmehr die empfangene Gotteéfraft , die erhaltene göttliche Gnade benüken. Das „felige perfectum^ mit 91. Knapp zu reden, madjt im fatholi- chen Syſtem nidjt, wie diefer meint, einem „ungewiſſen futurum" Platz, fondern ift fo immer ein perfeetum und imperfectum zugleich (vgl. Reiff ©. 181). In dem Grade al8 der Gerechtfertigte mittefft der empfangenen Gnade bie noch vorhandene fittlihe Schwäche unb Ohnmacht des Beiftes unterdrückt und [ὦ durch Beobachtung der göttlichen Gebote Gott ähnlich zu machen fudit, wobei er immer zugleich von ber actuafen Gnade unterftükt wird, erhält er fid) nicht bloß das einmal empfangene Anrecht auf den Himmel, fon- dern erwirbt fid) aud) das Anrecht auf eine entjprechende gradnelle Steigerung jenes ewigen Genuffes.

Das will man nun protejtantijdjerieit8 nicht aner- fennen und bleibt man auf dem oben berührten Standpunkt der Trennung von Rechtfertigung und Heiligung ftehen , fo hat man recht: mit dem Empfang ber rechtfertigenden Gnade und anfjdjfieBlid auf Grund berjefben Hat ber Menfch fein Anrecht auf den Himmel erreicht, die nachfolgende nova obedientia, bie Früchte der guten Werke fünnen dazu weder binzufegen mod) etwas davon Hinwegnehmen. So „fällt“ allerdings für den Proteftantismus, „der ganze Nimbus ber Werfheiligfeit und ber Ruhm der Heiligen dahin“, „tritt an feine Stelle ber Ruhm der göttlihen Gnade und die Ehre des Erlöſers“ wie Ochler S. 525 hervorhebt, aber man fehe zu, wie man den Vorwurf zurüdweifen kann, jo feien die guten Werke, weil der Rechtfertigung rein üuferfidj an- "gehängt, aud) in Wahrheit überflüßig. Und um Dies mur nebenbei anzuführen menn wie Dehler jagt (Θ. 514), „diefer neue Gehorfam fein Berdienft begründet“, ift er

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 663

vann überhaupt noch ein fittliches Thun, das wenigftens vom Standpunft ber Moral Ehrifti, allerdings aber nicht vom Standpunft Kants aus, immer und nothwendig ein verdienftliches iſt? Die katholiſche Vorftellung ift eine in- nerlich durchaus im fid zufammenhängende und conſequente: bie Belehrung ift eine freie fittliche That des Meenfchen, und nicht minder ift die Erhaltung und Vermehrung ber Gnade an fein freies Thun geknüpft, infofern kann von ber Seligkeit als Lohn eines an fid) immer meritorifchen fitt- lichen Thuns die Rede fein: anderfeits ift die Belehrung ein Wert der göttlichen Gnade, ebenfo wie ihre Erhaltung md Vermehrung, da es immer wieder deu Sünden der Schwachheit gegenüber ber Verzeihung, der geſtellten fittlichen Xebensaufgabe gegenüber der fortwährenden Stärkung be: darf, εὖ jtebt endlich die ewige Seligfeit fo außer allem 33er» bältnig zum fittlichen Thun des Menjchen, daß jie in erfter Linie ein Gnadengeſchenk ijt. ' Bekanntlich fteht auch bie bl. Schrift in ihrer Ausdrucksweiſe ganz auf dem nemlichen Ctanbpunft der Betrachtung jomob( des fittlihen Thuns wie des himmlischen Ziels, principieff afjo Scheint ung gegen fie nichts eingewendet werden zu fünnen. Der fcheinbare Widerfpruh aber Liegt tiefer und muß in der Lehre vom Verhältniß der göttlichen Gnade zur menjchlichen Freiheit gelöst werben !) ganz zulegt handelt e8 fid) um das Ver- hältniß von Religion und Sittlichkeit.

1) Auf bie Lehre von ben Räthen gehen τοῖν nicht ein, nachdem fie exit von 2infenmann (Tüb. Qu.ſchr. 3. 1872. €. 1—49 u. 193 —245) ausführlich und umfichtig gerade gegenüber ber proteftanti- (den Polemik ift behandelt worden. Debler ©. 628 bleibt ganz an ber Oberfläche Hängen. Den [anblüufigen Vorwürfen gegenüber nur bie felbjtoer[tünblide SBemerfung , daß jede biejer „überver:

bienjtliden" Handlungen nur auf Grund auperorbentlidger göttlicher Begabung unb Begnadigung gewirkt werden kann. 48

ch $nittel,

siegen mer endlich nod) bie Lehre vom Berluft ber urerngung in Betracht, fo fpringt fofort in'8 Auge, daß ‚u ner bie Tatholifche Lehre rein die Confequenzen ihrer unzen Guaden- unb Nechtfertigungslchre zieht. Cu der Rechtfertigung und mit derfelben erlangt ber Menſch die ubernatür(idje Kraft zu wahrhaft auten, in der Liebe Gottes gemirften Werfen. Aber aud) fo bleibt er frei und Tann, wenn er will, jid von Gott und feinem Willen weg⸗ wenden unb im einer Weife gegen diefen Willen handeln, bie mit der Liebe Gottes unvereinbar ijt. Das find bie jog. ZTodfünden, über deren nähere Firirung und Beitimmung die chriſtliche Moral Aufichluß zu geben hat, bei ber man fid) erſt Raths erholen joííte, efe man mit dem Vorwurf eines „pharifäifchen Marktens“ (Debler S. 520, der ebendafelbft bie Zodfünden mit den jog. 7 Hauptjünden identificirt und ebenjo audj Reiff S. 72) bei ber Hand ift. Mit jeder derartigen Handlung ift einerjeits die Liebe Gottes unvereinbar, folglich bereit8 eingebüßt und eine That gefeßt, bie den Men⸗ Shen pofitiver Bejtrafung würdig madjt. Es bedarf daher für diefen, da die Taufe nicht wiederholt werden Tann, eines andern Gnadenmittels, mitteljt deffen Gott ihn von der ibm anhaftenden, in ihrer Folge ewigen Tod herbeiführen- den Schuld frei macht unb ifm die verlorene‘ Heiligmachende Gnade wieder [djenft. Man muß fi) um jo mehr über bie Vorwürfe, welche bie proteftantifchen Symbolifer gegen diefe einfachen Cüte erheben, wundern, αἵδ᾽ aud) fie (vgl. ὁ. DB. Oehler 525) zwifchen läßlichen Sünden des Wieder- geborenen (peccata infirmitatis et ignorantiae !)) und

1) Verkehrter Weife nimmt Debler ©. 520 an Bellarmin's Aeußerung Nergerniß : „es gibt Gerechte, bie ber Buße nicht be:

Studien Über bie Grundfragen der Srmbotit. 665

„vorfäßlichen und böswilligen“ Sünden unterjcheiden, mit welchen ber vechtfertigende Glaube nicht foll zufammenbeftehen können ἢ).

4) Zur Lehre von den Salramenten. a) Ihre Wirkungsweiſe im Allgemeinen.

Bei Behandlung der Lehre von den Calramenten uud ber Frage mad) ihrer Wirkung insbefondere darf man nie außer acht (ajfem, daß biefefbe im imnigften Zufammenhang mit der Lehre von der Gnade und Rechtfertigung gefaßt werden mug. Handelt e8 fid) ja, mit dem Tridentinum zu reden, Hier um gar nidjt8 anderes αἵδ᾽ bie consummatio justificationis nostrae. Alle Sätze, bie wir in der Lehre von der Gnade und Rechtfertigung als katholische aufgeſtellt gefunden haben, bleiben aud) für die Saframentenlehre in Geltung. Was aljo insbefondere über die moralifche Wir- lungémeije ber Gnade gefagt worden ijt, ijt aud) für bie Goframenteníefre gefagt: bie durch bie Gaframente pet» mittelte Gabe wirft afjo immer nur in und vermittelt freier Acceptation und Zuftimmung des Menfchen. Dieß muß Schon im voraus unjer Bedenken gegen die immer und immer wiederkehrende Behauptung erregen (vgl. 3. B. Reiff

bürfen". Natürlich ift vom Gaframent der Buße bie Rede, deſſen diejenigen nicht bedürfen, bie ohne Tobfünde bleiben.

1) Schwer verftändlich ijt e8, wie Debler ©. 523 daneben be- baupten fonnte: bloß bie Unterfcheidung ver Perfon, nicht ber anb: lung begrünbe einen fpezififchen Unterjchied. Sagt man zur Verthei⸗ bigung, gewiſſe Handlungen feien ihrer Natur nad) fo beichaffen, bag ihre Begehung bereit ben Verluft des rechtfertigenden Glaubens zur Vorausſetzung babe, fo bat man gar nichts anderes a[8 die Tatholifche Lehre bejaht.

666 Knittel,

€. 158), al8 ob, während die fatfolijdje Gnaden- unb Recht⸗ fertigungslehre bie €elbftitánbigfeit des Menfchen in pelagia- nifirender Weife überjpanne, derjelbe Menſch den Safra= menten und ihrer „magifchen“ Wirkung gegenüber vollftän- dig umfelbftjtändig daftehe, fid) mehr oder weniger pajjio verhalte. Solche Widerſprüche jollte man denn bod) im Ernft dem fatfofijdjen Syiteme nicht zufchreiben 1).

Die fatfofijdje Pehre über bie Eaframete und deren Wirkſamkeit ift überaus einfah. Die Gnade, welche bie Saframente vermitteln, ift ihrer Natur nad eine unficht- bare (Sabe. Aus Gründen, deren meitläufige Erörterung wir hier fügfid) übergehen, wollte Gott diefe unfichtbare Gabe ben Menſchen nicht aud) in unjichtbarer Weife ver- mitteln, infofern allerdings unter diefer Vorausfegung der Menfh aus dem Zweifel und ber Ungewißheit über Em- pfang oder Nichtempfang der unfichtbaren Gabe niemals herausfäme *). Bielmehr fette er eigene Firchliche Amts-

1) Reiff bleibt natürlih €. 58 troß alledem, mas er felber dagegen angibt, bei ber Behauptung: „man Tann fid) Tatholifcher: feit8 der Borftelung faum ertvebren, daß bte Saframente in magiſch medjanijd)er Weife wirken”, findet aber gleih S. 59 in ber Lehre von den (einzelnen) Saframenten „fo weitgehende Bedingungen und Vorbereitungen verlangt, daß wenn man es damit nicht nur duet: lich (mie fid) bas Reiff wohl denken mag?), fonbern genauer nebnten will, fein Genuß faft mehr eine Laft als ein Segen ifi^. Nur eine Probe ber vielen „Naivetäten” be8 Buch, das vielfach ein felt- ſames Genmijd von „Wahrheit und Dichtung” bietet.

2) Man fieht bier, wie bie fatbolijdge Gemwißheit der Sünden: bergebung [fid nicht auf das bod) nicht immer actuell vorhandene Gefühl be8 Glaubens ftüßt, jondern auf bie objectibe Gottesthat, bie int Saframent jid) äußert. So wird ja aud) von Luther erzählt, daß er fi in jchtweren Stunden nicht etwa an ben Glauben, fonbern an den Empfang der Taufe erinnert babe. In dem wirklichen Empfang be8 Saframents alfo liegt nach Fatholifchen Principien bet Troft des zweifelnden Gewiſſens.

Studien fiber bie Grundfragen ber Symbolik. 667

bandlungen feft, an deren Begehung durch bie berufenen unb befähigten Organe er die Mittheilung feiner (Snabe Inüpfte. Sonach find bie Caframente bie von Gott ὑεῖ: orbneten äußern Mittel, an welche bie Verleihung feiner Gnade geknüpft ijt. Es find Zeichen der Gnade, infofern fie diefe je in ihrer Wefenheit und Wirfung äußerlich ſym⸗ bolifiren. Aber es find nicht bloße Zeichen der Gnade, fon- dern wirkſame Zeichen derſelben, infofern fie die Gnade welche fie fumbolifiren zugleich aud) wivffid) vermitteln. Selbftverftändlih bdB fie ba8 nicht in Folge ihrer Natur und natürlichen Befchaffenheit leijten, vielmehr auf Grund ihrer "Anorduung und Einfegung burd) Jeſus Chriftus, Das ijt kurz angedeutet ber Sinn der berühmten Formel: die Saframente mirten ex opere operato. Was ift damit zunächſt negativ gejagt? A. Die Saframente, diefe gott: verordneten Gnadenmittel, fchöpfen ihre Kraft nicht gleich den altteftamentlichen (fo Calvin nach Oehler ©. 556) ex opere operantis, b. D. fie mirfen an [id nidjt8, ſondern nur ber fromme Sinn und ber Grad ber Andadht, womit die äußern Handlungen begangen werden, ijt von Bedeutung für da8 Seelenheil be8 Empfängers. Eigentlich würde afjo in diefem Fall der Menſch aus fid) ſelbſt und ber eigenen Nillens- anftrengung und Anfpannung heraus fein Heil gewinnen: der proteftantifche Vorwurf, c8 handle fid) nur um eine Selbftbefehrung im ausschließlichen Sinne des Wortes, wäre berechtigt. Aber gerade biefem Irrthum ſoll vorgebeugt werden. Die Saframente wirken ex opere operato, b. ἢ. nicht etwa als diefe natürliche Handlungsweife, als melche δ. B. ber Zaufact erfcheint, fondern als diefe von Gott vorgeschriebene HandInng bringen fie von fid aus immer da8 Heil an den Menfchen heran. Alſo wo immer 3. 2.

668 Knittel,

die ZTanfhandlumg gejpendet wird, ba bietet Gott bem Empfänger die Rechtsfertigungsgnade an und zwar fo gewiß αἰ Gott jene Handlung als da8 ordentliche Gnadenmittel zur Erlangung der Rechtfertigung feitens der Ungetauften ein- geſetzt Bat ). Wo alfo bie faframentafe Handlung in der von Chrifto vorgefchriebenen Weife vollzogen wird ?), da ift aud) feitens Gottes wirklich und wahrhaft dem Empfänger Gnade angeboten worden.

Ob diefe Gnade nun aber bloß an beu Menſchen heran- ober, menn mir fo jagen dürfen, andj in ben Menfchen hineinfommt , ob fie alfo unmirfjam unb unfrudtbar ijt, ober aber ihre Deifjame Wirkungen wirklich im Menſchen fett, das ijt von ber Dispofition des Empfängers abhängig.

1) Daber kommt e8, daß die Kirche bie Ketzertaufe allezeit als wirkſam anerfannt bat. Qienad) zerfällt die etwas hämiſche Be merfung Deblerà (GO. 559) in fid felbft: „Dieſes fcheinbar liberale Zugeftändniß (bie Giltigfeit der proteftantijdjen Taufe ift gemeint) an bie evangelifche Kirche bat darin feinen Grund , daß jede evans δε! {ὥς Taufe auf den breleinigen Gott für die römische Kirche gelten und ben Zäufling de jure zum Unterthan des Bapftes machen jo”. Aehnlich 9Reiff S. 60. Wenn er meint, nur um biejer praftiichen Folgerung willen habe bie Kirche an der Giltigleit der fegextaufe feitgehalten, fo glauben wir gerade umgefebrt, aus bem Dogma 308 bie Kirche bie praktiſche Folgerung.

2) Debler'n €. 559 und Reiff €. 180, früher Gueride €. 468 macht bie vom Florentinum und Tridentinum geforderte Bebingung ber intentio id faciendi quod vult fieri ecclesia fchivere Be: benfen, weil damit eine Unficherheit bezüglich be8 wirklichen Safra- meniBempfang8 bebingt wäre. Beide verftehen dieje Forderung gar nicht vet, denn €. 560 fordert Debler zur Giltigfeit ber ſakra⸗ mentalen Handlung fe[bft eben das mas wir a[8 Intention bezeichnen: die Taufe müfje als eine Handlung begangen werden, melde fie bem Empfänger fenntfid) made. Auch trifft bie Cenſur der Schmal- falbijdjen Artikel (Debler S. 566) nur bie Thomiftifche Lehre vom Saframent als dem „Ort“ der Gnabe.

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 669

Tritt jemand alfo 3. B. indisponirt zur Taufe, fo wird ihm zwar bie Gnade angeboten, aber ftatt der Gnade ladet er auf fid) bew Fluch eines Sacrilegium, infofern er deren fruchtbarer Wirkung in ihm einen Riegel vorgefchoben. War in diefem Falle jene Handlung nun ganz unwirkſam? Nein, die Gnade wurde wirklich, fo gewiß bie Taufhand- fung richtig vollzogen wurde, dem Empfänger angeboten, und würde ihre Wirkung in demfelben gehabt Haben bei entjprechender Dispofition. Da nun diefe fehlte, fo ijt ihre Wirkung im] Vollzug vereitelt worden. Die Gnade ijt gleihfam vor der Thüre des Herzens (teen geblieben. Sefegt bag mum hernach die urfprüngfich mangelnde Die: pofition eintritt (die natürlich die Neue über das begangene sacrilegium, kurzweg den Empfang be8 Bußſakraments zur Vorausfegung nimmt), fo tritt nun aud) die fruchtbare foframentale Wirkung ein, ohne daR c8 eines neuem Gmpfangé be8 Saframents benöthigte ἢ. Dies ijt übrl- gene, wie nad) einer bei Dehler angeführten und belobten Aeußerung Luthers (S. 560) erfichtlich, ganz aud) die prote» ftantifche Meinung.

Non der für den fruchtbaren Empfang des Sakraments nöthigen Dispofition weitläufig zu reden, Hatte das Στὶς dentinum feinen Grund, e8 hätte ja nur das in ber sess. VI Geſagte nochmals wiederholen müjjen und Oehler geht voll- itändig fehl, wenn er e$ charakteriftifch nennt, daß die Lehre von den Bedingungen de8 Empfangs „jo furg" vom Tri⸗

1) Andere bringen das mit bem fog. „Charakter“ gewiſſer Saframente in Verbindung, find aber dann genöthigt, aud) für bie Saframente der Delung und ber Ehe einen Quaſicharakter anzu⸗

jegen.

670 Knittel,

dentinum gefaßt worden jei (€. 561). „So ſchlan“ mit Dehler meint (€. 582) war ba6 Concif alfo diesmal nidjt. Er gibt zwar (€. 564) an der Hand Bellarmins fachlich über bie Lehre vom opus operatum das Richtige, aber offenbar ohne der Sache recht zu trauen. Denn gegen Möhler, der den Ausdrud: die Sakramente wirken ex opere operato, zwar nicht jpradjfid) aber doch ſachlich richtig ausgelegt hat, aboptirt er dann die polemifche Ve⸗ merfung von Nisih (€. 564): „Wenn dies die Tatholifche Lehre ift, fo find die Proteftanten noch immer ein Bedeuten⸗ des Fatholifcher als die Katholifen. Denn die Proteftanten [affen im Saframente Chriftum wirken und dies allein: feine Ginjegung, fein Wort, fein Geift, feine Macht und Gnade, ohne bag irgend eine voluntas oder intentio minisiri förderlich oder Hinderlich werden könnte 3). Folglich fommt e8 eben doch nur auf unfere Empfänglichfeit für bit Darbietungen des Erlöſers an.“ Wir Haben dagegen nichts einzumenden und acceptiren auch bereitwillig die von Dehler €. 587 von Garpgom angeführte, gegen Calvin gerichtete Auslegung be8 13. Artikels ber Augustana: »Non dici- iur, quod sacramenta non habeant efficaciam absque fide!, sed quod non prosint absque fide, nur daß wir mie immer aufer der fides nod) andere Bedingungen des Nugens“ der Gaframente auzufeßen haben.

Iſt das der Sinn der viel beftrittenen Formel: die Saframente wirken ex opere operato ?), [o wird e8 aud

1) Bon bem bier chichwebenden Mißverſtändniß des Begriffs der intentio war ſchon bte Rede.

2) Ob nun wieder in phyſiſcher ober moralifcher Weife, darüber beftand befanntlich Schulſtreit zwifchen Thomiften und Seotiften. llebrigen8 zeigt Debler €. 559 f., daß er auch bieje Differenz nidi

Studien Über bie Grundfragen der Symbolik. 671

nicht mehr fchwierig fein, fid) über die andere Formel zu verftändigen : fie verleihen immer umb überall die Gnade, wo ihnen der Menſch feinen Riegel entgegenjchiebt, con- ferunt gratiam obicem non ponentibus. Hier handelt fid) alfo nicht bloß um die efficacia derjelben überhaupt, jondern um deren fruchtbare Wirkſamkeit !). ‘Der negative Ausdruck: obicem non ponere fat nun von Anfang an faft nod) mehr des Anftoßes erregt a(8 das opus operatum. Oehler beruft fid) fehon auf bie Apologie der Augsburger Confeffion, welche behaupte, im ganzen Neich des Papſtes werde gelehrt, die Saframente verleihen die Gnade sine bono motu cordis ἢ. e. sine fide (€. 563). Aber mie wiederholt bemerkt ein einfacher Rückblick auf bie tri» bentinijd)e Lehre von der Nechtfertigung genügt zu dem Srweis, daß mit dem negativen Ausdruck „nicht bloß ein negatives Verhalten, eine Verfaſſung des Subjeks“ gemeint fein tann, „vermöge deren e8 jener Wirffamfeit fein Hin- derniß entgegenftelit.“ Auch fofíte man der Kirche nicht bie pſychologiſch ungeheuerliche Annahme zutrauen, daß fie ein folche8 Verhalten des Menfchen in der wichtigften Heils— angelegenheit auch nur möglich erachtete, wo e8 wahrhaftig

verfteht. Es Handelt fid) um die Frage, ob Gott die entjprechenbe Gnade der fatramentalen Handlung förmlich gleichſam phyſiſch εἰπε verleibe, bum fie mie einen Kanal dem Menſchen zukommen Laffe, oder ob er nur, jedesmal fo oft bie faframentafe Handlung rite gefpendet wird, gleichfam banebenber unb von fid aus feine Gnade verleibe.

1) Guericke €. 467 überfieht aljo hierin gerade bie Hauptfache, wenn er bie Fatholifche Kirche lehren läßt, „daß auch ganz abgejehen vom Glauben die Safrantente ex opere operato, infofern jte nur fonft nach Materie unb Form recht adminiftrirt werden, fegen& veich wirkten jollen".

672 Snittel,

nur ein Dafür oder wenn nicht eo ipso Dawider gibt (vgl. Bellarmini disput. de sacr. in gen. II, 1). Die Entftehung und der Gebrauch des negativen Ausdrucks aber ift voffenb8 geeignet, alle Bedenken aus dem Wege zu räumen. Bekaunt ijt bie Neigung der Scholaſtik, bei fol» hen termini technici möglichft die Ausdrücke jo zu wählen, daß alle etwa vorkommenden Fälle darunter fubfumirt wer- den Fönnen. Hätte man den Ausdruck pofitiv gehalten, fo wäre von vornherein der allgemeine Sa nicht auf bie für die Praxis war das ja bereit8 bie Negel Kinder anzuwenden gewefen. Hier gilt gewiß vecht eigentlich ber Cab: sacramenta conferunt gratiam obicem non ponentibus. Und endlih war auch nodj all ber andern Ausnahme » und Nothfälle zu gedenken, mo mangeí8 der Möglichkeit einer entjprechenden Willensbethätigung , bie aber doch eventuell vorausgefet werden mußte (intentio interpretativa) '), verjuch8weife die faframentale Handlung applicirt wurde (Delung). Sollte man diefe der Ausnahme entfprechende Ausnahmspraxis mod) irgenbmie rechtfertigen, fo war wieder eine pofitiv fantenbe Formel weniger geeignet als die negative. Und überhaupt bradte e8 bie mehr cafuiftifch gehaltene Behandlung der ſcholaſtiſchen Sakramen⸗ tenlehre mit fid), daß man zunächft nur das Minimum menfchlicher Leiftungen in's Auge faBte. An derartige Aus- nahmsfälfe, mo bie firchliche Praxis fid) irgendwie mit ber augenb(idTidjen Nothlage auseinanderfegte und von ben Theo⸗ logen bod) gerechtfertigt werden ſollte, denken die Scholaftifer,

1) Ueber bie Art und Weife, wie fid) ſchon Auguſtin in Notb: füllen a, 3. bezüglich der Taufe over aud) Reconciliation bewußt: 108 darniederliegender Kranken zu helfen fuchte, vgl. defien Schrift de conjugiis adulterinis II, 28, 85.

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 673

wenn fie jene anftoßerregenden Beſtimmungen über a8 Minimum menfchlicher Vorbereitung geben. Man fonm die Praxis beanftanden, die Schofaftifer eines gewiſſen Laxismus in Behandlung biefer Fälle anf(agen , die Kirche fat jid) hierüber niemals geäußert !).

Klage man alfo wenn man will für diefe Ausnahmes fälle die Tirchliche Praxis wegen allzugroßer Meilde oder wegen unbefugter Eingreifung gegenüber den unerforjchlichen Rathſchlüſſen Gottes an, e8 handelt fid) um die Negel und um da8 ficher von ber Kirche Gelehrte und Feitgehaltene und hier zeigt num die Lehre von den Bedingungen des würdigen Empfangs der Taufe für bie Grmadjjenem und cbenfo von den Bedingungen be8 Empfangs des Saframents der Buße, wie da8 obicem non ponere durch unb durch pofitiv gemeintift. Für alle übrigen Saframente (die hl. Delung. im Nothfall nad) theologifcher Meinung ausgenommen) ijt ber Stand der Gnade als erfte Vorbedingung ihres Frucht: baren Empfangs ge[egt, aljo der 22 d Stand ber Hechtfertigung und Heiligung.

Wollen wir uns nun aber wieder die Frage vorlegen, woher das faſt alljeitige Meißverftändniß diefer einfachen Süße proteftantifcherjeit8 rühre, fo finden wir die Antwort wieder in der eigenthümlichen proteftantifchen Rechtfertigung» lehre. Die eigentliche Bedingung des Empfangs der Necht-

1) Will man fich über biefe Frage näher unterrichten, fo hätte man insbeſondere auf ba8 Sakrament bet legten Delung zurückzu⸗ fommen. Uebrigens zeigen bie hier auftauchenden praftifchen Schwie⸗ rigfeiten und beren Löſung, Fragen, welchen fid) auch der Proteftan- tismus nicht zu entziehen vermochte, wie wenig bier mit reinem Biblicismus ausgerichtet ijt. Ohne ben Glauben an den ber Kirche ajfft[tixenben bL. Geift fümen wir nie au8 dem Stveifel heraus,

674 Snittél,

fertigung ift der Glaube, biejer aber wird gemedt mittelſt ber Auhörung oder Lefung des Wortes Gottes. Dieſes das Wort Gottes erfcheint aljo ald das eigentliche Salrament, an dejjen Gebrauch Gott regelmäßig feine Gnadenmittheilung gefnüpft Dat. So Luther fefbjt und fehr gut Dat Dielen Zhatbejtand Dehler €. 528 ff. auseinandergefegt. Indem ber Menſch das Wort Gottes äußerlich liest ober hört, wirkt Chriftus oder ber bem Worte immanente Geiſt Gottes intet [id im Menjchen den Glauben, ber die Rechtfertigung utt mittelbar im fid) fchließt. Außer dem Worte könnte man aljo nur nodj den Glauben felber als das weitere gott: verordnete Gnadenmittel denken, wie er denn ja aud) mit Borliebe als bie ergreifende Hand, das ὄργανον Annmsixor ber Guade bezeichnet wird. Dennoch läßt man aud) pro teftantifcherfeit8 neben dem Wort (otte$ bie jog. Gatto: mente als Gnadenmittel gelten, indem mam ſich darauf beruft, daß jie nicht nur ihrer Form nad) Worte Gottes enthalten, ſondern aud) gleichfam veräußerlichte Worte Gottes feien und jedenfall bem bereit8 vorhandenen jchwachen Glau⸗ ben zu ſtärken geeignet ſeien. Ob ſich unter Vorausſetzung dieſer Beſtimmungen die Kindertaufe rechtfertigen laſſe, ob die Lehre ſelber in ſich zuſammenhängend, ob von einem ſchwachen und doch rechtfertigenden Glauben die Rede ſein könne, davon ſehen wir hier ab. Aber nun meinen wir, ſollte man die ſchwierige Stellung begreifen, welche der Proteſtantismus der katholiſchen Lehre von der Wirkſamkeit der Sakramente gegenüber einnimmt.

Am Siune des Proteſtautismus wird durch bie Cu: kramente zunächſt lediglich Sündenvergebung vermittelt, da- her er abſolut kein Verſtändniß für ſolche Handlungen hat, welche die empfangene heiligmachende Gnade vermehren, die

Studien über bie Grundfragen der Symbolik. 675

jog. Gaframente der Lebendigen P). Darauf wollen mit bier weiter nicht eingehen, aber der Proteftantismus (dft immer die pofitiven Wirkungen der Sakramente überhaupt zurücktreten. Darin daß Gott alfo 3. B. im Saframent der Zaufe nicht bloß bie gejchehene Sünde nachläßt, fondern auch neue übernatürliche Lebenskräfte einflößt, wie bie fa» tholiſche €ebre nothwendig fordert, wird er jid) nur fchwer hineindenfen, ihm zufolge erhält ber Getaufte mehr nur ein Anrecht auf Heiligungsträfte, während er nad) fatholiicher Anffaffung wirklich in den Beſitz übernatürlicher Lebens⸗ fräfte fofort und unmittelbar gefett erfeheint. Hier kann der Proteftant, wenn er a8 Myſteriöſe der Vermittlung übernatürlicher Kräfte an den Menſchen nicht anerkennen will, (εἰ ἢ, ja wir möchten fagen nothwendig „Magiſches“, „magische Gaben“ erbliden. Dem allerdings ftehen wir bier vor einem Geheimniß, nur ift e8 ein methodifcher Fehler, wenn man dasſelbe erſt hier antajten möchte, es ift uns Schon viel früher umb gleich am Anfang des zweiten Theils unferer Studien begegnet: die Gnade ant. Anfang wie bie in Chriſto ift nicht bloß formell, fondern auch mas teriell etwas Uebernatürlihes. Mit diefen übernatürlichen Wirkungen der Gnade haben aber die Sakramente nur ἐπε fofern etwas zu thun, als fie die von Gott gejekten Medien

1) Es ift eine unwürdige Polemik, gegen bie Tatholifche Lehre von einer Mehrheit von Sakramenten dad Wort von Nigich zu aboptiren: „viel bilft viel” (Debler ©. 547). Und wenn Oehler ebenbafelbft bemerft: „in jedem biejer Gaframente erjcheint bie recht: fertigenbe, beiligenbe Gnabe, welche mitgetheilt wird, in belonberet Mopdification”, fo ift ba8 noch immer ungenau genug. Es hanbelt fid, abgejebert von ber Taufe und Buße, immer nur um Mehrung ber heiligmachenden Gnade in einer beftimmten Richtung, für eine beftimmte Lebensentwidlung, für eine bejtimmte Lebensſtellung.

676 Anittel,

ihrer Uebermittlung an den Menſchen find. Sonſt aber haben jie widjt8 miteinander zu thun und e8 ijt ba8 ver- fehrtejte Unternehmen von der Welt, von der „magifchen“ Wirfung der Gnabenmittel ftatt vielmehr, wenn man bod) den Ausdrucd will, von den ,magijden" Wirkungen der Gnade zu reden.

Nur entfchiedenen Grnjt mit der Lehre von einer ficht- baren Heilßvermittlung macht aljo die katholiſche Kirche, ohne übrigens wie die Lehre von den Wirkungen der voll: fonımenen Neue in Verbindung mit bem votum .sacra- menti beweidt, die Stellung der Saframente als bloßer ordentlicher Gnadenmittel zu überfpannen. Keine menſch⸗ liche Anftrengung fund keine menſchliche Dispofition erzielt wirkliche Sündennachlaſſung und Heiligung, wofern fie nicht Gott aus freier Gnade ertheilt und er Dat mur eben ihren Empfang ordentlicherweife an den Gebraud) diefer Graben: mittel gebunden. An ihnen Hat ber Menſch eine objective Bürgſchaft für die (relative) Sicherheit des Empfangs ber Gnade (refatip, weil die Caframente wirffidje Gnade nur dem dafür Disponirten verleihen) und gerade ba8 Drängen auf bie Nothwendigkeit des äußern Gebrauchs beweist wie jehr die Kirche anerkennt, daß alle Gnade und alles Heil für bem Deenfchen nur von Gott fommt auf bem von ihm jelbjt indicirten Weg.

b. Ueber die Saframente im Einzelnen. .

Dorauf ift ſchon aufmerffam gemadjt, daß ber Pro- teftantismus für die fog. Saframente ber Lebendigen fein Berftändniß hat, alfo in feinem Syftem fie nothwendig fallen lafjen muß. Auch das Abendmahl finft zum Saframent

Studien Über bie Grundfragen der Symbolik, 677

bet Sindenvergebung (vgl. Dehler S. 602) 1) herab und [εἶπε felbftftändige Stellung neben der Taufe (dt fid) mur ſchwer erweifen. Daß weiterhin die Zransfubftantiation geleugnet und der Gudjariftie der Opfercharafter - beftritten wird, ift ebenfo Defannt. Darüber ift hier der Streit nicht zum Austrag zu bringen , nur gegen falfche Vorwürfe und Mißverftändniffe Haben .mir uns hier im Einzelnen zu ſchützen. Dahin gehört 3. B. die Polemik gegen die Lehre von ber Wirkfamtkeit der Taufe. Obgleich Ochler €. 574 bon ber Taufe ganz mie wir jagt: fie fei „wirffich das Vehikel für bie wiedergebärende Kraft des Heil. Geifte8^ fährt er jpüter ©. 574 f. bod) fort: „allein es bleibt immer ber me[entfidje Unterfchied von ber römifchen . Lehre, daß eben das im Glauben ergriffene Verheißungs- wort durch die. Handlung wirkt 5), bie e8 begleitet, nicht eine am confecrivten. finnfichen Material haftende Kraft, meggatb ἐδ jid) von felbjt veriteht, daß außer ber von Gprifto geordneten Handlung das Taufwaſſer feine Kraft Dat". Man fieht wie nahe Dehler daran anjtreift, bem - Saframente feine Selbftftändigkeit neben dem „Worte“ Gottes ganz zu nehmen, aber dann ijt fein obiger Cat fati). Macht er aber Ernft mit demfelben, muß zum

1) Safer der Vorwurf Calvins gegen bie Beibehaltung bet Lehre von ber realen Präſenz, als welche doch durchaus feine be: jonbere Wirkung im Menfchen fege. Wie Debler nun dazu fommt, ber Katholischen Lehre ben Vorwurf zu maden: weil „Ehriftus nur io fange in den Elementen präfent [εἰ bis fie conjumirt find, fo fönne e8 zu Feiner myſtiſchen Lebensgemeinſchaft kommen“, „begreifen wir nit. Wie lange dauert denn bie reale Gegenwart Chrifti nach Iutherifcher Lehre ?

2) Wie ftebt e8 dann bei den Kindern? Vgl. bie eigene Dar⸗ ftelung Oehlers ©. 582 f.

Theol. Quartalſchrift 1876. Heft IV. 44

678 anittel,

Wort der Verheißung: id) taufe dich ꝛc. die Abwaſchung hinzukommen, zu was feine Polemik gegen die katholiſche Lehre, bie ja Oehler überfieht ba8 ebenfalls S. 574 neben der der „Materie“ der Saframentshanblung aud) die Nothwendigkeit des „Wortes“ als der „Form“ betont. Und wo hat denn jemals ein Theologe gelehrt, daß das Tauf- waſſer außer der Handlung faframentafe Kraft habe ? Indem wir andere untergeordnete Punkte übergehen ἢ), richten wir nur πο unjere Aufmerkſamkeit auf die Lehre vom Opfercharakter der Gudjarijtie. Die Verwandlungs⸗ (efte einmal vorau&grjegt, follte man bod) gegen die Opfer vorftellung wicht mehr viel einzuwenden haben. Wir feiern in ber Euchariftie die Erinnerung, ba8 Gebüdjtnig des Todes Ehrijti. Inſoweit wir ποῦ von der realen Gegenwart Ehrifti abfehen, ift die Handlung mod) eine darftellende,

1) Was fol 3. 9. eine Polemik wie bieje (Debler &. 597): „bie Gonjequen ber Verwandlungslehre ifi die Anbetung ber ge weihten Elemente! be8 Deus in pyxide, ift alfo Uebertretung beà fBerbot8 ber Verehrung Gottes unter irgend einer Geftalt und fo Rüdfal in ben Paganismus“. Abgefehen von dem unrichtigen Borwurf einer „Anbetung der geweihten Elemente“, ift ba8 nicht eine Sprache, bie man ebenjotoobI gegen ben Begriff der Incatnation führen fünnte? Ueberhaupt trägt ber legte Theil be8 Oehler'ſchen Buchs ben Charakter einer gewiſſen Ylüchtigfeit. Darum mehren fj aud) materielle Verjtöße, bie und übrigen bier nicht toeiter intereifiren, wie wenn er bie Verwandlung fchlehthin als AU machtsmirakel fapt, ba bod) ber Ausdruck transsubstantiatio felbit ſchon feine Erklärung anbeutet (©. 587), bie, Theorie bon ber con- versio adductiva jdjfedjtbin als bie Fatholifche Lehre faBt (S. 588), bie neuere römiſche Theologie geneigt fein läßt, bie priefterliche Bene: dietion als mejentlich zum Sakrament der Ehe zu fordern (S. 629) u.a. Auch in rituellen Punkten, denen zuviel Aufmerkſamkeit ge: widmet ift, finden fi Fehler. Doch darauf wollen wir hier nicht eingehen.

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Studien über die Grundfragen ber Symbolik. 679

dramatische. Sobald wir und aber erinnern, daß auf Grund der Qefre von der Transjubftantiation Chriftus felbft gegen- wärtig ijt, ijt die Handlung nicht bloße memoria , recor- datio, jonbern reale repraesentatio be$ Opfertodes Chriftt jelber. Dies der Grundgedanfe der Meßopfertheorie, von Schulftreitigkeiten wird Bier billig abgefehen. Daß hieuach von einer Ergänzung, Vervollftändigung des Kreuzopfers nicht bie Rede fen kann, ift ffar, aud) abgejehen von ben Beſtimmungen bed Tridentinums. Dennoch fehrt ber Bor» wurf wieder bei jOebler S. 597. An dieſer realen Repräfen- tation des Kreuzopfers nun vauft der kirchliche Cultus empor, um fie Schlingen fid) alle die reichen öffentlichen Eult= und An⸗ dachtsformen ganz wie von felber. Daher die Stellung, welche dem Meßopfer im praftifchen Leben der Kirche. und ihrer Gläubigen zulommt. Sehen wir nun von ber fafras mentalen Seite des Meßopfers ab, fo haben wir in bent felben nur den vornehmften und höchften Guítatt der Kirche, in welchem fie ihre Gebete durch den Mund Chrifti felber und im Hinweis auf fein ein für allemal giítige& Opfer dem bimmlifchen Vater barbringt. Inſofern ijt das Meß⸗ opfer ſpezifiſch vom Gebete nicht verfchieden und ftellt wur die höchſte Form desfelben dar, bie zugleich) aud) die höchite Bürgfchaft der Erhörung bietet. Alle ihre Anliegen alfo bringt die Kirche an ben Fuß des Krenzes, alle ihre Gebete bringt fie durch Chriftus dar, bei all ihren Bitten richtet fie ihr Auge auf das Verdienft des einmaligen Kreuzesopferd. Daß aber ihre Bitten auch jo nicht unfehlbar mirfen , ift jelbjt- verftändlic und ift gerade eine ihrer Hauptbitten, daß Gott um Chrifti willen ba$ große Hemmniß jeder Fürbitte, Die Sünde, aus dem Wege räumen möge durch Verleihung der Gnade der Buße und Belehrung. Hier ijt alfo überall von 44 *

680 Knittel,

feinem Mechanismus, feiner liber die Freiheit des Meenfchen hinausgehenden. Wirkung die Rede, von einem opus opera- tnm fann nur in dem Sinn bie 9tebe fein, daß ba8 Gebet ber Kirche, indem es burd) Chriftus dargebradjt wird, um feiner Perjon und feines Verbienftes willen niemald ganz unfruchtbar fein werde. Und bod) müfjen wir bei Dehler wiederholt in biejer Beziehung die ſchwerſten Vorwürfe hören, Bormürfe, die erft nod) von volfenbeter Unklarheit über ben ganzen Gegenftand Zeugniß ablegen. So bemerkt er [don ©. 560: „Das Tridentinmm hatte guten Grund auf Bei⸗ behaltung diefer Beftimmung (e8 ijt die Qefre von ber Noth— menbigfeit ber Syntention für Giltigkeit der Sakramente ge- meint) zu bringen, ba bei der Xehre vom opus operatum, bei der Vollftändigfeit ber DMeeffe ohne Austheilung des Sakra⸗ mentes in der That nur nod) ein ſchlechthin mechanischer Aft übrig geblieben wäre”. Hier verftchen wir Debler einfach nicht. Wenn er aber fpäter nochmals wiederholt (&. 598): „In Wahrheit erreicht im Meßopfer die Lehre vom opus operatum ihre Höhe, inbem hier die Aneignung der Gnade von aller Selbftthätigfeit des Begnadigten getrennt wird" jo müfjen wir das runbroeg und voll beftreiten. Das Gebet ber Fürbitte anerkennt aud) ber Proteftantismus, ob es aber einen Erfolg erzielt, das hängt ab von ber Diepofition Deſſen für den gebetet wird. Erweist fid) ein folcher ber ihm auf bie Fürbitte Hin angebotenen Gnade gegenüber hartnäckig verftoct, jo ift bie Fürbitte fruchtlos, auch wenn fie von der Kirche durch den Hohepriefter Chriſtum felber ift bargebrad)t worden. |

Gnblid) möchten wir uod) auf eine weitere Seite in ber katholischen Lehre von der realen Präfenz Ehrifti im Altars- jaframent und dem Meßopfer aufmerfjam machen. Der

Studien über die Grundfragen der Symbolik. 681

vom Proteſtantismus geforderte unmittelbare Verkehr mit Chriſto in Gebet und Andacht ift durch bie erjtere Lehre ermöglicht und wird von der Kirche mit ihren Vorfchriften über die Anwohnung beim Meßopfer in alfmeg gefördert. Gerade burdj Theilnahme an der Kirchlichen Opferhandlung al8 der realen Nepräfentation des Kreuzesopfers Ternt der Chrift, unmittelbar in allen Anliegen an Gfrijtum fid) zu wenden, alle feine Anliegen unter das Kreuz zu bringen, unb indem von der Kirche auch der Eult ber Heiligen in Berbindung mit dem Meßopfer gebracht wird, erhellt auf’s Deutlihfte, wie alf ihr Lob und Ruhm zuletzt zur Vers herrlichung Chrifti wird, auf deffen Verdienft allein ihre Heiligkeit und Herrlichkeit gründet.

Endlih wenden wir uns πο der Qefre vom Buß—⸗ faframent zu, indem wir fadjgemüf auch bie Xehre vom Ablaß und Fegfener Hereinziehen, dogmatifchen Meaterien, die auf's Innigſte mit den Beftimmungen über das Buß⸗ jaframent zufammenhängen. Schon der Cat bei Oehler ift falſch (€. 615): „Für alle nad der Taufe begangenen Sünden bedarf e8 eines nenen GCaframente8, damit nam wieder mit Gott verfühnt werde.” (8 follte heißen „für alle nach der Taufe begangenen Zodfünden.“ Im meiterm zeigt ſich Oehler über den Unterfchied von attritio und contritio wenig unterrichtet, und ſchließlich €. 616 ff. bemerkt er: „Aber die Reue, bie ein Stüc des Safra- ments felbft ijt, ift eben eine ans ber Liebe zu Gott fers vorgegaugene Verabſcheuung der Sünde. Denn das ift ja der mejentfide Unterjchied des evangelifchen und des fatfo- liſchen Juſtificationsproceſſes, daß ἐδ dort heißt: mem viel vergeben ift, ber liebt viel, hier dagegen ber Menſch bie Gottesliebe hervorbringt, um Vergebung zu erlangen.“ Wie

682 Knittel,

Oehler letztere Behauptung mit ſeinem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen vereinbaren kann, begreifen wir nicht, da ja auch die „anfangende Liebe“ zu Gott ſchon nur unter dem Ein⸗ fluß der Vorbereitungsgnade zu Stande kommt. Sofort wird der Nothwendigkeit des votum sacramenti auch bei vollkommener Reue gedacht und hiezu bemerkt: „Mit an⸗ dern Worten die Buße muß, auch wenn ſie nicht wirklich Kirchenbuße iſt, doch die Intention haben es zu werden. Während alſo die ernſtlichſte Rene ohne das Verlangen nach der Ohrenbeicht nichts iſt, weiß die gute Mutter auch einer oberflächlichen Reue zu Hilfe zu fommen, wenn das Be⸗ kenntniß mit dem Munde hinzutritt.“ Folgt dann eine „merkwürdige“ Stelle aus dem catechismus Romanus, bie übrigens nur von den Schwierigkeiten der pollfommenen Neue handelt. Natürlich können wir nicht ausführlich auf dies Gewebe von Mißverftändniffen eingehen, bie fid) durch ein auch nur oberflächliches Studium der Fatholifchen Dog- matit über das fSuffaframent: heben ließen ἢ), Nur biefe wenigen Bemerkungen wollen wir machen. Nach katholiſcher Anfhauung ift ordentlicher und regelmäßiger Weife bie MWiedererlangung der Rechtfertigung und Heiligung für den in Zodfünde gefallenen getauften GDriften an den Empfang be8 Saframents der Buße gefnüpft. Selbitverftändlich, menn befwegen auch dem zerfnirfchten Sünder gegenüber auf der Forderung des wirflichen Empfangs der Bußfatra- mente gedrungen wird, und umgekehrt jede wahre Zerknir⸗ hung aud) das votum in fi) fchließen muß, das von

1) Gerade bieje unb ähnliche Materien der Symbolif [apjen fj fchwerlich anders behandeln, als daß rein äußerlich fatbolijdoe und proteftantifche Lehre neben einander unb einander gegenüber geitellt wird.

Studien über bie Grundfragen ber Symbolit. 683

Gott verordnete ordentliche Ginabenmitte(, ba& dießmal nicht mefr bie Taufe, fonberm die Buße ift, zu gebrauchen. Nun räumt die Kirche ein, ba& Gott ausnahmsweiſe unmittel- bar bie verlorene Gnade dem Sünder reftituire, indem fid) dies funbtfue im ber fog. volltommenen Reue, der Neue aus reiner Liebe zu Gott, einer Reue, bie aljo bie vorhan⸗ dene inmere Heiligung , deren Wejen bie Liebe ift, voraus- fee. Aus dem bereits beregten Grund ift aber auch für diefen Fall da8 votum sacramenti nöthig, wirklicher Empfang de8 Gaframent& aber um fo mehr, menn möglich, nöthig a8 bie vollfommene Rene fehr „ſchwer“ ift, alfo ganz be- fondere Ginabenermeije Gottes vorausfegt. Schon alfo um nachher unnöthigen Gewiffenszweifeln und Aengften zu ent» gehen, ijt auch abge[eBen von der göttlichen Forderung ber wirflihe Empfang de8 Sakraments anzurathen. Diefes felber aber fett, um würdig empfangen zu werben, nicht jenen nur auf auferorbent(idjermeije gefchenkten Reuegrad voraus, fondern auch unter Vorausſetzung einer fittlich mins ber Hochftehenden aber bod) immer vorhandenen, von ber vorbereitenden Gnade erwirkten Rene vermag fie ben Men⸗ Shen burd) bie ihr froft göttlicher Einfegung immanente Kraft zu rechtfertigen und zu heiligen.

Wir wenden uns nun zum Schluß noch einer andern Frage zu, die wir ſchon früher gelegentlich berührt, die wir aber hier etwas ausführlicher behandeln müſſen. Es handelt ſich um die Frage: ob atf) die läßlichen Sünden nur um Chrifti Verdienft willen getilgt, ob aud) bie Büß⸗ ung ber zeitlichen Strafen mit diefem in Sufammenfang - zu bringen fel. Die erftere Frage ift. wir fehen von abftracten Schulftreitigkeiten ab in concreto zu bejahen. As Difpofition wird gefordert ein Akt ber Neue, oder

684 finittel,

wenigftens ein 9(ft ber Liebe Gottes, und bie göttliche Gnade erweist fid) nun eben darin, jenem Akt im Menfchen zu erweden unb damit bie Sünde als bereute nicht mehr an» zurechnen. Schwieriger fdjeint die Sache mit den zeitlichen Strafen zu ftehen. Einmal ijt ihr Begriff felber fdjon be. anftandet und dann wird bon ber proteftantifchen Polemit in$gemein der Tatholifchen Lehre vorgeworfen, bag fie eine Tilgung derfelben rein aus eigener Kraft lehre (vgl. 3. 8. Hofmann €. 687, fogar Schulze €. 142).

Wir haben früher darauf aufmerfjam gemacht, rote wir ung diefen Begriff zeitlicher Strafen vorftellig zu machen haben. &8 find Bedingungen '), an welche Gott bie Wiederverleihung der bereitS einmal verloren Gnade gefnüpft, entjprechend ber größern Verfchuldung pönaler Art. Ein Theil muß regel- mäßig umb ordentlicherweife immer vom Menfchen gleich jon vor feiner Abfolution getilgt fein: es ijt dies bie Beſchämung, welche in bem fpezielfen Bekenntniß vor dem Rriefter liegt. Sie wirb ja vermöge einer weifen Beftim- mung Chrijti geradezu efjentielfer Theil des Bußſakraments. Für einen andern Theil begnligt fidj die Kirche nad) jeßiger Praris einmal mit dem guten Willen des Bönitenten, alle von Gott ifm noch weiter aufzierlegenden Bedingungen Dernad) nod. zu erfüllen, theils legt fie ifm von fid) aus gewijje Leiftungen auf, von beren willentficher Uebernahme die Integrität und damit die Giftigfeit des Bußſakraments

1) NB. Bedingungen, welche zu der für ben Empfang bes GCaframent8 der Taufe in Trid. 5688. VI. geforderten Difpofition und Präparation auf die Rechtfertigung noch weiter hinzukommen. Hieraus erhellt, was von αἴ den Declamationen gegen den bem Katholieismus mangelnden Bußgelfi und bie ftatt der Burke gefot: berten „Surrogate” (Ablaß, Fegfeuer) zu halten ijt.

Studien Über bie Grundfragen der Symbolik. 685

bedingt ijf. Die Erfüllung all diefer Leiftungen erfcheint als bie von Gott gefegte Bedingung der Wiedererfangung bet Gnade nad) ihrem erftmaligen 3Ber(uft, ihre Forderung it ein Akt göttlicher Gerechtigkeit, inwiefern auch göttlicher Gnabe, darauf ward früher hingewiefen (S. 654).

In feiner überffieBenben Barmherzigkeit fat aber Gott qud) noch dafür geforgt, baf dem Menfchen felbft die Gr» fülfung diefer Bedingungen zum Theil erlaffen werden lam. Es Handelt fid) bier nicht um Sünden und deren Aufhebung, fondern febiglid) nur um Strafleiden. Da ijt die Möglichkeit geboten, daß ‚wie Sündennachlaffung nur um ber ftelfvertretenden Genugthuung des leidenden Gottmen- ídem willen ftattfindet, fo Nachlafjung ber zeitlichen Strafen um ber Leiftungen anderer willen ermöglicht ift, Leiſtungen, deren Werth und Bedeutung ja doch zuletzt aus dem Werte Chriſti fließt (Ablaß). Eine ſolche ſtellvertretende Genug— thuung ſollte man auch abgeſehen von den bekannten bib; liſchen Stellen um ſo weniger beſtreiten, als ſie ja auch die Vorausſetzung der Lehre von der Erlöſung ift. Ins—⸗ befondere ift es das Gebet der Fürbitte, welches bie Kirche durch Chriftum im Meßopfer darbringt, ba8 ebenfalls eine Application be8 Verdienſtes Chrifti bezüglich der zeit» lichen Strafen aud) für bie im Tegfener BHefindlichen er⸗ möglicht. And nun müſſen wir allerdings gejtehen, daß die Borftellungen über ba8 [og. Fegfeuer, wie fie fid) aud) bei katholifchen Schriftftelleen finden, zum Theil wohl aus apologetifchen Zwecken incorrecte find. Es Handelt fid hier nicht mehr um eine „Läuterung der Seele für die himmlische Seligfeit” in dem Sinne, al8 ob drüben nod) ein allmäliger Sündennachlaß, ein allmäliges Wachſen in der Heiligung ftattfinde. Davon ift lediglich nur für δα

686 NRnittel, Stubien über bie Grundfragen ber Symbolik.

Dieffeits bie 9tebe, der geiftigsfittliche Snftanb des Ster⸗ benden ent[djeibet flir die Ewigkeit. Es handelt jid) nur mehr um die Nachholung der Strafleiftungen, bie im Dies— ſeits ungebüßt geblieben find. Somit find Säte, wie jene von einer erit drüben anstehenden Vollreife Heiliger Ge- finnung, einer im Fegfeuer erſt au erringenden vollen Hei⸗ ligung, fallen zu laſſen, aber auch der proteftantifche Vor⸗ wurf, al8 ob wir im Widerſpruch mit der Schrift nod von fittlichen Fortſchritten im Jenſeits wiſſen, ift damit eo ipso abgefchnitten.

| II. Recenfionen.

' ].

1) Orfammelte Schriften von Dr. Anton Ruland, k. Oberbiblic- thefar ber Univerfität Würzburg. Herausgegeben von Dr. Friedrich Leitſchuh. J. Band. Predigten. Bamberg

1875, Schmidtihe Buchhandlung. 300 ©. 8.

2) Predigten anf bie efie ber Heiligen. Non Zohann Röhm, Stiftövicar bei St. Eajetan in Münden. Augsburg, Oſtertag'ſche Buchhandlung (I. Keller) 1875. 125 ©. kl. 8.

3) KanzelsReden ven Joſeph Raphael Kröll. I. Band 2. Hälfte II. Band. 1. und 2. Hälfte. Kempten, Köſel'ſche Bud; Bandlung 1874—77.

1) C$ madht für bie Wertäfchägung eines Buches einen nicht geringen Unterfchicd ans, ob ber Name eines hoch angefehenen Verfaſſers ihm zum voraud eine Bedeu⸗ tung gibt, ober οὐ es ſelbſt erjt einem nod) unbelannten Schriftfteller zu einem Namen verhelfen [01].

Wäre ber meifanb Oberbibliothefar und Landtagsab- geordnete Ruland nicht eine bei Freund und Gegner in hoher Achtung ftehende, im guten Sinn voltsthümliche Per⸗

688 Ruland,

ſönlichkeit, durch die vorliegenden Predigten würde er ſchwer⸗ lich berühmt geworden ſein; aber man kann ſich dieſer Gabe nun doch erfreuen um des Mannes willen.

Daß der Herausgeber die „geſammelten Schrif— ten“ von A. Ruland gerade mit einem Bande Pre digten eröffnet, gejchieht, wie e8 fcheint, mit Berechnung auf gemijje 9(bounentenfreije. Wir können nur wünſchen, daß die Berechnung nicht trüge und daß nicht durch bie Mängel diefer erften Publication in den Leſern die Theil» nahme für bie noch zu erwartenden 3 Bände anderen In⸗ halts geſchwächt werde.

Referent hat es an dieſer Stelle vor allem mit der homiletiſchen Leiftung zu thun und aus dieſem Geſichts— punkt ſein Urtheil zu geben.

Es ijt ſchon ein gewagter Schritt, eine ſolche Schrift ſammlung mit ungedruckten nachgelaſſenen Schriften zu ey öffnen, felbft menm zu vermuthen fteht, daß ber Verfaſſer fie für den Druck Hätte beftimmen wollen. Wenn aber mit Sicherheit anzunehmen ijt, daß derfelbe fie unter feinen Umftänden veröffentlichen wollte, fo kann e8 mur der ſorg— fältigften und pietätvollften Redaktion gelingen, ein jolches Manuffript an die Deffentlichkeit zu bringen, ohne gegen Hecht und Billigkeit und gegen die fchriftftelferifche Repu— tation be8 Verfaffers zu verftoßen. Betrifft die Publifation aber vollends nur zerftreute Eoncepte und Papierfchnigeln, bon denen man ab[ofut ficher ift, baB ber Verfaffer mie mals an deren Beröffentlichung denken fonnte und nod) im Grabe dagegen proteftiren würde, fo möchte id) zwar bit- [εἴθε nod) nicht unter allen Umftänden tadeln, denn bie θὲς Icheidenften Männer hinterlaſſen zuweilen die Foftbarften Reliquien, und aud) in ben zerftreuten Fragmenten einer

Predigten. 689

geiftvoffen Titerarifchen Produktion pflegen Goldfürner ver» borgen zu fein. Aber folche Fragmente Sollen ftrenge aus- gewählt, folche Reliquien une mit dem Stempel der Weihe ausgeboten werden.

Gewiß durfte man von den Predigten Rulands einige bruden; aber dann mußten zwei Rückſichten Teitend fein; entweder mußte man ſolche Stücke wählen, in welchen ber Genius des Verfaſſers, feine Eigenart, die Höhe und Tiefe feines Talents oder feines Semüths zum befondern 90187 drud fonunt; ober man durfte nur,folche Predigten auf- nehmen, bie um ihres Gehaltes oder ihrer Form willen als Bereicherung ber homiletifchen Literatur gelten fónmen zum wenigften müßten e8 Predigten fein, aus denen der Seelforger einen bemerfenswerthen Nuten ziehen könnte.

Diefen Rüdfichten wird nun aber hier nur annähernd genügt. Es find nur wenige Predigten, zudem melft ang der unabgeklärten Jugend Aulands, aus denen mar ex ungue leonem ben ftitrmifchen redegewaltigen Maun wieder erfeunt; Degreiffid), denn Ruland hat gar nicht eigent⸗ lich concipirt, ſondern hat oft nur Skizzen hingeworfen, ſo daß er ſelbſt in ſeinem Manuſcript bemerkte: Reliqua ex corde! (Ὁ. 47 u. a.). Was ſoll mum ber Leſer mit ſolchen Bruchſtücken, die oft nicht einmal Skizzen ſind, aufangen? Hier iſt ein Eingang ohne Predigt, dort eine Eintheilung ohne Eingang und Predigt, dann wieder eine Predigt ohne Schluß, mitunter auch ein Entwurf, der aus 20 Worten beſteht!

Streng genommen hätte demnach der Inhalt des vor⸗ fiegenden Bandes, um ein namhaftes vebucirt, etwa als Anhang den übrigen Schriften nachfolgen jollen ; dann wäre

690 Ruland, Bredigten.

das wirklich Bedeutende und Charakteriftifche nicht von ber Maſſe des Unbebentenden erdrückt worden. Es fehlt auch in der That nicht an fprühenden Ge- danken und oratorijdje Schönheiten ; aber ba8 edle Metall ift nicht in ausgeprägter Form Hinterlaffen. So ijt 3. 2. in einer Predigt über Luc. 2, 52 [febr anſprechend gehan- delt über die ſchuldige Liebe und Ehrfurcht gegen diejenigen, welche unjre Lehrer find und waren; wie gerade ihre Schritte am meiften dem Tadel, ber Verläumdung ausges gelegt, ihre Abfichteg und Handlungsweiſen mißdeutet und verdreht werden, mie aber allerdings die Eltern, Lehrer u. j. m. dieß meijt ſelbſt verfchulden, weil fie jelbjt nicht das⸗ jenige thun, woraus die Kinder Gehorfam, Ehrfurcht, Liebe lernen könnten. Hier bleibt nun aber die im übrigen ſehr einbring(ide Ausführung bod) auf halbem Wege ftehen. Um etwas mehr a(8 eine triviale Wahrheit in bemegter Form vorzutragen, müßte man die Argumentation um mee nigftens einen Grad fteigern. Das pſychologiſche Räthſel liegt nicht darin, daß Kinder von wirklich pflichtvergeffenen Eltern im Anfchauen der böjen Beifpiele die Pietät und Ehrfurcht verlieren, fondern vielmehe darin, daß oftmals Eltern alles Rechte getan, alle Opfer gebracht zu haben meinen und dennoch feinen Dank ugd feine Liebe ernten; und hiefür gibt e& allerdings einen piychologifchen Grund, ber mur felten erfannt wird. Sehr viele Eltern, Lehrer und Erzieher nemlich geben fih den Schein und leben wohl aud) in der Selbfttäufchung, daß fie fid) wirklich aufopfern, daß fie mit Dingebenber Liebe und Treue ihrer Aufgabe fid) widmen, nnd im Herzensgrunde ijt es doch vielleicht ein ſtarkes Maß von egoiftifcher Abfichtlichfeit, Eitelkeit oder Laune, was ihr Handeln geleitet und bejtimmt Hat; und

Röhm, Heiligenpredigten. 691

wenn nun Kindern oder Zöglingen bie Wohlthaten in jolcher Form gefpendet werden, [o erwartet man mit Un- recht von ihnen die vüchaltslofe Anerkennung und Dans barkeit. 2) Eine recht anfprechende wenn aud) Heine Gabe ſind die Predigten Röhms auf die Feſte der Heiligen. (8. find nicht Prunkreden; Phantafie und rhetoriſche Kunſt find nur mäßig dabei Detfeifigt, und daß fie eine weſent— liche Lüde in der Predigtliteratur ausfüllen, wird man nicht behaupten fóunen. Was ich am ehejten zu ihrem Lob aussprechen möchte, ijt der Wunſch, daß ba und dort ein braver Hausvater am Feierabend vor den fchönen Teften, auf welche die Neden gemacht find, ein Stück aus denfelben ber verfammelten Familie, Weib und Kind und Ruechten und Meägden, vorlefen müdjte. Es geht durch diefelben ein Xon von Germüthlichkeit und Innigkeit, welcher unverfehrs ten unb für die Wahrheit emipfänglichen Gemüthern fom» pathijch fein müßte. Der Berfaffer liebt e8, an die Expo- jition einer Lehre ober Begebenheit alsbald die moralifche Nutzanwendung zu knüpfen. So wird, um ein Beiſpiel ans zuführen, in der Predigt auf St. Ulrich an die Erzählung, wie Ulrih vom Elternhaufe hinweg in das Klofter St. Gallen zur weitern Ausbildung Fam und wie er Hier der Höjterliden Ginjamfeit und Surüdgegogenbeit pflegte, bie Reflexion angeknüpft über die vielen Stunden, melde aue derwärts mit eite Dingen, Befriedigung der Neugierde, müſſigem Gerede, geſellſchaftlichen Zerjirenungen , vielleicht jogar mit fchlechten Genoffen zugebracht werden. Wo vom Gebetseifer Ulrichs die Rede ijt, werden wir εἰπί βι über die Gebetspflicht unterrichtet. So ergeht fid) nun ber Red» ner in behaglicher Breite, ohne zu bedenken, daß ein ganzes

692 Ä Kröll,

Heiligenleben in dieſer Weiſe ausgelegt viele viele Stunden ausfüllen würde.

Daß Röhm nicht eine feſtgeſchloſſene oratoriſche Form gewählt, ſondern bie zwangloſere Art der Erbauung vorge— zogen Dat, ſoll ihm nicht zum Fehler angerechnet werden. Dennoch würden feine Vorträge im Werthe fteigen, wenn et feine gute natürliche Anlage etwas jtrenger den Geſetzen ftilooller Anordnung und Darftellung unterwerfen möchte. Gerade jo Heine Publicationen wie die vorliegende, die fo leicht zu fichten und zu feilen wären, follten nichts Flüch⸗ tiges, Seichtes ober ſprachlich Unzuläffiges enthalten, wie wir doch Bier 4. B. ©. 119 bie provincialiftifche Eonftruf- tion finden, mo ἐδ von den armen Seelen Deipt: „ein wenig mehr Eifer menn fie bethätigt hätten“ 2c. ine Flüchtigkeit ijt e8, wenn ebendort von den abgefchiedenen Seelen gefagt ift, ihr Leiden preffe ihnen Thränen des herbiten Schmerzes aus. Die bildliche Ausdrucksweiſe könnte hier miBbeutet werden. Der Berfaffer verjpridjt, daß zwei weitere Sammlungen, Predigten auf bie Seite des Herrn und der feligften Jungfrau, folgen werden. Sie follen uns willfommen fein!

3) Die Kanzelreden Krölls, deren erſtem Halbband unfere Zeitjchrift fchon früher eine längere Beſprechung ge- widmet, gehören meines Gradjten8 zu dem Bemerkenswer⸗ theften und Beften, was bie neueſte Predigtfiteratur zu Zage gefördert hat. Soll aber über die nun weiter erjchtenenen Abtheilungen ein technifches Urtheil abgegeben werden, fo ergeht es dem Rritifer wie e8 bem Beurtheiler von Sunt: werfen zu gehen pflegt ;" weil man au einer Arbeit eine tüchtige Meeifterhand erkennt, [o fühlt man fid) um jo mehr unangenehm berührt und zur riti. herausgefordert

fangelceben. 693

durch bie Mängel, ‚welche bemfelben mod) ankleben; man muthet der Meifterhand etwas Vollendetes zu und meint, e8 hütten fid) die Fehler doch aud) mod vermeiden lafjen. Wird ben Kritifern etwas Tüchtiges geboten, fo werden fie ett recht ungenügfam. Das Tiegt in ihrem Gefchäft.

Vergleichen wir die Predigten Krölls mit andern res nommirten SBrebigtmerfen ber neueften Zeit, 3. 9. mit bem mit Recht fehr gefchätten von Ehrler (Predigten über ba8 Kirchenjahr; Freiburg, Herder), fo gebricht e$ Kröll vielfach gerade an demjenigen Punkt, welcher vom Stand» punkt der Theorie aus einen Vorzug der andern ausmacht, ἰῷ meine ba8 ftrenge Maß, die fogi[dje Anordnung und die durchſichtige Klarheit, welche ihrerfeits felbft wieder aus ber Beobachtung des rechten Maßes entfpringt ; und deſſen darf fein echtes Kunftgebilde entbehren. Kröll ift ungemein reih an Gedanken und Bildern, trägt aus allen Feldern Dlüthenbüfchel und Garben herbei, fpeculative Theologie und jede Art von Myſtik fucht er zu bewältigen, verbreitet Stanz und jyarbenpradjt um fid) her, liebt das Ferne, Ueberraſchende, verſchmäht die hausbackene Moral, ‚ergeht fi in den fühnereny Regionen der Allegorie und Natur⸗ ſymbolik; ſeine Phantaſie iſt üppig wie eine tropiſche Ve⸗ getation, aber auch manchmal ebenſo pfadlos und undurch⸗ dringlich, ſchwül und ſinnbetäubend, ſie hat einen Anflug von malaria, vom ungeſunden Dunſt pſeudomyſtiſcher Schwärmerei.

Die ſtrenge Selbſtbegrenzung, die Unterordmuug der herbeiſtrömenden Ideen und Bilder unter die gemeingil⸗ tigen Geſetze des Schönen iſt Kröll noch verſagt. Dieß zeigt ſich vor allem ſchon in dem Umfang einzelner Vor— träge, welche man unter keiner Form der Rede unterbringen

Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IV. 45

694 Kröll,

kann; maßlo8 find die Eingänge, zuweilen an Umfang einer ftattlichen Predigt gleich, und nicht felten gar nicht in Un- terordnung unter den Gedanken der Predigt felbft ; fie ftehen als felbftändige Entwicklungen ober Berorationen da, bie von der Predigt ganz abgelöst werden Tünnten. Auch bie Schluß- parthien "ber Vorträge find oft nicht recht motibirt und könnten wegfallen, ohne daß ein uud) ettoa noch nicht ermü- deter Zuhörer etwas vermifjen würde. .

Wer ein Kunſtwerk ſchaffen will, ber muß ausfcheiden fónnen ; ihn dürfen bie Späne nicht reuen, welche abfallen ; find fie von eigenem Werthe, fo gehen fie darum, weil fie auf die Seite gelegt worden, nicht verloren; die rechte Delonomie weiß von ben erfparten Schägen immer mieber Gebrauch zu machen. Am alferwenigften möchte ich bie Ausrede gelten laffen, daß die Vorträge nad) ihrer ganzen Beitimmung nicht Vorlagen für wirkliche Predigten feien, fondern erfchöpfende Auseinanderfegungen über zeitgemäße homiletifche Materien, wie 3. $8. im erften Bande ©. 465 ff. über Cathedra Romana (71 Seiten groß Oktav), ober €. 571 ff. über Immaculata (35 Seiten). Um über jolhe Lehren theologifche Drientirung zu fuchen, greift man ja nidht zu einem Predigtwerk; wer Predigten zu theolo- gifchen Abhandlungen macht, gibt den Zweck der Predigt - jelbjt preis. Außerdem aber wird durd ein folches Verfahren im ſcheinbar apologetifchen Anterejje ein Element auf bie Kanzel einge[djmugge(t, welches in feinen Folgen ſchädlich ift, ein fophiftiiches Argumentiren mit Vernunftgründen, fowie mit fragmentarifchen Gefchichtsüberlieferungen. Ver⸗ möge diefer Sophiftit will man [onnenffar und jedem Schul: fnaben faßlih machen, was bod) Jahrhunderte lang die

Kanzelreden. 695

tiefften Geifter unter Theologen und Bhilofophen befchäftigt Dat und noch in Athem Hält.

Ferner wird burd) das Streben nad) renibartidcn be: ftechendein Gang der Rede zuweilen ber Geſchmack für das Einfahe und Angemeffene verdorben. Zwar ift über Ge- ſchmack bekanntlich nicht zu ftreiten; jedoch möchte ich hier an ben Rath be8 englifchen Dichters Johnſon erinnern, ber einem jungen Schriftiteller jagt: „Wenn e8 Ihnen fcheint, daß Sie einen Sat befonders ſchön geſchrieben Haben, fo ftreihen Sie ihn getrojt mieber aus”. immerhin ftehen bei Kröll, wenn aud) nicht gar viele, fo bod) einzelne Güte, deren Sinn mir unklar geblieben. Zum wenigſten fchillernd it ble Vergleihung T. 98b. €. 544: „Jeſus ift wie bie Sonne, bie im ber Morgen⸗ unb Abenddämmerung auf und niebergeDt. Die Meorgenröthe der Propdetie ging Jeſus boram und das Abendroth des apojtofi[djen Jahrhunderts ift ihm nadjgefofgt." Abgefehen von ber Frage, jeit wann bie Sonne in der Morgendämmerung anfgehe u. f. w., würde ja aus biejer Darftellung folgen, daß ἐδ nach bem apoftolifchen Zeitalter wieder Nacht geworden, was bod) wohl nicht correft ijt. ©. 572 wird Maria neben Jeſus in den Mittelpunkt der Weltordnung geftellt. „Der Mittels punkt ift ein doppelter, gleichwie felbft der Mittelpunkt des geometrifchen Kreiſes doppelt ift.^ Hier ift Grundgedanke und Bild [dief. S. 691: „Der Engel erlangt das An⸗ Schauen ber Dinge durd ein hierardifches Licht, welches feinen Herd beim erften der Erigel Dat und von Engel zu Engel herab bis zu den Grenzen der Geifterwelt fteigt. Das Licht Fällt von den ewigen Höhen auf den Fürſten, auf das Haupt der Engeljtämme, biefer teilt e8 den Engeln der höchften Hierarchie mit und bdiefe Tadel der Klarheiten ber

45 *

696 öl,

Natur geht von Hand zu Hand 6is. zit ben legten Gränzen des Horizonts, den bieje Kinder des Himmels bewohnen.“ Diefe Darftellung von der cognitio matutina der Engel ift mehr anſchaulich und glänzend, als bogmatijd) zu et härten.

Da die Anſpannung der geiſtigen Imagination nicht immer andauern kann, ſondern Ermattung und Sentimen- talität zur Folge hat, fo müjfen Fünftliche und gewaltjame Erregungsmittel der Phantafie zu Hilfe genommen werden; Dierau8 erklärt fid) jene Verirrung ber myſtiſchen Contem- plation in einen derb finnlichen Realismus, für welchen gerade bie blutigſten Scenen aus der Paſſion Chrifti ober der Heiligen bie [tebfte Weide find. Auch Kröll iff diefer SBerjudjung nicht ganz aus dem Wege gegangen. Mean [eje die Predigt »Vitis mystica« oder „Chriftus an der Geiſel⸗ jänle*. Die Einfeitung über bie vitis mystica ſchließt ſich an das jchöne gleihnamige Schriftchen an (deutſch, Res genéburg 1847); die Darftellung ber Geifelung felbft hat eine andere Quelle, aus welcher wir erfahren, baß bei ber Geijefung Jeſu nicht bie gefeglihe Strafweife eingehalten worden, daß vielmehr mehr a($ 5000 Streiche auf den Herrn gefallen. Aeltere Theologen haben noch genauere Zahlen, als Kröll angibt; doch ftimmen jie nicht ganz überein; denn mad) den einen ijt bie Gefammtzahl der Wun⸗ den Jeſu genau 5475 = 365 X 15, nad) andern 6666, die Zahl einer Legion. Kröll ſelbſt aber überbietet mod) alles frühere; wollen wir ein Bild Haben, jagt er, von dem was im Prätorium vorgegangen, fo müffem wir uns ſechs Schmiede vorftellen mit dem Hammer in ber Hand, wit fie ein rothglühendes Eifen Dümmern (S. 793). Sollte ber gläubige Chrift erjt dann die tiefe.und fromne Gm.

Kanzelreden. 697

pfindung der Seele vom Leiden Jeſu, erſt dann die rechte, innere Compaſſion gewinnen, wenn man feine Phantaſie und feine Nerven mit Schauerfcenen in Wallung verſetzt, und ift es zu diefem Zwecke motfrenbig, bie jo überaus keuſche und Tautere Einfachheit der evangelifchen Darftellung ins Unwahrfcheinliche und Unmögliche zu jteigern? Und bieB gegenüber einer Zuhörerfchaft, welcher ſchon ein febr hoher Grad von geiftiger Entwidlung und Bildung zuge muthet wird !

Noch könnten fíeinere ftiliftifche Verſtöße namhaft ges macht werden. S. 696 heißt es: „Wenn ein Löwe (id) nijt ungerodjen feine Jungen entreißen läßt“ 2c.; un- gerochen fünnte hier grammatikaliſch richtig nur Flexion von riehen fein, Doc; genug ber feriti. Ich habe mir aud) zum zweiten Band mehrere Bemerkungen notirt, bie ich aber zur Seite [ege. G8 lag mir überhaupt nur daran zu zeigen, wie ein aufmerffamer Kritiker auch einem ges übten Meifter auf ber Kanzel manchen Wink geben kann, welcher, wohlwollend aufgenommen, von Nuten fein dürfte.

Ein Bändchen ausgewählter Predigten zur eier der erften Communion, zu’ Alferfeelentag u. f. m. ift von Kröll schon 1872 erjchienen (Würzburg , Stahel). Wir Hoffen ihm nod) ferner zu begegnen und uns dann feiner Gaben ungetrübt erfreuen zu können.

| ginfenmamnm.

698 Janſſen, 2.

Geſchichte des deutſchen Bolles ſeit dem Ausgang des Mittel: alters. Don Johanues Jauſſen. Erſter Band. Erſte Ab: theilung. Deutſchlands geiſtige Zuſtände beim Ausgang des Mittelalters. Freiburg i. B. Herder 1876. XXIII. und 260 S. 8.

Güfar Eantn’s allgemeine Weltgeſchichte. Fortgeſetzt von Dr. Joſeph Sehr, Profeſſor der Geſchichte an der Univerfität Tübingen. Bierzehnter Band.

A. u. b. T.: Allgemeine Geſchichte des nennzehnten Jahrhuuderts. Bon Dr. ἃ. Behr. Erſter Theil von (1815—1848). Regensburg. Dranz. 1875. VIII und 1328 ©. 8.

1) Es ijt ein ebenfo glüclicher Griff wie verdienftliches Unternehmen, daß H. Janſſen fid) bie Bearbeitung der neueren deutfchen Gejhichte zur Aufgabe machte. Haben wir an guten allgemeinen Gefchichtswerfen überhaupt feinen Ueberfluß, jo fehlt uns in&bejondere eine befriedigende Ge⸗ hichte der Neuzeit und die vorliegende Schrift fommt baber einem ‚dringenden Bedürfniß entgegen. Die Arbeit war feine leichte. In Folge des Riffes, der mit der Glaubens fpaltung des fechszehnten Jahrhunderts im deutjchen Wolke hervorgetreten war und der die Nation in ihren religiöfen Anfchauungen und Urtheilen in zwei Lager getheilt, ift die deutfche Hiftoriographie nicht wenig erjchwert worden und die Schwierigkeiten find beſonders groß für den Zeitpunkt, mit bem der Verfafjer feine Arbeit eröffnete, für ba8 Ende des Mittelalter8 und für den Anfang der j. g. Neuzeit. Giít ἐδ ja hier, die Kämpfe zu fchildern, auf denen unfere religiöfe Spaltung beruht, und bie Zuftände barzuftellen, welche fie mehr oder weniger bedingten, Kämpfe und Zuftände,

Geſchichte des deutſchen Volks. 699

denen der Katholik mit ſeinem Denken und Fühlen anders gegenüberſteht als ber Proteſtant und bie ber Hiſtoriler gleichwohl, ſoweit es die menſchliche Beſchränktheit erlaubt, unbeirrt durch irgend welche Vorurtheile fo darſtellen ſoll, daß das Bild, das er gibt, kein confeſſionell getrübtes, ſon⸗ dern ein unparteiiſch wahres iſt. Durch eine beträchtliche Anzahl von Detailforſchungen wurde in den letzten Jahr⸗ zehnten allerdings über manche Punkte eine Verſtändigung erzielt und verſchiedene Seiten des ausgehenden Mittelalters find mit fo ſchlagenden Beweiſen in ein helleres und beſſeres Licht verfegt worden, daß fie fortan niemand mehr wird dunkel nennen fünnen, ohne auf den Ruf eines Mannes zu verzichten, ber auf der Höhe feiner Zeit fteht. Uber immer fehlte ἐδ noch an einem zufammenfaflenden Bild und diefes wird uns num in ber vorftehenden Schrift geboten, dem erften Theil eines größeren Werkes, in bem uns bie neuere Gies ſchichte des deutſchen Volkes vorgeführt werden fol. Der Berfaffer ift feine unbelannte Perjönlichleit mehr. Er Bat fij durch eine Reihe von größeren] und Tleineren Arbeiten als tüchtiger Hiftorifer bewährt und durch die Herausgabe von „Frankfurts Neichscorrefpondenz nebft andern Acten- ftücfen von 1376 bis 1519* gerade um bie Kenntuik ber Beriode hervorragende SSerbleufte erworben, mit ber fein neueftes Geſchichtswerk anfebt. Sein Name berechtigte zu der Erwartung, eine weitere treffliche Arbeit zu erhalten, und die Qoffuung wurde nicht getäufcht. Ich will fein Gewicht auf den Erfolg legen, den die Schrift bereits erzielt hat, ba es wie anderwärts jo aud) in der Titerarifchen Welt Erfolge gibt, die nicht gerade immer verdient find, und da biefe Erſcheinung auch in der Gegenwart nidht gar jelten anzutreffen ift; aber id) oermeije auf die Arbeit ſelbſt, ihre

700 Janſſen,

Anlage und ihre Durchführung und wer ſich näher mit ihr vertraut macht, wird ihr das Zeugniß einer vortrefflichen Leiſtung wohl ſchwerlich abſprechen können.

Wie der Titel zeigt, werden in der erſten Abtheilung des erſten Bandes Deutſchlands geiſtige Zuſtände beim Ausgang , des Mittelalters. dargeſtellt und zwar int erſten Buch Volks⸗ unterricht und Wiſſenſchaft, im zweiten Kunſt und Volksleben. Nüherhin wird dort von ber Verbreitung des Bücherdrucks, den niederen Schulen und der religiöfen Unterweifung be8 Bolfes, den gelehrten Mittelfchulen und dem älteren deutjchen Humanismus, den Univerfitäten und anderen Gulturftütten, bier .von ber Baufunft, von Bildnerei und Malerei, Hol; fchnitt unb Kupferſtich, vom Volksleben im Lichte ber bilden- den Kunft, von der Muſik, der Volkspoeſie, den Seite umb Sittengedidhten, der Kunſt ber Profa und der weltlichen Volksleetüre gehandelt und in der Einleitung der deutſche Garbinaf Nikolaus von Kues a(8 Reformator feines Vater⸗ landes und bie Erfindung des Bücherdruckes als eim neue und wirkſames Mittel zur Anbahnung eines geiftigen Auf ſchwunges vorgeführt. Da anzunehmen ift, daB ba8 Bud jelbft von allen ober menigften8 den wmeiften gelefen werden wird, die fih um bie Vergangenheit ihres Vaterlandes be fümmern und die die literarifchen Erzeugniffe nicht gleich— giltig an fid) vorübergehen lafjen als Dinge, die bloß für andere, nar nit für fie beftimmt find, fo ijf auf den Inhalt nicht weiter einzugehen und ich erlaube mir nur πο, auf einige Punkte Hinzumweifen, bezüglich deren mir eine Verbefferung oder ein genauerer Ausdruck nothmendig zu. fein. fcheint, nicht um der Schrift zu nahe zu treten, Sondern um nach ben vielen bloß zuftimmenden Recenfionen,

Geſchichte des beutfchen Volkes. 701

die fie bereits erfahren bat, dem Verf. Veranlaſſung zu geben, ihren hohen Werth noch einigermaßen zu erhöhen. Die Schrift Hat fichtlich eine apologetiiche Tendenz unb bieje Haltung begreift fid) aus der der proteftantifchen. Autor ren, die. bie legte Zeit des Mittelalters mur zu häufig und zu ftavf anfchwärzten. Sie ijt jo durch den Gegenſatz ge- rechtfertigt und fie wird daher nicht zu tadeln fein, wenn man auch an fid) wünfchen möchte, daß te nicht nothwendig und eine einfache Darlegung des Sadjverhaltes genügend fein ſollte. So wie bie Dinge liegen, bedingt der Angriff die Abwehr und dem Berf. Tann aus feinem Verfahren um fo weniger ein Vorwurf ermadjen, aí8 feine Schilderung im großen und. :ganzen αἷδ wahr erfunden werden wird. Aber darauf dürfte bod) Hinzumeifen fein, daß er mie e8 jcheint des Guten bier und da zu viel that unb in dem Streben, den von den proteftantifchen Schriftftellern wahr- genommenen Schlagichatten von der von ihm behandelten Periode zu entfernen, die Farben zu licht auftrug. Dabei möge, obwohl diefer Punkt für bem Künftlerifchen Werth jeiner Arbeit nicht ganz gleichgiltig ijt, einftweilen davon abgefehen merden, daß er bisher mit gefliffentlicher QVermei- dung der Schattenfeiten nur die Lichtfeiten des auspehenden Mittelalters hervorhob , ba bie geiftigen Zuftände des fünfzehnten Jahrhunderts, bie im dem vorliegenden Theil behandelt‘ werden, in der That bejfer find a(8 die des ſechs⸗ zehnten und fiebzehnten und ba bie Gebredhen, die nachweis⸗ fid) 'aud) jener Zeit anhafteten, wohl nod) in dem nachfolgen- ben Xheil zur gebührenden Darftelung kommen werben. Aber, nicht zu verfchweigen dürfte fein, daß ihn feine apolo- getifche Tendenz auch innerhalb des bon ihm gewählten Rah⸗ mens. bisweilen über. das Ziel hinausſchießen Tieß unb zu

702 Janfſen,

Behauptungen- fortriß, die wohl kaum zu erhärten find. Hierher gehört der Sag, daß das Zeitalter von der Mitte des fünfzehnten CyabrBunbert8 bis zum Auftreten bes Firchen- feindlichen jungdentfchen Humanismus auf dem religiös- fittlichen, auf bem ftaatlichen unb auf bem wifjenfchaftlich fünftlerifchen Gebiet das eigentliche Zeitalter beut[djer Re⸗ formation fei (S. 6 f.), und dagegen ift an die colofjale reformatorifche Aufgabe zu erinnern, die dem Concil von Trient oblag, bie fid) mie auf die ganze Kirche jo vorzugs⸗ weife auf bie Kirche in Deutfchland bezog unb bie δα Vorausgehen eines „eigentlichen Zeitalters deutſcher Refor⸗ mation“ offenbar ausſchließt. Das fünfzehnte Jahrhundert war allerdings, wie der Verf. nachweisſt, eines ber gedanken⸗ reichften und fruchtbarften Zeitalter deutſcher Geſchichte, reich an [darf marfirten, großen umb edlen Perjünlichkeiten , bei denen bie Gottesfurcht der Anfang der Weisheit war unb die aus ihren Schulftuben und Hörfälen und ihren ftillen Werkftätten der Gelehrfamkeit und Kunft den Umſchwung des geiftigen Xebens herbeiführten, und e8 ftanb, was Kunſt and Wilfenfhaft und theilweiſe auch Sittlichkeit anlangt, höher a[8 die beiden folgenden Jahrhunderte. Aber zu viel wird gefagt, wie insbefondere ein Blick auf die eigentlich kirchlichen Verhältniffe zeigt, menn e8 im der genannten Weile prübicirt wird, weil e8 nod) gar viele Schäden nicht bejeitigen konnte und in feiner zweiten Hälfte zu ihrer Bes feitigung bieffad) nicht einmal mehr einen ernftlichen Verſuch machte, und ebenjo dürfte die Behauptung übertrieben fein, die Plenarien der Incunabelnzeit lieferten allein ſchon den vollgiftigen Beweis, daß für bie veligibje Volksbildung da- mals beſſer als zu irgend einer früheren oder fpäteren Zeit gejorgt wurde .(S. 41). Es wird nicht zu beftreiten fein,

Geſchichte beB deutſchen Volles. 703

daß e8 in biejer Beziehung damals weit bejfer flanb, als - man vielfach glauben machen wollte, unb ich nehme an, dag das fünfzehnte Zahrhundert nach diefer Seite Hin über die Vergangenheit hinaus beträchtliche Fortjchritte machte. Aber eing andere Frage ijt, ob denn, wie mit jenen Wor⸗ ten gejagt iff, bie damaligen Zuftände bis zur Stunde wirklich jo ganz unerreicht find. Sch für meinen Theil jtelle ba8 neunzehnte Jahrhundert unbedingt weit über das fünfzehnte und der Beweis wird fchwerlich zu erbringen jein, - daß wir mit unferen Bemühungen wie für die fonftige fo aud) für bie religiöje Volksbildung Hinter dem Mittelalter zurücgeblieben feier. Oder hatten die bezüglichen Klagen und Verordnungen des Gonció von Trient fo gar feinen Grund in der Zeit und wurden bie Verhältniffe mit dem Auftreten Quthers [o plöglic in der ganzen FTatholifchen Kirche in8 gerade Gegentheil umgewandelt? ALS ein mid tige Moment für den Auffchwung der Scholaftit beim Ausgang be8 fünfgeDuten Jahrhunderts bei afl’ thren Der» borragenden Vertretern wird ferner angeführt einerjeitg bie gründliche Beichäftigung mit den naturwiffenfchaftlichen und phyſikaliſchen Studien, bie fie mit den theologifchen Studien verknüpfen wollten, und andererfeits ihre energijd)e Bes fämpfung der Aftrologie, Alchymie und Magie, deren An⸗ hänger damals immer zahlreicher wurden, und zum Belege befouders. auf Johannes Trithemius verwieſen (S. 87). Aber überfehen und nicht gejagt wird, obwohl e8 der Zur fammenhang und die Volljtändigfeit erforderten, daß die Mittel, mit denen jener große Gelehrte gegen Magie und Hererei Tämpfte, bod) vielfach auf dem Glauben an bieje Dinge berußten und daß biejer Wahnglaube gerade damals fefte Sonfiftenz gewann, weil er bereits von allen Zeitge⸗

704 ᾿ς Sanffen,

. ποίει. mit kaum nennenswerthen Ausnahmen getheift wurde,

Indem ἰῷ über einige andere Punkte von geringerer Bedeutung Dinmeggefe , wende id) mid) zu dem Abfchnitt, | ber der Baukunſt gewidmet ift, und hier ift vor affem Ber: vorzuheben, bag bie Späthgothit zu günftig beurtheilt wurde. Eine ſehr rege Bauthätigfeit ijt allerdings dem fünfzehnten Jahrhundert nicht abzufprechen und eine beträchtliche Anzahl ‚von großen und ſchönen Gotteshäufern trat damals ind Leben. Uber die Behauptung, daß in feiner Periode ber Geſchichte jo viele gottesdienftlichen Zwecken gemibmete kunſt⸗ ſchöne Banwerfe errichtet wurden a(8 vom Beginn des fünf: zehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch ber Kirchentren- nung (S. 134) fdjeint doch wiederum nur zu febr durd bie apologetifche Tendenz der Schrift veranlaßt worden zu fein und ber Verfaſſer fand felbft für gut, mit ber Turzen Bemerkung, daß fid) in den gothifchen Bauten des aus gehenden Mittelalter8 nicht felten ein ftörendes Ueberwiegen des Ornamentalen über das conftructive Moment geltend made, über die Schattenfeiten und Gebrechen der Späth. σοί Hinmwegzugleiten. Wie man aber auch darüber ur- theilen mag, fo gibt jedenfalls die ftatiftifche Zufammen- ftellung der Baudenfmäler jener Zeit (€. 135—138) zu einigen gegründeten Bedenken Anlaß und ich milf nament- fid) die das ſüdweſtliche Deutſchland betreffenden hervor⸗ heben, ba mir eine völlig fichere Kenntniß der Kirchen im Norden müngelt und ba der einfchlägige Abfchnitt in Otte's Handbuch ber kirchlichen Runftarchäologie, auf den fid) der SBerfajfer bei feinen Angaben ftügt, die Gothik in ihrer ganzen Dauer zufammenfaßt und ἐδ nicht immer beutlich erfennen läßt, ob eine Kirche aus ihrer früheren oder ſpä⸗

Geſchichte des beutjden Volles. 705

teren Periode ftammt. So {πὸ die Städte Gmünd und Rottweil mit Unrecht in das Verzeichniß aufgenommen, da die bezüglichen Kirchen, wenn aud) die Bauzeit der einen von Otte auf die Jahre 1351—1510 und der andern auf 1364—1473 angegeben wird, in der Hanptfache der Blüthezeit der Gothik und nur mit einigen weniger in Be- tracht kommenden Beitandtheilen der Späthgothik angehören. Die Kirchen von Alpirsbach unb Bebenhaufen find gar nicht gotbijd), fondern romanijd), meum nicht die des legterem Dorfes etwa deßhalb aí8 gothiſch anzufehen fein follte, daß fie in ber Zeit der Späthgothit in dem damals herrichenden Geſchmack zugeitugt wurde, und wenn gegen diefe Bemer⸗ fung eingewendet würde, daß die Namen biejer Dörfer nicht wegen ihrer Kirchen, fondern wegen ihrer gothiſch ait» gelegten Kreuzgänge aufgeführt wurden, fo ijt zu erinnern, daß die Darftellung nur an die Kirchen zu denken erlaubt. Ellwangen und Hirſchau erhielten in der fraglichen Zeit allerdings Gotteshäuſer. Allein ihre Hauptlirchen gehören einer früheren Periode an und bod) follte man nad) der Darftellung des Verfaffers glauben, daß fie, ähnlich mie bie Kirchen von Nördlingen umb Dinkelsbühl, und nidjt um» bedeutende Nebenficchen, bezw. Kapellen gegen Ende des Mittelalters errichtet wurden. Die bezüglihen Namen find deßhalb zu ftreihen oder es ijt die der Späthgothil anges hörige Kirche näher zu bezeichnen und daffelbe Verfahren ift auch bei den Kirchen ber Aheinlande zu beobachten. Wenn ἐδ Heißt: Wie Bayern imb Schwaben, jo erhielt aud) Weſt⸗ falen und das Rheinland in biejer Periode überaus ftatt- liche funftgeredjte Bauwerke in großer Zahl, unb wenn bann aus den Nheinlanden einfach erwähnt werden die Bauten: in Alzey, Andernach, Baden bei Carlsruhe, Bafel, Bern (?),

706 Cantu⸗Fehr,

Bingen, Bonn..... Worms, Xanten, Zug (?) unb 3i: rid) (P), fo muß der zum voraus nicht fchon beffer orientirte Leſer glauben, e$ Handle fid) Hier wieder um die Haupt- kirche oder jedenfall8 um die bedeutenderen Kirchen im diefen Städten, und bod) itammen jene zumeift au8 ber romani- fchen Periode und ber Beſitz von fo vielen anjehnlichen τὸς maniſchen Kirchen läßt wie kaum ein anderes Denkmal die Rheinlande . af8 die älteſte Eulturftätte Deutſchlands er» ſcheinen. Bei Sürid) wird mod) befonders (nach Dtte) be. merkt: von 1480 bi8 1490 habe man am Großmünſter gebaut, und die nicht jachkundigen Leſer werden diefe Worte in den meijten Fällen jo auffaffen, bie Kirche [εἰ im der fraglichen Zeit entweder gebaut oder durchgreifend umge: ftaítet worden, während fie doch aus bem Ende des efften und dem Anfang des zwölften Jahrhunderts jtammt und in jenem Jahrzehent nur die beiden Weftthürme um drei Stockwerke weiter emporgeführt wurden. Unter den bemer- kenswerthen Bildwerken in Holz wird endlich (S. 158) neben den Altären von Blaubeuren und Greglingen aud) ber von Heerberg im’ SOberamte Gaildorf angeführt, während er, wenn mid) mein Gedächtniß nicht febr täufht, nicht als Schnitzwerk, fondern nur wegen feiner jdjónen Malereien berühmt ift, wie er denn aud) von Otte nur unter biejem Gefichtspunft erwähnt wird.

2) Die Weltgefhichte von Güjare Gantu, bie mad) ber fiebenten Driginalausgabe von Moriz Brühl für das ἴα: tfofifde Deutſchland bearbeitet wurde, fam in dreizehn Bänden bis zur Cyufiteoofution. Die Gefchichte einiger Staaten. wie England, wurde zwar mod) um einige Jahre weiter geführt. Aber die Behandlung war nur mehr eine überfichtliche und fo hatte $$. Prof. Dr. Fehr, aí8 er bie

Allgemeine Weligeſchichte. 707

Fortfegung ded Werkes übernahm, wie c8 aud) die Ver⸗ lagshandlung winfchte, die Aufgabe, mit dem Jahr 1830 zu beginnen. Da inbejjen die vorausgehenden fünfzehn Fahre, wie münniglich befannt ijt, für die innere Staaten- gefchichte eine ganz ausuehmende Bedeutung haben, indem auf dem europäischen δε απὸ jegt der moderne conftitite tionelle Staat ins Leben trat und die öffentliche Meinung alfmählig fo für fid) gewann, daß auch die Regierungen, die im diefer Zeit nod) am alten Abjolutismus feithielten, in Bälde den bezüglichen Anforderungen ber Neuzeit zu genügen jich veranlagt ſahen, und da fie gleichwohl von Gantu mad) diefer Seite hin noch nicht eingehend genug ge» würdigt worden waren, fo glaubte er aud) auf fie zurüc- greifen, feiner Arbeit den bejonberen Titel einer allgemeinen Geſchichte δέ neunzehnten Jahrhunderts geben und a(6 ben Zeitraum, der im vorliegenden erften Theil behandelt wird, die Jahre 1815—48 bezeichnen zu folfen. Der vdeutfche gejer fann diefe Erweiterung nur miíffommen heißen. Er verdankt ihr Aufſchluß über manche Begebenheiten, deren Kenntniß ihm febr wünfcenswerth fein muß, auf Deren Darftellung fid) aber Gantu nicht mehr einfieB, und er wird e8 daher auch nicht zu ftrenge beurtheilen, daß fie der Anlage und Dispofition des Buches nicht febr zu Statten fam, indem die Gefchichte der Jahre 1815—30 aunüdjt nur ganz allgemein in der Einleitung S. 1—18 und dann je wieder fpeciell in Berbindung mit der Geſchichte bet einzelnen Staaten im erften Buch dargeftellt wird, das De» reit8 von ber Gejchichte Guropa'8 vom Jahr 1880 bi8 1848, näherhin von der Cyufirepofution und ihren Folgen handelt. Der fBerfaffer hat jid) feiner keineswegs leichten Aufgabe fidtlid) mit Liebe, Eifer und Umſicht gewidmet und feine

708 Gaalland, Joſeph von Görtes.

Schrift wird daher von den DBefigern der Gantu'jden Weltgefchichte und allen, die fid) für διε. Gefchichte ber neueften Zeit interejfiren, mit Freuden begrüßt werden. Hätte er fid) namentlih in Darftellung der Revolutionen und Kriege einer größeren Kürze befliffen und fid) baburd) Raum für bie Eulturgefchichte des neunzehnten Jahrhun⸗ bert8 erfpart, [o hätte er den Werth feiner Arbeit nod) erhöht. | Su mnt.

3.

Joſeph von Görres. Aus Anlaß feiner hundertjährigen Ge: burtöfeier in feinem Leben und Wirken dem deutjchen Volke geichildert von Joſeph Gallaub. Mit Görres Bild: nig. Freiburg i. B. Herder. V. und 704 ©. 12. Keiner der Sterblichen, bie auf ihre eigene Kraft an-

gewiefen. nicht über Heere von Beamten und. Soldaten zu

verfügen haben, bat in unferem Jahrhundert jo mächtig in feine Zeit eingegriffen aí8 der Mann, bem die vorftehende

Schrift gewidmet ijt. Es wurde daher mur eine Schuld

gegen ihn abgetragen, wenn in bem Städten, in denen er

Dauptjüd)fid) feine Wirkſamkeit entfaltete, bei der Wieder⸗

febr feines hundertſten Geburtstages fein Andenken feierlid

erneuert. and wenn durch Abfaſſung einer eingehenden Dio- graphie fein Bild der Nachwelt recht anfchaulich vor die

Augen geführt wurde. H. Galfanb hat fich Iegterer Auf-

gabe unterzogen und feine Arbeit zeugt wie von warmer

Liebe und bemunbernber Hochachtung gegen den gewaltigen

Grimm, Geſchichte der Kindheit Jeſu. 709

Dann, den ber corfifche Imperator den Großmächten θεὶς zählte, die ihm fchließlich zerichmetternd zu Boden warfen, nachdem er ihnen geraume Zeit Gefege bictirt, [o von großer DVertrautheit mit den Wechfelfällen feines bewegten Lebens und mit dem Reichthum feines Schaffens und Wir- fen$. Die Schrift wird daher allen willlommen fein, die den Sücularmenjchen näher kennen lernen wollen und als Volksſchrift verdient fie eine warme Empfehlung, wenn man audj vom wiljenjchaftlichen Standpunkt aus einige Partieen etwas anders behandelt wünjchen möchte. unt.

4. Geſchichte ber Kindheit Zeit. Nach den vier Evangelien dar- T geftellt von Dr. Joſeph Grimm, 5. geiftl. Rath und f. o.

ö. Profeffor ber Theologie an ber Univerfität Würzburg.

(Zugleich Band 1. von Grimms Leben Jeſu). Regens⸗

burg, New York und Cincinnati. Drud und Berlag von

Friedrich Puftet. XIV. ©. u. 432 © 4M.

Das Urtheil über vorftehende Gefchichte der Kindheit Jeſu, welche zugleich als eriter Band eines auf 5 Bände angelegten Lebens Jeſu erfchienen ift, wird ziemlich per» schieden ausfallen ‚je mad) den Anforderungen, welche der Kritiker überhaupt an ein Leben Jeſu ftefít, und nach dem Zwed, welcher damit erreicht werden foll. Iſt diefer ein vorwiegend erbauficher, [o muß ber Maßftab der Beurtheis (ung ein ganz anderer fein, als wenn eine wifjenjchaftliche Bearbeitung des Lebens Jeſu zum Ziele geſetzt wurde.

Theol. Quartalſchrift. 1876. Heft IV. 46

710 Grimm,

Würde man dem Verfaſſer entfchieden Unrecht thun, wenn man das wiffenfchaftliche Element feiner Arbeit abſprechen würde, ſo fcheint doch ber erbanliche Charakter in derfelben zu prävafiven. Sagt er aud) in der Vorrede, daB er ein Leben Jeſu nad den vier Evangelien in er[djüpfenber Weife darjtellen wolle, fo bejtcht das erfchöpfende Moment bod) mehr in ber volljtändigen Hervorhebung aller für das gläu bige Gemüth anjprechenden Elemente in den Evangelien als in einer alljeitigen wiffenfchaftlichen Begründung.

Der Verfaſſer formulirt die Aufgabe eines Lebens Jeſu dahin: „Den Inhalt biejer 4 Quellenjchriften vom Stand» punkte aus zu deuten, auf dem fie gefchrieben worden find, den fo erfaßten Inhalt in jenen Zufammenhang zu brin- gen, ber bem wirklichen ‚Verlaufe des mesfianifchen Lebens einzig entfpricht, der auch, bei richtigem DVerftändniffe der einzelnen Evangelien, von biefen ſelbſt binlänglich ange: deutet und zulegt in der eigenen Großartigkeit mit dem Siegel feiner Nechtheit ausgeftattet erfcheint, dies bleibt für' eine Gefchichte be8 Lebens Jeſu die entfprechende Aufgabe” (S. XII) Da aber ‚hierin nicht die erwünfchte Einftim- migfeit Derrjdjt unb die Eregeten über ben Zweck der eins zelnen Evangelien und ihr gegenfeitiges Verhältniß ziemlid weit auseinander gehen, während das chriftlihe Alterthum derartige Fragen kaum berührt, jo ijt e8 für das DVerftänd- ni des Lefers gewiß von großem Jyutereffe, darüber zuerft aufgeklärt zu werden. Zwar wird bemerkt, daß Matthäus eine Realordnung befolge unb Lucas von Anfang bis zu End ftreng gejchichtlich verfahre (S. 177), daß e$ zum Plan des Lucas nicht gehört habe, von der Ankunft der Magier unb im Zufammenhang damit von ber. Flucht nach Aegypten zu erzählen (S. 327), ja daß ein injpirirter Schriftfteller

Geſchichte δέν Kindheit Jeſu. 711

im Verſchweigen ebenfo feine Kunſt als feine Würde zeige (S. 160) und fid) ein Evangelift nicht den Aufwand eines einzigen Wortes erlaube, um feine Schilderung durch einen "bedentungslofen Zug bloß belebter zu maden (C. 163, Anm. 1), allein dies find Punkte, die keineswegs felbftver- ftändlid) und allgemein zugugeben find. Muß ja bod) ber Verfaffer ſelbſt öfter der Auffaffung fatfoli[fjer (regeten entgegentreten, was um fo mehr eine eingehende Darlegung über feine Auffaffung der Quelleufchriften erwünfcht gemacht hätte. Allerdings kann uns derfelbe auf feine „Einheit der 4 Evangelien” verweifen, in welcher diefe Vorfragen bes handelt find, aber [d)merfid) dürfte e8 fein Wunſch fein, daß diejes Leben Jeſu auf ben Lejerkreis jenes Buches befchränft bleibe.

Dagegen Dat der Verfaſſer einem andern Zheil feiner Aufgabe feine ganz befondere 9(ufmerfjamfeit zugemendet, der Stellung Jeſu zum U. T. Das mejfiaui[d)e Leben ift ' die Vollendung der dem ifraefitijd)en Volke gewordenen Ver- heißungen, ja die Gefchichte des Volkes felbft ift im vielen Punkten ein Typus des meffianischen Lebens. Die Schriften, Gelege und Anititutionen δὲδ A. 39, gebeu den Grund, and welchen der 90. B. herausgewacdhfen iff, novum testa- mentum in vetere latet, vetus in novo patet. Dieſer Theil, den eine Einleitung über den Gang ber Offenbarung vorbereitet, ijt in ber That wie ber jd)mierigere [o auch ber interefjantere im diefer Arbeit, wenn auch ber Wunſch be- rechtigt ijt, die Stellung der einzelnen Evangelien zum Ju— denthum näher präcifirt zu jehen, denn weder die Synop⸗ tifer für fich noch im Vergleich mit dem Zohannesevan- gelium verfegen uns in bie ganz gleiche Situation. Es kann ficher bie ganze Vorgefchidhte bei Matthäus und Lucas

46 *

712 Grimm,

nicht verftanden werden, wenn man bei ihrer Erklärung diefen Gefichtspunft nicht immer im Auge behält. Bekannt iſt, daß gerade dieſe Theile beider Evangelien wie bei den

Häretikern der alten Zeit, ſo bei den neueren Kritikern am

meiſten Anſtoß erregt haben und deßhalb unbarmherzig als ſpätere Zuthat beſeitigt ober bod) vom Grundſtock der Evangelien ſtreng unterſchieden wurden. Während das Jo— hannesevangelium wegen feines hohen Standpunktes und des ruhigen, fid) ſtets gleich bleibenden Bildes des Gott- menfchen von den Gläubigen lange bevorzugt und felbft auf Koften der Synoptifer erhoben wurde, hat jid) in neuere Zeit bie Kritik mit Vorliebe den Synoptikern zugewandt, weil bier der allmählichen Gntmid(ung des Meſſiasbildes mehr Raum gegeben zu fein feheint. Da aber fchon die Vorgefhichte den Herrn klar und deutlich über den Kreis der natürlichen Entjtehung und Entwidlung binaushebt, jo mußte fie ber Kritik zum Opfer fallen. Es fehlt nicht an Verſuchen, welche in ben diesbezüglichen Angaben der Bor- gefchichte geradezu einen Widerſpruch mit ber Anſchauung des ganzen Evangeliums nachweiſen wollen. Dieſen gegen⸗ über iſt es als ein verdienſtliches Unternehmen anzuer⸗ kennen, wenn, wie es der Verfaſſer thut, gezeigt wird, daß auch in den Vorgeſchichten der Evangelien des Matthäus und Lucas derſelbe Gedanke, der das Evangelium über haupt beherrſcht, zu Grunde liegt, daß ſie an die altteſta⸗ mentliche Offenbarung anknüpfend die Baſis für bie Ente wichlung des ganzen meffianifchen Lebens find. Schon ber Stammbaum bei Matthäus läßt diefe Wahrnehmung machen. Sowohl die Lücken, welche er augenscheinlich aufweist, als aud) die Sujdge, welche für bem erften Anblie auffallend erjheinen, dienen dem gleichen Zweck, welcher überhaupt

|

Geſchichte der Kindheit Zefu. 713

daB Ziel des ganzen Pragmatismus im erften Evangelium ift. Ser] 3ujag τοὺς ἀδελφοὺς αὐτοῦ in 8. 2 onu ebenfo wenig zufällig fein als der ganz analoge Zufag in $5. 11, fondern beide müſſen aus der Gefchichte der Offen- barung erffürt werden. „Darin, daß Iſrael als Volk feine ganze Eriftenz dem Segen feiner Patriarchen, der gnädigen Wirkung des in feinen Vätern thätigen meffianifchen Les benskeims verdankt, ruht der fichtbare, gefchichtliche Rechts⸗ titel des Meffins auf fein Voll, die natürliche Verpflich- tung Ifſraels, fein Neich zu bilden“ (S. 189). Umgekehrt werden Jechonias und feine Brüder angegeben, „um den gewaltigen Umfchlag anzudeuten, bei welchem nicht wur bie Geſchichte Afraels, fondern aud) die mefftanische Genealogie mit jener „Weberfiedlung“ angelangt i[t^ (S. 253). Auch die auffallende Erfcheinung, daß 4 Frauen in den Stamm⸗ baum Jeſu aufgenommen. find, Tann nicht aus dem fünd- haften Charakter der Frauen erklärt werben, fondern nur aus ihrer befonderen Stellung in der Offenbarungsgefchichte (S. 193, 197, 199, 201). Eine Vergleihung des Stamm- baums mit dem des Quca8 fehlt ganz, fcheint aber nad) der Bemerfung €. 205, Anm. 2 einer fpäteren Ausführung vorbehalten zu fein. Die vielfach befprocene Schwierigkeit am Scluffe ber Genealogie, wo der natürliche Gang plöß- lich unterbrochen unb fo fcheinbar der Zweck derjelben pets eitelt wird, Tann allerdings jdjon dadurch befeitigt werden, daß man in der Anlage des ganzen Stammbaums diejen Schluß angelegt findet. Es fann ja nicht bie Abficht des Schriftftellers fein, Jeſus von Seiten des Joſeph in pby- fifchen Zufammenhang mit bem Davidifchen Küönigsgefchlecht zu bringen, aber die Bezeichnung SYefu& a(8 Sohn Davids im Evangelium und in den Briefen, welche fo häufig da-

714 Grimm,

gegen angeführt wird, hätte bod) eine weitere Erklärung veranlaffen können. Das ἐφηστευϑείσης 1, 18 wirb ob. weichend von ber Anficht mamndjer Väter und Eregeten mit Recht von der Verlobung genommen, deren Bedeutung bei ben Syuben nicht nach unfern Verhältniffen zu beurtheilen ift und verjchiedene ſonſt auffallende Ausdrücke diefes Abs Schnittes erklärt. Aber nicht einverftanden bin ich damit, daß ἐκ mvevuorog aylov zu δὐρέϑη bezogen wird, ba id) aud) mit andern glaube, daß Joſeph mehr als der Augen- Schein Iehrte, nur aus dem Munde be8 Engels erfuhr (€. 219). Weder bie Sachlage nodj ber Zufammenhang ipridt gegen biefe 9tuffaffung, denn font wäre bie Offen⸗ barung butdj den Engel unnöthig und das Benehmen des Joſeph unbegreiffid gemefen, wie ſchon Maldonat ganz gut bemerkt; daß Matthäus vom Standpunkt des Schriftftellerg aus prolcptifch veferirt, ijt nicht bloß bier, jonbert mod) öfter auch in ber Vorgefchichte wahrzunehmen. Es jdjeint mir in biejem Theil dem Verfaſſer überhaupt begegnet zu fein, was er von benen fagt, welche „mehr fromm ale nüchtern” den Gemahl eder Jungfrau a(8 reiner denn bie Engel darftellten (S. 226). Wohl mag bie font allgemein übliche Bezeichnung Pfleg: oder Nährvater das Verhältniß des Joſeph zum göttlichen Kinde nicht erjchöpfend zum Aus⸗ brud bringen, aber doch wird vielen nicht vecht verftändlicd fein, was ber Verfaffer darüber bemerft: „Gerade aber, daß der Eohn ber Jungfran als folcher auch gegenüber dem Gemahl feiner Mutter volle Sohnsrechte beſitze, daß er gegenüber diefem Sprößling Davids von felbft und na- turgemäß, als vollgiltiger Sohn in aff die beftimmten Rechts⸗ titel und Grbanjpridje eintrete, dafiir ift bereit? ans weiter Verne die Weife ber Meenfchwerdung angelegt und erfcheint

Geſchichte der Kindheit Jeſu. . 715

d" in unferm Bericht die Jungfrau eben mit Joſeph „aus bem Haufe Davids“ verlobt" (&. 122).

Bei bem Bericht über die Magier und die Flucht nad) Aegypten ijt das Hauptmoment richtig hervorgehoben, das eben darin befteht, daß die Juden ihren Meſſias von Anfang an verfennen und verfolgen und deßhalb das Heil ihnen genommen unb ben Heiden gegeben wird. Diefer Gebante ift Schon in dem Gitat 1, 23 ausgeſprochen (S. 229 ff.) und feitgehalten bi8 zu bem Gitat 2, 23. Dort wird das Davidifche Gefchlecht wegen feines Unglaubens und feiner ©ottlofigkeit vom Propheten verworfen und die Jungfrauen geburt als Zeichen angefünbigt, hiev wird Nazaret a(8 ber von ben Propheteen voransgejagte Wohnort des Herrn εἴς wähnt, wohin den Sohn Davids ber Unglaube des eigenen Volkes drängt und als endlich die meſſianiſche Geftalt aus Nazaret auftaucht, da fchüttelt dann aud) alles den Kopf, was eine ſolche Erjcheinung aus Nazaret foll! (S. 395.) Auch die Hiftorifchen Verhältniffe, welche das Wort des Jeſaias vorausfegen, find gut gejchildert, nur wäre ἐδ vielleicht Hier am Plate gemejen, aud) andere Erklärungen der Stelle zu berückfichtigen, nicht weil bie gegebene unrichtig wäre, jonberm weil ber Qejer jdjou um der Einwendungen willen, welche häufig dagegen gemacht werden, bieje(ben tennen ſollte. Etwas Apologetik ſchadet gegenwärtig in einem Leben Syejur gewiß nichts.

Die Hauptftärke des ganzen Buches Tiegt neben der Schon genannten Beziehung δὲδ N. T. anf das U. ent—⸗ fchieden in dem erbaulichen Moment. Durch das ganze Buch weht ein Hauch heiliger Begeiſterung, welcher das Gemüth unwiderſtehlich ergreift und in die Hi. Geheimniſſe vertieft. Die gewählte, vielleicht mitunter zu ſtark poetijdje

716 Grimm, Gejchichte der Kindheit Jen.

«€

Sprache entwirft von ben edlen Geftalten bes Zacharias und ber GíijabetD , des Cyofepb und der Maria und vor allem von dem Mittelpunkt der ganzen Erzählung, von dem göttlichen Kinbe, fo fchöne und ergreifende Bilder, bag man fid gleichfam felbit in bae Heiligthum verſetzt findet, wo Zacharias „im Symbole des Rauchopfers feines Volkes Anliegen als füßen Wohlgeruch, zum Gebete verduftet, empor[anbte^ (€. 82). Daß e$ nicht ein gemöhnliches Erbauungsbud ijt, fondern der Belehrung viel bietet, dürfte das bisher Gefagte zur Genüge bemeijen; überall ift ein ficheres wiſſenſchaftliches Fundament gelegt, mur. ift mitunter zu bedauern, daß der Verf. dasfelbe den Leſer mehr ahnen als fehen läßt, daß er das Gerüfte feines Baues wieber abgebrochen hat und nur die reife Frucht feiner Studien darreicht, während ble wiffenfchaftlichen Nachweife ein be: Scheidenes Plätchen in den Anmerkungen gefunden haben. Die gebildete Welt, für welche bod) ein derartiges Bud) beftimmt ijt, Bat fdjon zu viel von den Früchten gekoftet, welche an dem Baume des von ganz anderem Standpunlte aus gefchriebenen Lebens Jeſu wachlen, als daß fie in ihrer Mehrzahl unmittelbar an folcher für unberührte Seelen bereiteten Koſt Gefallen finden könnte. Der Wille wird beim Glauben immer den Hauptausfchlag geben, aber die Erkenntniß, welche aud) burd) die Gegenfäße gefördert wird, ijt doch nicht zu unterfchäßen.

Das Bud) iff in 14 Kapitel eingetheilt und enthält nod) einen Anhang über den Namen Maria. Zur Weckung und Beſtärkung des Glaubens und zu geiftiger Anregung wird ἐδ fier viel beitragen. Schanz.

Gebhardt, Sarnad, Bahn Patres apostolici. 717

4.

Patrum apostolicorum opera. Textum ad fidem codicum et graecorum et latinorum adhibitis praestantissimis editionibus recensuerunt, commentario exegetico et historico illustraverunt, apparatu critico, versione latina passim correcta, prolegomenis, indicibus instruxerunt Oscar de Gebhardt, Adolfus Harnack, Theodorus Zahn. Editio post Dresselianam alteram tertia. Fasc. I. Lipsiae 1875. Hinrichs. XCII, 248 p. 8. M

Fasciculi primi.partis prioris editio altera 1876. LXXV, 158 p.

Clementis romani epistulae. Edidit, commentario critico et adnotationibus instrüxit, Mosis Assumptionis quae supersunt collecta et illustrata addidit, omnia emen- data iterum edidit Adolfus Hilgenfeld. Lipsiae, 1876. Weigel. XLIX, 153 y.

Die Dreijel’fche Ausgabe der apoftolifchen Väter, bie zuerft i. Sy. 1857 und dann mit Supplementen zum Bar- nabasbrief und Paftor Hermä aus bem Codex Sinaiticus i. S. 1868 erfchien, mar fchon feit einigen Jahren pet» griffen und der Autor beauftragte, da er beinahe erblindet der Aufgabe nicht mehr gewachjen war, (δ. von Zifchendorf mit ihrer Erneuerung. Aber der Meeifter der Kritik unter den Theologen der neueften Zeit ftarb bald darauf und fo fam die Arbeit in die Hände ber auf dem Titel genannten Männer. Das Werk wird in drei Theilen erjcheinen und der zweite mit den Ignatiana umb dem Polyfarpbrief wird von Zahn bearbeitet, ber ev[te und legte von Gebhardt und Harnad und zwar in ber Weife, daß der eine den Text, der andere den Kommentar herftellt und in den Prolego⸗ menen jener über bie Codices und Editionen Rechenſchaft

718 Gebharbt, Harnad, Zahn,

gibt, biefer über Alter, Verfaffer ber Schriften u. dergl. handelt.

Die neue Ausgabe unterfcheidet fid) von den früheren in mannigfacher Hinficht und wenn fie aud) auf bem Fun⸗ dament rubt, das butd) Drefjel’8 Bemühungen für die Her- ftellung eines befferen Textes gelegt wurde, fo läßt fie jid) bod) geradezu al8 eine neue Arbeit bezeichnen. Der 9tafmen wurde ein weiterer, indem bet Brief an Diognet unb bit Fragmente be8 Papias nnd ber Presbnter bei Irenäus, bie früher fehlten, aufgenommen wurden, und der Kommentar und die Prolegomenen zu bem älteren Stücken wurden völlig umgearbeitet. Umfaßten die 9Brofegomenen zu ber erjten Drefje’fchen Ausgabe im ganzen 55, bezw. 62 Ceiten, wenn wir die Notitia codicum dazu nehmen, fo zählen fie in dem vorliegenden erjten Heft, das zuerjt be[prodjen werden ſoll und das außer den bereits angeführten neuen Stüden den Barnabasbrief unb die beiden @lemensbriefe enthält, 103 Seiten und ben einjdjlügigen Punkten, ben Gobice8 und Ausgaben, den über bie apoftolifchen Väter erfchienenen Abhandlungen, ber Gejchichte ihrer Schriften, der Frage nad) deren Hechtheit, Integrität und Entjtehung it. j. m. wnrde hienach eine febr eingehende Behandlung zu Xheil. Die Unterfuchung zeichnet fid) aud durch große Afribie aus und bie Arbeitetheilung, bie bei diefer neuen Ausgabe zur Anwendung fam, hat nicht unfruchtbar erwieſen. An bem Gommentar ift namentlich hervorzuheben, daß überall die Stellen verwandten Inhaltes ans der hi. Schrift und den Schriften der Väter mit großer Umſicht und mit großem Fleiß beigebracht wurden, unb die Bereicherung, die bie Arbeit dadurch erhielt, ift nicht ‚gering anzufchlagen. . Sie bat freilich audj ihren Theil dazu beigetragen, den ohnehin

Patres apostolici. 719

beträchtlichen Umfang des Buches zu vergrößern und injofern wäre vielleicht da und dort eine Kleine Befchränfung am Platz geroefen, fo bei Barnabas c. 16, 9, indem die Stellen über die Sonntagsfeier in den archäologischen Hand» und Lehrbüchern ja Leicht zu finden find.

Gehen wir auf einzelnes ein, fo ift vor allem hervor⸗ zuheben, daß und von der alten Tateinischen Ueberfegung des Barnabasbriefes ein gereinigter Text geboten wird. Die einzige Handjchrift, bie von ihr eriftirt, ein Codex Cor- beiensis und in der erften Hälfte des 18. Jahrhunderts noch in der Bibliothef von St. Germain in Paris befindlich, fam gegen Ende biefes oder im Anfang be8 19. Jahr⸗ hunderts butd) Erwerb von Dubrowskh in bie faiferfidje Biblio» thet nah St. Petersburg und hier wurde fie im Winter 1874 burd) ©. einer nochmaligen Vergleichung unterzogen, nachdem [don Hilgenfeld im der Zeitfchrift f. m. Th. 1871 €. 262—290 einen vielfach verbefjerten Text gegeben hatte. Cn der Frage nad) der Entjtehungszeit des Briefes ſchließen fi) bie Herausgeber, bezw. ὦ. an die Theologen an, welche in c. 16 einen Hinweis auf den Plan Hadrians erbliden, den Tempel in Jeruſalem wieder aufbauen zu laffen, und mit Rüdficht auf dieſes Meoment wird die anfüngfid) uns beftimmte Angabe, der Brief [εἰ in den Jahren 71 bis 132 und vermuthlich in dem letten Theil diefes Zeitalters ent[tauben, dahin beftimmt, er [εἰ nicht nach bem J. 120 gefchrieben worden, ba bie freundlichen Beziehungen Hadrians zu den Juden damals fchon zu Ende waren. Das vierte Gapitel, ba8 zur Ermittlung der Entftehungszeit ebenfalls vielfach in Anfpruch genommen wird, wird bei Seite ges laffen, weil die Erfüllung der dort angeführten Daniel'ſchen Weisfagung, bie Demüthigung der drei Könige auf einmal

720 Gebhardt, Harnad, Zahn,

(ὐφ᾽ ἕν), im ber Zeitgefchichte für uns nicht nachweisbar [εἰ und weil man ebenfowenig wiſſe, welcher von ben römi⸗ iden Kaifern in ber Neihe der in Betracht Tommenden zehn Könige von Barnabas als ber erfte betrachtet werde und ob Otho, Galba und Vitellius mitzuzählen feten (T). Es ijt nun allerdings zuzugeben, bap ein ins einzelne fid) erftreetender Beweis hier nicht zu erbringen ift und bie Beziehung des Heinen Horns auf den einen oder andern Kaiſer mag deßhalb als fraglich gelten. Allein eine andere . rage ift, οὐ das Fundament deßwegen felbft preiszugeben ift, weil bie im 9tebe ftehende Entfernung von ihm aus nicht mehr ganz genau ermittelt werden kann und dieſe Trage ijt nicht nothwendig mit Ὁ. zu bejahen, fo lange nicht bie Beziehung von c. 16 auf den Hadrian’schen Tempelbau auf feftere Füße geitellt wird, als e8 bisher gefchehen ift. Barnabas mollte bier, wie allgemein zur gegeben mirb, auf ein Zeitereigniß oder eine Zeiterfcheinung hinweifen und wie man aud) feine Worte im einzelnen’ deuten mag, menm man ihnen nur nicht zu jehr Gewalt anthut und nicht etwa mit SSoffmar bie Zahl ber 10 Daniel'ſchen Könige auf 13 anwachſen läßt: bie 10 Könige halten uns immerhin im erften Jahrhundert feit, mag num der elfte ober ba8 Heine Horn mit Weizſäcker in Befpafian oder mit Wiefeler (Jahrb. f. b. Theol. 1870 ©. 609—614), 9tiggenbad) und Skworzow in Domitian ober mit) Hilgenfeld, Ewald und Pfleiderer in Nerva erblickt werben und dieſes Nefultat ift, menm es aud) nur allgemeiner oder gegenilber der anderen Zeitbeftimmung negativer Art ift, nicht gering anzufchlagen. Daß ἐδ uns nicht gelingen will, die Demi» thigung der drei Könige durch das Heine Horn völlig be friedigend nachzuweifen, darf uns nicht beirren dasfelbe

Patres apostolici. 721

feftzuhalten. Da Barnabas fid) nicht mit eigenen Worten über die Zeitlage ausfpricht, fondern fremde Worte auf fie anwendet, fo darf man fragen, wie 9tiggenbad) richtig betont Dat, ob jene wirklich nad) allen Seiten zutreffend waren und dazu fommt mod, 'ba er Nachrichten über feine Zeit gehabt haben konnte, die, mochten fie wahr oder falſch fein, bor denen, bie wir befiten, verfchieden waren. Das vierte Gapite( dürfte daher bei der Erörterung der Trage nach ber Entftehung des Barnabasbriefes nicht fo leichten Kaufes preißzugeben fein und ich glaube, daß ihm troß allem, was babel nod) unerklärt bleiben mag, bod) fo viel zu entnehmen ift, daß der Brief eher am Ende des erften als am Anfang des zweiten Jahrhunderts abgefapt wurde. Indeſſen handelt ἐδ ,fih bier, ba wir und immerhin auf feinem ganz feiten Boden bewegen, bloß um Meinungsverfchiebenheiten im eigentlihen Siun be8 Wortes unb die vorftehenden Be» merkungen mögen aud) nur in diefem Sinn aufgefaßt werden. Anders verhält e8 fid) aber mit einigen Bemerkungen des Commentators zu c. 7 und 8.

Die Angaben be8 Barnabas über die jübijdjen Ceres monjen wurden in der neuejten Zeit beinahe allgemein mit größtem Mißtrauen aufgenommen und, wenn fie nicht auf bie bf. Schrift zurückführen Tiefen, vielfach für uns richtig erklärt. Man hat dabei nicht bedacht, daß diejes Ur⸗ theil doch nicht fo Leichthin zu füllen ift, weil Barnabas gegen feine jubaiftijd)en Gegner fchwerlic mit Waffen vor» ging, die ihm fofort in den Händen zerbrochen werden fonnten, und überbieB hängen feine Aufftellungen nicht [o ganz in ber Luft, a(8 man bisweilen glauben machen wollte. Sie werden in der Hauptfache theils durch bie D. Schrift theils durch die Miſchna beftätigt und wenn zwifchen letz⸗

722 Gebhardt, Harnad, Zahn,

terer und dem Barnabashrief in Kleinigkeiten eine Diffe- renz fid) befindet, warum follte dann jene mehr Glauben verdienen, bie vom Hörenfagen berichtet, als dieſer, bejjen Angaben auf einem Bud) beruhen, das aus einer Zeit Ber» ftammt, da der Zempefbienft nod) in Uebung war? Diele Frage wurde Schon im Jahrgang 1852 der Q. Gr. ©. 619 aufgeworfen und fie ift, wie bereit dort und neuer- dings wieder von Braunsberger nachgewiefen wurde, nicht zu Ungunften des Barnabas zu entjcheiden. Das fragliche Mißtrauen beherrichte auch den Gommentator und bes ftimmte ihn zu einigen Bemerkungen , die fehwerlich richtig find. Wenn er S. 27 gegen die Angabe’ des Barnabas: die Priefter joflen am VBerföhnungsfeft von bem Bock effet, ber für bie Sünden geopfert wurde, einwendet, Moſes habe bie Verbrennung des ganzen Bockes angeordnet, fo ift zu er» inuern, daß feine Ginrebe nur unter der Vorausfegung richtig ift, am Verfühnungsfeft [εἰ außer dem Sendbod nur noch ein einziger Bock geopfert worden, eine Vorausſetzung bie aber nah Num. 29, 11 und nad. Joſephus Flavius (Antiq. III. c. 10, 3), fpwie nad) ber 3Rijdjna (Joma VII. 4. Menachoth XI, 7) hinfällig ijt, ba dert von einem weiteren Bod unb hier vom Eſſen desfelben δε Rede ijt mit dem Beifügen, die babyloniſchen SPriefter haben - ihn τοῦ genojfen, weil fie feinen Edel davor hatten. Ebenfo unrichtig ijt der Einwand, ber S. 31 gegen die Angabe des Barnabas erhoben wird, bie Knaben follen bie Be- Sprengung mit bem Reinigungswaſſer vornehmen, das burd) Bermifchung mit der Aſche der rothen Kuh gewonnen wurde: bie Beiprengung [εἰ Sache des Prieſters gewefen. Allerdings fam es nad 9tum. 19, 4 bem Priefter zu, mit dem Blut ber voten Kuh ben Eingang des Zeltes zu ber

Patres apostolici. 123

jprengen. Aber Barnabas berührt biefe Beiprengung gar nicht, fondern er fpricht deutlich genug von der Beſpreng⸗ ung der Unreinen mit bem eben befchriebenen Reinigungs- majjer und zu deren Vornahme war nah Num. 19, 19 nicht ein Priefter erforderlich, fondern jeder Reine befähigt. Die levitifche Reinheit konnte aber am eheften bei Kindern erhalten werden und wenn man in Betracht zieht, weld) Hleinliche unb ängftliche Sorgfalt nach ber "Erzählung der Miſchna (Para III, 2. 3) angewendet wurde, um Kinder fowohl vor ber Geburt als nad) derfelben vor Verunreinig« ung zu bewahren, wird man die Angabe des Barnabas nicht wur nicht zweifelhaft, fondern im Gegentheil höchſt glaubwürdig finden.

Nicht [ὁ fehr wie über den Baruabasbrief gehen bie Anfhanungen über die Elemensbriefe auseinander. Der Urs Sprung des erjten Briefes wurde zwar vor mod) nicht gar langer Zeit von mehreren Theologen wegen der Bezeichnung des Apoiteld Petrus und Paulus als jüngft aufgetretener Streiter Chrifti (e. 5), wegen der Nichterwähnung des über Jeruſalem ergangenen Geridjte8 (c. 6), wegen ber Ans führung des jiübijd)en Tempeldienſtes als vermeintlich nod) beitehend (c. 40 f.) und aus undern Grlinden in die Zeit zwifchen der Neronifchen Chriftenverfolgung und der 3er» ftörung Jeruſalems gejegt, von andern in ba8 Zeitalter Hadrians herabgerückt und der Brief felbjt damit bem bes fannten römischen Clemens abgejprodjen. In der neueften Zeit find indeffen die Stimmen gegen bie Aechtheit ber» - füummt und die Gutjtebung des Briefes wird von der größeren Mehrzahl der Theologen in bie Zeit ber Domi⸗ tianischen Chriftenverfolgung oder die nächfte Folgezeit vere legt. ©. 252 ff. diefes Jahrganges wurde diefe Anſchau⸗

7924 Gebhardt, Harnad, Zahn,

ung in der Q. Schr. vorgetragen und wird aud) von den Herausgebern der beiden oben genannten Schriften vertreten, von Harnad und Hilgenfeld. Auch über den zweiten Brief haben fid) bie Anfichten gegenjeitig etwas genähert. Cyn der eriten Auflage hielt Harnack zwar nod) den epiftolaren Charak- ter derSschrift aufrecht und betrachtete als ihren Verfaſſer mit Hilgenfeld den P. Soter. Er fprad) fogar feine Verwun⸗ derung aus, daß vor Hilg. niemand das Richtige getroffen - babe, unb ἐδ ift wahr, daR bieje Anficht als foídje früher unbelannt war, wiewohl mit der Vermuthung, der Brief fónnte von bem B. Dionyfins von Korinth, einem Zeitge- noffen Soters, herrühren, eine ähnliche bereits von Wocher (die Briefe der apoft. Väter Clemens und Polyfarpıs 1830 €. 204) vorgetragen worden war. ‘Durch bie Auffindung des Codex Hierosolymitanus hat fie fid) indefien als zwei- fellos unrichtig heransgeftellt. Das Schriftſtück gibt fid) in feiner zweiten Hälfte ganz unzweidentig αἴθ eine Homilie zu erfennen und die Herausgeber fanden fif jo zur Oüetvac- tation ihrer früheren Aufjtellung veranfapt. Wenn aber auch) die Frage mad) dem Charakter des zweiten Clemens. briefes nunmehr entjchieden ijt, fo wurde dagegen bie Löſung der Frage nad) dem Urfprung defjelben durch den beregten Fund nicht gefördert umd bie Kritit hat hier nad) wie vor ein weites Feld. Harn. läßt ihn wegen Verwandtſchaft mit dem Paftor Hermä und aus andern Gründen in den Jahren 130 (135) 160, wegen Nichterwähnung der Irrlehren Marcions und Valentin näherhin c. 135—140 (145) entftehen und ift ferner geneigt, wegen feiner Beziehung zu jener Schrift unb. weil er dem römijchen Clemens zuges fchrieben wurde, Rom als feine Heimath zu betrachten. Hilg. erblickt die chriftliche Kirche im Zuftand der Ver⸗

Patres apostolici. 725

folgung und fpeciell ber Mark Aurel’fchen Verfolgung und bermuthet weiterhin geſtützt auf die bezügliche Anſchauung Dodwells, die Homilie {εἰ von bem alerandrinifchen Clemens als jungem Mann in Korinth gehalten und zunächſt einfach Kiruevsog πρὸς" Κορινϑίους überfchrieben,, fpäter aber dem Brief des römischen Clemens gleichjam als zweiter Brief beigefügt worden: Die Conjectur ijt Dejtefenb und e8 begreift fich, daß derjenige, ber [ie aufitellte, zur Meinung fommen konnte, wer fie verwerfen wolle, müſſe eine beffere Erklärung für ben Umftand beibringen, daß die fragliche Homilie dem römischen Clemens als bejfen zweiter Brief zugefchrieben wurde. Bei ber lückenhaften Kenntniß, bie wir von dem zweiten und dritten Jahrhundert haben, darf man e$ inbe[fen bei einer Frage von ber Beichaffenheit ber vor- liegenden auch bei einem Non liquet bewenden fajfen und jo einleuchtend aud) diefe neue Vermuthung zu fein fcheint, fo fünnte e8 ihr, wie mir bünft, wenn in unferer Ange⸗ fegenDeit nod) weitere Wunde zu erwarten wären, doch audj ergehen wie der früheren.

Gehen die Herausgeber in der Frage * dem Ur⸗ ſprung des zweiten ſ. g. Clemensbriefes auseinander, ſo iſt dieß nicht minder bezüglich der Stellung der Fall, die ſie zu dem Codex Hierosolymitanus einnehmen. G. und H. räumen zwar ein, daB von den Itacismen ganz abge:

jehen die Zahl der Schreib- und Flüchtigleitsfehler in dem -—

Codex Alexandrinus eine febr beträchtliche ijt und daß, wenn fie mitgezählt würden, dem Gert be8 Codex H. der

Vorzug einzuräumen wäre. Allein fie bemerten aud), daß -

der Sritifer nicht fo urtheile, ftellen beide Codices im Werthe ziemlich gleich. und laffen in den meiften zweifelhaften Teol. Quartalſchrift 1876. Heft IV. 47

726 Gebhardt, Sarnad, Zahn,

Fällen ben alerandrinijchen den urfprünglichen Text bewahren. Anders ver[n)r $$. Wenn er and) zugab, baB der Codex H. butd A. in manden Punkten verbefjert werde, [ὁ ränmte er jenem bodj im ganzen den Vorzug ein umd die beiden Zextesrecenfionen gehen fo in- den zweifelhaften Stellen auseinander, bie eine ſchließt fid) am die ältere, bie andere an die neu entbedte jüngere Handſchrift an. Sd halte jenes Berfahren für das richtigere. Dabei ijt freilich anguerfennen, daß auch das andere auf guten Gründen be: ruht, unb e8 ijt zu hoffen, die ſyriſche Ueberſetzung der beiden Clemensbriefe, bie in einem Mannfeript der Biblio- tfe! be& verjtorbenen Cy. Mohl in Paris vorgefunden wurde unb die in Bälde veröffentlicht werden wird, werde einige Anhaltspunkte bieten, burd) die bie Entſcheidung zu Gunſten be8 einen oder des andern Gober mehr Sicherheit gewinnt.

Indem id) die Anzeige jchließe, führe id) mod) einige von ben fíeineren Verſehen an, die ich mir beim Lejen der Gebhardt⸗Harnack'ſchen Arbeit notirt habe. Falſche Citate (tee beim Barnabaßbrief ©. 9 (c. 4, 10) Jren. adv. haer. V. c. 32 ft. IV. c. 32, bezw. c. 17, 2 (ed. Stieren. I. 609): ©. 31 (c. 6, 11) Matth. 20, 24 ft. 20, 22; ©. 44 (c. 12, 1) IV. Esra 4, 30 ft. 4, 33 (Fritzsche, Libri apoer. V. T. 1871 p. 595); ©. 62 (c. 18, 1), Qm. 1, 24 ft. 1, 18; beim erften Elemensbrief (c. 11, 2) Joseph. Antiq. XI. c. 1 jt. I. c. 11; Jren. 1V. c. 31, 2 ft. c. 31, 3. Die Vermuthung, im Barnabasbriefe fei c. 12, 6 ft. ἐνδόξως ἐν δόκῳ zu lejen, rührt nicht von Cotelier, fondern von Gallandi her und die Behauptung, Deüller habe die Beziehung von c. 6, 9 auf bie Dornen» frone Chrifti beftritten, fteht mit bejjen Erflärung (Ὁ. 197)

4

Patres apostolici. 727

in ausdrücklichem Widerfpruh. Das sic, ba$ pag. XVI. dem Titel R. P. domnus beigefügt ijt, wäre wohl weg⸗ geblieben, wenn der Kritifer bedacht hätte, baB ble Schreib» weife domnus (t. dominus bei ben Maurinern eine ftehende Zitularfoem war.

S unt.

5.

Einleitung in bie heilige Schrift Alten und Renen Teflaments von Dr. Franz ſtaulen. Erſte Hälfte. Freiburg im Breis- gau. Herder’iche Verlagsbandlung, 1876. VI. unb 152 ©. Die Einleitung H. Kaulens bildet den 9. Band der

„Theologiſchen Bibliothek“ und folf in möglichit gebrüngter

Darftellung und Auswahl des umfaffenden Materials, ent-

ſprechend dem Zweck ber Theologiſchen Bibliothek, zugleich

dem Bedürfniffe der Studirenden und den Anforderungen ber im Leben ftehenden Priefter zu dienen, ihrem Gegene ſtaud wiljenichaftlich gerecht werben. Dieß bedingte ben Ver» jud) einer ftrengen Eingliederung in das Lehrgebäude der tatholifchen Theologie und die ſyſtematiſche Sammlung und

Ordnung des vielgeftaltigen Inhaltes der Einleitungswifien-

ſchaft um Einen Mittelpunkt. G8 ijt anzuerkennen, daß bet

Berfaffer mit Erfolg an feiner Aufgabe gearbeitet und ins-

befondere fid) um die Gewinnung allgemeiner und den

Spröden, leicht auseinanderfallenden Stoff beherrichender Gies

fichtspunfte bemüht hat. Während, um von frühern DBear-

beitungen abzufehen, Haneberg im „Verfuch einer Gejchichte der biblifchen Offenbarung“, für deſſen jüngit erjchienene 47*

728 Raulen,

vierte Auflage eine Beiprehung im nächften Jahrgang der Q. Schrift vorbehalten wird, die biblifche Geſchichte im Licht der Offenbarungsgedaufen zum wejentlichen SBeftanb- tei der Einleitung madjt nnb ihr den ausgebehnteften Raum verjtattet, Danko unb im feinen Fußſtapfen Zfchoffe neben etwas kürzerer Behandlung der biblifchen Gefchichte nod) biblifche Geographie und Hermeneutik in den SBereid) der Einleitung hereinziehen, bat Berfaffer die Selbftbe- ihräntung geübt, den Umfang der Einleitungswiffenfchaft in dem direkten Beweis für den höhern Urfprung ber θεὶς ligen Schrift zu beſchließen, fo daß außer ber Lehre von ber Inſpiration und vom Kanon nur der Beweis für bie Glaubwürdigkeit, b. D. bie Umverfälichtheit unb die Authentie ber einzelnen biblifchen Bücher zur ausführlichern Erörter- ung kommt. Xettere foll in der zweiten Hälfte nadjfolgen : wir wünfchen ihr neben der vom DVerfaffer ftrenge einge- haftenen Wahrung der Tatholiihen Principien eine vors urtheilslofe fritijd)e Würdigung ber einfchlägigen Materien, welche Bier nicht immer mit ftriftejter Aufrechthaltung aller traditionellen ſynagogal⸗kirchlicher Auffaffungen zufammen- gehen Tann. Die Einleitung fünnte nur mit Darangabe ihrer Eigenfchaft einer theologischen Disciplin ein Theil der allgemeinen Literaturgefchichte genannt werden, und gewiß hätte fie auch als bloße Sammlung von Vorlenntniffen zum Studium der heiligen Schrift auf den Namen einer Wijfen- Schaft zu verzichten; da fie nach der Beſchränkung des Ver- faſſers allem rein gefchichtlihen Stoff fern zu bleiben Dat, jo vermag er ihr mit Grund ihren Standort in dem all- gemeinen, apofogetifdjen Theil der dogmatifchen Theologie anzumeifen (S. 5). Demfelben und der theologifchen Wiffen- haft fónnte fie mur dann entrüct werden, wenn der Be⸗

Einleitung in bie Gefchichte be8 A. und N. Zeftamentà8. 729

griff der übernatürlichen Entftehung der Bibel, an welchem die auf der Bibel als ihrer Hauptquelle fußende chriftliche Glaubenslehre feftzuhalten Bat, von vorn herein aufgegeben wird: im diefem Fall wäre fie ein bloßes, wenn aud) nod) fo hoch zu ftellendes Denkmal des jüdifchen Nationalgeiftes unb feiner gefchichtlichen Entfaltung. In ben meiften pro» teftantifchen Darftellungen ift fie bieB aud) bereits ohne Einfchränfung geworden, oder ijt doch ftarf auf dem Wege dahin. Die religiös kirchliche Anſchauung darf aber die Strenge der dargelegten Prinzipien nicht auf bie menſch— lichen Beitandtheile der Bibel ausdehnen, wenn fte nicht zur Buchftabenvergötterung führen unb diefelbe zulegt zu einem verichloffenen Buch mit fieben Siegeln machen will.

Es wird folgende Gliederung des Einleitungsftoffes getroffen: An die Erörterung der Anfpiration der heiligen Schrift, melde ber Kanonieität zu Grunde liegt, fchließt fid) die Lehre vom Kanon oder von ben Beftandtheilen und dem Umfang der Heiligen Schrift. Darauf folgt die Lehre von der Gíaubmiürbigfeit berfelben, indem einmal bie Un⸗ verfälfchtheit der heiligen Bücher dargethan und gezeigt wirb, daß fie im Wejentlichen die nämliche Geftalt haben, in welcher fie ſchon verfaßt worden find, fobann ihre Authentie bewiefen wird, wornad) bie biblijden Bücher diejenigen Merkmale an fid) tragen, welche ihren fanonijdjen Charalter conftituiren. Der Authentiebeweis ift bei jedem einzelnen Bud befonberé zu führen, wogegen ber Nachweis der Un⸗ verfälfchtheit für alle zumal in Einem geliefert werden kann, ba alle im Ganzen diefelben Schickſale durchgemacht haben. Sonad) erhalten wir einen grundlegenden, einen allgemeinen unb einen fpeziellen Theil.

Der grundlegende Theil behandelt im erften Abfchnitt

180 Kaulen,

bie Inſpiration, im zweiten den Canon be8 alten und neuen Teftamentes und bie Apofryphen. Der allgemeine Theil hat im erften Abfchnitt Vorbemerkungen, behandelt im zweiten die Sprachen der heiligen Schrift, im dritten Abjchnitt ben Schriftcharakter und die Zerteintheilung. Der vierte Ab- Schnitt befpricht bie überlieferten Textesexemplare, gebrudte und gefchriebene. Noch folgen Gitate und Ueberfegungen, welche Tettere nicht weniger al8 ©. 72 bi8 149 πιεῖ cont. preffen Drudes einnehmen, de& Guten ziemlich 3m viel für Studirende und paftorirende Geiftliche.

Bon den Vorbemerkungen, welche Erklärungen, Quellen und Gefchichtliches behandeln, fcheint bem Ref. ber evite und legte Ausdrud zu pag unb unbeitimmt zu jen. Er wünfchte den Anhalt derfelben, ben fie faum ahnen laffen und ges radezu verbeden, etwa mit: Begriff der Bibel, der kano⸗ nifchen Schriften, der Ynfpiration u. f. m., und: Zur Ges fchichte der Einleitung näher beftimmt. Gleich zu Anfang wäre wohl füglicher bie betreffende Tridentiniſche Beſtimmung an- geführt, da das Vatik. die betreffenden Materien bod; nur ale Parerga behandelt hat. Diefe Bemerkung gilt aud) noch für ein paar andere Stellen. Ob der Name heilige Schriften vot allem fie ald Mittel zu unferer eigenen Heiligung bezeichnen foff, ift bod) zu bezweifeln: in erfter Linie wird jene Benennung ben ehrwürdigen Charafter ausdrüden ſollen, welcher ihnen als göttlich infpirirt geglaubten Schrif- ten zufommt, heiligen Büchern als vorzugsweifen, wefentlichen Erzeugniffen des heiligen Geiftes. Zur Erläuterung ber ©. 3 Mitte angeführten kirchlichen Beſtimmung (non ideo, quod sola industria humana concinnati, sua deinde aucto- ritate sint approbati) fonnte jogleld) dort auf bie dieß- falljige Meinung älterer, aud) Tatholifcher Theologen über

Einleitung in die Gefchichte be8 A. und N. Teftaments. 731

beuterofanonijdje Schriften hingewiefen werden, die an fid manche Wahrfcheinlichfeit Hatte. Die Definition S. 4, wor» nach die biblische Einleitung, der Nachweis von dem infpirir- ten und Tanonifchen Charakter ber hl. Schrift ijt, fcheint zu eng gefaßt zu fein: wir mögen diejes Kirchliche Poftulat als Hauptaufgabe ber Einleitung annehmen und infofern nad) dem a potiori fit denominatio und die Begriffsbeftim- mung gefallen lafjen; allein der weitere nicht geringe Ap⸗ parat, welcher ποῦ in der Einleitung zur Behandlung fommt, mit.ber AInfpiration nichts zu thun Dat und rein wiſſenſchaftlicher Erforſchung anheimfällt, mie bie biblifchen Sprachen, Schrift, Tertbefchaffenheit, Gefchichte deffelben u. m. A. follte bod) irgendwie in einer vollftändigen Begriffe: beftimmung mitbefaßt fein. €. 13 oben fteht: „Durch bie Inſpiration wird das Niedergefchriebene für Andere Ges offenbartes, Tann aber von dem Schriftftelfer felbft auf natürlichem Wege erkannt fein.“ ‘Der Sat ijt mißverftänd- lid, wo nicht »haeresim sapiense, und hat neben dem auf derfelben Seite unten ftehenden nur räumlich, aber nicht fogijd) Platz. Hier heißt es nämlih: „Wie weit fid) bel der Inſpiration die Einwirkung Gottes, unb mie weit fid) die Mitwirkung des Menfchen erfttedt habe, ijt von ber Kirche nicht definirt worden. Bloß bie Meinung hat fie ausgefchloffen, als [εἰ e8 noch Inſpiration zu nennen, wenn ein Buch auf menjdjfid)e Weife zu Stande gefommen und nachträglich vom heiligen Geifte ober deſſen Organen ape probirt worden je." Es hatte jmümlid) im jechszehnten Jahrhundert Leſſius, Profeffor zu Löwen, unb fpäter mod) der Jeſuite Bonfrere gelehrt, es könne ein Sud) zur Deis ligen Schrift gehören, menn es mit bloß menschlichen Kräf- ten ohne Beiftand des heiligen Geiftes niedergeſchrieben

732 Kaulen,

worden jei, und der Heilige Geift nachher nur erklärt Babe, e$ fei in demfelben nichts Unmwahres enthalten. Bon den beiden Crtremen, wenn wir beide mit bem Verfaſſer fo nennen wollen, dem Glauben einzelner Väter und des df tern Proteftantismus, an eine buchftäbliche Eingebung, wo- nad) der heilige Geijt die Schrift gleichfam biftirte und feine menfchliche Geifteszuthat, fondern nur bie merhanifche Schreibarbeit mit dem Diktat Gottes fid) verband, und ber mehrfad in früherer Zeit, die, in manchen Stüden frei- müthiger mar und unbefangener ber Wiſſenſchaft gerecht wurde, vertretenen Anſicht, monad) bie Inſpiration fid) [ebigtidj auf die Glaubens⸗ unb Sittenwahrheiten beſchränken würde, von dieſen beiden Anjchauungen follte die. lettere, nad): dem die erftere fid) ausgelebt hat und bloß mod) [porabijd) von Yudenchriften vertheidigt wird, wenigſtens geduldet werden. S. 15 entfcheidet man fid) gern mit bem Verfaffer dafür, daß das befannte libros integros cum omnibus suis partibus, prout in eccl. cathol. legi consueverunt et in veteri vulgata latina editione habentur (Conc. Trid. Sess. IV. Decbr. de can. Seript.) fid) nicht auf Form unb Buchftaben, fondern auf ben Inhalt beziehe und dasjenige umfajje, was zum Inhalt eines Buches wefent- fid) gehöre. Dann werden wir aber. bem prout wicht bie allerſchärfſte Faſſung geben, fondern einzelne Stellen ber Vulgata, Doppelüberfeßungen u. m. A. in Anfehung ihrer Aechtheit und Urfprünglichkeit nad) kritiſchen Grundfägen beurtheilen dürfen. ©. 35 u. 36 o. bringt Verfaffer diefen Grundſatz ſelbſt für das Komma Johann. in Anwendung. S. 17: „Den erſten Anfang einer kanoniſchen Sammlung machte ſchon Joſua, indem er nach Joſ. 24, 26 zu dem Geſetzbuche des Herrn eine neue Urkunde (fein Buch ?) hin⸗

Einleitung in bie Gejchichte be8 A. unb N. Teftaments. 733

aufügte." Die Barenthefe ift gewiß wegzulaffen,, denn daß Joſua das nad) ihm genannte Buch fchrieb ober nur ſchrei⸗ ben ließ, wird man fchwerlich mehr im Ernſte behaupten. Sym Zufammenhang mit dem Vorigen ift es die Urkunde über die Volksverſammlung mit den Reden. Für die Ber hauptung, daß zur Zeit des erften Tempels die heilige Schrift im Heiligthum aufbewahrt worden, ift ebendaf. 4 Kön. 22, 8 angeführt; allein hier ijt nur von der Wiederauffindung des Geſetzbuchs burd) den Hohenpriejter Hilfia die Rede, nicht von der ganzen damals vorhandenen Heiligen Schrift. Die Annahme je(bft ift nicht unwahrſcheinlich, aber fanu. nicht auf jene Stelle geftütt werden, da aud) im Folgenden nur von bem einzelnen Buche und der Vorleſung deſſelben ge⸗ redet wird. Ob bie unter dem zweiten Tempel (2. Malt. 2,.18) von Nehemia errichtete Bibliothek die infpirirten Schriften mit enthalten habe, ift allerdings nicht wohl an. zuzweifeln. In 8. 27 vertheidigt Verfaffer die Anficht, daß bie Vervollftändigung des Kanons während der Periode bet jüdischen Selbftändigkeit (fein ganz pafjender Ausdrud für bie Gefchichte Israels unter perfifcher und griechifcher Ober» berrfchaft) ‚fortgefegt wurde, [0 lange nur infpirirte Schrift- ftiüde beigebracht wurden; „non einem fürmlidjen Abſchluß des Kanons wiffen wir nichts, denn die von den Juden aufgebradite Meinung, Esra Habe den altteftamentlichen Kanon gefchloffen, ift nicht Hiftorifch, und aus ber Makka⸗ büerzeit kann feine begründete derartige Nachricht aufgewiefen werden.“ Denn daß nad) Esra's Zeit die große Synagoge den Kanon zum Abfchluß gebracht hätte, fei auch nicht ges ſchichtlich zu erhärten. Die weitere Vermehrung des alttes jtamentlichen Kanons foll dann nur mit bem Aufhören der Synjpirationégnabe innerhalb be8 Judenthums ein, Ende ges

134 Kaufen,

funden haben, was allerdings unbeftreitbar, aber aud) ein ibentijd)er Sag ijt. Wenn bieB gegen Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Chr. geſchah, zu welder Zeit aud Berfaffer alle diejenigen Bücher, die das Concil von Trient aufgezählt, in dem von ifm angegebenen Umfange bei ben Juden a($ fanonifd) angefehen fein Läßt, fo hat man für bie deuterofanonifchen Schriften beizuftimmen, fofern ungefähr von dort an überhaupt feine weitere Schrift mehr zu den- felben fam, aljo feine mehr auf bem Inſpirations djarattet Anſpruch machen Tonnte, aber ob biefer bis tiefer in das zweite Jahrhundert fortgeführte Kanon ber des gefammten FJudenthums, alſo namentlih aud) ber PBaläftiner gemejen ift, ift nicht nur jo ohne Weiteres anzunehmen. Die Gin: leitungsſchriften verbreiten fid) ausführlich darüber und hier fann nicht in bet Streit eingetreten werden, nur möchten wir bemerken, 1) daß anerfanntermaßen das Esra⸗Nehe⸗ mianifche Zeitalter aus innern und äußern Gründen, auf bie Perfonen wie auf die Sache gefehen, fid) für Sammlung der alten fanonifdjen Schriften am vorzüglichften eignete, wo nicht biefe(be geradezu poftulirte, 2) daß befannte, mehrfache Traditionen und Sagen, die nicht ohne gefchichtlichen Kern fein füunen, jene beiden Männer für genannte Aufgabe thätig fein laffen ; dazu rechnen wir mit bem Verfaſſer aud 2. Moft. 2, 18; 3) daß bie Behauptung des bf. Joſephus (c. Ap. 1, 8), der Canon fet ungefähr mit der Zeit Kür nigs Artaxerxes Longimanus abgefchloffen geweſen, fid) ſchwer als Produkt der ſpätern jüdiſchen Theologie begreifen läßt, wonach feit Artaxerxes bie Prophetie nicht mehr in ihren höhern Graben verliehen worden fein foll, fondern viel eher als alttradirte, wenngleich nicht ganz richtige Ueber- zeugung der paläftiniichen Judenſchaft; 4) daß leftere, bie

Einleitung in bie Gefchichte be8 A. unb N. Tejtament?. 735

jo zähe am Alten hielt, a(8 ganze Nation nicht dazu gt» fonımen wäre, hergebrachte, al8 fanoni[d) betrachtete Schrif⸗ ten den Grundfägen einer fpät aufgelommienen Hyperor⸗ thodorie zu opfern, fo ftrengen Anforderungen derfelben fie fid) audj fonjt im Einzelnen fügen mochten, und jo wieder» holt auch einzelne 9tabbinen oder Schulen altanerfannte fa» nonijde Bücher beanftanden mochten. Unbefangen aners fennt Verf. (€. 20), daß auf das hohe Lied unb gegen. Vincenzi. Sess. IV. Cone. Trid. vindice. unb A. namentlich audj auf bie denterofanonifchen Bücher fich im Neuen Teftament jo wenig eine Hinweiſung findet, a(8 auf Ruth, (éra, Nehemia und einige andere Schriften des hebräifchen Kanons. Somit fann aud, was ba$ Hohe Lied betrifft, daffelbe nad) feiner allegorifchen Auslegung keines⸗ wegs bie Vorausfegung für Reden des Herrn und Stellen in. den neuteftamentlichen Briefen bilden, in denen ber Herr - [12 al8 Bräutigam, bie Gemeinde als Braut bar[teíft oder beide fo bargeftelft werden. S. 36—40 handelt Verf. nod) von den Apokryphen und gibt den Anhalt der bedeutenderen derjelben Kurz am, was nur zu biffigen ift. Wir vermiflen bier neben den angegebenen ältern Arbeiten: Scholz’ Bibelwerf und Movers, den Apofryphen im Freiburger 8. Qer., den Hinweis auf die eingehenden Unterfuchungen Langens in: Das Judenthum in Paläftina zur Zeit Chriftt 1866.

Im allgemeinen Theil (€. 41 ff.) werden znerft bie Sprachen ber heiligen Schrift behandelt. Verf. nimmt an, daß das Hebräifche zuerft von ben Urbemohuern der Land» Schaft zwifchen dem Meittelmeer und der arabijchen Wüſte gefprochen unb von ben erobernb dafelbft auftretenden Ca⸗ naanitern angenommen worden ift. Zweifellos trafen bie

736 Kaulen,

Canamiter (Um weitern Sinn; im engern find es die nörd⸗ lid vom Karmel wohnenden, an der Spitze der fanaani- tifchen Stämme ftehenden Phönizier) eine ältere Bevölfe- rungsfchicht im Oſt⸗ und Weftjorbanland, bie Enafiten; ἐδ ift aber nicht ausgemacht, ob fie Semiten oder Arier waren. Für femitifche Abkunft fprechen nur bie bem Semitifchen angehörigen Namen berje(ben, die ihnen aber aud) von den Sanannitern beigelegt fein können; noch weniger ficher ift, ob fegtere erft im Jordanland das Hebräifche angenommen haben. Man hält fie Sogar nicht ohne Wahrfcheinlichkeit für ein urfprimglich femitifches Boll, aber auch wenn jit nad) ihren frühern Sigen in Südafien Ehamiten waren, wie die Völlertafel angibt, fo werden fie auf ihren langen Wanderungen durch mächtige femitifche Culturländer femi- tifche Art und Sprache angenommen haben, ehe fie dad Jor⸗ danland erreichten. Hätten fie erft bier das Hebräifche er- lernt, jo ift wohl unerklärlich, daß aud) nicht der geringfte Reit ihrer urfprünglihen Spracde geblieben it. Aus fpred)enb ift bie Annahme), daß die ü(tejten Debrüifdjen Ur- kunden, Pentateuch unb Joſua wahrſcheinlich nicht mehr in ihrem urfpränglichen Ausdrucd erhalten, fondern bem je⸗ weiligen Sprachausdruck fpäterer Perioden angepaßt worden find. Dadurch würde fid) leichter erklären, bap der ſprach⸗ fide Ausdruck zwifchen den äfteften und jüngften Büchern feine jehr namhaften Unterfchiede zeigt. ef. Dat nur das Bedenken, ob damit nicht auch die Annahme fachlicher Aen⸗ derungen und Umarbeitungen erleichtert wird. Es ift des Weitern nicht febr wahrjcheinlich, daß die Chaldäer Indo⸗ germanen waren, mie S. 46 vermuthet wird, ba von den indos germ. Sprachen fid) faum eine Spur auf aftdjafodijd)em, ſüd⸗ babylonifchem Gebiete findet: fie waren’ allem nad) Semiten,

Einleitung in die Gefchichte be8 A. und N. Teftamentd. 737

welche bie turanifche Grundfchicht der Urbewohner überdedten (Sffabier) und das Semitifche dort als Syafrtaujenbe vore haltende Guíturgrunbíage einbürgerten,, ganz wie c8 bie Gananiter, gleichviel ob urfprüngliche oder gewordene Se- miten, in Paläftina machten. Da nun aber ba8 f. g. bibe (ijd) Chaldäiſche nicht bie eigentlich haldäifche Sprache Süd⸗ babpíonien8 ift, die davon namhaft verfchieden war und ein höheres Alter beaniprudjt, fordern durch mißbräuchliche Benennung be8 Hieronymus jener Ausdruck auf den fild- weitaramäifchen Dialeft übertragen worden ijt, bem bae Sprifche als nordöftlicher fid) gegenüber ftelít, fo war bief a. O. deutlicher zu bezeichnen. Jene lebten auch in Babylo- nien ſeit uralten Zeiten nicht bloß als „Zeichendeuter“, fons dern als Volksmaſſe (Chaldi auf Inſchriften δὲδ 10. Jahrh.), die wohl fehr frühe folche hervorbrachte, fo baf dann nod) Dan. 1, 4 mit Sprache ber Chaldäer deren Geheimfprache bezeichnet werden mochte, während ganz rich« tig in der Bibel felbjt das irrthümlich ſ. g. (biblifch) Goal» büije bie aramäifche Sprache heißt. Man begegnet übri- gens im diefem Abfchnitte manchen feinen Bemerkungen tiber Weſen, Charakter und Entwidlung ber biblifhen Sprachen. Nicht minder gibt ber fechste Abfchnitt (Ueberfegungen) ben Sprachgelehrten zu erkennen, welcher auf einem umfaffenderen Sprachgebiet heimisch ift. Statt Hier aber, wo nur vers hältnißmäßig Wenige jid) wohl und ficher fühlen, in vieles Einzelne einzugehen, will Ref. noch einen controverjen Punkt hervorheben, ber allgemeineres Intereſſe bietet und in neuer Zeit vielfach behandelt worden ift, ohne noch zu völligem Abſchluß zu gelangen: den Lateiniſchen Ueberfegungen itt ber Abfchnitt €. 108 bi$ 127 gemibmet unb man durfte begierig fein, be8 Verf. Anficht über bie díteffe , bie

738 Kaulen,

Itala, oder über die älteſten derſelben zu vernehmen. Er ijt indeß bier dem, was er in ber Geſchichte der Vul⸗ gata niedergelegt, treu geblieben und hält e8 für „inner- fid) wahrſcheinlich“, daß bie ἢ. Schrift wenigſtens theilweife ihon im eriten Jahrhundert ins Lateinische übertragen wurde, weil das Chriftenthum fid) febr früh in Italien von Rom aus verbreitete und die gewöhnlichen Volksklaſſen, unter denen e8 doch ber Hauptfache nach lange verblieb, nur das Lateinische kannten. „Vollsfpracdhe mar zu Rom und in Italien nur das Lateinifhe: c8 ift glanb(id), daß ſchon in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts wenig⸗ ften$ die prophetifchen Lektionen und Pſalmen lateinifch da waren, jomie daß man zum Zweck der Privaterbauung ſchon damals anfing, alle Büdjer des Alten Zeftaments zu übers tragen.“ Der von Auguftinus de doct. chr. I. 15 ange- führte Name Itala für bie erfte lateinische Bibelverfion gilt dem Verf. für die in Italien gebräuchliche, entitanbene, neben der e8 nach Auguft. mod) viele andere gegeben habe, ba die Anficht von bloß verfchiedenen Recenfionen ber einen Ueberfegung fonderbar und gezwungen fei, und für bie von dort nach Afrika gebrachte ; er bemerft nod) S. 113, daß aus innern Gründen bie Hindeutung Rufins Ap. 2, 33, ber Hl. Petrus fei Urheber der Itala gewefen, nicht entfrüftet werden fünne. So einfach fcheint aber der Sachverhalt keineswegs zu liegen. Die Anficht, daß Petrus die Itala verfaßt, als ten wir für mehr als jonberbar, da das Zeugniß Rufins ohne. alle Beglaubigung und Stütze völlig mertb(o8 wäre, aud) wenn ἐδ, was ἐδ ftreng genommen nicht einmal thut, jene Hindentung enthielte (denn die librorum instrumenta, die Petrus der Kirche zu Nom übergab, Ap. 2, 33, find nicht lateinische Ueberſetzungsſtücke, ſondern griechiſche bib»

Einleitung in die Geſchichte des A. und N. Zeftamentd. 739

Tische Bücher), und nicht mit ben Worten anfienge: Petrus Rom. ecelesiae per 24 annos praefuit. Sodann bat Auguftin mitefeiner Anficht von einer latinorum inter- pretum infinita varietas, wenn cr darunter felbftändige Ueberfeger verfteht, anerfannt in diefen Materien weniger Gewicht, a(à Hieronymus, ber nur eine lat. Meberjegung fennt, aber dieſelbe in den mannigfaltigften Necenfionen, Zertgeftaltungen und »Berunftaltungen. Dafür paßt aber aud) die infinita varietas des Aug. meit beifer, ale für felbjtändige Bibelüberſetzer, für welche fie nothwendig in ben Augen jedes Dalbmeg Sachverftändigen eine contra- dietio in adjecto i[t. Es ijt fogar für Manche, wie wrigide, nod) die Frage, ob ἐδ nur einen Ueberſetzer der ganzen latein. Bibel vor Hier. gegeben hat und nicht vielmehr diefelbe, wie die Septuag., ba8 wegen dringenden Bedürfniſſes mur rafcher a[8 die Sept. zum Ziel gebrachte Werk mehrerer Ueberfeger geweſen ift. Wenn die numero- sitas interpretum bei Aug. viele felbjtändige Weberfeg- ungen bedeutete, jo ergäbe ji), da Aug. zunächſt nur von Afrika redet, eine wahre Ueberſetzungsmanie der Afris faner, mit welcher die Selbſtgenügſamkeit der Chriften Italiens mit ber einen Itala, die bod) von ihnen nad) Afrita gefommen fein fol, ſtark contraftirt. Die Anficht ber beften Autoritäten, wie Wifeman, Fritzſche, daß nicht Italien, fondern Afrika die Heimath der Itala, tjt ernft- (id) burd) Niemand, auch nicht durch Gams er[djüttert, δας gegen ijt die fadjfunbige und nahezu erichöpfende Behand⸗ fung der einfchlägigen Materien in Sledeifens Jahrb. 1874 f. duch Prof. Ott in Rotweil bis jegt ziemlich ignorirt, menn aud) unter ber Hand nicht unbenüßt ge- blieben, jelbft feitens der Xodtfchweiger, und wird am

740 Kaulen,

wenigften durch Zieglers ungefchlachte Quftfiebe in den Stalafragmenten der Paul. Briefe entfrüftet werden. Schon Bentley legte gegen Sabatier Gewicht auf das bichterifche Itala, da nicht Italus, fondern Italicus Italien angehörig, dort aufgefommen, jenes dagegen italifche Art und Eigen- Schaft, Sprache bedeutet und gerade das ungewöhnliche Wort ftatt latinus (wie wälſch gegen romanifch) ausländische Ab- funft ber Ueberjegung anzeigt, wie griechifche Verfion u. f. m. zunächſt nur bie im griechifcher Sprache verfaßte ift, unangejehen wo fie gefertigt wurde, Nach 9[frifa weist nun aber neben dem erjten Auftreten der Itala daſelbſt aud) ihre Sprache, bie unwiderleglich ihre jchlagenden und zahl« reichiten Parallelen in den äfteften afrikaniſchen Kirchen: Schriftftellern hat. Die Bibelcitate derjelben! find zahlreich und im Ganzen übereinftimmend, und fomeit es überhaupt nachweisbar ift, die der Itala. Die lateinische Kirchen- fprache it ein Produft der afrikanifchen Gemeinde: bier wurde Latein frühe Volksſprache und machte eine Verſion der Bibel nothwendig, welche wieder den Anftoß zu einer eigenen theologischen Sprache und Literatur gab. Der Ueberjeger hatte bereit8 einen fehr verwilderten Text der Septung. vor fid) und bei der Mangelhaftigfeit und ſprach⸗ lichen Härte feiner Arbeit unterlag diefelbe zahlreichen Aen⸗ derungen, größern und geringern Bearbeitungen, auch wohl neuem Ueberfegungen ganzer Abfchnitte. Was davon ſchon im 2. u. 3. Jahrh. gefhah, mag Auguft. in die prima fidei tempora übertragen haben. Das Griedjiijd war in Ita⸗ (ien, befonders in Nom, mod) tief ins 2. Jahrh. allgemein verbreitet und die niedern Schichten, foweit fie es nicht verftanden, unzweifelhaft des Qejené unfunbig: bie zahl- reichen Bibellefer, die man da finden wollte, gehören in

Einleitung in die Gefchichte des A. und N. Teftamentd. 741

eine weit fpätere Zeit. Hat ἐδ endlich nad) Verf. aud) in Italien viele fateim. Weberfegungen gegeben, [0 fonnte Au—⸗ guft. weder von einer Itala fchlechthin reden, noch wären wohl die Namen fämmtlicher Autoren derfelben ſpurlos untergegangen. Beſtand dagegen bie numerositas inter- pretum latin. aus Gorreftorem, lleberarbeitern, Reviforen, jo erf(ürt fid) ans’ ber vergleichSweifen LVeichtigfeit des Ge— ſchäfts, daß fid) fo viele daran madjteu und ihre Namen nicht erhalten wurden. Wir möchten Ὁ. K. die erwähnten Aufſätze Joh. Otts angelegentlid) empfehlen und Teßtern, ber offenbar die richtige Fährte gezeigt ober bie verfchüttete wieder aufgegraben hat, bitten, auf derfelben weiter zu idreiten : labor improbus omnia vincit.

Der Abſchnitt über bie lleberfegungen ift, Wie mir nochmals betonen, fonft gründlich, mit vollen Verftändniß und gewifjenhaft gearbeitet. -

Himpel.

Tpeol. Quartalſchriſt 1876. Heft IV. 48

Inhalts⸗Verzeichniß des

achtundfüufzigſten Jahrgangs der theologiſchen Quartalſchrift.

I. Abhandlungen. 2:

Ueber Pflihtencollifion. Linfenmann . . 3 Serjud) einer Erflärung von 1. Gor. XV., 92. 98. Schmitt 60 Das Geburtsjahr Ehrifti (Schluß). Qeble. . . . . . . 85 Ueber ben fel, Prof. Dr. Aberle. Himpel.. . . . . .177 Ueber bie jpradjtidjen Gigentbümtidjfeiten Tertulliand. Kellner. 229 Uriprung und Berfaffer be8 Briefes des Glemen8 bon Rom

an bie Gorinthber. I. Brüll.. . 2. 2 2 2 .. .282 Ein patriftifher Fund. Funk. . . 0. 5. . 286 Handel unb Gewerbe im chriftlichen Alterthum. Sunt . . 9607 Die chriſtliche Beltanfhauung im Verhältnig zu den mobernen

Naturwiffenichaften. &€ dang. . . . . 902 Urfprung und Berfafjer be8 3Briefe8 be8 Glemenà bon Kom an bie Gorintber. IL. Brüll. . .. 0. s. . 422

Aug Syrifchen Reden be8 b. Syafob v. Sarug. Ἐν τε. . 465 Dad Verhältniß der Evangelien be8 Markus und Lukas.

Nippel... . . 991 Befuh eines Cardinals beim "GotteBfreunb im | Oberland“. Lütolf.. . . e. . 980

Studien über bie Grundfragen ber &igmbotit. finittel. . . 9598

II. Recenſionen. Alzog, Handbuch ber Patrologie. gun. . . . . . . .90

N

Inhalts⸗Verzeichniß. 743

Bach, Dogmengeſchichte des Mittelalters. Kmittel. . . . 806 v. Baer, Studien aus bem Gebiet der Naturwiffenichaften.

Shan. . . . 482 Bloch, Studien zur Geſchichte ber emma der althebräi- iden Literatur. Himpel. . . . . 1604

Braunsberger, Der Apoftel Barnabas. Sunt, . . . 902 Delitzſch, Das hohe Sieb. Qimpel. . . . . . . . . 581

ΖΔιομήδου Kup, zlox(uy Exxà. ἱστορίας. unl . . . . 941 Ebert, Allgem. —— der Literatur des Mittelalters, Funk. .. . 041

Endemann, Studium. in ber vomanijdy tani misto

unb Rechtslehre. uni. . . .7. . : Sehr, Allg. Geſchichte be8 19. Jahrhunderts. gunt o. . 088 Freiburger, Didcefanardiv. 9. 8. tyunf. . . . . . .989 Galland, Joſeph von Görred. Sunt. . 2 2 . . . .708 Grimm, Gejdidite ber Kindheit eju. Gdang. . . . . 709 Gebhardt (Satnad, Zahn), Patrum apostol. opera. unt 717 Hilgenfeld, Clem. Rom. epistul. untl, . . . 717 Harkavy, Hebräifche Bibelhandicriften. Himpel. e. . 019 Henner, Die herzogliche Gewalt ber SIRE bon i Las

gunt. .. . 145 Henner, Sijdof Hermann. 1. gunt. à . . 145 Heydeke, Dissertatio de Barnabae epistola. gunt . .110 Hoffmann, Orient unb Occibent. Himpel. . . . . .147 Janſſen, Geſchichte des deutfchen Volkes. Funk, . . . . 698 Kaulen, Einleitung in bie 5. Schrift. Qimpel. . . . . 727 Kluge, Pbilofopbifche Fragmente. Knitte . . . . . 888 Kraus, Lehrbuch ber fivdjengejjidte. Sunf. . . . . .105 Kröll, fangelreben. Linfenmann. . . . . 687 Kuenen, les origines du texte asien: Himpel.. 135 Kuhl, Die Anfänge be8 Menſchengeſchlechts. Himpel. . . 119

Leim bad, Das Papiasfragment. Funk. . . . 103 Lipfius, Lehrbuch ber M RN ——— Dogmatit fnitteL . 418 Menz, Gefchichtliche Darftellung von [e Ausübung bed οἷα. cetum regium. Herter. . . . . 960 Niemeyer. Die Sonntagsruhe vom Standpuntt ber Gefunb- beit8lebre. 9injenmamm. . . owe re

Potthaſt, Regesta pontificum Rom. gunt. 00s. 5 . 9046

744 Inhalts⸗Verzeichniß.

Seite Reutter, Geſchichte der religiöſen Aufklärung im Mittelalter. Funk. .. ... 509 Röhm, Predigten auf die Fefte der Heiligen, Sinfonien 687 Ruland, Gef. Schriften, I. Bd.: Predigten. Linfenmann. 687 Schäfer, Das hohe Lied. Himpel. . . .98581 edüffle, Bau und Leben be8 focialen Körpers. Sunt. . 511 Scheibelberger, Gerhohi Reichersb. opera. $unt. . . 476 Seyerlen, Aufgaben der Predigt ber Linſen mann. . . e cxx s 114 Stworzof, Batrologifche Unterſuchungen. Sunt « « . 909 Specht, Wirkungen be8 eucharift. Opferd. Knittel. . . . 514 Strad, Firkowitſch und ſeine Gntbedungen. Himpel. . . 519 Teuffel, Gefchichte ber xbmijden Literatur. δι: . . .841 Thöme'8, Divi Thomae Aquin. opera. fnittel. . . ..328 Vogt, Sammlung Tirdj. unb ſtaatl. edo für ba8 Bizthum Rottenburg. Kober . . . 0. . . 499 989 attenbad, Das Schriftivefen im Mittelalter. Funk. . 848 Wigand, Der Darwinigmus unb bie NOTEN. Newtons und Cuviers. Schanz..... . 482

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