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Tr. 14198 ©.228 1662

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Dita, GOOglE 8

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Theologiſche Studien und Kritiken.

"Kine Zeitſchrift für das gefamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. €. Ulmenn und D. F. W. 6. Umbreit und in Berbindung mit D. &. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner uad D. 3. Wagenmann Bernegacen CORE, D. 3. Köftlin 23 D. E. Riehm. 6G0Do: )) W

2 Ron

1883.

Sehsundfünfzigfier' Jahrgang. Erfter Band.

Gotha. Triedrih Andreas Perthes. 1883.

Theologiſche Studien und Kritiken.

Fine Zeilſchrift für das gefamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. C. Ullmann und D. F. W. €. Umbreit und in Verbindung mit D.6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner D. 3. Wagenmann herausgegeben

D. 3. Köflin um D. E. Riehm. Jahrgang 1883, erſtes Heft. j

ORE Rey "BODL:LieR.- I. %, Rees

Gotha. Briedrih Andreas Perthes. 1883.

Abhandlungen.

1. Über die Zuſammenſetzung der Liturgie im achten Buche der Apoſtoliſchen Konftittionen. Bon 8. Brüder.

Unter dem reihen Schag von alten Liturgieen, der uns aus den erften Jahrhunderten der chriftlichen Kirche überliefert iſt, nimmt die fogen. Clementiniſche oder Apoftolifche, die wir im achten Buche der apoſtoliſchen Konftitutionen finden, in jeder Beziehung eine Hervorragende Stellung ein. Alles, was dag Studium der alten Liturgieen überhaupt anziehend und lohnend macht, bietet fie befonders reichlich: fie giebt und nicht nur Aufſchluß über eine Menge einzelner Punkte und Fragen der alten Kirchengeſchichte, fondern fie zeichnet uns auch ein deutliches und, weil gleichfem von der Kirche felbft entworfenes, möglichft objektives Bild der gottes- dienftlichen Gebräude und Einrichtungen und, was mehr ift, des Sinnes und der Bedeutung, die die Kirche denfelben beilegte. Dazu kommt, daß uns ihre Überlieferung im adjten Bude der Konftitue tionen eine gewiffe Burgſchaft für ihr beträchtliches Alter von vornherein bietet. Ihr Inhalt ift ein überaus reicher; aber weil fie in Marer, nad) den Stufen des Gottesdienſtes georbneter Dispo⸗ fition vorwärts fchreitet, fo macht fie im ganzen bei allem Reich» tum doc; nicht den Eindruck bes Überladenen. Daneben fällt aller dings auf den erften Blick fofort auf, daß fie nicht weniger als drei Fürbittenformulare Hat, in Kap. 10. 12 und 13, mas bei

8 Brüdner

der bedeutenden Ähnlichkeit diefer Gebete als eine unnötige Wieder Holung erfceinen möchte. Solchen Beobachtungen gegenüber muß ſich die Frage erheben: wie gliedert ſich diefe ausgedehnte Liturgie ? Iſt fie ein Werk aus einem Guß, oder ift fie eine Zufammen- fegung aus mehreren einzelnen liturgiſchen Stüden oder Formu—⸗ laren? Diefe Tragen find natürlich für die Beurteilung unferer

- Liturgle von großer Wichtigkeit, ihre Beantwortung ift namentlich unerläßlih, wenn man daran gehen will, das vielumftrittene Alter der Liturgie feftzuftellen. Dennoch hat unter den vielen, welche fih mit der Liturgie befchäftigt haben, wie Renaudot, Dreh, Bunfen, Probft u. a., nur Probſt diefen Punkt in den Kreis feiner Betrachtungen gezogen. Doch glauben wir, daß die von ihm gefundenen Refultate bei einer eingehenden Prüfung aller Punkte und Andeutungen, die hierbei in Betracht kommen, erheblich teils zu mobifizieren, teils zu erweitern find.

Auf den erften Blick fehen wir, daß die Liturgie felbft ſich deutlich in drei Teile gliedert, welche der ganzen fchriftftellerifchen Anlage des achten Buches der Konftitutionen entſprechend verſchie—⸗ denen Apofteln zugefchrieben werden: der erfte Kap. 4 und 5, die Ordination eines Biſchofs behandelnd (Petrus), der zweite von Schluß des Rap. 5 bis Kap. 11, die missa catechumenorum enthaltend (Andreas), und der dritte Kap. 12—14, die missa fidelium behandelnd (Jakobus).

Betrachten wir hiervon zunächſt den erften Teil, Rap. 4 und 5, fo ift nicht zu überfehen, daß von unferem Urteil über diefen Ab- ſchnitt die Auffaffung von Zweck und Beftimmung der ganzen Liturgie abhängt. Finden wir nämlich, daß diefes Formular für die Ordination des Biſchofs urjprüngli und von Anfang an mit den übrigen Kapiteln zu einer Liturgie verbunden war, fo müffen wir annehmen, daß die ganze Liturgie nur für den Tag einer Biſchofsweihe, d. h. bei einer außerordentlihen und jeltener vor- kommenden Gelegenheit benugt wurde; erfennen wir aber, baß Rap. 4 und 5 erft vom DVerfaffer des achten Buches der Kon- ftitutionen oder von einem anderen Sammler mit der Katechu⸗ menen- und Gläubigenmefje verbunden wurde, fo können wir uns bedenklich die folgende Liturgie für die gewöhnliche, alljonntäglich

Über die Zuſaumenſetzung der Liturgie 2c. 9

von der Gemeinde gebrauchte Halten. Man wird aber bei ges nauerer Prüfung ſich mit Sicherheit für die legtere Annahme ent- feiden müffen. Denn während Kap. 4 in Übereinftimmung mit can. 1 der canones apostolici mehrere Bifchöfe ) als bei der Biſchofsweihe anwefend voransjegt, finden wir diefe in den fol« genden Kapiteln nirgends wieder erwähnt, obgleich doch an Stellen, wie 3. B. Anfang des 12. Kapitels: „os mogssßürego: ix dekwr avrod xal 2E edwriumv ormeerwou x. r. 4“, nicht bloß bie Möglichkeit, fondern felbft die Notwendigkeit ihrer Erwähnung ges geben war. WI man aljo nicht zu den doch höchſt unwahrſchein⸗ lichen Annahmen greifen, daß die Übrigen Biſchöfe überhaupt nicht dem Gottesdienft beigewohnt hätten, fondern fofort nach Beendigung der Ordination nach ihren Kirchen zurüdgefehrt wären, ober gar, daß fie fid unter die Menge der Gemeinde, alfo der Laien, ger mischt Hätten, fo kann man ſich der Einficht nicht verſchließen, daß der, welcher zuerft die Kap. 5 (Schluß) bis 15 niederfchrieb, dabei feine Rücficht auf die Ordinationsliturgie Kap. 4 und 5 genommen hat, fondern daß diefe Iegtere erft von dem Verfaſſer des achten Buches vorangeftellt ift. Auch läßt fich noch eine Spur und Ans deutung diefer Zufammenfchiebung aufzeigen. Während nämlich bei allen Gebeten, die der Biſchof in der Katechumenenmeſſe fpricht, diefer immer einfach „ö Zuloxomos“ genannt wird, Heißt er bei dem erften derfelben, dem über die Katechumenen „o xegororn- delc Inloxonos“. Dffenbar hat hier der Sammler durch Hinzu- fügung des Wortes „zegorormIeis“, das in der Drdinationd- Liturgie wiederholt vorfommt, die beiden von ihm vereinigten Litur⸗ gieen wie mit einer Klammer zufammenhalten wollen 2).

Aber auch die folgenden Kapitel Haben nicht von Anfang an eine Liturgie gebildet. Dies folgt namentlich aus dem Anfang von Kap. 12, einer Stelle, auf die ſchon Probft aufmerkſam ge-

3) Jedenfalls mehr als vier, denn wir leſen: „eis zav ngestam Enioxd- navy äua zal dual» Er 6gous dorus, zav Aunav Emoxönov za) np&s- Bureguv sw meoseuyoutvan,“

2) Ähnlich, wie der Redaktor der Genefis c. 2, 4 zu dem Gottesnamen APR? den im vorangehenden Kapitel herrſchenden Namen DW Hinzufügt.

1 Belidner

macht Hat. Er fagt darüber ): „Sehen wir und nämlich dem Schluß der Katechumenenmeſſe an, fo wird die Erteilung der pax genau befhrieben. Der Anfang des Danfgebete® Kap. 12 enthält die Worte: ‚daß feiner gegen den anderen, daß feiner in Heuchelei‘. Bar aber nah dem Schluß von Kap. 11 der Friedenstuß fon erteilt und felbft die Oblation vorüber, wie daraus zu ſchließen, daß der Subdiaklon dem Prieſter Wafjer über die Hände gießt, wozu dann noch der Ruf des Diakons, der feinen Play vor und bei dem Friedenskuſſe hatte? Man hat darum die Wahl, entweder den Schluß von Kap. 11 für einen Zufag zu Halten, dann fließt fih an das Amen des bifchöflichen Gebetes Kap. 11 der Ruf des Dialons: ‚daß feiner aus den Katechumenen u. f. w.‘ richtig und fahgemäß an; oder man muß bie Katechumenenmefje für ein eigene® Formular halten, das der Sammler aufnahm und diefem en zweites Formular, welches Kap. 12 enthält, anreihte. Wir entfcheiden ung für die erfte Annahme, weil die Oration über die Gläubigen in den Fürbitten des Kap. 12 fo Hervortritt, daß beide Teile einem und demfelben Formular angehören müffen, und weil der Schluß von Kap. 11 die Signatur eines fpäteren Zufages an der Stirn trägt.“

Hier Hat Probft ganz richtig erfannt, dag der Anfang von Kap. 12 mit dem, was vorangeht, nicht in Einklang fteht, fo daß auf feinen Fall von Anfang ar beide „Stellen zufammen in ber- felben Liturgie fich befunden Haben können. Über er Hat weſeut liche Punkte, in denen die beiden Stellen unvereinbar auseinander⸗ gehen, überfehen und infolge deſſen nicht den richtigen Schluß aus jenem Mangel an Übereinftimmung gezogen. Denn wenn man auch zugeben muß, daß aus den Worten „wir zara Tvog, unrıs dv oͤnoxoloer“, auf welche Worte wir unten noch zurückkommen müffen, ſich ein genügendes Argument ableiten läßt, fo läßt ſich doch aus einer anderen Stelle noch viel evidenter der Beweis führen, daß der Anfang von Kap. 12 nicht bloß mit dem Schluß von Kap. 11, fondern mit allen vorangehenden Kapiteln

1) Probſt, Liturgie der drei erften qriſtlichen Jahrhunderte (Tübingen 1870), ©. 276.

Über die Zufammenfegung ber Liturgie 2c. 1

in Widerſptuch fteht. Es Handelt fi nämlich um die Worte: „6 dubxovog Myn' unzıs Tv xarngovulvwr ' uns Tür üxgo- wudror * une Tüv ünlorwv * wiss ww Eregodöken * ob wi ngarne og edxöusvor ngolidere“'). Diefe Aufforderung des Diakons muß nad) dem Vorangegangenen fehr auffallen. Denn in ber Katechumenenmeſſe haben wir ja gefehen, daß alle die, weldje Hier ermahnt werben, der heiligen Handlung fern zu bleiben, längft entlaffen, und daß überhaupt nur noch die Gläubigen an⸗ weſend find. Wozu alfo noch eine folhe Mahnung des Diafons? Man lönnte vielleicht meinen, daß, obgleich die Katechumenen u. |. w. ſchon früher entlaffen worden find, doch gerade an diefer Stelle, wo das Heiligfte Myſterium der Ehriften, die Eucjariftiefeier, be» ginnt, jene Ermahnung fo zu fagen zur Sicherheit nochmals wieder- Holt worden fei. Iſt diefe Auskunft aber ſchon an fi wenig wahrſcheinlich, fo fpricht dagegen noch insbefondere der Umftand, daß die, welche der Euchariftie nicht beimohnen follen, hier weder in ber Anzahl, noch in der Reihenfolge, in der fie vorher entlaffen find, aufgezäßft werden. In ber Katechumenenmefje werden näms lich zuerft die axgompero, und ämıoror (Rap. 5), dann die xar- xoduerer, darauf die repyosueror, Yarıköuso, ol dv TH uera- vola (welche fämtlih an unferer Stelle vom Diakon gar nicht er» wähnt werden) entlaffen; Hier dagegen werden die xurnxodueron, Angodusro, änıoro, Erepadoko: aufgezählt. Da aljo weder Zahl nod Ordnung der zu Entlaffenden übereinftimmt, und es höchſt unwahrſcheinlich ift, daß biefe Ermahnung zum Weggehen erft dann ſollte wiederholt worden fein, wenn ſchon ein Teil (Rap. 10 und 11) des Tediglih für die Gläubigen beftimmten Gottesdienſtes vorbei war, fo ftehen entfchieden die Worte urrıs Wr xarmyoyubwv bis untıs or Erepodökor mit der Katechumenenmefje in Wider: ſpruch.

Noch deutlicher zeigt ſich dieſer Widerſpruch in den folgenden Worten: „ol zrv moWrnv suxgip eugöneyo ngoidere“, Daniel hat die Schwierigfeit, die hierin Liegt, bemerkt, und bringt daher

1) Sg. de Lagarde, Constitutiones apostolicae (Lipsiae 1862), ©. 248, 3. 11-14.

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in einer Anmerkung eine oder eigentlich drei Erklärungen für die⸗ felbe 1): „Böhmer. c., p. 371: , Der Diakon fügt hinzu: od modem» euxnv euxonevoı ngofAdere‘. Augufti, Denkwürdigkeiten VII, 111 giebt da8 zgo&AHere mit: ‚Entfernet euch‘, die newer zöyny von dem ‚allgemeinen Sirchengebete, welchem auch die Ka- tehumenen und Fremden beimohnen durften‘, verftchend. Die Wahrheit diefer Erpofition ift zweifelhaft. Wie die Phrafe npw- To eögnw auf das erfte von den Gläubigen per silentium ge- fprochene Gebet, welchem die Katechumenen und Fremden nicht beis wohnen durften, fich beziehen fan: fo das zg0fFere darauf, daß diejenigen, die dieſes Gebet gefprochen Hatten, zum euchariftifchen Akte hinzu« (ober vor-)treten follten. Hierzu harmoniert vortrefflih, daß die Konftitutionen, nachdem fie das Gebot erteilt haben: ‚Die Kin- der nehmet zu euch, ihr Mütter!‘ die Paränefen vortragen laffen: ‚Daß nicht jemand wider einen anderen, daß nicht jemand in der Hppokrifie feil Bei dem Herrn mit Furt und Zittern aufrecht ftehend mögen wir opfern!‘ „Et mihi placet Boehmeri inter- pretatio neque indiget scriptorum testimoniis vox mgodexe- 03, accedere. Tamen cum supra sine dubitatione signi- ficet discedere (V, VI, VII) neque consentaneum sit, ean- dem vocem in eadem liturgia duplicem tenere sensum, hoc loco malim legere no05#A9ere. Docet varietas lectionis a Cotelerio exhibita, codices in hac liturgia voces meo&Asere et moog@Adere persaepe confudisse.“ In diefer Anmerkung find drei Erflärungsverfuche (von Augufti, von Böhmer und von Daniel) enthalten, aber keiner derfelben ift unferer Anficht nad imftande, die Schwierigkeit aus dem Wege zu fhaffen. Denn Augufti ſpricht zwar in der von Böhmer angeführten Stelle von „einem allgemeinen Kirchengebet, dem auch die Kater chumenen und Fremde beimohnen durften“, Täßt fi aber durchaus nicht genauer über bie Beſchaffenheit diefes „allgemeinen Kirchen⸗ gebetes“ ans. ES ift auch nicht wohl einzufehen, welder Art und welchen Inhaltes dasfelbe gewefen fein, fowie welche Stelle es im Gottesdienst gehabt haben follte. Denn was foll denn ein

1) Daniel, Codex liturgicus eccles. univers. IV, 60.

Über die Zufammenfegung der Liturgie ac. 18

„allgemeines“ Gebet anderes enthalten, als eben das, was wir in Rap. 10 und 11 finden, Bitten für die Kirche, für ihre Stände, die chriſtlichen Brüder, das Heil der eigenen Seele u. f. w.? Daß aber diefen Gebeten nicht einmal die Katechumenen, ger ſchweige denn Fremde beiwohnen durften, zeigt ja unfere Liturgie ganz unzweifelhaft. Auch in ben SKirchenvätern, die Hierbei in Frage kommen, ift von einer derartigen Einrichtung nichts zu finden ?).

Was nun ferner die Erffärung von Böhmer betrifft, fo wird niemand, foweit bie Wortbebeutung in Frage kommt, beftreiten, daß mooloxeoda: heißen fann „herzutreten“, „vortreten“. Aber mit vollem Recht hat fon Daniel biefe Überfegung zurück⸗ gewieſen, weil es nicht wahrſcheinlich fei, daß ein und basfelbe Wort in derfelben Liturgie kurz Hintereinander einen ganz verfchier denen Sinn habe, oder vielmehr, wir konnen fagen, weil dies eine reine Unmöglichkeit iſt. Jedoch der Ausweg, den er ſelbſt vor⸗ fchlägt, bietet nicht geringere Schwierigkeiten. Denn es ift kein Grund abzufehen, warum wir annehmen follen, daß an diefer Stelle ſämtliche Handfchriften ohne Ausnahme fäljhlih mooAsere für mgogerdere gefchrieben haben. Denn wenn auch zuzugeben ift, daß bisweilen eine Handſchrift der Apoſtoliſchen Konftitutionen an einer Stelle, wo bie anderen mroo@AFere haben, gog@AFere lieft, oder umgelehrt, fo wird doh Daniels Behauptung erft aufrecht erhalten werben Tönnen, wenn eine Stelle nachgewiefen wird, an der fämtliche Handfchriften offenbar und zweifelsohne fich geirrt Haben. Daß aber in den legten Worten von Kap. 9 „wrzs Tov um duraubvu ngoAsErw“, wo nad) Bunfens Anficht für das goaAsrw der Handſchriften moogergerm forrigiert werden foll, eine ſolche Stelle gefunden fei, muß entſchieden in Abrede geftelit werben ). Demnach Tann es an unferer Stelle (Anfang

1) Bgl. Hierzu namentlich Kliefoth, Die urfprüngfiche Gottesdienftord- nung, ®b. I nnd DO.

3) Left man wir zov u duvaudvur ngoeAEre, fo ermahnt der Diakon an dieſer Stelle die Gläubigen, die allein noch übrig find, daß feiner von ihnen hinausgehe, „daß feiner von denen, welche nicht Tönnen (melden es nicht erlaubt ift) weggehe“. Man Könnte dagegen fagen, daf die Worte rar

14 Brüdner

von Rap. 12), wo alle Handfhriften einftimmig wg 0 46re Tefen, nicht zweifelhaft fein, daß mit diefen Worten ber Diakon, die Katechumenen und die übrigen den Gläubigen nicht Gleichgeſtellten zum Weggehen auffordert, eine Aufforderung, bie mit ben vor⸗ hergehenden Kapiteln ſchlechterdings nicht zu vereinigen ift, da nach diefen bereits alle nicht zu deu Gläubigen Gehörigen längſt ent laſſen find. Auch ift ferner zu beachten, daß ju Rap. 12 die Mütter aufgefordert werden „ra maıdla nooskaußaveode", wäh end in Kap. 11 die Vorſchrift gegeben war „ri naudla de orn- x&w ngös ro Aruarı“. Doch ift diefer Differenz nur geringeres Gewicht beizulegen, weil die Erflärung nicht ausgeſchloſſen bleibt, daß jenes (Kap. 11) von den größeren, diefes (Rap, 12) von ben Heineren Kindern zu verftehen fei.

Haben wir fo den Widerfpruc erfannt, in dem ber Anfang von Kap. 12 mit den vorangehenden Kapiteln fteht, jo können wir unmoglich zu feiner Erklärung denfelben Ausweg wie Brobft einfchlagen. Denn da wir gefehen Haben, dag niet nur die Worte uhrıs x0ra Two, pr Tg dv Umoxploer, ſoudern auch die diefen vorangehenden mit Kap. 511 unvereinbar find, fo würde die

uij Jeraytvom wicht Überjeigt werden können: „benen es nicht erlaubt ift“. Diefer Schwwierigktit eutgehen aber die, welche die Lesart ändern, auch wicht, da divacdas offenbar ganz in derfelben Bedeutung ſteht, wenn id fage xurnyouuevos ol „Füvaras““ moosegyeoda, wie wenn ih fage ovdels av mioreudvruv „ivaras“ mgocpyeose. Sprachlich alſo if gegen bie Xesart der Handichriften nichts einguwenben. Daß ober eine derartige Mah- nutg an die Gläubigen keineswegs unnäg oder überflüffig war, ſchen wir ans dem neunten (zehnten) ·der apoſtoliſchen Canonts (vgl. Bunſen, Hippolyt und feine Zeit, Bd. II, ©. 69). Auch iſt zu beachten, daß ber Diakon ſofort nad den Worten wris x. ©. 2, fortfährt: G0 o. nuoroi xAlvwuer y6vo und ebenſo ndvreg auvrovug napuxehkampev, welde beiden Ermahnungen noch - mals augbrüdtich hervorheben, daß die Gefamtheit ber Gläubigen ohne Aus- nahme fi an der nun folgenden Heiligen Handlung beteiligen fol. Wir halten allo die Lesart der Haudſchriften m g02APErw durchaus für die richtige, weil fie nad) Sinn und Zufammenhang volftänbig paft und ſprachlich nicht ſchwie tiger iR, als Bunfens Konjektur mooseAßery. Übrigens in Drey berfelben Anficht, denn er fagt: „jo mahnt der Diakon, daf von ben übrigen Anweſenden niemand bie Berfammlung verlaffen fol“. (Meue Unterfuchungen über die Konftitutionen und Canones der Apoftel, Tübingen 1832, S. 107,)

Über die Bufammunjegung der Liturgie ıc. %

Scwisrigfeit doch nicht bejeitig werden, auch wenn wir mit Brobft die legten Worte von Kap. 11 (FFriedenskuß) als ein Einſchiebſel ftreichen wollten). Mir ziehen daher bie Auskunft vor, die Probft zwar angedeutet, aber verworfen hat. Wir nehmen nämlich an, daß an hiefer Stelle zwei verſchiedene litur⸗ giſche Formulare aneinandergefhoben find, Denn der Einwurf, den Probſt gegen diefen Ausweg erhebt, daß „die Oration für die Gläubigen in den Fürbitten des Rap. 12 fo herportritt, dag beite Teile zum und demfelben Formular angehören wählen“, trifft nicht zw; im Gegenteil Läßt ſich gerade aus der großen Ar Tichkeit der Gebete in Kap. 10 und 12 ein ftarfer Beweisgrund für unfere Anficht entnehmen.

Vergleichen wir nämlich das Fürbittengebet in Rap. 12 mit dem in Rap. 10, fo muß uns fofort die erſtaunliche Ähnlichteit nicht bloß im Juhalt, fondern aud in der Form auffallen. Wir laſſen zuſammengeſtellt die Stellen folgen, wo ber gleiche Inhalt wit gleichen oder doch hödft ähnlichen Worten ausgedrückt iſt. Es wird gebetet: Kap. 10: Unze zug üylas, nadolwris xal dnoozo- Ang dekmalag Tg ano negasuv Eug negarov;, Rap. 12: entg zus üylas ou Inxhmolus Tg imo negazwr Ins megarwv. Rap. 10: önug 6 xigug Aasıosov ri zul anudururer dupa- Men ... eye ug ouviehdag Too almvog; Zap. 12: Omas wire duupuldäng assorov zul Axkvöriorov ya Tig ourre- Aslag roũ alövo. Rap. 10: img mung dmeoxonis ... For öp- Soropeörzur Tov Aöyov zig ons Adeos; Kap. 12: ümdp naong Enwxonng zig 0g9orouobang vor Aöyor vi aundeloc. Rap. 10: önto züv moeshurdgir 7 Amar ... ünio räs dv Kor a dunxorlag ... intg ivayrworur, wahrür, magdtrwr, xr Kap. 12: önig dınnövov, Unoduuxdre , Wwayyuorur, yalrüv, nogIbvwv, yngüv. Rap. 10: dnde zur dv aukuylaus al zenvoyorlug; Map. 12: Undp or dv osurois yanoıg zei tewoyorius. Rap. 10: ändo zwv dv üppwerla Feralonlvur; Rap. 12: imip zur dv üdgworlus. Rap. 10: dmg zur mlsbr-

1) Ob dieſe Worte in der That interpofiert ober urſprünglich ind, werden wir umden noch gemauer zu umerhuchtn haben.

16 . Brädner

zuv xal Ödonogedvrwv, önto tüv dv uerahhorg zul Loglas ... Undo züv dv muxgü dovklg xaranovovubvov, und ExIgov zal ioodrruw ũc, Into züv Öwxövswv us dia Tb braun Tov xvolov, Önws 6 xUguog nonivag zov Fuuov arrüv dunoxedaon ziv x09° For deyio " Unio tüv Fo Ovswv xul nenkarnulvor, önws 6 xugiog adroög dmorgkym; Rap. 12: ündo züv iv mıngi dovhslg, Undg zur dv Zoglug ... Und Tüv miörrw xal 6 domogovrzwv ... Uno Tüv mooiviww ruüs xol dunnbrror ũc dià To dvoua oov, Unto tüv YEw Ovrwv xol nenkarnulvav, Onwg dmiorgkyns avrods el üyadıv zul Tv Iyubv avzav nraurnS.

Daß diefe zahlreichen wörtlichen Übereinftimmungen in beiden Gebeten Höchft auffällig find und einer Erklärung bedürfen, wird niemand leugnen. Ganz unmöglich ſcheint uns aber die oben ans geführte Anficht von Probft, der diefe Übereinftimmung „ein Hervortreten der Oration für die Gläubigen in ben Fürbitten des Rap. 12“ nennt, alfo wohl an eime fchriftitellerifche Abficht des Verfaſſers denkt. Denn gefegt, wir fänden die beiden fraglichen Gebete nicht in einer Liturgie, fondern in irgendeinem anderen Werfe eines Schriftftellers, jo wirben wir es ſchon da ganz un⸗ glaublich finden, daß zwei Gebete, die doch für ganz verfchiedene Zwecke beftimmt find, vom Verfaffer in faft diefelben Worte ge Heidet worden wären. Wir würden uns mit Recht wundern, daß ein Schriftfteller, dem doch unlengbar ein gewiſſer Reichtum won Gedanken und namentlich eine veiche Fülle des Ausdrudes zugebote ftehen, fo ungefchieft alles mit denfelben Worten wiederholen wide. Und doch ließe fi in diefem Kalle immer noch zur Erklärung oder Entſchuldiguug anführen, daß er nicht abfihtlich, fondern un⸗ willkurlich für diefelben Dinge aud in diefelben Ausdrücke ver- fallen jet. Hier aber handelt es fih um eine kirchliche Liturgie, in der das, was dort ſchon fehr auffällig wäre, völlig unmöglich iſt. Denn das ift jet ziemlich allgemein zugegeben, daß ber, welcher unfere Liturgie niederfchrieb, dies nicht zwedlos that, fon- dern entweder, weil er fie bereits im kirchlichen Gebrauche fand, oder in der Abficht, dag fie in Firchlichen Gebrauch fomme. Nun hieße es aber doch wirklich die Ehriften der erften Jahrhunderte

Über die gZuſammenſthung der Liturgie 2c. 1?

einer großen Geiftesarmut ober eiftesträgheit zeifen, wenn man glauben wollte, daß fie jahraus jahrein, Sonntag für Sonntag in ein und bemfelben Gottesdienft ohne eine Unterbrechung durch Prer digt, Schriftvorlefung u. dgl. zweimal für diefelben Dinge mit denfelben Worten dem nur dies ftellen wir in Abrede gebetet hätten.

Wir haben jegt ferner den Schluß von Kap. 11 zu betrachten und zu prüfen, ob er in der That, wie Probſt behauptet, „die Signatur eines fpäteren Zufages an der Stirn trägt“ und alfo als interpofiert zu betrachten ift. Probſt Hat für feine Behaup- tung folgende Gründe angeführt X); „Von der Trennung der Ge ſchlechter beim Friedenskuß und darum im Gottesdienft überhaupt, weiß Tertullian noch nichts. Die Nennung der Subdiakonen nebft dem ihnen zugewiefenen Geſchäfte ift gleichfalls ein Zeichen einer fpäteren Zeit. Daß der genannte Schluß ein Zufag tft, den der Sammler machte, folgt ferner aus den Worten: Diakonen follen an den Thüren der Männer, Subdiakonen an denen der Frauen ftehen. Diefer Sag enthält einen Widerfprud. AS es nämlich Subdiakonen gab, ftanden die Diakonen nicht mehr als Wächter an den Thüren, und fo Lange die Diakonen die Thüren bewachten, gab es keine Subdiakonen.“ Bon bdiefen drei Gründen verdient nur der dritte eine eingehende Erwägung, dem erften und zweiten dagegen ift von vornherein alle Beweiskraft abzuſprechen. Denn wer nicht nach einer vorgefaßten Meinung, fondern nach dem Sach⸗ verhalt felbft urteilen will, darf nicht fo zuwerke gehen, daß er alles für unecht oder interpofiert erklärt, was zu der Zeit, in die feiner Überzeugung nach die Liturgie fallen muß, nicht ſtimmt. So ift aber Probft verfahren, indem er bie angeführten Gründe beibrachte. Wenn die Trennung der Männer von den Frauen und die Erwähnung der Subbiafonen mit den Verhältniffen zu Tertullians Zeit in Widerſpruch fteht, fo Haben wir daraus durch⸗ ans nicht zu jchliegen, daß diefe Stellen interpoliert find, fondern vielmehr daß die Liturgie erft nad) diefer Zeit abgefaßt ift, falls uns nicht (mas Probft nicht gethan Hat) vorher nachgewieſen ift,

2) Probſt a. a. O., ©. 276. Deol. Stud. Yahız. 1085. 2

18 Brüdner

dag alle anderen Punkte mit zwingender Notwendigkeit auf ein hoheres Alter unferer Liturgie hinweiſen *). Der dritte Grund dagegen verdient eine eingehende Prüfung, weil, wenn wirklich die Worte unter ih im Widerſpruch ftehen, dies in der That eine Zuterpolation Höchft wahrſcheinlich machen würde. Mber die Be- Hanptung, daß die Diafonen niemals gemeinfom mit ben Sub⸗ diafanen die Thüren follten gehütet Haben, ift feineswegs erwieſen. Wir Tefen nämlich im zweiten Buche der Konftitutionen 2): or⸗ xhwon dd al ni» muAmgol eis Tas elkdous Tüv Avdomv, oi dE dıazavos als Tas vum yurasmv. Daß diefe Stelle intere poliert ſei, Hat weder, fo viel wir wiflen, bis jet jemand be- hauptet, noch wird ſich dies leicht behaupten laſſen, weil fie zu feft In den Zufammenhang eingegliedert ift. Wir erfehen ans ihr, daß die Diakonen auch noch zu einer Zeit, wo fie bereits eine durchaus nicht untergeordnete Stellung im Gottesdienft einnahmen benn in bemfelben Kapitel fehen wir den Diakon ein Gebet (neogeugry) verrichten und wo es bereit für die nieberen Dienfte beftimmte Kirchliche Beamte gab, mit legtem gemeinfam jene nieberen Funktionen verwalteten. Ob biefe niederen Kirchen⸗ biener nun „rulwgol‘“ oder „uroduaxovo:“ gemannt werden, iſt hierfite gleichgültig: denn wenn feftfteht, daß die Dinfenen mit den Thurhütern zuſammen einen Dienft verrichtet Haben, fo muß zum mindeften die Möglichkeit zugegeben werben, daß fie dasfelbe auch mit Subdiakouen geihan Haben. Diefe Möglichkeit wird aber darch unfere Stelle, gleihviel ob bie Vorſchrift über die Sub biafonen urſpruuglich ober interpofiert iſt, zur Gewißheit erhoben, Denn wie Hätte doch im legten Falle irgenbjemanb auf ben Ge- danten Tommen können, die einfache Vorſchrift „deizoro: ierdode- oav el Tüs Hong“ (Brobft, ©. 277) zu ändern nicht in „inodesxoro: ioracdwon als züs Iugag“, ſondern viel me

4) An der Stelle, wo Probf über das Alter der Litergie ſpricht, zeigt ex, baß nichts uns hindere, dieſelbe für jehe alt zu halten, da bie Stellen, im denen Subdialonen vorkommen, interpoliert feien. Weshalb aber müfjen fie interpofiert fein? Weil die Erwähnung der Subdiakonen auf eine fpätere Zeit hinweiſti

3) Apoſtol. Konft. II, c. 67.

Über die Zufammenfegung der Liturgie ıc. 19

ftändlicher in of de dıaxovo ioruodwoav is Tag zur ivdgr Icons, xal ol ünodurzovor es Tas Tor yuramdıv“, wenn nicht eben biefe Ordnung zu feiner Zeit beftanden Hätte? Darin alfo, dag den Diafonen und Subbiafonen in unferer Stelle diefelbe Verrichtung zugeſchrieben wird, ift durchaus feine Hiftorifhe Un— möglichkeit und fomit auch fein Beweis für die Interpolation des Schluſſes von Kap. 11 zu finden. Es ift demnach Probft nicht gelungen, die Smterpolation des Schluffes von Kap. 11 mit zu⸗ reichenden Gründen nachzuweiſen. Namentlich aber ift er durchaus eine Erklärung ſchuldig geblieben, mit welcher Abficht wohl jemand am Schluß von Rap. 11 follte eine Befchreibung des Friedend« kuſſes interpoliert Haben, wenn doch in Kap. 12 bei den Worten „ARTS xora Tiwog x. 1. m“ ſchon eine ſolche Befchreibung ge⸗ geben war. Wir Haben auf diefe Frage unten nochmals zurüd- zulommen. Es bleibt demnach das Reſultat, daß der Schluß von „Rap. 11 jedenfalls im wefentlihen urfprünglih, d. h. nicht erft vom Redaltor des achten Buches oder einem noch fpäteren Sinzugefügt iſt.

Noch eine weitere Stelle ift in unferer Liturgie zu finden, wo fofort die bedeutende Verfchiedenheit der vorangehenden und der fol- genden Gebete auffällt, nämlich der Anfang von Kap. 13. Auch auf diefe Stelle Hat Probſt aufmerffam gemacht. Er fagt ?) darüber: „Sollten num bie Zürbitten zweimal geſprochen und das zweite Mal vom Diakon wiederholt worden fein? Das ift an fich unglaublich und läßt fi aud bei feinem Kirchenvater eine Spur ſolchen Verfahrens finden. Man könnte annehmen, diefes Gebet ſei das II, c. 59 angezeigte, von dem es Keißt: der Diafon betet u. f. w. Allein zwei Bedenken erheben ſich dagegen. Erſtens tommt in den ürbitten des Kap. 18 ein Memento für die Ver⸗ ftorbenen vor, von dem in dem Gebete über die Gläubigen II, c. 59 feine Rebe ift, und zweitens, wie fol der Sammler fo ungeſchickt gewefen fein, hier ein Gebet einzufchalten, das an den Schluß der Katechumenenmeſſe gehörtel” Dann führt er feine eigene Anfigt dahin ans, dag die Worte „zul dusxorog xnguo-

1) Brobft a. a. O., ©. 277. 2*

2a Brüdner

olsw nd“ (Ende von Rap. 12) nicht zu verbinden fein mit dem Gebet, welches in Kap. 13 baranf folgt, da „xmgvaoer““ vom Vorbeten nicht gebraucht werde und in ber missa fidelium der Diakon feine wirklichen Gebete habe verrichten dürfen; fondern daß biefes Gebet und alles Folgende aus einem zweiten Formular entnommen und hier an unfere Liturgie angehängt ſei. Diefer Anficht müffen wir im weſentlichen beiftimmen, namentlich weit Rap. 13—15 fich ſchon dadurch deutfih von Kap. 12 abheben, daß in Kap. 12 der Biſchof alles allein verrichtet, während in Kap. 13—15 alle Gebete des Biſchofs vorbereitet werden durch Ermahnungen und Aufforderungen des Diafons, wie wir fie in der Katechumenenmeſſe gefunden haben. Ausführlicher werden wir diefe Differenz noch weiter unten nachzuweiſen Haben.

Überbliden wir demnach das Reſultat der bisher angeftelften Unterfuchungen, fo haben wir gefunden, zunächſt, daß der Anfang von Kap. 12 zu der Katechumenenmefje nicht paßt; fodann, daß die Fürbitten diefes Kapitels wegen ihrer bis auf bie Worte fich erftredenden Ähnlichkeit mit denen in Kap. 10 nicht von Anfang an mit legteren fönnen in einer Liturgie geftanden haben; endlich, daß ſich die Rap. 13—15 deutlich von Kap. 12 unterſcheiden und abheben. Bevor wir jedoch daran gehen fünnen, uns auf Grund diefer Ergebniffe ein Urteil über die Art und Weife zu bilden, wie die Liturgie des achten Buches zufammengefegt worden ift, Haben wir noch zu unterſuchen, ob nicht kleinere Stellen, d. 5. einzelne Bezeichnungen, Vorſchriften u. f. w. im Gegenfag zu ganzen Abfehnitten und Zeilen der Liturgie, als interpoliert und fomit einer fpäteren Zeit angehörig ſich kenntlich machen. Es Handelt fich Hier zunächft um die Erwähnung der Subdiafonen. Diefelben kommen an vier Stellen unferer Liturgie vor: zweimal am Schluffe von Kap. 11 (248, 6. 8), einmal in Kap. 12, in dem Gebet für die Verftorbenen (257, 7), und einmal Kap. 13 (259, 20), in der Vorſchrift, welche die Ordnung der einzelnen Stände beim Empfang des Abendmahles angiebt. Was nun zu« nädft die beiden erften Stellen, am Schluſſe von Kap. 11 an⸗ Tangt, fo glauben wir oben ſchon gezeigt zu Haben, daß Hier durch die Erwähnung der Subdiakonen durchaus feine hiſtoriſche Un—⸗

Über die Zufammenfegung der Liturgie 2c. 21

möglichkeit und kein Widerfpruch im Zufammenhang ſich ergiebt. Trotzdem fönnen wir ihre Erwähnung bier jo wenig wie in Kap. 13 für uefprüngfich Halten, fondern müffen diefelbe dem Redaktor der Liturgie zufchreiben. Wir lefen nämlich in den Fürbitten des Rap. 10, nachdem für die Bifchöfe und Presbyter gebetet iſt: „ung naong ns br Xoro dınxovlag xui Unmpeolas denFüper, Onwg 6 xUgog Ausumtov avrois iv draxovlav nagsoxnrau * ündo üvayvworüv, yalröv, napFtvav, xngüv te xal Ögpardv demdiper“, und ebenjo Kap. 13: „uno ndong dnuoxonig, nursög nosßBureglov, nions vis dv Xgiori dunxovlas al Unnge- alas“. Wir fehen daraus deutlich, daß diefe Gebete noch nichts von einem Stande der Subdiafonen wiffen, fondern an der Stelle, wo diefer Hingehören würde, die kanotola nennen. Denn es ift keineswegs richtig, wenn Probft!) meint: „die vmmgsois werde fpecifiziert durch Sektoren und Kantoren, und ihnen die Sungfrauen, Witwen und Waifen beigefügt; denn fie gehörten zu der kirchlichen Dienerfhaft". Schon dies Legtere kann nicht zugegeben werben, da doch wenigſtens bei den Waifen entſchieden ein anderer Gefichts- punft als der der ünmgeolo vorliegt. Vielmehr bezeichnet dmmge- ola die Gefamtheit der Unmgkra und diefe imngfra waren eine ganz beftimmte, unter den Diakonen, aber über den Vorleſern und Sängern ftehende Ordnung der niederen Kleriler. Dies folgt aus einer Stelfe des 6. Buches ?). Es Heißt Hier, nachdem von den Biſchöfen, Presbytern und Diakonen, welche zufammengenommen werden, die Rebe gewejen ift, weiter: „Lanokroc 2 zul yarro- dods zul ivayrıorag xal mukmgorg xol aurodg uovoyauovs eva xehedouer“®). Wenn alfo in den Gebeten von Rap. 10 und

1) Brobft a. a. O., ©. 280.

3) Konftitutionen VI, c. 17.

3) Diefe Stelle, welche neben den „unngerm“ die „mudogoi“ nennt, widerlegt bie Behauptung von Drey, „baf beide Wörter dasfelbe Amt be» deuten“. Höchftens konnte man gegen unfere aus der Stelle gezogenen Fol - gerung geltend madjen, daß mit „Unngeras“ die Sänger, Borlefer und Thür⸗ hüter zufammengefaßt felen, alfo mit za) yaarpdods eine Appofition zu Ünneeras anfange. Sollte dies aber verftändlich fein, fo mußte da za vor yarrpdous fehlen.

2 Brüdner

Kap. 13 nur die Önmgeola, d. h. die ünmekrar, nicht die Sub- diafonen erwähnt werden, diefe letzteren dagegen in Vorſchriften, die zu derfelben Liturgie gehören, vorkommen, fo folgt daraus, daß die Stellen, in denen fie vorkommen, fpätere Zufäge find. Es bleibt dabei dahingeftelit, ob der Aebaktor die Vorfchriften, die- ben Subbiaforien gegeben werden, ganz neu Hinzugefügt, oder ob er, was wahrfcheinlicher ift, diefelben vorgefunden und nur überall für Önmoeran ümodıaxovor geſchrieben Hat. Probſt Hält in Rap. 18 nicht nur das Wort „ürodıcxovor“, fondern die ganze, die Reihen- folge des Abendmahlögenuffes regelnde Vorschrift, alfo die Worte von „Zrera ol nossßüregoı zul ol didkoror u. |. w. bis werd aldoũc xal eulußelus üvev Fopupov“ für einen fpäteren Zufag. Er begründet dies damit, einmal, daß es kurz darauf heißt: „war- nös dE Asyl Ay dv Ti neralaußivew mavrag roüg Aoı- rovs“, während doch ſolche „Aomo/“ nach dem vorigen Sape nicht mehr vorhanden feien; fodann daß neroluuparer nicht in demfelben Sinne vom Volle wie vom Biſchofe gefagt werden könne. Dies letztere trifft gar nicht zu, da weraluußaver durchaus unters fehiedslos für den Empfang des h. Abendmahles gebraucht wird, wie ſchon die Stelle aus dem zweiten Buche der Konftitutionen !) beweift: „nerolapßavtrw Exaoın rakız xa9° davrv“. Die von Probſt bemerkte Ungenauigfeit im Gedankenfortſchritt ift aller» dings zuzugeben, indes ließe ſich diefelbe doch auch aus einer recht natürlichen ?) Nacläffigkeit des Ausdrudes erklären. Die Inter⸗ polatton der ganzen Vorſchrift ift alfo nur als eine nicht ganz unwahrſcheinliche zu bezeichnen, gewiß aber ift, daß in derfelben das Wort Subdiafonen nicht geftanden Hat. Auffallend allerdings ift e8, daß der Redaktor in den Vorſchriften zwar geändert, in den Gebeten felbft aber den älteren Ausdrud „oͤnnocrau“ gelaffen hat. Wir können uns diefes Verfahren nur aus feiner Pietät gegen die durch ben Gebraud der Kirche geheiligten Gebetsformulare erklären.

1) Ronftitutionen II, c. 57 (gegen Ende).

3) Der Verfaſſer giebt freilich gleich zu Anfang die Ordnung der Feier ans indem er aber den Hergang und die Form derſelben beſchreibt, verſetzt er ſich unwillkürlich wieder in den Anfang derſelben.

Über die Zuſammenſetzung der Liturgie 2c. 23

Eben darum aber Fönnen wir auch nicht annehmen, daß bie Er- wähnung der Subdiafonen in dem Gebete für die Verftorbenen, (Kap. 12) ihm zuzuschreiben fei, fondern müſſen diefelbe für ur. fprünglich Halten. Denn hätte er Hier ein Gebetsformular inter poliert oder Korrigiert, warum hätte er nicht dasfelbe in den Für« bitten Kap. 10 und Rap. 13 thun follen?

Nachdem wir fo die, unferes Erachtens fehr geringfügigen, Zur thaten des Redaltors aufgezeigt haben, kehren wir zu unferer Haupte unterfuchung über die Zufammenfegung der Liturgie zuruck. Es handelt fich jegt nämlich weiter um die Fragen: wieviel urfprüng« lich felbftändige Formulare find in unfere Liturgie Hineingearbeitet, welches war die urfprüngliche Geftalt diefer Teile und wie iſt der Sammler bei ihrer Zufammenftellung zuwerfe gegangen? Um die Antwort auf diefe Fragen vormegzunehmen, fo glauben wir uns die Entftehung der im achten Buche der Konftitutionen vor» liegenden Liturgie folgendermaßen denken zu müflen: Der Samm« er hatte zwei liturgifhe Formulare vor fi, die beide den ganzen Gottesdienft umfaßten, d. h. missa catechumenorum, $riedenstuß, missa fidelium, in deren erfterem aber die Katehumenenmeffe voller und reiher befhrieben war, während in dem zweiten die Gläubigenmeſſe eine ausführlihere Behandlung gefunden Hatte. Beide enthielten den Friedenstuß und deshalb ſchob fie der Sammler an diefer Stelle an einander. Es ift alfo Kap. 5—11 mit der Katechu— menenmeffe aus dem erften, Kap. 12 mit der Eucha— riftie aus dem zweiten Formular entlehnt Mit Rap. 13) ließ der Sammler dann den zweiten Teil des erften Formulars, aus dem er die Katehumenen- meffe genommen Hatte, folgen. Sehen wir zu, womit wir diefe Annahme beweifen lonnen.

2) &o brüden wir uns ber Kürge halber Hier und im Folgeuden aus: genauer beginnt biefer neue Zeil ſchon vorher, S. 258, 3. 9 mit „ae 6 änloxonog el ndrw x. r. A,“, wie das Wiebereintreten ber Bezeichnung „Ent 0xorsos“ beweift, vgl. unten.

4 Brüdner

Zunächft ift es Mar, daß die erften Worte von Rap. 12 einen ſchon vorangegangenen Teil der Liturgie vorausfegen, ebenfo klar aber auch, wie ſchon oben gezeigt, daß die Katechumenenmeſſe, wie wir fie in Rap. 5—11 leſen, diefer erfte Teil nicht fein Kann. Aus den Worten „ur tüv xurnyovubowr, uns Tüv &xgo- aulvar, urrıs rov Eregodofwr. ol zmy nowenw eg EuXöne- vor ngo&dere“ erjehen wir einmal, daß vorher ſchon für die, welche zum Weggehen aufgefordert werden, gebetet worden ift; fo dann daß noch fein Gebet für die Gläubigen ftattgefunden Hat, dem nur diefe beimohnen durften, denn vor, nicht nach demfelben mußten felbftverftändfic die Katechumenen u. ſ. w. entlaffen werben; endlich ift e8 nach den Worten zum mindeften höchſt wahrſcheinlich, daß die Gebete für die Katechumenen u. ſ. w. nicht einzeln der Neihe nach für jeden Stand, fondern für alle zufammen zu gleicher ‚Zeit verrichtet worden find, weil doc, wenn einzelne Stände fchon entlafjen wären, der Diakon fie nicht alle zum Weggehen aufs fordern würde. Hieraus fünnen wir und ein ungefähres Bild bon der erften Hälfte, der Katechumenenmeſſe, diefes zweiten For⸗ mulars machen; mehr darüber erlauben und die Worte nicht zu fließen. Daß aber der Friedensfuß auch in diefem zweiten For- mular vorfam, folgt aus den Worten: „urzıs xara Tıvog, yenrıs & vmoxgloa“. Daß diefe Worte vor Erteilung des Friedens» kuſſes gefprocden wurden, ergiebt ſich ſchon aus der Natur der Sache und läßt ſich aus dem zweiten Buche der Konftitutionen 1) beweifen. Da nun diefe Worte bier im 12. Kapitel ohne alle weitere Erflärung, ohne irgendeine aus dem Zufammenhang zu entnehmende Veranlaſſung ftehen, fo können wir mit gutem Recht annehinen, daß auch hier nad) den Worten „urzıs zara zıvog x. 7.2.“ eine Vorſchrift über den Friedenskuß geftanden hat 2), die aber ber

1) Konftitutionen II, c. 57. Im dem übrigen Liturgieen haben wir die Formel nicht gefunden, vgl. jedoch in ber Liturgie des 5. Markus (Daniel, Codex liturg. IV, 149): „xardmsuyo» iv dwgsav zod mvsinaras, önus

.. donaouueda dArdous ... ar 89 Ömoxglası“, und in ber Liturgie

des 5. Jatobus (Renaudot, Collectio liturgiarum oriental., T. II, p. 29: „ut ab omni dolo omnique acceptatione persona- rum mundati salutemus invicem“,

2) Dasfelbe ſcheint denn er brüdt ſich nicht ganz beutlih aus

Über die Zuſammenſetzung ber Liturgie ac. 3

Sammler, weil er die Beſchreibung des Friedenskuffes ſchon aus dem erſten Formulare gegeben hatte, einfach wegließ.

Es fragt fich jegt weiter, ob auch das erfte Formular, das bis zum Friedenskuſſe in unfere Liturgie aufgenommen ift, einen zweiten Zeil gehabt hat, und wie diefer Teil beſchaffen geweſen ift. Ver— folgen wir das achte Buch der Konftitutionen weiter, fo finden wir in den Kapiteln 35—39 Vorſchriften über Früh- und Abend- gottesdienſte, die nur in Gebeten beftanden und in denen man das Abendmahl nicht nahm ?). Hier leſen wir im 35. Kapitel: „xud nera To dmdnvon Tor Inıkugvıov Yahöv ngospwrnas 6 dıdxo- vog ünto Toy xarmgovulvor xol yenaloubwv xol Tüv pwriLo- ulvar xal tüv dv usravolg, &s mgoelmonev * era Ö2 TO dnohv- Ivan, 6 dukxovos dpi" door nuorol, dendWuer Tor xvolov * zul Hera TO moospwvijou aurov Tu Tg moweng eaxis doei" Zicor xul &vaot700v nnäs, 6 Heög, dia To) Xoro 0ov * üvaorurres olrmowuede 7a in zov xvplov....“ Nach diefen Worten ift volftändig Har, da in diefen Früh- und Abendgottesdienften die Gebete für die Katechumenen, Beſeſſenen u. ſ. w. in eben der Form, wie wir fie Kap. 5—11 finden, verrichtet wurden, was beftätigt wird durch Ausdrücke wie „as zgoelmouer“ (Rap. 35), „ba un nal Myapev zu arsa“ (Rap. 37). Nur der eine Bunkt höchſtens Könnte, wenn man bloß Kap. 35 ins Auge faßt, zweifelhaft erfcheinen, ob in den Worten „era 70 moospwwnou Ta Täs neWwrng sögäs“ aud) das Gebet für die Gläubigen (Rap. 10) einbegriffen tft, fo dag alfo die Worte „avaozurres x. . 1.“ diefem Gebete ſich anfchließen, oder ob diefe Worte überhaupt an die Stelle jenes Gebetes treten follen. Daß das erftere aber ges

Probſt zu meinen, ba er bie Beſchreibung bes Friedenskuſſes am Ende vom Kap. 11 für interpoliert Hält und trogdem auf ©. 291 fagt: „Den frier denskuß berichtet in gleicher Weife Iuftin, wie die Liturgie“ Aber um fo unmöglicer wird die behauptete Interpolation des Schluffes von Kap. 11, zumal gar wenn man Kap. 512 für ein Formular hält. Denn daun hätte ja ber Interpolator die vorhandene Beſchreibung des Friedenskuſſes geftrichen, um fie dann fofort an einer anderen Stelle zu interpolieren!

1) Inden Worten Rap. 7: „ederüs medsdete ıny suzagıorlav jur“ Hat „edzagioria“ offenbar, bie urſprungliche Bedeutung „Dankfagung“.

» Brüdner

meint ift, erfehen wir deutlich aus Kap. 37 (gegen Ende), wo vorgeſchrieben wird: „mepepdrw uera To" 0W00v aurodg xui üyaornoov, 6 Heög, iv Ti Xagırl oov " alrmouueda x. r. 4.“ Ob es ſich mit dem Gebet, das der Biſchof fpricht (Rap. 11) ebenfo verhielt, oder ob diefer nur die Gebete aus Kap. 37 und Rap. 38 ſprechen follte, ergiebt fi zwar nicht aus den Worten, doch ift das erftere höchſt wahrfcheinfih. Nach dem Gebet des Biſchofs wird die Gemeinde fofort mit den Worten des Diakons „ngodkdere &v eignen“ entlaffen. Wir fehen alfo, daß die Kirche das Formular für die Katechumenenmeſſe in felbftändigen Gebets⸗ gottesdienſten brauchte.

Indeſſen können wir uns nicht bei der Annahme beruhigen, als habe die Kirche dieſe Liturgie nur bei derartigen Gottesdienſten benutzt. Denn läge die Sache fo, fo wäre es höchſt auffallend, dag der Zufammenfteller der Liturgie des achten Buches in diefe, die doch offenbar für die Euchariftiefeier beftimmt ift, follte Gebete aufgenommen haben, die die Kirche in einem ganz andersartigen Gottesdienfte zu brauchen pflegte. Auch würden wir nicht einfehen, auf welche Art der Friedenskuß an das Ende von Kap. 11 follte gefommen fein, der in jenen Gottesdienften feine Stelle Hat, und den wir doch nicht als fpäteren Zuſatz zu erfennen vermochten. Daher müffen wir annehmen, daß Kap. 5—11 nur der erfte Teil einer gleichfalls für die Euchariftiefeier beftimmten Liturgie ift. Diefe Annahme ſchwebt nicht in der Luft, denn der zweite Teil zu jenem erften Liegt uns in Kap. 13—15 vor. Dies folgt daraus, daß die Tegtgenannten Kapitel in ebenfo vielen Punkten ſich ſcharf und deutlih von Kap. 12 unterfcheiden, wie fie ander- feit8 mit Kap. 5—11 eng zufammengehören.

Zunädhft nämlich ift die ganze Anlage und Einführung der Ges bete in Kap. 5—11 und Rap. 13—15 eine ganz andere, als in Rap. 12. In dem genannten Kapiteln gefchieht alles durch den Bifhof und den Diakon, indem alle Gebete des Bifchofs vor⸗ bereitet und eingeleitet werden durch Gebete des Diakons, wie wir es finden in Kap. 6. 7. 8. 9. 10. 13.) 14. 15. Der Anfang

1) Es iſt nicht erfichtlich, wie Probft meinen ann, das erſte Gebet in

Über die Zufammenfegung der Liturgie ıc. a

fämtlicher Gebete des Bischofs ift eine Anrufung Gottes, die in reicher Auswahl und mit erhabenen Ausdrüucken die herrlichen Eigen- ſchaften Gottes nennt, fo in Rap. 6. 7. 8. 9. 11. 13. 15. In der SKatechumenenmefje find die Gebete des Biſchofs „euRoylar““ („xavare xol eühoyiode“ Rap. 6 und die folgenden), ebenfo fegnet der Biſchof in Kap: 15, nachdem er Dank gefagt hat, die Gläubigen („xAlvare xui evAoyeioIe“). Dagegen in Kap. 12 finden wir keine Aufforderung, fein Gebet, vom Diakon gefprochen, da ber Biſchof alle Gebete allein verrichtet. Werner iſt auch dies zu bemerken, daß der Biſchof, wo er, Gebete ſprechend, eingeführt wird, in Kap. 12 immer „agyıegevs“ genannt wird („edEauevog odv x09° Eavtöv 6 deyugeic üm rois kegevon“, „aal 6 apxu- geig ' ürw Tor vow“, „ö dogıgeds Eng Aeykro‘‘), während wir ihn in der Katechumenenmeſſe und in Kap. 13—15 vor den Gebeten ftets „Zuloxonos“ genannt finden, fo „eukoyeirw 6 Znt- oxomog“ Rap. 6, „ô Inloxonos Znevglodw“ Kap. 7, „ö ini- oxonoc Asykım“ Rap. 18, „ö Inloxonog eugapioreitw“ und Ähtte liche Stellen 1).

Rap. 13 (von Erı za Erı bis nagasuuede) fei nicht vom Diakon, fondern vom Biſchof verrichtet worden (S. 277), obwohl er zugiebt, daß alles Fol⸗ gende eimer Liturgle angehört. Denn gleich Hinter „napasojuedn“ leſen wir „zab 6 dntoxomos Asydrw“, fo daß alfo das vorangehende Gebet nicht aud von ihm geſprochen fein fan. Darum iſt das „xad d dudxovos an Qvootro aciay“ allerdings mit dem darauf folgenden Gebete zu verbinden, befonder8 weil fein Grund zu erdenken ift, warum der Redaktor weder biefe Worte ganz geſtrichen, noch das dazu Gehörige follte beigefügt haben. Das Wort xngvoce aber (= wie ein Herold ausrufen) paßt durchaus für dem Diakon (gegen Probſt, S. 277). Bgl. au Bingham I, 311.

3) Wir find nicht etwa ber Meinung, daß „agzugeis“ und „Enloxo- nog“ etwas Verſchiedenes bedeuten, auch entgeht uns nicht, daß es am Schluß von Rap. 11 Heißt: „unodidxovos dıddrw anöggvyw zugav vos bs- @eöos“ und Rap. 12: „ol duizovos mgosaykrasar zo Ensoxdnp...“ Aber die erflere Stelle beweift nichts, weil in ihr „Umoduizovos‘ vorkommt, fie alfo vom Redaktor Herrühet oder doch von ihm geändert ift (j. oben) und in ber fetsteren kann der Rebaktor recht wohl aus bemfelben Grunde „dnioxo- nos“ für „aeyuegesc“ geändert haben, ans dem er oben zu dnlaxomos „xugoroyndels“ Hinzugefügt hat. Daß in Kay. 15 flieht „vous Fegsis auoswous diapudasor“ Kommt nicht in Betracht, weil bier mit einem an«

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Ebenfo wie in der äußeren Anordnung weicht Kap. 12 in Ausdrucsmweife und Gedankenfubftanz von den übrigen Kapiteln ab. Während wir nämlich in fämtlichen Gebeten der Katechumenen- meſſe und der Kapitel 13—15 bei allem Edeln und Reichen, das der Ausdruck hat, eine große Einfachheit in den Gedanken und in der Sprache finden, ftoßen wir in Kap. 12 auf nicht wenige Stellen, wo die Worte gewählter, um nicht zu fagen gefuchter, die Gedanken mehr ſpekulativ find, wo überhaupt die ganze Rede weife eine faft philofophifche Färbung annimmt. So 3. B. gleich im Anfange: „ror dvrwg dvra Hebv, Tv mod Tüv yervırzam dvra, IE 00 näoa nargıa tv ogurid zal dm vis Övondberu Toy wövov üybyrrov xal üvagyov xal üßuolkevrov zul adlono- Toy, Tov üverden, Tov narrög ayason xognybv, Tov nkons a- tlog xal yerloews xgelrtova, Tor nivrore xara Ta avra ol cuituc Exovra, IE od za ndvra, xuddmeg Ex Tivog üpermolas ds 70 eva mogmader“; ober nad dem Tols üyıov: „Xguords, ös ds nòyru Ünmgernoanevös oo: To Ich airou zul mazgl, ık Te Önmovpylar dıüpopov xul ngovom xuruhmkov, od rregıeide ybvog avdgumwr dmoAkuusvor, GM pera gvorxov voor, Hera von nugalyeow, per& ngogmtxoüg Alygovs xal Tüg Toy üyyiav Inwruolus, nugapdeigorrow adv To Sera xui Tor puomdòy voor zul vis urhung Lönßalhovruv Tov xuraxır- opbv x. 7.8.7.2.“ Diefe Erfcheinung dürfte nicht hinreichend erklärt fein, wenn jemand behaupten wollte, daß durch die Würde und Heiligkeit des Saframentes gerade für dieſen Teil der Liturgie auch eine größere Gewähltheit, Kraft und Fülle im Ausdrud be dingt gewefen fei.

Der dritte und ftäckite Grund aber für die Zufammengehörig- keit der Kap. 5—11 und Kap. 13—15 gegenüber Kap. 12 liegt in der großen Zahl einzelner Nedewendungen und Ausdrücke, die jenen Kapiteln gemeinfam find. Sole Wendungen find Kap. 6:

deren Wort ſamtliche Geiſtliche, Biſchöfe, Presbyter und Dialonen nicht zu- fammengefaßt werben konuten. Jedenfalls, das ſteht zweifelsohne feſt, daß der Biſchof, wo er betend eingeführt wird, in Kap. 12 ſtets „dezuegeus“, in allen anderen Kapiteln flets „‚drtoxonos“ genannt wird.

Über die Zufarmmenfegung der Liturgie 2c. 2

Eavrods TO uövw ayevsnew Ich dia Tod Xgıorod aurou napd- 9092; Rap. 13: Eaurodc zo He dık toi Xgorod aörod maga- Icueda; Rap. 14: TO növp dyyerizp Ju xal TO Xgroro evrod nupnIwuedn. Kap.:6: xAlvare xal erAoyeiode; Rap. 8: Gvaorayızs ru In dia tod Xgiorov adrov xAlvare; Rap. 15: To Ied dia rov Xgıorod aurov xMvure xal euhoyeiode, Kap. 11: dv Xoro 7O ÜB oov movoyerei, ıo Ic zul awrzgı Aumv " od 00: döka zul aEßug dv üylı nveinarı vüy xol del xol elc robc alövag rar aldvan " Ayurv; Rap. 15: Xaor "Inao xvolo jur, ue9° od 00 d6En, zum zul Las zul To üylıo aveöuarı " Gurv und örı 00: dokn, alvos, ueyahongeneu, 08- Bus, nos xövgos xol ıo 0m mul ’Imoov zo Xgrorw oov, TO xvolo zudv al Feb al Race, xul TW üylp nveunarı viv sol del xal eis Toüg alivag Tür aluva. Kap. 6: xa- Iaglon dE avrovs dmo navsög uoAvouov oapxös xal mveuuarog; Rap. 13: zurablmoor xuFagovg yYeroubvous ind mavrog nohv- ouod oapxds xal mreunarog‘). Kap. 10: owoov xui dvasın- 00 mög, 6 Heos, a Ad oov; Kap. 13: ardormoor nuäc, 6 Heös, iv ıF zupıl om. Kap. 10: into Tüv veopw- zlorwv den>üuer, Onws 6 xupıog ornolän adrods xal Beßauwdor; Rap. 13: ind rwr veogurlorws dendwuer, inus BefuwIucıw dv in nloreı. Rap. 6: euloyrom rüs elsodous airüv xal Tag :Eödous; Rap. 15: rag eisodous aurür zul Tüg ZEodous Pgor- enoov. Rap. 11: Da dow üyıoı owner xol yuxj; Rap. 13: ayııoag jusv TE oWuera xol T7v yuxrv.

Es Tiefen ſich noch mehr Beifpiele anführen, doch dürften die gegebenen ausreichen, um die nahe Verwandtſchaft, die zwiſchen Rap. 5—11 und Kap. 13—15 befteht, zu erweiſen. Die große Ahnlichteit der beiden Stüce ift aber nicht eine derartige, daß da- durd ein Nebeneinander beider Stüde in einer Liturgie ausge ſchloſſen wäre was wir oben inbetreff der Fürbitten von

"Kap. 10 und Kap. 12 urteilen mußten. Denn ift auch in Kap. 13—15 alles demſelben Gedankenkreife und Wortvorrat entnom⸗ men, den wir in Rap. 5—11 finden, fo ift doch nicht Gleiches

1) Dies ift allerdings ein Eitat ans 2Kor. 7, 1.

80 Brüduer

mit völlig gleichen Worten ausgedruct, fondern felbft bie ähnlicher Wendungen, die wir angeführt Haben, gehen in Kleinigkeiten aus einander.

Sollen wir es ſchließlich begreiflich machen, wie der Sammler fi) veranlaßt fehen konnte, zwei verfchiedene Formulare in eine Liturgie zuſammenzuarbeiten, fo möchten wir auf bie große Ähn- lichleit beider Formulare, wie fie namentlich in den Fürbitten des Rap. 10 und des Kap. 12 fo epident herportritt, hinweiſen, ja wir mochten faft die Behauptung wagen, daß bie beiden Form lare nur verſchiedene Entwidelungsftufen derfelben Liturgie dar- ftelen. Sind nämlich unfere oben gefundenen Nefultate richtig, fo fällt daraus auch ein Licht auf bie Frage nach dem zweiten, d. h. in der missa fidelium, vor der Kommunion wiederholten Zürbittengebet, das wir in alten Riturgieen und fo quch in Kap. 12 und in Rap. 13 finden. Diefe Wiederholung ift den aller- erſten Jahrhunderten ber Kirche wubefaunt. Denn wenn aud Juſtinus Marthr in feiner Apologie !) von den Gebeten, die der Borfteher der Gemeinde vor dem Abendmahl verrichtet, jagt: „,ui 6 mpasorig euyüs inolwg al euxagsarlag, 00m divayız arp, Aranluna“, jo ift doch aus dieſen Worten nicht zu ſchließen, daß biefe Gebete ſowohl Donkgebete ale Fürbit ten geweſen ſeien. Vielmehr, wenn wir die übrigen Stellen bei Juſtin, die von dieſen Gebeten handeln, vergleichen *), fo können wir nich im Zweifel fein, dag die obengenannten Worte vielmehr unter fheiden wollen zwiſchen dem Danfgebet für die Wohlthaten der Schöpfung und Erlöfung einerfeits und der Angmnefe und Kon ſelkration anderjeits °). Erſt zur Zeit Eyprians fing die Kirche an, daB allgemeine Fürbittengebet, das feine Stelle in der Ku tehumenenmefje Hatte, in der Gläubigenmefje zu wiederhoten ®).

1) Juſtinus Mart. Apologie I, c. 67, ©. 83 (Hagae Comitum 1742).

2) Iufin, Apologie I, c. 65: „alvov zai dufa 1) nazpi dvandu- ne“ und Kap. 66.

3) Probſt, ©. 100f., beſonders aber vgl. Harnad, Der chriftlich Gemeindegottesbienft (Erlangen 1854), S. 261—274.

4) Bol. Probſt, ©. 226 und namentlich Kliefoth, Die urſprünglich Gottesdienſtorduung (Liturgiſche Abhandlungen [Schwerin 1868] I, 481).

Über die Zuſammenſetzung ber Liturgie 3c, 8

Denn im Laufe der Zeit Hatte in der Kirche mehr und mehr die Anfiht Raum gewonnen, als hätten die Gebete vor Gott mehr Kraft und Erhörungsgewißheit, die während ber Darbringung von Leib und Blut Chrifti verrichtet wurden. Es Bing diefe Auffaffung mit dem feit und durch Cyprian bedeutend veränderten Begriff der Euchariſtie aufs engfte zuſammen ). Diefe Wiederholung der Gebete mußte zur notwendigen Folge haben, daß die Gebete der Katechumenenmeſſe, die vor dem Friedenskuß ftattfanden, immer mehr an Bedeutung verloren und bald beinage nur noch als ein Anhängfel der Predigt erfchienen, wofür fi denn in der That auch Anzeichen in den Homilien des Origenes finden 2). Wie fih nun diefe ganze Veränderung und Entwidelung vollzog, davon geben uns eben unfere beiden liturgiſchen Formulare ein deutliches Bild. In beiden (Kap. 12 und Kap. 13) finden wir bereits das Fürbittengebet vor der Kommunion in der Gläubigenmefje, aber die Form dieſes Gebetes ift eine verfchiedene: in Kap. 13 wird nur mit ganz kurzen Worten wiederholt, was fchon in Kap. 10 ausführlich gefagt war; in Kap. 12 dagegen enthält das Für⸗ bittengebet alles, wofür nur jemals die Kirche zu beten pflegte. Diefer Verſchiedenheit der Fürbitten in der Gläubigenmefje ent fpricht wiederum die Verjchiedengeit der Gebete vor dem Friedens⸗ ug, wie wir dieſelben für Kap. 13 in Kap. 5—11 vorfinden, und für Kap. 12 und aus den erften Worten diefes Kapitels oben Eonftruiert Haben: während ſich für diefe legtere das Reſultat ers gab, daß in ihnen feine Fürbitten für die Gläubigen, denen bie Katechumenen nicht beiwohnen durften, enthalten waren, finden wir in Rap. 5—11 ausführliche und reichhaltige Gebete nicht nur für die Katechumenen, Energumenen u. f. w., fondern auch für die Gläubigen. Diefe Gebete ftehen aljo im umgefehrten Verhältnis wie die in ber Gläubigenmeffe; fie find erheblich reduziert in dem Formular, welches ein ausführliches Fürbittengebet in der Gläu- bigenmefje Hat (Rap. 12), fie find dagegen voll und reich ent widelt in dem Formular, welches das Würbittengebet in der

1) Bl. hierüber Harnad a. a. O., ©. Allfi. 2) Siehe bei Kliefoth a. a. O. I, 482 ff.

82 Brüdner, Über die Zuſammenſetzung der Liturgie 2c.

Gläubigenmeffe nur mit ganz kurzen Worten giebt. Hiernach Tann fein Zweifel fein, wie die Sache liegt. Das eine, der Zeit nad frühere Formular (Kap. 5—11 und Kap. 13—15) zeigt uns den Anfang jener Entwicelung, welche den Schwerpunft des ganzen Gottesdienftes immer mehr in die Gläubigenmefje drängte: das allgemeine Fürbittengebet wird zwar noch nicht völlig aus der Katechumenenmeſſe in die Gläubigenmefje verlegt, aber doch dort fon mit furzen Worten wieberholt. Das zweite, etwas fpätere Formular führt uns ſchon auf einen weiteren Punkt der Ent⸗ widelung; wozu dort der Anfang gemacht war, das ift hier Mar und fonfequent durchgeführt. -Ein Iebiglih für die Gläubigen bee ftimmtes Fütbittengebet in der Katechumenenmeſſe giebt es nicht mehr, dasfelbe ift vielmehr faft unverändert (vgl. die oben ange führten bedeutenden Berührungen zwifchen Rap. 10 und Kap. 12) in die Glaubigenmeſſe hinüberverfegt und hat feinen Play zwiſchen Epitlefe und Kommunion gefunden. Der Redaktor der Liturgie des achten Buches der Konftitutionen ftand mitten in diefer Ent widelung und nahm darum beide Formen auf. Es ift dies um fo natürlicher, als die zweite Form (Kap. 12) unmöglich durd einen langen Zeitraum von der erften getrennt fein konnte, weil, wenn einmal der erfte Schritt gethan war, die Fürbitten in der Gläubigenmefje zu wiederholen, die völlige Verlegung der- felben an dieſe Stelle ſich als das einzig Konfequente bald ergeben “mußte.

Bemerkungen zur Kompofition der Elemensfiturgie. 38

2.

Bemerkungen zur Kompofition der Clemens⸗ Liturgie, Bon

Dr. ®. Kleinert.

Indem die verehrlihe Nebaktion diefer Zeitſchrift mir bie Freude macht, vorftehende Erſtlingsarbeit eines hieſigen jungen Theologen zum Abdruck zu bringen, giebt fie mir zugleich den gern benugten Anlaß, durch Hinzufügung einiger ergänzenden Be⸗ merfungen etliche Punkte weiter auszuführen, die ich in meiner zweiten Abhandlung zur praftifchen Theologie ) nur andeutungs · oder anmerkungsweiſe berühren konnte.

Unter den Reſultaten der Brucknerſchen Abhandlung erſcheinen mir zwei von Wert und Belang: das eine die relative Selbftändig- keit der eigentlichen Gottesbienftfiturgte im 8. Buch der Apoftoltfchen KRonftitutionen ed. Lagarde, ©. 239, 8ff. gegenüber dem voraufgehenden Formular der Biſchofsordination; das andere die Zufammenfegung jener Liturgie aus mindeftens zwei Formularen verfchtedenen Urfprungs; fo zwar daß die Anaphora mit Zubehör Kap. 12 aus dem umgebenden Rahmen ſich als ein ſelbſtändiges Stüd heraushebt. Beide Nefultate Halte ich für richtig; die Ber weisführung ber Verſtärkung, das Bewieſene genauerer Beftim- mungen fähig. j

Daß das Ordinationsformular des Biſchofs Kap. 4. 5 (236, 22 239, 8) mit der vorliegenden Geftalt der anfchliegenden Liturgie Feine folidarifche Einheit bildet, Läßt fich außer den inneren Gründen, welche Brückner dafür anführt, auch durch den Hinweis auf den formellen Zufammenhang mit den nachfolgenden Ordi⸗ nationsformularen Kap. 15ff. und duch den Befund der Texte

1) ©. Heft 1 des Jahrganges 1882 der Studien u. Kritifen, namentlid, ©. 59. 88f. eol. Stud. dahrg. 1888. 3

u Kleinert

überlieferung erhärten. Der Text der Statutenfammlung, welche als dinraksis rregd xscoroicõu und unter ähnlichen Titeln aus dem Birchlichen Altertum überliefert iſt ) und den Grundftod bet recept& in Const. apost. VII, 4—46 darbietet, giebt das Orbdinationsformular ohne anſchtießende Liturgie. Mit ihm ftimmt der Orforder codex Baroccianus des achten Buchs der Konftitutionen felbft, welcher nad) dem Zeremonial der Biſchofs⸗ weihe, in dem er mit ret. 286, 20 237, 18 zufammengeht, und nad dem Weihegebet, zu welchem fi 237, 18 239, 2 als eine erweiternde Ausführung verhält, unmittelbar zu Kap. 15 (261, 27) übergeht ?2). Der koptiſche Paralleltert, den Kanon 65 u. 66 ber fogenannten koptiſchen Konſtitutionen bieten, und defien Übereinftimmung mit feiner fahibifgen Vorlage Tattam aus Vergleihung mit den erhaltenen Fragmenien ber letzteren ver- figert, Hat mit dem griechifchen den obenbezeichnsten Zeremonial- paſſus gemeinfam, erwähnt dann das Weihegebet und ſchließt daran allerdings wie die recepta aud eine Liturgie, welche aber mit diefer nur die Stüde 239, 5—15; 247, 28 248, 9. 11. 25; 259, 19 260, 4. 9. 33 261, 2. 24 gemein hat ). Bon den euchariſtiſchen Gebeten erwähnt der Kopte nur die Epilleſe und die folgenden; und mit der griechiſchen recepta unterfcheidet er die dem Ordinationsformular angefchlofjene Gottes» dienftordnung von jenem felbft durch die Schlußformel 261, 25—27 (von der ihm nur die Worte jueis ol drrdorolo fehlen) als eine Anmweifung megl ris gvazsxijs Amrgelas. Wäprend im Ordinationsformular der Text großenteils und das

2) Sqhon feier durch ben Abdruck in Fabricius' Ausgabe der Opera Hippolyti (Hamburg 1716) befannt, find biefe dearafers wekerdinge von 2agarde (in den Reliquise jur. eccl. ant.) und, mit reichfter Überfid)t der haudſchriftlichen Bezeugung, von Pitra veröffentlicht worden. ©. Pitra, Juris ecelesiastici graecorum historia et monumenta (Romae 1864) I, 495gg.; ef. p. XXIX sg.

%) Bol. Bunsen, Anslecta äntenicaena (London 1854), T. II, p- 3775q. und dazu die Bemertung Lagardes, ib. p. 35.

% H. Tattam, The apostolieal constätutions iu eoptic. (Rondon 1848), S. XIV und 117—125.

Bemerlungen zur Kompofition der Elemensliturgie. 8

Schema völlig bei recepta und dem Kopten kongruiert, find bie Abweichungen der Liturgie des letzteren von der der recepta derartig, daß fie aus bloßer Abkürzung höchſtens teilmeife erklärt werben könnten. Weniger Gewicht möchte ich für die relative Selbftäns digkeit der Liturgie gegenüber von Kap. 4. 5 auf die fcheidenden Einfügungsformeln legen, durch welche Kap. 4f. als Berordnung des Petrus, Kap. 6ff. als Berordmung des Andreas, wie nachher noch Rap. 12ff. als Verordnung des Jacobus bezeichnet werben. Der Kopte hat dieſe zaxonimosies !) des letzten Redaltors noch nicht gekannt.

Für die Selbſtandigleit des Anaphoratriles Kap. 12 gegen⸗ über von den anderen Stücken ber Liturgie läßt fi den von Brückner vorgetrogenen Argumenten hinzufügen, baß bei einheit- lichem Charakter der Gefammtlonzeption ſchon die Umformung des Grußes am Gingang der Katechumenenmefle (7 xagıs zoü xoglov juwv I. X, xal ij dyanım Ieod zei 7) zomwenla cod dylov nmweiparog udre nadvemv Öucv 239, 11f.) in bie teinitarifch geordnete Geftalt 248, 27. (N x. toc marsoxgd- Togog Gsoü.x. 1 dyamm ev... I. X. xalı) zowanie xrh.) am Eingange der Euchariſtiefeier ſchwer begretflich fein würde. Dem völligen Zurädtreten des Diakonus in den liturgiſchen Stüden des 12. Kapitels ſteht ein ebenfo bezeichnendes Hervor- treten desfelben in den übrigen gegenüber. Während feruer die Auaphoragebete Kap. 12 trotz des chriſtozentriſchen Charakters ber Brömmigfeit, welde fie ausbrüden, fih genau im Schema des altticlichen, nachgehends auch ftatutarifch fanfttonierten Ufus Halten, daß die Anrede im feierlichen Altargebet immer an den Vater zu gehen Habe *); während fie daher vom Sohn und h. Geiſt nur in der dritten Perſon reden, enthält die ftattliche Gebetsreihe der Katechumenenmeſſe in der Benediftion des Biſchofs über die

1) So find fie ſchon, allerdings keineswege aus Gründen hiftorifder Kritik, bei Photius, Bibliotheca, cod. 112. 118. Par. 1611, p. 289 bezeichnet. 2) Justin, Ayol. I, c. 65: aivov zul dia» mi are) ver Ölen dvanfunaı x. 1. A. c. 67: sVAoyoduss Tov momsg saw nimmer die 08 vlod avrod I. X. Su. Carthag. (897) can. XXI: Quum altari ad- sistitur semper ad patrem dirigatur oratio. 3*

8 . Meinert

Energumenen Kap. 7 (241, 22 ff.) welche Hier nicht, wie Kap. 12 (257, 23) xesualöusvor, fonbern dvegyovuevos heißen ein direkt an Chriftum gerichtetes Gebet. Ebenda ift dem Vorwurf des Arionismus, ber gewiffen antenicänifchen Unbefangen- heiten des altliturgifchen Ausdrucks leicht erwuchs, durch die Ein» fegung der, wenn nicht johanneiſchen, fo doch ficher nicänifchen 1) Anrede movoyevi; Ied 242, 8 vorgebeugt, welche Kap. 12 auch nicht einmal als Ausfage, überhaupt fonft in den Konftitutionen nur in B. VII und beim Interpolator ber älteren Sammlung begegnet ?). Endlich fteht dem durchſichtigen Aufbau der Anaphora- gebete, welcher eine öfumenifche Idee in der einfachften und aus der Natur der Sache geborenen Folge ihrer Momente zum Aus« drud bringt, der Ausbau des gottesdienftlichen Teils, der zwifchen der Predigt und dem erften Fürbittengebet eingefügt ift, fehr eigen- artig gegenüber. Er Hat in Gebet und Segnung fir die gywrılönsvors ein Stüc, für weldes das Altertum feine liturgiſche Analogie bietet. Diefes weiß von Gebeten für die catechumeni und poenitentes (Conc. Laodic., can. XIX, Chrys. etc.), auch wohl für die energumeni (Orig., Chrys.), aber nicht von einer Abſcheidung der yaorıLöusvor von ben zaengouusvos In den Gebeten ber Vormeſſe ®). Auch der zuverläffige Jalob von Edeſſa ©), der die zu feiner Zeit bereits anttquierte altfyrifche Liturgie, und zwar mit ausdrücklich bezeugter Kenntnis nicht bloß der fyrifchen, fondern aud der ausländifchen Lokalpraxis beſchreibt, weiß wohl von Katehumenen, Energumenen, Pönitenten, aber nicht von Photi— zomenen an biefer Stelle.

2) Bgl. Harnad in Schürers Litteraturzeitung 1876, S. 546 (nad Hort, Two dissertations, Cambridge 1876).

2) 1. VOL, c. 88. 48. 1. II, 17; V, 20.

3) Wenn Bona (Rerum liturgicarum libri duo Romae 1671, II, 12, 4. p. 895) in einem alten Saframentar der Königin von Schweden in ber Liturgie des dritten Paffionsfonntages eine befondere oblatio für die Tänflinge fand, fo if} einerfeits dies ein singulare der befonberen kirchtichen Zeit, bie dem Zauftermin voranfging; anderſeits if die Gebetform der oblatio fein Stüd der Katechumenenmeffe.

4) Jacobi Edesseni epistola de antiqua Syrorum liturgia, syr. et lat, bei J. 8. Assemani Bibliotheca orientalis I, 479sqq.

Bemerkungen zur Kompofition der Efemensliturgie. 37

Es prägt fih in dieſem Formular, das der Predigt ale Katechumenenmeſſe angefügt ift, der eigentümliche Zahlenfinn aus, der auch fonft in den Apoftolifchen Konftitutionen nicht felten an den Elohiften im Pentateuch erinnert; nur daß Hier die Zahl 4, nicht wie dort 7 oder 10, die Kunftbauten beherrfcht. Man vers gleihe mit unferer Vierzahl der Gebetsobjefte Katechumenen, Energumenen, Bhotizomenen, Ponitenten die Vierzahl der Lektionen hier 239, 9f.*) fowie l. II, c. 59; V, 19; ebenfo die merk— witrdige Erfceinung, daß, um eine Vierzahl gottesdienftlicher Haupt alte herzuftellen, II, 59 nicht bloß zwifchen Lefung der Propheten und Berkündung des Evangeliums unterfchieden, fondern auch die Abendmahlsfeier in das Opfer und die Kommunion als zwei felb- ftändige Akte neben einander zerfällt ift. Während der Liturgie in Kap. 12 derartiges fremd ift, kehrt es in den anderen Stüden derfelben auch da wieder, wo der an die Katehumenenmefje an⸗ ſchließenden Interceſſion des Diakonen das Gepräge einer Her- kunft aus unmittelbar nadapoftolifher Zeit durch Nennung von vier traditionellen Geftalten diefer Periode aufgedrüdt wird: Jakobus von Jerufalem, Clemens von Rom, Euodius von An« tiohien, Annianus von Alerandrien. (245, 13 ff.) Andere hieher gehörige Erfcheinungen werden uns weiter unten begegnen.

Die Unterfheidung zwifchen dem Anaphorateile und den vor⸗ aufgehenden und nachfolgenden Stüden ift fo burchgreifend, daß es nicht nötig fein wird, zur weiteren Erhärtung derſelben auf die Inkongruenz der Formel od zmyv ngWemm eugv suxonevor rg08Adere am Cingange ber erfteren (248, 13) den Trrupuföfen Nachdruck zu legen, mit dem Brückner fie erörtert. Wer von der handſchriftlichen Bezeugung des Konftitutionentertes nähere Notiz genommen, wird die notwendige ZTertänderung rgossAders, bie übrigens wenigftens auf eine Handſchrift (Vat. 2.)2) ſich berufen Tann, am unferer Stelle ebenfo wenig bedenklich finden, als an anderen, wo das Handfchriftlihe Zeugnis für zrgosisere und zrgogekdere gleihwiegt. Zudem gehört der Sag zu den Ein

1) Der koptifche Tert Spricht bier nme vom Evangelium. Tattam, p. 117. 3) Bgl. die Fritifhe Note f bei Pitra a. a. D. I, 399,

8 Kleinert

ſchiebſeln, deren Urfprünglichleit von uornherein zweifelhaft if, weil fie in einer fonft mit dem Kopten gemeinfamen Strede von diefem nicht geboten werden. Um fo nachdrüclicher allerdings wird die Wichtigkeit jenes anderen von Brückner betonten Moments für die Quellenſcheidung urgiert werden müffen, daß nämlich das Mittelftüct der Liturgie durch die ausſchließliche Bezeichnung bes celebrierenden Biſchofs mit dem Titel apxsegsds ebenfo fignifilant harakterifiert ift, wie die anberen durch ben ebenfo ausſchließlichen Gebrauch) des Titels Alcxoroc für denfelben. Denn in ber That Handelt es fich Hier um diftinkten Sprachgebrauch in ber techniſchen Bezeichnung eines und desfelben Objekts, wie ſchon der Kontinuierliche Verlauf der Handlung ergiebt. Wenn in fpäteren Liturgieformularen das Würbtttengebet den @exssgeus als eine ber fondere NRangklafje von dem Errioxorrog unterſcheidet 1), fo kann eine folche Unterfcheibung der fungierenden Hauptperfonen hier ſchon deshalb nicht vorliegen, weil gerade hier die Fürbittengebete noch nichts von bderfelben wiffen. Das den Archiereusftücen felbft angejchlofiene kennt neben der du ovderku des Betenden nur noch Presbpter, Dialonen, Unterbeamte und Awos, zeigt alfo, daß der betende daxssgeds mit dem Irrloxorsos zuſammenfallend gedacht wird 256, 26ff. Das des Diakonen vor dem Friedens⸗ tuß weiß ebenfo nur von drioxdnoss, mresshvregois, Diakonie und HHperefieen 245, 12ff. Es würde demnach unzuläffig fein, etwa ‚in dem als z@v mgeisov Emioxonew (237, 14; vgl. 6 nedxgimos av Aoımav &. 236, 27) des Drdinationd- formulars eine Vorandeutung finden zu wollen, daß in der nach⸗ folgenden Liturgie neben andern drsaxorross und im Unterfchiede von ihnen auch ein «gxssgedg fungieren werde. Ganz abgefehen davon, daß, wenn man felbft über die relative Unabhängigkeit der

1) 3.8. Markusliturgie (bei Hammond, Liturgies eastern and western, Oxford 1878, ©. 172), wo der agyisgeus Hana, alfo ber Patriarch von den Bifhöfen unterjdjieden wird. Noch voller die nämliche Mürdebezeichnung im der ägyptiichen Gregoriusfiturgie (bei Renaudot, Coll. litt. orr. I, 107): dgzıegeis ABBa nena marguiggns. Parallel in der Bafiliusfiturgie (bei Migne, Patrologia, series graeca XXXI, p. 1640): deyısnlazonos &Bßa ndna xa) nargidgyns.

Bemerkungen zur Kompofitiog der Elemensliturgie. »

Liturgie vom Ordinationsformular himwegfähe, auch dann noch die Verſchiedenheit der Bezeichnungen (sic vv zug. Er. aexisgadc) auf Quellenverfchiebenheit Hinweifen würde, Der Archiereus und der Epiſtopos der Liturgie find, mie der nächſte Augenſchein und wie jede eingehendere Prüfung zeigt, identiſch, und die Lonſequenz in der Scheidung der Ausdrucksweiſe giebt das Recht, bie Doppelr heit der großen Maſſen, welche in berfelben zuſammengeſetzt er⸗ fcheinen, nach dieſem prägnanteften Merkmal durch die Bezeichnung von Arhiereusftüden (A.) und Epifloposftüden (E.) zu figieren. Bon Hier aus ergiebt ſich zugleich die Notwendigkeit, welche fich fofort weiter bewähren wird, das große Mittelftüc im Kap. 12, welches in fortlaufender Reihe die Hauptmaffe der Archierensftücke entHäft, nicht mit Brückner bereit 248, 10, fondern erft 248, 24 beginnen zu laſſen. Anderſeits ebenfo bie Not⸗ wenbdigfeit, zu dieſer Hauptmaffe auch das Archiereusgebet, das vor dem Friedenskuß in ifolierter Stellung erſcheint (246, 29 247, 25), als berfelben Duelle zugehörig Heranzuziehen, wie es denn in Art und Formung mit den Archiereusſtücken in Kap. 12 augenfällig übereinfommt.

Überbficen wir den bargelegten Sachverhalt, fo ergiebt fich als Grundlage unferer Liturgie ein kurzes Ritual für den regel⸗ mäßigen Sonntagmorgen-Gottesbienft, welches ber dem 8. Buch ber Apoftol. Konftitutionen einverleibten Sammlung von Orbinationd- tanones im Anflug am die Bifchofsweihe als biefenige inferiert worden tft, welche der Regel nach (236, 26f.) am Sonntag ftatt- zufinden Hat. Die einfachfte, der Grundform nächſte Geftalt dieſes Formulars bietet der koptiſche Text, deſſen Beſtand baher turzweg als Vorlage (V.) bezeinet fein mag. Sie umfaßt folgende Stüde: V.1: Perifopenlefung. V.2: Salutation und Antwort. V.3: Predigt. V.4a: Ausflug ber Ungläubigen. V. 4b: Fürbitten für die Kranken m. a. V.5: Sriebenstuß. V.6: Orbnende Funktionen der niebern Kleriler. V.7: Hände waſchung der Priefter. V.8: Zurüftung der Euchariſtie. V.9: Funktionen der Diakonen und Presbyter bei derſelben. V. 10: Anaphoragebet mit Epiffefe. V. 11: Diftribution unter Pfalm- geſang. V.12: Danfgebet des Dialouen. V. 13: Danfgebet des

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Biſchofs. V.14: Schlußſegnung. V.15: Schlußentlaffungsformel. Gebetöftellen werden markiert, an Gebetsformularen nur eins mit» geteilt, da8 Dankgebet des Diakonen V.12. Dies Dankgebet muß, wie beiläufig zu bemerken, als eins der älteften und univer- feltften Liturgifchen Stücke erachtet werden. Mit dem Ergänzungs- gedanken, den es im äthiopiſchen und griechiſchen Paralleltert hat daß das 5. Mahl den Genießenden nicht zu Schuld und DVer- derben, fondern zur Stärkung Leibes und der Seele gereichen möge —, begegnet es ebenfo in der Konſummationskollelte der alt- galliſchen Liturgie im Sacramentarium Bobbiense, und. als KRommuntongebet des Prieſters im ambrofianifchen und römischen Miſſale ?).

Diefe Grumdgeftalt erweitert fich in dem Text der fogenannten Clemensliturgie, wie ihn die griechiſchen recepta des achten Bude der Konftitutionen bietet, durch zweierlei Einfüge. Zu der einen Kategorie, den Arhierensftüden, gehört zunächſt A.1: ein Gebetsformular des Bifchofs, welches vor dem Friedenskuß (V.5) eingefehaltet ift: allgemeines Gebet um Heiligung und Erlöfung der feiernden Gemeinde. Die übrigen Stüde dieſer Gruppe ftellen einen in fich gefchloffenen Titurgifchen Ausbau von Nummer 10 der Vorlage dar. Diefer vollendet fi in folgenden Stüden: A. 2: Stilles Gebet des Biſchofs. A.3: Salutation mit Antwort. A. 4: Antiphonie zum Präfationsgebet. A.5: Präfationsgebet; zunächft Preis für die Wohlthaten Gottes als Schöpfers, Erhalters, Negierers der Welt und feiner Offenbarungen in ihr und an fie, ausmündend ins jeſajaniſche Sanltus. A. 6: Preis der Ber föhnung durch Ehriftum, anfchließend die Recitation der Inftitutions- worte der Eudjariftie. A.7: Gebetöformular der Oblation (uegrn- usvoi) und Epiklefe; woran ſich ohne befonderen Eingang A. 8: das große Fürbittengebet mit Dorologie ſchließt. .

Biel felbftändiger bewegen ſich die Einſatzſtücke der zweiten Art, die Epiſko pos ſtücke. Ihre Hauptmaffe (E. 1—4) füllt. eine Stelle aus, die in ber Vorlage des Kopten gar nicht als offene erſchien, die fie ſelbſt erſt fi öffnen, und

1) Bei Hammond a. a. O., ©. 361. 350.

Bemerkungen zur Kompofition der Elemensliturgie. 4

war zwiſchen V. 4a und V. 4b. Nämlih E. 1: Diakongebet und Biſchofsſegnung über die Katechumenen und Entlafjung der felben. E.2: Gebet, Segnung, Entlafjung der Energumenen, E.3: Gebet, Segnung, Entlaffung der Photizomenen. E.4: Ges bet, Segnung, Entlaffung der Pönitenten. Dazu E. 5: Ausflug der für das Folgende Unbefähigten und E.6: ein großes Fürbittens gebet des Diafonen, durch welches die kurze Andeutung V.4b erfeht iſt. Fernerhin wird Nummer 5 der Borlage weiter ausgeführt, ins» befondere E.7 durch ein mredoyapev bes Diafonus und Salutation des Biſchofs eingeleitet. Zwiſchen V.10 (= A. 2—8) und V. 11 fügt fi) E. 8 eine weitere Salutation des Biſchofs mit Refponfum ein; ferner E.9 das dritte Fürbittengebet, welches der Diaton Hält, und nad welchem er durch die Gebetsaufforderung E. 10 zu dem Bifcgofögebet E. 11 um würdigen Empfang der heiligen Gaben hinüberleitet. Daran fließt fi E. 12 das medoyapsr mit dyıa dyloıs, als dyıos, Gloria in excelsis und Hosianna. Zu V. 11 wird E. 13 die nähere Anweiſung gegeben, daß der zu fingende Pfalm ber 3Afe ſei. Die V. 13 markierte Gebetsftelle wird E. 14 durch ein Formular ausgefüllt, und ebenfo die Stelle V. 14 durch das formulierte Segensgebet des Biſchofs E. 15.

So fomponiert ſich die weſentliche Geftalt der Liturgie in der recepta, abgefehen von den nachträglich eingetragenen Formeln apoftolifcher Anordnung. Wenn ich in diefem Kompoſitionsſchema den Rahmen, dem fid die großen Einfagftüce einfügen, im Ans ſchluß an den koptiſchen Text desſelben dargeſtellt habe, fo iſt bertits vorhin angedeutet, daß ich dabei nicht von der unbeweis⸗ baren Vorausſetzung ausgehe, daß dieſe Geftalt der Vorlage die urfprüngliche felbft jet, fondern nur dieſes annehme, daß fie der urfprünglichen fehr nahe ſtehe. Während dies letztere aus der Bergleihung mit den Zufägen der griechiſchen Parallelabſchnitte fich ergiebt, muß dem erfteren gegenüber ich aus mehreren Gründen für wahrſcheinlich Halten, daß beide Geftalten der Vorlage, die toptifche wie bie ber recepta einverleibte, auf die gemeinfame Grundfage einer dritten, felbftverftändfich griechiſchen zurückgehen. Denn nicht überall verhält es ſich fo, daß die Abweichungen der

4 Meinert

Neeepta ſich fofort als Zufäge zu dem koptiſchen Ritual darſtellen, fondern ſtellenweiſe divergieren bie parallelen Ausführungen fo, daß fle von einander nicht wohl abhängig fein künnen. Ganz vornehmlich gilt dies von dem Paſſus, betreffend die Thürwacht, 248, 5—7. Daß bier ſchon im der urfprünglichen Vorlage etwas über bie Hut der Ihren während der Eudhariftie ange ordnet fein wird, fehließe ich aus dem Gewicht, das altherkämmfic anf dieſen Punkt gelegt wurde. Das bezeugt ſich dadurch, daß die abgelürzte Formel Auges! Ivoxs! in einigen alten Liturgieen fih im diefer Strede des Titurgifchen Rituale als unverſtändliche Ruine erhalten Hat, nämlich in ber Tonftantinopofitanifchen Chry⸗ foftomusfiturgie und in der armentfchen; Hier fogar ala Mefponfum der Präfationsantiphone ’). Daß aber die Ausführungen biefer urfprüngfichen Vorfchrift in der recepta und beim Kopten gegen einander felbftändig find, erhelft daraus, daß fie betreffs der Ver⸗ teilung der Thürwacht an die Diafonen und Subdiakonen das diametral Entgegengefegte anordnen. Bei beiden ift ber Paſſus, wie er vorliegt, ficher nicht das Urfprüngliche, fondern verhäftnis- mäßig fpäte Ausführung bes Urfprünglichen; das beweift bie Nennung der Subdiafonen mit biefem Titel. Wie die Einführung derfelben beim Wafferaufgießen (gr. sing., fopt. plur.) nicht gar alt fein Tann, da noch bei Cyrill von Jeruſalem diefe Funktion den Diafonen obfiegt (Opp. ed. Touttee, p. 325), fo auch nicht die Thürwacht. Daß aber der Kopte allerdings nur an diefer Stelle?) zu felbftändiger Formung des Paſſus gelangte, wird nicht wundernehmen, wenn wir die befondere Pflege des Sub⸗ diakonats grabe in ber Äghptifchen Kirche berückſichtigen. Nirgend erhält man eine fo Mare Einficht in die Funktionen desſelben, als aus dem arabifchen Schlußftic des koptiſchen Orbinationsformulare ber Subdiafonen, weldes Morinus nad Kirchers Überfegung aus

1) Bei Neale, History of the holy eastern church (£ondon 1859) I, 456; II, 530.

2) Denn an der anderen Stelle, wo bie recepta in ber mit dem Kopten gemeinfamen Vorlage die Unodıcxovor einführt (259, 20) nennt er nach ben Diakonen nur „den übrigen Klerus“. Tattam, p. 128,

Bemerkungen zur Kompofition der Elemensliturgie.

einem alten Koder der Propaganda in Rem mitteilt 1). Da tft ihr Amt zweiteilig: einmal die Bedienung der Diakouen, dann die Bewahung der Thüren. Beides ftimmt zu Titel und Funktion der Öramgdras im can. 43 der Laodicenifchen Synode ). Aber daß diefe Synode eben Subdiakonen noch nicht kennt, fondern Ürmgsrer, daß mit ihr darin die älteren Bücher der Apoft. Kon⸗ ftitutionen zufammentrefjen vgl. auch in dem älteren Fürbitten« gebet unferer Liturgie 245, 24: unmesote —; daß diefe älteren Bücher bei der Thurwacht von zrvAmgos, nicht aber von Subdia⸗ tonen reden: das alles Hindert, mit der Entftehung unferes Paſſus über die letzten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts hinaufzugehen. Anderfeits freilich wird man auch nicht tiefer hinabgehen dürfen. Denn von dem Dienft, der bereit8 Const. ap. VII, 21 den Sub» diafonen an den heiligen Gefäßen zugewiefen wird, leſen wir in uuſerer Liturgie noch nichts.

Nicht bloß für den vorliegenden Punkt, fondern überhaupt bietet eine ſehr bemerkenswerte Illuſtration zu dem oben Ausge führten der üthiopiſche Paralleltert, welhen I. Ludolf im commentarius ad historiam aethiopicam, Frankf. 1691, P. 3055qg. bietet. Er bildet die 21ſte unter den fogenannten „71 Verordnungen der Apoſtel“, von denen Ludolf a. a. O. bie erften 23 nach einem vatifanifchen Cober ®) mitteilt. Auch bier fügt fich die Liturgie, wie im 8. Buch der Konftitutionen, einer Reihe von Ordinationsformularen in unmittelbarem Anſchluß an die Biſchofsweihe ein, fo jedodh, daB von allem, was an Katechumenenmeſſe erinnern könnte, hier völlig abgefehen ift. Ins dem daher von dem ganzen Nitualverlauf, den ber Grieche zwiſchen 239, 8 und 248, 24 mit dem Kopten gemein hat,

4) J. Morinus, Commentarii de sacris ecelesise ordinationibus (Antv. 1695), p. 4438q.

2) Bgl. denſelben mit den Bemerkungen des Zonar as in befien Com- mentariis ad canones apostolorum et conciliorum ed. Quintia (Paris 1617), p. 356.

3) Bol. über denfelben W. Felt in feiner Edition der Canones apostoli aethiopice (Lips. 1871), p. 6sq. Die 56 bzw. 57 apoftolifchen Eanones ud übrigens mit den 71 „Beroronungen® micht zu verwechſeln.

4 Kleinert | |

(V. 1-9; inel. E. 1—7. A. 1) völlig gefchiwiegen wird, beginnt | nad dem Ordinatiousgebet fofort die Salutation des Bifchofs, bier aber nicht in der ausführlichen Form nah 2Kor. 13, 13 (A. 3), fondern in der kürzeren: „Der Herr mit allen“, melde auch die Markusliturgie an der nämlichen Stelle hat. Der Tert fährt fort mit der Präfatio und den Anaphoragebeten; diefe in gewiffen gemeinkirchlichen Grundformeln mit denen der Archiereus⸗ ftüde verwandt, aber in geringerer Ausbildung. Es fehlt die Lobpreifung Gott Vaters mit dem Sanctus: kurze Streden Laufen zu A. 6.7 (gr. 255, 19 256, 11) parallel. Bon den beiden euchariftifchen Zürbittengebeten des Griechen (A. 8. E. 9) findet ſich nichts, dagegen bietet der Äthiope felbftändig eine Reihe fräftiger und inniger Gebete von direkter Kommunionbeziehung. In den gemeinkirchlichen Stüden &yı= dyloss, ls &yıos ftimmt er mit E.12, wogegen in den Dank» und GSegensgebeten des Schluſſes wieder nur einzelne Wendungen, verſchieden verteilt, beiden Texten gemeinfam find.

Das Ganze trägt das Gepräge hohen Altertums, eines höheren wenigftens, als die griehifche recepta. Die hierurgifchen Be ziehungen, deren beginnendes Eindringen man in biefer ſtellenweis wahrnimmt, fehlen ihm gänzlich. Sehr beachtenswert ift namentlich, die direkte Beziehung aller Formulare auf Feier und Empfang des h. Abendmahls als ſolchen: noch drängt ſich nicht jegliches gottes- dienftliche Vedürfen der Anbetung und ürbitte, des Belennens u. f. w. in der Euchariſtie zuſammen. In alte Zeit weift es, daß unmittelbar zur Weihe der Abendmahlselemente die des Ols binzutritt; die Oblation der Gaben durch die Gemeinde, welde nicht bloß die Abendmahlselemente umfaßt, bildet noch die Voraus: fegung des Ritus. Fern fteht noch die Zeit der nicänifchen Kanones, deren achtzehnter dem Diakon es unterfagt, den höheren Amtsftufen das Sakrament zu reichen: hier wird grade, daß er es dem Bifchofe reiche, als Firchlihe Ordnung bezeichnet. Probſt allerdings will (S. 239) das fpätere Alter dieſer Liturgie durch angebliche Anfpielungen auf ben Neftorianismus erhärten, Tann aber nichts dafür beibringen als den Sag: misisti eum (sc. Christum) de coelo in uterum virginis, welden er mit ber

Bemerkungen zur Kompofition der Clemensliturgie. 4

tendentiöfen Anderung Deum ftatt eum citiert. Wie Hammond (p. LVII) bei Wiederherftellung der richtigen Lefung die „savours of a time later than Nestorius“ aufrecht erhalten mag, ift mir unverftändlid.

Unter ben belangreiheren Schlüffen, welde fi aus Ber- gleihung biefes Rituals ergeben Details find ſchon vorher ans gezogen unb werben noch weiter in Betracht kommen —, genüge es, drei hervorzuheben. Erftlich: auch diefes fehr alte Formular, nahe verwandt mit dem koptiſchen, Hat bereits wie biefes ein Meformular in Verbindung mit der Biſchofsordination. Ganz ebenfo verhält es fih mit bem arabifchen Formular in ben Canones des Abulides *); ebenfo mit dem britten Kanon jenes arabiſchen cod. Baroccianus, deſſen Bunfen Erwähnung thut ®). Es ergiebt fi, daß die Kombination fehr alten Herkommens ift ®). Dadurch wird die Selbftändigleit der Geftalt, in der die Liturgie in den Apoft. Konftitutionen erfcheint, nicht berührt; micht aber möchte ich angefichts des Obigen das yaıgorosndels 239, 11 für reine Zuthat erft des letzten Redaltors halten. Dafür, daß es ſchon der Vorlage angehörte, fpricht auch, daß das Wort Hier noch, dem älteren Sprachgebraud gemäß, im Sinne der Wahl, noch nicht im Sinne der Ordination gebraucht erfcheint (vgl. namentlih 237, 17), während doch diefer letztere Sprachgebrauch

1) Haneberg, Canones Hippolyti arabice (Monachi 1870), can. 2. 3, p. 275g. And) für bie (loptifce oder griechiſche) Borlage diefer Ca- nones wird ein hohes Alter durch den Umſtand erwieſen, daß fie mit der eu» chariſtiſchen Weihe micht bloß die des Ols, fondern aud) die der von der Ger meinde dargebrachten Erſtlinge in unmittelbare Verbindung fegen.

3) Bunsen, Analecta antenicaena IH, 41dsqg. Bgl. auch Tattam a. a. O., p. Blsgg.

8) Auch der in ber erſten Hälfte des 6. Jahrhunderts geſchriebene Eoder des fränfifchen Meßbuches, deffen bezügliche Formulare Morinus a. a. O., p. 212sgg. mitteilt, nimmt auf die der Biſchofsordination anſchließende Meffe direft Bezug, und ebenfo daB alte griechiſche Formular des Barberini-Eoder ebenda, p. D2sgg. Bemerkenswert, aber nicht ofne Analogieen, If} der Nach deu, der in dem letzteren auf das bifdöflicie Furbitiengebet gelegt wirb, das ſich fofort der Ordinetion anſchließt.

4 aleinert

bereits in den kanoniſchen Briefen des nämlichen Baſilius herrſcht %), der die Subdialonen nur noch als Örmescas lennt. Zweiteno: Der äthiopiſche Text, wie ebenfo der in den canones Abulidis ift einerfeit8 mit der Geftalt der Vorlage beim Kopten und ber recepta jo nahe verwandt, und anderſeits doch wieder fo felb- ftändig emtwidelt, daß wir auch von hier aus zu dem Poſtulat einer Tegten Grundform der Vorlage der Liturgie gelangen, der der Kopte ſehr nahe fteht, ohne fich doch mit ihr völfig zu decken. Drittens; Mit dem Kopten und Abulides ftimmt gegenüber dem Griechen das äthiopiſche Formular darin überein, für die großen Gebete, die der letztere am Anfang des Gottesdienftes Hat, keine Lucke zu laſſen. Wir werden alfo das Alter ber Vorlage im Gegenfag zu den Epiffoposftüden ber Liturgie über die Anfangs bfüte des Katechumenats hinaufzurücken haben ?).

Lußt fich über Herkunft und gegenfeitiges Verhältnis der Ein- fagftüdte in der griechifchen recepta etwas ausmachen? Die Ant« wort wird durch die eigenartige Beſchaffenheit der Liturgie erſchwert. Durchaus richtig bemerkt Neale (a. a. O. I, 318) bei feiner trefflicgen Gruppierung ber Liturgiefamilien inbetreff der unferen, daß fie eine Familie für fich bilde. Das liegt im Vergleich mit alten übrigen vorhandenen Kiturgieformularen nicht bloß im ihrer

1) Bgl. den Abdruck derfelben bei Pitra a. a. O., z. B. ©. 588, 3.27; ©. 608, 3. 5. Über den Übergang der älteren Bedeutung im die jaugere vol. Zonarad a. a. O., p. 2.

2) Die Yiefige Köuigl. Bibliothet beſizt das äthiopiſche Synodikon, in welchem die 71 Verordnungen ber Wpoftel bie erſte Stelle einnehmen, in zwei Dendichriften; dgl. die Beſchteibung derſelben bei Dillmann, Verzeichnis ber abeffinifchen Haudſchriften der Königl. Bibliothet zu Berlin (1878), ©. 15[. 17 Ich Hoffe, gelegentlich au anderem Orte aus denfelben einige Atargiiche Nebenfragen zu erledigen, welche die fragmentarifche Veröffentlichung bei Ludolf offen laßt, wie das Verhältnis der gleichnamigen Verordnung 52 zu ®. 21 u. a. Erwlunſchter noch wäre es freilich, wenn eine auf dieſem Gebiet kon genteierte Kraft die von Wansleib am Ende des 17. Jahrhundrets bereits uaternounnene, aber nicht veröffentlichte Arbeit mit den Mitteln heutiger Lin- guifit und Diſtorit wieder aufnchme and diefe ganze ägnptifdesrabiich-äthio- piſche Kanoulirteratur zu einer überfechtlien und allgemein zugäugliden Dar · ſtellung verarbeitete.

Bemerkungen zur Kompeftion der Elemenstiturgie. [ci

eigenartigen Zufammenjegung, fondern euch in dein Gepräge bes überragenden Alters, durch welches das fo zufammengefete Ganze von jenen unterfchieden iſt. So Menig fiy die Annahme einiger Neueren durchführen läßt, daß dieſes Formular das im zweiten und dritten Jahrhundert in der ganzen Kirche offiziell gebrauchte, nub daß es apoftolifcher Anordnung fer Verſicherungen, für welche zu der monſtroſen Begründung gegriffen werden muß, daß das „jtarre Feſthalten am Überlieferten“ der Grunddarakter des Kultus in den eiften chriſtlichen Jahrhunderten gewefen, und dag judiſche Rituale den Upofteln die Typen für dieſt ausführlichen Kaltusanorduungen geliefert 2): das bleibt beftehen, daß dies liturgiſche Ganze in feinem Richtwiſſen von Monchen, von Par triachen und ähnlichen Characteriſticis des vierten und der folgen⸗ den Jahrhunderte; in feiner völligen Freiheit von Hagiolatrie und Mariolatrie, von befonderen liturgiſchen Ausprägungen der Würde und Ahfonderung des Opferpriefter6 von der Gemeinde, in feiner mar ganz ſporadiſchen Beruhrtheit von Zeichen ber nachnicänifcen Kepftallifation des Dogmas u. a. gegenüber den uns vorliegenden Gejtalten der andern großen alttirchlichen Litungieen gar fehr für fi geht. Und wenn es umleugbar mit derjenigen Geftalt der Liturgie, welche aus den Schriften des Cyrill v. Jeruſalem, des EHrpjoftomus and and dem Briefe des Jatob von Edeſſa über die altſyriſthe Liturgie fich rekonſtruieren läßt, und welche mit der fogenannten Jatobusliturgie nachftverwandt ift, vielfache Mer ruhrungen aufzeigt, fo fehlt doch auch dieſen Analogieen gegenüber es nicht au ſehr charakteriſtiſchen Eigentümlichkeiten. Was aber vom Ganzen gilt, wird immer mehr oder weniger auch vom den Zeilen geften.

Was zunähft die Archtereusſtuckt angeht, die fih ale kompakte Maſſe aus dem Ganzen Herausheben, fo bieten fie in den Eonftitutiven Stüden der Euchariſtie mit Präfation, weuer- psvor, Epitleſe ꝛc. Beſtandtelle, die ihre Anknüpfung fo ſehr im liturgiſchen Gemringut dor alten Kirche haben, daß für ihre Zu⸗ weifung an beftimmte Orts» und Zeitverhältniffe der Entjtchung

1) Probſt, ©. 251. Bidell, Defie und Pula, ©. 28. 37.

48 Kleinert

nur ſehr wenige und wenig fichere Anhaltepunkte ſich ergeben. Während bie übrigen Beziehungen auf bie Heilsgeſchichte im Anaphoragebet die biblifchen Quellen, auf denen fie fußen, überall leicht erfennen Laffen, gilt ein Gleiches nicht von dem merkwürdigen Paſſus über Adam 252, 3f: xedv rgös OAyov avsov xor- ulduc Ögxp sis nalıyyevsctaev Exälscaus, Ögov Iavarov Adcas Lunv SE avaoıdasng drenyysllm. Es liegt nahe, an eine Bezugnahme auf die Bewegung zu denken, melde nad bem Zeugnis des Srenäus (adv. haer. I, 28; II, 28), Hippolyt (Elenchus VIII, 16), Tertullian (de praescript. haer., c. 52) duch die Behauptung Tatians in der Kirche hervorgerufen war, daß Adam ewig verdammt fei. Außer der Zeitlage aber, daß der Vaſſus eheſtens gegen Ende des 2. Jahrhunderts formiert fein kann, wird aus biefer Beziehung nichts Weiteres gefolgert werben können. Wie fon die Namen der Zeugen, bie zugleich Gegner find, beweifen, ift jene Beziehung, wenn fie anerkannt wird, keines⸗ wegs ein Characteriſticum für Entſtehung des Gebets in Syrien, dem Baterlande und auch legten Aufenthalt Tatians; und ganz fiher bat der Paſſus Feine Anknüpfung an die orientalifchen Abamlegenden, die in dem fogenannten Adambuch *) zuſammen⸗ geftellt find; von jenem Ögxos erwähnen biefelben nichts. (her tonnte die eigentümliche Beziehung diefes Buches auf die Kriftliche Euchariſtie (Dillmann, ©. 61), fowie bie bis zum Übermaß ger bäuften Tötungen und Wieberbelebungen Adams in demfelben als ein Zeichen dafür in Anfpruc genommen werden, daß gerade an dem Gebrauch jenes gleichoiel wo geprägten, aber weithin in Ge- braud; genommenen Paſſus in der Abendmahlsliturgie ſich die dichtende Phantafie zur Produktion jener Legenden entzündet Hat. Bon dem, was in Übereinftimmung mit dem Adambud Au» guftin als kirchlichen Gemeinglauben feiner Zeit berichtet, daß Chriſtus den Adam aus der Hölle erföft, weiß die Liturgie noch nichts; fie würde fonft das die Xgsoroü, das fie bei der Schöpfung und bei der Pflanzung des Paradieſes fo forgfam ein»

1) Bgl. dasfelbe in Dillmanns Überfegung aus dem Äthiopiſchen bei Ewald, Jahrbücer V, 1ff.

Bemerkungen zur Rompofition ber Elemensfiturgie. 49

trägt (249, 21; 251, 17) an der vorliegenden Stelle ſicher nicht ausgelafjen haben.

Am eheften Könnte man ſich verfucht fühlen, von dem Gebrauch) der Bezeihnung dgxesgsös für den celebrierenden Biſchof felbft einen Auffhluß zu erwarten. Es ift befannt, daß diefer Schmud- titel des Biſchofs weiterhin in der griechiſchen Liturgie ganz herrſchend geworden ift ). Uber ber Schluß, daß unfere Quelle diefer fpäteren Zeit zuzuweifen, würde ein voreiliger fein. Auch in den älteren Büchern der Konftitutionen begegnet uns bereits diefe Vertauſchung von drtoxomos mit dexssgeds (vgl. 5. B. DL, 20. 25. 57), und der Ausgangspunkt für diefelbe wird in jenen erften Zügen eines nach altteftamentlihen Vorbild gedachten Aufriffes kirchlicher Organifation zu finden fein, welchen der (erfte) Clemensbrief Kap. 41. 42 giebt. Hat auch Lipfins recht, dag an diefer Stelle felbft der dexsegeds noch nicht der Biſchof, fondern Chriſtus ift, fo zeigt doch die Litteratur der nächften Zahr« Hunderte deutlich, daß man ihre Konftruftion weiter ausdentend früh genug den Biſchof in die Stelle des Hohenpriefters einrücken ließ; vgl. namentlich die inftruktive Ausführung Const. app. IL, ©. 54, 5ff. Auch in Rom felbft wird das gefchehen fein; als Überfegung eines dgxsegeus der vorlatinifchen Periode bortiger Kirchenſprache begreift fih am leichteften die Biſchofstitulatur princeps sacerdotum, welde in der lateinifchen zeitig eintritt ®). Iſt es nun zufällig, daß auch fonft unter den im ganzen fpär« lichen Wortbeziefungen zwifchen dem erften Glemensbrief und unferer Liturgie die meiften und gerade die fignififanteften ſich auf die Archiereusſtücke der letzteren Tonzentrieren? gl. Const. app. 246, 30: ürors dv vypmdols zaromdv, dys

4) Bgl. beifpielsweife den Kommentar über die Isla Asırovpyia, den Aug. Mai im Spicilegium Romanum IV, 31ff. als ein Werk des So- phronius don Serufalem abgedrudt hat, im übrigen ohne Zweifel ein ebenfo unechtes Machwerk, wie die angebliche Schrift des Proclus von Kon- ftantinopel zrepl nagadöaswns zig Helas Asırovgylas, mit der man neuerdings wieder bie alte Liturgiegefcichte zu verwirren begonnen hat.

3) gl. Mamachi, Origines et antiquitates christianae (Romae 1762) IV, 295.

eol. Stab. Yahız. 1888. 4

do aleinert

à dyloig dvemavöpeve mit Cl. I, 59, 3: daliorov & Öyloross, dyıov Ev dylois dvanavdusvov; C. a. 251, 6f.: od uövov zov x0onov Sdnmoveynoas dAld zul zov dr. Ionnov Ev adıa dnolmoas xdanov zdonov dvadslkus mit CL I, 33: 6 dnmiovgyos av dnavıav 6 aiguos yols adröv xoounijgac Exden, dabei an beiden Steffen das Citat Gen. 1, 26f.; C. a. 247, 11; 257, 18: BomIods za dveılı- nero mit Cl. I, 59, 4: Bondös zul avsslinewg; C. a. 254, 4 das jefnjanifche Trishagion wie Cl. I, 34, 6. Es wäre ja fhöriht, auf die überlieferte Berkettung, welche die Apoſtoliſchen Konftitutionen im alfgemeinen und unſere Liturgie im befondern mit dem Nomen des Clemens verbindet, einm Schuß bauen zu wollen. Dem wehrt nicht bloß die große Aus dehnung diefer orientafifchen „Clemens“ -Litteratur *), fondern auch die ftarfe Selbftändigkeit gerade des liturgifchen Stüdes Kap. 59 bis 61 im erften Elemensbriefe gegenüber von unſerer Liturgie; und ebenfo der Umſtand, daß immer noch die Frage offen bleibt, inwieweit bei diefer Überpflanzung des Namens Clemens in den Orient eine Verſchmelzung des römiſchen mit dem aleran driniſchen Clemens ftattgefunden Hat *). Immerhin, anf eine bloße Berwechſelung kann diefe Verſchmelzung nicht reduziert werden: dem wehrt ſchon der Umftand, daß gerade bie beiden dem römiſchen Clemens zugeeigneten Briefe neben den 27 Schriften, die auch wir im Kanon des Neuen Teftamentes Haben, bem äthiopiſchen Kanon desfelben einverleibt find ®). Und auf ulle Fälle Tiegt ein rtirchengeſchichtliches Problem in der Überpflanzung ber Namen der Römer Clemens und Hippolytus in bie Altften Monumente, die

4) Bol. Eotelier in ben Noten zu feiner Ausgabe der patres apostolic (Antw. 1698) I, Blbsg. Die dort gegebene Aufzählung ift keineswegs vol- fändig. Es fehlt z. B. die Efemensliturgie der Syrer (bei Renandot II 186 ff.); übrigens ein ſpätes Fabrikat, das mit unferer Liturgie in den Apofor liſchen Konftitutionen nichts zu ſchaffen hat.

9) Die von Probft allegierten Beziehungen zwiſchen unferer Liturgie und dem ngorgenzixös des Elem. Alex. (vgl. beſonders S. 1375.) find der Be achtung wert.

8) Canones aethiopici, can. 56 bei Fell a. a. O., S. M.

Bemerkungen zur Kompoſition ber Elemensfiturgie. 4

wir von ber Lituegiegefchichte der Nillande befigen ; einer Wanderung, welcher fich manche andere Beziehungen gerade zwifchen römifcher und ägyptifcher Kultusgefchichte zur Seite ftellen. Ohne etwa im Vorbeigehen diefes ſchwierige Problem erledigen zu wollen, fei es doc geftattet, als Beitrag zu feiner Löſung etliche Anzeichen zur fammenzuftellen, welche mir bei wiederholter Erwägung immer wieder bie Vermutung nahelegen, baß die Archiereusftiicte der Clemens liturgie mehr einen Niederfchlag altoccidentalifcher als altorientaliſcher Kultusſitte darftellen. Wenn der fachkundige Jakob von Edeſſa (a. a. O. ©. 482) betreffs des Präfationsgebets bemerkt; „mit wenigen Worten“ bejchreibe der Betende die ganze Abficht der göttlichen Gnade; wenn die Vorlage und der üthiopifche Kanon von der Ruckſicht auf die vorchriſtliche Olonomie in diefem Gebet nichts wiffen; wenn anderſeits Juſtin aus Auſchauung des römifchen Kultus von diefem Eingangsftüd der Anaphora berichtet, daß ber Luurg in der Gebetsbarbringung an dieſer Stelle drzi noAd seossizen, daß er bete dan duvanıs adca, fo lehrt ein Kurzer Blick auf umfere Liturgie (A. 5), daß nicht jener, fondern dieſer Eultifchen Sitte hier entſprochen ift. Nicht als ob Juſtin unfer Formular als verlefen voransfegte wie behauptet worden ift —, er ſetzt augenſcheinlich freies Beten voraus; aber was Hier kryſtallifiert ift, veflektiert die freie Gebetspraxis in der Geftalt, wie fie Yuftin beichreibt. Bon der älteften befannten Liturgiegeftalt des fyrifchen Dfteng, die wir in der fogenannten Adäus- und Marisliturgie befigen, unterfcheidet die Archiereusquelle ſich durch den Beſitz der dort fehlenden Yuftitutionsworte beim Heiligen Abendmahl; wiederum von ber altpaläftinenfifchen dur das Fehlen des Vaterunſers, das in der Liturgie -Satechefe des Cyrill eine bedeutende Stelle einnimmt. Anderfeits fehlt ihr ebenfo, wie allen Liturgieen des Weftens der im Orient weit verbreitete Cherubhymnus (od re xegovßiu nvorweög eixovifovies xuA. in Lit. Marci, Jacobi, Chrysostomi, Basilii); und nur mit der mozarabiſchen teilt fie die Präbdizierung Gottes als rarroxgacwg in der Salutation der Anaphora. Ganz im Charakter des für den Weften fo bezeichnenben Kolleltenſtils ift das Archiereusgebet vor dem Briedenstuß (A. 1) gehalten. Mit der Formulierung &vo =0v voöv, wofür Cyrill 4

52 Kleinert

v. Jer., Chryſ. umd die Markusliturgie dvo sas xugdias bieten, fteht der Archiereus faft völlig vereinfamt ?); das für den Oſten weiterhin fo harakteriftijche oröpev xuAwg fehlt Hier gänz: lich. Unter den zahlreichen Berührungen unferer Liturgie mit Kirchenvätern des zweiten und dritten Fahrhunderts, welche Probft zufammengeftelit, betreffen die evidenteften den hippolytiſchen und novatianiſchen Schriftenkreis einerfeits und die Archiereusftücke auf der andern Seite. Züge, die fpezifiich in den Often wiefen, trägt bie Quelle nicht; bie Ehrenftelle, welche fie der Epiklefe zuweiſt, kann als ein folder nicht angefehen werden. Selbft die römifchen Liturgiler erfennen an, daß das Fehlen derfelben im römischen Meßtanon eine Verftümmelung desfelben aus früßerer Bollftändigfeit ift, und find bemüßt, in dem supplices rogamus bdesfelben einen Überreft der früheren Epikleſe aufzweifen. (Bgl. 3. B. Binterim IV, 3, 951.) Auch die Beziehung auf Adam hat, wie wir fahen, ihre ftärkften Anknüpfungen bei den erften Kirchenpätern des Decibents.

Damit fügt fi zufammen, daß gerade den Archiereusftüden ein hohes Alter zuzuſprechen die Gründe die triftigften find. Die dogmengefgichtliche Begründung, welde Drey für das ok Alter der Elemensliturgie gegeben und deren Schwergewicht gerat auf die Archiereusftüdte fällt, weiter auszuführen und zu verftärten würde an diefer Stelle zu weit führen. Es ließen fich fonft Be merkungen häufen, wie die daß die juftinifch = tatianifche Wendung, Gott habe den Sohn BovAjası zal dyascımnı zul duvapeı ge

4) Der Araber der Hippolytlanones, der die griechiſchen Formeln der BPröfationsantiphonie im übrigen ziemlich kenntlich transſtribiert, bietet on dieſer Stelle neben Gſ (Evw) das nonsens (yeal, welches ſicher nicht. al xugdlas hinweiſt. Bol. Hanebergs Ausgabe, ©. 29, 3.7 v. u. Han berg will «8 (S. 65) für eine verftämmelte Transſtription von ayaper halten. Da wäre allerdings eine Berftümmelung aus une z0v voor min deftens ebenfo nahe Tiegend, zumal der Kanon das 7 des griechiſchen Ar titels auch fonft durch So wiedergiebt. Am einfachften aber ſcheint die Ar nahme einer Transpofition für el aurv, fo daß ausgefallenes zus zur Itas zu ergänzen wäre, Mehr Gewicht Hat der Umftand, dafs die Jalobus⸗ liturgie mit ihrem ävo zov voiw xal Tas xapdias auf beide Älteren Gr ſtalten als von ihr vorgefundene zurückweiſt.

Bemerkungen zur Kompofition der Elemensfiturgie. 58

zeugt (249, 18) ſchwerlich noch zu Athanafins’ Zeiten formuliert fein würde (vgl. deſſen Orat. IV contra Arianos); daß ebenfo auf Hohes Alter die emanatiftifche Formel weift, dag aus Gott Ta ndvıe zaddneg Ex zwvog dypsrnglas eis vo elva mag- FAder u. a. m. Die Ausführlichkeit der Gebete, die kaum nennens⸗ werte Beteiligung des Diakonen an denſelben ftimmt mit der Ber ſchreibung Juſtins und ift kein Zeichen von Jugend. So wenig haltbar die Behauptung Hammonds (S. XLIII), daß für das Hohe Alter der Liturgie ſchon ihre Ausftattung mit Apoftelnamen Tpreche, jo richtig ift feine Beobachtung, daß der ältefte Liturgifche Fortſchritt nicht von kurzen Wechjelftüden zu längeren Zufammen- hängen ftattgefunden habe, fondern daß umgekehrt längere Zu- fammenhänge in die Mannigfaltigkeit kürzerer Wechſelſtücke zerlegt worden find (S. XL). Macht in einigen Liturgieen galliſchen und oftfprifchen Urfprungs es unftreitig den Eindruc Hohen Alter- tums, daß dem Opferungsaft des Priefter8 am Altar ein eigener Oblationsalt der Gaben durch die Gemeinde mit liturgifcher Aus- prägung vorangeht, jo wird man doch nicht fagen dürfen, daß die Zufammenziehung beider Akte in unferer Liturgie überall fpäten Datums fei: biefe Weife ftimmt näher zu Zuftin, wie jene andere *). Möchte man auf den erften Blick meinen, die Salutation A. 3 ſei jüngeren Urfprungs, wie die am Eingange der Liturgie V. 2, weil Teßtere die Formel 2 Kor. 13, 13 einfach wiedergiebt, während jene fie trinitarifch nach der Reihenfolge: Vater, Sohn, Geift um—⸗ ordnet, fo legt liturgiegefchichtlihe Erwägung vielmehr die Auf- faffung nahe, daß die Übereinftimmung von V. 3 mit 2 Kor. 13, 13 auf Repriftination beruft, während die Umftellung bes reits früher in Gebraud; genommen war. Denn zu ber letzteren ftelit fi die ältere Yalobusliturgie, zu jener erften die jüngere Baſilius- und Chryfoftomusliturgie. Es wäre ein übereilter Schluß, daraus dag wir die Archiereusſtucke als eingetragen in eine Vorlage erfannt Haben, folgern zu wollen, fie felen ihrer Entftehung nach jünger, als die Vorlage in der Geftalt, mie fie beim Kopten oder im der Nedaktion der griechiſchen recepta vor-

1) Bol. auch Lenciusbei Zahn, Acta Joannis (Erlangen 1880), ©. 242f.

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liegt. Eher möchte anzunehmen fein, bag gerade diefe Stüde ober wenigftens ihr Kern, das Oblationsgebet felbft (A. 6. 7; vgl. V. 10) auch ſchon vom Kopten bei feiner Vorlage gefunden aber abbreviert worden find. Ich wüßte fonft nicht zu erflären, wie er darauf gelommen, gerade Hier den Terminus Loxıegsdc ein zuſetzen ?), während er doch font überall die Bezeichnung Errlexorros wiebergiebt.

Das einzige Stüc, weldes man auf den erften Bli der Archiereusquelle zuzuweiſen geneigt fein möchte, und das doch Spuren füngerer Bildung am fich trägt, ift das große Fürbitten- gebet nah der Opferung, A. 8. Nicht bloß die allgemeinen Gründe, welche der Feftlegung der großen Interceſſion an diefem Platz jüngeres Datum zuweifen, aud nicht bloß das Fehlen feiner Erwähnung beim Kopten und Athiopen beweifen für feinen Charakter als Spätling in der Liturgie. Vielmehr ift auch dies ſchwerlich zufällig, daß die Bezeichnung Chrifti als Buosdleds xal xUgso; ndans von xal aloInjs Yyucsas im Anaphoragebet (249, 22) bier (258, 31) umgefegt ift in Seds nedang eh. (ogl. dagegen VI, 26); daß ebenfo die durch die ganze Liturgie herrſchende Form der Schlußdorologie, daß „mit (und durd) Chriftus Gotte Ehre und Preis fei im heiligen Geifte“ (239, 1 ff.; 24}, 8ff.; 242, 11ff.; 243, 1ff.; 244, 1ff.; 247, 23ff.; 259, 9ff.; 260, 32ff.) Hier umgejegt tft in die dogmatifch Torrektefte: daß

- „Ehre und Preis dem Vater fei und dem Sohne und dem Heiligen Geiſte“ 258, 6ff. Und fo ftimmt auch dur die Nennung der Subbiafonen (257, 7) gerade dies Fürbittengebet mit jenen Ein- fügen der Vorlage zufammen, welche uns oben in die Ausgänge de8 4. Jahrhunderts wiefen. Aber fehon oben ift darauf Hin gewieſen, daß es ohne Eingangsformel trog feines felbftändigen Charakters den Archiereusftücken Außerlich angefügt ift. Sch bin nicht im Zweifel, daß, wenn irgendein größeres Stüd der Liturgie, fo gerade dies der Hand des legten Redaktors zugemiefen werden muß.

Schwieriger noch ftellen fi die Spezialfragen betreffs ber Epiftoposftüde. Denn der einheitliche Charakter, welcher ber

1) Tattam a. a. D, S. 121, 3.80. u.

Bemerkungen zur Kompoſition der Elemensfiturgie. [2

Arciereusftrede mit Ausnahme des angehängten Fürbittengebets anbaftete, fehlt bier. Gefegt, daß eine und bdiefelbe Hand dieſe Stüde redigiert, fo wird man dod anerkennen müffen, daß die felbe mit ihrem eignen Gut, weldes vornehmlich in dem eigen artigen Aufbau der Katechumenenmeſſe (E. 1—4) zu erbliden ift, aud andere, zum Teil fehr alte Beftandteile mehr oder weniger öfumenifchen Charakters verbunden Hat. Zu diefen gehört vorab das Eyım dyloıg wit der zugehörigen Gemeindeantwort: als dyıog xuA,, deſſen weite Verbreitung in der alten Kirche bekannt iſt, deffen Fehlen aber in der Vorlage nicht zufällig fein wird. Denn aud die koptiſche Eyrilfusliturgie hat es nicht. Es muß aller- dings bemerkt werden, daß das eis dysos, weldes bei Cyrill von Zerufalem einfad den Wortlaut: als dysog xugios I. X. hat, Hier in E. 12 bereit durch das zweite eis vor xugsog er» weitert ift, wie ebenfo in den Liturgieen des Jakobus und Ehrufoftos mus. Immerhin hat es noch nicht die trinitarifche Form (unus pater sanctus, unus filius sanctus, unus spiritus sanctus), in welcher es mit der altigrifchen (Adäus und Maris) und der Markusliturgie auch der äthiopifche Paralfeltert bietet. Auch die Beltimmung des Pf. 34 (E. 13) zum Abendmahls - Hymnus ift alter und weiter Erftredung: mit Zertullian, Cyrill v. Jer., Hiero- nymus zeugen dafür die griechiſche und fyrifche Jalobusliturgie, bie mogarabifche und die armenifche. Älteren Datums ift nicht minder das große Fürbittengebet Kap. 6, das diefe Quelle vor der Anaphora bietet, und deſſen Vergleihung mit dem varhin her ſprochenen bei mannichfaltiger Analogie doch unzweifelhaft der Form bei E. das höhere Alter zuweiſt. Hier belegt es feine urfprünglie Stelle. Denn da, vor der Anaphora, hat es wie Juſtin fo bie Meßordnung Const. app. II, 57; ebenda bie ätteften fyrifchen *), ſowie bie altgallifchen Liturgieen, ja wie Neale richtig gefehen Hat, auch die ältefte uns erfichtlihe Form der römischen Liturgie). Sieht doc felbft Prabft (©. 314) ſich

1) Über den ſcheinbaren Widerſpruch Ephraems vgl. Neale a. a. O. I, 822f. Bal. aud) Syn. Laod., can. XIX. Bei Cyrill von Jeruſalem iſt es allerdings ſchon in die Euchariſtiefeier hinübergepflanzt.

3) Reale I, 506f.

56 Kleinert

genötigt, die observationes sacrodotales für die Kirche, für alle Stände, für die Ungläubigen, Keger, Schismatiter, Juden, Lapfı, beren Papft Cöleftin + 432 in feinem Schreiben an die gallifchen Bischöfe gedenft ?), dieſer Stelle im nächſten Anfchluß an bie Katechumenenmeſſe zuzuweifen, wie fehr er fonft bemüht ift, die füngere Sitte der euchariſtiſchen Interceffion als das Urfprünglice zu behaupten. Neben den Dank» und Segenögebeten am Schluß der Liturgie iſt dies Fürbittengebet (E. 6 vgl. V. 40) das einzige, von dem wie bei dem Oblationsgebet A. 6. 7 die Spur eine Vorhandenſeins bereits in der Vorlage des Kopten wahrgenommen werden kann. Vgl. Tattam, ©. 117. 119.

Charakteriftifche Zeichen landſchaftlichen Urfprungs, welchen man Beweisfraft zufprechen könnte, find bei E. noch fpärlicher, als bei A., was mit der eben beſprochenen Berfchiedenartigkeit und dem teilweife öfumenifchen Charakter feiner Beftandteile zufammen: hängt. Ift diefen mit der ägyptifchen Liturgiefamilie die Hervor- ragende Beteifigung des Diakonen an der Liturgie gemeinfam ?), fo anderes nit. Statt der bifhöflichen Salutation der Vorlage (239, 11ff.) und der Archiereusquelle (248, 27ff.) führt unfer | Quelle eine dritte Form ein: 258, 9ff. Es ift die nämlide fürzefte, welche die Markusliturgie gebraudt, welche auch Chry foftomus (Hom. III in ep. ad Col.) als bie allein gebraudte tennt, und ebenfo Theodoret ep. 146°), welcher, dem Sachver⸗ halt entſprechend, die Formel als ökumenifc gültige (dv wracas sais Exxamalars) bezeichnet. Mit feiner Einfügung des Gloria (E. 12) fteht E. unter den überfommenen Liturgieformularen des

1) Bol. Bong a. a. D,, S. 818ff. und dazu die alten Inteinifchen Bor- mulare, welche Bingham VI, 289ff. mitteilt. Ob die merkwürdigen Par rallelen in den Gegenftänden ber Fürbitte und zum Teil aud in der Reihenfolge derfelben, welche gerade unfer Fürbittengebet mit dem Sabbatmorgengebet der Synagoge verbinden, und welche Bickell (Meffe und Paſcha, S. 94ff.) mit großem Nachdruck urgiert, chronologiſch irgendetwas ausmachen fönnen, lafit ich bafingeftellt.

3) Nach den Analogieen E.10 und E.13 (258, 30f.; 260, 7f.) muß auf) bie GebetSaufforderung von A.1 (246, 27 ff.) als Einfag von E gefaßt werben.

%) Opp. Par. 1642, T. II, p. 1082.

Bemerkungen zur Kompofition der Clemensliturgie. 57

Orients, unter denen nur neftorianifche dies Stüc haben, ziemlich verlaffen (vgl. jedoch Ehryfoft.: Hom. III in Coloss.); ebenfo aber trennt ihm dom Decident die Erſcheinung, daß Hier überall Gloria und Hosianna, die er dem Unus sanctus beigiebt, dem jeſaianiſchen Trishagion des Präfationsgebetes zugewieſen find *). Durchaus orientaliſch, und ein ſpezifiſches Characterifticum 3. B. der ſyriſchen Jakobusliturgie ift das jogenannte Katholiken, die dritte Interceſſion, das Fürbittengebet des Diakonen bei der Diftribution E. 9. Kurz, darf etwas gejagt werden, fo wird es dies fein, daß die Zeichen orientalifher, näher alexandriniſcher und ſyriſcher Kirchenfitte in den Epifloposftücden die vorwiegenden find, ohne doch ausſchließend genannt werden zu künnen.

Wenn wir oben eine Reihe älterer Stüde der Epifloposquelle von dem eigentlichen Gut derfelben, der breiten Ausgeftaltung der Katechumenenmeſſe bis zur Entlaffung des Pönitenten, abzuſcheiden Anlaß fanden, fo wird doch auch diefem eigenften Gut der Quelle eine zu fpäte Entſtehung nicht zugefchrieben werden dürfen. Ans geſichts des verhältnismäßig frühen Zuſammenſchrumpfens gerade dieſer Strecke der Liturgie, für welches neben der Geftalt fo ziem⸗ lich aller andern überlieferten Liturgieterte das ausdrückliche Zeug⸗ nis des Jakob vom Edeffa vorliegt, werden wir die Entftehung diefer eigenartigen Formulare von der erften Hochblüte der Kater umenatseinrihtungen im 4. Jahrhundert nicht abrüden dürfen. Bieten doch auch fie neben einzelnen Spuren nachniceniſcher Zur fpigung des dogmatifchen Ausdruckes (f. o. ©. 36) aud andere, die auf die älteren Zeiten dogmatifcher Unbefangenheit in der liturgiſchen Sprache hinweifen. Wenn Lagarde in feiner Ausgabe der SKonftitutionen 240, 28 der Lesart d Tod Magaxkıjrov zrgoßolsus den Vorzug geben zu müffen geglaubt Hat, fo kann fein Zweifel fein, daß Hier die wohlbezeugte Lesart 6 Heds Tod zragaxkrfrov die urfprüngliche ift ?). Sie ift Hier wie das analoge 6 Tod mvenarog zugiog 272, 6, von fpäterer Hand in das

1) Ct. Lit. Ambros. Gallic. Mozarab. hei Hammond, ©. 324f.; fowie den canon Gregorianus des ottoboniſchen oder bei Muratori Opp. XII, 2. p. 491.

2) gl. auch Pitra 1. c., p. 894, nota n.

ss aleinert

dehnbare rrgoßoAsds abgeändert worden, um der Liturgie Den Vorwurf des inzwifchen awfgetretenen Macedonienismus zu er- fparen. Der dominierende chronologiſche Typus der Liturgie, ein im Laufe des 4. Jahrhunderts gebuchter Niederfchlag alther⸗ gebrachter und gleichzeitiger Kirchenfitte zu fein, wird durch Die Epiftoposquelle nicht alteriert. Es fheint fogar angezeigt, noch einen Schritt weiter gehen und fagen zu dürfen, daß man in dem Schriftfteller, der die Epiſtoposſtücke teils ans altem Kirchen- gebraud) zufammengeftelft teils men kompouiert Hat, zugleich den | Redaktor zu erblicen haben wird, der dem Ganzen der Liturgie die entfcheidende Geftalt gegeben, welche nachgehends nur noch durch die Kakoplaftie der apoſtoliſchen Aufträge und einige andre Ein- fügungen bereichert worden ift. Betrachten wir nämlich dies Ganze, wie es vorliegt, fo trägt es bei aller Anerkenntnis, daß die | einzelnen Stücke und auch größere Zufammenhänge innerhalb ded« felben nicht willkürlich gemacht, fondern lirchlichem Gebrauch ent« nommen bzw. nachgebildet find, doch deutlich den Charakter der literarischen Kompilation. Es muß troß alledem, was neuer- dings dagegen vorgebracht worden, bei dem Ausſpruch Neales (I, 319) fein Bewenden behalten, daß diefe Liturgie ald Ganzes never was used by any church. Insbeſondere muß jeden Lefer bie Inkongruenz der Präffufionsformeln ſtoßen, welche gliedernd ins Ganze eintreten, und die, als ausgeführt gedacht, liturgiſchen Widerfinn enthalten würden. Es werden präffudiert nad) der Predigt die dxgodusvos und drnıoros 239, 18; nad dem Pönitenten- gebet alſo nachdem Katechumenen, Energumenen, Photizome- nen, Pönitenten ausbrüdtich entlaffen find die ur) duvaneor | 299, 27; vor der Anaphora nochmals die dxgoniusvor, zum xodwevor, Örsocos, unb außer ihnen die &rsgddo&os 248, 11. Zufommengehalten aber mit dem, was wir oben (S. 40) über das architeltoniſche Prinzip der Epifloposquelle zu bemerken fanden, ſcheint die Wahrnehmung beachtenswert, daß durch diefe wunder lichen Wiederholungen dem Ganzen der nämliche Schematismus der Vierzahl aufgeprägt ift, den jene Quelle im einzelnen mit Vorliebe herftellt. Das Ganze zerfällt durch diefe Ausſchließungs⸗ formeln in vier getrennte Strecken: Schriftlefung mit Predigt;

Bernertungen zur Kompoſition der Elemensliturgie.

Gebetsteil für den weiteren Gemeinbefreis; Gebetsteil für die Gläubigen; Euchariſtie. Um der ſymmetriſchen Architektonik willen bat der Komponent die Tautologie der fcheidenden Formeln nicht geſcheut, welche bei jeder Ausführung fofort Täftig fühlbar werden mußte. Er kennzeichnet ſich dadurch nicht als Praktiker, fondern als Schriftfteller; und am wahrfcheinlichften doch als den nämlichen, der mit der derfelben Architektonit in ber Epifloposquelle entgegen- tritt. Wird doch auch das micht zufällig fein, daß gerade ber Zuwachs diefer Quelle es ift, welcher die Zahl der Salutationen in der Liturgie auf vier gebracht hat, indem er zu den den Gotted- dienft felbft und bie Euchariftiefeier einleitenden (V. 2; A. 3) die beiden vor dem Friedenskuß und nach der Konſekration (E 7; E. 9) hinzufügt. 239, 11; 247, 25; 248, 27; 258, 9.

Daß diefer Redaktor die Archiereusſtücke bereits in derjenigen Geftalt der Vorlage vorfand, die er feinem Bau zugrunde Legte, möchte ich außer dem bereits vorhin dafür Angeführten auch daraus fchliegen, daß ihm dieſe Stucke bereits als ein noli me tangere galten. So wird ſich's doch wohl am einfachften erklären, daß er das Gloria und Hosianna, welche Stücke überall, wo fie erſcheinen, dem jefaianifchen Trishagion der Präfatton angefügt find, Hier erft dem von ihm eingefügten unus sanctus beigefügt bat. Ob freilich diefer Redaktor zugleich ber des achten Buchs der Konftitutionen gewefen, das möchte ich nicht entſcheiden. Nach dem, was oben über die Inſertion der Mpoftelaufträge (S. 35), über die Differenz zwiſchen VIII, 11 und VII, 21 (©. 43), über die nachträgliche Beigabe des Fürbittengebets nach der Konſe⸗ fration zu bemerfen war (©. 54), wird in dem Schlußrebaftor des achten Buchs, auf den diefe Nachträge zurüdzuführen fein werden, eine fpätere Hand erblickt werden müffen.

60 Schultz 3. Religion und Sittlichleit in ihrem Verhältnis zu einander.

Religionsgefhihtlid unterſucht

von

Hermann schultz

in Göttingen.

1. Religion und Sittlichkeit find fir jedes unbefangene Mit: glied der chriſtlichen Gemeinde ungertrennlich verbundene Begriffe. In allen chriſtlichen Parteien ift man darüber einverftanden, daf niemand religiö® genannt werden Tann, der fein Leben nicht auf unter fefte fittliche Grundfäge ftellt, und daß es feine wahre Sittlichkeit giebt, welche nicht auf religiöfem Boden wädft. ie ſchon die altteftamentliche Urkunde „vor Gott wandeln“ und „rechtſchaffen fein“ als Einheit zufammenfaßt, fo bezeichnet unfer deutſcher Sprachgebraudy mit dem Worte „Fromm“, weldes auf ſittlichem Boden gewachſen ift, gerade die refigidfe Bethätigung. Aber bdiefer Zufammenhang ift weder zu allen Zeiten anerkannt gewefen, noch herrſcht in der Theologie und Philofophie der Gegenwart Übereinftimmung über die Thatſache und ihre Trap weite. Ich brauche nur an bie Urteile zu erinnern, melde Schleiermacher, Kant und Fichte über das Verhältnis beider Br griffe ausgefproden haben, oder auf den Gegenfag Binzumeifen, in weldem fih Strauß und v. Hartmann in diefem Punkte ber finden, um fofort den ganzen Umfang der Streitfrage ins Gr dächtnis zu rufen. Und von welcher einſchneidenden Wichtigkeit die Frage für die religiöfen Gegenfäge der Gegenwart ift, das zeigen die beiden trefflichen neueften —— derſelben in größerem Zuſammenhange *).

1) Raftan, Das Wefen der chriſtlichen Religion (1881), Vorzüge ©. 124f., und „Der chriſtliche Glaube und die menſchliche Freißeit” (Gothe Feledr. Andr. Perthes, 1880).

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 6

Ich beabfichtige die Frage rein vom religionsgefchichtlichen Standpunkte zu behandeln, fowie mich auch Unterfuchungen religions⸗ geſchichtlicher Art allein auf diefelbe geführt haben. Ich will ohne jeden aprioriftifchen philofophifchen Verſuch einfach barftellen, wie fich im Laufe der religiöjen Entwidelungsgefchichte der Menfchheit Religion und Sittlichfeit zu einander verhalten Haben. Wenn ſich dabei die im Chriftentum hervortretende Stellung beider zu einander auch als die in fi vollkommene ergiebt, fo wird damit zugleich ein Beitrag zur Apologie des Ehriftentums geliefert fein.

Ich Habe der eigentlichen Aufgabe nur wenige Bemerkungen vorauszuſchicken, teil® um meinen Sprachgebraud zu erläutern, teils um möglichen Mißverftändnifien vorzubeugen. Sittlich nenne ich nur dasjenige Handeln, welches fi auf das Gemein- ſchaftsleben der Menfchen bezieht und in ihm begründet ift. Sitten⸗ gefeg nenne ich die Gefamtheit der diefes Handeln beftimmenden Normen, fittlihe Güter die aus dem genannten Handeln her- vorgehenbden Geftaltungen des menschlichen Zufammenlebens, fitt« lie Zugenden die erworbenen Sertigfeiten zum fittlichen Handeln, und fittlihe Pflichten die Aufgaben, welche aus dem Sittengefege für den Menfchen Hervorgehen. Innerhalb der fittlichen Pflichten Heben fih die Rechtspflichten als diejenigen Aufgaben Heraus, deren Erfüllung die organifierte Gefellfchaft von dem Einzelnen eventuell durch Gewalt erzwingt. Dagegen nenne ih religiöfes Handeln alle Bethätigungen, welde unmittele bar aus dem Verhältniſſe zur Gottheit folgen und dasfelbe zum Zwede haben.

Daraus ergiebt ſich der Begriff der religtöfen Tugenden und Pflichten von felbft. Ebenſo ift klar, daß unter Umftän- den auch die veligiöfe Pflicht Aechtöpfliht fein Tann. Man ann natürlich das religiöfe und das fittliche Handeln, wie es Rothe und in Anlehnung an ihn Kaftan thun, unter einen gemein. famen Artbegriff zufammenfaffen, indem man etwa fittlihes und moralifches Handeln von einander unterſcheidet. Aber der Verlauf der Unterſuchung wird zeigen, warum das bei einer geſchicht⸗ lich en Behandlung diefer Frage nicht möglich ift, ganz abgefehen davon, daß es mir überhaupt bedenklich erfcheint, Worte wie fitt-

® Säulg

lich, moralifh und ethiſch, die an ſich ganz gleichbedeutend find, willkurlich in verſchiedenem Siane zu gebrauchen.

Wenn ich ferner bie Raturreligionen, ſowohl die elementaren als die zur Kulturftufe erhobenen, den Prophetenveligionen gegen- überftelle, fo will ich mit dem Worte „Propetenreligionen“ nichts weiter ausfagen, al8 daß biefelben aus religidfer Genialität, nicht aus phifofophifchen, priefterlihen, ftaatsmännifchen oder dichterifchen Tendenzen entfprungen find, und daß fie demzufolge nicht bloße Entwidelungen der ihnen zugrunde liegenden Naturreligionen, fondern Reformationen berjelben find, geboren aus der Kraft der religiöfen Überzeugung von der ſchlechthin übermeltlihen Art des göttlichen Lebens.

Endlich will ich mit der Reihenfolge, in der ich die Religionen behandle, keineswegs behaupten, daß die niebrigfte Stufe, mit der ich beginne, wirklich ber gefchichtliche Anfang aller menſchlichen Religion gewefen fei. Zu einer ſolchen Behauptung fehlt es an genügenden Beweismitteln. Und wenn es einerſeits innerlich wahr. ſcheinlich erſcheinen muß, daß die geiftige Entwidelung der natür⸗ lichen Menfchheit auch auf dem religiöfen Gebiete von unten bes gonnen hat, jo zeigt uns anderfeits die uns zugängliche Geſchichte edlerer Stämme, 3. B. der Inder und Ägypter, in den aller- fernften Urzeiten eine verhältnismäßig fehr Hohe religiöfe Stufe, die ſogar gegenüber der fpäteren Entwickelung etwas Ideales Hat. Alſo kann man die Möglichkeit nicht beftreiten, daß die Religion bei eimzelnen Völkern nicht auf der unterften Stufe begonnen habe. Ich behaupte nur, daß die Religion der „Naturgeifter“ ‚die niedrigfte uns gefehichtlich befannte iſt und nehme fie deshalb zum Aus⸗ gangspunfte der Unterfuchung. Dabei habe ich nie nad) der that⸗ ſachlichen Sittlicfeit in den Völkern zu fragen, fondern nur nad der prinzipiell bei ihnen geltenden. Wir dürfen den Islam fo wenig nad ben türkiſchen Effendis beurteilen, wie den Buddhis⸗ mus nach den chineſiſchen Buddhiſten, ober das Chriftentum nach abeſſiniſchen Zuftänden.

2. Die Religion iſt, wie Kaftan religionsgeſchichtlich ganz richtig hervorgehoben Hat, ihrem Weſen nad eine praktiſche Angelegenheit des menfchlichen Geiſtes. Sie ruht auf der Stellung zur Welt,

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. [1

die wir als lebendige Wefen mit den in uns wirkenden Intereſſen

nehmen; darum ift veligtöfe Erfenntmis niemals aus dem Triebe '

zu theoretifcher Erkenntnis des Überſinnlichen entftanden (Meta- phyfil), fondern ans der Empfindung von Wirkungen des Gött- lien auf unfer perfönliches Leben (Glauben, Heilserfenntnis). Und zwar handelt es fi in der Religion zunächft nicht um das Gute, fondern um Güter, nit um volffommenes, fittliches Leben, fondern um Leben überhaupt. Das Verlangen nad) Seligkeit, Sicherheit und Leben, für welches die eigene Macht des Menfchen innerhalb der weltlichen Verhältniſſe feine Befriedigung bietet, fucht feine Erfüllung durch eine Höhere, das weltliche Leben beeinfiußende Macht Hinter der Welt. Alle Religion ift urſprüng⸗ lich das Verlangen nad diefer Sicherung und Beſeligung bes perjönlichen Lebens, mag ſich dasſelbe num auf die einzelnen Hoffnungen und Befürdtungen des täglichen Lebens richten, oder anf das eine Gut, in welchem alles befchloffen iſt. Ym Anfange ſucht die Religion felbftfüchtig einzelne weltliche Güter und ſucht weltlichen Übeln vorzubeugen. Am Ende fucht fie in völliger Hin⸗ gabe an Gott das ewige Leben, in welchem die Freiheit und bie Herrſchaft über die Welt beſchloſſen Tiegen.

Die niedrigfte Stufe menſchlicher Neligion tritt uns im der Verehrung der elementaren Naturgeifter entgegen). Sie ft die ältefte Religion der turaniſchen Völker gewefen, in deren verfprengten Reften fie noch jegt ein Schattendaſein führt. Aber nicht wefentlich verfchiebener Art ift die Religion vieler afri« Tanifcher Völler, der Sübfee-Infulaner und ber roheren Indianer-

1) Bol. zu dem Folgenden ©. Klemm, Mllgemeine Kulturgeſchichte der Menſchheit (1844), Bd. II, ©. 74ff. 151. 208. 808ff.; Bo. II, ©. 64ff. 126. 194ff. Sb4ff.; Bd. IV, ©. 298ff. 861ff. John Lubbock, The origin of civilisation, Ed. 2 (1870), C. 1, 3—7. €. Tylor, Anfänge der Kultur, überf. von Spengel und Poste (1873), Bd. I, c. 8. 4, Bd. DO, c. 18. 15. 18. 19. Fritz Schulge, Fetiihiemms (1871), c. 2.4. ©. Rostoff, Das Religionsweien der roheften Naturvölfer (1870), bie Reife- berichte von F. Wrangel über Nordfibirien, Ad. Baſtiau über San Eal- vador, Wilfon, „Weſtafrika, feine Geſchichte, Zuſtände und Ausfichten” (Lon- don 1856), vorzüglich aber die Anthropologie der Naturvöller von Theodor Wait (Leipzig 1860), TI. I-IV.

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Stämme. Und es iſt gewiß richtig, mit Waig !) auch die ſo⸗ genannte Fetifchrefigion Hieher zu rechnen. Denn der Fetiſch ift wie das Amulet nur ein Gegenftand, an welchen die Wirkung der Naturgeifter gebunden gedacht wird. Auf diefer Religionsftufe er feinen die einzelnen Naturdinge, welche fürdernd oder Hemmend in das menſchliche Leben eingreifen, von geiftigen Mächten belebt, die der Menſch keineswegs ſchlechthin überfinnlich denkt (auch der Geift erſcheint nur als fublimierte Subftanz), aber doch als feinen Simmen nicht wahrnehmbar. Er fühlt fi nicht von einer einheit- lichen Ordnung der Welt bedingt, fondern von einzelnen, willlür⸗ lichen und rätfelpaften Kräften derfelben, gegen welche er of mãchtig ift, die er aber weder verfteht, nod) liebt. Der Charaltır der Frömmigkeit ift ſchlechte Furcht und Aberglaube. Hier gilt das Wort: Timor et ignorantia fecerunt Deos. Die Götter erſcheinen perſönlich, wie alles Wirkende, aber gleich den einzelnen Äußerungen des Naturlebens launiſch, willkürlich, unbe rechenbar, fpufgaft und grauenhaft, ohne Individualität und fit: lichen Charakter. Eine innere Beziehung zu ihnen ift unmöglid; denn die Natur ift nur im ihrer einheitlichen Ordnung, nicht in ihren Einzeläußerungen, dem inneren Vernunftleben des Menfchen verwandt. Das religiöfe Streben geht weſentlich in Zauberei auf, das heißt in der Bemühung, durch geheimnisvolle Handlungen dit üblen Wirkungen ber Geifter unfhädlih zu machen und ife Macht in den Dienft der eigenen Intereſſen zu zwingen.

In biefen Religionen geht noch gar feine Sittlichkeit unmitte- bar aus den religiöfen Motiven hervor. Wohl aber entfteht ſchen auf diefer niederen Stufe der Gefittung eine elementare Form di fittlichen Gefeges mit Notwendigkeit aus den Bedurfniſſen de gefelligen Zufammenfebens. Wenn der Menfh überhaupt mit feinesgleihen zufammenfeben will, wenn er gefelligen Genf, Sicherheit des Eigentums und der Familie erftrebt, alfo nicht mehr | bloß auf die rohe Gewalt fih ftügen kann, und nicht auf alle | Gemeinfchaftsleben verzichten will, fo entfteht notwendig eine Br ſchränkung der freien Bethätigung der finnlichen und felbftfüchtigen

2) a. a. ©. I, 862 ff.; I, 1675.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. &

Neigungen der Einzelnen durch beftimmte große Regeln, auf welche die Geſellſchaft fih gründet, und in welchen zunächft Rechte» und Sittengefeg noch in völliger Einheit erfcheinen. So iſt es nicht fowohl der Egoismus der gleichfam perfonifiziert wirkenden Ge» ſellſchaft, welcher den Egoismus des Einzelnen bändigt (v. Jhe⸗ ring, Zwei im Recht, Bd. IT), fondern der dem Menfchen innewohnende Trieb nach Gemeinſchaft, d. 5. die elementare, ich möchte fagen noch rein antmalifche, Grundform der Liebe, welche, als Naturtrieb beginnend, in einem perjönlichen Bernunftwefen notwendig zum fittlichen Triebe wird und zur höcjften perfünlichen Liebe (dem Suchen nach Gemeinſchaft im höchſten Zwede) Hinftrebt. Darum ift die Liebe das fittliche Prinzip felbft; denn fie ift allein Gemeinſchaft ftiftend und Gemeinschaft erhaltend. Und darum liegt in aller fittlichen Gemeinſchaft als folder trog aller Sünde und Verderbnis immer ein an fi Gutes und die Richtung zum ſchlechthin Guten (vgl. Genefis 2, 18. Röm. 13. 1 Petr. 2,13 x.).

Die Sittlichkeit erfcheint zunächft keineswegs als etwas alle Menfchen in ihren Beziehungen zu einander gleihmäßig Verpflichtens des; fondern das Handeln der Menfchen wird nur unter beftimmten gefelfcgaftlihen Bedingungen geordnet. Wie man fih dem Fremden gegenüber verhalten fol, kommt zunächft nicht in Frage. „Hilfreich, treu ihrem Wort, wahrhaftig und ehrlich, find die Neger gewöhnlich nur den Ihrigen gegenüber" (Waig II, 217 u. 219). Ebenſo üben die Nutlas, gutmütig unter einander, an Kriegsgefangenen Rannibalismns (II, 333). Wie der Mann in der Familie feinen Willen geltend macht, wie er dem nicht Gleich⸗ berechtigten, 3. B. bem Sklaven, entgegentritt, dieſe und taufend ähnliche Fragen werden zunächſt gar nicht in das fittliche Gebiet aufgenommen. Auf den Südfee-Infeln z. B. galt Schamlofigkeit und geſchlechtliche Ausſchweifung ſchlechthin für ſittlich indifferent Gaitz I, 178 und 858); Kindesmord und Abortus galten als geftattet (a. a. O. ©. 170ff. 182. 352, vgl. 124); Lug und Trug erfchienen abgefehen von Vertragsverhäftnifien ganz ſelbſtver⸗ ftändlih (S. 353). Die Polygamie herrſcht überall auf diefer Stufe und das Weib wird als Eigentum des Mannes angeſchen. Für

Tpeol. Etsb. Sahrz. 1888.

% Schultz

ig allen iſt auch bie eheliche Trexe des Meibes von Intereſſe (vgl. Wais IL, 114ff, 118. 388). So iſt es überall auf den ichrigften Stufen der Geſellſcheft (Waig IL, 108ff. 194, 388ff 114 ff.; II], 106. 309). Dagegen gelten üherall als die Küchften Tugpuden Tapferkeit und Freigebigkeit (Miaig II, 163; IL, 159) Brigkeit wird Bei den Mjehanth mit dem Tode beſtraft als di Grundbedinguvgen bey Gichenbeit und bed Wohlſeins der Geſell hof. Die Hendiungen. welche dem Geweinweſen Ehre un Vortell hringen, Ceſcheinen als fittlich, die, melde feinen elta | bedrohen ader ſchwäachen, alg unfittlich, fa. Bertragebruch Untrxeue im Wumdennerhäftniffe, Feigheit, Unerduung. Ms die Brundiagen der Gemeinſchaft werden Eigentum, Ehe, Sicherhen dar Perſon angeſchen (Waitz ILL, 129), und zmar gilt die Gider | Gel bes Gigeniums weiprünglig weht, als hie deq Lebeng. Die: fast wird Härter beftraft ala Mord (Waitz IT, 109. 397).

Sa ift nicht unſere Aufaabe, auf die Entwichlung der fül lichen Ideen durch die Fortbildung der gefellfchaftlichen Bepürfnik und Gewehnhaiten bier einzugehen. Nux das muß bemerkt worden, daß dieſ Gntwirtetung thotfachlich van eine Menge her verſchieden fien Bedingungen heſtinmt iſt: Dan der Naturenlage eines Volles, dem Klima und der Art ſeines Landen, des Beſchäftigung wid Neigung, dar Einfachheit und Verfeinesung Und daß thatſächlich dig fittlche rtwickelung Ara Einzelnen und ganzer Kreiſe non den in, ihnen hewußt vorhaudenen Grade der Religioſitat durchaus unab⸗ Gängig fein Yang, laßt ſich wicht hezweifeln. Unter den modernen Unslauhigen gieht es Menſchen vom fahr entwidelter Sittlichlei und bie ſittlichen Zußindg in dem Rom des Cincinatas u Scipiq waren zmeifehlgs in vielen Ruckſichten heſſer als in dem Lonſtantinohel der. rechtalaubigen Kaiſer oben im dem modernt Roria und Petenahurg. Aher wir haben es ice mit dem tft: ſachlichen Zuſtande her Sittlichteit, fonheam mit dem prinzipiellen Verholtniſſe non Religien und Sittlichteit zu thun.

Dis den Auerkennung fittbcher Regtln beginnt guch dag, mad char, ſpatere refletgerende Zeit das „Tittliche Gewiſſen“ mean, und es entwickelt ſich mit der Entwidelung des ſitzlichen Gemehh⸗ bemaßtſeins. Den Menſch fuhlt fh inrerlich game, ſih

Religion und Sitlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 67

felber nad den ringe um ihn als feitftehend geltenden Normen der Gefellfgaft zu beurteilen. Er findet es nicht bloß gerecht, wenn die Gefellfchaft ihrerfeits ihn nach denfelben richtet, fondern er kann nicht/ umhin, fi von dem Ideale, weldes in feiner Ge- ſellſchaft Lebt, innerlich felbft richten zu laſſen, mit derfelben in der Weife eines Naturtriebs fich aufdrängenden unmittelbaren Ge- wißheit, wie fie den Urteilen über Luft und Unluft, angenehm und unangenehm innewohnt. Aber diefes fittliche Gewiſſen greift nicht über die vorher geſchilderten Schranken hinaus. Es ift im Grunde nur eine Beugung des inneren Lebens unter die Autorität der Gefellfchaft, d. h. der öffentlichen, fittlihen Meinung. Und nur infofeen das Gemeinfchaftsleben als foldes auf das Gute gerichtet fein muß, hat das Gewiſſen neben feinen wandelbaren, mit der fozialen Entwickelungsſtufe zufammenhängenden Normen auch wirklich unvergängliche Mafftäbe des Guten und Rechten in fig.

Auf diefer Stufe der Religion geht von ber Religion jelbft zunädft noch gar fein unmittelbarer Einfluß auf die Sittlichkeit ans. Gelbft von den Indianern, in deren Religion ſich doch diel- fach Höhere Elemente einmifchen, fagt Waig IH, 161: „Die Vorftellung, daß die Forderungen der Moral zugleich folde der Religion fein, oder daß der Wille des großen und guten Geiftes felbft ihre Erfüllung verlange, jcheint dem Indianer, wenn auch nicht völlig fremd geblieben, doch nicht zur Klarheit gekommen zu fein.“ Sind doch fogar ſolche fittliche Gebiete, wie die Che, Häufig gänzlich ohne religiöfe Beeinflugung (a. a. DO. S. 105). In viel entjchiebenerer Weiſe aber tritt da8 im Schamanentum hervor. Die Naturgeifter haben ja feinerlei Zufemmenhang mit den Ges fegen des menſchlichen Zufammenlebens, „Ordnung und Sitte kennen fie nit“. Die einzelnen Außerungen des Naturlebens, die fchäblichen wie die mohlthätigen, treten dem Menfchen ale ſchlechthin willlürlich, ſchrankenlos und zufällig entgegen. Wer alfo die Ordnungen der menſchlichen Gefellfchaft verlegt, der ſetzt ſich dadurch nicht in Widerfprud mit dem Willen der Götter. Er begeht ein Verbrechen, aber nicht eine Sünde.

Dagegen erzeugt die Religion auch auf diefer Stufe notwendig

B*

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eine Menge von Handlungen, die wir als religiöſes Handeln aufammenfaffen. Wäre freilich die Meligion eine Summe von metaphyſiſchen Anfichten, fo wäre nicht einzufehen, wie fie zum Handeln treiben könnte. Alle Verſuche, vom Standpunkt vatione- liſtiſcher oder philofophifcher Metaphyſik aus einen lebendigen Kultus im Dienfte ſittlicher Geſellſchaftsintereſſen zu geftalten, haben von der inefifchen Religion und den ftoifchen Reſtaurations ⸗Verſuchen an, bis zu den Mäglich geſcheiterten Nultuserperimenten ber fran⸗ zoſiſchen Aevolution notwendig mißlingen müfjen). Aber die Religion als praktifche Thätigkeit unferes Geiftes und im Gefühle wurzelnd, muß ein Wollen und Handeln produzieren. Wo wirt lich Religion und nicht bloß ihre Phantafle-Nahahmung ift, da entfteht notwendig das Beſtreben, ſich des begehrten religibſen Gutes handelnd zu verſichern. Und mie das Gefühl in feinen Äußerungen, fo beobachtet man jebe Religion zunächft in ihrem Kultus. Auf der unterften Stufe der Religion find die Beweg gründe zu diefem Handeln lediglich Furcht und Eigennutz Man möchte fih vor ſchädlichen Machtwirkungen der Gottheit fügen und ihre geheimnisvolle Macht dem eignen Nuten dienft bar maden. So ift der Kultus im meiteften Sinne des Wortes zunächft keineswegs Selbftzwedt, am menigften ein darſtellendes Handeln, welches mit innerer Notwendigkeit ber religiöfen Stimmung Ausdrud geben fol. Er ift wirkjames Handeln, Mittel zum feloftfüchtigen Zwede. Das religidfe Handeln erfcheint in den 3 Formen des Opfers, der Asfefe (mit Einfchluß des Gebets) und des Mofteriums (Zauberei). Man vermeidet was, wie man meint, den Naturneigungen und Saunen ber Gottheit zuwiderläuft (vgl. Speifegebote, Neinigkeitsvorfchriften). Man giebt ihr, was ihrer Genußſucht und Ehrliebe ſchmeichelhaft fein fol. Man demütigt fi und Legt ſich der Gottheit zu Ehren Schmerz und Entbehrung auf, um der Eitelkeit und dem Wachtgefühle des Gottes zu

4) Die wunderlichen neueften Träume im diefer Beziehung vgl. bi Auguste Comte, Systöme de politique positive, ou trait& de s- eiologie, instituant la religion de P’humanit6, 4 Bbe., Paris 1851 bie 1854. (Bgl. Bünjer in Jahrbb. für protefl. Theologie 1882, ©. 3.)

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 6o

ſchmeicheln. Man naht ihm wie der Sklave feinem Furſten, der nicht zu ihm aufblicen, nicht ohne Dolmetfcher mit ihm reden darf (Waig I, 128). Und man verfuct durch zauberifche Sprüde und Formeln, dur Efftafe und durch Eingehen in bie rätfelhaften Zuftände des Naturlebens in eine geheimnisvolle &e« meinſchaft mit den Göttern zu gelangen und fie dadurch dem eigenen Willen dienftbar zu machen. Befonders intereffant ift in diefer Beziehung ba8 Erwerben des Schutzgeiftes durch den „Lebenstraum“ bei manden Indianern (Waig II, 118. 206).

Diefes ganze Handeln erſcheint in gewiſſem Sinne dem fitt- lichen analog. Es wird mit wenigſtens ebenfo großer Energie als Pflicht empfunden. Und wer diefer Pflicht nicht genügt, fühlt fi) mit derfelben Notwendigkeit gerichtet, wie der Übertreter der fittlihen Ordnungen. So bildet fi ein religiöfes Gewiffen neben dem fittlichen. Aber mas diefes Gewiſſen verurteilt, das ift nicht mehr Verbrechen, fondern Sünde (Verlegung ber Forderungen der Gottheit), und fteht im Widerfpruche, nicht mit der Sittlichkeit, fondern mit der Heiligkeit. Auch diejes religtöfe Handeln erfcheint von der Rechtspflicht mit umfchloffen. Denn da8 Intereſſe der Geſellſchaft fordert ebenfo gebieteriich, daß man keinen Götterzorn auf fie herabziche, als dag man ihre eignen Ordnungen achte. So tritt uns zunächſt die Gefamtheit der Pflicht als Rechtspflicht entgegen, welche religiöfe und fittliche Pflicht gleichmäßig umfaßt.

An ſich aber iſt das religiöfe Handeln vom fittlichen voll» ftändig verfchieden. Es erſtreckt fich großenteils auf Gebiete, welche rein dem Naturleben angehören, alfo fittfih ganz indifferent find. Ya, es Tann etwas, was fittlih als verwerflih erkannt wird, zugleich veligid® gefordert erfcheinen, und in biefem alle wird ber fittlihe Anfprud dem religiöfen weichen. Denn die Gottheit erſcheint als die ftärkere und gefährlichere Macht. Sitt- liche Abfichten aber werden der Gottheit, weil fie als reine Naturmacht von geſellſchaftlichen Banden nicht gehalten wird, über⸗ haupt nicht zugetraut und am ihre Anſpruche wird ein fittlicher Moßftab nicht gelegt. So kann die Religion das fittliche Handeln aud geradezu forrumpieren. Und fie muß jedenfalls die vechte

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Auffaſſung der Sittlichkeit verdunkeln, weil ſittlich Gleichgültiges ebenſo entſchieden als Pflicht auftritt, wie das ſittlich Wertvolle. So wirken die Religionen der Naturvölker, wie Waitz ganz richtig fogt (I, 456 ff.) nicht als Kufturmittel, fondern fe Tähmen den Antrieb zum Denken und zur Anſtrengung. Es mag genügen, auf einzelne Hervorftechende Beifpiele für diefe Behauptungen Hin- zumeifen. Bei dem Schlangenfulte in Wida wird Unfittlichkeit, welche fonft verwerflich erfcheint, kultifch gefordert, und der Kultus fordert das Menfchenopfer in großer Ausdehnung (Waig II, 180. 192ff. 197f. 202Ff.; vgl. IH, 207). Der Kamtſchadale wagt aus Furcht vor den Göttern nicht, einen Ertrinfenden zu retten (Tylor, Bd. 1, 109). Das religiöfe Handeln bei Negern, Turaniern und Indianern ruht wefentlih auf Zauberei, ſchweren Selbftpeinigungen und Büßungen, feltfamen QTänzen und Feſten, fowie Opfergaben aller Art (Waig II, 200—13. 188ff. 196ff.; I, 4595f.). Tätowieren und Bejchneidung find Weihen an die Gottheit (Waiy II, 438). Der Kamtfchadale hat ein böfes Gewiffen, wenn er eine Kohle mit dem Meſſer auffpießt, der Mongofe, wenn er Eifen ins Feuer Legt, oder ſich auf eine Pritfche lehnt ?). Das Martern der SKriegsgefangenen, fowie das Eſſen von Menfchenfleifch, erjcheint durchſchnittlich religibs bedingt. (®aig II, 156ff; V*, 189; IV, 309). Daneben mag darauf Hingewiefen werben, daß die unzählbaren abergläubifchen Gebräuche, die ſich mit unvertilgbarer Kraft auch in den europäiſchen Kultur— vöffern bis auf unfere Tage erhalten Haben, die Auszeichnung ber ftimmter Tage, Farben und Speifen, die Befhwörungsformeln und alles, was dahin gehört, deutlich zeigen, wie wenig das religiöſe Handeln urfprünglid mit dem fittlichen zu thun Hatte. Der Zauberer ift bei ben Völkern der Naturgeifterreligionen nur ein Gegenftand ber Furt und des Grauens, wie der Hexenmeifter des Mittelalters, niemals gilt er als eine fittlich Hochftehende Perſonlichkeit ). Ya die Götter felbft erſcheinen ebenfo oft als „böfe“, wie als gute Götter ).

1) Klemm I, 328.

3) Waitz I, 188Ff. 106ff. 412ff.

3) Bait I, 487.

Aeligion uud Gittlichteit in rein Verhältnis zu einander. a

Einen unmittelbaren Zuſammenhang Habe alfo auf dieſet unterften Stufe vefiglöfes und fittkiches Handelt Aberhaupt Mich. Wohl uber beginnt mit Notwendigkeit ein Mittelbastt Bir ſammenhang. Derfelbe fhließt fich allerdings hit, mie man denken follte, ar den Glauben an eine Fortdauer had) dem Tobe. Denn obwohl diefer Glaube mit der Raitirgeifterreligion faft ohne Ausnahme verbustben ift und verbunden fein muß, weil das im Menſchen wirkende Leben den Raturgeiftern weſentlich gleichartig gedacht wirb, fo wirkt er doch faft nirgends auf die Sitllichteit Eiir. Die Berftorbenen werden gefürchtet und find der Gegenftand von allerlei Aberglauben. Aber dag ihr Zuſtand mit Ihrer ſittlichen Stellung auf Erden zuſammenhänge, kommt nicht zum Bewußtſein. (®aig I, 462; II, 165. 182). Und felbft wo man etwas derartiges glaubt, wie bei manchen Indianern (Waig II, 1975 V =, 194) werden die Konſequenzen aus dieſem Glauben nicht ger zogen. Dagegen greift die Religion auf andere Weiſe in das fittliche Gebiet Hinüber. Denn 1) kommt die Ehnſchtunkung der Selbſtſucht, des Geizes und ber natürlichen ſinnlichen Neigungin welche man fi aus religlöfen Gründen wenn auch zunäcft nur ans Furcht und Eigennutz auflegt doch notwendig der fittlichen Bildung zugute. EI entfteht eine Schule elementarer Selbftzudt. Die Gewalt des auf ein unfichtbares Ziel gerichteten Willens über die Natur wird geftählt, und die Kraft wird gebt, dem nimmittel» baren Egoismus höheren Zwecken zun Opfer zu brlugen, vorzug lich wo die Weiden für die Gottheit mit fo rückſichteloſer Härte volle zogen werben, wie bei manchen Indianetftämmen (Watt LIE, 203 ff. vgl. 386). 2) Der refiglöfe Aberglaube und bie Furcht wor den Gottern treten in den Dienft der fittlichen Zwecke ber Geſellſchaft. Der Fetiſch, an eine Hütte gelehnt, fichert vor Diebſtahl, natürlich nur als abergläubifch gefürchteter Wächter (Baftian San Sals vador, ©. 78. 80; vgl. Waiy II, 388). Denfelden Dienſt thut der Schutzſetiſch Totem in der Sudſee. Das Tabu die primitive Form der Heiligkeit ſchutzt Beftimmte Orte‘). So nimmt bei allen dieſen Vollern auch bei den Butäten und Dft-

2) Baig IL, 176.

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jaken, die Geſellſchaft durch den Eid und die Ordalien den religiöſen Aberglauben in den Dienft ihrer Zwecke (Waitz I, 460 ff. II, 440; V®, 179). Man fängt früh an, den Friedensſchlüſſen und felerfihen Staatshandlungen einen veligiöfen Charakter beizu legen (Wait II, 164; III, 149. 513). Auch die Ehe wird bei manchen Indianern und Negern religiös geweiht und mit religiöfer Furcht umgeben (Waig II, 116; III, 105). Die Abiponer halten ben Ausgang einer Schlacht vom Zauberer abhängig (Waig II, 476). Wenn alfo auch im allgemeinen die beftändigen Ein wirkungen der Religion auf das ganze Leben nicht fittlichen, fondern abergläubifchen Charakter an fih tragen (Waig II, 172), fo tommen fie doch nicht felten auch als Hilfe für die Sittlichkeit in Betracht. Und ſchon der Umftand, dag die religiöfen Handlungen von der Geſellſchaft als Rechtspflichten gefordert werben, ſchließt beide Gebiete für ihre Weiterentwidelung notwendig zufammen.

3. In alten Höher entwickelten Naturreligionen beginnt eine engere Verbindung von Religion und Sittlichkeit. Schon bei Negern und Indianern finden fich vereinzelt Beweiſe dafür 1). Um fo weit wir in das Heibentum der Semiten und Indogermanen zurückblicken Können, finden wir einen viel innigeren Zufammenhang beider Gebiete. Wohl Haben die ſemitiſchen Völker die Gott: heit al8- die furchtbare, dem fittlichen Maße nicht unterworfene, in ihrer Heiligkeit tötende Macht empfunden, und die belebende wit verzehrende Glut des Himmlifchen Feuers als ihr Symbol ver ftanden. Sie haben nicht an Schranken und Ordnungen in dem göttlichen Willen geglaubt, fondern denfelben als einen unerflär lien und unwiberftehlichen angefehen, dem man fich unbedingt zu beugen hat. Dem femitifchen Gott find die Greuel der Kinder opfer geweiht und er fordert bie Austilgung der feindlichen Völler im Religionsfriege.

Aber die Gottheit der Semiten ift doch nicht mehr mit den unheimlichen gefpenftifchen Geftalten der turanifchen Naturgeifter zu vergleichen. In allen Gottesnamen der Semiten Tiegt der Be griff der Herrſchaft, des Königtums zugrunde (EI, Elohim, Mil:

1) Wai II, 178. 180. 810. 845.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 73

tom, Moloch, Kamoſch, Baal, Affur, Aziz, Adonai u. f. w.). Und jedes diefer Völker weiß fich feinem befonderen Vollsgotte durch das Band der Unterthanentrene verpflichtet. Der Orientale aber empfindet für den Despoten, wenn er in großartigem Stile Des⸗ pot ift, eine gewiſſe Begeifterung. Und der Selbftherrjcher eines Vollkes, auch wenn er fehledhterdings ohne Schranken und Reden ſchaft ift, kann feine unwiderftehliche Allmacht do im großen und ganzen nur in der Richtung der Gejellichaftszwede äußern. So empfängt bie Geſellſchaft mit ihren fittlichen Grundforderungen notwendig ein refigiöfe® Gepräge. Der menſchliche Vollskonig ift der Vertreter und die Offenbarung der Gottheit. Die Sitten und Geſetze des Volkes erfceinen als heilig. Die Vollskriege werden zu Heiligen Kriegen. Man kann nicht fromm fein, ohne ſich aud zum fittlihen Handeln innerhalb der angedeuteten Grenzen verpflichtet zu fühlen. Das fittliche Handeln, 3. B. die Tapferkeit im Kriege und die Liebe und Achtung fir die väterlichen Sitten, empfängt religiöfe Färbung und nimmt an der Kraft der Ber geifterung teil, welche jedem religiös beftimmten Handeln zu eignen pflegt. Ya, je mehr die Gottheit partikulariſtiſch als Volksgott angefehen wird, defto intenfivere Kraft giebt die Religion dem fitt- lichen Handeln. Und umgekehrt kann man natürlich nicht fittlich fein, ohne im religiöfen Handeln gemiffenhaft zu fein. Die Kultuspflicten find Burgerpflichten. Es giebt feine Kirche; fondern der Staat felbft vollzieht bie religiöfen Funktionen. Opfer, Kultus, Faften, Asfefe, Myſterien find ebenfo unbedingt bürgerlich vorgefchrieben, wie die Staatsgeſetze. So beginnen ſich die Begriffe: Sünde und Verbrechen, Heilig und gerecht, mit einander zu verbinden. Das religiöfe und das fittliche Gewiſſen werden in vielen Stucken einheitlich empfunden, und ein Sünden» bemußtfein, wie es die alten aſſhriſchen Pſalmen *) zeigen, ergiebt fi notwendig aus diefer Verbindung. Doc beſchränkt fi) das Gebiet, auf welchem beide Richtungen zufammentreffen, auf die großen Grundzüge des Staatslebens und eine Anzahl don Außer lichen Lebensfitten. Ein wahrhaft fittlihes Handeln des Menfchen

2) Bgl. bei Schrader: „Die Höffenfahrt der ar”, Anhang.

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gegen den Menſchen als ſolchen kann aus folder Religion über haupt nicht Hervorgehen. Ya, es wird durch die Verehrung de Nationalgottes cher gehemmt. Wirklich innerliche Motive det fittlichen Handelns kann diefe Religion, welche nur rückfichtsloſe Unterwerfung unter den Willen der Gottgeit kennt, nicht hervor⸗ rufen. Das ſittliche Gefühl wird durd die Gleichſtellung Anfer- licher Sitten mit fittlichen Grundfägen eher getrübt. Und aus dem Glauben an die verzehrende Allmacht der Gottheit kann ein fittliches Prinzip fich überhaupt nicht entfalten, außer dem elemen tarften, dem Gehorfam.

Im einer viel Höheren Weiſe feinen Sittlichfelt und Religien bei den indogermaniſchen Völfern verbunden gemefen zu fein, wenigftens wenn wir bie älteren Lieder des Rik⸗Veda als Zeup niffe für eine primitive Stufe diefes Volkslebens gebrauchen bürfen. Die Götter find freilich bei ben Ariern an ſich ebenfo wenig ethisch gebacht, wie bei den Turaniern. Sie find Naturgeifter, Berlörperungen der Mächte und Erſcheinungen bed Naturlebens, und als folche gleichgültig gegen dem fittlichen Gegenfag von gıt und böfe. Aber indem fie als die lichten, Himmlifchen Mädte verehrt werben, vor denen die Gewalten der Finfternis, ber Dürr und Kälte unterliegen, find fie doch, als Gefamtheit betrachtet, für die Menfchen der Ausdruck des Gütigen, Hellfamen und Treudigen, fo wenig ſich auch die einzelnen Göttergeftalten und ihre einzelnen Bethätigungen an ein fittliches Maß binden. Und die Götter werden von ber fruchtbaren poetiſchen Schöpferkraft dieſer Stämmt zu lebendigen, menfchenartigen Perſonlichkeiten verkörpert. Darin Liegt allerdings auch eine ſchwere Gefahr. Denn mas den Natur gewalten felbftverftändlich zuftcht bie fchrantenlofe Luft der Zeugung, die rückfichtslofe Wildheit der Vernichtung —, das wird in menſchenartigen Geftalten zu einem immer fchrofferen Wider⸗ ſpruche gegen die Höher ſich entfaltender Begriffe von Sitlliqh- teit?). Aber anderjeits denkt num die Frömmigkeit diefe Götter wandelnd und kümpfend, leidend und ſich freuend mit den Menſchen.

1) Id) erinnere an den Konflikt in dem Eharakter des Zeus und Herallt, wie ihn die geiehtfche Philoſophie empfand.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. ©

Der Menſch fühlt fih den Göttern innerlich verwandt und legt ihnen das bei, was für das menfchliche Zufammenleben das Wichtigfte ift. Nicht Furcht, fondern frendige Sympathie ift Hier die Grund» ftimmung ber Religion. Mit Heiligen Liebern und dem Goma- Tranke will man bie Götter erfreuen, ihre Kraft fteigern, ihren göttlichen Heldenzorn weden. Und die lichten Götter, welde alle Lebensfräfte der Natur entbinden und Tod und Finſternis ver» treiben, erſcheinen auch als die Förderer alles Heila in der menſch- lichen Geſellſchaft. Sie fpenden häuslichen Segen und Reichtum, fie geben ben Sieg. Eid, Ehe und Gaſtrecht find ihmen geweiht und Heilig. Feiges, treulofes Handeln und ungefegliche Willtür, Verlegung der Pietät und der Billigkeit wiberftreben ihrem Willen. So kann in diefen Religionen feine Srömmigfelt gedacht werben, ohne dag im großen und ganzen der Wille auf das fittlich Gute und Rechte gerichtet wäre. Denn die Götter erfcheinen als Wächter des Guten 1), obwohl zwiſchen natürlich und ſittlich Gutem durch⸗ aus nicht Mar gefchieden wird. Dagegen ift bei diefen Völkern das teligiöfe Handeln keineswegs fo emergifch "wie bei den Semiten in die geſellſchaftlichen Grundbedingungen des Vollslebens einge ſchloſſen. Nur wenige Handlungen den Göttern gegenüber erſcheinen als Stantspflicht. Die meiften werden dem perfünlichen Ermefjen, dem Bedurfniſſe ber Srömmigfeit überlaſſen. Es hängt das bar mit zufammen, daß die einzelnen Götter in biefer Religion nicht wie die Gottheit der Semiten den Charakter des Abfoluten an fid) tragen und ſchlechthin Abhängigfeit fordern. Die Einzel» Götter find relativer Art, und das Abfolute fteht Hinter und über ihnen. So kommt «8 denn, daß, während bei den Semiten die Gefahr vorliegt, daß das religiöfe Handeln das fittliche abforbiere und der Glaube das Wiffen, bei den Indogermanen die Gefahr droht, daß das fittliche Handeln das religiöfe entwerte und die Philo- fophie ben Glauben. Aber in den Zeiten naiver Frömmigkeit liegt biefe Gefahr noch fern.

Daß auf biefer Entwidelungsftufe des religiöfen und gefell- ſchaftlichen Lebens eine große Menge von Gebieten, welche wir

I) RB. 2, 27. 7,89.

76 Schultz

der Sittlichkeit zurechnen, noch ganz in das Belieben des Einzelnen geftellt war, und daß zwifchen dem Glauben an die Gottheit un)

dem Bewußtſein von den einzelnen Aufgaben der Sittlichfeit nod |

keinerlei unmittelbarer Zufammenhang ftattfand, das verftcht fd, ebenfo fehr von felbft, wie daB das religiöfe Handeln auch, ſowei es mit zu ber bürgerlichen Pflicht gerechnet wurde, doch immer nur als Mittel 'erfehien, um die Segenswirkungen der Gottheit auf den Einzelnen und die Geſellſchaft herabzuziehen, alfo an fid ſchlechthin gar feinen fittlichen Charakter an fich trug. Und dee Sündenbewußtfein gegenüber der Gottheit tritt im großen un ganzen noch durchaus naiv als das Bewußtſein auf, die Gottheit perfönlich verlegt zu Haben, ohme bag ſich damit ein fittliche Schuldbewußtſein verbinden müßte"), wenn fi auch Spurm des Übergangs finden ?), So ift das Verhältnis noch ein durde aus unvollkommenes. Aber es trägt bie Keime ber Entwicelung in fi.

4. Biel verwidelter wird das Verhältnis, fobald wir auf den Boben der heidniſchen Rulturreligionen treten, d. 5. di höher entwickelten Heidentums, wie es im Zuſammenhange mit

YR-B. 1,25: „Ob wir and) oft, o Baruna, verlegten dein Gebot, © Gott, wir Menſchenkinder Tag für Tag“ 7, 86: „Wie dann zu Barum hinein ich dringen? Wird ohne Zorn er meine Gab’ empfangen? Wie fc ich reinen Sinns den Guadenreichen? Nach meiner Sünde forfchte ich ber gierig. O Baruna, die Weifen ging id) fragen. Dasfelhe flets verkünden mir di Seher: Barıma if e8 wahrfid, der dir zurnt.

2) 8, 18. 21 verglichen mit 2, 27. 28: „D, Baruna fag, welde Sünde war's, Daß du den alten frommen Freund verfolgft . . - Erlaſſe uns die väterlichen Fehle Und die wir ſelbſt mit eigner Hand begingen Entlaß, o König, diefen Sänger freundlich, Wie einen Dieb, ja wie ein Kalb vom Strange. Nicht war es eignes Thun, ein Straucheln war es, Ein Trunk, ein Zorn, ein Würfel, ein Bergefien. Ein ültrer naht, den Jungern zu verführen, Ja ſelbſt der Schlaf beſchutzt und nicht vor Übel.“ 10, 37. 4: „Mad, du uns frei von Schuld bei Menſchen und bei Göttern.“

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 77

der fteigenden Zioififation unter dem Einfluffe priefterlicher Wiſſen⸗ Schaft oder dichteriſcher Geftaltungskraft, oder bes Staatsgedankens fich geftaltet Hat. Allerdings werben wir erwarten müffen, auf diefem ganzen Gebiete jene innere Gleichgültigkeit des veligiöfen gegen das fittliche Handeln zu finden, welde mit dem Nature charalter der Gottheit unzertrennlich verbunden ift, und wir werden, da wir von der eigentlich philoſophiſchen Ethik abzufehen Haben, nirgends eine einheitliche, allen Menfchen gegenüber geltende fittliche Geſinnung gefordert finden. Beides ergiebt ſich von jelbft, weil die firtlihen Grundfäge fi) aus dem konkreten Bedürfniſſe der Geſellſchaft, alſo auch mit Beſchränkung auf die Zwecke dere ſelben, entwideln. Die Sittlichkeit bleibt auf dieſer ganzen Ent widelungsftufe im Grunde Bürgertugend, Gehorfam gegen Gefek und Sitte des Gemeinwefens. Und davon hat bie Ethik fich ſelbſt da nicht frei gemacht, wo fie doch wie bei den helleniſchen Philo- ſophen danach ftrebt, aus allgemeinen Prinzipien, 3. B. dem⸗ jenigen ber Gerechtigkeit, die Sittlichkeit einheitlich zu verftehen. Zum Beweife mag auf die Anſchauung von der Sklaverei und den zu ihr geborenen Barbaren bei Wriftoteles und auf bie Unterordnung der Ehe und Familie unter ben Staatszweck bei Plato Hingewiefen werden. Iſt doch thatſächlich auch bei den Germanen das Weib gekauft und bie Tötung des Neugebornen erlaubt. In Sparta wird die Heiligkeit der Ehe dem Stantd- Intereſſe unbedenklich untergeordnet. In Athen gilt Verlegung der Frauenehre nur als Beleidigung des Mannes oder des Vaters 1). Aber einerfeits hat das Bewußtſein des fittlichen Gefeges fich doch unter dem Einflufje der jteigenden Bildung bei vielen Völkern, vor allem bei Griechen, Römern und Ägyptern zu einer be wunberungswürdigen Klarheit und Tiefe entfaltet. Und damit hat fich anderfeits auch die Erfüllung der Göttergeftalten mit fittlichem Inhalte weit über die naiven Anfänge heidniſcher Mythologie er⸗ hoben.

Am wenigften volltommen ift das Verhältnis in der hal» daiſchen Priefterreligion. Die Gottheiten, in welden ſich

1) Waitz I, 379.

W \ Schultz

die Urtraft des Naturlebens männlich und weiblich offenbart, tragen noch ganz den unethifchen Charakter des Naturlebens u fih. Das religiöfe Handeln Hat feinen Höhepunkt in dem or giaſtiſchen Eingehen der Perfünlichkeit in bie Geſchichte der Natır. In den Saklaen wird bie geſellſchaftliche Ordnung zur eier da Naturgottheit geradezu für einige Zeit aufgehoben. Die bachantiſch Menge erlebt in durchaus widerfittlihem Thun das Schwindu und Sterben der Lebenskraft in der Welt und ihr Wiederaufleben In den Heiligtümern und an den Prieſtern bildet fi in m züchtigen Greueln das Weiblich-werden der männlichen Naturkraft ab, welchem zu Ehren die Gejchlechter ihre Attribute und uk tionen vertauſchen. Das ftete Erneuern der Schöpfungsfraft da Welt wird in geheiligtem Inceſt nachgebildet, und der Zeugung kraft der Notur wird die Ehre ber Yungfrauen zum Opfer gr bradt. Im diefer Religion ift alfo eis bedeutender Beſtandtel des reftgiäfen Handelns von dem fittlichen Handeln, welches guy anderen Gefegen folgt, ſchroff geſchieden; veligiöjes und fittliht Gewiſſen folgen ganz verfdiedenen Grundfägen. Die Ympull, welche die Sternenverehrung und der Dienft der Göttermutter den Handeln geben, können ja am fich nicht vom fittlicher Art fein fondern müfjen im beſten Fall auf fittlich gleichgültiges Thu hinauslommen. Nur in ber Stellung de Könige als des irdilde Bertreters der Gottheit, in der Heifigung des Vaterlaudes und u dem religiöſen Charakter der Kriege tritt wirklich eime veligilt Färbung der Sittfichkeit hervor *). Aber auch fie dient mehr dazu ten Defpotismus und bie graufame Leidenfchaft des Eroberung krieges zu nähren, als einen wirklich fittlichen Fortſchritt zu begründen.

1) Eine Verbindung bes veligiöfen Gündengefühles mit dem Bewußtſen fetficher Schuld, wobei aber daS erfie durchans bie Oberhand Hat, Mingt ms den ſchon ermähnten Bußpfalmen in Aſſur banipals Sammlung: „Ber niät fürchtet feinen Gott, wirb dem Rohr gleich abgeſchnitten; wer bie far mit verehrt, deffen Stärke ſiecht dahin. Gleich dem Stern des Himmils zieht m ein den Glanz, gleich Waffern der Nacht ſchwindet er.” „Gert, meiner Br gefungen find viel, groß find meine Sünden. Der Herr in feines denn Zorn haufte Schmach auf mid. Der Herr in feines Herzens Strenge über waltigie mid). Iftar ließ fih auf mid) wieder, machte bitteren Kiumunt mie“

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 70

Biel hoher ſteht für unfere Frage die brahmaniſche Prieſter⸗ religion). Sie zeigt ihren indagermanifchen Urſprung in ihren Wirkungen, melde van unvergleichlich ibealerer Art und höherem füttfihen Charakter find. Bei den brahmauiſchen Indern find die einzelnen Naturgötter Längft von der Naturſeele ahforbiert, die im ihnen zur Erſcheinung kommt. Auf das Armä, dns Selbſt, und das Om, das wahrhaft Reale, richtet fid der eigeufte Trieb der Religion, und der Fromme ſucht es in feiner eigenen Seele *). Aus der Scheinmwelt, mit der alles Elend zufammenhängt, fih in Dies ewig Meale zu reiten und frei zu machen, das ift das religidfe Ziel. Und ſo verfteht es ſich leicht, daß bier alle Bethätigungen des Lebens auch die ſittlichen duch und durch von religiöfen Geifte getragen werden. Der Leib den Gottgeit iſt das Geſetz, und der Menſch in feinen immer ſich ermenernden Schidjalsge- falten ift ſtets das Geſchöpf feines eignen Thuus und Wallens. „Die, welche die Pflichten jeder Kaſte und jedes Ordens volle bringen und fich genau an das heilige Geſetz Kalten, die find’g, welche diefe Erde erhalten. Ahnen ift die Sorge für diefelbe an. vertraut.“ ®) Es giebt in diefer Religion Tein fiktlich wertvolles Thun, welches nicht als Wille der Gottheit uud deshalb als religiöß hegrundet erfeptene. Auch die Hochhaltung des Hausherren ftandes umd feiner Pflichten, welche aus ber altariſchen Ger wohnheit her wech bie und da durdillingt ©), wird auf gött- lichen Befehl gegrlindet. Und als göttliche Vorſchrift für alle Kaſten gelten die Tugenden der Geduld, Wahrhaftigkeit, Mäßig- keit, Reinheit, Freigebigleit, Selbftbeherrfhung, Aufrichtigkeit, Gaſtlichteit, der Enthaltung von Zorn, Züde und Mord, des Gehorſams und des Mitleids, alſo lanter fittliche Kardinal Tugenden 5).

2) M. Müller, Sacred books oftheeast. ®d. I: the Upanishads Küberf. von Miller), Bd. IL: Die Gefete Apaſtambas und Gautamas; Bd. VEL: the instätutes of Vishau (über. von Jolly).

3) Inst. of Vishn. 98 (M. 7).

3) Inst. of. Vischn. (M. 7), 1fj. 20ff.

4) Instit. of. Vischn. (M.7) 28, 56, 194. Gefehb. Gaut. 300 u. 301 M. 2).

> Jast. of. Vinch. (M. 7) 84, 47, 67. Gefehb. Apast, 116 (M. 2).

so Sqult

Aber dieſem Fortſchritte gehen entſcheidende Ruckſchritte zu Seite. Das Ethiſche als ſolches iſt im Grunde völlig emtwerkt und von dem Weligiöfen abforbiert. Das geſellſchaftliche Zu fammenleben der Menfchen, und die Güter, welche es hervorbringt, haben keinerlei felbftändigen Wert. Sie gehören der Welt iu Scenes an. Wer aus diefer Welt frei werden will, der darf freilich felbftverftändfich nicht gegen die Gebote diefer weltliche Sittlichteit verſtoßen, welche ja gleihfam das niedrigfte Map dr Vorderung der Gottheit darftellen. Aber damit hat er doch nır ben erften Schritt auf der unterften Stufe gethan. Die wirklich Höhe wird auf ganz anderem Wege erreicht. Und ein pofitines Interefje an den Aufgaben der Sittlichkeit Liegt in diefer Religin naturgemäß überhaupt nicht vor. Es handelt fih nur um Ber bote, um ein Gefeg, welches der fündlichen Verſtrickung in Schein und Selbftfucht wehrt. Das eigentlich wertvolle Handel befteht in Askefe und Kontemplation. Denn da die wahre Got: heit das in allem Erſcheinenden Bleibende, Einheitliche ift, ohn perfönliche Befonderheit und ohne perfünliche Ziele, fo muß det refigiöfe Handeln natürlich wefentlich dahin ftreben, daß der Merſt fich zur Einheit mit diefer Gottheit erhebe und daß er alle dieir Einheit widerfprechenden Schranken zerbreche. Die alten Opfer lieder und heiligen Opferformen der Veden Haben ihre urſprünglich Bedeutung ganz verloren. Sie find mehr und mehr zu unverftandenm Formen geworden, in denen die innere Gemeinſchaft mit der Gall heit fi verwirklicht. Sobald aber Askeſe, Einfiedlertum, Au wendiglernen ber Heiligen Lieder und philoſophiſches Denten dt das wertvollfte Handeln erfcheinen, muß notwendig das eigentfih fittliche Gebiet verblaſſen und zur bloßen Anfängerftufe werden Der eheloſe Einfiebler iſt allein ber vollkommene Mann dielt Religion. Endlich aber Hängt dieſer Religion aus ihren Urfprünge nod) eine unüberfehbare Menge von Formen, Reinigkeitsregeln un Ordnungen inbetreff der äußern Geftalt des Lebens an, und dt Verfchiedenheit der Kaften, welche als eine unabänderliche, durh die Geburt gefegte Ordnung gilt, macht ein wirklich ſittlichel Verhalten der Menſchen zu einander an fich ſchlechthin unmöglich)

1) Durch die Macht des Gebetes umd das Auswendiglernen ber heilig

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 8

Die Brahmanen haben ein ganz anderes Maß von Rerht uud Sittlifeit als die anderen Kaften. Die Würde der menſchlichen Perſou geht diefen Kaſtemmterſchieden gegenüber völlig verloren.

So erreicht es diefe Religion wohl, alle Gebiete des ſittlichen Lebens irgendwie mit in das religiöfe Handeln einzufchliegen. Aber die unvergleichlich größte Menge des religiöfen Handelns iſt nicht fittlich. Im, die Religion macht eine wahre Sittlichkeit unmöglich, indem fie einerfeit6 die perſbuliche Würde der fittlichen Berfönlichkeit durch ihre Auffaffung von der Bedeutung der Kaften, anderſeits die fittliche Freudigkeit durch die Entwertung alles auf 208 irdifche Leben gerichteten Thuns und durch die Scheu ver allem Natürlien zugrunde richtet ?).

Bon allen Kulturreligionen des Heidentums, welche durch Vrieſterweisheit entwidelt find, Hat die äghptiſche das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit am vollfommenften durchgebifdet 2). Schon in uralter Zeit erſcheint eine hochentwickelte Sittlichfeit im Nilthale. Gererhtigkeit, Milde, Billigkeit, Gaftfreundfchaft, Pietüt in der Familie, Mäßtgfeit und Mitleid gegen die Leidenden treten uns in den Zufammenftellungen des fittlihen Ideals entgegen,

Terte will man bie Götter zwingen und Reinigung von ben Sünden gewinnen. Inst. of Visch. (VIM), 35, 55. Gef. Gaut. (II), 291. Die Speifegebote find viel ſtrenger als im levitiſchen Gefege. Gef. Ap. IL, 6off. Das Trinken von etwas, das beraufchen Tann, ift todeswürdig. ©. 79. Man darf in fein Land reifen, wo die vier Kaften nicht egiftieren. Inst. of Visch. VII, 84. Ein Beifiges Tier zu töten, gilt dem Menfchenmorbe gleich. Gef. Gaut. H, 282. Bor bem älteren Bruder zu heiraten und etwas von beim Beda · Text zu vergefien, gilt dem Ehebruch und Morde glei. Inst. of Visch. VII, 35.

2) Ic) verweife noch Beiläufig auf die fpätere Korruption diefer Religion in dem wilden Siwa ⸗Kult, in der Sekte der Thugs und in dem „inken“ Kultus der Sakti, welche wohl mit dem Eindringen nicht ⸗ariſcher Elemente aufammenhängt.

2) Bequem und überſichtlich: „Vorleſungen über Urfpruug und Entwide lung der Religion der alten Ügypter“ von P. Le Page Renouf (autor. Überftg., Leipzig 1882). Bol. fonft zu d. ff. Lepfins, Auswahl der wichtigſten Urkunden des ägyptifcgen Aitertums, Leipzig 1842 Dümiden, Die Infhr. von Abu Simba. Ziele, BVergelylende Gefchiebenife van de Egyptiſche en Meſopotamiſche Godsdienſten 1868. Roug&, Revue arch6ologique IX, 385. Chabas edit. der Stele d. Beka u. d. Papyr. Louvre.

Theol. Stub. Dahrs. 1888. 6

32 Säulg

welche die Grabjchrift von Abu Simbal, die Inſchrift von Beni Haffan, der Papyrus des Pta Hoteb und v. a. Denkmäler des Altertums uns zeigen ?). Und diefe hochentwickelte Sittlichkeit hat den Naturgättern die urfprünglih aud in Ägypten nur die Kräfte und Entfaltungen der einen göttlichen Naturkraft find einen entfchieden ethischen Charakter aufgeprägt, welcher vorzüglich in dem Ofiris- Mythus zum Ausdrude kommt, in Ofiris dem guten Gott und Horus, feinem verfüngten Ebenbilde, in Ma, der Gerechtigkeit, Neb, der ordnenden Herrſchaft, die zugleich Götter | und Attribute der Gottheiten find. Vor allem aber greift bei den Ügyptern zuerjt der refigidfe Glaube an Unfterblidjkeit und Auf erftehung wirklich entfcheidend in die fittlichen Auffafjungen ein ?). Der Geftorbene, ehe er zum Ofiris werden fann, muß ins Gericht, | in die Halfe der Wahrheiten, wo Horus die Wage Hält, md Toth das Urteil ſchreibt. Das fittliche Unrecht ift dort zugleih Sünde gegen die Gottheit. Die Fragen der 42 Totenricter, nad denen ſich das Urteil entfcheibet, gehen ihrem Hauptinhalte nad) auf die Bewährungen der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Mähig keit, Billigfeit und Güte im Gefellfchaftsleben 3). Dazu kommt dann, daß im Ägypten noch entjchiedener als im Babylon der Staat religiös aufgefaßt wird. Der König, welder als Sohn der Gottheit das Prädikat Ra in feinem Titel führt, iſt den Unterthanen die Offenbarung des göttlichen Willens. Wir fehen ihn auf den Bildwerfen feinem eignen Standbilde Opfer bringen, d. 5. als Individuum beugt auch er ſich vor der göttlichen Maje ftät des Geſetzes, deffen Ausdrud er ſelbſt ift 9.

So wirken Hier viele Momente zufammen, um dem fittlichen Handeln religiöfe Triebfedern zu geben, und es über den Wert

3) Die Ahnlichteit mit dem Idealbilde Hiob 81 iſt auffallend (Tielt, ©. 159; Renouf, ©. 68; Dümichen a. a. O.).

3) Bgl. das ägyptifce Totenbuch bei Lepfins a. a. O.

3) So wird 3. B. nach bem Überbitrden des Arbeiters, nad) der Verleum- dung von Sklaven, nad; dem Betrüben bes Nächften gefragt. Faulheit, Hintere HR, TotenfGändung, Lüge, Betrug, Ehebrud, find Hauptfünden. Ein Haupt geroidht fällt auf die Pietät der Kinder (Kenouf, S. 126ff.).

4) Renonf, ©. 154.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 8

eines bloß geſellſchaftlichen Handelns zu der Bedeutung eines innerlich notwendigen und göttlich beſtimmten Handelns zu er⸗ heben. Aber um fo weniger ift e8 auch biefer Religion gelungen, von dem religiöfen Handeln den Charakter des ſittlich Gleich⸗ güftigen und Zufälfigen abzuftreifen, der ihm in allen heidnifchen Neligionen von Haus aus eignet. Neben den Geboten der Sittliche keit entfcheidet über ben Wert des Menfchen eine Unzahl von Geboten veligidfer Art. Die Pflege der Heiligen Tiere, die Neinigfeitsfagungen, die Speifegebote, bie unzähligen höchſt ver» wickelten Formen von Feften, Opfern und Progeffionen, zeigen den urfprüngfihen Naturcharafter der Religion. Den Göttern zu Ehren kämpfen die äghptiſchen Gaue im Bürgerfriege mit ein⸗ ander, weil fie verfchtedene Heilige Tiere ehren. Dem Gott zu Ehren Hat der Ägypter den Fremden und tötet in wilden Fana— tismus typhonifche Menfchen am Fefttage des Gottes. Ya, die endgültige Wirkung diefer Religion auf die Volksmaſſen tft offen- bar eine fchlechthin nicht fittliche gewefen. Aberglauben, taufende fache Zeremonieen, leidenſchaftlicher Fremdenhaß, fanatifche Ver⸗ ehrung der Heiligen Tiere, die faft am Fetiſchdienſt ftreift, das war das Ergebnis, zu welchem dieſe Hoch angelegte Religion ſchließlich gelangt ift.

Es mag hier nur in der Kürze daran erinnert werben, daß die Rulturreligionen Amerikas in diefer, wie in vielen anderen Beziehungen, fehr lebhaft an haldäifche und noch mehr an ägyptifche Verhaltniſſe erinnern. Die Ermahnung des toftefifchen Vaters an feine Tochter ?) erinnert Tebhaft an die Infchrift von Abu Simbal. Der theofratifche Staat der Inkas der Söhne der Sonne mit feinen Zempeljungfrauen, feiner Beichte und feinen Faften und dem Glauben an Vergeltung nad) dem Tode, hat ganz äghptifchen Charakter ). Bei den Merikanern wie bei den Pe ruanern wird das fittliche Leben überall eng an das religiöfe ger ſchloſſen. Geburt, Ehe, Tod, empfangen religiöfe Weihe, und der Glaube an eine Vergeltung nad dem Tode wirft auf das fittliche

-2) Waitz IV, 124ff. 3) 0. 0. D, ©. 404. 447. 486. 461. 6*

4 Sqchultz

Handeln im Diesſeits zuruck!. Aber ih brauche nur an die Menſchenopfer der Aztelen und Majas, an die Feſte der Peruaner mit ihren kultiſchen Ausſchweifungen und an das Gewebe von Zeremonien zu erinnern, weldes auch bier das Leben überzog 2), um zu zeigen, daß auch Hier diefelbe Unvollkemmengeit in dem Verhältniffe von Religion und Sittlichkeit zurückgeblieben ift, melde alien Entfoltungen der Naturzeligion anhängt. Ein einheitliches Gewiffen, welches wirklich nach feiten Grundfägen den Einzelnen um feiner fitlicden Pflicht willen mahnt, ift überall Hier noch nicht möglih. An feiner Stelle ſteht die ererbte veligiöfe Sitte und die fittliche Gewohnheit, demen fih des Menſchen Selbſtbe⸗ wußtfein wie einer unverftandenen aber abfoluten Autorität unter ordnet.

In anderer Weiſe aber ohne einen vollfommeneren Er⸗ folg treten Religion und Sittlichleit in den Kulturreligionen in Beziehung zu einander, welche dem Geifte der Künftler umb Dicter ihre höchſte Ausbildung danken: der Religion der Edda und des Olympus. Wo ber feei ſchöpferiſche menſchliche Geift die Geftalten der alten Naturgeifter zu einem Kreiſe menfchens ähnlicher und menſchlich wit einander verfehrender göttlicher Per⸗ fönlichkeiten ausbildet, da wird er notwendig auch das Höchfte und Wertvollſte des menſchlichen Lebens bie Ergebuiffe der fitt- lichen Entwidelung und ihre mehr und mehr zu Axiomen ge wordenen Grundſätze mit in den Kreis der Götter hinein legen. Die Götter müfjen zu Vertretern und Wahrern guter und heilfamer menfchliher Sitte werden, und fobald das gefchehen ift, muß wieder der Gedanke an den Zorn der Götter über Vers letzungen der fittlichen Pfligt zu einem Motive des fittlichen Handelns werden. So erſcheint in der Edda °) der Weltunter

i) a. a. O., ©. 129. 415. 466.

3) 0.0.0, ©. 154. 158. 160. 309. 461. 465.

%) Bei Karl Simrod, Handbuch der deutſchen Mythologie 2c. (2. Aufl. 1864), vgl. S. 50ff. 124ff. 153Ff. 505ff. Die mannigfachen religiöfen Hand lungen, welche das ganze Öffentfiche Leben der Germanen durchzogen und ber ſtimmten, find 3. B. bei Giefebrecht, Geſch. der deutſchen Kaiſerzeit, Bd. I A. 5), ©. 5. 7. 8. 9 im Kurze zu dergleichen.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 8

gang herbeigeführt durch Meineid und Goldgier. Mord, Meineid und Ehebruch wachſen in dem „Beilalter, Schwertafter". Das Abnehmen der Pietät gegen die Toten macht das Totenſchiff flott. Die höcfte Bürgertugend die Tapferleit Öffnet den Weg zu den Göttern ). Und die rechten fittlihen Menſchen, d. H. die wehrhaften, tüchtigen und getreuen Helden, kämpfen ben großen Weltlampf ber Götter gegen das Böſe und den Tod mit. Und dag Lift, Leidenſchaft, Jühzorn und Verfuchberfeit auch in den Söttergeftalten der Edda vor allem in Odin uns entgegen treten, dad beweift nur, daß das fittlihe Ideal noch unvolllommen ift, nicht daß Religion und Gittlichfeit auseinander fallen. Aber der urfprüngliche Naturcharakter der Gottheit läßt fich nicht verwifchen. Die einzelnen Götter mit Ausnahme des Tichten Balbur, find keineswegs reine Vertreter defien, mas von den Menſchen als fittlih gut erkannt wird. Durch die Form des fittlich / perfönlichen Lebens bricht immer wieder bie ſchranken und gefeglofe wilde Gewalt des Naturlebens, melde feine Ordnung und Sitte Iennt. Meimeid, wilde Habgier und Genußſucht find auch in den Götterfreis eingedrungen und machen bie „Götter dämmerang“ nötig. Neben Thor und Odin fehen wir die Ger ſtalt Lokis, des ſchlechthin nicht fittlichen, und die Geſchlechter der Wanen. Zwifhen Joten und Aſen waltet nicht bloß Erbfeind⸗ ſchaft, fondern auch vielfache Blutsverwandtſchaft. Die fittliche Idee ſchwebt über den Göttern als das vergeltende Geſchick. Und das Handeln, welches von der Religion ummittelbar hervor⸗ gerufen wird, ift Zauberſpuk und blutiges Opfer, au Menſchen⸗ opfer, alfe ein Handeln, daB anf eigennügigem Verhältnis von Mengen und Göttern beruht, und des fittlichen Charakters völlig entbehrt. b

Es kann uns nicht verwundern, daß die foviel Höhere und feinere Durchbildung aller Gebiete des menſchlichen Lebens, welche wir bei den Griedhen finden, auch das Verhältnis von Religion und Sittlichteit viel mannigfaltiger und intereffanter geftaltet Kat,

I) Diefe einfeitige Belohnung der Krieger-Tüchtigfeit iſt natürlich nur ber Widerſchein der gefamten fittfichen Anfchauung.

86 Schultz

als bei den Germanen. Daß auch in Griechenland die Auffaſſung der Sittlichfeit feine gleichmäßige und volffommene ift, weil ihr das hochſte menſchliche Ziel verborgen ift, dag die Willkür im Genuß, die Verachtung der Barbaren, die Betrachtung des Sklaven als eines bloßen Werkzeuges und als eines zur wahren Sittlichfeit unfähigen (Odyſſee XVIL, 322), die Auffafjung der Ehe als eines weſentlich nur dem Staatszwecke dienenden Natur» und Eigentums verhältniffes, auch bei den edelſten Vertretern griechiſcher Ethil vorkommen, das hat mit unferem Thema unmittelbar nichts zu thun, weil wir nur von dem Verhältniffe der thatſächlich vor⸗ handenen fittlichen Grundfäge zur Religion zu reden Haben. Wohl aber wird man nicht verfennen können, daß diefe Unvolllommen⸗ heit überhaupt erft da endgüftig überwunden werden fann, wo bie richtige Stellung von Religion und Sittlijkeit gefunden ift. Innerhalb gewiffer Schranken aber tritt und bei den Hellenen ein reiches Wechfelverhältnis beider Gebiete entgegen. Die olympifchen Götter, welche bie titaniſchen Gewalten der Natur in die. Nacht de8 Tartarus geworfen haben, find in ihrer Gefamtheit die Ber- treter von Maß, Ordnung und Schönheit in ber Welt, wenn auch die letzte entſcheidende Macht über ihnen ſchwebt, wie über den Göttern von Walhalla. Der Zeus bes Homer, Pindar und Sophokles ift der Schlüger des Gaftrechts, der Rächer des Mein eids und des Frevels, der Wahrer der Sitte, das Urbild könig⸗ fiher Würde und Hoheit, dem Themis und Metis zur Seite ftehen. Der delphiſche Apollo verkörpert alles Freudige, Lichte und Schöne, alle Kultur und Poeſie, all’ die erhabene, freie und heitere Kunft bes Lebens, durch welche der Hellene fih mit Stolz von der wüſten Maplofigkeit der Barbaren geſchieden weiß. Die Athene der Akropolis ift die Vertreterin der befonnenen Thatkraft, durch welche eine Stadt in Krieg und Frieden gedeiht. Die alten Naturmpthen haben fich mit ethiſchem Gehalte gefüllt. Der Sonnen heros Herakles iſt zum duldenden Gottesfämpfer auf Erden ge worden. In dem Geſchicke der Niobiden und der Häufer des Tantalus und Lajus tritt das große fittliche Gefeg von dem Maße der Dinge in unvergänglicher Großartigfeit uns entgegen. Die alten Naturgöttinen der Indogermanen find als Mufen und Char

Religion und Eittlichfeit in ihrem Verhältnis zn einander. 87

viten zu Göttinnen ber Harmonie und Schönheit geworden, als Erynnien zu den furchtbaren Wächterinnen der großen Grund⸗ ordnungen, auf welchen die menfchliche Geſellſchaft ruht.

So hat die Sittlichteit der Griechen überall religiöfe Motive. Ich Tann für den ausführlichen Beweis diefer Behauptung auf Schmidt, Die Ethik der alten Griechen (Band I, 1882) ver- weifen, wo die religiöfen Motive der griechifchen Sittlichteit ©. 47—155 eingehend erörtert find (vgl. aud ©. 163ff.). Ih will nur einzelne bezeichnende Punkte hervorheben. Der Grieche Handelt ftetS mit dem Bewußtjein einer göttlichen Gerechtigkeit, die ſich im Schickſale vollzieht. Der Vertragsbruch und die Ber- Tegung des Gaftrechts führen den Sturz von Troja herbei. Der Übermut der Freier ruft die Rache ber Gottheit auf fie herab. Daß Zeus die Unredlichkeit ftraft und das Gaſtrecht wahrt, ift felbftverftändfiche Vorausfegung bei Homer). Nach Hefiod find die Götter Erhalter der fittlichen Weltordnung. Solon weift die Frevler auf die unfehlbare Strafe des Zeus Hin. Pindar (4 Pyth.) nennt die Gottheit den Schug des tugendhaften und maßvoll ges finnten Mannes, indem fie gegen Hybris, Neid, Zorn, Graufam- keit und allzu wilde Rache das fittliche Maß vertritt (vgl. Soph. Oed. rex 851 8q. 875; Antig. 127 ff.). Es ift ein griechiſches Wort: „Der Götter Mühlen mahlen fpät, aber ſcharf.“ Wer die uns verrüdbaren Schranken der Familienliebe und des Naturrechts verlegt Hat, ben jagen die Erynnien ruhelos burd) die Welt, bie er durch der Götter Gnade entfühnt ift?). Alle Vertreter der

3) Odyffee I, 378; II, 65; VI, 207; VII, 164f. 181; IX, 269; XII, 212ff.; XIV, 67. 88. 283f. 389. 405; XVI, 422f.; XVII, 487; XIX, 395; XX, 215; XXI, 89. 418; XXIII, 63. Ilias I, 238 (die Fürften wahren im Namen Kronions das Heilige Recht); III, 278ff. 860ff.; XIII, 624; XIX, 258fj.; XXI, 595. Bol. Kichyl. Agam, ®. 150ff.; Choeph., 8. T1ff. 384. 895 („Hab alle Welt zu Feinden, nur die Götter nicht“); Sieben vor Theb,, 8. 571; Schutfl,, ®. B7ff. 218 ff. 844. 417. 717. 875. 1017ff. Sophot. Oed. r., V. 640. 646; Antig., ®. 127. 6541.; Trach. 2. 287 ff. 274.

2) Odyffee II, 185f.; XI, 280; XVII, 475. Ilias IX, 454; XV, 206. fh. Agam, B. 437ff. 724f.; Choeph., B. 404 ff. 647. 917. 985ff. 1017ff. 1042. 1047. 1065; Eumen. 184 ff. 261ff. 300ff. 322. B16ff.;

88 Schultz

edleren Gefinnung in Griechenland haben dahin geſtrebt, dieſe der Sittlichkeit forderliche Einwirkung des religibſen Lebens zu ſtärlen. So vorzüglich, wie Schmidt S. 128 hervorhebt, das delphiſche Orakel. So Pindar, Äſchylus und Sophokles („warn ſahſt du Frevler von den Göttern je geehrt?“ Antig. 288). Und anders feits ift and das religiöfe Handeln unter dem Ginfluffe diefes Strebens vielfach fittlih wertvoll geworben. In den heiligen Beftfpielen bet das griechiſche Bolt feinen Göttern die Blüte örperficher umd geiftiger Bildung und Schöngeit, um fie damit zu erfreuen. Und wie der moralifh Unreine, der Mörder, bie Ehebrecherin, die Hetäre, nicht am Feſte teilnehmen oder beim Heiligtum weilen dürfen, ja fogar die anſtecken, welche unter gleichem Dache fich befinden (Schm. 125f. 119. 121), fo gilt es als felbfiverftändfih, daß niemand ber Gottheit mit einer Bitte um fittlich Böfes nahen darf (Schm. 164. 288) 9.

So dürfen wir nicht verfennen, daß für das Gefühl der Griechen Religion und Sittlichkeit vielfach mit einander verbinden gewefen find, Gaftfreundfchaft und Rechtsſinn erfcheinen von frommer Gefinnung unzertrennlich (Odyfjee IX, 175.) Wohl hat die Ruckſicht auf jenfeitige Vergeltung im ganzen wenig auf die griechifche Sittfichleit gewirkt. Nur in extremen Fällen ber Götterfeindf—haft dachte man am jenfeitige Strafen, und bie fteigende Rüdficht darauf, wie fie vor alfem in den Myſterien genäßrt wurde, gehört nicht mehr eigentlich zur griechifchen Religion (Schm. 97ff. 99. 105f.). Aber die Rüdfiht auf die Götter, auf Ate, die Tochter des Zeus, auf bie Nemefis, die hinter dem öffentfichen Gewiffen fteht, hat ohne Zweifel vielfach als Motiv der Sittlichkeit ſich erwieſen (S. 161ff. 187. 228)°), fo

Sieben vor Theben, 8. 657. 710ff. 862; Schubfl., B. 806 f. 6961. Sopt Ant., ®. 1060; Eklir., ©. 112. 475ff.; Aj. fur., ®. 800ff.; rad, B. 7975.

3) Es finden ſich nit felten Äußerungen, welche bie fittfidhe Reinheit für wichtiger als die Titurgifche erfläcen (Schu. 182), und Außerungen, wie Heltors Wort: „Ein Wahrzeichen allein ift gut: treu firmen bie Heimat.“ Ilias ZI, 243 führen nad; derfelben Richtung Bin.

3) Odyffee I, 40ff. 263; IT, 135; XI, 73. Aſch. Agam., B. 56ff. 364f.; Sieben vor Th, V. 69f. 637 fl. Soph. Ant. V. 108 ff.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 80

gewiß auch die kraftigſten Antriebe zur Sittlichkeit für den Griechen immer in der Ruckficht auf den Staat, auf die väterlichen Sitten und auf den Beifall und Unwillen der Mitbürger, aljo in ber Richtung des Gemüts auf Ehre zu finden waren. (©. 168ff. 185ff. eldos und alegven.) (Ilias VI, 351.) Und wo fih die von Frömmigkeit getragene Achtung vor dem ewigen Geſetze der Humanität und Pietüt gegmüber den Willfirfagungen augen. blicklicher menſchlicher Gewalt fo großartig äußert wie in Soph. Ant., V. 735. 448 ff. 521, da ift gemiß ein Schritt zur höchften Einheit von Sittlichkeit und Religion gethan.

Aber neben diefen Schritten zu einer wahren innerlichen Ber» bindung beider Gebiete, tritt uns ungeheilt und unheilbar der urfprüngliche heibnifche Gegenjag derſelben auch bei dem Griechen entgegen. Ob auch die Götter in ihrer Gefamtheit die fittlichen Intereſſen fügen, in dem einzelnen Göttergeftalten bleibt unzer⸗ ftörbar der alte Naturcharakter und tritt nur um fo greiler in Widerſpruch mit dem feiner werdenden fittlichen Urteil. Was het der lichten Himmelogottheit nur eine finnige Deutung von Natur vorgängen ift: daß fie die finfteren Mächte, demen fie entftammd, in das Dunkel zurüdfchlendert und mit unerfchöpfter Lebens und Zeugungskeaft immer neuen Geſtaltungen fi verbindet und immer neues Leben hervorruft, da® wird in der perjönlichen ethiſchen Geſtalt des Zeus zur Auflchnung gegen den Water und zum wilden Lebensgenuffe ohne Ruckficht auf Ehe und Berwandtihaft, welde dem Schüger fttlicher Orbsung wenig anftehen, und dem Blato und Zenophanes nicht wentger Ärgernis bereitet haben als ben chriftlichen Apologeten. Schwerlich konnte ſolche Göttergeftalt ganz ohne Schaden für die fittliche Entfaltung bleiben. Und ebenfo iſt's mit Herafles, in melden die wilde. Wut des aſiatiſchen Sonnenheros ſeltſam die hohe. ethiſche Geſtalt des „Erlöfers“ ent- ftellt. So erjeint Hermes als Schußgott der Diebe und Bes teüger, Aphrodite entfchuldigt eheliche Untreue (Odyffee IV, 261 ff.) und Ares die wilde Kriegsfurie (Iltas V, 888 ff.) (Schm. 136); die Götter geben fich gegenfeitig ihre Schüglinge preis, um ihrer⸗ jeits ihrer Rache zu genügen (Ilias V, 40ff.; vgl. Aſch. Prom. 557 ff. 735 ff.). Während die anderen Götter das Gaſtrecht fügen,

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ſtraft Poſeidon die Phäaken für ihre edle Ausübung desſelben (Odyffee VIII, 565f.; XIII, 173ff.), weil fie feiner perſönlichen Rache im Wege fteht. Apollo wie Artemis laſſen für Kränkungen ihrer perfönlicgen Eitelfeit furchtbare Rache über Marfyas und die Niobiden, laſſen Rache über alle Hellenen um Agamenmons | willen ergehen (Schm. 95; vgl. Odyſſee I, 9. 19. 59. 68; V, 341; XI, 377fj.; XIII, 128ff. Sfies I, 8ff.; IX, 634 ff. XXIV, 29. 601 ff. Aſch. Agam. 128. 189. Soph. Dt. Kol. 962Fff.). Die Götter fordern als Suhne Dinge, melde menſchlicherſeits als Frevel empfunden werden (Äſch. Ag. 191ff. 205f.), während Prometheus für Wohlthat bußt (Aſch. Brom. Tff. 28ff. 107f. 232f. 255. 267. 442 ff. 475ff. 1087). Um auch wenn wir auf die „homerifhen” Züge der Gottergeſchicht weniger Wert legen wollten, weil fie allerdings ſchwerlich von den Ebferen in fpäterer Zeit als eigentlich religiöfe Wahrheiten angefehen worden fein werden, fo begegnet uns doch der Eins fluß dieſes „unethiſchen“ Zuges in den Göttern auch fonft um verfennbar und häufig (Soph. Trad. 490f. Aſch. Cum. 611; Prom. 149f. 186. 402. 969f.). Die eigenen Vergehungen fcreibt man dem Geſchicke oder den Reizungen der Götter und des Dämon zu. Auch die Apate ift eine der Himmliſchen (Schm. 251)?. Die Gedanken an Neid, Graufamkeit und Mip gunft der Götter find nicht geeignet, fittlih zu wirken, Ja wenn die Götter doch wefentlich mar den „Übermut*, auch ben hochgeſinnten, ftrafen®, wenn fie ftrafen, auch wo unbewuft und unfreiwillig die Bande der Ordnung zerriffen find (Soph. Oed. r. 94ff. 101. 419ff. 1155 ff.), wenn der Menſch zweifeln kann, ob die Götter eine Frevelthat wollen joder fie verbieten (Odyffee XVI, 402 ff.; vgl. Soph. Ant. 914f.), jo muß das eher die wahren fittlichen Impulfe lähmen, als fie ſtärken. (Schm. 79,

__ ) Odyffee IV, 261fj.; XXIII, 228. Ilias XIX, 87ff. vgl. B. 126 Ah. Ag, B. 366f. (dev Me Kind, Peitho) 1432. Sophoff. Tri, 8. 1266.

3) Obyffee IV, 181; XX, 201.

#) Odyifee IV, 504. Aſch. ug, B. 352ff.; Perfer, ©. 718ff. Soph el. 8. 550f.; Aj. für., ®. 197ff. 730f.

Religion und Sittlicheit in ihrem Verhältnis zu einander. 9A

93. 127.) Die griehifhen Götter laſſen „den Armen ſchuldig werden“. Sie zwingen den Oreft, bes Vaters Räder zu werden, und dann heften die Erynnien fi an des Muttermörders Füße t), Die Götter verführen und ftrafen dann (Schm. 221. 239). Ihnen gilt in gleicher Weije als unrein, wer in gerechtem Kampfe den Räuber tötet, und wer felbft verbrecheriſch mordet (Schm. 128). So fümpft die Religion mit der Höher ſich entwidelnden Ethik, und ſolche verfühnende Züge, wie daß die Erinnyen als Eumeniden im Lande bleiben, nachdem ihnen die Macht genommen ift, in alter Wildheit das Naturrecht zur Geltung zu bringen (Aſch. Eum. 851), begegnen ung felten (vgl. Soph., Oed.r. 425qq.) Ein wirklicher Ausgleich ift bei dem Naturcharakter der Götter unmöglih. Die Ethik muß ſich zulegt als philofophifche ganz von der Religion Tosringen, und aus fich felber entfalten.

Und ebenfo ift das religiöfe Handeln auch bei den Hellenen völlig unfähig, im großen und ganzen von fittlichem Inhalte durch drungen zu werden. Was den Göttern vor allem am Herzen Tiegt, ift, daß ihre Ehre nicht angetaftet werde (Soph. Phil. 1400ff.; Aj. fur. 132). Unter frommem Handeln wird man ſchwerlich in Griechenland je etwas anderes verftanden haben, als was Homer Odyffee XIV, 420ff.; XIX, 364ff. und Jlias IV, 47Tff. beſchreibt. Es geht durch die Religion eine beftändige Angft vor Beleidigung der Götter und vor Verunreinigung auch ohne ſittliche Schuld ?). Man fucht alles, was den Göttern wiberwärtig fein kann, von ihrem Auge fern zu halten, und man denkt dabei das im Naturleben Unſchöne oder Hemmende im wefentlichen gleichbedeutend mit dem fittlih Böfen (Schm. 118ff. 122ff. 130ff.). Dan will mit Opfern und Gaben dem perfönlichen Eigennuge der Götter und ihrer Eitelfeit wohlgefallen ®), oder

2) Hd. Choeph., 8. 10. 125. 275. 288. 917f. 1017f. 10475; Cum, 8. 84. fl. .

3) Obpffee LU, 139ff.; IV, 862ff. 377{. 4721. 1074. Ilias], 20. S14fj.; VI, 266f.; VII, 448; IX, 534ff.; XI, 6. Soph. Od. Kol, 8. 224ff.; Ant, 8. 771. 1001; Phil, 8. Sf.

®) Odyffee I, 26. 67; II, 273; V, 101f. SliasI, 64ff.; VE, 448; VII, 208. 238; XX, 299; XXIL, 168; XXIII, 216ff. 863fj.; XXIV, 88.

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fe begütigen, wenn man fürdtet ihr Mißfallen erregt zu haben *),. Man trat einzelnen Männern die Kenntnis heiliger Formeln zu, melde bloß dur ihren Zauberklang oder ihren Ritus den Zorn der Götter befänftigen follen (Schw. 131, Epimenides). Man fucht durch Gebete und Opfer Rache an ben Feinden (Schm. 85). Und au vor dem Menfchenopfer ſchreckt dieſe Religion in befonderen Fallen wicht zurück. Kur das religibſe Handeln bfeibt im wefentlihen, was es im Heiden⸗ tume von Anfang an ift: fittlich gleichgliltiges Wirken auf die vor ausgefegten Privat» Neigungen der Götter, um fie dem eigenen Privat · Nutzen dienftbar zu machen. Und der religibſe Glaube bietet für das fittliche Handeln weder reine noch voliftändige Motive, und er ift am wenigften imftande, der Sittlichteit ein Prinzip zu bieten, aus welchem ſie ſich zu einem voll tommenen Gemeinjhaftshandeln allen Menſchen gegenüber entwideln tünnte 3).

Es bleiben und von den heibwifhen Kulturreligienen nur noch diejenigen zu betrachten, welche fi unter dem überwiegenden Ein fluſſe des Staatsgedantens entwickelt haben, die römiſche und die hinefifhe. Die römische Religion ®) ruht auf der naiven und lebendigen altitefifehen Raturreligion, welde außer halb der großen Stadtmittelpunkte gewiß völlig unverändert bis in die fpäte Kaiferzeit fortbeftanden hat. Aber ihrer eigentümlichen Art nach hat fie die alten Natur» Gottheiten, fomeit das möglich war, zu Mächten des Staatslebens fortentwidelt. Der Jupiter vom Capitol erinnert nur noch ſchwach an ben alten Bliggott der

67. 425. Aſch. Choeph., V. 260ff. 484ff.; Eum., ©. 106ff.; Sieben vor Theben, ©. 94f. 161. 195. 207ff. 255ff.; Perjer, B. 5OBf.; Schutſt, ®. 176ff. 429.

1) Ilta® IX, 4994. Aſch. Cum, B 272. 421 ff. 449; Perſer, 8. 187f. Soph. Ob. Kol, ©. 465ff.; Aj. fur., 8. 178f.

2) Die eigentlich philoſophiſche Fortbildung der Ethik und ben im ber Ston ſich entwidelnben beſonderen Begriff des perſönlichen Gewiſſens kann ich fie nicht berüdfichtigen.

8) Breller, Römilhe Mythologie (2. Aufl. 1862), vgl. ©. 93ff. 552 bis 61a.

Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. s

Latiner. Cr ift in Wirklichkeit der Ausdruck der Mat, Ordnung und Weisheit der weltherrfchenden oma. Und die Juno bewahrt wohl etwas mehr den Eharafter der Leben und Fruchtbarkeit bes wirkenden Mondgottheit, aber vorwiegend iſt doch auch fie die Schutzerin der weiblichen Würde und Zucht und der Heiligfeit der Che. Das ganze Gebiet der Stantsordnungen ift bis ins einzelne von religtöfen Gedanken und Handlungen, durchwebt, und die großen Tugenden des Bürgers erfcheinen in biefer „Neligion des Zweds“ zu Göttergeftalten verkörpert, So Honos, Libertas, Eoncordia, Pubicitia, Fides, Fortuna, Victoria, Salus Pub» Tica u. f. w. Deshalb ift es nur folgerichtig, daß als der Staat Monarchie ward, der Genius des Kaiſers als Gottheit der eigent liche Ausdrud des religiös angefhauten Staates ward. Dem Genius des Kaifers opfern und feine Bildfäule aufftellen, das war das entjcheidende Zeugnis für die Unterwerfung unter die in Rome Größe ſich offenbarende Gottheit. So war die Reli» giofität des Nömers im Grunde nur bie eine Seite feiner Ger feglicleit. Und mit Recht fand Plutarh in der Frömmigkeit das Geheimnis der Erfolge Roms); denn in ihr kam die ger wiffengafte und unbedingte Hingabe an das Vaterland und fein Geſetz zum Ausdrude, welche Rom groß gemacht hat ®). Natürlich ift deshalb in diefer Meligion das fittliche Handeln im weiteften Umfange von religiöfen Motiven getragen und bes ſtimmt. Das Öffentliche wie das Häusliche Leben trug in Rom bis ind einzelnfte veligiöfen Charakter an fih. Und bas religtöfe Handeln zeigte überall Beziegungen auf die Zwede der Geſellſchaft und. des Staates. Aber die eigentimliche Art diefer Verbindung von Religion und Sittlichleit auf der Grundlage einer Nature religion mußte ein wirklich volllommenes und heilſames Zufammen« wirlen beider unmöglih maden. Die religiöfe Schätzung des Staates wußte die Entfaltung der Sittlichteit zur wirklichen menſchlichen Sittlichleit hemmen. Denn weil der höchſte Zweck

2) De vit. Marcelli I, 405ff. 3) Im der Weiße der Decier und des Curtius an bie bunfelen Gott - heiten den Peinben zum Verderben tritt das beſouders plaſtiſch hewor.

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in dem einzelnen Partikularſtaate ſelbſt liegt, welcher die auderen

Vöolker und ihre Zwecke negiert oder ausbeutet, kann ſich das fitt⸗ liche Ideal nicht über den engen Begriff der Bürgertugend erheben, welche weder eine Schägung der Menſchenwurde an ſich noch wahre Gerechtigkeit und Humanität zuläßt. Die Religion wird im bie Greuel der Eroberung, des nationalen Egoismus und endlich des Cäfarenwahnfinns verſtrickt. Und wo die Philofophie vorzüg« lich die ftoifhe das fittliche Ideal Höher und menſchlicher auffaßte, da mußte fte die eigentümliche Kraft und Gejchloffenheit römischer Religion und Sittlichkeit innerlich auflöfen. So ſchuf diefe Religion allerdings das tüchtigfte und Träftigfte Volk des Altertums, aber auch das felbftfüchtigfte, gewaltfamfte und wahrer menſchlicher Bildung am meiften verfchloffene. Sobald von Griechenland aus höhere Kultur in Rom eindrang, da zerfegte ſich das römiſche Wefen und ging in Fäulnis über. Sobald durd das Chriftentum ein alfgemein menſchliches Ideal einzudringen verfuchte, da entftand ein Kampf auf Tod und Leben.

Und wie die religiöfe Beftimmung des fittlichen Handelns in Rom nicht über die Helfighaltung der gefeglichen Bürgertugend Hinausführte, fo blieb anderfeits das religidfe Handeln, obwohl auf die fittlichen Zwede des Staates bezogen, doch feinerfeits ſelbſt gänzlich ohne fittlihen Charakter. Das refigiöfe Intereſſe des alten Römers ging wie das des modernen in Kultus und Zeremor nieen auf. „WReligiöfe“, d. h. gewiſſenhafte Beobachtung der Leiftungen, welche jede Gottheit beanfpruchen konnte, bildete eine Hauptforge der Stants-Verwaltung. Aufzüge, Schaufpiele, Sühne gebräuche, Heilige überlieferte Gebets- und Zauberformeln, Ber obachtung aller Vorzeichen, ftrenge Wahrung der Ehre und der befonderen Anfprüche, die von alter&her der einzelnen Gottheit zuftanden, das ift der Charakter des relipiöfen Handelns. in Rom. Man wollte weder „abergläubig“ zu viel und Unbes gründete thun, noch irgendetwas unterlaffen. Man Heß ſich zu diefem Zwede feinerlei Mühe und Aufwand verdrießen. Wenn ein böfes Vorzeichen oder ein den Göttern verhaßter Anblid wie 3. B. ber eines zum Tode geführten Verbrechers ein glänzendes Schaufpiel unterbrah, fo wurde dasfelbe als nichtig

Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. %

betradtet und ganz aufs neue begonnen. ber auf den fittlichen Charakter diefer Handlungen felbft am ſchlechthin gar nichts an. Zu tief war die Heidnifche Anſchauung von den Göttern ein« gewurzelt, als daß man gezweifelt hätte, ihnen auch mit umfittlichen Leiftungen mwohlgefallen zu können, wenn fie nur dem Triebe der Götter nach Befriedigung ihrer Ehrfucht und Eitelkeit entgegen« Tamen. Mit unzüctigen Poſſen und der grauenhaften Roheit der Fechterfpiele hoffte man den Göttern ebenfowohl zu gefallen, wie mit unberftändfihen, nach halb vergefiener Überlieferung fort« gepflanzten Liedern, Gebeten und Gebräuden.

In allen diefen Beziehungen hat die Staatsreligion der Chineſen eine höhere Stufe erreicht). Im Staate fpiegelt fi nach chineſiſcher Auffaffung die Ordnung des himmliſchen Lebens wieber. Es ift die Aufgabe aller Bürger, vorzüglich des Kaifers als des Himmelsfohnes, die fittlichen Verhältniſſe in folder Har- monie zu haften, daß fie ein Abbild. der ewigen Ordnungen des Himmels find, Wo biefe Pflicht verfäumt wird, da kommen auch die Naturorbnungen aus ihrem Geleife. So erfcheint der Staat, vor allem der Kaifer, als verantwortlich auch für das äußere Gebeihen der Welt®). Die Fundamental» Tugend ift deshalb die Achtung vor aller Ordnung, vorzüglich der Gehorfam des Kindes gegen die Eltern ®). Demut und kräftiges Eintreten für das Recht fei es auch gegen den feiner Pflicht vergeffenden Herrfcher werden im Schu-fing und Schi-fing vor allem gepriefen. So werden die religiöfen Motive unmittelbar in den Dienft der Geſellſchaft ge— ſtellt, und zwar nicht in den Dienft eines gewaltfamen Eroberer» ftaates, fondern der bürgerlichen Gerechtigkeit, Bildung und Sitte. Cong⸗fut⸗ſe war ein praftifch rationaliftifcher Volfserzieher, und ftatt anderer Offenbarung gilt ihm bie Autorität der alten Volksſpruche und Weisheitsregeln, die er gefammelt hat.

Aber diefer Zug zur Betonung des Sittlichen hat die Religion

1) M. Müller, The sacred books of the East. ®b. III: Shu-King, Shi · King, Hfiao-King, überf. v. Legge.

2) Schu⸗King IV, 8. ©. 91; V, 6. S. 156.

5) Hfißo-Ring (III, 464ff. bei M.).

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als ſolche entleert und abgeſchwächt. Wenn noch im den ala heiligen Büchern der Himmel wirklich als Lebendiger Gott in de Weife der höher gebildeten turaniſchen Religion erſcheint *), fo in er in der gegenwärtigen chinefiſchen Meligion im Grunde nit auderes, als das Symbol einer ewigen Ordnung und Geſetzlichkeit der Dinge. Das religiöfe Handeln als ſolches .ift zu völlig ſchatten haften ſymboliſchen Handlungen herabgefhwunden. Höchſtens in Ahnentultus lebt ein Reſt der alten turanifhen Frömmigleit An die Stelle der alten Weisfagungen find Kalenderberechnungen, an die Stelle der alten Feſte das Kalenderfeit des Neujahrs ge treten. Und das Prinzip der in der Welt fich offenbaren Ordnung und Gefegmäßigkeit erweift fi anderſeits als um genügende XTriebfeder für eine höhere fittliche Entwickelung. & fehlt ein höchſtes Ziel, aus dem eine ſchöpferiſche Sittlichkeit ik Kraft gewinnen könnte. Denn ein foldes Ziel kann nur aus ein lebendigen Gottheit ftammen. So fehlt der Sittlichteit die var wärt6 treibende Kraft. Wohl entfaltet fich eine ſchöne und Humax Justitia civilis. China ift das Land der Schulen, Brüden un Spitäler, der unverrüdbaren Ordnungen, der höchſtentwidelin Eindfichen Ehrfurcht und Pietät; aber es ift zugleich das Land it Stiltftandes, der Staatd-Omnipotenz, der nüchternen Mittelmäfig keit, der Mandarinenklaſſen und der Eramina. Die dinefiik Sittligleit deren Ideal Gefeglickeit und Ordnung find ann die höchften Mannestugenden, vor allem die Tugenden ir Menfchenliebe nicht weten. Knechtsſtun, rohe Granfamteit, aut hochſte geſteigerte Habſucht und die im Kindesmorde hervortretent NRüdfichtslofigkeit der Selbſtſucht bilden die Schatten im den fit: lichen Zuftänden Chinas. Hier Hat der rationaliſtiſche Moralis mus und .der Kultus des Staats als des Höchften Zweces fin Ziel erreicht und fein Gericht gefunden, } So Haben wir in kurzen Zügen die heidniſchen Religionen uf das Verhältnis von Religion und Sittlidkeit geprüft. Bi fanden zuerft ein religiöfes Handeln ganz ohne ſittlichen Charaktt,

1) Säu-Ring IV, 5, 99; 6,101; 10, 120. V, 18, 212 3. ug. 1,4 | 52; 8, 56. II, 3, 55; 2, 77. IV, 8, 87. V, 9, 169.

Religion und Sittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. n

und ein elementares fittliches Handeln ganz ohne, religiöfe Motive. Wir fahen dann, wie mit fteigender Bildung der Geſellſchaft und mit höherer fittlicher Entwicelung die Gottheit überall Beziehungen zu den fittlihen Gütern der Gefellfchaft gewann, wie dadurch wiederum der religiöfe Faktor zu einem, wenn auch feinesiwegs dem einzigen ober auch nur dem wichtigſten, Motive ſittlicher Entwidelung ward, und das fittliche Handeln in feinen Grunde zügen religidfe Triebfedern und religiöfe Färbung empfing, und wie anderſeits das vefigiöfe Handeln auf die gefellfchaftlichen Zwede bezogen und hie und da auch fittlich gefärbt ward. Aber wir haben gefunden, daß im Weſen der Naturgötter die Unmög« lichkeit lag, dem religiöfen Handeln feinen zufälligen gegen Sitt« lichkeit gleichgiftigen event. derfelben feindfeligen Charakter grund⸗ Tich zu benehmen. Es blieb im Grunde immer eigennügiges, auf Privatlaunen der Gottheit berechnetes Handeln. Und ebenfo un. möglich war es, aus der Religion auf diefer Stufe genügende Motive für eine einheitliche, humane und ſchöpferiſche Sittlichleit zu ger winnen. Die höchften Maßftäbe, welche die Religion der Sittlich« teit darbot, waren die Ordnung des Staatslebens, die ſchöne und Harmonische Entfaltung des Dafeins in den Grenzen des einzelnen Gemeinwefens, die Abbildung der ewigen Gejegmäßigkeit der Welt in den gefellfchaftlihen Verhältniffen. Ye mehr ſich aber diefe beſchrankten Gefichtspunfte erweiterten, deſto mehr ward entweder wie bei den Indern das Sittliche durch das Neligiöfe überwuchert und entwertet, ober wie bei den Chinefen das Religidfe durch das Moraliſche entkräftet und zum moraliftifhen Nationalismus ab⸗ geſchwächt.

5. Eine entſcheidende Veränderung in der Auffaſſung des frag« lichen Verhaltniſſes finden wir in den Brophetenreligionen. Denn fo verfchieden diefelben ihrem Charakter und Werte nad aud fein mögen, und fo mannigfach fie mit den Naturreligionen zufammenhängen, deren Reformation fie find, fo tritt doch in ihnen allen die Gottheit als ein nicht in die Natur verſtricktes und nicht von Naturbedingungen beherrfchtes, fondern ſittlich freies und perfönliches Weſen auf, welches die Welt fegt und einen Zwed in ihr hat, und diefen Zwed dur die Propheten der Gemeinde

Theol. Stud. Dahrg. 1988.

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offenbart, damit er in ihr das Leben und Handeln beſtimme. Die abſolute Abhängigkeit des Willens und des Urteils von dem offenbar werdenden Zwecke der Gottheit iſt es ja allein, welche das Werk eines Propheten ermöglicht, und eine Gemeinde um ihn fammelt, und die Naturreligion in ihr überwindet. Sobald das aber gejchieht, muß alles fittlihe Handeln innerhalb einer ſolchen Gemeinde als Verwirklichung des göttlichen Zweckes erfcheinen; die fittliche Norm muß alfo als Geſetz Gottes auftreten. Und wenn auch zunächſt in dem offenbar werdenden „Gotteswillen“ nod eine Menge von bloßen Naturzuftänden ohne fittlihen Wert mit eingefchloffen erfcheint, fo muß doch der Natur der Sache nad) die fittliche Ausgeftaltung der menfchlichen Geſellſchaft mehr und mehr als der Mittelpunkt diefes Gotteswillens erfcheinen. Der Zweck der Gottheit muß in einer prophetifchen Religion im Testen Grunde mit dem Ideale des „Guten“ zufammenfalfen. Und wenn diefes göttliche Gefeg zunächſt auch nur auf ein einzelnes Bolt bezogen erfcheint, fo liegt es doc in dem Gottesbegriffe ſelbſt begründet, daß der Wille des ber Welt ihren Zweck fegenden Gottes im legten Grunde für die ganze menfchliche Gemeinfchaft gelten und für fie pafjen muß, ob auch im verfehiedenen Maßen und Abftufungen. Mit diefer Richtung auf das volllommene Ver⸗ Hältnis aber treten in den Prophetenreligionen zugleih Gefahren für die Sittlichkeit wie fir die Religion auf, welche in den niederen Religionen in diefer Form unbefannt find.

Die indogermanifchen Völker haben zwei prophetifche Religionen erzeugt. Die eine geht aus der frifchen und naiven Sichtreligion der Arier veformatorifch Hervor und ift eng an ihre Voraus fegungen und partifulariftifhen Schranken gebunden: die Licht⸗ religion de8 Zarathuftre. Die andere ift eine Reformation der philofophifch durchgebildeten und zum alosmiſtiſchen Panthei- mus gewordenen Brahmanenreligion, rein univerfaliftifg, idealiſtiſch und peffimiftifch: die Religion de8 Buddha. Die perſiſche Lichtreligion *) Hat die Heidnifchen Vorausfegungen

ı) Mar Müller a. a. O., Bd. IV. Zend -Aveſta, Bd. I. Benbibad,

über). von Darmefteter. F. Juſti, D. Bundeheſch, zum erſtenmal Heraus gegeben 1868.

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 90

in den entſcheidenden Punkten überwunden. Der eine Gott, welchem allein Verehrung gezolit wird, und als deſſen Offen- Barung diefe Religion gilt, Ahura-Mazdao, ift der gute, lebendig machende Geift, aus welchem alles fittlih und finnfich Gute in diefer Welt ftammt. Seine Geifter find gute Gefinnung, Heilige keit, Herrſchaft, Heimat, Gefundheit, Unſterblichteit. Wer ihn „das Reich geben will“, der muß die großen und Heilfamen Ordnungen des Lebens fördern: Haus, Familie, Staat, Bürger arbeit. Er fprah zu dem Menfchen: „Seid Menſchen, feid die Eltern der Welt. Ihr feid von mir volltommenen Sinnes, als die beften Geſchöpfe gefchaffen. Gefeglihe Werke verrichtet. Denkt gute Gedanken. Sprecht gute Reben. Thut gute Hand« Lungen und verehrt nicht die Devas.“ (Bundeheſch 15). Und alles fittlih Böfe ftammt wie das finnlich Verderblihe von dem fchlagenden Geifte Afigro-Mainyus, gegen den der Fromme im Bunde mit dem guten Geifte zu fämpfen hat). Aus dem böfen Geifte ftammen die böfen Mächte: Zorn, Lüge, Betrug, Unzucht, Hochmut, Veradtung, Armut, Verkrüppelung. Und wie der Fall der Menſchen mit der Verehrung der böfen Geiſter und mit ber Züge beginnt (Bundeh. 15), fo laffen böfe Thaten die Dämonen fruchtbar werden, während gute Thaten die Frucht derfelben töten. (end. 18). So folgt bei den Perfern aus der Religion felbft der Haß gegen alles unfittliche Handeln, alle Lüge und alles Zerftören (Bend. 4, 5). Und mit der größten Energie wird der Glaube an die Vollendung und an den Sieg des Guten überhaupt der eschatologifhe Faktor in den Dienft der Sitte Tichkeit geſtellt. Nach-der ſchönen Schilderung Jaſht 22 begegnen die guten Thaten des Menfchen feiner Seele, wenn fie nad) dem Tode den Leib verläßt, als Tiebliche Jungfrau, welche fie begrüßt und in die Seligfeit einführt. So erſcheint hier bie gefamte fittfiche Pflicht des iraniſchen Volkes als göttliches Gefeg, alſo religids begründet und von den DBegeifterungsfräften des Glaubens getragen. Die fittlicde Arbeit des Menfchen und die Güter,

4) Die Ahnlichkeit mit der Auſchauung ber Edda, ſowie der viel Höhere

Wert der perfifchen Auffaffung braucht nur erwähnt zu werben. 7%

100 Sqhultz

welche fie hervorbringt, erſcheinen religiös als der göttliche Zived, in welchen ein jeder eingehen muß, der fih im Glauben diefer Religion anfchließt. Niemand kann fromm fein, ohne das fittlih

Boſe zu haſſen und zu befämpfen und das fittlih Gute zu |

fördern. So tritt Hier der große und für unfere Frage ent fcheidende Gedanke des Reiches Gottes, als des Reiches volltommener Sittlihkeit, unverkennbar hervor.

Aber es find doch nur die erften Schritte auf dem richtigen Wege gethan. Der urfprünglihe Charakter der arifhen Natur religion macht ſich überall durch die Höheren Tendenzen hindurch fühlbar. Dem Willen des guten Gottes widerfpricht nicht bloß das fittlih WBöfe, fondern ebenfowohl auch alles natürlich Um erfreuliche. Große Gebiete des natürlichen Lebens erfcheinen an fi) als unrein, und als Schöpfungen der böfen Macht. So ent fteht eine verhängnisvolfe Gleichſtellung von fittlihen und Natur Verhältnifien. Der Begriff der Heiligkeit ift noch keineswegs folgerichtig aus feinem urfprüngfichen Naturdarakter in den fitt- Tichen übergegangen. Unzählige Vorfchriften und Sagungen, bie fich bloß auf das fittlih an ſich gleihgültige Naturgebiet beziehen, werben mit gleichem Nachdrude wie die fittlichen Vorſchriflen als Wille Gottes geltend gemacht. Und wo es fo ift, da wird nad der natürlichen Neigung des äußerlichen Menfchen thatſächlich immer dad Zeremoniale dem Sittlihen an Bedeutung übergeordnet werben. Es geht eine entfegliche Angft vor Verunreinigung durch diefe Religion. Die von dem guten Gott geſchaffenen Naturdinge zu verlegen ober mit unreinen in Berührung zu bringen, erjcheint

als ebenfo fchwere Sünde, wie die Verlegung der großen Grund |

füge des geſellſchaftlichen Handelns. Die heilige Flamme zu nähren, Bäume zu pflanzen u. dgl. ift heilige Pflicht und Ber dienft. Und zwar nicht aus Motiven gefellfchaftlicher Wohle thätigfeit. Die Erde, das Waffer und das Feuer durch Berührung mit Unreinem, 3. B. Totem, zu entehren, ift ſchweres Verbrechen Gend. 3). Die Gefchöpfe des böfen Gottes auszurotten iſt Pfliht. Die Tiere des guten Gottes zu ſchädigen ift ſchwere Sunde. Vor allem ift e8 verboten, den Hund, den Wächter des Haufes, zu verlegen, und mit noch fchwererer Buße wird die

Religion und Sittlidjfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 101

Tötung des Wafjerhundes, des Bibers, geahndet). So Bat das Gottesreich noch eine Menge von Naturzweden in fi. Und dem entfpricht es, daß Iran eigentlich der einzige wirkliche Schauplag dieſes Reiches ift und daß die Sranier nach ihrer natürlichen Ab⸗ ftammung Kinder dieſes Reiches find (Vend. 1), während der Kampf gegen die turanifhen Devaverehrer religiöfe Pflicht iſt. So kann e8 uns nicht verwundern, daß ein Höchft verwickeltes religiöfes Handeln ohne fittlichen Wert bei den Perfern, wie bei den Vollern ber Naturreligionen, als die nächte Konfequenz ber Frömmigkeit erfcheint. Der Apefta legt den größten Wert auf Opfer, vorzügfih das Haomaopfer, auf Wafhungen, Zauber formen und Gebete, die ſchon durch ihren bloßen Klang das Böfe vertreiben und die Schuld fühnen?). So trägt dieſe Religion noch die Feſſeln der Naturreligion an fih. Und weil das ganze Gebiet des religiöfen Handelns als göttlihe Offen- barung und göttlihes Geſetz neben den fittlichen Geboten fteht, weil alfo diefe ganze ungleihartige Maffe mit dem Stempel des göttlichen Willens als gleichwertige Pflicht bezeichnet wird, fo entfteht eine neue Gefahr für die fittliche Entwickelung: bie Ges fahr der Selbſtgerechtigleit auf Grund von Gefegeswerten und des religiöfen Fanatismus für heilige Formen ®).

Auf einer ganz anderen Seite liegen die Vorzüge und Fehler des Buddhismus *) in Beziehung auf das in Frage ftehende Verhältnis. Das Werk des Buddha ift hier wie in alfen Stüden von der brahmanifchen Weisheit abhängig, als deren Reformator

1) A. Hovelacque, Le chien dans l’Avesta, 1876.

2) Vorzüglich das Ahuna-vairya, duch weldes Ahura den Feind in bie Unterwelt geftürgt hat, und das Ajdem-Bohtt (Hagna 27. 14, 18. Vend. 9, 19).

8) In einem von biefer Prophetenreligion beherrfchten Staate wird dann diefe gefamte veligiöfe und fittfiche Pflicht zur Nechtspfliht, und fo wird der Begriff des Rechtes durch maßloſe Steigerung feiner Anwendung torrumpiert, und bie perſonliche Freiheit des Menſchen unfelig unterbunden. Der Staat leiht der Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit fein Schwert und nimmt religidſe Zeremonien als Staatsgefeg auf.

4) Bl. 9. Oldenberg, Buddha, fein Leben, feine Lehre, feine Gemeinde (1881), ©. 292—337. M. Müller a. a. D., Bd. II. The Buddhist Buttas, über]. von Rhys · Davids.

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Gakya-Muni auftrat. Und fo gilt vieles von dem, was ©. 80f. gefagt ift, auch vom Buddhismus. Das gefamte Handeln der Belenner dieſer Religion wird ausnahmslos von dem religiöfen Gefichtspunkte beftimmt. Die vier Wahrheiten von dem Schmerze des Dafeins, von der Leidenſchaft als feiner Quelle, von ber Vernichtung des Schmerzes durch Unterdrücung der Leidenschaft, und von der Erkenntnis al® dem Wege dazu, geben der ganzen Lebensführung und allen Geftaltungen der menſchlichen Gefell- | ſchaft eine beftimmte und eigenartige Färbung. Es wird ein | religiöfer Maßftab an den Wert und die Aufgaben des ganzen Lebens gelegt. Und gegenüber den Gefegeswerken der brah— maniſchen Büßer ift ein wahrhaft evangelifher Zug in Diefer Religion. Weder die Leiftungen der Askeſe noch philofophifches Grübeln und myſtiſche Kontemplation führen zum Heile, fondern der Glaube an das Evangelium von der Welterlöfung, welcher das Gemüt mit Frieden und Kraft erfüllt, und eine milde, er- gebene und fefte Gefinnung hervorruft, deren Ausdrud die 6 großen Tugenden find: Mitleid, Mäßigung, Geduld, Tapferkeit, Beſchaulichkeit und Weisheit. Die Lichtglorie um das Haupt des zum Gott gewordenen Religionsftifters befteht aus den Tugenden, die er in diefem Glauben fich felbft zueigen gemacht Hat. Und die religiöfe Liebe zu ihm erzeugt in den Seinen fittlihe Kraft. „Nicht dur himmliſche oder irdifche Ehren wird Buddha richtig verehrt, fondern der Bruder oder die Schwefter, die vollftändig und beftändig die großen und Heinen Pflichten erfüllen, und richtig wandeln nach dem Gebote, fie ehren, verehren und Heiligen den Buddha mit der richtigen Verehrung.“ 1) In diefer Religion follen die einzelnen Sagungen nur eine Gymnaſtik für die Arbeit der Selbfterlöfung darbieten. Won einem Rechtsgeſetze als dem Mittelpunfte der Sittlichfeit ift feine Rede. Ya, viele Sprüde Haben, wie längft anerkannt ift, etwas von dem genialen Idealis- mus der Bergpredigt Jeſu. „Wer nicht nad feinen Worten thut, iſt wie eine fchöne Blume ohne Duft.“ „Ein Weg geht zum Reichtum, der andere zu Nirwana.“ „Gieb, wenn man did

A) Buddh. Sut. 11, 87.

Religion und Gittlichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 108

bittet, von dem menigen, was du Haft." „Habe Mitgefühl mit allem Lebendigen.” „Suche feine Freude durch anderer Schmerz.“ „Haue nieder den ganzen Wald der Luft, nicht dem einzelnen Baum.” „Wer geduldig ift mit den Ungeduldigen, mild mit den Tadlern, leidenſchaftslos mit den Leidenfchaftlihen, den nenne id in Wahrheit einen Brahmanen.“ „Haß Hört durch Haß nimmer auf, Haß hört durch Liebe auf." „Wie die vier Ströme, wenn fie in den Ganges fallen, ihren Namen in dem heiligen Strome ver Tieren, fo wer zu Buddha fommt, hört auf, ein Brahmane, Kſchatrya, Vaiſya, Sudra zu fein“ u. f. w.

Aber der Buddhismus kennt jo wenig wie der Brahmanismus einen Gott, der die Welt für feine Zwecke fegt. Alles, was in diefer Erſcheinungswelt Geftalt gewinnt, ift vielmehr ſchlechthin zwecllos und nichtig. Wie der Trieb zum Dafein felbft die Quelle alles Elends ift, fo ift alles Dafeiende eitel, ja fchlimmer als eitel. Das Dafein ift Trennung von dem einzig Werte vollen, der Ruhe des aus der Welt freigewordenen Geiſtes. Die eigentliche Gottgeit ift das moralifche Gejeg der Vergeltung, welches ruhelos die Wefen in immer neue Erfcheinungsformen bannt, deren jede da8 Ergebnis des moralifhen Wertes in einer früheren Exiftenzform ift. Aber diejes moralifche Geſetz ift fein ſchaffendes. Es bezwedt nicht ein Reich volltommener Sittlich⸗ feit in der Welt. Es ift vielmehr nur ein Verhängnis, deſſen Er« gebniffe immer wieder völlig wertlos find. Won den Höllen bie zum Götterhimmel ift derfelbe Schmerz des Dafeins, troß der unendlichen Verfchiebeneit der Loſe. Erft wenn der Geift durch die Macht des Evangeliums aus der Kraft des Dafeins frei ges worden ift, erft wenn er aufhört zu begehren, zu wirken, ja für fich felber zu exiftieren, hat er ein wertvolles Ziel gefunden. So iſt nicht die fittliche Bethätigung, fondern das Freiwerden von ihr das höchſte Ziel diefer Religion.

Deshalb kann es auch eine wirklich religiöfe Auffafjung der Sittlichkeit im Buddhismus nicht geben. Denn alles das, was für das gefelffchaftliche Leben das wertvollfte ift, gilt für bie Religion als etwas Wertlofes und Hemmendes. Wohl ergiebt fi, die negative, befchränfende Seite des fittlichen Gejeges mit Note

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wendiglkeit aus den religiöfen Grundſätzen. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, wer den Banden der Welt entfliehen will, weil er in der Leidenſchaft den Grund des Elends ſieht, fih um fo mehr hüten muß, die Schranken, melde die geſellſchaftliche Sittlichkeit der Leidenfchaft gezogen Hat, zu verlegen. Daß man Leben, Eigentum und Ehre des anderen nicht antaften darf, daß man ſich alles deffen enthalten muß, worin Leidenfhaft und Begier in ſchrankenloſer Weife ſich geltend zu machen ftreben: das ver« fteht fi von felbft. Aber bei allen diefen Geboten handelt es ſich in erfter Linie nicht um die fittliche Rückſicht auf den Nächten, fondern um das Streben, die eigne Seele nicht in die Bande der Sinnlichkeit zu verftriden. Für die pofitive fhaffende Seite der Sittlichkeit fehlen die religiöfen Motive ganz. Aus dem Glauben tann fein Trieb zur Gemeinfchaft hervorgehen. Denn jede Gemeinfchaft bedarf gemeinfamer Zwede. Hier aber ift nur gemeinfame Zweck⸗ loſigkeit. In dem einzigen wirklichen Zwede aber fteht der einzelne Geift völlig für ſich allein. In Nirwäna giebt e8 feine Gemeinfchaft. So ift die höchſte Geſinnung gegen ben Nächften nicht Liebe, fondern Mitleid. Es ift eine impotente, im beten Falle weibs liche, Sittlichkeit, welche aus diefer Religion geboren wird.

Wenn die ganze Erfcheinungswelt notwendig als Stätte bes Schmerzes aufgefaßt wird, d. h. wenn die Welt nicht bloß, wo fie Welt bfeiben will, fondern auch als das Subftrat fitt- licher Zwede vom Übel if, wenn es fein wirkliches Ziel im irdifchen Gemeinfchaftsleben giebt: dann wird der Sittlichkeit das Bewußtſein ihres Wertes und der freudige Diut genommen. Arbeit, Erwerb, Ehe und Staat haben für den Frommen feine eigentliche Bedeutung. Die wirkliche Konfequenz der Religion führt zu einer Schule von Bettlermönden, welche alle weltlichen Dafeins - Bedingungen, bie nicht ſchlechthin unvermeidlich find, verneinen. Die Ehe ift für den wahren Buddhiſten ein uner⸗ trägliches Verhältnis. Jeder Fortſchritt der Kultur und Kunft iſt ihm eine Thorheit. Und die Maffe, welcher dns monchiſche Leben unzugänglich ift, kann nad buddhiſtiſcher Vorftellung etwas wahrhaft wertvolles nur tun, wenn fie der „Kirche“ Unter ftügung und Almofen fpendet. Das einzige Ergebnis des ganzen

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Apparates der menſchlichen Sittlichkeit find einfame Seelen, die fih von der Welt löfen und in Nirwäna eingehen.

Und wenn fo das fittlihe Ideal von dem religiöfen ver fümmert und ertötet wird, fo ift im Buddhismns anderſeits auch dem religiöfen Ideale die rechte Lebenskraft gelähmt. Wohl weiß er nichts von dem ſchlechten religiöfen Handeln des Heidentums, in welchem der Menſch finnlich -jelbftfüchtige Gottheiten beftechen und ben eigenen Zwecken bienftbar machen möchte. Geber wahre Arhat fteht Höher als die Götter und vor Buddhas Standbild neigen ſich anbetend die Himmlifchen. Aber dafür fehlt dem Buddhiſten überhaupt die freudige Kraft des refigiöfen Handeln, welde nur aus dem Glauben an einen lebendigen, zwedjegenden und ſich offenbarenden Gott entfpringt. Ein jeder muß fich felbft erlöfen, und er hat dabei nicht mit Gott, fondern mit den Kräften ber eigenen Seele zu rechnen. So ift, was wir oben eine religiöfe Beſtimmtheit des Handelns nannten, dod im Grunde nur eine philoſophiſche, man fann jagen metaphyſiſche, Beftimmt- heit desjelben. Nicht an die religiöfe Kraft der anderen Propheten« religionen, fondern an die Begeifterung des ftoijchen Philoſophen werden wir im Buddhismus am meiften erinnert. Und wo fi das Bebürfnis der Frommen im Buddha wieder einen Tebendigen Gott gefchaffen Hat, wie vorzüglich in Thibet, da dringt auch teligiöfes Handeln im Stile des Heidentums unaufhaltfam ein. Dazu kommt noch eine befondere fittlihe Gefahr in diefer Religion. Bei der ganzen Beurteilung der Lebensaufgabe muß notwendig die äußere Lebensform, in welcher die Vollfommenen zur ewigen Ruhe ftreben, ale das Ideal dee] fittlihen Handelns an ſich er- feinen. Denn die Volksmenge denkt naturgemäß nicht fo ſehr an den Inhalt eines folchen Lebens, als an feine äußere Ge» ftaft. Ehelofigkeit, Armut, harte Zucht des Leibes gelten bald als die Volffommenheit felbft, und fo empfängt diefe Religion, ganz gegen die Abſicht ihres Gründers, wieder eine fehr” große Zahl äußerlicher Lebensregein, welche das fittliche Ideal ver- fälſchen. Auf die Stellung bei der Meditation, auf die Stunde der Mahlzeit und ihre Beftandteile, auf Kleidung und Gefpräche- form, vor allem aber auf Almofen» Geben und Nehmen, richtet

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ſich in ſteigendem Maße die Aufmerkſamkeit der Buddhiſten. Alſe

Verhaltniſſe, die ſittlich in ſich völlig wertlos find, treten im den Vordergrund, während die wahren fittlihen Aufgaben verblafjen. So bieten die beiden Indogermanifchen Prophetenreligionen feine befriedigende Antwort auf die Frage nah dem Verhältnis von Religion und Sittlickeit.

6. Die Prophetenreligion in Zsrael!) beginnt mit einer Auffaffung unferes Verhältnifjes, welche der perſiſchen ſehr ähnlich tft. Einesteils Konnte aus dem Glauben an die ausſchließliche Heilsftellung Gottes zu feinem Volke unmittelbar nod kein An- trieb zu einem alle Menfchen umfaffenden fittlihen Handeln her⸗ vorgehen, fondern die religiöfen Einflüffe auf die Sittlichkeit be ſchränkten fih darauf, das israelitiſche Vollsleben mit feinen ge jellfcaftlichen Bedingungen zu heiligen. Israel ift Gottes heiliges Bolt, fein Eigentum, fein erftgeborener Sohn. Darum muß fein Vollksleben in allen Beziehungen dem Weſen dieſes Gottes ent ſprechen, d. 5. heilig fein. Und da Gott nicht wie eine an bie Welt gebundene, naturartige Kraft erfcheint, fondern als der ſchlechthin Überweltliche, als der im fich ſelbſt Ruhende (Jahve), und als der in feinem Willen auf das ſittlich Gute gerichtete ge vet, treu, gütig, wahrhaftig, dem Böfen zürnend —, fo muß die Heiligkeit feines Volkes fih in erfter Linie darin äußern, daß es in allen feinen gejellfchaftlihen Beziehungen ſich dem rechten ſittlichen Maße als dem Willen Gottes unterwirft. Das Sitten gefeg wird zum göttlichen Gebote, und zur Bundesbedingung, an welche das Volk für feine Neligion gebunden ift. Aber das Ges feß richtet fih an Jsrael als Volk und beanfprucht nur diefem Volke als unwiderſprechliche Norm zu gelten.

Andernteils trägt auch diefe Religion, wie die perfifche, eine Menge von religiöfem Handeln in fi, welches ohne fittlihen In⸗ halt nur als Erbteil aus der in Israel Überwundenen, ſemitiſchen Naturreligion zu verftehen ift. Zwiſchen reinen und unreinen Speifen wird ebenfo forgfältig unterfchieden, wie zwifchen Recht

3) Bol. meine „Altteftamentfiche Theologie” (2. Aufl.), Kap. 10. 20. 21. 22. 23. 25. 29.

Religion und Sittligjkeit in ihrem Verhäftnis zu einander. 107

und Unreht. Jede Berührung mit Dingen, an welche der Tod feine Hand gelegt hat, verunreinigt vor Gott, fo gut wie die Sünde. Die Gefege über das Schuldopfer zeigen deutlich, wie fehr da8 Sindenbewußtfein in Israel noch diefe unklare Mifhung von finnlihen und fittlihen Maßftäben in fi trägt. Wie fchon die älteften Propheten zeigen, hat fich in Israel, wie in den femi« tifchen Heidenvölfern, ein großer Teil des religiöfen Lebens⸗ interefjes um Zefte und Heilige Tage, Wafchungen und Reinigungen gedreht 1). Und auch in Israel bat man das Opfer in allen feinen bei den Heiden üblichen Formen, hat man Gelübde und asfetifche Werke vorgenommen, um ben Willen der Gottheit mit dem eignen felbftifchen Willen in Übereinftimmung zu bringen, um Gottes Angefiht zu „glätten“ und ihn duch den mohlgefälligen Duft fetter Opfer den eigenen Wünfchen geneigt zu machen 2). So haftet auch am der Religion des Alten Teftamentes im Anfange noch ein großer Reſt der heidniſchen Auffaffung unferes BVerhältniffes. Und je entjchiedener die ganze Lebensordnung Israels als göttlihes Geſetz aufgefaßt wurde, defto größer mußte die Gefahr fein, daß man auch diefe zeremoniale Seite des religiöfen Handelns für einen Teil des ewigen Willens Gottes mit den Menfchen Hielt, und meinte, daß berfelbe für Gott als ebenfo wertvoll gälte, wie die fittlihen Gebote. Ja wenn der Menſch nad feinen eigenen Neigungen urteilte, mußte er meinen, daß diefe Dinge für Gott die ſchlechthin wertvolferen feien, weil fie perfönlicher empfunden würden. Gerade die Auffafjung diefer Ordnungen als einer Summe von unmittelbaren göttlichen Gefegen ſchließt die Gefahr der fanatifhen Überfhägung folder äußeren Lebensformen ein. Und der Glaube an die Identität des göttlichen Weltzweds mit den Volkszwecken Israels barg die Verfuhung, in allen diefen Volkszwecken widerſprechenden Neigungen und Intereffen der anderen Völker eine Feindſchaft gegen den Willen Gottes zu fehen, und fi von den anderen Nationen ftolz abzu⸗

2) Dabei iſt es ganz gleichgültig, wie weit ſich die Anerkennung biefer Heiligen Formen ſchon zu feften fchriftfichen Geſetzen verdichtet hatte. Y)a.a.0D, S. 416 ff.

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fondern, eventuell fie mit dem glühenden Haſſe zu verfolgen, welchen nur die Mifhung von nationaler und religiöfer Leiden ſchaft Hervorruft. So wirft die Religion auch Hier feineswegs ansfchließlih fürdernd und im Sinne der Hinleitung zu der höchiten Humanität auf die Sittlichkeit. Gerade in ihrer Groß artigkeit und Kraft liegen fittliche Gefahren, welche unvolllommneren Religionen fern bleiben.

Aber fo entſchieden wir diefes Clement in der israelitifchen Religion zugeftehen müffen, fo entfdieden treten ung in ihr alle Bedingungen zur höheren und wahren Entfaltung von Anfang an entgegen, und zwar in einer viel vollfommeneren Weiſe als bei den Perfern. Gemäß dem Charakter der femitifchen Religion, aus welcher Israels Entwidelung hervorging, erſcheint Gott hier in einer viel folgerichtigeren Weife ans den Zufammenhängen des Naturlebens frei gemacht als bei den Perfern. Er erjcheint als ſchlechthin unvergleihlihe und unwiderſtehliche Perſönlichkeit, aus deren Willen alles in der Welt ohne Ausnahme hervorgeht, und vor deren Willen ſich alles ohne Widerftand zu beugen hat. Die mojaifche Religion weiß nichts von Naturgebieten, die aus einer anderen, Gott widerftrebenden, Macht hervorgegangen wären. Alles Dafein ift gut vor Gottes Augen. Er verwirft nur die Sünde. Und fein Leben ift im Widerſpruche mit ihm, fondern allein der Tod. Darum ift in diefer Religion im Grunde feine Veranlafjung gegeben, vorauszufegen, daß bloße Naturunterfchiede, fo weit fie nicht Symbole des fittlihen Unterfchiedes find, das göttliche Wohlgefallen oder Mißfallen hervorrufen können. Und damit iſt eigentlich das Urteil über alles zeremoniale Handeln ſchon geſprochen. Es kann mit den fittlihen Leiftungen fchlechthin vor Gott nicht gleichwertig fein, fondern es muß nach Gottes Willen bejtimmt fein, zum Symbole fittliher Verhältniffe zu werden. Diefes richtige Verftändnis der Schöpferftellung Gottes bewahrt die altteftamentliche Religion davor, anf den asketiſchen Abweg zu geraten, und fo bie fittlichen Aufgaben durch die religiöfen Ziele zu entwerten. Denn alles Natürliche ift eine gute Schöpfung Gottes, und jede Ausgeftaltung des Natürlichen zu fittlichen Gütern liegt in der Richtung des Schöpferwillens Gottes. Wohl wider

Religion und Gittlichleit in ihrem Verhältnis zu einander. 109

fett fi das Alte Teftament mit entfchloffenem Ernfte jedem Ver⸗ fenten der Perfönlichkeit in dem Taumel des bloßen Naturlebens und allen Berfehrungen der gefunden fittlichen Ordnung, welde fich an den Wechfel der Naturverhältnifje im vermeintlichen Dienfte der Gottheit anfchliegen. Bon den Greueln kultiſcher Unzucht und maffenhafter Menfchenopfer, worin die chamitiſche Kufturreligion ihren Höhepunkt findet, ivendet ſich das Geſetz Israels mit rück⸗ ſichtsloſer Entrüftung ab, und der Nafiräer, fomie der ftrenge und ernfte Prophet find die fittlihen Idealbilder des Alten Bundes. Aber Israel weiß nichts von der faljchen Furcht vor dem Natür⸗ lichen. Die Ehe ift ihm Gottes urfprüngfiche Heifige Einrichtung, Kinder ein Geſchenk Gottes, Wohlftand und reiner Lebensgenuß ein Segen vom Himmel, die Obrigkeit göttliher Art, Bürger pfliht und Krieg für das Vaterland ein Gottesbienft. Endlich ift auch in ber Auffafjung der einheitlichen Abftammung aller menfdlihen Stämme und in der Hoffnung auf den Sieg des Reiches Gottes in aller Welt die Möglichkeit gegeben, trog des Vartikularismus der Gegenwart den Willen Gottes als einen alle Menfchen umfafjenden fittlichen Willen anzufehen. Und wenn wir auf diefe Seite des Sachverhaltes fehen, fo finden wir die Keime einer durchaus neuen und vollkommenen Auffafjung des DVerhältnifjes von Neligion und GSittlichleit. Der offenbare Gotteswille Hat ein fittlides Gemeinwefen zum Zwede, zunächft in Israel, der Idee nach aber in der ganzen Menfchheit. Altes fittlihe Handeln innerhalb dieſes Gemeinwefens, ift zugleich religiöfes Handeln. Denn es ift Gehorfam gegen ben offenbar gewordenen Gotteswillen und die grundlegende Bedingung der Ger meinfhaft mit Gott. Ya, es iſt nichts anderes als die note wendige Konfequenz des religiöfen Glaubens. Denn die Bes dingungen der menſchlichen Sittlichteit Gerechtigkeit, Treue, Güte, Mitleid und Barmherzigkeit find ja nichts anderes als das Eingehen auf die Geſinnung, melde Gott felbft im feiner Dffenbarung gegen fein Belt bewährt. Darum muß auf die Bewährung dieſer dem göttlichen Willen entiprechenden Gefinnung im Grunde das Hauptgewicht fallen, nicht auf die Einzelheiten. des äußeren Handelns (Gefegeswerke). So ift wohl aud in Israel

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die urfprüngliche Erſcheinung ſowohl des ſittlichen als des refigiöfen Geſetzes das Rechtsgeſetz. Aber die Sittlichkeit treibt ver möge ihres religiöfen Faktors über dasfelbe hinaus, zu einem pofitiven „Gefege der Freiheit“, in welchem nur das Gewiffen der Richter fein kann. Und das religiöfe Handeln erfcheint freilich zunächſt ohne fittlihe Färbung, als ein von Naturverhält- niffen beftimmtes Handeln, und als ein Verfuh, in felbftifchem Intereſſe auf den Willen der Gottheit einzuwirken. Aber weil die ganze Natur ohne Unterfchied Gottes Werk und gut vor ihm ift, und weil Gott als überweltlich und Heilig d. 5. ohne Be durfnis und Mangel und Teinem Machteinfluffe unterworfen er- Kannt wird, muß notwendig das zeremoniale Handeln zum Sym bole verblafien, und alles Opferweien, wenn e8 Wert vor Gott haben fol, zum Ausdrude des demütigen, banfbaren oder renigen Herzens werden. So liegt in diefer Religion allerdings ein Weg, der ins Heidentum zurüdführt, daneben aber ein anderer, welder aufwärts führt zur wahren Religion des Reiches Gottes.

Auf den Weg, welcher rücwärts führt, tft da8 Judentum feit Esra!) mit immer fteigender Einſeitigkeit eingetreten. Nicht als ob jemals die großen Grundlagen religiöfer und fitte licher Wahrheit verloren gegangen wären, welche feit Mofes in Israel gelegt waren. Davor mußte ſchon der Schag der pro- phetifchen Schrift bewahren, welcher in diefem Volke als unan» taftbares Heiligtum galt. Aber anderfeits war gerade die Feſt⸗ ftellung des Kanon feit Esra nicht ohne verhängnisvolle Folgen für das Verhältnis, weldes wir in Betracht ziehen. Seit Esra (?) den Pentateuch abgeſchloſſen Hatte, indem er bie priefterlicen Ordnungen des letzten großen Gefegesfchriftftellers (W.) zum Mittelpunkte und zur Grundlage des ganzen Werkes machte, trat nun die ganze Maſſe gefeglicher, bürgerlicher und zeremonialer Vorſchriften, welche bei U., E. und dem Deuteronomifer vorliegen, mit einer überwältigenden Wucht als die Hauptſache in der Offen- barung Gottes an Israel Hervor, ein Verhältnis, wovon die prophetifchen Männer vor dem Exil keine Ahnung haben. Der

3) Altteſtamentl. Theol., Kap. 55.

Religion und Sitilichteit in ihrem Verhaltnis zu einander. 111

geoffenbarte Wille Gottes für fein Volt hat nun die Geftalt eines umfangreichen und bis in die Heinften Verhältnifje durchgebildeten Geſetzbuchs empfangen. Die großen fittlihen Gebote, in melden Gott feine Zwede mit Israel offenbart Hatte, verſchwinden faſt neben der Maffe von Vorſchriften über Opfer, Prieftertum, Feſte, heilige Kleider, reine und unreine Speife und taufenderlei Dinge zeremonialer Art, ja zum Teil rein bürgerlich polizeilichen Charakters. Dies alles galt nun einheitlich al® der unumftößliche Wille Gottes, von deſſen Erfüllung die Gerechtigkeit Israels abhänge. Und die religiöfe Jurisprudenz der Schriftgelehrten ſuchte die Geſetze diefes Buches bis ins Kleinſte zu zergliedern, zu erklären und durch ergänzende Vorfchriften zu fichern. Die ganze Macht der Gottesfurht und der Begeifterung für Gottes Ziele mit Israel wurde in den gläubigen jüdijchen Kreifen dem Gehorſam gegen dieſes verwickelte Geſetz dienftbar. Und gegenüber feinen Außerlichkeiten traten notwendigermeife die wirklich fittliche Gefinnung und die Humanität zurüd. Das ift die falſche Richtung des fpäteren Judentums, deſſen glängendfte Vertreter im Guten wie im Argen die Pharifüer find. Das ift der Geift, der feit der Zerftörung Jeruſalems für lange Jahrhunderte in der ſich gegen das Chriftentum verfchließenden jitdifchen Nation herrfchend ger worden ift.

In diefem Judentume ift das ganze fittlihe Handeln aus» ſchließlich von religiöfen Gefichtspunften getragen. Alle Be— ziehungen des ganzen Lebens werden bis ins Einzelnfte durch den göttlichen Willen beftimmt. Jede Verfehlung gegen diefe Ord⸗ nungen wird religiös als Sünde empfunden, melde der Sühne Gott gegenüber bedarf. „An Dir allein hab ich gefündigt und das Böfe vor Dir gethan.“ Und die leitenden Motive für alles fittlihe Handeln werden aus der Furcht vor dem göttlichen Ger richte und aus der Sehnſucht nad) der Gerechtigkeit vor Gott, dem Vergelter und dem König Israels abgeleitet. Weil aber der Wille Gottes in einer Summe von Einzelgeboten offenbart gedacht wird, muß das fittlihe Handeln den Charakter des Gejegestums annehmen (yecuuc). Nicht eine freudige Entfaltung des Lebens aus großen, fittlichen Grundfägen, unter dem Richterauge bed

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Gewiſſens, iſt hier möglich. Sondern eine Zerſplitterung der ſittlichen Arbeit in tauſend Einzelheiten, aus deren Zuſammen⸗ ftellung doch nie ein lebendiges Ganzes werden Tann. Nicht große fittfihe Ziele, die jeder in feinem Berufe zu verwirklichen hat, rufen bier eine ſchöpferiſche Sittlichkeit Hervor. Sondern Taufende von Schranken und Verboten lähmen das fittliche Leben, und laſſen ftatt einer individuellen fittlihen Schönheit nur die negativ tabellofe, gleichförmige Gefeglichkeit übrig. Der Menfch lernt die fittlich gleichgüftigften Lebensformen mit gleihem Ernfte als Willensäußerungen Gottes verehren, wie die großen Grundfor- derungen der Güte und Treue. Und fo korrumpiert der refigiöfe Faltor den fittlihen. Denn ſobald der Maßſtab für das Wefent- liche im menſchlichen Handeln verloren geht, liegt der fleifchlicen Natur des Menfchen die Verfuhung mhe, fih in dem Stüdwerke äußerer Leiftungen und Lebensformen zu genügen, welche auch den natürlichen Kräften nicht unerfüllbar find, ja fogar leicht das Gefühl des Wohlgefallene an einer erfüllten Pflicht Hinterlaffen. „Sie verzehnten Münze, Til und Kümmel und laſſen dahinten das Schwerfte im Gejeg; nämlich das Geriht, die Barmherzig- feit und den Glauben.“ Das letzte Ergebnis einer ſolchen Richtung aber Tann nur der Schein äußerer Gerechtigkeit bei innerer Uns gerechtigkeit fein, d. h. Heucelei. Diefe Entwertung und Ber falſchung der Sittlichleit wird dadurd noch verfchärft, dag in diefen Kreifen die urfprünglih durchaus natürliche Beſchränkung des Gotteswillens auf Israel als Volksgemeinde nun abſichtsvoll gegenüber den zur Humanität führenden Zügen des Alten Tefta-⸗ mentes künftlich feftgehalten wird. Während fich auf chriſtlichem, islamiſchem und bubdpiftifchem Religionsgebiete längſt die nationale Schranke des fittlichen Ideals gelöft Hatte, beharrt da® Yudentum darauf, nur Israels Volksleben als Gegenftand des füttlichen Gotteswillens anzufehen, und weigert fi, in dem Nächften, welcher Objekt des fittlihen Handelns fein foll, einen anderen ald den Volfsgenofjen oder Profelyten anzuerkennen.

Indem ferner die gefamte bürgerliche Einrichtung bes Volkes, alfo das, was an fi nur äußerliches Rechtsgeſetz ift, ebenjo gut als unmittelbarer Ausfluß des göttlichen Willens erſcheint,

Religion und Sittfichfeit in ihrem Verhältnis zu einander. 118

durchſchneidet dieſe religiöfe Anffaffung der wahren fittlichen Entwicdelung den Lebensnerv. Denn die bürgerliche Ordnung eines Volls fowie die äußere Geftalt feiner geſellſchaftlichen Zus ftände kann nur gefund bleiben, wenn fie offen bleibt für jede durch die Weiterbildung und Veränderung der Bedürfniſſe und Anſchauungen nötig werdende Vervolllommnung, wenn fie fid) die Freiheit bewahrt, Veraltetes abzuftreifen und neuen Bebürfniffen entgegenzufommen. Sobald alſo diefes Gebiet wie ein ein- für allemal dur göttlichen Willen feftgeftelles angefehen wird, ift damit einem ſolchen Volle der Charakter der Bildungsfeindlickeit, des falſchen und verberblihen Konjervativiemus aufgedrüdt. „Es muß veralten und aufgehoben werden."

So tft allerdings alles fittliche Handeln im Judentume durchs

aus religiös beftimmt, aber in einer Weiſe, die feine Gefund- Heit und Wahrheit ſchwer gefährdet. Das religiöfe Handeln jedoch Üt nirgends unter einen ſittlichen Geſichtspunkt geftellt; es hat keine andere Begründung, als in dem perfönlichen Willen Gottes, der hier nicht mit dem Willen des Guten zufammenfält. Nein watürliche Berhältniffe, Leiftungen auf dem Gebiete des äußeren Lebens „Anfangsgründe weltlicher Art“ find’s, in denen ſich ein großer Teil des dem Israeliten vorgefchriebenen Handelns bewegt. Und dies ganze Gebiet des religiöfen und des fittlihen Handelns wird als von Gott befohlen in der Form eines Merhtögefeges zur fommengefaßt, und müßte, wenn die Umftände es erlaubten, mit den äußern Zwangsmitteln ber Geſellſchaft durchgeſetzt werden. Dean das Rechtsleben der Geſellſchaft kann in diefem Volke nur beftimmt fein, der Weligion zu dienen. Der Staat muß Then tratie fein. Und fo korrumpieren fih Religion und Recht gegenfeitig, indem jedes in das Lebensgebiet des anderen über greift. . Der Zslam, dieſe anachroniftifche Weltreligion, geboren aus den religköfen Gedanken des Judentums, wie fie fi unter den Bedingungen des arabijchen Geifteslebens umgeftaltet ‚hatten, ift freifih dem rabbiniſchen Judentume inbezug. auf bie Auffaffung des Verhältniffes von Sittlichkeit und Religion .ebenfo weit über« fegen, wie fein Stifter, ein prophetifch anoelaier Mann, im

Ziel. Etnb. gehrs. 1888.

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prattiſchen Leben bewährt, unverbildet durch Aberwitz der Schule, und mit ſtaaisbildender Kraft ausgeſtattet, über den Schriftgelehrten der arabifhen Juden mit ihrer in der Bücherſtube geſchaffenen Schattenwelt von religiöfen Gedanken und Formen fand. Wie im Buddhismus und im Chriftentume ift auch im Islam die nationale und partifulare Bejhränfung des göttlichen Zweds völlig abgeftreift, fo Hug aud Mohammed in einer Menge von äußeren Sitten und Einrichtungen den Vorurteilen und Neigungen feiner Nation entgegenzufommen und ihren nationalen Stolz in den Dienft feiner Religion zu ſtellen wußte). Der Koran offenbart einen Gotteswillen, welcher den Bewohnern Zentral⸗Afrikas ebenfo gift, wie den hochgebildeten Kulturvöllern des europätfchen Südens. Und fo fann an fi im Islam das gefamte fittliche Verhalten der Menfchen religiös beftimmt und dur Gottes an Mohammed geoffenbarten Befehl geordnet aufgefaßt werden. Ferner hat Mohammed fein Abfehen auf ein kriegeriſches, im vollen Leben ftehendes Volk gerichtet. Er Hat ſich gehütet, dem Leben einen erdrückenden Ballaft zeremonialer Formen zuzugefellen. Was er in dieſer Beziehung fordert, find einesteil® die einfachften und volfstümlichiten Sagungen der altteftamentlichen Heiligkeit, die er mehr auf die Autorität der früheren Offenbarungen Hin beibe- halten hat, als daß fie ihm ſelbſt von Hervorragender Wichtigfeit erfchienen wären), andernteils Vorſchriften, zu denen ihn, wie zu dem Verbote des Weine und der Glüdsfpiele, fittlide Reflektionen veranlaßt Haben ®). Es finden fi im Koran Sprüche, in denen ganz großartig und folgerichtig ausgeſprochen wird, wie folge äußere Sagungen keinen felbftändigen Wert haben, fondern nur als Heilfame Wegelungen des äußeren Daſeins betrachtet werden wollen, 3. B. Sure 2, 272: „Nicht das iſt bie Frömmig teit, daß ihr euer Untlig wendet nach Morgen oder Abend, fondern die Srömmigfeit ift, wer an Gott glaubt und den jüngften Tag und die Engel und die Schrift und die Propheten, und giebt

4) Mektas Stellung, Wallfahrt, Ehegefege zc. 3) Sure 2, 168; 5, 1; 16, 116. 8) Sure 2, 216; 6, 92.

Religion und GSittlickeit in ihrem Verhältnis zu einander. 115

feinen Verwandten und den Verwaiften und Armen und Pilgern» den und Bittenden und Gefangenen, und das Gebet aufrecht hält und Almofen giebt und die Verträge Hält und geduldig ift in Unglücks⸗ fällen“ 1). In diefem Punkte fteht der Islam meit über dem rabbiniſchen Judentume. Und feine Religion kann mit größerer Entſchiedenheit den religidfen Charakter der GSittlichfeit betonen, als der Jslam es thut. Nicht bloß daß umaufhörlich der Gedanke an das legte Gericht und die Freuden des Paradiefes als Motiv für den Gehorfam gegen Gottes Willen gebraucht wird. Es wird auch ausbrüdtich betont, daß Teinerlei Werke ber Ungläubigen (d. h. ber Gögendiener, die von feiner göttlichen Offenbarung wiffen), irgendeinen fittlichen Wert Haben *). Alfo nur die auf Erfüllung des Gotteswillens gerichtete und von Frömmigkeit ge⸗ tragene Sittlichkeit ift wertvoll.

Diefe Vorzüge des Islam müfjen unbefangen anerkannt werden. Und darum hat der Islam, wie jede Prophetenreligion, in feiner Blütezeit wirklich eine begeifterte Sittlichkeit hervorrufen können. Und noch jegt muß die am Koran genährte Frömmigkeit Ehrfurcht vor ben Eltern, Billigfeit in den Mechtöverhältniffen, Mitleid gegen die Armen und Schuglofen und Abſcheu vor Zuchtlofigkeit und Willkur hervorrufen 9). Aber wir müffen trogdem den Islam für unfere Frage im großen und ganzen auf eine Stufe mit dem rabbinifgen Judentume ftellen, ihn alſo als eine Sorrumpierung der urfprünglichen altteftamentlichen Gedanken betrachten.

Der göttliche Wille, deſſen Offenbarung der Koran fein will, richtet ſich feineswegs in erfter Linie auf die fittlichen Zwecke der Menſchen, obwohl er. diefelben, foweit fie für den damaligen Rufturftand Arabiens in Betracht kommen, mitumfchließt. Der erfte und alles andere überragende Zweck ift vielmehr die aus⸗ ſchließliche Verehrung Gottes felbft in Bekenntnis, Kultus und heiligen Sitten. Und zwar kommt Gott dabei nicht ala das Prinzip des Guten in Betracht, deſſen Verehrung an fich auch als

3) Bal. Sure 2, 59ff. 116ff. 172; 5, 70; 42, 85; 98. %) Sure 5, 40; 10, 55; 24, 89. 8) Sure 17, 24. 82; 24, 80,

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ſittliches Motiv wirken konnte, auch nicht als die zu wirklichet Lebensgemeinſchaft mit den Menſchenkindern offenbarend fich er⸗ fließende Perſonlichteit. Es iſt der in fich verſchloſſene um ſchlechthin unerkennbare, allmächtige Willkurwille, in den mar ſich glaubend ergicbt *), es iſt die deſpotiſche Herrfcherperfön lichteit, welche Anerkennung und Verehrung fordert zur Befriedigung ihres individuellen Selbftgefühls.

Aus der Hingabe an diefen Gott kann eine einheitliche auf Prinzipien ruhende, freie Sittlichleit überhaupt nicht entftehen. Der Menſch kann fi nur in unbebingtem Gehorfam ben Ge boten dieſes Gottes fügen, ob er fie verfteht und ihnen innerlid in feiner Geſinnung zugewendet ift, ober nit. Und da Gett feinen Willen im Koran in durchaus fupranaturaler Weiſe kund⸗ giebt, in der Form feft ausgeprägter Einzelgebote und Satzungen, welche wie unveränderliche Reichsgeſetze ein« für allemal veröffent- licht werden, fo muß die Sittlichleit in diefer Religion wie im Zudentume zu Geſetzeswerlen werden ?). Was der Koran gebiete, ob es eine Vorſchrift über die Formen der Wallfahrt oder de Faftens im Ramadan ift, ober ein Gefeg über Erbteilung um Handel, oder eine Anordnung über die fittlichen Grundgebiete des Geſellſchaftslebens, es ift eins wie dad anbere güttliches un veränderliches Gefzg, fo lange diefe Religion befteht. Und diefer Gefegeöcharakter der Willensäußerungen Gottes im Islam wird der Sittligpfeit befonders durch bie fittliche Oberflächlichteit Mahammes verberblich, welche mit feinem Gottesbegriffe eng zuſammenhängt Das einzige wirkliche Herzensanfiegen Gottes ift nach Mohamı meds Überzeugung die Anerkennung feiner Made und Cinzigteit. Jede Sunde gegenüber biefem Gebote ift umverzeihlich und ver nichtet alle anderen guten Werke. Aber wo biefe Grundforberumg erfüllt iſt, da zeigt der Gott des Koran bie fittliche Unfolge⸗ richtigkeit und Launenhaftigfeit, welche dem beipotifchen, an kein

1) Im biefer Refignation gegenüber bem Kismet Tiegt and; eine ftttlich eur nervende Macht (8, 148; 4, 80; 9, 51. 122; 15, Aff.; 85, 12; 86, 9. 79: 41,47). oe .

9) Dem entfpriht, daß Im Islam, was Sünde if, auf bürgerlid geſtraft wird, und mas geſellſchaftliches Unrecht iſt, auch Sunde gegen Gott if.

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander, 47

fittliches Prinzip gebundenen, Willen zu eignen pflegen. Er ift weit davon entfernt, ſich mit der fittlichen Idee zu indentifizieren und ihre rückfihtelofe Durdführung bis in die Gefinnung des Herzens hinein zu verlangen. Er ift der „Önädige und Ber« zeihende“ d. h. er ift bereit, wenn eine allgemeine justitia civilis vorliegt, fonftige Berfehlungen zu überfehen. Er geftattet feinen Gläubigen, vor allem den Reichen *), durch äußere Werke, wie Almoſen, Faſten und Wallfahrten, die Vergehungen gegen das fittliche Gebot abzufaufen 2). Er ift nachgiebig gegen die Neigungen des natürlichen Menſchen, fobald fie nur in den Schranken der äußeren Sitte bleiben. Kurz diefer Wille Gottes ift völlig un⸗ geeignet, das Prinzip wahrer Sittfichkeit für feine Bekenner zu werben. .

Ia, der Koran muß geradezu zum Hemmfchuhe der fittlichen Entwidelung und dadurch zum Unfegen für die Bildung und innere Gefundpeit der von ihm beherrſchten Völler werden. Denn die gefamte Rechtsorduung, die Vollsſitten und Qebensgemohnheiten, welche Mohammed gemäß feiner Fürftenftellung anordnete, erfcheinen im Koran ale durch göttliche Offenbarung ein- für allemal feſt⸗ geſtellt. Nun ift nicht zu leugnen, daß dieſe Anordnungen, mit dem Maße der Kultur und Sittlichkeit gemeffen, weldhe Mohammeb in Arabien vorfand, im ganzen große Anerkennung verdienen. Selbſt feine Eheordnungen find ein großer Fortſchritt gegenüber der arabifchen Sitte. Und meiſtens geht ein praktiſcher Zug echt ftaatsmännifhen Sinnes durch Mohammeds Anordnungen. Uber ſchon für die damalige Zeit ftellte diefes ganze Gefe einen ent ſchiedenen Rüchſchritt dar, gegenüber dem, was anderswo erreicht war. Und wäre das auch durchaus nicht der Fall geweien, fo ift es ſchon an ſich verhängnisvoll, wenn man die äußeren Lebens⸗ formen eines Volkes für alle Zeiten als durch göttliche Offen⸗ barung feftgeftellte, gegen jeden Fortſchritt abſchließt. Denn auch

2). 8. 5, 91. 96.

%) Die Berufung auf diefe Nachſicht Gottes, die das Leichte und nicht das Schwere will, find zahllos im Koran. Spezialerlaubniffe, um 3. B. dem Propheten felbft die fittlichen Leiftungen leichter und angenehmer zu machen, vgl. 3. B. Sure 88, 49; 49, 3; 59, 6ff.

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im ſittlichen Leben, geſchweige denn im äußerlich geſellſchaftlichen, konnen nur die Prinzipien dieſelbigen bleiben. Ihre äußere Form wandelt fi mit neuen Bebürfniffen und Anfhauungen. Was einft ein Segen gewefen ift, wird zum Fluche. Der Islam bindet feine Belenner unerbittlih an die Kulturftufe eines vohen Volles. Er laßt für wahre Wiffenfchaft und Kunft, für würdige Entfaltung der Ehe und des gejellichaftlichen Lebens, fir freie und gefeglice Staatsentwidelung feinen Raum. Und er bietet feinen Erfag dafür durch Stärkung und Reinigung der fittlichen Prinzipien. Die fittlihen Gebote werden nicht auf ihre fittliche Notwendigkeit ge- gründet, fondern als Willfürgebote der Allmacht hingeftellt, die feine Prüfung zulaffen und den Frommen an fi verpflichten. Und in noch höherem Grade ift das natürlich bei den Geboten der Tall, welche äußerliche Lebensformen oder religiöfe Handlungen zum Gegenftande haben. So forrumpiert der religiöfe Faktor im Islam wie im Rabbinismus die Sittlihkeit. Sie wird zum äußerlihen Werktun um Lohnes willen oder aus Furcht. Sie bewegt ſich vorwiegend in Formen oder in Verboten. Sie nimmt auf die Gefinnung nur beiläufig Rücfiht und fennt als legten, entſcheidenden Faktor nicht das ſittlich durchgebildete Gewiſſen des Einzelnen, fondern den Buchſtaben des Gebotes. Und das religiöfe Handeln, obwohl es im Islam lange nicht fo ſehr wie im rabbinifhen Judentum das fittliche überwuchert, bleibt doch neben ihm und ohne innere Verbindung mit ihm beftehen, als eine Summe von fittlich gleichgüiltigen und innerlich unverftändlichen Leiftungen.

7. Den Weg, welcher von’ den Anfängen der altteftamentlichen Religion zu einer vollfommenen Berbindung von Religion und Sittlihkeit führt, fehen wir in der prophetiſchen Entfaltung diefer Religion betreten, und fein Ziel finden wir im Ehriften« tume erreicht. Bon der altteftamentlichen Entwidelung foll nur mit kurzen Worten geredet werden, um zu zeigen, daß fie in der That aud auf diefem Gebiete die unmittelbare Vorbereitung chriſt⸗ licher Gedanken ift !). Gegenüber der Gefahr, die Sittlichkeit

2) Bol. Altteftamentl. Theologie, ©. 322 ff.

Religion und Sittlichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 119

durch die Maffe des religiös beftimmten zeremonialen Handelns au erftiden, Haben die Propheten mit einer oft paradogen Be— ftimmtheit geeifert. Gott begehrt nicht Opfer, Feſte und Gaben. Er will nicht die Gebärden äußerlicher Selbftdemütigung. Er will Gerechtigkeit, Zuverläffigkeit und Güte, unparteiliche und mutige Rechtſchaffenheit, demütige, danfbare und gläubige Herzen. „Es ift dir gefagt, Menſch, was gut fei, und was fordert der Herr von dir? Nur recht thun und Güte Lieben und demütig wandeln vor deinem Gott.“ Wenn die Propheten den Zorn Gottes über fein Volk verkünden, fo begründen fie diefen Zorn faft ausſchließ⸗ lich durch die fittlichen Frevel, welche fie im Volke rügen: Ro— heit, Graufamfeit, Üppigkeit, Unredlichkeit, vor allem in der Rechtspflege, Gewaltthat und Unbarmherzigkeit. Alſo die Sünde gegen Gott wird in erfter Linie in ber Übertretung der fittlichen Ordnungen der Gejellfchaft gefunden. Die Verlegung der Heiligen Formen kommt dabei nur als Auflehnung gegen die Ordnungen und Sitten des israelitiſchen Vollslebens in Betracht. Die Über- tretung fefter Volksfitten muß ja in einem Volke, deſſen Leben wejentlih auf das Anſehn der „Sitte“ begründet ift, immer wie eine Verlegung der Rechts- und der Bürgerpflicht erfcheinen. Und wenn die Propheten den Willen Gottes verfündigen, dann weifen fie immer auf die Güte und Gerechtigkeit hin, melde Gott in feinem eigenen Verhalten feinem Volke gegenüber gezeigt hat, und welche er dem entſprechend auch zu der feiten Norm des Handelns der Israeliten unter einander machen will. So fließt die fittlihe Gefinnung unmittelbar aus dem Glauben an Gottes eigne Offen« barung, und das eigentlich wertvolle Handeln ift nichts als die freie Entfaltung und Bewährung diefer Gefinnung, in welche natürlich die ehrfurchtsvolle und gewiſſenhafte Beobachtung der Heiligen Lebensgewohnheiten des Volkes Gottes eingejchloffen ift. So gewinnt das Handeln in Jsrael mehr und mehr den Charakter einer. wirklich einheitlichen Sittlicjkeit. Und neben dem negativen Prinzip des fittlichen Handelns, der Gerechtigkeit, tritt immer mehr das pofitive, gemeinfchaftsbildende Prinzip felbft, die Liebe, in den Vordergrund, je mehr auch in Gottes Offenbarung feine das Volk ſchaffende und erhaltende Liebe als das Wichtigfte verftanden

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wird. Und wenn auch zumächft nur das ſittliche Handeln in Israel unter diefen Gefihtspunft fällt, fo kennt die Prophetie doc gegen den in Israel wohnenden Fremdling (Ger) in fehr weitgehendem Maße biefelben Pflichten der Liebe umd Treue. a, felbft der eigentliche Vollsfremde obwohl in der Gegenwart noch aus der fittlichen Gemeinſchaft ausgejchloffen erfcheint doch in dem Idealbilde des Reiches Gottes in biefelbe aufgenommen. Alfo der fittliche Zweck Gottes umfaßt feiner Abficht nach die ganze Menfchheit. Die Religion diefes Gottes ift demnach das ausreichende Motiv für eine einheitliche, univerfale und humane Entfaltung der Sittlihkeit. Selbſt der Sklave und der Feind werden nicht mehr als außerhalb der fittlichen Gemeinſchaft ftehend betrachtet, und die ganze bürgerliche Sitte -wirb von einem ſchönen Geifte der Milde, Mäßigung und Menſchlichkeit getragen.

Aber wir werden beffer thun, das, was im Alten Teftamente dod immerhin nur werdend und mit unvolltommenen Elementen gemifcht vorliegt, in feiner hriftlihen Vollendung zu ber trachten.

Jeſus iſt in ſeinem Volke mit der Predigt von dem Reiche Gottes aufgetreten, welches mit ihm in den Boden dieſer Erde eingeſenkt wird, um einft in überweltlicher Herrlichkeit von Gott geoffenbart zu werden. Und er Hat ald das gemeinfame Prinzip alles Handelns in diefem Reiche die ſchlechthin von keinen welt- lichen Bedingungen abhängige Liebe Hingeftellt, welche in der Feindesliebe ihren eigentümlichften Ausdrud empfängt. In diefem Reiche offenbart ſich Gott ala der Water der Reichsge⸗ moffen. Seine Vollkommenheit ift die Liebe, welche über Gerechte und Ungerechte Segen ausgießt (Matth. 5, 45ff.). Und als die Junger ChHrifti in ihm felbft die Offenbarung Gottes, und in feinem Heilswerke die Offenbarung des vollkommenen Gotteswillens erfannten, da wurden fie gewiß, daß das eigenfte Weſen der Gottheit in dem Kreuzedtode Chrifti zur Erföfung der Brüder offenbar geworden fei. Gott ift die Liebe. Mit diefer Er⸗ kenntnis empfängt die Sittlichleit ans der Religion ihr Höchftes mögliches Motiv. Die Liebe in ihrer elementaren Form ift, wie

Religion und Sittfichteit in ihrem Verhältnis zu einander. 121

wir geſehen haben, das alle fittliche Gemeinſchaft überhaupt erſt ermöglichende Motiv als ſolches; denn Liebe ift „Gemeinſchaft ſuchen“. Die Liebe im Reiche Gottes aber, weit fie ſchlechthin ohne weltliche Bedingungen und Grenzen ift, kann nicht aus weltfihen Zweden hervorgehen. Sie kann nur refigiöß entftehen, unter dem Eindrude der ſich offenbarenden göttlichen Erlbſerliebe. Erft diefe Liebe aber ift das rechte Prinzip aller Sittlichleit, diefe Viebe, melde Gemeinfhaft mit jedem Menſchen fucht ohne Unterfchied der weltlichen Bedingungen, und zwar eine @er meinfchaft nicht weltlich-felbftiicher Zwede, fondern de8 Guten an ſich, eine Gemeinfhaft um der Gemeinſchaft willen, eine Gemeinſchaft in dem einen göttlichen Zwede, der allen Menfchen gilt. Denn nur diefe Liebe tft fähig, alle Verſchiedenheiten des Intereffes, alle fi miderftreitenden Sonberzwede, duch einen höheren Gemeinſchaftszweck feft und harmoniſch zu überwinden. So wird das fittliche Handeln erft im Chriftentume im voll» fommenften Sinne religiös beftimmt unb bedingt.

In dem Glauben an die Erlöferliebe Gottes und an das Reich der Liebe als feinen eigenen höchſten Zwed, ift zum erften« male in der Menſchheit der Partikularismus in der Sittlichkeit wirklich überwunden. In Ehriftus ift fein Heide noch Jude, kein Dann noch Weib, kein Knecht no Freier. Der Samariter wird zum Näcjften des Juden. Uber keineswegs werden die vom der Natur und Geſchichte gefegten Verſchiedenheiten in der Menfchheit durch diefes vefigiöfe Prinzip aufgehoben oder undeutlich gemacht. Denn der eine göttlihe Wille (daß wir Gemeinfchaft im höchiten Zwecke fuchen follen), geftaltet ſich notwendig zu verjchiedenartigen Pflichturteilen, je nachdem bie Bedingungen für biefe Gemeinſchaft vorhanden find, oder je nachdem noch befondere Aufgaben der möglihen Gemeinſchaft einen eigentümlichen Charakter geben. Gegenuber demen, melde auch ihrerfeits ſchon deufelben Zweck erftreben, d. h. den Brüdern, empfängt die Biebespflicht eine ber fondere Innigkeit. Gegenüber den durch andere fittliche Verhält- niſſe mit und Verbundenen, den Genoffen der Nation, der Bamilie u. dergl., beſtimmt fid bie Siebespflicht eigentümlich. Uber es bleibt daS gleiche fittliche Prinzip in allem Handeln. Und biefes

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Prinzip kann nicht anders als religiös gewonnen werden. So gickt es im Chriftentume feine Sittlichkeit, die nicht religiös beftimm wäre. Der Glaube ift es, der ſich durch Liebe äußert. Die Werke find des Glaubens Früchte.

Das Reich Gottes erfcheint nicht als ein einzelner Zwei Gottes neben den anderen, ſondern als der Gotteszweck fchlechthin. Die Welt ift auf Chriftus Hin und in EHriftus geworden. Der Geiſt in der Gemeinde ift Gottes eigener Geift, in welchem er fi erfennt. Und die Glieder des Gottesreiches wiſſen fich von Ewigkeit zu Herren der Welt beftimmt. Darin liegt eine religiök Kraft für das fittliche Handeln, welche der unreligiöfen Sittlichkeit ſchlechthin fehlen muß, die Gewißheit, mit Gott und feinem

weltfegenden Willen gemeinfam zu wirken, die Giegesgewißkeit, |

Seligkeit, Geduld und Zuverficht, welche dem fittlichen Lebenswerk erft Wert und ausreichende Grundlage geben. Darin liegt aber zugleich, daß der Chriſt von feinem anderen für ihn geltenden Wille Gottes wiffen kann, als von dem Willen, dem er in der Sittlich⸗ keit nachkommt. Der Wille Gottes richtet fih an feine Kinde nicht mehr als ein unverftandenes ihren blinden Gehorſam fordern bes Machtgebot; fondern er” offenbart ſich als Prinzip eind Handelns, in weldem fie mit Gott gemeinfam wirken. Gott mil von den Gliedern feiner Gemeine nichts anderes, als das Arbeiten im Reiche Gottes d. h. die hriftliche Sittlichleit. Und der Menfd feinerfeits Tann in feinem auf Gott bezüglichen Handeln nicht anderes erftreben, als teilzuhaben an diefem Reiche, in welchen die Gemeinfchaft mit Gott, Leben und Seligleit gegeben fin. Nicht mehr mannigfache endliche Güter, fondern das eine höchſt Gut ſucht Hier die Religion. So wird im Ehriftentume dat fittlich Gute wie das religiöfe Gute einheitlich verftanden un beide werben in ihrem tiefften Wefen eine. Das höchſte Gut iſt zugleich das Höcfte Gute. Und alles, was von Gutem und Gütern wirklich Geltung behalten foll, muß in biefem einen Höchften zu finden fein. Eins iſt not.

Damit ift die Trennung des veligiöfen vom dem ſittlichen Handeln endgültig aufgehoben. Niemand kann meinen, das Wohl gefallen Gottes durch Handlungen zu erwerben, die fittlich indiffe

Religion und Sittlichteit in ihrem Berhäftnis zu einander. 13

rent oder gar unfittlih find. Denn Gott hat feinen anderen Willen offenbart, als den im Gottesreiche beſchloſſenen. Das einzige Opfer, welches er will, ift die Perſönlichkeit, wie fie fi) in den Dienft feiner fittlichen Zwecke ftellt (Hebr. 10. Röm. 6 u. 12). Es giebt feine andere wirkſame Äußerung der Liebe zu Gott, als in der Liebe zu ben Brüdern. Und da Gott der Schöpfer aller Welt und Geift, Licht und Leben ift, fo hat er weder ein Bedurfnis gegenüber weltlichen Dingen, noch irgendwelche auf weltlichen Unterſchieden beruhende Abneigung oder Zuneigung. Alles bloß veligiöfe und zeremoniale Handeln beruht aber auf der Fiktion, daß natürliche Unterfchiede für das göttliche Wohlges fallen Bedeutung haben. So fällt bie ganze Summe ber Ge fegeswerte als „Schatten“, al® nur ben Unmündigen geziemend, für die Kinder des Gottesreihes dahin. Sie konnte nur Geltung behalten, fo lange fie als ein Beftandteil der gefeglichen Ordnungen im israelitiſchen Volle die Vollsgenoffen zum Gehorfam ver⸗ pflichtete. In diefem Sinne Hat fih Jeſus, wie feine erften Jünger, biefen Ordnungen nicht entzogen. Sobald aber das Chriftentum mit dem organifierten Vollsleben Israels nicht mehr zufammenfiel, mußte diefes ganze Gebiet folgerichtig ausgeſchieden werden. Wohl bleibt auch im Chriſtentume refigiöfes Handeln übrig. Uber es will nicht mehr ein auf die Veränderlihkeit und die befonderen Neigungen Gottes berechnetes wirkſames Handeln fein, welches feinen Willen dem menschlichen, fleifchlihen Willen dienftbar zu machen ftrebt. Denn wer ein Glied des Gottesreiches ift, der will, daß der Wille Gottes ſich in ihm erfülle, wie in anderen, und er glaubt, daß Gott ihn ſchon an fich mit der Höchften Kiebesgefinnung in Chriſtus umfaßt, und daß er weiß, was wir bedürfen, ehe wir ihn bitten. So wird bas religiöfe Handeln im Chriftentume zur Hingabe des eigenen Lebens an ben Gotteswillen, um ed mit den Kräften biefes Willens erfüllt wiederzunehmen, zur Verſenkung in das Geheimnis der göttlichen Liebesoffen- barung, um bie Kräfte der himmlifchen Welt zu empfangen, bie darin verborgen Liegen, und zur Bethätigung ber fteten Lebens⸗ und Liebesgemeinfchaft mit Gott, auf welder das Reich Gottes ruht. Diefes ganze Thun aber ift nicht mehr ein dem fittlichen

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Leben fremdes Gebiet. Es läßt ſich auch ſittlich als die ne wendige Bereitung und Kräftigung der Perfönlichkeit zum Dienfe Gottes an den Brüdern bezeichnen. Das Wort Heilig empfängt im Chriftentume fittlichen Charakter. Die Heiligen d. h. die fir Gott Geweihten, find zugleich die „zw guten Werken Gezeugten“ Die Heiligung, d. 5. die Aneignung ber Perfönlidjkeit an da Dienft Gottes, ift zugleich die ftete Vorausſetzung alles wahra fittlichen Handelns. Und alle veligiöfen Mittel zur Heiligun treten in den Dienft der Sittlichkeit. Ya auch dasjenige religiäk Handeln, welches wir als Kultus der Gemeine bezeichnen könne, {ft im Ehriftentume ein Teil der Sitilichteit. Denn es ift ke notwendige Bethätigung bes Chriften innerhalb ber befondem fittlichen Gemeinſchaft, die den refigidfen Zwecken der @ejellihef dient, und ift ebenfo innerlid; verftändfich, wie die fittlichen Auf rungen in der Kunſt oder im Rechtsleben. Es will nicht, wien den niederen Religionen, eine Wirkung auf Gott ausüben, ſonden es will die religiöfe Stimmung, welche in der chriſtlichen Gemex vorhanden ift, zum Ausdruck bringen, und dadurch natürlich auf wie durch alles darftellende Handeln biefe Stimmung be leben und krüftigen. So giebt es im Chriſtentume fein religiöd Handeln mehr, welches nicht als Quelle ober als Ausflug ii fittlihen Handelns verftanden werden Lönnte,

Das gefamte Gebiet bes chriſtlichen Handelns erfcheint durh

den von Gott geoffenbarten Willen geregelt, wie im ala

prophetifchen Religionen. Aber nicht durch ein mannigfaltiges und doc) ſtets unzureichendes Syſtem von Geboten und Verboten, it von jedem einzelnen im vorgejehenen falle die gleiche Art ii Handelns fordern, nicht durch ein göttliches Rechts mi Sittengefeg, fondern dadurch, daß das ‚gästliche Ziel da menfchlichen Handelns und die göttliche Beurteilung der Dip geoffenbart werden, woraus fi für jeden in jedem Falle die gerak ihm geltende Pflicht mit Notwendigkeit ergiebt. Au die Stelle de Buchſtabens tritt der Geift. Chriſtus ift bes Geſetes Ei &o kann jeder Chriſt nur felbft ſich das Pflichturteil im einen Falle bilden. Er thut nicht als Knecht ein fremdes Gebot, ji bern erfüllt als Kind des Vaters Willen. Darum fann fig w

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander, 125

Ehriftentum allein wirklich auf refigiöfem Grunde die individuelle Beftalt der Sittlichfeit entfalten, wie fie fonft nur der hellenifchen Philoſophie als Ideal vorgeſchwebt Hat. Jeder muß nach feinen Anlagen, Gefahren und Berufsaufgaben ſein Handeln geſtalten und das Kunftwerk eines Lebens ſchaffen, welches feinem anderen Menfchenleben ganz gleich, und doch jedem gleichwertig ift. Darum tommt auch im Ghriftentume das Gewiſſen erft zur vollen Geltung, werm auch von ben neuteftamentlichen Schriftftellern nur die am helleniſtiſchen Sprachgebrauche orientierten das Wort ſelbſt öfters gebrauchen. Sittliches und religiöjes Gewiſſen find für den Eheiften ſchlechthin eins. Wer ſich durch das fittliche Ideal des Chriftentums gerichtet fühlt, fühlt fich aud von Gott gerichtet, und wer diefem Ideale nicht widerfpricht, hat auch ein gutes Ge⸗ wiffen vor Gott. Das Gewifjen wird dem Chriften zur Stimme Gottes (avveldnass Isod). Und weil das fittliche Ideal iu ber Form eines einheitlichen Prinzips gegeben ift, und feine Anwendung ſchlechthin nur von ber einzelnen Perfünlicteit felbft ausgehen Tann, fo tritt das Gewiſſen zugleich im gegebenen Balle in einen bewußten Gegenfag zu der Meinung der anderen, ja ſelbft event. zu ber öffentlichen Meinung, Es fällt ein Urteil über einen beftimmten Menſchen, welches für diefen fchlechthin giftig und unwiderſprechlich iſt, für andere aber in vielen Fullen durchaus nicht maßgebend fein kann, ja von ihnen vielleicht als Urteil eines irvenden Gewiſſens erkannt wird, wenn der Ber treffende das chriftliche Ideal noch nicht rein verftanden hat ?). Das Reich, Gottes ift ein Reich von überweltliher Art, und fein Prinzip ift ein übermweltlihes. So folgt aus der triftlichen Neligion die fittlihe Aufgabe der Weltverneinung, infofern die Welt ihre eigenen Prinzipien gegen bie göttlichen aufs recht erhaften will (vag& xdouos). An die Stelle der zjeremonialen Vermeidung beftimmter Naturgegenftände tritt. die Aufgabe, die Natur als Natur niemals herrſchen zu laſſen, bie Seele zu verlieren, um fie zu gewinnen, und feinerlei Roms promiß mit den Grundfägen des Wleifches einzugehen. In diefer

3) Bas nicht aus dem Glauben ift, iſt Sünde (vgl. überhaupt Röm. 18. 14).

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grundfägli—hen Verneinung der weltlichen Motive für die Sittlich keit wirft die chriſtliche Frömmigkeit ähnlich wie bie buddhiftiſche Aber in dem Glauben der Ehriften au Gott den Vater, melde feine ewigen Zwedte fchaffend in der Welt offenbaren will, Kiegt der grumbfägliche Gegenſatz beider Religionen. Aus diefem Glauben gehen pofitive fittliche Ziele Hervor. Das Reid der Liebe ift ein ſchopferiſches Ideal, und gerade weil dieſes Gottesreich micht von dieſer Welt ift d. h. als ſolches feine äußerlich ſichtbare Er⸗ ſcheinung in dieſer Welt Haben kaun —, wirkt die religiöfe Be ftimmung der Sittlickeit im Chriftentume nicht als Korrumpierung ober Entwertung des fittlihen Handelns. Die Vollkommenheit if im Epriftentume nicht eine befondere Form der weltlichen Leben führung, etwa in Askeſe und Weltflucht. Das Handeln aus Liebe vollzieht fich nicht in befonderen Leiftungen, etwa in Almofengeben ober in religiöfer Befchäftigung. Sondern das Reich) Gottes kann nur im den fittlihen Gemeinfchaften zum Ausdrucke Lommen. Und jede Gemeinſchaft ift hriftlich wertlos, im welcher diefes Reich nicht gewirkt wird. Aus dem Motive der hriftlichen Lich ann man überhaupt nur innerhalb der Pflichten des gemeinſchaft- tigen Lebens handeln. Und jedes pflihtmäßige Handeln ift chrift lich wertlos, wenn es nicht aus diefer Liebe geſchieht (1 Kor. 13). So wird die Sittlichkeit durch den religidfen Faktor nicht erbrüdt, fondern vollendet und geadelt. Der Eprift weiß, daß er die Kraft zu wirffiher Sittlicfeit nur religiös, d. 5. aus Gnaden im Glauben, empfangen kann. Und weil er glaubt, daß die Welt von Gott fir feinen göttlihen Zweck erſchaffen ift, fo gilt fie ihm als Grundlage für diefen Zwed überall als ſchlechthin gut. Da ferner der göttliche Zweck das fittliche Gemeinſchaftsleben der Menſchen voransfegt und ohne basfelbe gar nicht zur Exrfcheinung kommen fan, fo find alle wahren menſchlichen Gemeinſchaften Gottes heilige Ordnungen und wirklihe Güter. Sie werden nur da verwerflih, wo fie mit dem Geifte des Himmel reihe in Widerſpruch ftehen und ihm als dem hödften Zweck fi widerfegen. So ift das Chriftentum von jeder falfchen As keſe und Weltverneinung entfernt. Alles Natürliche gilt als rein, d. 5. als fähig, dem göttlichen Zwede zugeeignet zu werden. Ehe,

Religion und Sittlichleit in ihrem Verhältnis zu einander. 127

Staat, Recht, Bildung find Gottes Ordnungen, die man um des Gewiſſens willen zu achten Hat. Uber der Wille Gottes ſchreibt ihnen feine beftimmte äußerlihe Form vor, fondern läßt Raum für jede Entwidelung, vorausgefeßt, daß fie für den Geift des Himmelreichs offen fteht und ihm nicht ausſchließt, daß fie alſo gegenfeitige wahre Förberung der Menfchen geftattet. Umd wo dem Ehriften eine feftftehende Rechtsordnung entgegentritt, wo alfo eine Rechtspflicht fir ihn vorliegt, da hat er fie ale Gottesordnung zu achten. Sie ift ihm nicht mehr eine äußerlich ſich aufzwingende Ordnung, fondern ein fittliches Gut, das er zu wahren und zu fördern Hat. So wird die Rechtspflicht zur wahrhaft fitt- lichen Pflicht, und beide gemeinfchaftlih werden zur religiöfen Pflicht. Das gefamte fittlihe Handeln ift religidfes Handeln, und es giebt fein religiöfes Handeln, welches fi nicht aus der fittlichen Pflicht verftehen und auf fie Hinleiten ließe.

So ift der Gang der Entwidelung durchmeſſen. Religibſes und fittlihes Handeln find eins geworden, und die hriftliche Ethik lann beides einheitlih aus dem gleichen Grundprinzipe ent» falten. Die Sittlichkeit beginnt ganz ohne religiöfen Charakter. Sie wird zufegt vollftändig von der Meligion getragen und empfängt ihr oberftes Prinzip und ihre Motive aus ber Offen- barung Gottes, Sie beginnt mit den notbürftigen Regeln, ohne die ein gemeinſchaftliches Leben nicht möglich ift, und überläßt alles andere der Willür. Sie kennt fein Prinzip, fragt nad feiner Gefinnung und fennt feinen anderen Richter, als die öffent liche Meinung und das Geſetz des Staates. Sie endet bamit, die Gefamtheit alles möglichen Handelns allen Menſchen gegenüber aus einem einheitfichen überweltlichen Prinzip, der Liebe Gottes felbft, auszugeftalten, und fennt dann Leinen anderen Richter als die Gewiffensftimme in der eigenen Bruft, die zugleih Stimme Gottes ift, und weiß vom nichts, was ſittlich gleichgültig und nur ber Willkür überlaffen wäre. Das fittlihe Handeln beginnt als Unterordnung unter das Rechtögefeg, unter Sitte und Sagung des Volks, ganz gleihgültig dagegen, ob biefelben dem Einzelnen innerlich verftändlich find oder nicht. Es endet als ein Handeln in volltommener Freiheit, im welchem der Menfch wohl alle ger

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ſetzliche Ordnung achtet, aber das Geſetz ſeines Handelns doch nur in dem göttlichen Prinzipe ſelbſt Hat, und es event. auch gegen die Meinung der Menſchen und die Gewohnheiten des Zuſammen⸗ lebens geltend machen muß. Alſo e8 giebt gar fein bloßes echtes gefeg mehr, ſondern alle Rechtspflicht ift auch als wahrhaft fitt⸗ liche Pflicht, alle fittliche Pflicht auch als religibſe Pflicht erkannt. Wenn im Anfange fittlih nur war, was bie Rechtspflicht vor- ſchrieb, fo ſchreibt jegt die Rechtspflicht nur vor, mas als fittlich verftanben wird. Gegenftand der fittlichen Pflicht ift zuerft nur der Uingehörige eines beftimmten geſellſchaftlichen Kreifes. Zuletzt wird jeder Menfch, ale zum Reiche Gottes berufen, Gegenftand der Liebespflicht.

Und das religtöfe Handeln beginnt ganz ohne Zuſammen⸗ hang mit ber Sittlichkeit, ja es kann im gegebenen alle ihr widerfprehen. Es ift zuerft eine Summe von eigennüßigem Handeln, mit welchem man auf die Laune und Schwäche der Gottheit einzuwirfen meint, und ein Gewebe von Formen, die aus dem vorausgefegten Naturchavafter der Gottheit folgen. Es endet damit, daß man den eigenen Willen an Gottes offenbarten Willen Hingiebt in dem allein Gott wohlgefälligen Opfer der ganzen Perfönfichkeit an Gottes fittlihen Zwed. So wird es eins mit dem fittlihen Handeln, und aud ba wo es als ein befonberes Gebiet hervortritt, iſt es nur die notwendige Weihung und Stärkung der Perſonlichkeit für die fittliche Arbeit, und der freie und freudige Ausdrud der religiöfen Gefinnung im Kunſtwerke des Kultus. Das Opfer wird zum vernünftigen Opfer des Lebens. Das Gebet zur fortwährenden Hingabe des Herzens an Gott. (Betet allezeit!) Die Askefe zur fittlichen Freiheit von den weltlichen Motiven. Die Zauberei zum Empfange ber. relis gibſen Heilskräfte im Sakrament. Die Efftafe zur andächtigen Verſenkung in die Offenbarung der Gnade Gottes. Das Ber- ſtricken des Lebens in Zeremonien zur Weihe alles Natürlichen an ben hödften Zwei. Der gewinnfüchtige Kultus zum Aus⸗ drucke der Frömmigkeit im Geifte und in der Wahrheit, zum Weihrauche auf dem vernünftigen Opfer der Perfönligjkeit.

Ohue Zweifel Liegt in diefer wirklich chriftlichen Auffaffung

Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander. 12

des in Frage ftehenden Verhältniſſes auch feine Vollendung. Das gefamte Handeln ift eingeitlih, frei und aus einem gemeinſchaft chen Prinzip verftändfich geworden. Ein höheres Prinzip aber für die Sittlichleit ift undenkbar denn die Liebe ift das ſitt⸗ liche Prinzip an ſich und die fittliche Kraft, welche aus dem religiöfen Charakter dieſes Prinzips und aus der Gemißheit des gemeinfamen Handelns mit Gott folgt, ift die allein zureichende und ſchlechthin unerfhöpflihe Kraft. Die Sittlichkeit ift zur vollen Humanität geworden, und zugleich hat fe aufgehört, Satzung zu fein, und bietet die Burgſchaft für volle Freiheit und Ger wiffenhaftigfeit des Einzelnen. Alle gute fittliche Ordnung erhält vollen Wert als Ordnung Gottes, und doch giebt es eine Stimme Gottes im Gewiffen, die im gegebenen Falle höher gilt als alle äußere Ordnung. Keine Sagung Bindert den freien Kulturforte Tritt, feine falfche Weltverneinung entwertet Güter und Aufs gaben dieſes Lebens. Und doch werden fie alfe in ber rechten Welt-Berneinung rüdfihtslos dem überweltlihen Zwede Hinger geben. Das Leben ift frei geworden von dem Dienfte geifte tötender Formen und heuchleriſchen Gottesbienftes. Und doch ift jeder Moment des Lebens auf Gott bezogen und ihm gemeißt, und das ganze Leben ein Gottesdienſt. Jede Selbſtgerechtigkeit iſt durch den religiöfen Charakter des fittlihen Prinzips und durch die überweltliche Vollkommenheit des fittlichen Ideals aus⸗ geihloffen, und doc ift in dem Bewußtſein der gemeinfamen Arbeit mit Gott unferm Vater dem Handeln eine felige Ges wißheit ewigen Lebens gegeben und jede Knechtsfurcht genommen. Ebenfo deutlich aber ift, daß ſich von diefer Betrachtungsweiſe aus ein Urteil über mancherlei im Chriftentume wieder aufgelebte heidniſche und judiſche Anſchauungen vollziehen muß. Ich will darauf Hier nur mit kurzen Worten hindeuten. Wo man an eine ſchon im Neuen Teftamente hie und da durchklingende dualiftifche Auffaffung des Natürlichen anſchließend die irdiſchen Erſcheinungs⸗ geblete des fittlichen Handelns entwerten und in ber Weltver⸗ neinung die Vollkommenheit ſuchen will, wo man das befondere tefigiöfe Handeln, wie ein Gott beeinfluffendes, dem fittlichen Handeln als ein Höheres gegenüberftellt und die Kid mit ihren. Zpesl. Stad. Yahız. 1888.

[1 Schultz, Religion und Sittlichteit zc.

befonderen Aufgaben mit dem Reiche Gottes und dem Arbeiten an demfelben ibentifiziert, wo man in Gebet und Gaframent ein wirffames, den göttligen Willen umgeftaltenbes religiöfes Chun \ beabfichtigt, wo man in befonderer Askeſe, oder in ſchwärme⸗ | riſchem Warten auf eine Umgeftaltung ber äußeren WBeltverhätte | niffe, ben Willen Gottes wieder von Naturbedingungen abhängig machen will, wo man das Heil am „Geſetzeswerle“ ſchließt, ober nicht verfteht, daß alle Sittlichkeit, die nicht von dem religiöfen Baftor getragen wird, unterhalb des chriftlichen Zieles Bleibt:

da und in vielen anderen Fullen fteigt man von der im Chriftentume erreichten Höhe. herab, und verfällt wieder in bie Unvolitonmenheiten, die uns bei dem Gange durch die Religions gefchichte begegnet find.

Gedanlken und Bemerkungen.

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Die galatiichen Gegner des Apoſtels Paulus.

Bon

Lie. &. $. Franke, Weiyatbogent In Halle,

„Das war das Verhältnis des judaiſtiſchen zum pauliniſchen Evangelium, als num die Judaiſten, ficher von Serufalem Her, den Kampf wider den Paulus umd fein Evangelium aud in die Heidengemeinden Galatiens trugen.“

Mit diefen Worten befchließt Holften in feinem „Evangelium: des Paulus“ (S. 53) die Unterſuchung über „die Verftörer der Gemeinden Galatiens und ihr Evangelium“. Jenes „ficher“ aber ift wohl zunächft gegen Hausrath gerichtet, welcher in feinem „Apoftel Paulus“ (2. Aufl., ©. 261f.) wenigftens die Zuläfftg- keit der Annahme, daß es Paulus in Galatien mit Gegnern zu thun gehabt, welche ihm aus den dortigen judenchriftlichen Kreiſen erwuchfen, ausgeſprochen und begründet Hat.

Uns fcheint, daß die Bemerkungen Hausraths, auch wenn fie der Kritiker ſtrilterer Obfervanz; a limine abgewieſen, auf ein wirklich vorliegendes Problem hingewieſen haben. Und die Frage nach Heimat und Art der galatifchen Gegner des Paulus iſt wegen bes Lichtes, das vom ihrer richtigen Beantwortung aus nicht nur auf Vorgefehichte und Erflärung des Galaterbriefes und auf das Verhältnis des Apoftels zu feinen Gemeinden, fondern auch auf die Urgefchichte des Ehriftentums überhaupt fällt, wide

Bars, Google

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Die galatiſchen Gegner des Apoſtels Paulus.

Bon

Lic. X. $. Franke, Welvatbozent In Halle.

„Das war das Verhältnis des judaiftifchen zum pauliniſchen Evangelium, als num die Judaiften, ſicher von Serufalem her, den Kampf wiber den Paulus und fein Evangelium auch in die Heidengemeinden Galatiens trugen.“

Mit diefen Worten beſchlleßt Holften in feinem „Evangelium des Paulus“ (S. 53) die Unterfuhung über „die Verftörer der Gemeinden Galatiens und ihr Evangelium“. Jenes „fiher“ aber ift wohl zunächft gegen Hausrath gerichtet, welder in feinen „Apoftel Paulus“ (2. Aufl, ©. 261f.) wenigftens die Zuläffig« keit der Annahme, daß es Paulus in Galatien mit Gegnern zu thun gehabt, welche ihm aus den dortigen judenchriftlichen Kreiſen erwuchſen, ausgeſprochen und begründet hat.

Uns fcheint, daß die Bemerkungen Hausraths, aud wenn fie der Kritiker firifterer Obfervanz a limine abgemiefen, auf ein wirklich vorliegendes Problem hingewieſen Haben. Und die Frage nad) Heimat und Art der galatifchen Gegner des Paulus ift wegen des Lichtes, das von ihrer richtigen Beantwortung ans nicht nur auf Vorgefhichte und Erklärung des Galaterbriefes und auf das Verhältnis des Apoſtels zu feinen Gemeinden, fondern auch auf die Urgefchichte des Ehriftentums überhaupt füllt, wich⸗

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tig genug, um ihre eingehende Erörterung an dieſer Stelle zu rechtfertigen.

Es ift ja nie in Zweifel gezogen, daß es Judaiſten, Gefeged- menſchen waren, gegen deren Treiben in feinen Gemeinden der Apoftel den Gafaterbrief richtet; noch Tann es je bezweifelt wer» den. Zweiunddreißigmal gebraucht im Briefe der Apoftel das Wort vowos, und zwar ausſchließlich im ftrikten Sinne vom mo- ſaiſchen Gefege, während die fünfundfiebzig Male, welche das Wort in ben fechzehn Kapiteln des Römerbriefes auftritt, ſich auf fehr verfchiedene Bedeutungen verteilen. Zwar ift dur nichts im Briefe angebeutet,, baf bie bekumpfien Gegner nicht auch die Hei⸗ den auf Grund des Glaubens an Chriftum als in eine gewiſſe Gemeinſchaft mit Gott getreten anerkannten. Ebenſo wenig wer« den fie die Notwendigkeit des Glaubens zum Heil für Juden wie Heiden geleugnet haben. . Tritt jedoch der Heide duch fein Be kenntnis zu Chriſto in ein Verhältnis zu Gott, jo muß er diefem auch feinem Willen gemäß zu bienen bereit fein. Seinen Willen aber Hat Gott in der Offenbarung vom Sinai, im Gefege des Mofes ausgeſprochen. Was der Glaube begonnen, muß das Gejch vollenden (Kap. 3, 3). Nur ber Gerechtigkeit ift der Lohn der oornela verheißen (ngl. die paulin. Untithefe Kap. 5, 5). Ge rechtigkeit, Lebensgerechtigkeit aber ift nicht denkbar ohne die Norm des Geſetzes (Kap. 2, 21), wenn aud gewiß fein Chriftusgläubiger jener Zeit die große Süßne, wie fie Paulus und die Urapoſtel einmitig (vgl. ĩ Kar. 15, 3. 11. Gal. 2, 16) ala in Chrifti Tode vollzogen predigten, Herabzufegen bie Abſicht Hatte. Der Wille Gottes aber ift, wie Gott felber, unwandelbar. Das Geſetz ift fomit ein endgültiges Statut (vgl. dagegen Gal. 3, 15ff.). Die Gottesoffenbarung in Jeſu Ehrifto, meit entfernt, dasſelbe zu abolieren, Hat es nur beftätigt, denn Chriſtus erſchien yerdpevos oͤno vönon (vgl. Gal. 4, 4). Ebenſo wenig aber, wie wahre Gottesgemeinſchaft, ift volle Gemeinſchaft der Meffinsgläubigen möglich, ohne daß die Heidenchriſten fi zum Leben nach dem Ges fege entfliehen (Rap. 4, 17). Wirklich Hatten bie Briedenftöcer «3 nach des Paulus Ausfage (Rap. 4, 10) dahin gebracht, daß ſich die Gemeinden Galatiens zum Befolgen des jüdiſchen Feſt⸗

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lalenders entfchloffen. Ihr Abfehen ging nun dahin, auch noch die Annahme der Beſchneidung, des Siegels vollen Brofelytentums, ſeitens der Heidenchriſten durchzuſetzen.

Bir haben es alſo in Galatien mit einer energiſch und erfolge reich betriebenen jubaiftifchen Propaganda zu thun. Aber auch daf die Unruheſtifter geborene Juden, nicht, wie mehrfach angenommen wurde, gefeßgeseifrige Profelyten waren, läßt fih aus dem Briefe wahrſcheinlich machen. Dem nit nur um die Ehre und dauernde Geltung des Geſetzes ift e8 ihnen zu thun, fondern ganz beſonders auch um bie pribilegierte Stellung, welche Israel, dem leiblichen Samen Abrahams, der Berheifung gemäß dauernd zukommt. Die Argumentation des Apoſtels, oft belächelt, mit welcher er Kap. 3, 16 auf den Singular zai so onsguast co» hinweiſt, diefen von Ghrifte beutend, gewinnt mit eimem Schlage an lebensnoller Beyiehung, wenn man in dem Gage: 7@ de Afgaau Edicdn- vay ai enayyeklaı xal 6 onsgnarı adson, eines der oft wiederholten gegueriſchen Schlagwörter erfennt, mit denen fie die Emigfeit der Privilegien Israels darthaten. Sie waren eben keines⸗ wegs der Meinung, daß das meſſianiſche Reich den Adel der Theo- frotie aufzuheben beftimmt fei. In verfejiedenen Formen muß es deshalb Paulus ihnen gegenüber ausſprechen, dag in Chriſto Jefu kein Judenum noch Hellenentum mehr gilt (Rap. 3, 28; vgl. 5, 6; 6, 15). Und wenn fo bas zwar meffiasgläubig gewordene, aber in feinem natienalen Stofz, feinen Vorurteilen und Anſprüchen nicht innerlich überwundene Judentum fich zum Störer und Ber ftörer einfach gläubiger Gemeinden aufwarf, fo geſchah wieder, was urbitdlich in Zerael und Iſaak vorgegangen: «8 verfolgte der nach dem Fleiſch Gezeugte den nad) dem Geiſt Geborenen (4, 29).

Sind wir bereditigt, aud) in dem Werte des Apoftele (Kap. 4, 26) von dem oberen Jeruſalem, das unfere Mutter ift, eine Untithefe zw erbliden gegen ein anderes Schlagwort ber Ver⸗ führer? „Jeruſalem ift unſere Mutter!“ fo mochten diefe ſegen. „Site lebt in Kuechtfchaft mit ihren Kindern!“ fo lautete des Apoſtels Antwort. Jedenfalls wäre das ein Beleg mehr dafür, deß wir in den Verſtörern ſtammesftolze Juden zu erbliden Haben.

Aber würbe nicht eben ein ſolches Wort in ihrem Munde exit

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dann befonder& voll wiegen, wern es wahrhafte Judäer, Kinder gernſalems, Gfieder der Urgemeinde waren, die fi) mit demfelben einführten? Ohnehin liegt es ja fo nahe, an Judäa als And gangspnnft zu denken, wo immer wir in ber weiten Welt jubaiftie fen Störungen aufblühender Heidengemeinden begegnen. Dort, in Jeruſalem insbejondere, um den Herrnbruder Jakobus, den Vertreter der Legitimität, geſchart, fort und fort im Eifer um die Nation und die Geltung der theofratifchen Einrichtungen fich über bietend, durch Emiffäre und die manderlei Verbindungen mit der Diafpora weit und breit einen ansgebehnten Gefichtökreis beherr- ſchend, war man gewiß nicht gleichgültig und in weiten Streifen wicht ungeteilt froh über eine Bewegung unter den Heiden, die, von Paulus insbefondere ihre Richtung und in immer neuen Uns ternehmungen immer nene Impulſe empfangend, eine freie Heiden» tirche hervorbrachte, welche die urfprünglich allein beftehende innere halb Israels bald in Schatten zu ftellen drohte. Nachweislich it Störung der Eintracht in Antiohien wie in Korinth von der jur | daiſchen Urgemeinde ausgegangen. Warum follte das in Galatin | anders geweſen fein?

Dazu kommen eine Reihe von Judizien, welche uns auf Judäa als Ausgangspunkt der Störung zu verweiſen feinen. In Kap. 1, 11ff. verwahrt fi der Apoftel gegen jede Abhängigkeit feiner apoftolifchen Thätigfeit, wie de8 Evangeliums, das er verkündet, | von Serufalem, von den Urapofteln insbefondere. Eine ſolche war alfo behauptet worden. Wer aber Hatte mehr Intereſſe an und mehr fcheinbares Recht zu folder Behauptung, als wer felbft diefem Kreife der urfprünglichen Chriftuszeugen nahe ftand? Denn eben auf die Ehre, die Genoffen des Erdenlebens des Meſſias gewejen zu fein, welche jene vor Paulus infonderheit voraushatten (Gal. 2, 6), Hatten die Verführer hingewieſen, Hatten von dem Anfehen geredet, in welchem diefelben bei der alten Gemeinde ftänden, bei allen zu ftehen Anſpruch Hätten (od doxoüvrss B. 2. 6. 9), und wie eben fie EHriftus zu Säulen der Wahrheit im Haufe Gottes ber ftimmt Habe. Und wenn Paulus (5, 10) fagt: 6 de vagdoner inäs Baoraceı so xelua, Sorıs dv y, ſcheint er dann nicht zuletzt doch Hinter dem Unterfangen der Sriedensftörer eine Pers

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fönlichfeit zu erbliden, die doch wohl ſchwerlich im Kreife der von ihm Belehrten, über dem er mit fo viel Selbſtbewußtſein fchaltet, gefucht werden darf (vgl. 2, 12)? Und wenn wir endlich faft gleichzeitig auf anderem Boden, dem Torinthifchen, denfelben An⸗ griffen gegen Paulus und fein Apoftolat, berfelben Erhebung je ruſalemiſcher Autoritäten im Munde von Yudäern begegnen, wie ſollten wir bei den galatifchen Wirren auf die Einmiſchung pa« läftinenfifcher Juden verzichten wollen |

Dennoch wäre es unferes Erachtens ein höchſt übereiltes Ver⸗ fahren, das fich bei dem bisher gewonnenen Reſultate wollte ge⸗— nügen laſſen, um nun die Störung des Friedens in Galatien einfach Angehörigen der Urgemeinde fehuld zu geben. Wir Haben nämlich längſt noch nicht alle in Betracht Tommenden Momente in Erwägung genommen. Und was bleibt, ift meift derart, daß es das gewonnene Nefultat fogar erfhüttern zu können feinen mödte. Schon die leiste und höchſte Forderung der Yudaiften, die der Befchneidung, erregt Befremden, wenn von Mitgliedern, wohl gar Vertretern der Gemeinden Jeruſalems ausgehend. Wenn das Abkommen, welches Paulus doch auch nach Gal. 2 mit den Autoritäten von Jeruſalem getroffen, irgendeinen Sinn hatte, fo muß es den Apoftel davor fichergeftelft haben, daß fi von Jeru⸗ ſalem aus nicht, womöglich offiziell, ein Vorgehen wiederholte, zu welchem, ohne Autorifation, blinder Eifer und Voreingenommenheit ſeinerzeit (og. Apg. 15, 1) Einzelne Hingeriffen Hatte.

Freilich lag zwifchen jener Übereinkunft und den In Mede ſtehen⸗ den Ereigniffen jener Vorgang in Antiochien, welchen Paulus ſelbſt Gal. 2, 11ff. erwähnt. Und eben diefer hat ja nach dem Urteil der Kritit das Tiſchtuch zwifchen Paulus und den Urapofteln auf immer zerriffen, da8 Signal zu einem dauernden Bruch und zu erbittertem Kampfe gegeben. Wäre dem fo, dann wäre nichts dagegen einzuwenden, daß man mun auch von beiden Seiten die Übereintunft von Zerufalem, als ein Hindernis in energiſcher Bes lampfung des Gegners, fallen gelaffen Hätte. Aber man ſollte bei folder Behauptung nicht vergeffen, zu bemerken, daß man da Hopothefen vorträgt, noch dazır ſchwer zu begründende. Denn ber Beweis, den man in Offenb. 2, 2 hat finden wollen, ift zu faden⸗

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ſcheinig und zumeift auch aufgegeben, um ziehen zu können. Und was in der Darftellung des Paulus von feiner Verhandlung mit den Säulen der Gemeinde deutet darauf. hin, daß das Reſultat derfelben unterdeffen aufgegeben wäre?!) Ya was würde, unter folcher Borausfegung, die ganze Darftellung für die Galater noch bedeuten: fie ift doch nicht eigens für den Hiftoriter des 19. Jahr⸗ Hundert Hier eingeführtl Und was den Vorgang in Untiodien betrifft: deutet etwa Paulus mit einem Worte an, daß ihn ven nun an eine unüberfteigliche Kluft von Petrus gefchieden Habe? Lieſt fie ſich wicht vielmehr fo, als habe Petrus, der ohne bewußte Direktive gehandelt, ſich die Zurechtweifung des Paulus gefallen laſſen müffen und gefallen laſſen; ja gewinnt nicht erjt unter dieſer BVoransjegung der Vorfall die Bedeutung, welde ihn der Abſicht des Paulus, dad gleiche Recht feines Apoſtolates von Gottes Gna⸗ den mit bem des Petrus geltend zu machen, dienlih machte? Die Anficht, melde den Petrus infolge der empfangenen Rüge gekrüult, ja erbittert, dauernd erbittert von Antiodien fcheiden läßt, denkt doch gar, zu gering von der Geiftesart desjenigen Jüngere, welchem der Herr die Leitung feiner Gemeinde vor anderen ambeimgeftellt Hatte. Petrus Hat fih zurehtführen Laffen, wie fi „die übrigen Juden“, welche mit ihm gleicher „Henchelei“ verflelen, zurecht fügren ließen. Den Barnabas, welchen der Jeruſalemit Markus begleitete, finden wir bald nicht nur nach Apg. 16, 39, ſondern auch nach 1Kor. 9, 6 auf neuen Miſſionsuuternehmungen; den Paulus aber begleitet (Apg. 15, 40; vgl. 2 Kor. 1,19) Silas, doch wohl der Apg. 15, 22 bezeichnete dyng Tyodmanog dr vol adeAyoks, zu neuer Predigt freier Gnade für alle auf die zweite Mikfiong« reiſe.

Doch wie dem auch ſei: zur Unterſtützung ihrer Anſicht Hütten unſere Gegner ſich wenigſtens auf ein Beiſpiel von der Urge⸗ meinde ausgegangener Beſchneidungspredigt aus jener Zeit zu ber

1) Daß Paulus ſelbſt von einem Aufgeben der Abmachungen von Zeru - ſalem nichts weiß, bezeugt fein fortgehenber Vetrieb ber Kollefte für Sernfalem auch in Galatien (1Ror. 16, 1) in Geimäfßeit des mit den Urapoflehr Bere einbarten (Gut. 2, 10).

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rufen. Aber da fehlte. Gewiß Tann man fein fhärferes, fein tränfenberes, fein verwerflicheres Vorgehen von Judaiſten denen, als das, welches ſich der Schlimmften einige in Korinth gegen Paulus und fein Werk erlauben. Dennod feine Spur von Bes fneidungsagitation. Die einzige Stelle der, Korintherbriefe, welche don der Beſchneidung Handelt (I, 7, 18f.), thut dies unter fehr allgemeinem Geſichtspunkt, indem fie ebenfo fehr dem Beſchnittenen das dnıordoIas, wie dem in der Vorhaut Berufenen die Beſchnei⸗ dung wehrt. Freilich follen nah Baurs Urteil die Judaiſten nach den galatifchen Erfahrungen in ihrem Angriff gemäßigter, aber planvoffer vorgegangen fein. Ohnehin Tonnten fie ja den gebil⸗ deteren Korinthern nicht zumuten, was fie bei den roheren Gas latern durchjegen zu können hofften. Sie ließen deshalb die For⸗ derung der Befchneidung zunächft fallen, oder doch beifeite. Aber {ft denn der jwbaiftifche Angriff auf Korinth fo viel fpäter als der auf Galatien unternommen, daß die in Galatien gefammelten Erfahrungen ihm gleich anfangs wären zugute gefommen? Und waren denn biefe Erfahrungen wirklich fo entmutigende? Zur Zeit, wo der Apoftel den Brief an die Galater ſchrieb, gewiß nicht, Über die Bil bung des Gros feiner Forinthifchen Gemeinde aber weiß der Apoftel ſelbſt (1 Kor. 1, 26f.) nicht viel zu fagen. Außerdem aber kam einer judaiſtiſchen Agitation in Korinth, und zwar nicht nur nad dem Berichte der Apoftelgefhichte über ihre Gründung (18, 1ff.), fondern z. B. auch nach der angeführten Stelle über Beſchneidung und Berhaut, ein Umſtand zuftatten, der in diefem Umfange gewiß für Galatien nicht zutraf: das Vorhandenfein eines bedeutenderen mationaf-jdifchen Kontingentes in der Gemeinde.

Bleibt nun aber ſchon das im Vordergrunde des judaiftifchen Treibens in Galatien ftehende Drängen auf den Vollzug der Bes ſchneidung befremdlich, fo rüden auch weitere Punkte bei genauerer Betrachtung in ein neues Licht. So hat es ja as ſich nichts Aufe follendes, wenn der ſich zum Geſetze Israels wendende Heide ge⸗ wiſſenhaft auf die in demfelben vorgefchriebenen heiligen Zeiten hielt. Auffallen aber muß, daß Paulus, um den Galatern au Thatſachen ihren Abfall zum Gefege nachzuweiſen, gerade nur biefen Punkt hervorhebt. Das Halten auf Tage erſcheint da wie das

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einzige, bis dahin zum Vollzug gekommene geſetzliche Lebensmoment, auf deſſen Durchſetzung die galatiſchen Judaiſten das größte Ge⸗ wicht müſſen gelegt haben. Daß auch fonft jubäifche Gegner bes Paulus gerade diefen Punkt in den Vordergrund geftelit Hätten, laßt ſich nicht belegen (vgl. z. B. die ruhige Erledigung desfelben NRöm. 14, 5f.). Zu beachten ift ferner die Verbindung, in wel her der Apoftel (Gal. 4, 10) auf das ragarngeiogas ber hei- figen Zeiten kommt. Er begründet mit demfelben der Galater Rückkehr unter den Dienft der dasevj za) nrwya ovosgeia Tod xdonov, zu einer Knechtſchaft, von der die Galater doc zum Kindfchaftsverhältnis gegen dem lebendigen Gott fortgefchritten waren (4, 6ff.).

Daß der Apoftel erwartet, mit feiner Ausdrucksweiſe von den Galatern verftanden zu werden, liegt auf der Hand. Und wir unferfeits halten es für nicht fo ſchwer, in ihr Verftändnis eine zudringen. Die von Paulus V. 10 gewählten Ausdrücke klingen deutlich an Gen. 1, 14 LXX an, mo den zu erfchaffenden Hims melstörpern die Beftimmung gegeben wird, zu fein ls amueia, zul eis xugos, zal eis jusgas, zal sis diavrods. Sie ſollen die Zeiten geradezu „regieren“ (Foxew wis Tjusgag zul Ts vvxroc V. 18). Unter jenen leuchtenden Geftalten aber, welche das Altertum als belebt ſich vorftellte, fand ſowohl das ungezählte Heer der Engel wie der Dämonen feine Stelle. Ge hörten nun jenen die agxes (vgl. LXX 1. c. V. 16: at aggai wos jusgag ... rñg vuxcds) und EFovoles an, welche, wie bie davayıj des Geſetzes ihr Werk geweſen (Cal. 3, 19), nun auch die Wächter feiner Autorität waren (Kol. 2, 14f.; vgl. Gal. 4, 3. 5), legteren aber die Götter der Heiden (1Ror. 10, 19f.), fo hatte wirffich der von Chrifto zum Geſetz ſich wenbende Heide ſich wieder unter die Herrſchaft derfelben Klaſſe von Mächten geftelit, der er durch die Belehrung zu Ehrifto entgangen war (Kol. 2, 20): er blieb, was er gewefen, gefnechtet unter die Elemente der Welt (Sal. 4, 3). Daß der paufinifche Ausdrud nur perſönlich wirt ſam gedachte Mächte bedeuten Tann, geht daraus hervor, daß die felben Gal. 4, 8f. als ein. anderer Ausdrud für die pass ur Öyres Heol eintreten, deren Dienft dem des wahren Gottes ent-

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gegenfteht; wie fie denn auch Kol. 2, 8 die Autorität find, melde, Ehrifto gegenüber, die Überlieferung der Menfchen bedingt (vgl. aud die Idee der @yyeloı xoouoxgarogss Eph. 6, 12). Sein nun aber auch die arosgeia, was fie fein mögen: die Einhaltung der mannigfachen xasgos auf ihre Autorität Hin (beachte das ols dovisdev Hehsre) flieht unſeres Erachtens ihre Faſſung als Lefrelemente aus und giebt jenem Geſetzestum einen gewiſſen ſpe lulativen Charakter, wie er zum ſchlichten Buchſtabentum der Pa⸗ (äftinenfer nicht recht ftimmen will.

Die größte Schwierigkeit aber für ben, welcher Judäer zu Urhebern der galatifchen Wirren macht, bildet unferes Ermeſſens der Umftand, daß die Verführer den Galatern nicht die buchſtäb⸗ fie Erfüllung des ganzen Gejeges Haben aufbürden wollen. Denn daß dies der Fall geweſen, beweift zur Genüge die von Paulus (5, 3) mit fo viel Emphafe und wiederholt Hervorgehobene Ver⸗ pflichtung des Beſchnittenen zum Halten des ganzen Geſetzes, wege er auch 3, 10 mit Berufung auf das dnixaragarog nüg Ög odx dunevss n&cıv vols yeryganısvorss de Geſetzes felbft (Deut. 27, 26) Hervorgebt. Wie num? ubüer, welche in Gefegesfanatismus die von den Säulen der Gemeinde des⸗ abouierte Forderung der Befchneidung follten Paulus gegenüber aufe tet erhalten Haben, fie follten zugleich doch nur ein eklektiſches Halten des Gefeges für befehnittene Profelyten für nötig erklärt haben? Das wäre allerdings mehr Politik geweſen, als fi doch wohl auch mit einem an das Geſetz gebundenen Gewiffen vertrug, zugleich mehr Schlauheit, als bei folhem Eifer zu beftehen pflegt.

Aber es war feine Politik; vielmehr entſprach der eklektiſche Charakter diefer Gejegespredigt dem eigenen Standpunkte der Pre⸗ diger. Oddd yag ol regiseuvöusvor aurol vönov Yuldo- covou, fagt der Apoftel von ihnen (6, 13)%). Und diefes Urs teil lann nicht daraus erflärt werden, daß ja doch die forgiamfte

1) Wenn es nad) 6, 18 ausdrüclich bie Anftifter der Beſchneidungsbe - wegung find, welche ber Apoftel mit dem Ausdrud ok megsreuvöusvo, belegt, fo daun im diefem nur ein akumindſer Ausbrud für Juden gefehen werben, als bei denen bie Prazis der Beſchneidung fort und fort geübt wird.

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Befolgung des Geſetzes immer noch Lücken offen laſſe. Der Apoſtel Hätte ſich ſelbſt dann mit ganz anderem Mage gemeſſen, wenn er fich Phil. 3, 6 als zard dixasoasenv zw Er von yevönevos Auswreros darftellt (vgl. Inf. I, 6). Nein, der Mpoftel, welcher Gal. 1, 14 mit einem gewiſſen Selbftbewußte fein fein rgodzonsov dv z@ Tovdatous Uredg nollods ovm- Ammdras dv yavaı mov, megiooordgus ImAmejs Unde- xuv zov nargıxev nov nagaddoswv aueipricht, ſieht ſich, den alten Pharifäer (Phil. 3, 5), einer Klaffe von Inden gegenüber, welche bei allem Nationalitätsdünfel und Gefegeseifer Mittel und Wege fanden, fi und ihre Sünger mit den orderungen des Geſetzes abzufinden.

Wo aber haben wir dieſes etetifge Judentum zu ſuchen? Gewiß nicht in Paläftina und bei Paläftinenfern, in Jeruſalem und bei feinen Eiferetn, urfprünglichen Pharifüern (Apg. 15, 5), om allerwenigften. Es konnte nur da ſich bilden, wo das Juden tum, in andauernder Berührung mit dem griechifchen Heidentum, der Kritik und der Bildung desfelben gegenüber felbft eine Umgeftaltung erfahren mußte, welche, wenn fie Yeinen Verzicht auf feine Anſprüche bedeuten durfte, doch die Art ihrer Geltendmachung weſentlich vers ündern mußte. Der Bhilofophie der Griechen fegte nun der Jude fein Geſetz als die udeywaıs wis yvdcsns xal wis dAmdelas (Röm. 2, 20) entgegen. Das Geſetz in der Hand unternahm er es, bie Welt der Heiden feinem Gotte zu Füßen zu legen, und fe den hohen Traum feiner Nation, die Herrſchaft über bie Welt, auf dem Gebiete des Geiftes zn venlifieren. Dem unter dem Einfluffe Hellenifher Bildung Aufgewachfenen entzog ſich dabei, welche weitgehenden Sonzeffionen er bei Auslegung und wer dung bes Geſetzes an den Geift de3 Griechentums, alfo der Welt, des alav odros, machte.

Leider iſt es nur eine einzige Provinz dieſes Hellenismus, der Aerandrinismus, welche uns duch eine reichhaltige Litteratur feiner Produfte hinreichend Mar vorliegt. Aber, was ohnehin in der Natur der Sache lag, dürfen wir um fo mehr der Ber ficherung Philos glauben, daß überall in der Zerftrenung das Judentum mit ihm gleiche Gefichtöpunfte, gleiche Ziele verfolge.

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Bas aber Philo im Gefege findet und anpreift, das ſpricht er gleich im Anfange der Schrift über die Schöpfung ans: die Ans weiſung zu einem vollfommen naturgemäßen Leben. Der Mann des Geſetzes (6 vonsuos Ave) iſt zugleich der wahre Kosmopolit, der es verftcht ads =d Aodinne vis Yicans, 209° Fv zei ö odunas xdowos diowehsai, vas nedäeis dnnsuddvsv (De op. mundi 1. c. 1). Was die Ston ale deal aufftelite, das öuoloyoyasvas dijy, der Mann des Geſetzes weiß es zu reali⸗ firen. Denn Mofes, der Philoſoph ſchlechthin (pulocoglac dr’ av pIdaas dxgdeme 1. e. c. 2), dem Offenbarung bie genaweften Zuſammenhänge der Natur erſchleß (Xemomois ze nolld xal avvexsindrare zöv sis pics dvadıdaydek), hat es vermocht, Die innigfte Harmonie zwiſchen Gefeg und Welt herzuſtellen, zod x0auov vo vd al Tod vouov TE dumm owvgdovsos, 1. C. c. 2. Go gewinnt denn die Beziehung des Sefees auf die arosgeie vod xdamov ihr volles Licht. Und daß diefe jüdifche Gnofis, wie fie und bei Philo entgegentritt, auch in Kleinaſien heimiſch geweſen, dafür bürgt und. der Koloſſerbrief, nach dem es bie jubaiftifche Philoſophie“ eben mit den arosgele Tod xdanev zu thun hatte (2, 8. 28).

Sind wir bis dahin nicht fehl gegangen, fo wird nun auch dagegen nichts Können eingewandt werben, wenn wir den Ausgang der Irrlehrer Galatiens nicht zunächſt in Jeruſalem oder Balk- fine, fondern innerhalb ber Kreiſe des kleinafiatiſchen Hellenismus ſuchen. Und da konnen es naturlich nicht Juden geweſen fein, welche, ſelbſt nicht dem Kreiſe der meſſiasglaubigen Gemeinde an« gehörig, ſich mit der Predigt von der Gültigkeit bes Geſetzes und dem Werte ber Beſchueidung im die heidenchriſtliche Gemeinde ein» geführt Hätten. Wir find vielmehr. an eine Evolution innerhalb des gafatifchen Gemeindelebens feldft verwiefen.

Daß die Gemeinden Galatiens, wenn aud feine Stelle des Briefes unmittelbar davon zeugt, von Anbeginn auch judiſche Ele⸗ mente in fich beſchloſſen, lüßt fih zwar zugunften gewiſſer Theor teme Teugnen, nicht aber durch irgendetwas Thatſüchliches be⸗ reiten. Es folgt, da es in Galatien nicht am Juden fehlte, aus dee ftetigen Mifflonspragis des Mpoftels, für welche uns nicht

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allein die Erzählungen der Apoſtelgeſchichte, ſondern auch das ftän- dige Tovdalo Te noWrov des Mömerbriefes (1, 6 u. f. w.), ganz beſonders aber fein Grundfag Röm. 11, 13f. (vgl. auf 1Ror. 9, 19ff.) Zeugnis bieten. Unter diefer Woransfegung aber hat unferes Erachtens Hausrath a. a. D. das Auflommen seiner jubaiftifchen Bewegung innerhalb der galatifchen Gemeinden Har und einleuchtend bargeftellt. "

Wohin der Apoftel kam, das Evangelium Ehrifti verkündigend, und wo immer ſich um ihn und fein Wort Gemeindlein und Ge meinden zufammenfchloffen, dahin brachte er auch die gottgegebene Sammlung der ygayal, für ihn das Offenbarungswort nicht nur des alten, jondern auch des neuen Bundes (vgl. 3. B. Gal. 3, 8). Um diefes Wort verfammelte die neugegründete Gemeinde ſich zu gegenfeitiger Erbauung (Gal. 4, 21). Wer anders aber Tonnte, wenn der Apoftel felbft mit feinen Genoffen das neu ge brochene Feld verlaffen, der gewieſene Erflärer dieſer Schriften fein, als diejenigen, welde, im Alten Teftamente aufgewachſen, von Jugend auf in demfelben unterwiefen waren? Und wenn aud vielleicht unter den Bekehrten Galatiens ein Schriftausleger, wie Apollos (Apg. 18, 24), und fein Shynagogenvorfteher, wie Kris⸗ pus (18, 8), ſich befand: das Wort Pauli Röm. 2, 17ff. zeigt deutlich genug, mit welchem Anſpruch auf Autorität der Jude der Zerftreuung dem Heiden entgegentrat. Und wenn gerade des Paulus Schriftauslegung uns fo manden Einblick in feine ſchriftgelehrte Vergangenheit geftattet, was Wunder, daß auch andere Juden mit ihrer Schrifterflärung im Banne ber Vergangenheit ftanden!

Daß ſich auf diefe Weife an taufend Punkten judaiftifche Ele⸗ mente, durch des Paulus geiftesmächtige Predigt zwar zurüdge drängt, aber doch noch nicht aus dem Bewußtfein jüdifcher Gläu- bigen ausgefchteden, geltend machen konnten, liegt auf der Hand. Was dafür forgte, daß fie zum Ausdrud kamen, hat Paulus felbft Hervorgehoben. Poſitiv und negativ Hat er es 6, 12f. ausge fproden, was die der Beſchneidung Unterliegenden, alfo jüdiſche Mitglieder der Gemeinde, dazu bringe, auch den Heidenchriſten die Beſchneidung aufzubrängen. Sie thun es uovov Iva zo oraugs roũ Xgiorod ur didxovsas und beweiſen fich dadurch als Leute,

Die galatifchen Geguer des Wpoftels Paulus. 185

welche sungovonnoar Hulovas Ev vagxl, Sie waren alfo Leute anderer Art als Paulus, welcher Verfolgung und Not era duldet wegen des Ärgerniſſes, welches eben das Judentum (1 Kor. 1, 23) an feiner Kreuzespredigt nimmt, ohne daran zu denken, denfelben den einen Punkt zuzugeftehen, durch welchen er aller Not fih entziehen zu Können wohl bewußt war: sd zregszoumv Eus an- eiooo, vl Erı didxonas; dom xarıjeynsaı zo uxdvdalor «od osavgod (Gal. 5, 11). Sie Hatten, eben unter dem Ein« drude der paulinifchen Kreuzespredigt, fich bereit finden laſſen, unter Verzicht auf die Vorteile und Vorurteile ihrer Nationalität eine Lebensgemeinſchaft mit Heiden einzugehen, mit denen fie fi eines Helles erfrenten. Diefer Schritt aber aus der Gemein« ſchaft ihrer Volls- und Glaubensgenoffen heraus in die Gemeinde Iefu Chriſti ſchloß einen Bruch in fi, der fih dauernd um fo febhafter empfindlich machen mußte, als er eben ein Brud mit allen bisherigen Lebensbeziehungen war. Und als die erfte Zeit der Begeifterung vorübergegangen war (vgl. 4, 15), als die erfte Erbitterung der Vollsgenoſſen einem Syftem von Anfeindung, Kränkung und Verfolgung (4, 29; 6, 12) Play gemacht, da ver⸗ mochten einige den Verzicht auf Behaglichkeit und Anſehen nicht durchzuführen. Sie wußten fo gut wie Paulus felbft, auf was es anfommen würde, um bie Stellung eines Ausgeftoßenen in Jerael mit der eines Hoch Angefehenen zu vertaufchen (6, 12f.). Gelang es ihnen, die Heibnifche Gemeinde zur Annahme des Ge feges und der Befchneidung zu bringen, fo Hatten fie ein zauynue on deren Fleifhe. Und war nicht das zugleich der Weg, um auch die Volksgenoſſen mit dem Kreuze Chrifti zu verfühnen? Und wenn fie doch wußten, daß die Urgemeinde, dag Gemeinden im weiten Kreiſe Paläftinas mit dem Glauben an ben Meſſias das Leben unter dem Gefee verbanden, warum follten fie gerade auf dasfelbe Verzicht Leiften? Leiſteten fie nicht bamit zugleich auch anf alle Gerechtigkeit des eigenen Wandels Verzicht und machten fich der Greuel heidniſchen Lebens teilhaftig (vgl, 2, 15)? Und wie follte Chriftus das Geſetz abgethan haben, er, der doch ſelbſt unter das Geſetz gethan war (vgl. 4, 4)?

So einte fi bei dem galatifchen mefiaegtänbigen Juden fein

Zpesl. Etzb. Safız. 1888.

146 Brante

Intereſſe mit allen feinen früheren, immer noch in ihm fortwir tenden Anfchauungen, um ihm zum Prediger des Geſetzes für bie nenen Glaubensgenoffen zu machen, mie es der Zube ber Zer⸗ ſtreuung für die ihn umgebende Heibenfchaft zu ſein pflegte.

Unb bei der bloßen Predigt blieb es nicht. Indem fi die Indenſchaft in der Gemeinde zu einer befonderen Gemeinſchaft zu⸗ fammtenfchloß, wie die ernemerte Beobatchtung des Geſetzes es not wendig mit ſich brachte, kam es zu einer Abſonderung vom dem dem pauliniſchen Evangelium verbleibenden Teile der Gemeinde, weiche einen Ausſchluß der letzteren ans der Gemeinſchaft bedeutete (4, 17). Und der Apoftel weiß fehe gut, wie gerade eine ſoiche Mafregel dazu angethan ift, auf unbefeftigte Gemüter Eindruck zu machen: er felbft hatte dergleichen im Antiocien mit angefehen (2, 12ff). Was wunder, daß der Apoftel ſolchen Berſahrens Motive mit dem allerftrengften Maßſtabe mißt (4, 17)?

So ſcheint denn unfere Unterſuchung bei einem doppelten Her fultate anzulangen. Nachdem mir die Wirkfamleit jerufalenmlicher Einflüffe in Galatien, ſel es zugeftanden, ſel es nachgewieſen, haben wit nunmehr die Entſtehung der Wirren innerhalb bes galatifchen Gemeindekreiſes felbft wahrfheinlic gemacht. Uber eben biefer Dirpfizität des Charakters der Bewegung bedürfen wir, nm und ben Berlauf derfelben erffären zu önnen, welchen der Brief vorausfept.

Es Tann ja nicht in Frage geftellt werden, dag dem Briefe bes Apoſtels an die Gemeinden Galatiens ein zweimaliger Aufente Daft des Apoſtels dafelbft voransgegangen war. Hatte Bei feiner erften Anweſenheit der Upoftel, felbit am Leibe gebrochen (4, 13), die Pflanzung der Gemeinden im reinen Geifte des Evangeliums Herrlich gedeihen ſehen, fo Hatte er bei dem zweiten Befuche die Loge fchon bedeutend verändert gefunden. Schon damals joh er fich gendtigt, mit der Wahrdeit rhcchaltlos vorzugehen, much. aaf die Gefahr Hin, jemandes Empfindungen zu verisgen (4, 16). Dem Ebklekticismus des helleniſtiſchen Juden gegenüber Hab er die Berpflihtung zur buchſtablichen Einhaltung des ganzen Gefeges für jeden Beſchnittenen hervor (b, 3: Magsugapas dd ui), fein Zeugnis mit dem Worte der Schrift feibft belegend (8, 10). Konnte nichts beffer als dies imſtande fein, den Heiden vom um.

Die galatifchen Geguer bes Apoſtels Paulus. m

bedachten Eintritt in den Bann des Geſetes abzuſchreden, fo wies der Apoftel nun aud nach, daß eine Verquidung des Evangeliums mit gefetzlichen Elementen eine fundamentale Anderung ſei und bee legte, göttichen Selbftbemuftfeins voll, einen jeben, welcher ben Häubigen Chriſti ein anderes Evangelium predigen wilrde, als das von ihm geprebigte, feierfih mit dem Fluche (1, 8f.).

Es mar die jndaiſtiſche Bewegung, wie fie fi Innerhalb des gafatifchen Gemeindekreiſes felbft entwickelt Hatte, gegen welche der Apoftel bei feinem zweiten Beſuche auftreten mußte. Nichte vom allem, was ſich auf dieſen Seſuch des Apoftels bezieht, deutet auf eine ſchon ſtattgehabte jeruſalemitiſche Beeinfluſſung der Gemeinden. Ja, eine folche tft pofitiv andgefchloffen.

Wenn es dem aufmerffamen Lefer bes Briefes nicht entgehen tanın, daß Paulus in demfelben mehrfach Punkte behandelt, welche in feiner mundlichen Predigt noch nicht ausgeführt vorlagen, fo gilt dies Infonberheit von dem erften Abſchnitte deoſelben (1, 11ff. und 2), it welchem der Apoſtel feine Beziehungen zur jeruſalemi⸗ ſchen Gemeinde und iheen Autoritäten barlegt, um dadurch bie Angriffe der Gegner anf die Göttlichkelt und Selbſtändigkeit feines Apoftolate und Evangeliums abzuweiſen (vgl. fogleih den Eine gang: yrogiio da Univ, ferner ©. 20 u. ſ. w.). Hat aber für den Apoftel noch bei feinem zweiten Aufenthalt in Galatien keinerlei Anlaß vorgelegen, fein Verhältnis zur Urgemeinde zu er⸗ Örtern, fo bleibt eine Anmefenheit .von friebeftörenden Elementen derfelben in Galatien bis zu jenem Zeitpunkte durchaus ausge ſchloſſen. Es müßte denn angenommen werben, daß jene erſten Unetheftifter fich zunädft ihrer wirkfemften Argumente gegen des Pauls ntorität und Evangelium den Gafatern gegenüber nicht ſollten bedient haben. Wirklich ficht bie Sache fo ans, wenn Holften, der doch auch eine doppelte Phafe des Judaiemus in Galatien ſtatuiert, diefelben Gegner ihre zweite Bearbeitung dee Gemeinden „mit wirkſameren Kräften" durchführen laßt (a. a. O. ©. 54). Sie follen jegt erft „alle Gründe in den Kampf ge= führt Haben, mit denen die Indaiften das Evangelium des Paulus umd vor allem fer Apoſtelrecht im Geifte und im @emüte der Galater untergraben Lonnten“.

10*

188 Frauke

Aber diefe Zurücdhaftung mit ihren ſicherſten Waffen tft, wenn man bedenkt, daß es fich um judaiſtiſche Eiferer handelt, fo un. wahrſcheinlich; fie ift ferner, wenn wir auf den Umſtand blicken, daß überall, wo es fih um judaiſtiſchen Angriff handelt, vom Galaterbrief bis Hinab zu ben Clementinen, biefelben Argumente gegen Paulus und fein Evangelium wieberfehren, fo von aller Geſchichte verlafien, daß wir der Auffafjung Holſtens das Urteil entgegenfegen bürfen: bei Annahme ber gleichen jubaiftifchen Gegner des Paulus vor und nach feiner Anmefenheit erklärt fi der mit fo erſtaunlicher Geſchwindigkeit auf die Legtere gefolgte (1, 6) Abfall der Galater nicht.

Denn das ift nach unzweidentigen Anzeichen im Briefe über allen Zweifel gewiß, daß mit der Form des Judaismus, welde der galatifche Gemeindekreis aus ſich Heraus erzeugt Hatte, Pau⸗ {us bei feiner zweiten Anweſenheit wohl fertig geworden war. Noch war ja nad unferer Darlegung ber Sachlage feine apoftolifche Stellung und Autorität in keiner Weife erſchüttert. Nur dur ihn waren ja die Galater, was fie waren; und um das fehwere Wort des Anathems gegen jede Predigt eines anderen Evangeliums zu ſchleudern, bedurfte der Apoftel nicht, wie fpäterhin im Briefe, des gefchichtlichen Erweifes feines göttlichen Rechtes. Seine herz⸗ bewegliche Zufprache, von der er felbft fehr wohl weiß, was fie vermag (4, 20), brachte es dazu, daß von neuem „in gutem Sinne geeifert wurde“ und das Gemeindeleben aufs neue in richtigen Geleiſen ſich fortbewegte (4, 18; 5, 7).

Solfte dennoch eben jenes Wort des Anathems für jeden, der ein anderes Evangelium einzuſchmuggeln verſuchen ſollte (1, 8f.), eine Andeutung enthalten von einer Gefahr, die auch der Apoftel fon wider die Gemeinde Heraufzichen jap? Uber dann hätte er gewiß nad; Kräften vorgebeugt. Vielmehr ſcheint der Sag 4, 18 mit feinem Tone voll Indignation es auszufprechen, daß der Apoftel die Gemeinde verlieh mit den beften Hoffnungen für ihr ferneres Gedeihen. Stellen, wie 1, 6; 3, 1; 5, 7 beftätigen das. Anderfeits dürfte man ſchon ein Necht haben, aus Fragen, wie der 4% duäs SBdoxaver (3, 1), aus den Inveltiven gegen die „gewiſſen“ (zivds), welche die Gemeinden verwirren, das Evangelium

Die galatiſchen Gegner des Apoſtels Paulus. 149

verkehren wollen (1, 7; vgl. 2, 12), und den Ungenannten, welder, ſei es Hinter ihmen fteht, fei e8 von ihnen vorgefchoben wird (5, 10) darauf zu ſchließen, daß unterdeffen neue Feinde mit neuen Mitteln auf dem Plane erfienen find. Ohnehin ift es ſchwer denkbar, wie ohne ſolche Hilfeleiftung von außen die ſoeben erft niebergeworfene Geiftesrichtung ſich fo raſch Hätte fieghaft konnen aufs neue erheben.

Daß aber diesmal es Paläftinenjer, Glieder der Urgemeinde, waren, welche den Angriff erneuten, ift teile oben aus bem Briefe nachgewieſen worden, teil® bedarf es, weil unbeftritten, feines Be⸗ weiſes. Wie fie kamen, ift eine fat müßige Frage. Sei es, daß die judaifierende Richtung (ob in ihrem Auflommen öder im Unter» Gegen, wer kann's fagen?) ſich dorthin um Hilfe gewandt, ſei es, dag die Zerufalemiten, vom Eifer der galatifchen Brüder um das väterliche Geſetz erfahrend, aus eigenen Stüden zur Stelle waren, den Löblichen Eifer zu fehen und zu ftärfen: jedenfalls iſt beides glaubhafter, als daß wildfremde Judäer, von nichts als Geſetzes⸗ eifer und Paulushaß getrieben, in einer rein heidniſchen, für ihren Stifter begeifterten (4, 14ff.) Bemeinde follten Eingang gefunden und mit ihrer Predigt Erfolg gehabt Haben. Freilich fanden jene bei ihrer Ankunft die Sache des Judaismus nichts weniger als in Blüte. Paulus Hatte foeben die Stätten verlaffen. Aber nicht nur die gemeinfame Nationalität, auch bie gereizte Stimmung, welche die rüdhaltlofe Geltendmachung der evangelifchen Wahrheit feitens des Mpoftels bei manden, infonderheit ben auf das eigene Anfehen bedachten (6, 12f.), mochte Herborgerufen und hinterlaſſen haben (4, 16), brachte es bald zu einer Allianz der alten und ber neuen Feinde des Gemeindefriedens (5, 15).

Damit war denn freilich die ganze Situation mit einem Schlage verändert. Was jenes erfte Mal die auflommenden jubaiftifchen Tendenzen fo erfolgreich niebergefchlagen, die apoftolifche Autorität des Paulus, eben das bot den Judäern den alfergünftigften Ans griffopunkt und wurde der Hauptgegenftand ihrer Yuseinandere fegungen. Je weniger Paulus felbft, weder ſich zu rühmen (6, 14. 2Kor. 11, 30 u. f. w.), noch fh zu empfehlen gewohnt (2 Kor. 3, 1m. f. w.), darauf bedacht gewefen war, die Stunden, die ſich

1260 Frauke

ihm zur Predigt des gekrenzigten Chriſtus boten (3, 1), mit Er⸗ zahlungen von ſich und feiner Vergangenheit zu füllen, um fo leichter mußte es jenen werden, diefelbe umter einem für feine Autos zität bedenklichen Lichte erſcheinen zu laſſen: als er noch Verfolger Eprifti und feiner Gläubigen geweſen war, da beftanden biefe ſchon, das wahre IJsrael in Joraels Mitte, unter der von Ehrifto jelbft geſetzten Leitung der 12 Apoftel und des. leiblichen Bruders des Here. Weun fih Panlas nachher belehrte, jo Hatte auch er biefe Autorität anzuerkennen. Thatſächlich konnte er auch von nie mand anders das Evangelium empfangen, das er nachher als das feine vexfündigte, als von jenen Augenzeugen usb Genoffen des Lebens des Herrn. Daß man in diefem Sinne des Mpoftels Befuche in Yerufolem, infowdergeit wohl den erften, iu ganz an« derem Lichte erſcheinen zu laſſen ſich bemühte, als mit der Wahı- heit in Einklang ftaub, beweift bie Verfigerang des Paulus Gel. 1, 20. Bor bie Apoftel und Autoritäten der Urgemeinde fo möchte man ferner entwiceln Kat Paulus auch Angelegenheiten und ragen der außerhalb Paläftinas gelegenen Gemeinden zum Entſcheid gebracht. Endlich mögen immerhin die "Gegner des Apoftels auch darauf verwiefen Haben, wie Paulus, als er es in Antiochien gewagt, feinen Staudpuuft dem des Petrus gegenüber zur Geltung zu bringen, von allen Chriften aus ber Bejchneibung, felbft von Barnabas, feinem urfprimglicen Arbeitsgenofjen, fei im Stich gelaffen worden. So war bean fr den Galater ein Ber daffen der Fahne des Paulus und ein Übertreten in das Qager der Beſchneidungsleute felbft Durch ben Namen eines Barnabas gedeckt. Wider jenen mochten fi die Verführer ſelbſt eines haheren Alters im Glauben rühmen können. Und wenn es das ftrenge Wort des Paulus Gal. 5, 10 auch zweifelgaft Laßt, ob die Autorität, auf welche fie ſich beriefen, wirklich hinter ihnen ſtand, fo ſah ſich doch wohl Paulns felbft durch ihr Erſcheinen an hie sunds ano Tand- Kov erinnert (2, 12), welde früher einmal ihm ſelbſt wie dem Petrus glei ungelegen gelommen waren.

Obenein vergifteten die Antömmlinge den ganzen Streit, als fe Maffen der Verleumdung zur Bekämpfung bes Gegners nicht verſchmahten. Denn anders lann es ja ſchwerlich gebeutet werden,

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if haben bie Jeruſelemiten and in Hinſicht der bibliſchen Begründung des gefegeötvenen Evangeliums das Ihrige dazu beie geiragen, zu den vom Paulus abgewieſenen Argumenten uene diu zujufügen. Jiſonderheit werben es die dauernden Vriollegien 6r raels geweſen fein, auf welche fie dem Tom zu legen beliebten uud denen gegenüber Paulus das Aufhdren aller ſarkiſchen Verſchieden⸗ Seiten in Chriſto zu betonen füg nötig fand (8, 28; 5, 6; 6, 16). So mag immerhin die Predigt der Helleniften mehr Geſetzeopre digt, die der Judäer mehr Prebigt von den ewigen Gnaben 6 raels geweſen fein. Aber ſolche Umerſchiede, vielleicht von ben Wirrern ſelbſt nicht empfunden, konnten am wenigſten eine verſchle bene Aktion begründen. Und hier, wo die judaiſtiſche Forderung don Anfang an auf Beſchueidung gegangen war, fanden auch bie Lerunſalemiten am aflermenigften Grund, einem bem Gott unb dem Ceirge Israels fi zuwendenden Heibmifchen Gemeindelreiſe den Weg zu verlegen, den fie felbft am anderen Orte vergeblich zu führen bemüht geweſen waren (Apg. 15, 1).

Es Liegt, ftreng genommen, ſchon außerhalb ber uns geftedten Aufgabe, wenn wie ben Erfolg diefes zweiten Auftretens des Js daionms im galatifchen Gemeindekreiſe darftellen wollten. Wenn

152 Srante

derfelbe ein fo durchfchlagender gewefen wäre, wie e8 nach manchen Stellen (vgl. fogleih 1, 6ff.; 3, 1f.) des Briefes den Anſchein hat, zumal der Apoftel durchgehende fi) an die ganze Gemeinde Hält, fo könnte uns das nad dem Ausgeführten gar nicht groß wundernehmen. Uber daß es keineswegs ſchon dahin gekommen war, daß die Gemeinde als folde -fih zu dem neuen Evangelium befannt hätte, geht nicht nur aus der Erwähnung des noch mit aller Bitterfeit fortgeführten Streites (5, 15 vgl. ®. 20. 22), fondern ganz befonders auch aus der Zuverficht des Apoſtels auf die Treue und Einficht feiner Gemeinde Hervor (5, 10), an welcher derfelbe trog der Gewaltfamfeit feiner Erregung (1, 6; 3, 1), troß feiner Indignation über den Wankelmut der Galater (4, 18), ja momentaner Verzweiflung (4, 11. 20; 8, 4) fefthäft. Ya nah 5, 9 ſcheint e8 nur ein Meiner Teil geweſen zu fein, deffen Abfall zu befürchten ftand. Aber auch diefer Hatte wenig. ftens dem entfcheidenden Schritt der Beſchneidung noch nicht gethan. Ehe die DVerführer‘ es dahin gebradt, war Paulus zwar nicht wiederum felbft auf dem Plane, aber wohl ein Brief von ihm in den Händen der Gemeinde, welcher, auf die neu geſchaffene Sach Inge ruckhaltlos eingehend und Punkt für Punkt die Argumente der alten, wie der neuen Gegner entfräftend, diefe felbft nach allen Seiten Hin richtet und bloßſiellt.

Der Apoftel, welcher bei aller Berwunderung und Indignation dennoch feithält an der Liebe zu den Verirrten als feinen Sindern, und ihnen gegenüber mitten in den fehneidigften Auseinanderfegungen die füßeften Worte der Liebe findet (4, 12ff. 19f.), für feine Gegner hat er gleich Im Anfang nur Spott (1, 7) und Fluch (1, 8), die fi in der Verwünfhung 5, 12 vereinigen. Feierlich citiert er fie vor Gottes Gericht (5, 10), alle die Wirrenftifter. Sie find Feinde des Evangeliums Chrifti (1, 7) und der Wahrheit (5, 7) und, wie Lügenpropheten, jo auch Zauberer (8, 1). Sie mögen ihr Bild erfennen- in jenen Eindringlingen und falſchen Brüdern, welche, des Geſetzes Diener, nur als Spione wider chriſtliche Freiheit in die Reihen der Chriſten ſich gemengt haben (2, 4). Zn ſelbſtſüchtigem Trachten nach Wohlleben und Anſehen befangen, wollen fie einen Chriſtenſtand erfinden, den das Kreuz Chriſti

Die galatifchen Gegner des Apoſtels Paulus. 158

nicht mehr drüdt (6, 12f.), und entziehen dem Apoſtel feine Ge- meinde, um fich felbft an deren Spige zu fehen (3, 17).

So Hält der Apoftel über feine Gegner Gericht. Dasjelbe erinnert noch an die Art, wie altteftamentliche Sänger über Gottes und ihre Feinde zu reden pflegen. Der Apoftel Hatte eben mit feinen Gegnern die gleiche geiftige Heimat gemein: das Alte Tefta- ment.

Ob es ihm gelungen, mit dem Brief an: die Galater den Ju⸗ daismus, wenigftens für Kleinafien, niederzuſchmettern? Wohl fcheint er ihm die Herrſchaft über die Gemeinden Galatiens ent- riffen zu Haben (dgl. 1Kor. 16, 1): der fpefulative Judaismus aber, wie er in den jübifchen Kreifen der galatifchen Gemeinden ſich gebildet Hatte, er bleibt, wie die fpäteren Briefe mit Hein aftatifcher Adrefje beweifen, nach wie vor der ſchlimmſte Feind und Berwüfter der heidenchriſtlichen Kirche Kleinaſiens.

2.

Die alten hriftlichen Infchriften nach dem Text der Septnaginta,

(Zu Jahrgang 1881, ©. 692Ff.)

In mehreren der Abweichungen dieſer Inſchriften vom ber kömmlichen Text fieht Dr. Böhl willkürliche Veränderungen, welche in der Natur der Sache liegen und ganz irrelevant feien. Zu großem Teil find fie nicht einmal ſolche Veränderungen.

In Le Bas 2068 = Pf. 21, 1135. 8. fei yaozeoa ftatt »olsac eine „erlaubte Sreiheit“. Über 100 der von Holmes · Parſons verzeichneten Pfalterien ftimmen darin mit der Inſchrift gegen ben textus receptus überein; ebenfo ber Korrektor des Sinaiticus.

164 Die alten qhriftlichen Juſchriften ac.

Zu Le Bas 2652 = Pf. 32, 22 bemerft Bohl: „Das zugis iſt, im Unterſchied zum Geutigen Text, vor wo eAsog on gejekt, mas tm Affelt der Aurede das Paflendfte iſt und auf keine befondere Lesart zurkdgeht“. Genau fo leſen 106 Pfal- teeien bei Holmes-Parfons, darunter auch A, cbenſo 82.

Le Bad 2677 = Pi. 33, 9 maxagıoo avdgwmoo ftatt u. © ayne wird wenigftens von einer Handſchrift geteilt.

Le Bas 2661 = Pf. 117, 26. 27 mit bem fehlenden Vers⸗ glied 26d, das ebenfo in mehreren Handſchriften und Eitaten fehlt.

Le Bas 2654 = Pf. 90, 9. 10 naosı$ ovx ayyısı av u Geyvanazı "cov. Died 89 Haben mit ber Juſchrift gegen ben textus receptus 76 Handſchriften gemein.

Falls das Wragment Le Bas 2653 [9⸗]00 swyupoo . we... wirklich, wie —— glaubt, auf Jeſ. 9, 6 qurächgefen ſollte, könnte man fett . . va vermuten, als Überveft des an genannter Stelle —EE auf xvooo folgenden Wortes Javuaoroo Bovins; vum ift im Griechiſchen feine gewöhnliche Buchjftabenverbindung.

Durch diefen engen Anſchluß an bie handſchriftliche Überlie⸗ ferung gewinnen die Infhriften nod mehr an Intereſſe.

Münfingen (Württemberg). &$. Akte.

Uftert, Öfolampabs Stelung zur Kinbertaufe. 12

3. Otolampads Stellung zur Kindertaufe,

Bon

Hof. Aarlin After,

Marrer in Hiuweil.

Wie Zwingli wurde auch Dfolampab erft durch die Angriffe gegen bie Kindertaufe veranlaßt, eine felbftänbige Überzeugung von her eigentlichen Bedentung des Taufſakramentes fich anzueignes. Es find Daher auch feine theoretiſchen Erürterungen alle beherrfcht won dem praltiſchen Intereſſe, ſich über das gute Recht ber Rindertaufe klar zu werden und dasſelbe, auch in Ermangelumg eines direkten Nachweiſes aus der Schrift, auf Grund einer wahre daft bibliſchen Anſchaunng von der Taufe überhaupt, einleuchtend darzulegen.

Ob Okolampad jemals ebenſo ernftliche Bedenken gegen bie Kindertaufe gehegt wie Zwingfi, ift ungewig. Als B. Hubmeyer fh im Jannar 1595 mit ihm ins Einvernehmen fegte, that er 8 in der beſtinnmitu Erwartung, bei ihm Sympathie für feine Anſchaunng zu finden Gr winfcht mer eine bentlichere Sprache: „bisher Habe kolamıpad uur verfchkeiert und fehr vorfichtig ſich ausgedructt, wie 23 die Umftäube ja erfordert, jetzt aber ſei es am der Zeit, mit ber Sprache Heranszurüden“. (Oecol. et Zu. Epist., ed. Bikliander, lib. I sm Auf.) Wohl möglich, daß fi diefe Bemerkung anf gelegentlich ihm zugetragene Äußerungen in Predigten ober Unterrebungen bezieht; etwas Schriftliches, das fie beftätigen wiirde, ſcheint nicht vorguliegen. Möglich aber auch, dag Hubmeyer ohme einen beſtimmien Arpaltspanft bei Ololam pad ähnliche Bedenken vorausfegte, wie er fie bei defien Freund Zwingli von früher Her kannte 1), und dag er, weil er auf den letzteren nicht mehr zählen konnte, um fo zudringliher an ben

1) Schelhorn, Act. hist. eccles. I, 121sq.

156 Uferi

erfteren fi) machte. Wahrſcheinlicher ift, daß Okolampad fih bisher der Beftreitung der Kindertaufe gegenüber, foweit fie ihm zu Ohren fam, zwar nicht wegwerfend, fondern ernftlih prüfend, aber immerhin eher abwehrend verhalten. Er konnte die Gegner verftehen, ihnen aber durchaus noch nicht beiftimmen, war aber immerhin von der Sache innerlich bearbeitet und wunſchte eine ausführliche Erklärung von Zmingli *).

Doch bildet bei ihm im Gegenfag zu letzterem eine Haupt inftanz gegen das Fallenlaſſen der Kindertanfe feine noch ziemlich tatholifierende Auffaffung des Saframentes. ALS Grund, warum er noch nicht beiftimmen könne, fhreibt er feinem Freunde in Zürich noch am 21. Novbr. 1524): „Auguftin Hält mich noch bei feiner Anficht feft: wenn das Saframent den Kindern auf fremden Glauben Hin gegeben werde, fo Helfe es ihnen dazu, daß ihnen die Erbfünde nicht angerechnet werde“. Das war nun freis lich nicht in dem üngftlichen, fuperftitiöfen Sinn der römischen Kirche gemeint, welde die Seligfeit vom Empfang der Taufe fchlechthin abhängig machte und darum mit deren Vollzug fo ſehr eilte, fonft Hätte Okolampad nicht, als er einft Thomas Münzer zum Gaft Hatte und dieſer ihm eröffnete, er taufe zwar die Kinder, aber nicht jedes einzelne gleich nad) der Geburt, fondern in Tängeren Zwifhenräumen von etlichen Monaten größere Kinderfcharen zu⸗ fammen, um der Handlung deſto mehr Weierlichkeit zu geben, Okolampad hätte dies Verfahren nicht billigen Können, wie er doch that, „weil es bie hriftliche Kirche in feiner Weiſe beeinträchtige" °). Immerhin ift e8 ihm völlig Ernft mit der Annahme eines ftelle vertretenden, gnabenwirtenden Segens bes elterlichen und des Ge meinde · Glaubens, und man kann nicht umhin, darin einen Einfluß der Tatholifchen Lehre von der empfehlenden und fitrbittenden Liebe der Kirche, als Baſis der Kindertaufe, und von ber Tilgung der Erbfünde und der Infusio Sancti Spiritus, als deren Segnungen,

1) Zw. Opp. VII, 869.

2) Zw. Opp. VII, 869.

3) Hagenbad, Bäter und Begründer ze. Lehen Otol's 72. Herzog Leben Oiol's I, 801f.; I, 2727.

Okolampads Stellung zur Kindertaufe, 157

zu erbliden. Denn in der „tumultuario‘‘ abgefaßten Antwort auf das am 16. Januar 1525 empfangene offene Schreiben Hub- meyers, darin, diefem unlauteren Charakter entſprechend, eine ges wiſſe Keckheit mit affektierter Demut Hand in Hand geht 1), führt er den Gefichtspunft noch weiter in feine Sonfequenzen aus: „Auch in den Kindern ift die Erbfünde, und fo lang diefe nicht verziehen ift, bleibt ihnen das Himmelveich verfchloffen. Nun weiß man aber, dag Gott ſchon Kinder von Gläubigen im Mutterleib gehei⸗ ligt und fogar zu feinem Dienft auserlefen Hat, um fie fpäter zu Wohnungen feines Geiftes zu machen. Wenn nun die Gemeinde der Gläubigen um ber Kinder Heil gläubig bittet, fo ift nicht an⸗ zunehmen, daß Gott dies Gebet verſchmäht. Heiligt er fie aber auf der Eltern und der Kirche Flehen hin, warum foll man fie nicht taufen? Auch nad Erod. 20 haben nicht nur die Kinder, fondern fogar die erwachſenen (alſo actu fündig gewordenen) Nachkommen einen Nugen von der Eltern Glauben. Ungetauft wären ja wirklich Chriftenfinder übler daran, als am achten Tage bejchnittene Judenkinder, an beren Gnadenftand niemand zweifelt“. Man kann freilich nicht fagen, daß Okolampad Hier mehr flatutert, als Zwingli und fpäter bie ganze reformierte Kirche ebenfalls lehrte. Man könnte im Gegenteil in dem Mitgeteilten einen klaſſi⸗ ſchen Ausdruc eines ihrer Lehrfäge finden, daß nämlich die Kinder nicht darum zu taufen find, damit ihnen die Erbfünde verziehen und der Gnadenſtand verliehen werde, fondern deshalb, weil jene ihnen ſchon verziehen ift, und weil fie ſchon vermöge der Ver⸗ heißung: „Sch will dein und deines Samens Gott fein“ im Gnadenſtande ſich befinden. Allein Okolampad ift fic ja feiner Übereinſtimmung mit Auguftin bewußt, und in dem, was weiter folgt, wird denn doch von dem um des ftellvertretenden Glaubens der Eltern willen gefegneten Taufakt die Infusio Sancti Spiritus in einer Weife Gergeleitet, wie fie der veformierten Anſchauung

4) Der weſentliche Inhalt diefes Briefes ift ſchon in der Abhandfung über Zwinglis Taufiehre ffiggiert. Beiſpiel affeftierter Demut; „Wenn Öfolampad ihn ans Gottes Wort wiberlegen könne, fo werbe ex gern 600 Naden, wenn ex ſolche hätte, darunter beugen.“

158 Uferi

fonft völlig fremd ift, mag immerhin eine Geiftesmitteilung an Angerwäßlte ſchon im Mutterlelb, bei Zwingli, bei Calvin und fpäter noch, ſporadiſch auftretende Lehre geweien fein. Otolauwad tft nämlich bei getauften Kindern, au wenn Lange feine Frucht der Wiebergeburt ſich zeigt, doch nicht vom Ausbleiben det Geiftes wirkung und vom angel des Glaubens überzeugt; fordern ba wagt er von einem „nur tot ſcheinen den Glauben zu reden, der nichtöbeftoweniger Gott lebe“. So ſei's auch, mern wir ſchlafen: „Unfer Glaube entbehre eben nur gerade jet der Werke, libe aber Gott und jei nicht tot“ 1). Alſo nicht nur der objeltive Gnadenſtand, durch die ZTanfe bezengt und dem Gemüt verfiegelt, fonbern etwas Subfektives, namlich ein latenter Glaube, temporär gewirkt beim Taufalt und als befondere verborgene Gnadengabe dem Kinde verliehen um bes Glaubens und ber Füurbitte der Eltern und der Kirche willen, das iſt's, worin ſich erft nad) Ols⸗ lampad die Bebentung des Zanffaframentes erſchöpft.

Um Tag nah Empfang des Hubmeherſchen Schreibens, alfe om 17. Januar 1525, wendete fich der basleriſche Reformator brieflich auch an den zurcheriſchen, teilte ihm dem weſentlichen In⸗ halt von jenem mit und fügte den Entwurf zu einer einläßfichen Antwort bei). In dem feinen Gefühl, daß ber in ber „eilfer- tigen“ (tumultuario) Antwort in den Vordergrund geſtellte Ge⸗ fichtspuntt Zwingli weniger zufagen werde, verſchweigt er ihm Bier zwar nicht, laßt ihm aber doch fehr zurücktreten, da er ihn erft in vierter Linie folgendermaßen geltend macht: die „significantia der Taufe, alfo ihr geiftiger Inhalt, gehe den Kindern nicht ab, wie Hubmeyer behauptet, denn fie Hätten den 5. @eift empfangen, wie er überzeugt fei ®); fie felen rein und aus Kindern des Zornes zu Kindern Gottes und ded Reiches geworden; Gottes Segens⸗ vergelßungen erftrechen fich ja auf Kinder und Kindeskinder, ja (Erod. 20) bis Ins tanfendfte Geſchlecht; Abrahams Glaube habe

1) Das ganze Schreiben in Zw. et Oecol., Epist., p. 296.

2) Zw., Opp. VIL, 888.

8) „Spiritum Dei assechtis ut pläne mihi persuadeo‘‘, ffimmıt ganz zu der oben entwidelten Auſchauung vom ſchlummernden Glauben.

Otolampads Steßung zur Kindertaufe. 160

der ganzen uuſchuldigen Nachtommenſchaft genügt. Vorher aber führt er andere Geſichtspunlte auf, die fehr an Zwingli erinnern, wie er denn auch auf einen früher empfangenen Brief Zminglis fich beruft; nämlich erftens: nirgends ſei geboten, fo ängſtlich nad dem Glauben zu forſchen, fondern man habe für forgfältigen Tugendunterricht zu forgen. Zweitens: wenn Hubmeher fage, die Taufe ſei nicht zu betrachten als ein „signum nudum“, fondern als ein „symbolum praegnantibus et augustissimis verbis & Christo institutum (sc. in nomine Patris etc.)“, und dieſe Worte feien dur die Einfegung mit dem Zeichen unzertrennlich verbunden, fo daß, wer dieſes feines Inhaltes entleere (alſo es folgen erteife, welchen die „significantia‘“ nicht zufommt), auch jenen einen Schimpf anthue, fo fei zu entgegnen: Man fei an diefe Worte nicht abjofut gebunden, wenn man mir die 5. Trinität nicht verwerfe, auf jeden Fall dürfe mit ifmen keine Superftition getrieben werden; bie Mpoftel hätten auch nur auf den Namen Eprifti getanft. Drittens: Die Kinder feien in der Eltern Ge walt, und ihr Blut werde bon diefen gefordert. Daher fei es tein Unrecht gegen Gott oder Ehriftus, wenn die Eltern, ſelber gläubig geworden, im Glauben ihre Kinder taufen laſſen. Wirklich ſchrieb dann Okolampad wohl nad Einpfang einer Wegleitung gebenden Antwort vom Zwingli 2) an Hubmeyer im angebeuteten Stme ?), doch fo, daß im der Weglaſſung jenes ihm eigentümlichen Geſichtspunltes Zwinglis Einfluß deutlich zu erfennen if. Die Geiſtesmitteiluug wird Hier dadurch ganz von der Taufe abgelöft, daß letztere als überflüffig bezeichnet wird, wo erftere ſchon ftattgefunden, aljo bei gläubig gewordenen Erwachſenen, für bie überdies auch ohne die Taufe gar Feine Gefahr mehr ſei. Doch darf dies wohl nicht fo verftanden werben, ald wäre eine Taufe Erwachſener ähnlich wie in der apoftolifcken Zeit ganz ohne Wert, und als käme ein folder nur der SKindertanfe zu, fondern Dfolampad meint bloß, es fei fein Grund vorhanden, mit der Taufe zu warten, bie das durch fie fo tröftlich DVerheißene ſchen

%) 68 ſqheint dieſelbe wicht diehr vorhauden zu fein. 3) Zw. et Oec., Epist., p. 800.

160 uſt eri

vollſtändig eingetreten ſei und das Gnadenleben feinen Höhepunft erreicht habe; und namentlich macht er mit Recht auf die Schwie- tigkeit aufmerffam, bie wahre Erleuchtung bei Erwachfenen mit Sicherheit zu erleunen. In Ermangelung eines pofitiven Schrift beweifes begnügt er ſich mit dem negativen, daß die Bibel die Kinbertaufe wenigftens nicht verbiete, und betont, daß das von H. angezogene „Solcher ift das Himmelreich“, das allerdings von den Erwachſenen die kindliche Unſchuld fordere, doch eben burchblicen laſſe, daß die Kinder Gott angenehm feien und zu den Geheifigten zu rechnen. Auffallend ift nur der Schluß bes Briefes mit der Bemerkung: „Der Ritus, den du in der Gemeinde beobachteft (servas), gefällt mir aus der Maßen. Möchte er bei allen Bei⸗ fall finden.“ Es feheint fich dies auf die in Waldshut eingeführte Vorftellung vor der Gemeinde zum Zwecke der Füurbitte zu ber ziehen *), wodurch Hubmeyer ben Leuten einen Erſatz für die von ihm aufgegebene und nur auf befonderen Wunſch noch „ſchwacher“ Eltern vollzogene Taufe der Kinder bieten wollte. Diefen neuen Brauch Hatte er in feinem Brief Okolampad zur Kenntnis ger bracht, und es ift daher nicht eben wahrſcheinlich, daß diefer in feiner Antwort unvermittelt auf einen ganz anderen, in jenem Schreiben nicht berührten Gegenftand abgefprungen. Man begreift nur nicht recht, wie er einem Nitus zuftimmen fonnte, mit dem 9. ausgefprocenermaßen die Kindertaufe allmählich verdrängen wollte; denn auf die Praxis bei glaubensſchwachen Eltern Tann der Ausdruc ritus body nicht wohl bezogen werden. Möglich, daß Okolampad, damit zufrieden, das gute Recht und den Gegen der Kindertaufe nachgewiefen äu haben, jenen Gebrauch, der ja die Vornahme derfelben nicht ausſchloß, fondern ſich fehr wohl damit verbinden Tieß, um des Ergreifenden und Erwecklichen willen, das darin Ing, und das ganz geeignet gewefen wäre, die Teilnahme der Gemeinde zu beleben und aud dem liturgifchen Akt neues Leben einzuhauchen, mit edler Unbefangenheit würdigte und ihm feinen Beifall zollte. Schon jenes Zugeftändnis an Münzer beweift ja,

1) Das Nähere ſchon in ber Abhandlung über Zwinglie Lanfehme: Stab. u. Krit. 1882, Heft 2, @. 286.

Okolampads Stellung zur Kindertaufe. 19

daß er von jeher dem Beftreben hold war, die Taufe der Kinder zu einer erhehenben Gemeindefeier zu machen,

Das unlautere Treiben der Wiedertäufer, wie e8 je länger je mehr sum Vorſchein kam, war am beften geeignet, Otolampad lebhafter noch für die Sache zu intereffteren. Am 8. Auguft des Jahres 1525 ſchreibt er an Haller in Bern von der neuen, in der allger meinen Kirche bisher ganz unerhörten Doftrin der Anabaptiften, bie bei weiterem Umſichgreifen recht bedenkliches Unheil anrichten würde. Es ſei indefjen Anmaßung und nicht Offenbarung (praesumtio non revelatio). Origenes, Eyprian und Auguftin bezengen, daß die Sitte, Finder zu taufen, von den Apoſteln herrühre 1).

Um diefelbe Zeit machten die Wiedertäufer Ofolampad felber in Bofel viel zu ſchaffen, und noch in den Yuguft des Jahres 1525 mag das „Geſpräch etlicher Prädilanten zu Baſel, gehalten wit etlichen Bekennern des Widertaufs“ fallen, darüber Okolam⸗ pad am 1. Septbr. einen Bericht im Drud herausgab ?). Hier iſt nicht mehr von Tilgung der Erbfünde die Rede ®), fondern die Kindertaufe wird ganz im Zwinglifhen Sinne als Zeichen der Zugehörigkeit zur äußeren Kirche aufgefaßt. „Die Taufe“, fo Heißt es, „ist nicht nötig zur Seligkeit, fondern fie ift um des Nächten willen da. Sie ift ein öffentliches Zeugnis der Gemeinſchaft mit Chriſto, reſp. feiner Kirche. Wenn jemand wäre in einer Wuſte und hätte den rechten Tebendigen Glauben, ſo bedürfte er der Taufe nicht. Wer annimmt die hriftlichen Zeichen, den zelen wir für einen Chriften, er fei glich gfund oder ungfund, großen oder Uginen Glaubens. Will er dann fpäter Fein Chriſt fein, fo hat man Mittel, ihn für folden Ungehorfam auszuſchließen, bis er fich bekehrt.“ +) Es ift bemerkenswert, wie ſich Okolampad gleich

1) güßti, Beite. V, 488. "

2) Über das Geſchichtliche ſ. Hagenbad a. a. D., ©. 74 und Herzog, Leben Öfolampads I, 808 fi.

8) Hubmeyer warf daher in einem Brief dem Okolampad vor, er leugne die Exbfünde und fei überhaupt nicht felbftändig, fondern von Zwingli inſpiriert (Öfol. an Zw., 19, Juli 1627, Zw. Opp. VII, 80). Wie wenig Wahrheit in beiden Anklagen, zeigen am beften die unten fligzierten größeren Dindihritten Dlolampade.

4) Ofolampab weift hier und fpäter wiederholt auf bie gunnnullacha

Theol. Stud. Dahrg. 1888.

162 Uftert

im Anfang des Geſprächs ganz auf den Standpunkt der Hifto- rischen Kontinuität ftellt, die Beſchneidung als beweifendes Ana» logon Herbeizieht, bie älteften Kirchenväter für die Kindertaufe als von den Apofteln Her üblichen Brauch in Anfpruh nimmt und die Frage aufmirft, ob denn die Taufe der unzähligen Kinder in der katholiſchen Kirche ungültig geweſen ſei. „Wie madet ihr Chriſti Reich fo eng und ſchmal!“ wirft er den Gegnern vor.

Und in der fpäteren Schrift gegen Hubmeher fagt er am Schluß, es fei undenkbar, daß die ganze Kirche fo viele Hundert Jahre im Irrtum gewefen.

Am 2. Oftbr. 1525 überfandte Okolampad Zwingli das Hub» meyerfche Buch „Vom chriſtlichen Tauf der Gläubigen“ mit den begleitenden Worten: „Mir feheinen die Wiedertäufer die Liebe außeracht zu laſſen, welche uns Klarheit giebt, was in äußerlichen Dingen zu beobachten fei“ (Zw. Opp. VII, 415). Das ift der Geſichtspunkt, unter welchem Okolampad von da an am liebſten, und wirklich nicht ohne Wahrheit, die Wiedertaufe verwirft und die Kindertaufe verteidigt. Er tritt in den Vordergrund in den beiden im Drud herausgegebenen Schriften: 1) „Unterrichtung von dem Wiedertauf, vom der Obrigkeit und vom Eid“, auf Earlins N. Wiedertäufers Artikel. 2) Antwort auf „Balthafar Hubmeyers Büchlein wider der Predifanten Gefpräh zu Bafel von dem Kin⸗ dertauf“, Auguft 1527 (über deren Beranlaffung ſ. Hagenbach a. a. O., ©. 108ff.). Die erfte Schrift, in dialogifcher Form abgefaßt, war aus einem vom Basler Nat verlangten fchriftlichen Gutachten hervorgegangen und wurde jenem gewidmet. Im Ein« gang bemerkt Okolampad, es könnte mandem feinen, man follte fih „an dem langwierigen (d. h. alten) Brauch ber Kindertaufe*

"genügen laffen und fih nicht mit Widerfegung der voralters ſchon Widerlegten jo viel Mühe geben. Aber Gott Habe der Obrigkeit ein fo aufrichtiges Gemüt gegeben, daß fie auch die langwierigen Bräuche prüfen wolle, ob fie begründet fein. Okolampad bittet, ſich nicht daran zu ärgern, wenn er nicht ganz fo Iehre, wie es

Hin. Über die Hierin zwiſchen ihm und Zwingli obwaltenden Differenzen vgf. m. a. Zw. Opp. VIII, 99.

Otolampads Stellung zur Kindertaufe. 168

noch vor furzem bräuchlich gewwefen, und wenn er nun denen oppos niere, die „von ihnen ausgegangen“. Auch Chrifto und den Apofteln fei ſolches begegnet.

1. Carlin nennt den Sindertauf einen Greuel und eine Abs götterei. Okolampad entgegnet: „Solches verdient diefen Namen, wodurch Gott bie Ehre entzogen wird. Gott will durch Ver—⸗ trauen und Liebe geehrt fein. Aus diefen Gefinnungen entfpringt eben der Kindertauf. Der Wiebertauf Hingegen beruht auf Selbſt⸗ vertrauen, als ob das, daß einer ſich vorbereitet, ihm zum Chriften machte und nicht Gottes Erbarmen und Ermählung. Es ift nicht gleichgültig, wie man das Zeichen in Ehren hält.“ Kame dieſes weg, fo würde man bald den Kindern ben Gnadenftand abſprechen und fie für „Böcke“ achten. Auch verftößt der Eifer gegen die Kindertaufe gegen bie chriſtliche Breiheit, die kein ſolches Gebot duldet, jondern die äußerlichen Dinge zur Ehre Gottes, zur Er- bauung und zum Nuten des Nächften gebt wiffen will. Die Verwerfung des Kindertaufes führt alfo zu „Geiftgefangenfchaft“, ift ein Greuel und wider das pauliniſche: „Alles ift euer“. los lampad bemerkt: „er Habe im ſolchen äußerlichen Dingen nie fein Verbot aufgeftellt, fondern er wolle es ber Liebe befehlen und möcht wohl leiden, daß der Tauf. verzogen würd (mie Gregor von Nazianz riet) bis anf das dritte Jahr, wann nit fo vil Gfährd jegt zur Zeit baruf ftünde *). Aber Carlin made ohne Schrift grund ein Verbot daraus, das ‚eine Pflanze fye nit vom Vatter‘.“ %)

1) Diefe freimütige Bemerkung warf katholiſcherſeits Staub anf: der Do- minifanee Profeffor Ambrofins Pelargus gab Opera contra Anabaptistas herans (Coloniae 1534), darunter in Eleutherobaptistas, qui recens est error, und Refutatio consilii Oecolampadiani de differendo parvulorum baptismo usque in eam aetatem qua jam lallare incipiant (Fußli a. 0. O. V, 454).

2) hnlich Otolampad in einem Brief an bie Berner vom 28. April anno ?: „es beſtehe allerdings fein Geſetz, daß man bie Kinder folle taufen, aber auch feines, daß man es umterlaffen folle. Wir beſtimmen nichts über Tag und Jahr, verlangen aber von ben Gegnern basfelbe. Eine folde externa res fei lege caritatis dispensabilis ad aedificationem proximi.

ı1*

164 Uferi

Chriftus Habe freilich die Taufe eingefegt, da er felbft fih taufen ieh, aber er habe nicht wie ein gewöhnlicher Geſetzgeber genaue Vorſchriften über die äußerlihen Dinge aufgeftellt, ſondern das Geſetz bes Geiſtes in unfere Herzen gegeben, famt ber Salbung, die uns Ichre, im Geift der Liebe zur Erbauung folge Dinge zu verwalten.

2. Einen weiteren Beweis gegen die Finbertaufe nimmt Carlin daher, daß er fagt: „Wer das Geſetz Gottes Äbertritt, bebarf ber Wiedergeburt. Kinder ‚übertreien‘ noch nicht, brauchen alſo auf wicht wiedergeboren zu werden.“ Okolampad entgegnet zuvörderft, daß nicht das irdiſche Waffer, fondern nur der Geift und „das Waſſer, welches Ehriftus giebt“, bie Wiedergeburt wirke 1). Übri- gend werde doch Carlin nicht leugnen wollen, da auch die Kinder mit der Erbfünde behaftet und der Wiedergeburt bebürftig feien. Warum ihnen dann aber das Zeichen verweigern? Carlin werde nun zwar jagen: Wenn fie „verfehen“ (präbeftiniert) feien, werben fie doch felig. Und gewiß, für Gott fei die Taufe nicht nötig; vor ihm gelte nur die neue Kreatur, der durch die Liebe thätige Glaube, kein äußerlich Wert als ſolches. Aber die Taufe fe nötig zur Aufnahme in die Zahl der Efriften, „zur Einfchreibung in da6 eich der Himmel, d. 5. im die Zahl derjenigen, die dem Chriftenuamen tragen und bie chriftlichen Saframente empfangen Haben“ ; fie werbe auch nit unterlaffen werden, wo der durch bie Wiebe wirkende Glaube ſei. (Das heißt body wohl: er ift’s, ber alferdings der Taufe auch Wert vor Gott giebt.)

3. Carlin will in bekannter Weife aus Matth. 28 die Predigt als das ber Taufe notwendig voransgehende prius ableiten. Olo⸗

2) Darin denkt Olblampad fo enfchieden und Mar wie Zwingli, wenn er auch nicht immer fo ängffid), ja peinlich, vor myſtiſch Aingenden, mißverſtänd - lnqhen Webensarten fich Hüte. So ſchreibt er 4. B. unterm 16. San. 1830 au Galler: „Ih möcht am meinem Ort nicht lengnen, ba das Tanfwefier fi ‚aqua regenerans‘, ben Zäufling in einen Sohn der Kirche umwandelud, während er vorher von ihr nicht als folder anerfaunt wurde. Natüre Ui ſei bie veinigende Kraft zicht dem Wafler, fondern dem Binte Eheifti um dem 5. Geifte zuzufchreiben.

Öfolampads Stellung zur Kindertaufe. 165

lamyad kam aber in jener Stelle nicht die Einfegung der Taufe erblicken, fondern geht auf die Johannestaufe und auf das anfäng- lie, bloß auf den Namen Jeſu ftattfindende Taufen der Apoftel zurüd. Zweierlei Taufen anzunehmen, gehe aber durchaus nicht an, fonft hätte Ehriftus nicht biefelbe Taufe empfangen wie wir. Man dürfe auch nicht fagen, vor Chriſti Leiden Habe man es aller« dings mit dem der Taufe vorausgehenden Unterricht fo genam nicht genommen, und es jei „de Fragens und Unterfuchens wicht fo viel geweſen“, nachher aber fei hierin größere Strenge eingetreten; denn je reichlicher die Gnade, um fo freier und offener müfle auch der Zugang zu berfelben fein. (1) Und wielang man denn eigent⸗ lich zuvor lehren follte? Es gebe ja mande, die den Glauben fo fangjam faſſen, dag man wohl 30 Jahre ohne großen Erfolg prebigen fönnte. (1) Und was für einen Glauben man denn eigent⸗ lich fordern wollte, „einen wahren oder geftifteten?“ (ſoll wohl heißen: einen urwüchſig Tebendigen oder bloß angelernten?). Die Apoftel jelber feien, als fie zu Jeſu Zeit tauften, noch fehr ſchwach im Glauben und Berftändnis geweſen, fie werden aljo auf jeden Fall nicht angſtlich anterſucht haben, wer der Taufe würdig ſei; das Hätte auch den freien Zugang zum Herrn gehindert, die Blöden hätten fich nicht getraut, zu antworten. „Der Lauf iſt eine Thüre; ob man ſchon vor derſelben micht lehrt, gung ift, daß man drin lehrt, und daß der Thorwart alle einläßt, von denen Hoffnung ift, daß fie gelehrt mögen werden.“ Bei den Kindern, bie fih ja noch ziehen laſſen, könne man dieſe Hoffuung Haben. Es ift Yanm zu feuguen, daß hier das praftifche Jutereſſe der Erhaltung ber Volles fire & tout prix die Darftellung allzu einfeitig und offenkundig beeinflußt, als daß fie auf die Gegenpartei einen überzeugenden Eindruck Hätte machen können. Um fo weniger werden folgende Ausführungen anzufechten fein: es fei Wahn, eine reine Kirche herſtellen zu wollen, darin keiner mehr einen Fall thut. Statt durch Einfügrung der Wiedertaufe die Gewiſſen zu beſchweren mit folgen merfullbaren Forderungen (fi von der Sünde ganz rein iu erhalten) und fie dadurch kleinmütig zu machen, folle man lieber bei der Kindertaufe bleiben und die Umſtehenden zu chriſtlicher Er⸗ diehung ermahnen. „Richt Baptiften feid ihr“, jo ruft Ofelampad

166 Ufteri

den Gegnern zu, „fondern, wie die Alten ſchon dieſes Irrſal nannten, Satabaptiften, d.7H.5Ertränfer; denn ihr bringt die edlen Seelen und guten Konfeienzen in eurem Tauf um.“ Wer fih wiedertaufen läßt, weiß nicht, was er thut, ober er giebt dem Waſſer zu viel zu. „Gern befchwert der taufendliftig Tüfel unfere Gewiffen“ wegen auf äußerliche Dinge bezüglicher Zweifel und Bedenken und läßt uns in innere Unruhe geraten, ob wir wirklich die rechte Taufe haben, und ob ihr nichts zu ihrer Wirkung fehle. Hm Ernft billigt Okolampad, daß Athanaſius zwei Knaben, die, die Chriften nahahmend, einander tauften, nicht noch einmal taufte, fondern fie nur fragte, ob fie im Eruft wollten Chriſten werden. „Der Zauf fei ja im des Herrn Worten gefegnet gewejen“ ?). Er befürwortet aljo in der That „den freiften Zugang zu dem mildeften Herrn“, will jede hemmende Schranke befeitigt und allerlei Bolt „zu dem großen Abendmahl, d. 5. zu der Verfammlung der Ehriften“, Herzugetrieben wiſſen.

4. Carlin wendet ferner ein, daß in der Apoftelgefchichte kein Beifpiel von Kindertaufe anzutreffen fei; aber Okolampad ente gegnet, daß, wenn man einen volllommenen Glauben fordern mollte, dies zu immer neuem Aufſchub und am Ende zu gänzlichem Unter bleiben der Taufe führen müßte. Won den Kindern könne man das Beſte Hoffen. Und wenn man nun dem durch die Taufe einen Ausdrud gebe, fo fei folhe „Anzeigung ihrer Berus fung, wie fie viel Tauſenden nicht. widerfahre, eine ſonderliche Gnade Gottes“, deren fie als Chriftenkinder gewürdigt werden. So wenig e8 verboten fei, Kinder zu taufen, fo wenig verftoße es gegen den Glauben, gegen die Erbauung und gegen die Liebe.

3) Bor. über diefe Handlungsweiſe, die auch Luther billigt, Steig bei Herzog, Real-Enc., Bd. XV, ©. 472. Sie beruhte jedenfalls, wenn über Haupt die Sage hiſtoriſchen Wert Hat, auf ganz anderen, ben Ololampadiſchen gerade entgegengeſetzten Lehrvorausſetzungen von der „objektiven Wirkſamkeit ber in gehöriger Form erteiften Taufe”. Wenn fpäter fogar ein Thomas von Aquino unter deutlicher Bezugnahme auf diefe Sage lehrt, bie Wahrheit bes Saframentes werbe geradezu aufgehoben, wenn jemand nicht dasſelbe im Gruft . verwalten, fondern ein Spiel treiben wolle, jo Hätte Otolampad jedenfalls mins deſtens ebenfo viel Urſache gehabt, die richtige Intention zu poftulieren.

Dfolampads Stellung zur Kindertaufe. 187

Aus Beispielen aber, wie fie Carlin aus der Apoftelgefchichte zu Ungunften der Kindertaufe herbeiziehe (Kämmerer x.), fei kein Geſetz und fein Verbot abzuleiten ?).

5. Wenn endlich Carlin betont, bie Taufe waſche feine Sünde ab, fondern fei ein Bundeszeichen mit Gott, dadurch das Gewiffen die Verpflichtung auf fi nehme, das Fleiſch zu dämpfen und nad empfangenem Zeichen, als mit Chriſto auferftanden, unfchuldig zu feben, fo kann Okolampad im allgemeinen und. namentlich mit Bezug anf das erfte völlig beiftimmen; nur Hält er es nicht für überflüffig, nachdrücklichft zu erinnern, daß aud das zweite (dem neuen Wandel) nicht der äußere Tauf, fondern nur der h. Geift wirte, und daß das Zeichen als bloßes Erwedungs- und Er» innerungs mittel und infofern als Werkzeug des Geiſtes zu betrachten fei; an und für fich aber Habe weder der Tauf noch der Wiebertauf folhe Kraft. Möge immerhin in der Apoftel« eeihichte kein Fall von eigentliher Kindertaufe erzählt fein, fo wiſſe man doch, daß die Getauften oft erft Hinterdrein gründs lich belehrt und ermahnt worden fein. Und wenn ſchließlich ſich Carlin auch noch gegen „des Papftes verzaubertes Taufwaſſer“ ereifert, fo teilt Okolampad durchaus feine Entrüftung über das abergläubifche Beiwerk und bemerkt, daß er ſchon vor zwei Jahren dagegen geprebigt; aber er läßt darum doch nicht gelten, daß die bisherige Taufe eine Taufe auf des Papftes Namen und alfo ungültig geweſen fei. Und am Schluß redet er nochmals unter Hinweis darauf, daß Abraham fogar Sklaven beſchnitten, der größten Weitherzigleit da8 Wort, denn „denen, welchen Chriftus die Enden ber Welt zum Erbteil gegeben, müſſe der Zugang zu feiner Lehre und Gnade Hochgefreiet fein“. Man fieht deutlich, die Taufe wird Dfolampad unter der Hand aus einem Sakrament der Wiedergeburt zu einem Satrament der Berufung. Er wilf fie betrachtet wiffen als einen mit möglichiter Liberalität zu fpendenden Erftlingsgruß der univerfalen Gnade Chrifti.

Nicht minder entſchieden nimmt Dfolampad den Standpunkt

2) Im der Schrift gegen Hubmeyer erinnert Okolampad am Schluß an die apoſtoliſche Prazis, bier und da ganze Häufer zu taufen.

2168 Uferi

evangeliſcher Freiheit und Innerlichkeit in der anderen Schrift gegen Hubmeyer ein !).

Wenn Hubmeyer behauptet, in Sachen, welche die Ehre Gottes amd unfere Seligfeit betreffen, entfcheibe noch nicht der Mangel eines Verbotes, fondern es fei geradezu ein Gebet erforderlich, denn nach Offenb. 22 fei auch auf das „Hinzuthun“ ein Fluch gelegt, und in jenem Worte Jeſu Heiße es: ede Pflanze, die mein himmliſcher Vater „micht gepflanzt”, und nicht „die er ver- boten Hat“, fo entgegnet Okolampad, das hebe alle chriſtliche Freiheit auf, und auch der Salbung, von der 1%Yoh. 2 fiche, daß fie alles lehre, bleibe dann nichts mehr zu lehren übrig, Das eine, das not thue, ſei das Werk Gottes, daß wir glauben (Joh. 6, 29); fei durch dies Inwendige der Grund gelegt, dann dürfe über das AÄußerliche die Liebe zu Gott und zum Nächten ent» ſcheiden. Alle Lehre, die dem Glauben und ber Liebe ent» fprede, fei, wenn auch nicht buchftäblich in der Schrift ente Halten, dennoch eine Gottespflanzung, fo gewiß als Glaube und Liebe aus Gott, und ihr Privilegium die Salbung. „Ein armes Leben“, ruft Okolampad aus, „mern alle nügliche Gewohnheit und Ordnung aufhören follte, fofern nicht ausdrücliches Schrift wort fie ſchutzte; wer möchte da felig werden? Dann wäre der Himmel der Schriftgelehrten allein!” Man miffe zugeben, daß betreffend die Zudienung des Taufſakramentes noch mandes nicht normiert, ſondern der Freiheit anheimgeftellt fei. Am wenige ften verdiene die Kindertaufe den Vorwurf ber EIeAoFgnaxela (Kol. 2, 23), als etwas, das dem Glauben und der Liebe gemäß, dem Nächften nüglich und Gott mohlgefältig fei; eher treffe jene Anklage die Wiedertaufe. Inſtruktiv fei das Beiſpiel des Paulus, der der

1) Beranlafjung zw derfelben war das Ausgangs 1526 (vgl. „nuper“* in einem vom 1. Dezbt. batierten Brief an gwingu, Zw. Opp. VIE, 687) ihm in bie Hände gelommene Büdjlein „wider der Predilanten Geſpräch zw Bafel*. Yan kurzen Vorwort bemerkt Ölolampab, Hubmeher bewähre ſich ganz ale der Alte und ſei aljo des Mitleids nicht wert geweſen, das er für ihn empfunden, ba er „Bitger zu Wellenberg* gewefen (. h. im Mellenberg in Zürich eimgekerkeet). Er macht ihm zum Borwutf, da er nicht aufrichtig zu⸗ werfe gehe, fondern feine Worte derſtümmle.

Hlolampads Stellung zur Kindertaufe. 168

Zunwtung, den Titus zu befdmelden (Gal. 2), fi wiberfeigte und doch fpäter felhft (Mpg. 16) den Timotheus befcnitt, „damit weder mit Gebot noch mit Verbot chriftliche Freiheit Aberladen werde“. Der apolalyptiſche Fluch anf jegliches „Hinzu- oder Hin⸗ wegthun“ beziehe fih nur auf diefes Weisfagungsbuch und wolle der Verfalſchung desſelben durch eigene Trämmereien wehren. So⸗ gar die römifchen Zeremonien Könnten geduldet werden, ſofern fein Aberglaube damit getrieben würde, und fofern fie chriſtlicher reis heit anheimgegeben wären '), Gegen ben Sauerteig der Selbſt gerechtigkeit kehrt ſich Ofolampab mit der treffenden Bemerkmg, ein Sakrament ſei mehr „eine Bezeugung des Gegenwärtigen (d. 5. des objektiven Gnade) als ein Gelubde und Verſprechen von Zn. fünftigem“ ; wo letzteres zu ſehr hervortrete, da erfolge entweder ſtolzes Selbſtverttauen ober Verzweifluug, anf jeden Ball Anlaß zu geſetzlichem Weſen, „zum Gezwang und Gedrungenheit, ſolche Gutheit zu them“, und dus fel vor Bott wertlos. Dem Dringen auf ein Mares Schriftwort Hält Okolampad die Brommen vor Mofes entgegen; und am wenigften foll denjenigen Mangel an Glauben vorgeworfen werden, die überzeugt find, daß das Leiden Chriſti and Eräftig genug für die Kinder fei, „welche dem neu geborenen Chriſtus mit threm Blut fogar zuerft Zeugnis gegeben“. Huömeyer jet ein Buchſtabendienet, und dabei Höre „alle Ber Heihung von Geiftlichem mit Geiftlidem* (1 Kot. 2, 13), aller Fortſchritt in der Erkenntnis durch die Salbung auf.

Hatte Ofolampad ſich früßer über bie fiellvertretende Kraft des elterlichen Gluubens zum mindeften etwas mißerftändfich aus geſprochen, fo lehnt er jegt mit Entſchiedenheit die Anffaffung ab, als ob fremder Glaube (ſei's der Eltern, fers der Zengen, ſel's der Kirche) ein Kind felig made. Die Taufe bedinge die Yuf- nahme in Die Kirche, die Segnungen ber letzteren aber feien Iedig« lich in Chriſti Berdienſt begründet; umfromme Eftern feien ihren

3) Ghavattechfifg, für ben feriecen Gtandpuntt, den Okolampad einteitmant, Manch bie das Nachtmahl betreffeude Bernerkang, datz durchaus nicht alle, tweidhe 08 zwat mac romiſchem Metns, aber bemody mit glänbigem Wırkangen au Chriſto genlepen, zu verbatmmen fein; „wenn er ſelbſt vor 6 Zuhren mer ſtorben wäre, ex wirche deshalb keiue Furcht Haben“.

m. Ufteri

Kindern kein Hindernis, indem ja doch ber objektive Kirchenglaube befannt und in Kraft der Verheißung die Gnade garantiert werde, Daß man Taufzengen nehme, fei zwar eine finnreiche Zeremonie und bedeute, daß das Kind fortan ben irdiſchen Vater laſſen und dem himmlifchen anhangen folle, wolle aud für genügende Ga- rantie hriftlicher Erziehung forgen, aber am Ende könnte auch ein Vater felbft fein Kind aus der Taufe heben.

Auch Okolampad rekurriert auf bie „Firfefung“ (Prädeſti⸗ nation) und zeigt, wie dieſe ewige Huld, die dem Glauben, ihrem Ausfluß, voransgehe, die Kindertaufe vollftändig rechtfertige, miewohl erwählte Kinder, auch wenn fie vorher ftürben, durchaus keinen Nachteil Hätten 1). Wie Mein müßte die Zahl der Chriſten werden, wenn man nur Erwachſene mit vollkommen gewiſſem Glauben taufte! Allerdings bedeute die Taufe Verzeifung ber Sünde, aber fie empfangen, heiße Iediglich in das Volt aufge nommen werden, mit welchem Gott einen Bund gemacht, daß er feiner Sünden nicht wolle gebenfen. Das Waffer nehme feine Sünde weg. Noahs Glaube befchirmte auch das ohne Glauben in die Arche eingelajfene, nur nicht widerfteebende Vieh; follte es nutzlos fein, unmündige Kinder durch die Taufe in die Kirche eine zulaſſen? Hubmeyer Habe übrigens ſchon durch Zwingli „und ach ihm durch den Baderus* *) deutlichen Beſcheid bekommen. Warum er nicht nach Mark. 16 „auch bie Wunderzeichen, bie den

1) Es zeugt von ber fehonenden Milde, mit ber Dfofampab das frommt Gefühl behandelte, wenn er nichtedeftoweniger in einem Briefe am Haller vom 16. Januar 1530 ſchreibt: „IH möchte es nicht als einen Meiberaberglauben bezeichnen, mit ber Taufe kranker Kinder zu eilen, nur möchte ich auch den Gefichtspunkt und das Urteil der Kirche nicht geringachten“ (pro nihilo habere caleulum et judicium ecelesiae). Zw. Opp. IV, 198.

2) Okolampad kannte alfo die in einem fpäteren Auffat zu ſtigierende Schrift Babers; der Geſichtspunkt des „nicht Widerſtrebens“ mag aus ir entlehnt fein. Den gleichen Gefihtspunkt betont Öfolampab in einem ungefäh gleichzeitigen Briefe: Zur Taufe ſei nur nötig das „non refragari (nicht fich widerſetzen) et (sc. dadurch) approbare, se in numerum conscribi fidelium“. Die Kinder folle man zufolge der Taufe für Brüder Halten, bis das Gegenteil zum Bor fein komme. Bel Kindern von Gläubigen bikfe man jebenfalls das Bete Hoffen (Oecol. Johanni Grelo in Kilchberg, 16. März 1527).

Ololampads Stellung zur Kindertaufe. 171

Gläubigen nachfolgen ſollen“, in feine Stufenfeiter 1) aufnehme? Wenn er auf den Einwurf, es feien auch nicht alle von dem Apofteln Getauften recht gläubig gewefen, ſchnell bereit antworte: „Dean fehe nicht an, was gefchehen fei, fondern was recht fei“, fo ſchlage er mit diefem Axiom ſich felbft; Exempel Hätten aller» dings noch feine Beweiskraft, weder für ein Gebot, nod für ein Verbot 2).

Doch nicht nur gegen den Glauben, fondern auch gegen die Liebe verftoge das Verbot der Kindertaufe. „Es ftinke nad Hoffahrt“. Ob man fich denn für beſſer Halte, als unfchuldige Kinder? Warum man ihnen mit dem Zeichen auch die Sache felbft, nämlich Chriſti Verdienft, entziehen wolle? Was e8 fchade, wenn fie fo früh in Chrifti Schule kommen? Die Kindertaufe habe jedenfalls die gute Frucht, daß man das Zeichen Chriſti an den Kindern ehren und fie recht zu erziehen -befliffen fein werde, Auch bei den Kindern felbft werde eine Erinnerung daran nicht ohne fegensreiche Wirkung fein.

Zn einem zweiten Teil der Schrift betont Okolampad zuerft, daß die Verheißung in alle Fälle dem Glauben voransgehe und fih um weniger Gfäubigen willen (Abraham ꝛc.) auch auf folde erſtrecken könne, die noch nicht glauben ®). Wenn Hubmeher ur«

2) S. in der Abhandlung über Zwinglis Tauflehte a. a. O., ©. 263.

2) Ähnlich Zwingli in der Schrift über Dr. Balthaſars Taufbüchlein.

3) Wenn alfo auch Ölolampad nicht mehr einem gewiſſermaßen ftellvertre- tenden Glauben der Eltern nnd Zeugen eine unmittelbare Gnadenwirkung für das Kind beimißt, weil fonft die Kinder unfrommer Eltern, wiewohl aud in der Kirche geboren unb getauft, einer ſolchen verluftig gingen, fo refurriert er doch auf den Glauben Abrahams und auf die demſelben gegebene Verheißung, wodurch die Kirche gegründet und allen Geſchlechtern im derfelben Heil ger worden. Es ift alfo eigentlich diefe auch die Nachtommenſchaft umfaſſende Ber- heißung, melde für alle Zeiten bie Bundesgnabe der Chriftenheit garantiert, und welche, wie man, dem partifularen Ratſchluß unvorgreiflic, anzunehmen berechtigt iſt, jedes Ehriftenfind angeht, an welche auch die Kirche glaubt und mit ſolchem Glauben (event. in Verbindung mit feommen Eltern und Taufe zeugen) einſtweilen für die Kinder eintritt. Ähnlich Beza, Quaest. et Resp. DI, 126. 127, wo für letzteres der Ausdruck intervenire gebraucht, eine im- putatio alienae fidei aber beſtimmt abgelehnt wird.

17 uſteri

giert, daß Jeſus ſage: „folder“, nicht „ihrer“ iſt das Himmels reich, fo fragt Oktolampad, ob eine Ungleichheit in der Belohnung ftattgaft fet, wo doch Gleichheit in Tugend und Gnade beftehe; unb ob es nicht Höheren Wert habe, daß Ehriftus die Kinder zu Onaden angenommen, als wem ifmen duch Menſchenhand die Taufe erteilt werde? Okolampad räumt, auch hierin unbefangener als Zwingli und Calvin, ein, daß die Sohannesfünger zu. Epheſus (Apg. 19) zweimal getauft worden; aber weil es ja doch nicht zweimal „auf den Namen Chriſti“ geſchehen, finde fich Hier durch⸗ ans keine Analogie für die Wiedertaufe.

Am Schluß refünmert Okolampad über die Bebeutung der Kindertaufe folgendermaßen: Man dürfe zwar guter Hoffnung fein, daß Chriftenkinder durch die Gnade, welde noch feine böje Ge wohnheit in Frage ftelle, ſchon im Mutterleib gereinigt werden; aber den Chriſtennamen befommen fie erft durch die Taufe. Hier acceptiert Öfolampad den Zwingliſchen Sag: „Die Taufe wird um des Nächſten willen empfangen“ 1). „Willſt du, Balthafar, die als Kinder Getauften nicht als Ehriften anertennen, fo Können wir dich und die Deinen auch nicht anerkennen. Inwendig näm- lich kennt nur Gott uns alle.“

So entſchieden Okolampad in diefen beiden Schriften für die Kindertaufe einfteht, jo verbirgt fich doch nicht ganz eine zwiſchen ihm und Zwingli beftehende Differenz, bie ſich auf den kürzeſten Ausdrud bringen läßt, indem man fagt: Zwingli beweift: man muß die Kinder taufen, Okolampad Hingegen: man darf die Kinder taufen. Am beiten erhelit die Differenz aus der abweichenden Stellung, die Okolampad laut brieflihen Außerungen zu dem von den Straßburger Predigern protegierten, von Zwingli aber mit miß« trauiſchen Augen angefehenen und in der That zum Anabaptismus hinneigenden Martin Keller 3) einnahm. Am 22. Auguſt 1527

1) „Die Taufe lehrt weder Gott etwas, noch die Kinder, ſondern erinnert bie auderen Anwefenden, daß dem Kiude die Guade Gottes gelte.“ (Ofelam- pad an Haller, 16, Jan. 1530.) Zw. Opp- IV, 198.

2) Über ihn vgl. Baum, Capits med Buck (im der Semmlung „Leben und Schriften der Väter und Begründer“ ıc.), ©. 380.

Olelampade Stellung zur Kinbertaufe. 178

ſchreibt Okolampad über biefen an Zwingli (Opp. VI, 86): „Si liberum asserit baptismum parvulorum salvo cAritatis imperio (d. 5. doch wohl: wenn er die Kindertaufe für zuläffig erffärt und alfo das Regiment der Liebe nicht beeinträchtigt) dam- natque catabaptismum (das that Feller Damals nad der Aus⸗ fage der Straßburger) nen video quid periculi?). Peceavi- mus et nos in eo, Nunquam enim ausi sumus praeceptum baptizandiparvulos docere, sed ca- ritatis instinetu id officii pios minime praeteri- turos affirmavimus. Et quae nunc sub prelo sunt contra Balthazarem?) eadem loquentur: nelim enim ita baptismum parvulorum d@dıayo- 00» haberi ut ea, quae nihil ad religionem atti- nent, sed ne in ullo libertati praejudicet (b. h. „ſondern nur, daß er (Balthafar) nicht in irgendetwas der chrifte lichen Freiheit vorgreife“ ; Ofolampad will weder ein die chriftliche Freiheit beeinträchtigendes Verbot der Kindertaufe, noch daß man fie für ein völlige Adiaphoron halte und dadurch entwerte). Porro modis omnibus, cum nobis unum cor sit et eadem in Christo omnia, enitendum, ne adversarii quippiam dissi- dii, ne dicam simultatum, suspicari possint, alioqui totus mundeas in nos saevit; non ut conniveamus ad ullum men- dacium vel extrarium dogma, sed ne austeriores in amicos quam in hostes simus, quibus innumera condonare cupimus et cogimur.“ Dieſes Briefegcerpt ift ſowohl für die richtige Erfaffung des Standpunktes, den Okolampad einnahm, fehr lehr⸗ reich, als auch für feine edle Gefinnung ein ehrenvolles Zeugnis. Auch ſpricht es für feinen richtigen theologifchen Takt, daß er

3) AÄhnlich ein Jahr fpäter in einem Briefe vom 6. Auguſt an Zwingli, worin er ihm mitteilt, daß Eapito, ber durch Keller beeinflußt eine Seit lang eine zweideutige Haltung eingenommen, zwar immer noch die Abfchaffung ber Kindertaufe wünfche, aber doch num wieder „libertatem in externis, qua li- cet baptisare infantes“ beftimmt verteidige. „Nihil ultra exigimus ab illo“, fügt Öfofampab bei (Zw. Opp. VII, 211). .

3) Eben bie oben egcerpierte Druchſchrift.

174 Ufteri, Ololampabs Stellung zur Kindertaufe.

meint, man follte fih damit begnügen, die Zuläffigleit und das gute Recht der Kindertaufe eriiefen zu haben unb anerkannt zu wiffen ?).

ı) Man fann daher fügfich zu obigem Befenntnis „Peccavimus et nos in eo“ eim Fragezeichen ſetzen. Mag ein federes Behaupten mehr Erfolg Haben, feine Zurüdhaltung war nicht ein Fehler, fondern gereicht ihm zur Ehre. Hier am Schluß möge noch als Ergänzung zu den ©. 161 u. 164 mitgeteilten Ausfagen Öfolampads über die Notwendigkeit des Taufvollzugs bie intereffante von Prof. Stähelin in Baſel im Vollsblatt f. die ref. Kirche der Schweiz (1882, Nr. 24, ©. 94) beigebrachte Briefftelle vom 15. Mär 1527 (Oecol. et Zw. Epist., Bafel 1536, p. 81) Platz finden: „Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt, und wo wir im Glauben fiehen, ba bleibt uns nur noch ein Geſetz, das Geſetz der Liebe; aber diefes ift fo wichtig, daß ohne die Liebe auch der Glaube unnüg und eitel ift, und alle Werke, mögen fie auch einen noch fo Hohen Schein vom Heifigleit Haben, keinen Heller wert find. Die Liebe num gebietet, daß wir durch bie äußeren Zeichen, mit denen der Here die Gemeinſchaft in einem und bemfelben Glauben vereinigen wollte, unferen Glauben und unfere Liebe bezeugen. Aus biefem Grunde ift auch bie Taufe geboten. Die fi alfo nicht wollen taufen laffen, die wollen aud feine Gemeinſchaft mit den Chriſten eingehen; bergeftalt eutblößt von Liebe und Glauben, welches Heil können fie Hoffen? Sonft freilich ift unfer Heil nicht an die Saframente gebunden; es fei nur das Bekenntnis des Glaubens auf- richtig und feſt, fo wird bie Thl des Paradieſes offen ſtehen.“ Ahnlich im Kinderbericht: „Wenn aber jemand den Glauben Hätte, und ein frommes Leben führte, er wäre aber nicht getauft, wollte fi aud nicht taufen Taffen, hielteſt du ihn auch nicht für einen Ehriften? Antwort: O nein; benz wer wahrhaft an Ehriftum glaubt, der wird ſich auch taufen laſſen, wenn er noch nicht getauft if, damit er zu ber Zahl ber Ehriften gehöre.” (Hagenbad a. a. O., ©. 299.)

Nezenjionen

1.

Der Brief des Jakobus, erklärt von D. David Erd⸗ mann. Berlin 1881. VII u. 383 ©.

Aritiſch· exegetiſches Handbnd über den Brief des Iako- bus. Bon Dr. J. E. Huther. 4. Auflage. Um⸗

gearbeitet von Dr. W. Beyjchlag. Göttingen 1882. VIu 242 ©.

Die beiden genannten Werke, in weniger als Yahresfrift einander gefolgt, bilden ſowohl durch die individuelle Verſchiedenheit der Methode, wie durch ihre Übereinftimmung in den Grundfragen eine ‚erwünfchte Bereicherung ber exegetifchen Litteratur. Der zuerft er⸗ ſchieuene Erdmannſche Kommentar, den Beyſchlag noch Hat benugen tonnen, gehört feiner Form nach der reproduzierenden Methode an. Er ift glatt und durchfichtig gefchrieben ; die Zerlegung des Briefes im Meine, durch befondere Überfchriften markierte Abſchnitte er- Teichtert die Lektüre ebenfo wie der zufammenhängende Flug der Dorftellung innerhalb jedes Abfchnittes. Mit den Hauptfächlichften neueren Erklärungen fegt fi) der Verfaſſer auseinander, ohne auf Bollftändigket im ber Geſchichte der Exegefe auszugehen. Der Hauptzwed ift offenbar die Darlegung des Gedankengehaltes; bie lexilaliſch⸗ grammatiſche Seite tritt zurüd; ebenfo die Tertkritit, hin⸗ ſichtlich deren das Nöthigfte in Anmerkungen gegeben tft. Daß der Verfaſſer das gelehrte Material beherrfcht, war bei ihm nicht mur voranszufegen, fondern ergiebt fih auch aus dem Werke. Aber wenn er aud ausdrücklich betont, daß er nicht eine fogen. praltiſche Erklärung geben wolle, Hat er doch augenſcheinlich nicht ſowohl der

Zieol. Einb. Iaıg. 1288.

178 Erdmann, Der Brief des Jalobus.

eigentlich gefehrten Forſchung, als vielmehr dem weiteren Kreiſe theologijch gebildeter Lefer dienen wollen, melden es auf die Re⸗ fultate der eigentlich gefehrten Arbeit und auf ein fahliches Verftändnis des Briefe ankommt. Dagegen bewahrt die von Beyſchlag bearbeitete neue Auflage des Hutherichen Kommentars den Charakter des Meyerfchen Werkes, welches in erfter Linie der eigentlich gelehrten Detailarbeit dienen follt. Die philologiſche Seite der Auslegung ift umverfürzt geblieben; die gloffatorifche Methode mit Recht beibehalten, da fie nicht nur für dies Werk in geihictlichem Recht ift, fondern auch für den Zweck desfelben die durchaus angemefjene. Dem Bearbeiter ift das um fo mehr ale Verdienſt anzurechnen, al er wohl nit weniger wie fein Mit- arbeiter Weiß feiner Individualität und Neigung damit ein Opfer abgewonnen Hat. Dabei ift aber doc der Kommentar viel les— barer geworden, als er früher war. Die Friſche und plaftifche Art der Darftellung, welche den jegigen Bearbeiter auszeichnen, haben die „Unfebendigkeit“ der Hutherſchen Art, über welde die Vorrede mit Recht Hagt, in hohem Maß überwunden. Dies tritt nicht nur in den ganz neu gearbeiteten Abſchnitten, befonders in der Einleitung und dem Exkurs zu 2, 14—26 Hervor, fondern macht fich auch bei der Detaiferflärung vielfach angenehm geltend. In formeller Hinficht möchte ih mir zwei Wunſche für die nächte ‚Auflage erlauben. Erftens, daß die tertfritifchen Bemerkungen, welche ihre frühere Geftalt formell und materiell bewahrt haben, nad der von Weiß, Heinrici, Wendt mit Necht bevorzugten Me- thobe, ftatt am Anfang jedes Kapitels zujammengedrängt zu fein, Tieber an die einzelnen Abſchnitte derfelben verteilt wurden; auch würde eine materielle Neubearbeitung ihnen nicht ſchaden *). Zweir tens würde ich wünfchen, daß in Anmerkungen eine Überficht über bie einſchlagende Litteratur gegeben würde. Hinfichtlich der bes augten Kommentare ift dies wenigftens für die Neuzeit am Schluß gefchehen und dadurch einem mehrfach ſchon Hervorgehobenen Mangel

V In einer Reihe von Stellen ift Tiſch. VII herangezogen, wo ich wie bei der Lesart mosyalıdes 4, 4 den Grund nicht einfehen Tann, warum wicht die VIII wenigflens mitgenaunt iſt.

Beyfhlag, Kritiſch-eregetiſches Handbuch zc. 179

der Meperfchen Kommentare abgeholfen. Aber dasfelbe möchte ich auch für bie Einzelfragen empfehlen. 3. B. würde eine Zufam- menftellung der einzelnen Vertreter der verfchiedenen Auffaffungen bei der Trage über die Perſon des Jakobus mit Angabe der Schriften, wo fie niedergelegt find, in usum tironum fehr er⸗ wunſcht fein; ebenfo eine Überficht über die Litteratur zu Jat. 2, 14ff. Die bebeutendften Namen kommen ja im Sontert der Darftellung vor, aber teils nicht alle neueren Arbeiten 3. B. nit Iſenberg, Rechtfertigung dur den Glauben; Preuß, Rechtfertigumg des Sunders; Godets Auffag in feinen Bibel ſtudien; Schanz' Auffag in ber Tübinger Ouartalfchrift 1880.—, teils ift es doch eine große Erleichterung, wenn man bie Litteratur nicht erft mühfam ſich zufammenfuchen muß, fondern fie zufammen- geftellt findet. Dasfelbe gilt von der Erflärung einzelner Stellen, wobei fchon Meyer felbft in ben legten Auflagen. anmerfungsweife die betr. Sitteratur zufammenzutragen. pflegte. So mürde z. B. bei 2, 23 ber Aufjag von Ronſch bei Hilgenfeld 1873, bei 4, 5. 6 der von Grimm in den Studien und Pritifen 1854 zu nennen fein.

In den Einfeitungsfragen tft es erfreulich, beide Verfaſſer faft durchweg in Übereinftimmung und badurd den Chor der in biefer Hinfiht Einmütigen verftärft zu fehen. Sowohl in ber allzu fange durch dogmatifche Boreingenommenpeit gedrücten Frage über die Perfon des Jakobus wie hinſichtlich der Zeit der Abfaffung unferes Briefes ſcheint fi mehr und mehr ein ftarker Konfenjus herauszuftellen. In erfterer Hinficht bedanere ih nur, daß Bey- ſchlag das DVerhör der älteren Kirchenväter, das Huther angeftelit Hatte und aud Erdmann giebt, fortgelaffen Hat. Allerdings genügt ſchon das von Beyſchlag Beigebrachte, um ein richtiges Urteil zu geminnen, und an fi muß man jedem Verfaſſer bie Freiheit laſſen, felbft zu entfcheiden, wie viel geſchichtliches Material er aufnehmen will. Aber gerade bei dem Meyerſchen Kommentar fteht es doch anders. Weil er dad Grundbuch für alle unfere jungen Theologen ift, Haben dieſe, ſcheint mir, ein Recht, darin folhe Fragen in ihrer ganzen Ausdehnung behandelt zu finden. Sachlich ift mir zweifelhaft, ob Beyſchlag mit Recht den Jakobus „aus der Inner»

12*

180 Erdmann, Der Brief des Jakobus.

luchften, fo zu fagen ſchon evangeliſchen Richtung bes Zuben- tums zum Chriſtentum gelangen läßt (&. 19). Wäre er von vornherein fo gerichtet geweſen, wie ift bann zu erffären, dag er bet Lebzeiten Jefu nicht an ihn glanbte? Sehr lichtvoll und überzeugend ft ber Abſchnitt über die Briefempfänger gearbeitet. Bumächft wird mit Recht betont, baf durch die geſchilderten Ver⸗ Hältniffe ausgeſchloſſen wird, daß die Lefer ſich in gemifchten Ges meinben befinden. Wie wäre unter biefer Annahıne das Fehlen jedes Grußes an die heidencpriftlichen Brüder zu erflären? Das wäre doch nur auf Grund eines judenchriftlichen Fanatismus mög« Gi, von dem unſer Brief keine Spur enthält. Ferner weiſen Erdmanun amd Beyſchlag übereinftimmend mit Recht die Annahme zurüd, daß bie „Reichen“ in umferem Briefe Heiden oder Heiden⸗ hriften find (befonders burechichlagende Bemerkungen gegen letzteres bei B., ©. 10). Dagegen kann ich Beyſchlag nicht beiftimmen, wenn er auch 1, 10 die Reichen von unglänbigen Juden ver fteht, wie dies ja freilich an ben übrigen Stellen der Ball ift. Er felbft erlennt S. 11 unter Berufung auf 4, 13 an, daß eingelme Wohlhabende in den Gemeinden vorhanden geweſen fein. Auf diefe 1, 1Off. zu beziehen, fcheint mir der Zuſammenhang zu ges bieten. Nicht nur iſt e8, wie Erdmann bemerkt, das Natürlichfte, das zu beiden Subjelten (oͤ rancivoc ımd 6 rrAodasog) gehörige Berbum xaug&odeo beide Male übereinftimmenb zu fallen und nicht das eine Mal ernftlih, das andere Mal ironiſch; fondern auch das d ddaAyos ö ramewogs führt darauf, daß der rAov- asog gleichfalls ald Bruder zu denken ift. Und der Sinn, ber bei biefer Faſſung entfteht, iſt den Werhältnifjen des Briefes fo amgemefjen wie möglid. Die armen Ehriften fichen umter dem Druck der reihen Juden, von welchen fie fozial abhängig und deren Vexationen eben darum außgefegt find (5, 4). Diefer Drud fällt bei den reicheren Ehriften, die eine felbftändige Exiftenz haben, fort mad fo ift diefe Art von resgeanol, von der Jakobus Hier redet, für fie micht vorhanden. Wenn nun der Brief diefe resgeo- pol als Grund zur Freude und zum Rühmen hinſtellt, weil fie zu chriſtlicher Charafterbildung beitragen, fo ſcheint der Reiche über bie Berfchonung mit jenen Anfedtungen als über eine religibſe

Beyfchtag, Reitifrersgeides Handtuch 1 ısı

Benachteiligung ſich beklagen zu können. Dem gegenüber fagt der Berfaffer, auch der Reihe, der in der Gegenwart wegen gün⸗ figer äußerer Lage jenes Erziehungsmittels entbehrt, könne in der Erwartung, daß die bevorftchende, bei den dolores Messiae er» folgende Kataftropge ihm feinen Reichtum nehmen, ihn alfo in bie gleiche Lage mit feinen armen Brüdern bringen werde, ſchon jetzt in Hoffnung an bem Ruhme der Armen fich beteiligen. Bei diefer Auffafjung wird man nicht nur die für mein Gefühl gerade an diefer Stelle ftörende Jronie los, fondern hat aud den Vor⸗ teil, daß V. 12 fi ummittelbar an das Vorige anfchlieft, ine dem er refjummierend dns allgemeine Ehriftenlos der rusgaano), welches früher ober fpäter jeden Chriften trifft, preiſt. Die Schäden der Gemeinden werden von Beyſchlag wieder fehr treffend gezeichnet, nur daß ich den Ansdrud, es Liege „eine gewifſe Der moralifation“ vor (S. 14), für viel zu ſtark halte. Derſelbe beruft wohl anf dem allerdings fehr ungünftigen Eindruck, den man aus 4, 1—10 gewinnt. Es darf aber, um gegen die Lefer gerecht zu fein, nicht überfehen werden, dag Jakobus immer die bdeaftifcheften und ftärkften Ausdrücke liebt. Beyſchlag felbft erkennt die Bildlichkeit der Vorwürfe in jener Stelle an: „ihr führt ja förmliche Kriege und Schlachten auf“, „es ift ein wahrer Feldzug in euren Gliedern“, „es findet das reine Morden unter euch ſtatt“. Das alles will doch nur fagen, daß bie Selbftfucht, das Trachten nach irdiſchem Gut, bei den Lefern noch nicht gebrochen ift, daß fie im rüdjichtslofer Weiſe ihren eigenen Vorteil verfolgen, ftatt immer den ber Brüder in erfter Linie ins Auge zu faffen, daß fie diejenigen beneiben, die in glück⸗ licheren äußeren Berhältnifien fich befinden. Wäre ber Brief an eine einzelne Gemeinde gerichtet, fo könnte man glauben, daß bei ihr im beſonders hohem Grabe Uneinigkeit und Streit herrſchte. Aber bei dem enepflifchen Charakter des Sendſchreibens läßt fi doch nicht annehmen, daß in allen Gemeinden biejelben Mißftände in gleichem Grabe herrſchten; ja wenn es ber Fall geweſen wäre, nnte ber Verfaffer das doch nicht wohl gewußt haben. Was er feinen Leſern zum Vorwurf macht, ift überall der Ball und eben darum kann er es ganz allgemein bei allen vorausſetzen: es find

182 Erdmann, Der Brief des Jakobus.

Sünden, welche im Gefolge der Armut immer auftreten, und bie ftarfen Ausdrücke, bie gebraucht werben, follen nur darauf Hin= weifen, daß auch die feineren, gar nicht vom legalen, fondern vom moralifhen Standpunkt aus verwerflihen Zuftände fehlieglich auf die Übertretung des fünften und fiebenten Gebotes heraustommen, daß jedes Hangen an und Trachten nad) weltlihem Gut und Genuß ſchon Ehebruc gegen Gott ift. Ebenſo fteht es auch mit dem Vorwurf, daß fie feine Werke Haben. So gut noch heute jeder Chriſt ſich den betreffenden Abfchnitt gern gefagt fein läßt und fich in irgendeinem Maß davon getroffen fühlt, fo gut auch damals. Mit einem Wort: ic glaube, man verfennt die plaſtiſche und draftifche Darftellungsart des Verfaſſers, wenn man feinen Leſern ganz befondere und hochgradige Sünden ber gerügten Art zum Vorwurf macht, ftatt die ausgefprocdenen Rügen auf Mängel zu beziegen, welde ben judenchriſtlichen Gemeinden damals überall nahe lagen, und die der Verfaſſer durch möglichft pointierte Dar- ftelfung ihnen als fündfich zum Bewußtfein zu bringen fucht. Völlig einverftanden bin ich mit unferen beiden Kommentatoren, daß die merkwürdige Allgemeinheit der Adrefje fih nur in der frügeften Zeit der Kirche begreifen Täßt, wo fie durch die gejchicht- lichen Verhältniffe von felbft die nötige Beftimmtheit befam, fofern es damals nur jubendriftliche Gemeinden und biefe nur in den Baläftina benachbarten Ländern gab. Unnötig und ohne geſchicht⸗ lichen Anhalt fcheint mir Erdmanns Hypotheſe zu fein, Jakobus habe neben der Leitung der Muttergemeinde beſonders bie oberhirte liche Pflege der riftlichen Diafporagemeinden gehabt, während die Apoftel die Pflege der paläftinenfifchen Gemeinden und die Miffions- thätigkeit fich angelegen fein liegen (©. 61). Eine ſolche einheitliche Organifation und büreaufratifche Amterverteilung ſcheint mir nad) allem, was wir von der Urzeit ber Kirche wiffen, ganz unwahr- ſcheinlich. Daß zur Zeit der Abfafjung unferes Briefes das Ehriftentum ſchon über die nüchfte Umgebung Paläftinas hinaus - ſich verbreitet Hatte, ift Erdmann zuzugeben; dennoch wird man mit Beyſchlag bie fyrifchsciliciichen Gemeinden als den nädften Leferkreis anzunehmen Haben. Vortrefflich macht legterer den Ju⸗ Halt von 2, 14ff. für die frühzeitige Abfaſſung des Briefes gel

Beyſchlag, Kritiſch-exegetiſches Handbuch ze. 188

tend. Die Naivetät, mit welcher das Beifpiel des Abraham vom Verfaſſer für feine Meinung geltend gemacht wird, als wenn gar feine andersartige Verwertung desſelben möglich wäre, ift entſchei⸗ dend. „Seit wann ift es denn Vernunft und Sitte, etwas Kon⸗ troverfes, das ein Anbersdenfender zu feinen Gunften benutzt dat, als etwas für bie entgegengefeßte Thefis ſelbſtverſtändlich Sprechendes in triumphierendem Frageton vorzuhalten?“ (S. 36.)

Gehen wir von den einleitenden Fragen zu der exegetiſchen Einzelbehandlung, fo erregt ja immer die Stelle über Glaube und Bere das nächfte Intereſſe. Beide Ausleger haben hier nicht dasſelbe Refultat gewonnen, und Referent kann feinerfeits ſich mit feinem] von beiden völlig ibentifizieren. Am weiteften weiche ich von Erdmann ab. Nach feiner Meinung ift dem Jakobus der wahre Glaube Prinzip für die Werke. „Der rechte Glaube Hat das Lebensprinzip in fi, aus dem die Werke hervorgehen müffen“, fagt er mit Neander (S. 180). „Die Werke find die maturgemäßen Auswirkungen und VBethätigungen des in dem Glauben vorhandenen Lebens“ (S. 181). Konfequentermeife ift für €. daher der Glaube der getadelten Leſer „feinem innerften Wefen nach bloßer Mundglaube und reiner Scheinglaube“ (S. 179), und er gebraucht davon fogar einmal das Wort Heuchelei (S. 175). „Der Begenftand ber Polemik ift ein Glaube, der ſich mit theoretifcher Erkenntnis (®. 19) und mit.dem Herr-Herr-Sagen begnügen will“ (&. 181). €8 Handelt fi alfo nah €. in unferer Stelle um zweierlei Begriffe vom Glauben (S. 218). Ein Widerſpruch zwie ſchen Jakobus und Paulus ift natürlich bei diefer Auffaffung nicht vorhanden, fondern fie betonen nur verfchiebene Seiten der Wahr⸗ heit je nach Bedürfnis (S. 219 ff). Mit diefer ganzen Darftellung ſcheint mir der Verfafjer die Meinung des Jakobus nicht zu treffen. Daß diefer von zweierlei Glauben, einem wahren und einem aur vermeintlichen, rede, fheitert an jedem Verſe. Wo ift auf diefen Gegenfag nur mit einer Silbe Hingewiefen? Im Gegen« til. Gleich V. 14 fäneldet der Sag ur) divarıı 7 nlorıs coom adsov; biefe Faffung ab. Freilich „nimmt der Artikel einfach den vorangegangenen Begriff wieder auf“ (S. 176), und fagt, daß der Glaube, den der Leſer von ſich prädiziert, ihn nicht

184 Erdmann, Der Brief bes Jalobus.

retten fönne; aber wenn Jakobus meinte, daß eine andere Art von Glauben dies vermöge, fo müßte er das unbedingt durch ein den ober Fosaden markieren. Wenn ferner von einem ovveg- yslv des Glaubens V. 22 die Rede ift, fo mag man das Ber- bum faflen, wie man will: jedenfalls ift nicht gejagt, daß der Glaube fi in den Werken erpliziert, fondern daß er bei ihnen (oder bei der owerneie) Fonturriert, aljo ift offenbar eine doppelte, wirxkende Potenz geſetzt. Die Werke, von denen Jakobus vebet, find allerdings nicht ohne Glauben möglich (vgl. Beyſchlag S. 135), aber der Glaube ift uur ein Moment dabei. Endlich menn es V. 24 Heißt, der Menfch werde nicht aus Glauben allein gerecht, fo tft am Tage, daß nicht gemeint ift, der Menſch werde nicht durch eine falſche Art des Glaubens allein gerecht, fondern daß von dem Glauben fchlechthin verneint wird, daß er Gerechtigkeit wire, wenn nicht ein zweites Moment hinzulomme, ohne welches aber der Glaube immer noch Glaube ift. Fur feine Auffaffung, dag Jakobus den Lefern den (wahren) Glauben eigent- lich abftreite, beruft ſich E. auf den Vergleich ©. 15. 16. „Dort ein (bloße) Reben vom Befig des Glaubens, Hier ein Reden vom Befig der Liebe (S. 178f.). Diefer Sinn der Paraliele ift möglich, aber nicht der einzig mögliche. E. ficht in dem Ber halten, das Jakobus tadelt (3. 14), Olaubenslofigkeit, V. 15f. Lieblofigfeit. Uber es ift bie andere Möglichkeit vorhanden, daß bie in V. 15. 16 gefchilderten Menfchen wirkliches Mitleid wit ben Armen Haben, daß die Wünſche, die fie ihnen ausfprechen, nicht bloße Medensarten, fondern ernft gemeint find, nur bleibt es bei den frommen Wünfchen und fie thun nichts zu deren Verwirklichung. Diefe Herzensitellung Tann als Mangel an Liebe eharafterifiert werden, und fo würde Paulus genrteift haben. Aber fie kann auch als eine Liebe dargeftellt werden, der e8 an dem Hinzutretenden Moment der Energie des Handelns fehlt: niel Gefuͤhl und kein Wille. Und daß es fo von Jakobus aufgefagt iſt, zeigt eben der Geſamtinhalt des Abſchnittes.

Die Fehler, die ich bei Erdmann in ber Beftimmung des ialobiniſchen Glaubensbegriffs zu erkennen meine, hat Behſchlag in bebeutendem Maß vermieden. Er ftelit wiederholt den richtigen

Beyſchlag, Kritifchregegetifciee Hanbbud; 2c. 185

Ausgangspunkt feft, daß der Glaube der Leſer auch für das Urs teil des Jakobus wirklich Glaube fei (z. B. ©. 198 Aum.). Ya» tohns made, was für dem ganzen Abſchnitt bemerkenswert fei, feinen Unterſchied zwifchen echtem und unechtem Glauben (S. 119). Der Glaube der Lejer fei fein bloß theoretiſcher, nuda notitia alfo au nicht, wie E. meint, reiner Mundglaube —, fondern enthalte dad Moment des Vertrauens (ebd.). Den eigentlichen Kernpunkt trifft B. mit dem Sag, Alorie bezeichne bei Jakobus das religiöfe Rechtverhalten des Menſchen, Zora das ſittliche in ſeinem ganzen Umfange (ebd.). Aber eine Unklarheit kommt in dieſe richtigen Beſtimmungen durch Beyſchlags Auffaſſung von 3. 19. Auf Grund desſelben findet er „als grundlegendes Moment“ in dem Glaubensbegriff des Jakobus „bie innere Gexwißheit von gewiſſen überfinnlichen Thatſachen und Wahrheiten“ (S. 129). Zunachſt muß fonftatiert werden, daß dies „grundlegenbe* Moment in fämtlichen übrigen Stellen des Briefes gar nicht ber» vortritt. Nah 1, 6 ift der Glaube, welcher Beftimmtheit des Gebetes fein fol, gerade nach Beyſchlags vortrefflicher Erklärung gar nicht die Überzeugumg, daß Gott Gebete erhört, fondern „im Gegenfag zu dem zwifchen Gott und Welt geteilten Wefen des Zweiflers die ungeteilte, vertrauensuolle Hingebung des Gemütes an Gott“. Ebenſo 5, 15. Ferner 2, 5 bildet Jakobus ben Gegenfag zwiſchen irdifcher Armut and Reichtum dv zlorss. Da kann ꝓcoric nicht die „Gewißheit von überfinnlihen Wahrheiten“ fein, als wenn ber Reichtum des Ehriften in einer Summe von Lehrfägen beftände, fondern es ift Ausdrud für die religibſe Beftimmtheit des Menſchen, welde ihm ftatt der irdiſchen Güter die Teilnahme an den übernatürlichen des Gottesreiches vermittelt. Ebenſo ift 2, 1 nicht gemeint, die theoretiſche Über» zeugung. daß Chriſtus der Verherrlichte fei, ſchließe Prosopolepfle aus, denn jene theoretifche Überzeugung hatten bie Leſer und waren doch rgoownoijreres, fondern die auf diefe Thatſache ſich grünbende religidfe Beftimmtheit bes Ehriften reime fich nicht mit einer Beurteilung der Menſchen nad; ihren irdiſchen Ver» hältwifjen. Diefelbe Bedeutung von 7x. liegt 1, 8 vor, wenn es dort echt ift. Diefe Anwendung von 7x. bei Jalobus ift durch⸗

186 Erdmann, Der Brief des Jakobus.

aus die gemein-apoftolifche, die wir bei alfen neuteftamentlichen Schriftftellern, auch Paulus, als die Grundlage finden, von der aus fie den Begriff verfchieden nuanciert haben. Weil nämlich das Vertrauen auf Chriſtus oder auf die von ihm gebrachte Heils⸗ botſchaft das harakteriftiiche Merkmal für den Chriften ift, wird zelorıs die zufammenfaffende Bezeichnung für die chriftlichereligiöfe Beftimmtheit, für die eigentümliche chriſtliche Religiöfität und zuotevovre; terminus technicus für die Ehriften. Von diefem Sprachgebraud aus redet Jakobus, und das Moment des assensus tritt daher ganz bei ihm zurüd. Das ift nun V. 19 ganz anders. Denn indem Mer der Glaube, dag einer Gott ift, ale ein dem Chriften mit den Dämonen gemeinfames Merkmal Hin- geftelft wird, ift dad Wort Glaube in einem ſchlechthin außerrefigiöfen Sinne gebraucht; der Glaube der Dämonen ift ja fo wenig eine religiöfe Beftimmtheit, daß er vielmehr die irreligiöfe Kon—⸗ fequenz des pglaceıv hat. Je mehr nun Beyſchlag recht Hat, daß es dem Glauben der Lefer nicht an dem religiöfen Merkmal des Vertrauens fehlte, je weniger konnte Jakobus billigerweije ihren Glauben mit dem der Dämonen paralfelifieren. Die Lefer konnten mit vollem Recht erwidern, daß zwifchen beiden ein himmelweiter Unterfchieb ſei. Freilich Hat es ja zu allen Zeiten eine Orthor dorie gegeben, welche bloßer Verftandesglaube ohne jede ‚innere Res Iigiofität ift, und diefer mag man ben Vorwurf machen, fie habe denfelben Glauben wie die Dämonen. Aber e8 giebt auch eine Religiofität, welche eine wirkliche Gemeinſchaft mit Gott ſucht, und in Gebet und Vertrauen auf Gott ſich äußert, aber es an fittlicher Energie fehlen läßt; und von ihr Täßt fich ohne die höchſte Ungerechtigkeit nicht fagen, daß ihr Glaube dem der Dämonen gleiche, Letzterer Art ift auch nach Beyſchlag der Zuftand der Lefer, und darum kaun Jakobus nicht den 19. Vers ihnen ent gegenhalten. Alles Gefagte führt darauf, daß der Standpunkt des 3. 18 eingeführten und auch in V. 19 noch redenden Interloku⸗ tors (zig) nicht der des Jakobus felbft ift, eine Annahme, die ſchon an fih durch die Einführung einer dritten Perfon als die nädhftliegende fich darftellt. Erdmann und, ihm beiftimmend, Beyſchlag begründen ihre Meinung, der britte teile des Jakobus

Beyſchlag, Kritiſch-exegetiſches Handbuch ıc. 187

Standpunkt, mit der Neigung des Verfaſſers zu dramatiſcher Ver⸗ anfhaulihung. Diefe Erklärung müßte man fich gefallen Lafien, wenn feftftände, daß ber dritte die eigenen partes des Jakobus agierte. Wenn aber der Inhalt des Folgenden zeigt, daß dies wicht der Fall ift, fo fann man ſehr zufrieden fein, jener immerhin prefären Begründung nicht zu bedürfen. Vielmehr geben V. 18f. die Konfequenzen, welder ein britter aus dem Verhalten der Leſer ziehen könnte, Konfequenzen, die zwar ungererht find, und die Jalobus felbft ſicher nicht vertritt, die er aber anführt, um den Lefern zu Gemüte zu führen, welde üble Mißdentung ihr Ehriftentum von anderer Seite erfahren fann. Der Standpunkt des dritten kennzeichnet ſich als der eines bloßen Moralismus. „Du ſagſt, daß du ein eigentümliches religiöſes Verhältnis zw Gott (rrlasıs) Haft; darauf mache ich nicht Anſpruch; aber prak⸗ tiſche Sittlicheit habe ich, und die ift meine Religion (7 rrlorıg uov). Der fittlihe Menſch ift als folcher der religiöfe, die Sitt- lihteit an fich ſchon Beweis der Religiofität (dx vv Zeyav uov self cos z7v rlorıv mov). Dagegen du haft nicht nur mir gegenüber ein Defizit in fittlicher Beziehung, fondern bift auch ganz außerſtande, dad von dir behauptete religiöfe Verhältnis zu Gott zu fonftatieren. Dein Glaube kommt (®. 19) auf ein bloßes theoretifches Furwahrhalten hinaus.“ Das alles ift nun freilich ſchief. Es ijt nicht wahr, daß die Werke in jedem Fall den Glauben, d. 5. Sittlichfeit die Religiofität beweiſe; es ift nicht wahr, daß ohne fittliche Energie bloß ein assensus für bie Religion übrig bleibt. Mit diefem Sat beweift der Önterlofutor, daß er gar kein Verftändnis für das Weſen der riorss im chriſt lichen Sinne, al des Bewußtſeins der Gemeinfchaft mit Gott, eines Lebens in der Luft der Ewigkeit, hat. Aber es ift ein Miß⸗ verftändnis, gegen das die Leſer fich ſchlechterdings nicht ſchützen Können: wie wollen fie ohne die eye die Realität des von ihnen in Anſpruch genommenen Verhäftnifjes zu Gott beweifen? Sie ſelbſt verfchulden durch ihre fittlihe Schlaffpeit diefe Mißdentung des Ghriftentums, wie denn bis auf diefen Tag der Inhalt von 8. 18. 19 fortwährend von folden, die ohne Verftändnis für das Weſen ‚des Glaubens find, gegen denfelben geltend gemacht wird.

ii _ m

188 Erdmann, Der Brief des Jakobus.

Daß aljo der ri; einen anderen Standpunkt als Jakobus und als feine Leſer vertritt, daß er ein Nichtchriſt ift, daß feine Worte über V. 18. 19 fich erftreden und in ®. 20 Jatkobus felbft mit der erneuten Anrede wieder auf demfelben Punkt einfegt, auf dem 8. 17 die Sache ftehen geblieben ift: das halte ich für das Rich⸗ tige an der Auslegung Stiers, während ich ihm den pharifäifchen Juden gern ſchenke. Die vorgeſchlagene Faſſung fheint mir das Verftändnis des ganzen Abſchnittes zu fördern: für die Einführung des vis ijt ein fachlicher Grund vorhanden; die beiden Verſe ordnen fih dem Gedanfengang organifh ein; ber vom allen amberen Stellen des Briefes abweichende Glaubensbegriff V. 19 ift vers ftändfih, da er aus ganz anderem Munde ſtammt; die Unkfare Beit, die fonft durch V. 19 in den eigenen Glaubensbegriff bes Jakobus kommt, ift vermieden, und das Schwanken, weldes Bey ſchlag ©. 148 ihm vorwirft, ift nicht vorhanden,

Damit ift auch ein anderes Schwanfen, das nad Beyſchlag bei Jalobus fich findet, in Wegfall gefommen. Derſelbe ſoll näms lich (S. 148) bald den Glauben als Tebendigen Grund der guten Werke anfehen (2, 18), bald, weil ihm die fittliche Verpflich⸗ tung, das Gewiffen, eine jelbftändige Triebkraft im Menſchen iſt, als bloßen Mitarbeiter des fittlihen Gehorſams (2, 22). Die unbefangene Anerkennung des letzteren Punktes ift der große Vor⸗ zug der Beyſchlagſchen Exegefe vor derjenigen Huthers und Erd⸗ manns, die durchweg den Glauben als Prinzip und alleinigen Quell der Werke anfehen. Aber meines Erachtens ift bie letztere Anfhanung nirgends bei Jakobus vorhanden, da V. 18 gar nicht feinen eigenen Standpunkt enthält. Die Trage, um die es ſich ſchließlich in dem ganzen Abſchnitt Handelt, ift: wie verhält fich bei dem Chriften die Religiofität (mdorss) zur Sittlickeit (dey@)? Die Entſcheidung des Jakobus beruht auf der Beobach⸗ tung, daß die zeiosıs weientlih ein Berhältnis zu Gott if, alſo Zuftändficfeit, die Zgya ein Verhalten zu Gott, alſo Als tioität. Das legtere ift nun das Ausſchlaggebende, aber fo, daß das Verhalten des Chriften fein Verhältnis zu Gott zur Voraus⸗ fegung hat: es iſt dem Jakobus ſelbſtverſtandlich, daß Abraham glänbig war, aljo ein Verhältnis zu Gott Hatte (B. 23); der

Beyſchlag, Kritifcj-eregetiiches Handbuch zc. 189

Glaube ift auvegyds (8. 22); wenn die Rechtfertigung oux dx ntorews wdvo» erfolgt, fo ift damit gegeben, daß die rlazıs irgendeine konkurrierende Stelfung dabei Hat. Aber anderfeits muß das doyaleodas hinzulommen, und zwar folgt aus bem Begriff des ovvapyaiv, daß jenes nicht bloße Selbftfolge des Glaubens ift, fondern ein zweites neben dem Glauben. Die bloße religiöfe Zu⸗ ſtandlichleit, die miozıg Heißt, ift an fidh etwas Ruhendes, Paſſi-⸗ vität. Zur Mftivität gelangt fie nur durch Hinzutritt eines von ihr unterfchiedenen Prinzipes, nämlich der Willensenergie. Im Glauben ift der Menfch (religiös) beftimmt, in den Werfen beftimmt er anderes, wirkt beftimmend auf anderes ein. Somit fieht Jalobus allerdings in Religioſität und Sittlichkeit zwei unter» ſchiedene Prinzipien vertreten. Dennoch aber ftehen fich beide nicht ſpröde gegenüber, fonbern es findet zwiſchen beiden ein Wechfel- verhältnts ftatt, wie V. 23 ausfagt: da die Werke chriſtliche, von einem Chriſten gefchehende find, fo ift die religiöfe Beftimmtheit des Betreffenden für fie maßgebend, ovvsgysi 7 nlorıs vos Zoyoıs, dieſe können ohne jene nicht gedacht werden; anderfeits gewinnt duch die Werke der Glaube feine zeislnass, indem er erft fo eine in das Leben eingreifende und es befttmmende Macht wird. So kann Yakobus fagen, Gott Hat den Abraham in An- betracht feines Glaubens gerechtfertigt, denn damit war ein Mo- ment geſetzt, ohne das es gottgefählige Werke nicht giebt: es war eine Rechtfertigung auf Hoffnung; er Tann fagen, die Rechtferti⸗ gung erfolge aus Glauben und Werk (odx dx m. udvor), denn & find in der That zwei von einander nicht nur begrifflich unter« ſcheidbare, ſondern auch in der Praxis oft genug nicht verbundene Momente; er kann fagen, die Nechtfertigung trete auf Grund ber Werke ein (ohne daß der Glaube erwähnt wird), denn da es fich von Werken der Chriften handelt, ift der Glaube felbftverftändfice Vorausfegung; er kann endlich jagen, der Glaube an fidh fei tot, d. h. bloße Paffivität, wirkensunfähig; denn die Rechtfertigung ift nicht von der bloßen Zuſtändlichkeit des Menfchen abhängig, fon« dern vom beffen fittlichem Charakter, der aber bei dem Epriften feine Religiofität, d. h. fein Verhältnis zu Gott, zur Vorausfegung hat. Demnach fcheint mir Jakobus in allen Stellen eine durchaus in

190 Erdmann, Der Brief des Jakobus.

ſich übereinftimmende Anſchauung zu vertreten: nirgends ift ihm der Glaube Prinzip der Werke, alleinige Kanfalität berfelben, wohl aber einer der beiden Faktoren chriſtlichen Handelns: reli⸗ giöſe Beftimmtheit des Menfchen umd Ungeregtheit des Willens, die auf einander wirkend fich gegenfeitig durchdringen. müfjen. Das vefigiöfe Befigen und Genießen muß zum Thun werden: dann erft ift der Menſch gerecht. Sollte von diefer Auffafjung aus nicht aud die merkwürdige Vergleihung V. 26 Licht erhalten? Daß Leib und Geift hier nicht als das Äußere und Innere in Betracht Tommen, ift Harz aber die Annahme, „daß Jakobus nicht die ein⸗ zelnen Glieder feines Vergleiches mit einander, fondern nur den Zuſtand ber entjeelten am ſich mit ber Befchaffenheit des werke loſen Glaubens vergleichen“ wolle (Beyſchlag, S. 146), thut doch dem Verſe nicht Genüge, wie Beyſchlag ſelbſt durch die Wendung „man wird annehmen müſſen“ dies Gefühl bekundet. Der Ber- gleich kommt aber zu feinem Rechte, wenn man riorıs als reli⸗ giöfe Zuftändlickeit faßt. Dann ift nad diefer Seite nlazıs in der That mit dem Leib zu vergleichen, der an fh auch bloße Zuſtändlichkeit ift und erft durch die Zoym, welche auf dem Willen beruhen, aus diefer Zuftändfichkeit erlüft wird. Diefer Wille ift das rreöue. Go ift der Gebanfe alſo, daß auch die bloße reli- giöfe Zuftändlickeit ein wirkensunfräftiges, d. 5. das Heil nicht ſchaffendes Moment ift und erft das fittliche Thun eintreten muß, das Prinzip der Spontaneität hinzufommen muß, um biefe bloße Zuftändfichfeit zu überwinden und das religiöfe Prinzip zu voll» enden (TeAsıöaas). Der fittlihe Trieb ift die notwendige Er- gänzung der refigiöfen Beftimmtheit, wenn diefe von Heilsfolgen begleitet fein fol. Ob dieſe Auffaffung des Verhältnifjes von rlorıs und Egya bie einzig mögliche, ob fie die abfolut richtige und durchfchlagende ift, ift nicht die Frage. Aber daß fie über- Haupt möglih ift und von Jalkobus vertreten wird, feheint mir beweisbar.

Für die übrigen Zeile bes Briefes muß ich mich mit einzelnen Bemerkungen über die beiden Kommentare begnügen. Beyſchlag nimmt 1, 2—12 als den erften, 1, 13—27 als ben zweiten Abſchnitt. Nichtiger erfcheint e8 mir, mit Erdmann den erſten

Beyſchlag, Kritiicj-eregetifches Handbuch ac. 19

Abſchnitt bis 1, 18 gehen zu laffen. Denn 1, 2—12 und 1, 13—18 ftellen die richtige Beurteilung des resgaapoi nad) zwei verfchiedenen Seiten dar: 1, 2ff., wozu diefelben von Gott bes ftimmt find; 1, 13ff., wie fie nicht aufgefaßt werden dürfen. Die äußere Lage ift von Gott herbeigeführt, um die chriſtliche Charafterbildung zu fördern; dagegen wenn fie zu einer Reizung zum Böfen führt, ift das des Menfchen, nicht Gottes Schuld. In B. 17 liegt der ganze Nahdrud auf dya9n und zelsıov: alles, mas gute Gabe und vollfommenes Geſchenk ift, kommt von Gott, d. h. nur dies, nichts Schlechtes. V. 18 ift dann nicht mit B. als höchſte Konfequenz, fondern als das durchſchlagendſte Beifpiel dieſes Satzes gemeint. „Wie kann der Gott, der ung aus freiem Willen (BovAnIsis) die höchſte Wohlthat erwiefen hat, ‚ans zum Böfen reizen wollen?“ 1, 21 nehmen €. und 8. negiooste al8 „Überfchwang“, „das Überfhäumende“ ; das paßt aber doch ſchlechterdings nicht in den Zufammenhang. Die Lefer follen doch nicht nur vor einem Hohen Maß von xaxix, fondern vor diefer fchlechthin gewarnt werden. Warum ſoll regiooel® nicht diefelbe Bedentung haben können wie rregloosvue (Mark, 8, 8) und «0 negioosdov (Matth. 14, 28): id quod restat, was an xaxle noch in euch als Reſiduum geblieben ift? 2,1 nehmen beide Ausleger vis döfns als nähere Beftimmung zu dem ganzen Ausdrud 6 xUgros numv I. X. Ich möchte auf die don meinem Herrn Kollegen Kloſtermann vorgeſchlagene Er» Härung (Evang. K.⸗Ztg. 1880, ©. 283) aufmerffam maden: „Der Glaube an den Heren Jeſus als verherrlichten Ehriftus“, wobei er fich auf den Ausdrud xegovßein v. do&ns (Hebr. 9, 5) beruft. Allerdings ift es mißlich, bie ftändige Verbindung I. X. auseinanderzureißen, aber gerade bei einem jubenchriftlichen Ver⸗ faffer ift es am eheſten begreiflich, daß er Xe. als Appella- tivum gefaßt ‚hat, und fachlich Hat diefe Erklärung viel Einneh⸗ mendes. 2, 4 laffen beide Ansleger das xad vor od fort und nehmen od diazgldnse als Nachſatz. „Zweifeltet ihr da nicht in euch felbft, d. h. waret ihr da nicht mit eurem Glauben in Widerſpruch geraten?“ (B., ©. 104.) ber zweifeln ift doch etwas anderes als in Widerfpruch geraten oder „im Glauben

192 Erdmann, Der Brief bed Jalobus.

fGwantend werden“ (Erdmann). Die Unechtheit des x ift doch durchaus nicht fiher; Beyſchlag felbft bemerkt, bag bie Fortlaſſung des x viel erflärlicher ſei, als feine Einfhiebung. Ich möchte glauben, daß fahlih B. 4a zum Vorderſatz gehört, indem ein durch bie Zwiſchenreden ®. 3 veranlaßtes Anakoluth vorliegt. Der Berfaffer Hat vergefien, daß er mit dev angefangen hat, und fährt V. 48 fort, als hätte er fein Beiſpiel in einem Hauptſatz ein« geführt. B. 4% giebt die Spige der Verſchuldung: nicht einmal gezweifelt haben fie bei ihrem Thun, sc. ob es auch recht je. V. 4b giebt dann das Urteil Über ihr ganzes Benehmen; Bier alfo würde bei regelmäßiger Konftrultion erft ber Nachſatz bes gimmen. „Und fo feib ihr xgirad deeloy. movnemv geworden.“ Wie ein xguens adızlas ein folder ift, in dem Ungerechtigkeit it, fo ein xg. diek, re. ein folder, in dem böfe Gedanken find, Diefe beftehen darin, daß der Reiche ihren als höchſt wertvolle Acquifition, der Arme als ganz gleichgüftiges Subjekt erfcheint. Bon diefen Gedanken aus haben fte fih zu Richtern über ihren Wert aufgeworfen, ihr Urteil geftaltet. Auf den dunfeln Ausdrud vgoxös e. yardasms 3, 6 läßt fih E. nicht näher em, fondern begnügt fich mit ber Bemerkung, es fei bildliche Bezeichnung des in ſtetem Kreisumlauf begriffenen perfönlichen Dafeins. B. nimmt vgoxös von ber Peripherie. „Jalobus ſcheint die Zunge mit der Achſe, das gefamte Übrige Dafein des Menfchen, dem gamzen Bandel, mit dem Nabe zu vergleichen, das von ber Achſe aus bewegt wird.“ Die erftere Erflärung fheint mir einfacher zu fein. Hinfichtlich des zweiten Kreuzes der Auslegung 4, 5. 6 ſtimmen in der grommatifchen und Begriffe-Erklärung in B. 5 beide Ausleger Aberein; nur verzichtet B. darauf, Hier eine alt- teftamentliche Stelle cittert zu finden, und nimmt an, daß ein ber tannter frommer Spruch fpäteren Urfprunges irrig als bibliſche Remiuiſcenz betrachtet ſei; €. rekurriert auf Jeſ. 48, 8—11. Letzteres ff auch mir unwahrſcheinlich. Sollte etwa Sad. 8, 2 die dem Verfaſſer vorſchwebende Stelle geweſen fen? Dort heißt es: ty bye mm · · · aꝰ map mar rpm mern gg rove Wie ua yinp ya. Dort ift nicht nur der Gedanle des brennenden eiferfüchtigen Verlangen® Gottes nach feinem Volk enthalten, fondern

Beyſchlag, Kritiſch-eregetiſches Haudbuch 2c. 18

auch das rragoixeiv oder rragoixdLaım der Fakobusftelle findet ſich Hier, und der ganze Unterſchied ift fachlich, daß ftatt von Gott hei Jatobus von feinem Geift geredet ift als dem im Menſchen wohnenden, d. 5. daß die Stelle ins Neuteftamentliche überfegt iſt. Sehr erfreulich ift es, da Beyſchlag gegen Huther und Erd⸗ mann die einfache, den Worten allein gemäße Erklärung von 5, 12 als einem abſoluten Berbot jedes Schwures mit Einfluß des Schwures bei Gott verfiht. Wie man fi das mit dem im Alten Teftamente geradezu gebotenen Eide (Erdmann) reimen will, wie mit der allgemein chriſtlichen Praxis, ift für die Exegeſe gleichgültig: bie Ausdrücke Ants &AAov zıva Ögxov und ro iumr =0o vai vor xui. find zu Mar und deutlich, als daß man ber die Meinung des Verfaffers im Zweifel fein könnte. „Alles über dag einfache Fa und Rein Hinausgehende ift nur ein Produkt der unter den Menfchen Herrfchenden Unwahrhaftigkeit und Unzuverläffigkeit ; dem Gotteskind aber geziemt anftatt der nur ausnahmsweiſe, beim Eid, eintretenden heiligen Scheu vor der Lüge jedes Ja und Nein eidlich zu nehmen“ (Beyihlag, ©. 228). Auch. Hinfichtlic des Salbens mit Ol (5, 14) gehen beide Yusleger auseinander. Erdmann nimmt mit Huther dasfelbe als Mittel zur Linderung ber Schmerzen, ſtellt es alſo unter den mediziniſchen Gefihtspuntt; Beyſchlag faßt es als mit dem Gebet zufammenmwirkendes Agens bei der wunderbaren Heilung, ftellt es alfo unter beu religiöfen Gefihtspuntt. Das legtere erſcheint mir als das Richtige, nur daß ich noch ftärker die rein ſymboliſche Bedeutung des Salbens hervorgehoben fehen möchte: es ift ebenfo wie die Handauflegung a. dgl. weder magifche noch medizinifche Vermittelung der Heilung, fondern ähnlich, wie wenn Ehriftus des Taubftummen Ohr und Zunge berührt, ein Sinnbild der Geiſtesmacht, welche im Gebet ihren Wortausdrud finde. Beyſchlag geht ©. 234 auf bie Scwierigkeit ein, daß die Heilung hier unbedingt vorausgefegt zu werben ſcheint. Mit Recht weift er Huthers Bemerkung als un genügend zurüc, daß, auch wenn die leibliche Heilung nicht ein« getreten ſei, in höherem Sinne das Gebet erhört werde. Diefe Erfiinug macht die ganze Lehre von ber Gebetserhörung zu einer wächfernen Naſe und ftimmt durchaus nit mit I Einfachheit Xbecl. Ein. dehte. 1888.

14 Erdmann, Der Brief bes Jakobus.

und UnbedingtHeit ber Schriftlehre von derſelben. Sachlich Halte ih Beyſchlags Erflärung für richtig, daß, wo man den Willen des Herrn erkannte, feinen Diener abzurufen, ber Verſuch der Heilung nicht gemacht fei. Nur Halte ich es für unnötig, das als eine notwendige Borausfegung zu bezeichnen. Vielmehr ift es ein- fache Konfequenz des Ausdrudes sry zig nlorens. Das ift nämlich) ein Gebet, welches aus der unbebingten Einigung des menschlichen Willens mit dem göttlichen Heroorgeht, das alſo nur eintreten Tann, wenn der Gegenftand des Gebetes dem göttlichen Willen entfpriht. Es ift, wie bie Gebete des Herrn, nicht eine Frage an Gott, die befahend oder verneinend beantwortet werden Tann, fondern eine göttlich kaufierte Gewißheit, daß fo und nicht anders der göttliche Wille laute. Dazu fommt aber nod ein Moment. Die ganze Schilderung des Jakobus macht den Eindrud, daß der Kranke in feinem Zuftend nicht bloß eine äußerliche Schickung, fondern eine göttliche Zornheimfuhung erfennt. Eine folche aber foll e8 in der Gemeinde Chriſti nicht geben. Indem er in dieſe Gemeinde ſich Hineinftellt denn die Älteften kommen nach Beyſchlags richtiger Bemerkung als Vertreter der Gemeinde in Betracht —, gewinnt er Anteil an dem Grundgut der Gemeinde, der Vergebung der Sünden, dem Bemußtfein, nicht mehr dem Zorne Gottes unterftellt zu fein. Die leibliche Heilung kommt alfo in diefem Fall genau wie Matth. 9, 6 nur als Berbürgung dieſes Onadenftandes in Betracht, und in diefem Zufammenhang mit dem tiefften religiöfen Moment hat der Glaube die Gewißheit, daß fie Gottes Willen gemäß fei.

Ich fürdte faft, dag der Widerſpruch, den ih im einzelnen vielfach gegen die beiden Kommentare, namentlich den Erd» mannfchen, erhoben habe, den Eindrucd machen könnte, als wenn ich ihn unterfchägte. Ich will daher abjchließend wiederhofen, daß ich mich nicht nur perfönlih an beiden in hohem Maße erfreut habe, fondern auch überzeugt bin, daß jeder von ihnen ein ſehr tüchtiger Beitrag zum Verftändnis dieſes praftifch fo überaus wert» vollen neuteftamentlihen Schriftftüces ift.

Ric. D. $. Haupt.

Boͤhl, Ehriftologie des Alten Teſtamentes. 1%

.2.

Böhl, Chriſtologie des Alten Teſtamentes oder. Ans- legung der wichtigſten meſſiauiſchen Weisfagungen, Wien (Braumüller) 1882.

Ein Buch von Boͤhl wird jeder, der ihn als einen Mann von Gelehrfamkeit und eigenen Gedanken, ſowie von aufrichtiger Verehrung gegen das Wort Gottes aus feinen bisherigen Schriften kennen gelernt hat, mit der Erwartung in die Hand nehmen, es werde an Anregung und Belehrung durch die Leftire nicht fehlen, Jene fchägenswerten Eigenfchaften verraten fi auch in der eben erfchienenen Chriftologie des Alten Teſtamentes; aber mander Lefer wird vor Mißtrauen und Unbehagen nicht zur Freude an ihnen kommen. Die meiften werden ein Gefühl der Unficherheit darüber haben, ob fie zu der Gemeinde gehören, welche ber Verf. fi vorftellt. Denn bald erfcheint diefelbe als eine Verſammlung von unwiſſenden Studenten, denen gejagt werben muß, daß jittenem von nathan Herfomme, aber nicht erklärt zu werden braucht, weshalb das ſchwangere Weib Mid. 4, 9 mit „Freund“ angeredet wird, weil fie jeden Gedanken, der dem Lehrer bei einem Bibelterte kommt, im Gefühle ihrer eigenen Leere unbeſehens verfchlingen; bald als eine Sefte, die, felbft unverworren mit der Wiſſenſchaft draußen, um der erbaulichen Gedanken willen, bie er ihr fpendet, ihrem Haupte dankbar und vertranensvoll auch da zu⸗ hört, wo er ihr feine wiſſenſchaftliche Begründung derfelben nicht vorenthält. Wer außerhalb dieſer Kreife fteht und feine Bereit- willigkeit zu lernen nach dem Gewichte der Begründung einrichtet, welches der Autor feinen Aufftellungen giebt, wird finden, daß es dem Berf. doch gar zu fehr an Selbſtkritik und an Methode fehlt. Hätte er jene geübt, fo würde er nicht ©. 289 durch bie Vor⸗ ftelung der Saftigkeit eines Sproffes fich Haben verleiten laſſen, die Lage Joſuas in Sad. 3 dürr zu finden, ober durch bie

unberechtigte Identifizierung der Buchrolle in Pf. 40 mit dem 13%

1% Böht.

Pentateuch, zu fagen die Opferthora fei ſchon jegt Gott miß fällig (S. 139), oder &. 141 durch eine ferige Deutung von Hebr. 10, 5, den Ausdruck zu wagen, für den Hebräerbrief fei der 40. Pfalm: das Vehikel, durch welches Eheiftus in die Welt armen, Es Mingt doch. für ‚den einfachen Berftand zu fonber- bar, wenn es ©. 235 heißt: „nicht dieſer pber jener Mann aus dem Haufe Davids, nein, die Jungfrau wird es tun“, nämlich ſchwanger werden und den Immanuel gebären, namentlih wenn nachher ganz richtig betont wird, daß bie Jungfrau (nicht Männern, fondern) nerehefigten Frauen gegenüberftehe, oder wenn das heute“ in Pf. 2 ©. 151, trogdem es das Geftern und Morgen ausſchließen foll, ein fprecgender Beweis für das ewige Sohnes⸗ verhältnis zu Gott genannt wird, oder wenn ©. 116 den Schrift⸗ worten Dt. 15, 15ff., welche einen Propheten wie Mofe ver- beißen, die Bemerkung vorangeftellt wird, es werde da ausdrüd- lich ein gnderer, größerer, der Herr dem ungenügenden Mofe als einem bloßen Diener gegenüberftelit.

. Man foll aber nicht bloß bei der Wahl des Ausdruckes, fondern auch bei der Eutſcheidung für nene Behauptungen Selbſtkritik üben, indem man ſich in die Seele ber wiſſenſchaftlichen Berufs⸗ genoſſen verfegt und den von dort kommenden Bedenken gegenüber die eigene Vermutung erft erprobt. Auch das Hat unfer Verf. unterlaffen, felbft wo er fo kühne Deutungen vorträgt, wie daß die Worte: „Adam ift geworden mie unfereiner“, von der Wieder« herſtellung ber urfprünglicden Gottgleichheit durch den Glauben zu verftehen fein (S. 69), ober daß das Eſſen von Butter und Honig in Jeſ. 7, 14 einen gefegneten Zuftend des Landes be deute (ogl. dagegen ®. 21 —25), der Knabe in V. 15 aber Schear Jaſchub und nicht Immanuel ſei (S. 238), oder daß die 7 Augen Sad. 3, 9 von den 7 Verwundungen Jeſu zu deuten feien (S. 292), mobei noch die Geſchmadloſigkeit unterläuft, daß die non der asketiſchen Litteratur gezählten 5 eigentliczen Wunden des Gelreuzigten durch Hinzunahme fo geuereller Mißhandlungen wie Geißelung, Dornenkrone auf die Siebenzahl gebracht werden. Hätte der Verf. ſich als Leſer einen handfeſten Theologen gedacht, der nur amimmt, was ihm als notwendig dargethan ift, jo

Chriſtologie des Alten Teftamentes. in

würde er vor vielen Phansaftereien bewahrt geblieben fein. Die ziemſiche Rückſicht auf ben Leſer zeigt ſich nicht bloß in der vom Verf. abgelehnten Streitverhandlung mit den litterarifhen Vor güngern, welchen ber Leſer bisher zugehört Hat, ſondern vor allem in ber Innehaltung einer allgemein gültigen wiſſenſchaftlichen Methode. Und diefe läßt der Verf. Leider über Gebühr vermiffen, Sonft würde man doch erfahren haben, weshalb Jeſ. 24—385, trogdem daß Gef. 28 als Erklärungsmittel von Sad. 3 nadhıträge fi erwähnt werden muß, ferner Jeſ. 50 und der ganze Jeremia übergangen find, weshalb Ezechiel mit einer Seite abgethan wird, und warum nicht im Hohenliede fo gut wie im Pf. 45 eine meſſianiſche oder „foterologifche“ Weisfagung gefunden morden iſt, ober wes⸗ halb ber Berf. zum Beweiſe für bie mefflanifche Auffafjung bes Alten Teftamenses durch die Apoftel zwar die hiſtoriſchen Bücher des Neuen Teftamentes citert, aber nicht die Briefe, welche doch allein direkte Äußerungen über das Prinzip enthalten, nad dem bie Apoftel.bas Alte Teftament gebrauchten. Die ridjtige Methode muß dem Leſer dafür bürgen, daß der Stoff nach feinem vollen Umfange und nad feiner Natur, nicht nach zufälliger Auswahl and willkurlichem Gefichtspunft zur Darftellung tommt. Cie birgt ferner für die richtige Auslegung der DBibeltexte, indem fie «6 unmoglich madt, bie Weisfagungsworte aus ihrem Zuſammen- ange herauezureigen und nach den Ideen zu deuten, bie man felbft gerade im Kopfe Hat, aber nicht die Propheten und ihre Zuhörer; fie leidet es nicht, daß man die vereinzelien Ausdrücke and Bilder des Tertes mit eigenen Einfällen zuſammenmijcht, ftatt ihnen durch Kervorhebung des geſchichtlichen Hintergrandes unb des litterariſchen Zuſammenhanges ihr Leben fo wicberzugeben, daß fie felbft zn Lefer reden. Dazu wäre bems freilich erforderlich geweſen, daß des Verf. felbft zuvor eine Hare Anſchauung über den rsihtligen Zufammenkang des Alten und Neuen Teftamentes fowie über ben Unterſchied beider Offenbarungen, und über bas Weſen ber Weisfagung in pfycholeghhcher und geſchichtephlloſophiſ cher Hinficht gewonnen hätte. Das Buch macht den Einbrud, daß dieſes wicht der Fall fei. Denn weder begegnen wir in ihm einer prinzipiellen Erörterung dieſer Dinge, noch ſuͤmmen bie zufälligen

198 Bohl

Bemerkungen über die Erfüllung der Weisſagung mit einander überein. Bald wird fofort von ber letzteren mit beiden Füßen ins Neue Teftament Bineingefprungen und die Züge der Weisfagung reell im dem BHiftortfchen Detail der Erfcheinung des Heilandes wiedergefunden, bald wird eine erfte Erfüllung in der Geſchichte des jüdifchen Volles, eine zweite in der Jeſu, eine dritte im der chriſtlichen Kirche, eine vierte in der Parufte geſucht, und je nad Bedarf fpiritualifiert. Aber einen Fortſchritt der Weisfagung kann es kaum geben, wenn im Protevangelium ſchon das Werk und die Verſon des Heilandes nach feinen beiden Naturen gegenwärtig ift. So ſehr der Verf. Luther lobt, fo erfcheint feine Vorftellung von ber Hoentität des aftteftamentlihen Meffinsbildes mit dem Chriſtus unferes Glaubens als eine Nachwirkung derjenigen calviniſchen Anſchauung, welde, konſequent durchgeführt, fir das Verföhnungss wert Eprifti und die Belehrung zum Glauben nur noch die Ber deutung einer Abſchattung deſſen übrig Täßt, was ewig in Gott vorhanden war. Charakteriftiih ift die Bemerkung S. 171, mit welcher die Gottheit des „Salomo-Mefjias“ in Pf. 45 begründet wird: „Wußten die Alten überhaupt etwas vom Meſſias, fo wird ihnen die Hauptfache, daß er Gott geweſen (sic), nicht neidiſch vorenthalten fein. Vorenthalten könnte man (sic) dem Meffins den Namen Gott nur im Intereſſe einer fingterten hiſtoriſchen Entwidelung des Meffiasbegriffes. Als ob das Brot des Lebens ſich entwideln könnte und nicht qualitativ ſtets dasſelbige von Adam bis zum letzten Menſchen fein müßte.“ Hier ſieht man die Berwirrung. Der Heiland ift das Brot des Lebens, nicht ber Hellandsbegriff. Diefer kann fi darum immerhin entiwiceln, dhne daß der Heiland ein anderer wird. Die Apoftel haben bald Mil, bald fefte Speife gegeben, in beiden aber das Brot des Lebens trotz der Verfchiedeneit der Begriffe, die durch jene ber deutet werben. Das beredhtigte Intereſſe, die causa salutis überall als diefelbe erfcheinen zu laſſen, Hat den Verf. zu dem anerlaubten Streben verleitet, dem Meſſias des Alten Teftamentes, aud wo der Tert nichts davon fagt, die Gottheit zu vinbizieren, die wir von Jeſu befennen. Dieſe Auskunft war unnötig, da der Berf. jelbft neben meſſianiſchen fogen. foterologifche Weisfagungen

Chriſtologie des Alten Teſtamentes. 10

nachweiſt, nach welchen Jahve felbft das Heil bringt. Daß biefer tommende Jahve und ber menſchliche Meſſias in dem einen Gottmenfchen Jeſu Ehrifto gegenwärtig gemprden find, das ift der Iuhalt des Evangeliums und das Spezifiſche unſeres chriſtlichen Glaubens. Beide in Einheit der Perfon zu fegen war für das Alte Teftament unmöglih. Gleichwohl ift der befeligende Glaube des altteftamentlihen Frommen dem Wefen nad) kein anderer, ale der des menteftamentlihen, denn auch jener ging auf den Gott, der feinem Volke unter anderem durch einen menfchlichen Mittler helfen und zuletzt ſelbſt kommen will, um bie Geſchichte ber Welt zu vollenden; dieſer geht auf den Gott, der feinen eingeborenen Sohn in der Geftalt eines menſchlichen Heils- Mittlere für die ganze Menſchheit gefandt und durch feine Erhöhung zu dem Gotte ge= macht hat, der in Offenbarung feiner. Herrlichkeit fommen wird, um bie Welt an ihr ewiges Ziel zu bringen.

Dr. Kloſtermann.

8.

U. Kloſtermann, Korrekturen zur bisherigen Erklä- rung des Römerbriefes. Gotha, F. U. Perthes, 1881.

Die von dem werten Verf. gewählte Form für feine Beiträge zur Exegeſe fpricht den Berichterftatter befonder an. Längft ift es fein Wunſch, daß mancher Gelehrte an Stelle eines volfftändigen Kommentare Arbeiten ſchriebe, welche kritiſche und weiter führende Beiträge im einzelnen bringen. Selbſtverſtändlich müffen für die⸗ jenigen, welche nicht im ftrengen Sinne mit fortarbeiten, von Zeit zu Zeit Zufammenfaffungen des inzwiſchen Gewonnenen dargeboten werden; aber die eigentlich wiffenfchaftliche Erörterung wird mehr durch Beiträge gefördert, melde dem Nachfolgenden die Täftige Müpe erfparen, das nicht felten an Umfang und Gewicht gering-

b.\] Koßermann

Fügige Neue ans der Maſſe altbelannter Darlegungen Heranszu ſuchen. Gerade unter dieſem Gefichtspunkte ift im biefer Schrift das Mögliche geleiftet. Der Berf. giebt nur in der Hauptſache tnapp bemefjene Ausführungen feines Verſtänduiſſes einzelner Stellen und fagt in dem fuuf erften Abhandlungen am Schluſſe die Abweichungen feiner Auslegung von der gangbaren ausdrücklich in beftimmt gefaßte Borderungen zufammen. Klingen biefe Zus ſammenfaffungen etwas peremptorifch, wie auch ber Titel des Ganzen in dieſem Sinne (niht mir) aufgefallen ft, fo ift auf beiden Wegen im Grunde nur offen amegebrüdt, was jeder Berf. meinen und wünfhen muß, daß in feiner Leiftung ein Fortfchritt ftege, den man fortan nicht unbeachtet lafjen dürfe.

Erflärt doch der Verf. im Eingange befcheiden, daß er nur Anregungen geben wolle, wie fie von jemand kommen können, ber in der theologischen Eregeſe dieſer Schrift ein Laie fe. Man wird ja freili dieſe Selbftbezeichnung wie im Rücblick auf frügere Arbeiten fo unter Hinweis auf die vorliegende zu beſcheiden finden; fie dient auch hauptſächlich dazu, den Verf. von der obfervanzmäßigen Auseinanderfegung mit der vollftändigen Ge ſchichte der Auslegung zu entbinden. Wenn er mit einzelnen Vor⸗ gängern, zumal v. Hofmann,. verhandelt, gefchieht es meiftens nur zur befferen Herausftelung feiner Faſſung; feltener, weil diefe ſtch kritiſch an der beſprochenen entwidelt hat und darum and; am leichteften vor dem Leſer entwickela Saft. Bash hat das Abfehen von der egegetifchen Überlieferung mit ihrer Überfülle von Einzelfragen etwas Förderndes, um einmal wieder den Text als ſolchen unbefangen anzufehen. Und Hierin diirfte auch die eine Stärke dieſer Arbeit Liegen, daß fie fich des Herfönmlichen ganz entfclägt, um es einmal mit vollig neuen Wegen zu vers ſuchen; fo Hat ja auch v. Hofmann viele Anregungen dargeboten. Diermit verbindet ſich eine mutige Nüdfichtötofigkeit in Beziehung auf die Herfömmfiche Verwertung der apoftoliſchen Ausſagen as dogmatiſcher Belegftellen; nur der nachfte Zufammenhang der Ger danfenfügung, feltener der weitere mit der gefamten Entwickelung des Briefes, kommt In Betracht. Nicht einmal die Anslegumg aus der Analogie des Schriftftellers felbft Hat eine erlleckliche Ber

Korrekturen zur bisherigen Erklärung des Römerbriefes. 201

beutang. Der Brief wird gelefen, wie er vom denen gelejen wurde, welde Paulus weder in Perfon noch als Schriftfteller Iaunten; den Unterfchied darf nur der Umſtand bilden, dag jene Leſer griechifch dachten, und wir uns diefe Fähigkeit durch klaſſiſche Philologie ergänzen muſſen. Im übrigen regiert nur die Logik. Und in der That verwendet der Verf. dieſes Zuchtmittel energiſch and mit Wirkung. Im Zufommenhange mit diefen Beftimmt- heiten feines Verfahrens fteht da6 amdere Hauptverdienſt feiner Arbeit; dieſelbe ftellt mit außerordentlicher Schärfe die Mängel und Bedenfüicjkeiten der bisherigen. Auslegungen heraus und nötige zu einer ernftlihen Sichtung. Und diefe Seite der Arbeit wird auf alle Fülle jeden Ausleger des Paulus zwingen, fich gründlich mit dieſen „Korrekturen“ auseinanderzufegen; fie werden fürdern, ſollten auch ihre beſtimmten Ergebniſſe wicht durchweg Beifall finden.

Die Ausleger dürfen ſich nicht dagegen ſträuben, wenn ihnen collegium philologieum et logieum gelefen wird; und fo ſollte 3. DB. feiner die Ausführungen über Röm. 7, 24. 25. im Ber» haltniſſe zum vorhergehenden Abjchnitte ohne genaue Prifung, auch ber eigenen Auslegung, leſen oder gar ungelefen laſſen. Doch wird jener exegetiſche Kanon von der Verfegung in die erften Leſer einer Ergänzung bedürfen. Daß ſelbſt diefe den Apofiel nicht fo ganz leicht verftändlich fanden, davon ift und fogar eine gefchichtliche Kumde geblieben 2 Petr. 3, 15f. So kommt denn die Dunfelpeit doch vielleicht nicht allein auf die Rechnung der theolor gifden Vorurteilt und eregetifchen Mißgriffe. Überdem Hat der Verf. Fefbft in feiner fehr beachtenewerten Entwickelung über 3, 24f. ©. 83f. dargelegt, wie reichlichen Anfchauungsftoff Paulus bei feinen Entwidelungen im Syistergeunde Hält. Daß feine Ausfogen. über «rolvsgwors und ilaasigior fich an bie Jobelgeſetze aufchlichen, wat diefehben unter dieſer Vorausfegung erft ganz genau vet⸗ ſtandlich; darf man annehmen, daß bie erften Leſer fie fo durch⸗ ſchauten, wie der Ausleger? Daß, wenn fie dies ohne weiteres vermecten, die Erinnerung an dieſe Beziehung tragdem nad ihnen ſo ganz verloren gegangen wäre? Doch follen dieſt Be- merkangen durchaus nicht den Stachel abſchwachen, der in den

a2 Klofermann

Ausführungen des Korreftors liegt; die Ausleger follen immer tiefer in die Gebankengänge fi Hineinverfenken, deren Ergebnifje die lebhaft fortfereitenden Säge des Apoſtels bilden, und ſich nicht fo bald unter dem Hinweis anf feine fpringende Denkweife von dem Nachweis der deutlichen Verknüpfung der Gedanken ente binden; fie follen immermehr aus der Schrift felbft heraus aus⸗ Tegen lernen und nicht ans einer oft genug dogmatifch, fo oder fo, beeinflußten biblischen Theologie heraus. Es wird immer foörder⸗ lich fein, die zwei möglichen Wege der Auslegung auch getrennt zu befchreiten, um hernach biefelben durcheinander in ihren Ergeb⸗ niſſen zu kontrollieren; daß man nämlich das eine Mal an die Schrift herantrete, als wiſſe man von ihrem Verf. und ihren Vorausfegungen nichts was ja freilich über die Lage der erften Leſer weit hinausgeht —, und das andere Mal von der umfafjendften Belannt- ſchaft mit den gefchichtlihen Vorausſetzungen diefes Schriftftüdes aus es zu verftehen fucht. Ich will nicht leugnen, daß die ber ſprochene Schrift erft die Hälfte diefer Arbeit angreift und ein- feitig den erften Weg innehält.

Die Einzelpeiten müffen in der Schrift felbft gefunden werben, umd es ift nach dem Obigen ja nicht ſchwer gemadt. Doch muß die Anzeige menigftens auf das Wichtigſte aufmerfjam machen, wenn fie auch nicht in die eigentliche Erörterung eintreten kaun. Es wäre unbefcheiben, dieſen ernfthaften Unterfuhungen andere ohne die gleiche Gründlichkeit an die Seite zu ftellen; folde ift aber durch die Grenzen einer Anzeige ausgefchlofien. Flechte ih einige Bedenken oder Fragen ein, fo jet im voraus ber Auſpruch geleugnet, daß diefelben ſchon als ausreichende Widerlegung gelten follen.

Es find nur einzelne Abfchnitte, welche der Korrektor behandelt; doch Laffen ſich aus ihnen einige Grundgedanken über dem ganzen Brief erſchließen. Er entnimmt aus 1, 13—15, daß Paulus feinen Brief als einen notgedrungenen vorläufigen Erſatz für die eigene Predigt in Rom fehreibt. Weiter deutet er als deſſen Grund⸗ gedanken an: die Darlegung der fittlihen Regenerationskraft, welche dem Evangelium eignet, das auf Glauben rechnet. Die Entfaltung dieſes Grundgedaukens findet er dann in einer Gelbft-

KRorrefturen zur bisherigen Erklärung des Römerbriefes. 208

befinnung der Ehriften auf ihren Lebensbeftand vollzogen, welche der Apoftel in einem Gefpräde mit feinen Leſern vorführt, vgl. ©. 30. Es handle fich nicht fowohl um Darlegung gefchichtlicher Zhatfahen, als um die Erinnerung daran, wie das Evangelium uns Chriften diefelben anfehen und ſchätzen gelehrt Habe. So zeigt z. B. 1, 18f. nicht die Zornoffenbarung Gottes in der Heidenwelt auf, fondern erinnert daran, wie fie dem Chriften fich dur das Evangelium (drroxalunzeras sc. did Tod sdayyellov sive dv norsdovzs) enthüllt habe, fo daß er ihrer nun inne wird. War fon ehedem darauf hingemwiefen, Paulus entwidele 1, 18—3, 20 nicht ſowohl die allgemeine Sündhaftigfeit als bie Sculdverhaftung der Menſchen, fo ift e8 ein Schritt weiter in derfelben Richtung, wenn der Verf. hier gar nicht mehr allgemein menſchheitliche Thatſachen behandelt ficht, fondern ausdrücklich nur an der griechiſch⸗römiſchen Kulturwelt erempfifiziert, und zwar fo, daß eben der Ehrift nun in das Leben zurüchlidt, dem er ente nommen ift und welches er num ganz anders beurteilt, ald da er darin ftand. Die Andeutungen über den Gedankenfortſchritt 1, 18f., wie fie S. 32f. gegeben werden, find überaus fefjelnd. Diefer fo zu fagen mehr fubjektiven Faſſung entſpricht es, wenn 5, 1f. nit die Fruchte der Rechtfertigung, fondern „bie Gemüts- ftimmung des gerechtfertigten Chriften“ darftellt. In derfelben Linie Tiegt die zuletzt behandelte Stelle 7,24 8,2. Hier Liegen Fingerzeige vor, melde der Erwägung gewiß wert find. Dabei regt fi der Wunſch, der Verf. möge die Probe am ganzen Briefe verfuhen. Ein Kommentar kann ihm erjpart bleiben; aber er Lönnte in der Weife von Schott, oder noch fummarifcher, darlegen, wie fi ihm der Grundrig des ganzen Baues in feiner Gliederung darftellt. Das ift für fich der Mühe fehr wert, auch ohne genaueres Eintreten in die Frage über den Leferkreis des Briefes.

Die Eigentümlichkeit der Arbeit tritt zunädft an dem philo« logiſchen Verfahren im engeren Sinne hervor. Der Verf. fchlägt, darin v. Hofmann verwandt, bisher unerhörte Konſtruktionen der Satzgefüge vor. Dabei begünftigt er Einſchübe und erreicht der» geſtalt Verknüpfungen ziemlich fern von einander ftehender Satzteile.

204 eloſtermanu

1, 13f. geſtaltet ſich hiernach ſo, daß od Im Önks ayvosiv zum Objelt einen Satz von xads bis sdayyellcacdar erhält, in weldem xccſcic ſich vorbereitend auf odeng bezieht, zo agdIvwov als eigentlihes Objelt zu ayvosiv bie Satzausſage enthält und "ZAAyoı bis eds einen Einfhub bildet; dr V. 13 heißt „weil“ und va hängt von od 9020 xa. ab unb giebt bie eigentliche Abficht an. So gewinnt Kloftermann in diefer Periode die deutliche Angabe über den Zwed des Schreibens und bamit das andere Stüd der Einleitung neben dem rgdro» B. B. Ein eben ſolcher Einfhub begegnet in 2, 14, über welchen hier ofrıves V. 15 unmittelbar an od zomrai V. 13 anſchließt. Ebenfo ge» hört 4, 2 dA ou eos Iedv nach der Parentheſe als ein facher Sagteil zu Aßgacp xa. V. 1. In der unbequemen Stelle 3, 9 wird od navswg naveas aA. zuſammengenommen und ugoys. bis Faamiac parenthefiert. Ebenda begegnet au die andere mehrfach angemandte Konftruftionshilfe, nämlich ein Frageſatz, der als ſolcher nicht beftimmt angedeutet ift, und auf beffen ausgelafjene verneinende Beantwortung nur bie folgende Ber gründung des Gegenteiles vom dem hinweift, was die Frage anf fagte: „Iſt die Meinung, daß nicht durchaus denn wir haben bisher ja nur Juden und Griechen angeſchuldigt alle unter der Sünde fein? Gewiß nicht. Denn bie Schrift ftellt alle darunter.“ Diefelbe Wendung findet ſich 7, 24 8,2. Aus der geſchilderten Knechtſchaft Hebt fi der Schrei nach Erlöfung von der Todesrealität *), unter ber man fteht. Ihm antwortet die Dankfegung für die Erlöfung. Dann folgt die abzuweiſende faljche Konfequenz in zwei Fragen: „Darf denn der einzelne Chriſt mit feinem verftändig refleftierenden Bewußtſein göttlichen Gefege denen und im übrigen feinem Fleiſche den Bügel ſchießen laffen7 Gilt es (mas daraus folgen würde) daß es für den Chriften Seine Art von Verdammmis mehr giebt, auch wenn er fündig? Gewiß nicht! Darum iſt er ja befreit, um nun bie. Verantwortung haben zu können; vgl. 8, 12f.“ Mich befremden bei Paulus biefe Wendun⸗ gen, der fo oft ſolche Fragen aufwirft und ebenfo oft «8 weber at

3) So foßt Moftermann seuw, wit auch 6, 6.

Korrelturen zur bisherigen Erflärung des Römerbriefes. 26

der Kennzeichnung des Satzes als Frage, noch an der ausdrücklichen Abweiſung fehlen läßt. Mich befremden auch fo kunftvoll ges ſchlungene Satzgewebe, wie die oben bezeichneten. Da ſie indes in der That Unebenheiten auszugleichen vermbchten, bedarf es all» feitiger Erwägung. i

Der Korrektor felbft wird fich nicht verhehlen, dag man zu manden feiner Auslegungsmittel wohl ein Fragezeichen fegen Tann, das ‚nicht minder berechtigt ift, als feine philologiſchen und Logifchen Ausrufungszeichen neben den herkömmlichen Saffungen. Iſt 3. B. folgende Faſſung von auroc &y@ einleuchtend: „Es foll einfach markieren, daß bier fih ein anderer, eben jener „Du“ des Berfes 8, 2 dem Apoftel entgegenftellt“ ; aber da eben dieſer Apoftel bisher in erfter Perfon redete, wie undeutlich wäre diefe Entgegenftellung ohne das fonftige &gsös ou» oder dgeh zus! zumal bie Anrede an dies yes doch erft nachfolgt, auch wenn man der Lesart os für ne beifällt (wofür Kloſtermann Gewichtiges beibringt), und wie mißverftändfich ift nach dem Vorangehenden der Konjunk⸗ tin dovkedo. Zweifelhafter noch dürfte bie Tertherftellung im 5. Kapitel fein, wo V. 6 eis vl yo gelefen und V. 8 6 Iadc ger fteichen werben fol, um dann den Gay drı x4. als Subjelt von avvioznos, zu faffen ). Auch das fet noch bemerkt, daß fi die Grenzen zwifchen Logik und Rhetorik oft nicht haarſcharf ziehen laſſen, die Entfaltung rhetorifcher Wendungen aber etwas Indi⸗ viduelles Hat. So ſehr die lebhaften Ausſpruche des Korrektors gegen. zerftückelte Vergleichung einzelner Buchſtaben bei der Texte fritit und gegen Üußerliche Anwendung der Grammatit meinen Beifall Haben, muß ich doch daran erinnern, daß bei der lebendigen Verfegung in den Schriftfteller e8 doch eben der Ausleger bleibt, welcher ſich verfegt und daher auch das befte Teil von fi) mite aimmt. Und ift e8 den meiften Auslegern von Kap. 7. 8 fo ergangen, daß fie unmillfürfi aus ber eigenen chriftlichen Er⸗ fahrung auslegten daher ſtammt die unfterbliche Kontroverſe,

1) Die Tilgung von eögrxeves 4, 1 ift mir wenigſtens nicht durch bie Vermutung empfohlen, man habe mgonaroganuww entziffert: mganuovsu- enzeron,

206 Kloftermann

ob Kap. 7 vom „Wiedergeborenen“ handle —, jo ſcheint es doch auch dem Verf. nicht ganz erfpart geblieben zu fein bei feiner durchſchlagenden Grundauffaſſung. Seine Auffafjungsweife oder auch Herfümmliche Gebankenwendungen ſchieben ſich doch gelegent lich auch in feinen Entwickelungen unter, ſtatt einer erft geprüften Erhebung der Urt, wie Paulus felbft darüber zu reden pflegte. S. 216 ſollte der Sat „was er (Paulus) fonft Wiedergeburt nennt“, doch wohl lauten: „was wir namentlich feit den Erweckungszeiten fonft Wiedergeburt nennen“; denn Titus 3, 5 reicht wohl in feinem Betrachte für das „fonft“ aus, fofern diefes Wörtchen doch nur anmerken kann, hier bezeichne Paulus nicht fo beftimmt, was er im übrigen gangbarer und durchfichtiger mit dem gemeindhriftlichen Namen zu nennen pflege. Dod wir find ſchon über das rein Sprachliche Hinaus.

Die fachlichen Ergebniffe angehend, fo wird die Umfehr von 8, 1 im das Gegenteil der bisher angenommenen Bedeutung mandem frommen Bibellefer ſchwer fallen; doch das darf nicht entfcheidend ins Gewicht fallen. Indes, Hat die bisherige kategorifche Faffung nicht immer noch ihren Halt im weiteren Zufammenhange 8, 3ff.? Es fei nur bemerkt, um daran zu erinnern, daß zur endgültigen Entfcheidung doch auch über den nüchſten Zufammens hang Hinaus verglichen werden muß. Im übrigen iſt mir die Ungenüge der Auslegung der dem odv, &ga vüv und des yag 7,25 8,2 längft fehr peinlich gewefen; und gerade die Bes Handlung diefer Stelle wird gewiß nicht ‘ohne Nachwirkung bleiben. Auch hier tritt jene Grundauffaffung wirkſam ein, welche von der teformatorifchen abweicht, indem fie den Ton nicht auf bie Ges wißheit der Sündenvergebung, ſondern auf Begründung und Ber» pflichtung für das neue fittliche Leben legt. Demgemäß bezeichnet dixasoadvn Heod 1,17 und 2, 22 midt den Stand des dixasodels, fofern er Vergebung der Sünden hat, fondern „eine fittliche Sebensbefhaffengeit in immer zunehmender Fülle“. Den Zufag entnimmt der Verf. der anfpredenden Fafjung. von de nloreng sis nlorıv. So wird nit nur don dem in der Exegeſe Hergebrachten, fondern auch von dem abgewichen, was der Kirche lange gewichtig war; ba Hat denn die Abgeriſſenheit der

Korrekturen zur bisherigen Erklärung bes Römerbriefes. 207

Bemerkungen etwas recht Unbefriedigendes, denn dieſe Faffung fteht Hier doch als Heiſcheſatz, fofern keine Auseinanderfegung mit den anderen Stellen ftatthat, ohne welche diefer Begriff ſchwer⸗ ich mit Sicherheit in des Apoftels Sinn feftgeftellt werden kann. Wie verhält ſich zu dieſer Scheidung zwiſchen dixasoavvn und dixmovoder 3, 22. 24 die Zuſammenfaſſung 4, 4 vgl. 2. 6. 22 25? ber eigentümfichen Wendungen 9, 30f., zu ge« ſchweigen. In denfelben Gedankenzug biegt die Faſſung von 5, 1f. ein, wenn fie, der Lesart Zxamer ehgrivm» folgend, das geziemende Verhalten entwidelt. Hier wird im Verfolg die Eigen« tumlichteit der Wendung zur Geltung gebracht, indem V. 6f. nicht in herfümmlicher Art der Ton auf die objektive Leiftung, vielmehr auf die perfönfiche Stellung Gottes und Eprifti in ber Liebeserweifung gelegt wird. Auch in dieſem Zufammenhange dürfen die Hinweifungen auf Altteſtamentliches zu exxiyuras V. 5 und dyrov jucv dadevav Fr B. 6, wie bie erwähnten zu 3, 24 nicht überfehen werden.

Bejonderer Anfmerkfamfeit fei noch die Behandlung der Formel Tovdulo ve ngwrov zal "EAdnvs empfohlen. Daß nah 1, 14 “Ellnves nicht für 2997 ftehe, wird anerfannt werden müffen, und daß freilich gegen alle bisherige Auslegung nreWrov wegen ud xl auch zu "EAlnves gehöre, ift nicht von vornherein abzus weiſen.

Zuletzt darf ich wohl einer etwas genaueren Auseinander⸗ fegung über die Stelle 2/ 14—16 nicht aus dem Wege gehen, da der Verf. in meine Auseinanderfegung mit Miceljen 1) forte führend eingreift. Er vertritt die Anficht deöfelben, daß unter den 299m das Geſetz erfüllende Heidenchriften zu verftehen feien, unter Preisgebung der von mir widerlegten Annahmen in einer neuen Faffung. Dieſelbe ftügt ih im engften Sinne auf den Nachweis, daß fi) olrıves V. 15 Logifcherweife nicht mit V. 14 verbinden Taffe und dag man der Anknüpfung von B. 16 au dvdekwurres in dem Mafe nicht gerecht werde, als man dieſe Erweifung in der Gegenwart firiere. Gewiß find Hier die Unebenheiten ſcharf

3) Im dieſer Zeitſchrift 1874, S. 261f.

28 Mofermann

gefaßt, deren befriedigende Befeitigung bisher, wie ich germ geftehe, nicht gelungen fein mag. Auch wird Kloſtermann darin wohl recht behalten, wie er bie Behandlung der hypothetiſchen Periode B. 14 grammatifch korrigiert. Doch wird er auch zugeftehen, daß fich über bie einzelnen Werbindungen erft dann etwas Entſcheidendes feftftellen läßt, wenn die Geſamtauffaſſung feftfteht; gar zu leicht argumentiert man nämlich am einander vorbei, weil ja. die Vor⸗ ausfegungen verſchieden find). Kann id nun Hier nicht ins Einzelnfte gehen, fo befehränfe ich mich bilfig auf einige Eins wendungen rüdfictlich der Hauptpunfte, denen zufolge ich der vor» geſchlagenen Auslegung nicht ohne weiteres beifallen kann, ofne daß ich darum die Frage für entfchieden ausgeben wollte.

Die Faffung des V. 14 als Parenthefe ſcheint mir unthuulich. Die angeführten Beifpiele 1 Kor. 7, 11 (15, 25?). Gal. 2, 8 ziehen nicht, weil bier die SKonftruftion unweigerlich die Vers bindung des aufgefparten Periodentelles mit ber Parenthefe ver« bietet; auch 2Xor. 12, 2—4 fann! der Lefer mur bei oberfläch⸗ lichſtem Überfliegen dr mit Fsög older verknüpfen; während in unferer Stelle der Anfchluß von ofrıwes an odeos nicht nur unan ftößig, fondern durch das Präſens wie die bisherige Geſchichte der Auslegung zeigt faft unvermeidlich erſcheint. So haben denn auch die mehrmals wiederkehrenden Andeutungen bei Kloftermann, V. 14 gehöre Hinter V. 16 umd fei vom Rande hierher geraten, guten Grund. Ein das Folgende mit ycio motivierender Einſchub ift bier in ber That verwirrend. Indes fei dem fo; dann wire der Sag aus dem Konterte zu verweiſen. Er ift ja im Grunde aud für Kloſtermann nur ftörend, denn bie Beziehung auf Heiden⸗ chriſten ift abgefehen von V. 14 gar nicht nötig; ®. 15 „paßt auf Juden und Chriften gleichermaßen" &. 62. Bielleiht ift 3. 14 und bie ganze Beziehung auf Helden ober Heidenchriſten bier ebenfo die Nachwirkung einer vorgefaßten Auslegung, wie der Zufag vol; ur xard odgxe neginerovow 8, 1.

1) So fdeint es mir Kloftermann mehrmals in der Kritik meiner um« fehreibenden Einſchübe widerfahren zu fein, bie auch mit immer genau aufe gefaßt und wiedergegeben find. -

Korrekturen zur bisherigen Erklärung bes Römerbriefes. 29

Weiter handelt es fich eben um das Berftändnis des Abfchnittes im größeren Zufammenhange; Kloſtermann geht dafür von B. 17£. aus. Hier ift vom Juden (nit vom Judenchriſten) die Rebe; aber der au bemfelben hervorgehobene Widerſpruch ſoll nicht geftellt

- fein auf Beſitz des Gejeges einer⸗, ausbleibende Erfüllung andere ſeits; vielmehr table Paulus an ihm eine pharifäifche, am Buchſtaben haftende Erfüllung an Stelle einer folchen mit Herzensbeteiligung, wie fie bei dem Judenchriſten V. 29 und bei dem Heidendhriften 8. 26 ftattfindet. Beherrſcht nun dieſer Gegenſatz des Legalis- mus und ber Herzensſittlichteit den Zuſammenhang, dann kann man fih auch V. 13 nicht mit dem einfachen Gegenſatz der &xgorral und mosmeet begnügen, fondern Anerkennung vor Ge richt kann nur die legte Gattung der omsel finden; deshalb muß V. 15. 16 diefelben näher beftimmen. Diefe Beftimmung muß nun die Herzensfittlicgleit ausbrüden. Demgemäß iſt das yoarsrorv dv reis xugdiaıs Folge von und Beweis für die Herzensbeteiligung bei der Vollziehung des Zgyov ©. v. Die Evdsidis aber vollzieht ſich V. 16 am jüngften Tag und zwar vermittels bes Gewiſſenszeugniſſes, welches „Teldft mitten (zus usrafd) unter der gegenfeitigen Verklagung und Entjhuldigung der Gedanken“ für die anzuerkennende Individualſittlichkeit eine treten wird. Diefem Grundzuge folgt felbftverftändfich auch die Faffung von davrois siolv vonog; denn das „Sich-⸗normieren“ wird je nad) dem Zufammenhange theoretifch oder praftijch gefaßt werben Können. Ein folder Hinweis auf bie zweifellos der Aner- Zennung vor Gericht würdige KHerzensfittlichteit fhlägt am ent ſchiedeuſten jeden eingebildeten Legalismus wieder.

Ich belenne, daß ich die pofitine Seite dieſer Ausführung nicht ſo durchſchlagend finde als die geübte ſchneidende Kritik. Ob dieſe Gedantkenreihe in den Gang des Paufus hinein paßt, muß ſich doch darin bewähren, baß fich die von ihm gewählten Wendungen leichter verftehen laſſen als unter anderen Boramsjegungen. Allein ich Am das in ‚Beziehung anf V. 18f. nit finden. Hier fteht nichts von einer Beobachtung des Geſetzes, wenn auch buchſtäb⸗ licher Urt, zu (ofen, von einem „eingebildeten Geſetzesthater“, vielmehr nur von einem Hoffärtigen Geſcheste nner nichts won

Theol. Gtub. Dahrs. 1888.

210 Moftermann

dem „Suchen, den Buchftaben mit der That zu bekennen“, fondern von Thaten der Übertretung; wie denn auch die Ausbrüde xAsnreig, noryedsig, begoaväsis nicht auf „Gelüften, von denen das Herz ftrogt“ bei Außerlicher Legalität deuten. Für jene ans geblich von Paulus gemeinte buchſtäbliche Kegalität fpricht auch dick rodunaros V. 29 gar nicht, ba es fo wenig wie die rege- sonis eine Modalität des Thuns als folden bezeichnen kann; es jind Vorausfegungen für das in feiner Mobalität als offen» tundiges (B. 24) rragapalverv beftimmte Thun. So ift auch Ev nveinarı ol) yoduparı V. 29 nicht eine müßige Wieder- holung des Gegenfages von Innerlichkeit "und Äußerlichkeit neben xgundv und gavegdv, fondern die Formel erinnert an die Ordnungen der göttlichen Okonomie und die in denfelben bes ftimmenden Mächte, vgl. 7, 26. 2 Kor. 3. Führt nun ſchon der eigentliche Sig der Faſſung Moftermanns nicht auf fein Verftändnis, fo will es ſich vollends V. 13 an die vorangehenden einfachen Worte. nicht fnüpfen laſſen. Der Gegenſatz axgoarat und nromees ift doch einfach der von Theorie und Praxis und führt den Lefer, der V. 17 f. noch nicht mit Kloftermanns Augen gelefen hat, nicht auf den Gegenfag einer äußerlihen Praxis und einer Praxis mit innerer Beteiligung. Gegen dieſe Beftimmung von dxgoazı]s ſpricht auch noch Überdem, daß es ja anfnüpft an: doos dv voup Auagrov, welde Worte doch gewiß nicht auf Geſetzesbeob⸗ achtung deuten. Die Faffung wird nur durd den engen An- ſchluß von ofrswes möglich. Unter Beibehaltung der Parenthefe ®. 14 hat aber Paulus alles gethan, um ihn zu hindern. Denn er hat weder eine Vorausmweifung beigefügt, die bei dem im Zu- fammenhange ohnedem in fi völlig Haren Gegenfage &xgoaras und sromzal unentbehrlich erfcheint, noch auch V. 15 fo geftaltet, daß die enge Anlehnung herausträte, wie wenn er Particip Futuri ange wendet hätte; bleibt body das Präfens Evdeizv. zwiſchen dixasmsnj- covres und xgivei immer befremblih. Kloſtermann findet freie lich diefen Hinweis in dem an ſich neben dixamı agu Heu überflüffigen dixauwInoovras; allein dies ift nicht überflüffig, und der. Sag ohne dasſelbe wäre falſch; denn bei dUxaos ift nur elotv zu ergänzen, ſofern ja, wenn's bloß aufs Hören anfäme,

Korrekturen zur bisherigen Erflärung des Römerbriefes. 211

mit diefem auch ſchon alles fertig wäre; dagegen, wo das Thun für die Anerfennung erforderlich ift, kann diefe erft in ber Zur tunft eintreten, im welcher das zwoseiv abgefchloffen wird. Die Juden pochen auf das, was fie find als Befiger der Geſetzes⸗ keuntnis; ihnen wird vorgehalten, daß es fi darum handelt, als was fie auf Grund ihres Thuns erfcheinen werden. Laßt man aber ®. 14 fallen, fo wird ja die Verbindung notwendig, wenn. fie auch nicht fo eng zu faflen fein möchte. Dann ift mir indes die Schilderung V. 15 immer noch befremdlich. Freilich mußte ja bei Mloftermanns Berftändnis da8 Zoyov jener momral ausdrüdlih als ein innerlich geartetes bezeichnet werden; weniger einfeuchtend iſt es, weshalb davon eine Eydeikis nicht nür fiir Gott, den „Herzens⸗ und Gemifjensfündiger“, fondern „im göttlichen Berhöre und Gerichte“ für fie felbft vor Gott (S. 56. 62) verheißen wird. Gott weiß das doch wohl ſchon jegt; und das Selbftbewußtfein ‚gerade im künftigen Gerichte wird doch ſchwer lich gemeint fein; bezieht doch Paulus fein Gewiffenszeugnis fonft auf die Gegenwart, und zwar mit Ruckſicht eben auf nicht herzens⸗ Lündigende Menfchen, Röm. 9, 1. 2 Kor. 1, 12 (erft ©. 14 wird von der jusga xuglov die Rede), und iſt nicht eben ge» neigt, vor Gottes Gericht fih auf fein Bewußtſein zu fügen, 1 Kor. 4, 4. Nach diefen Hauptanftänden bemerfe ih nur noch nebenher den Unterfchied der Ausdrüde: va dixausuare =. v. puldoosıy, vov v. zeisiv B. 26. 27 fowohl von 8, 4 als namentlich von r@ Tod v. rossiv; bezweifele, daß Paulus die Chriften ald vowo» wur) Exovess bezeichnen konnte, wenn er das von Profelyten nicht ausfagte, da fie doch alle die Geſetzesvor⸗ ſchriften nicht nur dur innere Eingebung kennen lernten; bean⸗ ftande die Auslegung von gYvaes fachlich gleich mreinarı vgl. V. 27, ſelbſt wenn Hier der Jude ſich den Heidenchriften anfehen ſoll; bezweifele, daß „geichrieben im Herzen“ der natürliche Aus— druck für Herzensbeteiligung und nicht für Unvergeßlichkeit und Unanstifgbarkeit fei, wenn es fih um Leiftungen Handelt; und verftehe nicht, wie am jüngften Tage neben einem Gemwifjenszeug- niffe für ein eimheitfiches das Geſetz erfüllendes Lebenswerk von innerftem Triebe aus noch ein Gedankengewirre mit dor»

22 Klofermann, Korrekturen ıc.

wiegender Anklage und etwa auch dazwiſchen Tommender Ber teidigung laut werden foll.

So laſſen fi mir die Bedenken nicht allein durch Ausftogung von B. 14 befeitigen, und der Eindrud, daß die Erörterung von 3. 12 ab nur der negativen Seite des Gerichtserfolges zugewandt je, iſt nod nicht verwiſcht. Stellen fih nun auch für dieſe Faffung dunkle Punkte und ungelöfte Knoten ein, die ſich in exegetiſchen Gewaltſamkeiten verraten, fo Liegt für mich bie Nötigung noch nicht vor, derſelben beizufallen. Gern aber ge ſtehe ich ein, daß ich die Wucht der Korrektur meiner Auslegung fpüre. Und obwohl die weiteren Zufammenhänge, in welche mir die Stelle in meiner Abhandlung über das Gewiſſen getreten: ift, nicht geriffen find, fo follen fie mich doch nicht abhalten, der Korrektur beizufallen, fo bald ihre Poſitionen nicht minder einleuchten als ihre Kritiken.

Ich Hoffe, wie ich es wunſche, daß der Verf. auch aus dieſer Beſprechung die Gewißheit gewinne, er Habe feine Korrekturen wicht umnſonſt gefchrieben, und daß er noch recht viele gelchrige Leſer

Finde. . a. Kölle

Drud von Beier. Unde. Perthed in Gotha.

Theologiſche Studien und Kritiken.

Fine Seiifärif das gefamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit und in Verbindung mit D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner moD. 3. Wagenmann herausgegeben

D. 3. Köflin um D. E. Riehn.

Jahrgang 1883, zweites Heft.

Zst: "(BODL!LIBR) ‘| S

Sr”

Gotha, Sriedrih Andreas Perthes. 1883.

Abhandlungen.

Dita, GOOgle 8

1. Über das Weſen der Neligion.

Bon

Brof. X. Dorner in Wittenberg.

Unfere Abhandlung, welde fih mit dem Wefen ber Religion bejchäftigen foll, zerfällt in zwei Teile, einen Eritifchen, welcher die verfchiedenen in der Gegenwart vertretenen Anfichten über die Ne figion beſpricht, und einen zweiten, welcher auf Grund der kritiſchen Refultate die Grundzüge des Weſens der Religion darzulegen hat. Einfeitend fehiten wir einige Bemerkungen über die verfchiebenen Methoden religionsphiloſophiſcher Forſchung voraus.

L Ariliſcher Teil. a) Über religionsphiloſophiſche Methoden der Gegenwart.

Es haben die neueren Forſchungen auf dem Gebiete der Re—⸗ ligionswiſſenſchaft der empiriſchen Richtung der Zeit entfprechend neue Methoden hervorgebracht, oder ſchon bisher geübte modifiziert. Es find der Hauptſache nach befonders vier Methoden, welche her⸗ vortreten: bie Hiftorifche, die pfychofogifche, bie fpefulativsgenetifche, die fpefufativ-Eritifche.

Die rein hiſtoriſche Methode faßt die Neligion als eine em⸗ Pirifch gegebene Größe auf, welche im verfchiedenen gefchichtlichen Formen vorliege, unterfucht die verfchiedenen Religionen, vergleicht fie auf ihre Apntichfeit und Unähnlichkeit Hin und fucht fo einen gemein»

218 Dorner

famen Begriff Hervorzubringen, welcher das Weſen der Religion bezeichnen foll: „Das Wefen der Religion ift die Summe der Merkmale, welche den gefchichtlichen Religionen gemeinfam find.“ ?) Allein wenn man auch Tebigli von der Gegebenheit ausgeht und das Wefen der Religion durch Vergleihung der empirifch gegebenen Religionen verftehen will, fo ift e8 doch volffommen einfeitig, wenn man lediglich bei der objektiv gewordenen hiſtoriſchen Religion ftehen bfeibt und nur objektive Religion, nur religiöfe Gemeinfhaft aner- fennt ®). Hier fehlt ein für alle Religion weſentliches Moment, daß fie ihren Verlauf nicht bloß in ber Gemeinschaft, fondern in den Subjekten hat. Es ift daher die pſychologiſche Methode, melde den Verlauf des religiöfen Prozeſſes in den Subjelten verfolgt, die notwendige Ergänzung diefer Methode. Obgleich fih Kaftan gegen bie ebenfalls von der refigiöfen Empivie ausgehende pfydos logiſche Methode erklärt und Tediglich gefchichtlih verfahren will (worin die Unterdrücung der Bedeutung des frommen Subielts für die Religion liegt), bleibt er in der Ausführung feinem Grund- fag nicht treu, da er felbft im weentlichen auf pſychologiſchem Wege das Wefen der Religion zu verftehen fucht, und da gerade feine Auffafjung der Religion am allerwenigften ein Abfehen von dem frommen Subjeft möglich macht, weil fie der Lebensbefriedigung, dem Wohl, das doch niemand als das Subjeft empfinden kann, dienen fol. Mit einer bloß gefchichtlichen Betrachtung, ohne die piychologifche Hinzuzunehmen, kann man nie das Wefen der Religion verſtehen, da die Äußerungen der Religion immer Folgen innerer Vorgänge find. Die pſychologiſche Methode muß alfo jedenfalls mit zurate gezogen werben ), da bie Religion es mit frommen Subjelten, nicht blog mit einer frommen Gemeinſchaft zu tun hat.

2) Kaftan, Das Wefen der Hriftfichen Religion, ©. 5.

%) Darauf kommt auch Laffon Hinaus: „Über Gegenſtand und Behand- Kungsart der Religionsphilofophie*.

3) Wie Pfleiderer in feiner „Religionsphilofophie” mit Recht hervor · Gebt (&. 807 f). Über die pſhchologiſche Methode vgl. Dorner, Yahrbüder f. deutſche Theologie XXL, 177.

Über das Weſen der Religion. 219

Bedarf Hierin die rein Hiftorifche Methode einer Ergänzung durch die pſychologiſche, fo zeigt fie nach anderer Seite hin einen Mangel, den auch die pſychologiſche Methode nicht ergänzen Tann. Sollen nur „die Merkmale abfteahiert werden, welche allen Relie gionen gemeinfam find“, um das Wefen der Religion aufzufinden, fo thut man, als ob alle Religionen einander gleichgeftellt wären. Hier ift der der Geſchichte eigentümfiche Charakter der Entwicklung völlig außeracht gelaffen. Ein fehr wefentliches Merkmal der Religion ann in einer niedrig ftehenden Religion in völlig verfrüppelter Geſtalt vorlommen. So wird man dann gerade das, was durch die Entwicklung erft als Moment der wahren Religion fich heraus⸗ geſtellt Hat, nit als zum Wefen der Religion gehörig anfehen Lönnen. Betrachtet man alle Religionen als gleichberechtigt und abftrahiert aus ihnen einen Allgemeinbegriff, fo ergiebt ſich ein negativ-abftrafter Begriff der Religion, mit dem man wenig an⸗ fangen Tann 2). Gerade die fonfreten Elemente muß man dann als nicht zum Wefen der Religion gehörig anfehen, weil diefe in den verfihtedenen Religionen ſehr verſchieden find). Man muß

3) Zu dieſer Beziehung if Herbert Spencer Intereffant, der ſchließlich bei ähuficher Methode als Weſen der Religion nur das Bewußtfein von der Tetsten unbefaunten Urſache anerfennt. (Bol. „Grundlagen ber Philoſophie“, ©. 1-46. 97—122.) Der Mafftab für die Beurteilung der Religion wäre Hier fchießlich bie Megation alles Kontreten. Die Vollendung ber Religion wäre bier der Rückgang auf ein unbeflimmtes Gefühl von einem höchſten Sen, womit ſich übrigens eine empiriſtiſche Anerkennung ber gegebenen Refigionsform als vorübergehende Borftufe verbinden Tiefe.

2) Wie inbezug anf das Verhaltnis ber Giftorifchen Methode zur pſycho logiſchen, fo befindet fid; Kaftan auch in einigem Dunkel über feine hiſtoriſche Methode ſelbſt. Einmal feeint er mad; Art H. Spencers auf dem Wege ber Abftraftion der allen Religionen gemeinfamen Merkmale das Weſen ber Re figion feſtſtellen zu wollen. Allein im vichtigen Gefühl bes Ungenügenben dieſer Methode ſucht es Remeburen anzubringen. Er bemerkt nämlich, bie Erſchei-⸗ nangen auf dem Naturgeblete laſſen Gleichförmigkeit zu, Dagegen werbe „das den Religionen gemeinſame Merkmal je nad rt der beſtimmden Religion einen ganz anderen Inhalt gewinnen“ (©. 7). MWllein dem iſt entgegemu- halten, baß in dem Maße, als man auf diefen befonderen Juhalt Wert legt, jener Allgemeinbegriff der Religion ihr Weſen nicht ausdruct. Drüdt er aber das Weſen aus, fo ift das Spezififche untergeordneter Art. Gehe ich

22 Dorner

alfo die Hiftorifche Entwickelung berlicfichtigen, Tann dann aber nicht gleicherweife ans dem Derfrüppelten oder Unentwidelten, wie aus dem Entwidelten das Weſen der Religion erkennen wollen 9). Damit find wir auf die ſpekulativ⸗genetiſche Methode gewieſen.

recht, fo tendiert er dahin, der empiriſtiſchen Exkenntnistheorie entſprechend an- zunehmen, daß die erfennende Vernunft nur ganz unbeſtimmte, abgeblaßte AL- gemeinbegriffe bilden könne. Dadurch fol das Konkrete, alſo auch die konkrete Offenbarung, als das eigentlich Wertvolle Hingeftellt werden. Und da es feinen Idealbegriff, ſondern nur einen abſtrakten Allgemeinbegriff der Religion giebt, fo Tann man auch nicht an bemfelben meffen, inwieweit eine pofitive Religion demfelben entfpricht. Man Hat dann einfach; die pofitive Religion als Offen- barung zu acceptieren, gerät aber, um das Schredgeipenft für die Schufe, von der Kaftan ausgeht, den Nationalismus, zu vermeiden, in reinen Poſitivismus und willfüclihen Autoritätsglauben. Dabei will Kaftan aber auch nicht bleiben. Bielmehr tritt anderſeits ſehr deutlich der Gebanfe hervor, daß der Fortſchritt der Religionen von dem Fortſchritt der Kultur abhängt. So werben die Religionen, welche eine Höhere Kulturentwidelung vorausſetzen, für bie Höheren gehalten. Allein Hiermit wird als der Maßſtab, nad; dem die Re— Tigionen beurteilt werden, die Kultur angefehen. Damit fällt er aber gänzlich aus der Rolle pofitivififdier Offenbarungsgläubigkeit. WIN man einerfeits Teugnen, daß es einen konkreten Idealbegriff der Religion giebt, an dem man die Religionen mißt, umd anderſeits doch wieber nicht vein einpiriſtiſch einer beliebigen Religion zufällig den Borzug geben, fo kann der Mafiftab, nad dem die Religionen gemefjen werben, nicht das Weſen ber Religion, fondern nur etwas außer der Religion Liegendes fein, das Berhältuis derfelben zur Kul- tur, zur Sittlichfeit, die Art und Weife, wie fie das Streben nad; Eudämonie befriedigt, das aber felbft von dem Kulturzuftand abhängt. (Bgl. 3. B. ©. 70.) Da wird bie Religion nad; einem fremden Maßſtab gemeſſen. Nicht ale ob nicht Höhere Religionen, befonders das Ehriftentum, eine beftimmte Kulturſtufe vorausſetzten, nur Tann der Maßſtab für den Wert einer Religion nicht im der ihr entſprechenden Kultur Tiegen. So ift Kaftan teils empiriftifch-fkeptifch, fo- fern er der Vernunft die Fähigkeit, Idealbegriffe zu bilden, abſpricht, teils pofitiviftifch autoritätsgläubig, teils rationaliſtiſch, foweit er die Kultur zum Maßſtab für die Beurteilung der Religion macht. Seine hiſtoriſche Methode ſcheint bald darauf gerichtet, aus allen gegebenen Religionen einen abſtrakten Allgemeinbegriff zu bilden und biefen durch eine konkrete pofitiviftifche Aner- kennung einer beflimmten Religion zu ergänzen, bald darauf, auch der Hifto- riſchen Entwidelung gerecht zu werden und dann bie Religionen nad) dem ihnen entſprechenden Kulturzuftand zu ſchätzen, von dem es abhängt, melden Gütern die Religion dienen foll.

ı) May Müller bezeichnet zwar als den für alle Religionen gleichmäßig

Über das Weſen der Keligion. 21

Auf die geſchichtliche Entwicelung hat befanntlich die Methode der Hegelfchen Religionsphilofophie fehon großes Gewicht gelegt, welche die hiftorifchen Religionen als Stufen in dem Prozeß des religiöfen Bewußtſeins erfaßt Hat. Unter ben Neueren ſchließt ſich Pfleidverer am meiften diefer Methode an. Er empfiehlt die „genetiſch fpefulative" Methode, welche aus der Entwickelung bes Vrozeſſes felbft das Weſen der Religion erkennt, indem man „zus ſchaut, wie in der objektiven Logik der Gefchichte der religiöfe Geiſt der Menfchheit am fich felbft den Prozeß der dinlektifchen Reinigung der Wahrheit durchgemacht habe“ *). Diefe Methode hat zur Vor⸗ ausfegung, daß die Entwidelung einem Seal zuftrebe, das fi am Schluß Herausftellt und als Reſultat des Prozeſſes wirklich wird, und nad welchem alle Stadien der Entwickelung des reli⸗ giöfen Bewußtſeins abgefchägt werden. In der Anerkennung diefes den Prozeß bejtimmenden Ideals Tiegt das fpefulativsteleologifche Moment. Das Bedenken, das fidh hier erhebt, ift dies, daß diefe Methode nur unter der Vorausfegung möglich ift, daß der ger famte Prozeß nach Art eines, wenn auch teleofogifchen, Naturpros zeſſes mit Logifcher Notwendigkeit verläuft, fo daß alles Wirkliche als vernünftig an feinem Ort gift. Hier ift zwar ein Ideal der Religion anerkannt, und das ift dem Empirismus gegenüber ein großer Fortſchritt. Allein vollkommen ift doch auch hier der Ge⸗ danke des Ideals nicht durchgeführt. Daß es auch für die reli« giöfe Entwidelung felbft möglicherweife ein Ideal geben konne, wird nicht in Rechnung gezogen. Streng genommen fegt biefe Methode voraus, daß es Feine religiöfen DVerirrungen gebe, da

geltenden Begriff der Religion bie Wahrnehmung des Unendlichen. Allein in« bem er zugleich die „Biftorifche Enttwidelung ber Wahrnehmung des Unend- lichen“ betont (vgl. „Borkefungen über den Urfprung der Religion“, S. 36), alfo die Bedeutung des hiſtoriſchen Prozeſſes anerfennt, wird fein Religions - begriff doch zu einem Idealbegriff, den er nicht überall, fondern nur auf deu höchſten Stufen der Entwicelung vollfommen tealifiert findet, den er, metho- diſch amgefehen, als Mafftab der Beurteilung verwenden kann. Eben daher Tann er einen Fortſchritt anerkennen, tie er denfelben im Verlauf der indiſchen Religion nachweiſt, und einen Berfall, den er im Fetiſchismus ficht.

2) Bgl. a. a. O., ©. 309. Methodiſch ähnlich Hartmann, Das re Kigiöfe Bewußtſein der Menſchheit, foweit er nicht Peſſimiſt ift.

m Dorner

dieſelben als Durchgangspunkte fir ebenfo logiſch notwendig, alfo vernünftig gehalten werben, wie die normalen Entwickelungen. Ein Unterfchied zwifhen dem, was fein fol und was ift, wird bier für die Entwickelung nicht gemacht; empiriſch ift beides gleich gegeben, das Verkehrte wie das Gute, nur daß das Ber kehrte durch logiſche Notwendigkeit ſich felbft anfhebt, aber freilich durch diefelbe Togifche Notwendigkeit, mit der es auch geworben ift.

Es ift daher nicht zu veriwundern, wenn noch eine fpekulative Methode vertreten iſt, welche im wefentlichen ohne Niückficht auf die geſchichtliche Entwickelung das Ideal der Religion darſtellt oder die Religion ihrem Wahrheitögehalt nad) fpefulativ zur Dars ftellung bringen will. Das erfte Hat auf feine Weife Schleier- macher in feiner Ethik verſucht; Loge in feiner Religionsphiloſophie verfucht das letztere ). Bon bdiefem deal oder von dem Wahr- heitsgehalt der Religion aus Kann dann kritiſch die Hiftorifche Ent- wickelung der Religion betrachtet werben, ohne daß man gerade die letztere fir die einzig mögliche, notwendige Entwickelung erflärt.

Faſſen wir das Refultat zufammen, fo fordert die „hiſtoriſche“ Methode zur Ergänzung die „pfychologiſche“. Beide genügen nicht, weil beide das Weſen der Religion nicht zur vollen Erkenntnis bringen, da bie letztere bei der bloßen Subjeltivität ftehen bleibt und die Religion gegen den Verdacht bloßer Illuſion nicht ſchützen fan, die erftere aber als bloß hiftorifch vergleichende Religions wiſſenſchaft völfig des Maßftabes entbehrt, um ben Wert der ver- ſchiedenen Religionen zu beurteilen und das Ideal der Religion zu finden, und noch dazu mit ihrer bloß Hiftorifchen Betrachtung über die Wahrheit des religidfen Inhaltes auch nichts auszufagen weiß). Sie welfen deshalb auf die fpefulative Methode Hin. Wenn es Aufgabe der geſchichtlichen und pfychologifchen Methode ift, den religiöfen Thatbeſtand feftzuftellen, ohne das Weſen der Religion völlig zu begreifen, fo ift es vielmehr die Aufgabe der Religionsphiloſophie als fpefulativ-kritifcher, diefen gegebenen Thatber

2) Bol. Loge, Grundzüge der Religtonsphilofophie, $ 1. 2) Bgl. Loge a. a. O., ©. 1: „Die Entfichungsgefchichte einer Bor- ftellungsmeife kann mie über deren Richtigkeit enticheiden“.

Über das Weſen der Religion. 228

ftand von dem Idealbegriff der Religion aus (mie diefer aud ge» wonnen werde) zu beurteilen und, ſoweit es möglich, ſpekulativ⸗ genetifch zu begreifen, ohne den empirifchen Verlauf des Prozeſſes mit dem normalen Verlauf ohne weiteres zu identifizieren (mas empiriſtiſch fein wide). Doc wir haben fchon zu lange bei der Methode verweilt, die ſich doch immer erft in der Anwendung zu bewähren pflegt. Betrachten wir daher die hauptſächlichſten Auf⸗ faſſungen vom Wefen der Religion in der Gegenwart!

b) Berfhiedene Auffaffungen des Wefens der Religion.

Dem Zug ber neueren Zeit ift es durchaus entjprechend, daß man die Religion auf rein immanentem Wege zu erflären fucht. Dem immanenten Wege ftehen die Auffaffungen entgegen, welde zugleich die Tranfcendenz anerkennen. Betrachten wir zuerft die auf die immanente Auffafjung zurüdgehenden Anfichten! Auf immanentem ?) Wege Tann man die Religion entweder fo erffären wollen, daß man auf die fubjeftive Seite fieht (mag man dabei immerhin auch die Gemeinſchaft der Subjelte und die gefchichtliche Entwidelung der Religion betonen) oder fo daß man bie obs jeftive Immanenz Gottes in der Welt anerfennt und von da aus die Religion zu verftehen fucht. Wir rechnen daher zu den Vers fuchen, die Religion auf immanentem Wege d. 5. nur aus dem in der Welt gegebenen Zufammenhange zu verftehen ſowohl die, welche die Religion nur von dem Subjeft aus zu erklären ſuchen, mögen fie dabei auch zugeben, daß wir uns Gott in theiftifcher Weife vorstellen, ohne freilich feine objektive Exiftenz erkennen zu können, als aud die, welche die Religion aus der objektiven Im⸗

4) Das Wort „Immanent”, auf immanentem Wege die Religion erklären, wirb bier im etwas umfafjenberem Sinne genommen als gewöhnlich; es be» deutet nicht bloß auf pantheiſtiſchem Wege, fondern überhaupt nur aus Ur ſachen, welde fid in der Welt finden, bie Religion erllären. „Im manent” alſo ift Hier gleichbedeutend mit: „jede tranfcendente außerweltliche Urfade für die Erklärung der Religion anschließend“. Bol. auch Euden, Geſchichte u. Kritil der Grundbegriffe der Gegenwart. „Immanent (kosmiſch)“, S. 79—%.

24 Dorner

manenz Gottes in der Welt ableiten wollen. Wir betrachten zu⸗ erft jene anthropologiftifchen Verſuche. Diefe Können teils auf die natürliche, eudämonifche, teils auf die moraliſche Seite des Sub jelts zurückgehen.

Beginnen wir mit den erſteren, welche ſich mehr an bie eu⸗ dämonifche Seite Halten!

Wie ſtark das naturaliftifche Bewußtſein die Zeit erfüllt, ift befannt. Zu verwundern ift e8 daher nicht, wenn wir nicht bloß in der Methode der Erforfhung die Religion nach Art eines Natur- objekts unterfucht finden, fondern auch Verſuche mannigfaltiger Art ſich zeigen, die Religion auf dem empirischen Wege aus dem der Seele innewohnenden Trieben zu erklären. Der Prototyp für diefe Verſuche ift Feuerbach 1), an den fie mehr oder weniger anlehnen. Nah ihm ftellt fi der Menſch mit feinen Wünfchen ber Natur gegenüber, von der er ſich abhängig weiß, und zwar fo, daß er, um fih ihr gegenüber mit feinen Wünfchen zu behaupten, Wefen profiziert, welche über die Naturgegenftände oder über die ganze Natur die Herrſchaft Haben, auf die er Einfluß ausüben zu können glaubt, um vermittel derfelben die Naturhinderniffe zu überwinden. Die Religion entfpringt Hier alfo dem Triebe nad Eudämonie und ift rein ſubjektiver Art. Ich vermag nicht zu fehen, daß, wenn die Erhebung über die Natur als das Motiv der Religion bei Lipfius) angegeben, und wenn zugleich eine objektive Erkenntnis Gottes geleugnet wird, daß Hiermit diefe Gedankenlinie weſentlich überfchritten fei. Der Skeptiker Lange, deſſen Skepſis auf feiner empieiftifchen Erfenntnistheorie ruht, läßt der Religion belanntlich auch nur eine Stelle im Reiche der Phantafte, welche einem Ber durfnis ihrer Natur gemäß dichtend die Grenzen unferer Erkennt nis überſchreitet. Soll die Religion Tediglich der Erhebung über die Natur dienen, fo ift eine abfolute Gottheit anzunehmen über: flüffig, da Gott immer nur mächtiger zu fein braucht als die ber ftimmte Natur, von ber wir beftimmte Dienfte erwarten, damit

1) Bgl. „Über das Wefen der Religion”, „Über Philofophie und Ehriften- tum“, „Über den Unterfchied chriſtlichet und Heibnifcher Menfcpenvergötterung“. 2) Bol. befonders fein „Lehrbuch der Dogmatit“, $ 21.

Über das Wefen der Religion. 22

er die Macht habe, fie zu veranlafjen, uns zu dienen, oder wenigjtens uns von ber Natur unabhängig zu ftellen. Mag aud) diefer Ger danke eine edlfere Form annehmen, indem man die Religion auf das Bedürfnis des Menfchen nad Troft im Leib 2c. zurückführt und fie als die Troftfpenderin in Not preift u. f. w., es bleibt der Grundzug immer derfelbe: Die Gottheit wird vom Subjekt projiziert oder poftuliert, damit durch Gott das Subjekt in feinem höheren ober niederen Wohljein gefördert werde. Im Prinzip differiert Hiervon auch nicht die Auffaffung Kaftans. Auch er ſchließt fih dem Sag an. „Wie die Wünfche der Menfchen, fo ihre Götter.“ 1) Ausdrüdlic bemerkt er, wie der Buddhismus beweife, daß in der Religion etwas anderes weſentlicher fei als der Gottes- glaube, es komme nämlich an auf die Wertbeurteilung der Welt ?); gegen Max Müller bemerkt er, daß es ſich in der Religion primo loco nicht um Wahrnehmung, um theoretifche Erkenntnis Handle, fondern um Werturteil und zwar aud nicht um ein moralifhes Soll, fondern um das natürliche Werturteil, das fi auf die Förderung des Lebens beziehe. Der in der Welt nicht befriedigte Anſpruch auf Leben fei das Motiv der Religion (S. 60f.), und es Hänge nun von der jeweiligen Entwicelungsftufe ab, ob dasfelbe in irdifchen Gütern, die mit Hilfe der Gottheit erlangt werden, oder in einem überirdifchen Gut, im myſtiſchen Genuß der Gottheit als Nichtwelt, oder in den fittlichen Gütern, welche unferem Wohl, Genuß dienen, und welche die Gottheit garantieren foll, gefunden werde. In der Religion foll die Gottheit dazu dienen den Lebenstrieb des Subjekts zu ber friedigen. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten zu zeigen, wie durch diefe Beftimmung am Ende das ſittliche Leben in ben Dienft der Eudämonie geftellt und die Sittlichfeit, wenn auch In verfeinerter Weife, in dem letzten Motiv egoiftifch beftimmt wird °).

U a. O., S. 66f. 96f. 108.

2) A. a. O., ©. 40. 41. Es verſchlägt nichts, wenn er ſpäter dieſe dha- ralteriſtiſchen Säte mobifiziert.

8) Es iſt nicht zu vermundern, wenn Kaftau mindeftens den Schein nicht vermeidet, als ob er doch auch das fittliche Soll, das er anerkennen will, in letzter Imftanz aus dem Lebenstriebe als fozialem ableiten wollte. S. 158;

22 Dorner

Es kommt uns bier vielmehr darauf an, doß jo die Religion gänzlich in den Dienft des Subjelts tritt, da bo in der That nicht die Gemeinschaft der Subjekte, fondern nur jedes eingelne Sub⸗ jeft diefen Lebensgenuß empfinden will und empfinden kaun 2), Wenn nun Kaftan Lipfius gegenüber betont, dag der Gottes⸗ glanbe und die Gotteserfenntnis objektiv fei (ugl. ©. 111. 114), fo ift das zwar gut gemeint, aber fehwerlich gemligend begründet. Denn wenn das praftifche Motiv des Glaubens nur Erhöhung des Lebensgenuffes ift, fo Bann daraus, daf wir unjeren jedes⸗

Der Beftand der Güter, um die es ſich handelt, hängt Teimeswege von der Erfühung der eutſprechenden ſittlichen Forderungen in jedem einzeluen Fall ab. Jeder kommt in Lagen, wo er das Gebot umgehen kann, ohne daß dadurd für ihm ber Genuß jener Güter fraglich wird, welde im großen und ganzen allerdings an bie Erfüllung der fittlichen Forderungen ger bunden find. Eben dieſe indirekte Beziehung zum Gut läßt Raum für das fittliche Gebot, das um fein felbft willen gelten will, und durch hefien An - eignung das Gewiffen eutſteht. Darin wurzelt das Sollen im Unterſchied dom Mögen wie von allen Marimen ber Klugheit.” Wenn ich recht fehe, wird Hier das Sittengebot auch auf den Trieb zum Leben zurücgeführt. Denn es beruht darauf, daß bei näherer Überlegung doch ſchließlich der in bie begeichnete Lage Hineingeftellte erkennt, daß er, wenn auch nicht unmittelbar, fo doch mittelbar durch ein dem „Sol“ entgegengejeistes Handeln der Cudämouie ſchade. Das Soll ſcheint alfo lehlich durch die Eubämonie beſtimunt zu fein. Das iſt Ähnlich, wie Strauß im „Alten und neuen Glauben“ ausführt (S. 233f.), daß duch Erfahrung der Menſch dahin komme, zu erkennen, daß es feine Pflicht fei, als Einzelner auch ba, wo er nicht unmittelbaren Vorteil fieht, dem Ganzen zu dienen, weil er merkt, baß er fo in Wahrheit doch für die Endämonie am beften ſorgt.

2) Scheint es eine Zeit lang, als ob er der Religion eine ſelbſtändige Stellung gegenüber der Moral geben wollte, indem er als Motiv der Religion den in der Melt nicht befriebigten Anſpruch auf Leben Kinftellt, und „das mit Ehrifto in Gott verborgene Leben der Seele”, alſo eine, wenn auch Gott zum Genußmittel machende Myſtik auſtrebt (S. 76), fo wird dieſer Anſatz durch die fpäteren Ausführungen wieder aufgehoben, nach denen Gott weſentlich zur Erlangung der fittlichen Güter dient (©. 167f.), die zwar überweltlich genannt werben, in Wahrheit aber nur übernatärlich genannt werden können amd am Eude, da es fid doch Hier in letzter Inſtanz nur um Lebensgenuß, um Wohl umd Wehe Handelt, doch auch wieber nach feiner eigenen Definition natürlich (im Unterſchied vom Sittlichen) genannt werden mäffen (ogl. &. 68).

Über das Weſen der Religion. 2a

maligen Wünfcgen entſprechend einen- biefe befriebigenden Gott vor» ftellen auf die Objektinität Gottes ſchlechterdings kein Schluß ger macht werden. Denn der Sat, daß, wer Gott deshalb annehme, damit er irgendwie fein Leben fürdere, aud an in als objektiven glauben muſſe, ift an fich Lediglich pſychologiſch; er zeigt, daß es aller- dings im Intereſſe der Religion Liegen muß, einen objektiven Gottes: glauben zu haben; aber aus biefer pſychelogiſchen Begründung folgt nichts mehr als Offenbarung im Lipfinsfchen Sinne. Es ift äußerft harakteriftifch und bezeichnet bie aus der empirifchen Erfenntnißr theorie fommenbe Furcht vor jeder Metaphyſik, daß Kaftan die ſchlechthinnige Abhängigkeit von Gott nicht als das objektive Funda⸗ ment der Religion aufieht. Vielmehr zeige diefe Abhängigkeit fich immer nur in einem Gefühl mangelnder Lebeusbefriedigung: d. h. das Abhängigfeitögefühl ift mach ihm ein rein ſubjeltives Gefühl, das immer nur auf unfer Wohl und Wehe bezogen wird; er fommt nicht darüber hinaus, Gott Tediglih in den Dienft der Eudämonie des Subjekts zu ftellen. Bon einem wirklich objektiven Gottesgefühl Tann aber nur bei ſchlechthinniger Abhängigkeit die Rede fein. Sollte wirklich Ernft gemacht werden mit der Objektivität Gottes, fo mußte gezeigt werben, wie unfere Bedürftigkeit ald Beweis für unſere objektive Abhängigkeit von ®att fich verwenden laſſe. Aber das wird nicht gejagt. Vielmehr bleibt der letzte Gedanle auch hier nur die Erhebung des Subjelts über die Abhängigkeit von der Natur, überhanpt über bie feinem Lebenstriebe entgegenfschenden Hinder⸗ niffe mittels der Worftellung von Gott. Daß Schleiermacher bie Raufalität Gottes?) anerkennt, in der wirklich Gott objektiv anfgefaßt wird, wird getadelt. Man mag hiernach bemeffen, was es mit diefer Objektivität der Gotteserfenntnis auf fich Hat.

Die Theorie über die Religion, welche Kaftan aufftellt, kommt über einen fubjeltiviftifchen Eudämonismus kaum hinaus, mag anch in eoncreto viel Gutes und Schönes über das Chriftentum ge- ſagt werben, freilich ohne fteifte Konfequenz *). Es ift notwendig

6. 118. %) Bielen mag «8 genügen, wenn ein theologiſcher Schriftſteller Schließlich nur zu „pofitiven“, womöglich volltommen kirchlichen Refaltaten ſich bekennt,

28 Dorner

darauf Hinzumeifen, welche Gefahr in diefer Theorie Tiegt, welde in legter Inftanz das Subjelt auf den Thron erhebt, jo daß ihm aud Gott dienen muß; je weniger dies die betreffenden Ver⸗ treter völlig zu durchſchauen feinen, um fo nötiger ift es, dies hervorzuheben, daß, mag das Subjeft noch fo große Opfer bringen, der Iegte Zwed immer nur ift, Gott zum Mittel für die Be friedigung des Lebensgefühls zu machen ?).

Trotz alledem ſprechen wir biefer Theorie nicht alle Wahrheit ab. Wie Kant bemerkt, daß der Widerftreit der natürlichen Triebe die Vernuft veranfaffe, als Schiedsrichterin hervorzutreten, fo ift auch das Verhältnis des Menſchen zur Natur die Beranlaffung für das Auftauchen des religiöfen Bewußtſeins. Uber fo verkehrt es wäre zu behaupten, das fittliche Leben fei nichts als der all» mähliche Ausgleich der verſchiedenen Triebe auf natürlichem Wege, und die jelbftändig wirkende praktiſche Vernunft zu leugnen, fo verkehrt ift die Behauptung, das Wefen der Religion gehe darin auf, Lebensbefriedigung zu ſuchen. Wir ftellen nicht in Abrede, dag mit der religibſen Erfahrung ein Gefühl der Lebenserhöhung gegeben fei; aber wir leugnen und diefe Leugnung ift jpäter pofitiv zu begründen —, daß die Religion darin aufgehe, Mittel für das Wohlbefinden des Subjekts zu fein. Wenn Frömmigkeit eine Tugend ift, ift fie auch Pflicht und nicht bloß nüglich, fon- dern vernünftig und in ſich wertvoll.

Gegenüber diefen an Feuerbach erinnernden Anſichten über das Weſen der Religion, giebt e8 eine andere Auffafjung, welche eben»

gleichgültig, wie gut oder ſchlecht diefelben wiffenfchaftfich begründet feien. Allein derartige Urteile entwerten bie Wiſſenſchaft im ſcheinbaren Intereffe der finde lichen Praxis. Bol. 3. B. das Urteil im „Beweis des Glaubens” (Januar 1882), wo Kaftan gelobt wird, „weil er entſchieden Pofition nimmt gegen Pfleiderer, Lipfins, Schweizer ꝛc.“ und „bie Perfönlickeit Gottes betont“. Wo bfeibt denn aber die Begründung einer folchen otteserfenntmis?

1) Die ſchlagende Kritit Schleiermadjers gegen allen Eudämonismus grober und feiner Art in feinen Grundlinien der Kritik der bisherigen Sittenlehre verdient mehr Beachtung, als fie augenbliclich findet (S. 78-91), das um jo mehr, als Schleiermacher inbezug anf die Eubämonie von dem Kantifchen Rigorismus fern iſt.

Über das Weſen der Religion. 9

falls von dem Subjeft ausgeht, aber nicht an die eudämoniſche Seite des Subjelts den Religionsbegriff anfchliegt, fondern an die moraliſche. Sie wird im Anflug an Kant vielfach vertreten, indes micht ohne bedenkliche Einfeitigkeiten. Es ift hier das Be⸗ wußtfein des Sittengejeges, an das angelnüpft wird. Das Sitte liche ift übernatürlih, „überweltlich“; man erhebt fid) durch das fittlihe Bewußtſein über die Natur; als Grundfag wird hier die Unterfheidung zwifchen dem moralifchen und dem Natur Erkennen aufgeftellt, und es ift Axiom, daß jedes metaphufiiche Er- Tennen durchaus naturartig fei. Das Auszeichneude des Moralifchen fol fein, daß es fi hier um Werte handle, während das andere Erkennen gegen allen Wert vollkommen gleichgültig ſei. Das Moraliſche Hat in der Vorftellung des Subjekts Allgemeingüftige Teit und dem entfprehenden Wert. Diefes Moralifche wird num in der Religion als Gottes Wille aufgefaßt, und es ift darafte- riſtiſch für diefen Neufantianismus, daß wir auf feine Weife als durch die Vermittelung des moraliſchen Bewußtſeins mit Gott ſollen zu thun haben. Der Inhalt der Religion läuft zurück auf Wertbeurteilung der Welt, feiner ſelbſt, und auf moraliſches Handeln. Gott ift Hier nur durch die Vermittelung des moralifchen Bewußtſeins als der Hort des Moralifcen erfaßt. Religion ruht Hier durchaus auf der Altion des moralifchen Subjekts. Es beurteilt die Welt von dem Gefichtspunft des Reiches Gottes aus, d. h. von ber Liebesgemeinfchaft der Menfchen aus, in der Gott feinen Selbftzweck fieht, bie religiös als Gottes Bolt vorgeftellt wird; es beurteilt ſich felbft als Glied diefes Reiches, dag es mehr wert fei mals bie ganze Welt“ (deutlicher: als die Natur). Bon diefem Be⸗ wußtfein wird da, wo wir nicht Handeln Können, Gott als die Bor» fehung vorgeftelit, welche alles zum Ziel Leitet, und es ergeben fich hier neben den moralifchen Tugenden religiöfe Tugenden (befonders Demut), die eben in der Anerkennung der Vorſehung gipfeln, aljo wieder in der Aktion des Subjefts, durch die wir uns über den empirifchen Weltlauf erheben, indem Gott hier als der vorgeftelft wird, welcher das moraliſche Reich zum Ziele führt. Hier ift alle Moftit ausgefchloffen. Der Widerſpruch zwiſchen der fittlichen Beftimmung des Menſchen und feiner Unterwerfung unter die Ges Tieol. End. Yahıg. zuss. 16

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fee der Sinnenwelt ift da8 Motiv der Religion. Gott wird bier zuhilfe gerufen, damit der Menſch mit Hilfe der Gottesidee fih über diefen Widerſpruch erheben könne ?).

Unfer Bedenken gegen diefe Auffaſſung richtet fich zunächft darauf, daß Gott Hier kaum mehr als Hilfsmittel für die Moral ift; der Standpunkt ift durch und durch anthropologiftiih. Eben daher ſchreibt fich die beharrliche Ablehnung aller Metapkufit. Gottes Sein an fi ſoll mindeftens nicht erkennbar fein. Wiſſenſchaftlich amgefehen iſt er eine Hypotheſe ). Hier tritt die Religion ale Hiffemittel der Moral auf; Gott ift wieder im Dienft des Menſchen, fein „Selbſt zweck“ ift fein Reich. Natürlich! denn e6 Handelt fi nit um Gott jelbft, fondern um Gott als Poſtulat im Dienfte der Moral! Und welcher Moral! Einer überwiegend negativen, einer Moral, deren Einfeitigfeit Schleiermacher in feiner Kriti der Sittenlehre ſchon gründlich offenbart hat, einer Moral, welche ſich nicht der Natur bedienen, fondern nur über fie er- heben will, welche die Natur als etwas für das Sittliche völlig Gleichgultiges wenn nicht Schaͤdliches Hinftellt, wie die Natur erkenntwis ®). Wenn man nachträglich doch wieder Anfäge macht, die Natar pofitiv dem Geifte unterzuordnen und in feinen Dienft zu fielen, fo ift das ein Poftulat, das die Prämiſſen fchlägt. Dam nichts ift Harer als daß, wenn man alle Metaphufit für die Ethik abthun will, man auch gar nicht mehr imftanbe ift, die Natur und den moraliſchen Geift in em pofitives Verhältnis zu einander zu fegen. Es tt eben Hier eine boppelte Vorftellung von dem Berhältnis von Natur und Moral: einmal find beide im Widerſpruch mit einander, bie Natur Hemmuis des Geiftes,

1) Befonders deutlich if im Anſchluß an Kant diefer Standpunkt durch- geführt von Herrmann, Die Religion im Verhältnis zum Welterfennen und zur Sittlichteit.

2) Bgl. Ritſchl, Die chriſliche Lehre von ber Rechtfertigung und Ber- fügwung, Bd. HI, $ 29.

) Das Evangelium ber armen Seele vertritt in einer dualiſtiſch gefärbten Myſtik einen ähnlichen Standpunkt. Gott hat mit der Natur nichts zu ſchaffen; wir Können uns zu ihm erheben, um un® von der Liebe des göttlichen Geiſtes beleben zu laſſen.

Über das Weſen ber Kefiglon. 21

daraus ergiebt ſith eine negative Ethik; das andere Mal erinnert man ſich, baß doch Kant bei diefem Widerfpruc fi nicht wohl gefühlt hat, und ſucht der Kritik der Urteilskraft entſprechend 1) doch wieder, wenn auch zögernd, ein pofitives Verhältnis Herzuftellen, indem man nachträglich die Allmacht Gottes und die Benügung der Notur zugefteht 2). Es ift, wenn man dasfelbe nach der Kategoriech- lehre ausdrüdt, wie Weiß ®) mit vollem Recht Hervorgehoben hat, ein Dualismus zwiſchen der causa efficiens und der causa finalis, „zwiſchen der Ontologie und der Teleologie“, angenommen, der ſich daher fchreibt, daß man diefe causa finalis auf ein ſub⸗ jeftives Werturteil reduziert und ihr wohl Allgemeingältigkeit in der Vorftellung des Subjelts zuſchreibt, aber nicht objektive All⸗ gemeingftigfeit; in letzterem Galle müßte fie felbft als eine zugleich metaphyfifche Große betrachtet werden. Wertvoli wird immer in dem Sinne genommen: für das Urteil des Subjekts wertvoll. Allein died müffen wir beftreiten. Wenn die Hegeliche Phildſophie den Wert vom allem nur darin jah, ein Moment der Idee zur Darftellung zu bringen ohne Rüdficht auf das Wohl des Subjefts zu neben, fo ift Lotze, dem fich die bezeichneten theologiſchen Moratiften Hierin anzufchliegen feheinen, in der Vertretung der Ab⸗ Hängigfeit des Wertbegrifjes von dem Werturteil des Subjekts (das doch immer nur als Luſtgefühl ſich Tundgeben kann) wieder ein- feitig geworden. Das Moraliſche ift nicht Bloß für das Subjekt und fein Urteil wertvoll, fondern e8 ift eine in fi notwendige, ſchlechthin vernünftige Idee, melde Realifierung fordert. Dieſer Punkt ift außerordentlich wichtig. Für Kant hatte, wie befonders Harms betont, die ptaktiſche Vernunft die Bedeutung des wahren Dinge an fi. Das moralifche Geſetz war für ihn nicht bloß ein von dem Subjekt als allgemeingültig worgeftefltes, fondern ein ſchlechthin für alle Vernunft geltendes, durchaus un.

3) Bel. Harms, Die Philofophie feit Kant, ©. 268f. 3) Wie Herrmann am Schluß feiner Arbeit zugiebt (S. 445), vgl auch Ritſchl M, 192. ) „Uber das Weſen des perfönliien Chriftenſtandes“ in dieſer Zeitſchrift 1881, ©. 387. 393f. 396. 16*

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bebingtes und die Freiheit war ihm eine volle Realität. Hingegen n dem Neufantianismus wirb das Werturteil als ein fubjektives bezeichnet und droht auf das Niveau eines pfychologifchen Vorgangs herabgedrüct zu werden. Denn fonft wäre die Oppofition gegen alle Verbindung der Moral mit der Metaphufit, d. h. doch ihres Übergreifens über den bloß fubjektiven Zuftand hinaus nicht eine fo energifche. Eben Hierdurch aber droht die Unbedingtheit des Moralifchen in Frage geftellt zu werden. Es ift fr das Subjekt wertvoll, weil es dasjelbe über die Natur erhebt, weil es ihm das Bewußtſein von feinem Werte verleiht, und dies Bewußtſein ift in der That fehr angenehm. Hierin aber ift ſchon Kant gegen- über ein eudämoniſtiſches Element enthalten. Für dieſe Schule ift es harakteriftiich, daß Gott fo vorgeftellt wird, daß er einfach das Abweichen von dem GSittengefege verzeiht; es ift das Bewußtſein von dem abfoluten Wert des fittfich Guten Hier gebeugt. Wenn nicht Gott den Menſchen, die das Gute verlegen, zurnt, fo be trachtet er das Gute nicht als ein unbedingt wertvolles oder viel- mehr, wenn Gott fo vorgeftellt wird im Intereſſe der Moral, fo ift das moralifche Gute nichts fehlechthin Heiliges, Unverleg- liches, unbedingt Wertvolles; daß das Abweichen von dem Geſetz als etwas Verzeihliches angefehen werden kann, ift dann wohl verftändlih, wenn die Moral in Wahrheit nur Mittel für die Eudämonte ?) ift. Denn dann fann ihre DVerlegung nicht eine Schädigung der Eudämonie zur Folge Haben, der doch die Moral nur dient. Wenn das auch nicht klar ausgeſprochen ift, fo ift doch die Vernachläſſigung des abſolut wertvollen Charakters des Sitt- lichen, die fih Kant ®) bekanntlich nicht Hat zufchulden kommen Taffen, ein Zeichen davon, daß die Moral, von der Hier geredet wird, ihren abfoluten Charakter, den fie bei Kant hatte, eingebüßt bat. Das Bewußtjein des Wertes ift mehr vom Gefichtspunft

1) Man wird an bie Theorie von Grotius erinnert, die prudentia rec- toria, die aber doch wenigſtens noch für das verlegte Gute ein Strafegempel ſtatuiert.

2) Bol. „Religion innerhalb ber Grenzen ꝛtc.“ (2. Aufl), ©. 94f., ber fonders ©. 99.

Über das Weſen der Religion. 28

der Erhebung über die Natur aus aufgefaßt, als von der des poſitiv Sittlichen als des unbedingt Wertvolfen. Erhebung über die Natur kann aber ebenfo gut auch im Intereffe der Endämonie gefucht werden, wie die oben berührte Ausführung von Kaftan zeigt ?).

Ein weiterer Bunt, der diefe Auffafjung der Religion charakteri⸗ fiert, ift die Beziehung zur Gefhichte. Gegenüber dem Rationa- lismus wird mit befonderem Eifer die Beziehung auf die ges ſchichtliche Stiftung des Gottesreiches Hervorgehoben, und die Moral wird auf diefe Gemeinſchaft mit Vorliebe bezogen. Allein bei der angedeuteten Stellung zur Natur ift eine Betonung der Ger ſchichte und der Gemeinfchaft faft unmöglich. Denn beide find ohne Natur undenkbar. Was das Hiftorifche *) insbefondere an⸗ seht, fo fragt fi: wodurch Hat Chriftus das Gottesreich ger ftiftet? da Tann entweber auf die hiſtoriſche Erſcheinung Chriſti als moralifcher Perfon Gewicht gelegt werden d. 5. auf bie Darftellung des Guten in feiner Perfon, was doch nur möglich ift mittels der Natur, die er hat. Der Zuſammenhang des Guten mit der Metaphyfit und Natur muß voraus gefegt werden, wenn das reale Sein und Erſcheinen des Guten in der Perfon Chriſti betont wird, das für die folgenden Zeiten muftergliftig und durch das er der Urheber des moralifch religiöfen Reiches geworben fei. Allein das ift gegen die Vorausfegung, daß auf das Sein be Guten da8 Gewicht gelegt wird. Ober es Tann bei der Hiftorifchen Erſcheinung Chrifti fih nur um die Mitteilung einer Idee handeln, die jeder, nachdem fie gedacht ift, nachdenken Tann. Und auf das Tegtere wird es wohl weſentlich ankommen, wenigftens ift das alfein konſequent; Chriftus theilt mit, daß Gott verzeihender Vater fei, und befreit von dem Irrtum, Gott anders vorzuftellen. Entweder ift num dieſe Einficht in ſich vernünftig; dann Tann fie

1) Weun auch don dem Reiche der Liebe bie Rede ift, fo kommt es be Yanntfich eben anf den Inhalt der Liebe au, ob er fich bloß auf das Wohl ber sieht, das man andern gönnt, oder auf ihre fittliche Würbigkeit.

2%) Herrmann legt befonberes Gewicht auf bie äußere Offenbarung, ©. 3667. 328.

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von jedem erfannt werden, nachdem fie mitgeteilt ift. Oder fie laßt fi nicht ans dem moralifhen Bewußtſein folgern; dann ift fie allerdings übervernünftig, und wir find am die diefelbe ver⸗ fünbigende Autorität gewiefen, um fie auf Treue und Glauben von ihr Hinzunehmen. Allein dann ift das Fundament, von dem man ausging, das moralifhe Bewußtſein, um des willen Gott vorgeftellt wird, völlig verlaffen. Iſt wirklich Gott bloß vorge ſtellt oder poftuliert im Intereſſe der Moral, wie doch diefe An- ſchauung will, da fie jede unmittelbare Offenbarung Gottes im Innern wie jede metaphyfifche Ausfage über Gott leugnet, fo kann nicht von einer Offenbarung Gottes die Rede fein, die nicht in letzter Juſtanz wieder auf die Moral zurücgeführt, als Poftulat des moraliſchen Subjelts, als moralifches Bedürfnis nachgemiefen würde. Mit anderen Worten: es kann keine aus der Moral nicht ableitbare Offenbarung geben, fondern es kann nur eine moraliſche Wahrheit, die mit der Gottesibee in Verbindung gebracht wird, als Offenbarung Gottes vorgeftellt werden. Giebt es dagegen wirklich Offenbarungen, weiche nicht als Poftulate der Moral nachweisbar find und fich niet aus der Moral ableiten laſſen, fo Heißt das in der That nur: es Laffe ſich nicht die Religion auf die Moral bafieren, Es müßte alfo entweder gezeigt werben, daß die Idee, daß Gott Lieben der, verzeihender Vater fei, vernünftig fei; dann aber fann fie bes ſonders wenn fie einmal ausgefpradenift jeder Kraft feiner Vernunft auch Hervorbringen, d. h. fie muß entweder in der Konfequenz des mora⸗ liſchen Bewußtfeins Liegen; oder das letztere ift nicht der Fall. Sie if eine neue Offenbarung Gottes; dann muß man auch zugeben, daß die Religion nicht auf Schlüſſe der Moral, fondern auf Gottes That zu bafieren fei. Dann aber muß doch Gott vor allem exiftieren, muß Sein haben, um Offenbarungsthaten vollziehen zu Fönnen. Dam hat man bie ſubjektive Baſis, von der man ausging, verlaffen. Es könnte dann wohl no phänomenologifch von der Moral zur Religion aufgeftiegen, aber nimmermehr die Religion in Kantifcher Weiſe auf die Moral begründet werden. Es ift ein Zeiden für die Konſequenz des großen Denkers, dag Kant ſich auf folde widerſpruchsvolle Verſuche, wie fie feine Nachfolger beginnen, nicht eingelafjen Hat, fondern die Offenbarung nur als Jutroduktions⸗

Über das Weſen der Religion. 235

mittel der Moral gelten laſſen und rein nad) ber Moral normiert wiſſen will ?), wie es feiner Vorausfegung allein entipricht.

Ganz ähnlich ift e8 mit der Gemeinfhaft. Die modernen Moraliften betonen nicht das einzelne Subjekt für fi, fondern die Gemeinfchaft der Subjekt. Vor allem wird auf die Liebes- gemeinſchaft, die fich befonders im Beruf bethätigt, ein großes Gemicht gelegt, und mit Recht Hervorgehoben, daß das Chriften- tum eine Kulturentwidelung voransfegt, welche die fittliche Ges meinfchaft der Familie, die des Volkes im Staate, die Verbin⸗ dung mehrerer Völker im Weltreich umfaßt®). Allein es ift nicht zu verftehen, wenn die Ethik naturlos fein foll, wenn fie nichts mit Metaphyſik zu thun Haben foll, wie man zu etwas anderem kommen könne, als zu einem Reich Gottes, das im Bewußtſein des Subjekt eriftiert, zu dem Gedanken von Siebe, zur Liebe von vorgeftellten Subjekten; aber zu einem wirkfichen Gottesreiche kommt man fo nicht, wie fi denn fragt, ob nicht die Hiftorifche Stiftung desfelben einfach als die Einführung feiner Idee in das Bewußtſein der Menſchen aufzufaffen ift. Wenig⸗ ftens wäre das von der Vorausfegung aus allein konſequent. Wenn es an fid nur zu billigen ift, da von der Einſeitigkeit der Pflichten und Tugendlehre abgegangen und auch die Güterlchre berüdjichtigt wird, fo fehlt Hierfür dod in der That die Vor⸗ ausfegung. Wie foll denn Gemeinfchaft zuftande kommen durch bloßes Erheben über die Natur. Spmbolifierendes Handeln in der Natur ift die Vorausfegung der Gemeinfhaft. Kant ift da» her auch Hier wieber Tonfeguenter, infofern feine Ethik Überwiegend fubjeftiven Charakter trägt. Man kann nicht Kant und Schleier- macher fo verbinden, daß man den Kantifchen Dualismus zwiſchen Natur und Geift anerkennt oder doch zum Hintergrund der ganzen Theorie macht und dann auf einmal im Ethifchen verfährt, als fei eine Einheit von Natur und Geiſt da, die ohne ein metay

1) Bol. „Religion innerhalb der Grenzen 20“, S. 145f. 161f. Dal. andy meine Schrift „Über die Prinzipien der Kantiſchen Ethik“, S. 112f. Bol. Weiß a. 0. DO. in biefer Zeitfchrift 1881, ©. 415.

3) Bol. Ritſchl a. a. O. II, 267.

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phyſiſches Band gar nicht denkbar if. Die Moral muß über den fubjeftin-pfychologif—hen Charakter hinausgehoben werden; fie muß eine fubjektiv-objeftive Größe, eine Weltmadt fein, fie muß mit der Metaphyfit Verbindung eingehen, wenn von einem fittlihen Handeln in der Gemeinfchaft die Rede fein foll. Diefe Borousfegungen find bei Schleiermacher vorhanden, aber nicht bei den neueren Moraliften, welche das moraliſche Bewußtſein weſent lich nur als ein pſychologiſches Faktum gelten laſſen. Ebendaher ſteht auch die kirchliche Gemeinſchaft bei ihnen in der Luft, ſie ſchwankt zwiſchen Idee uud Wirklichkeit). Konſequenterweiſe könnte hier nur von der Vorſtellung der Kirche die Rede ſein, die das Subjelt Hat.

Es ift übrigens durchaus begreiflih, daß ein Schwanken zwifchen der Subjeftivität und der Gemeinſchaft ſich auch inbezug auf die Gemwißheit geltend madt. Die Selbftgewißheit wird auf der einen Seite betont, das Bewußtſein „mehr wert zu fein als die ganze Welt“ auf der andern Seite die Abhängigkeit der Gewißheit von der Gefamtheit ?) behauptet. Kant ift es nie eingefallen, zu jagen, daß die moralifche Gewißheit von ber Gemeinschaft abhänge. Diefe Differenz zwiſchen Kant und ben Neukantionern ift aber wohl verftändlih, wenn man bedenkt, daß für Kant die praktiſche Vernunft eine unbedingte Größe, eine Realität war, hier Hingegen das moralifche Bewußtfein nur ein Urteil des wertfcägenden Subjefts, alfo ein pfychologifcher Vor⸗

1) Diefer ſchwankende Charakter tritt ganz beſonders deutlich bei Krank hervor; dgl. meine Rezenfion feiner Schrift „Das proteftantifhe Dogma von der unfihtbaren Kirche” in den Jahrbüchern f. deutfche Theol. XI, 520f.

2) Bol. Herrmann, ©. 403. Es iſt eim großer Unterſchied, ob man anerkennt, daß die Gemeinſchaft die Bedeutung habe, in uns das moraliſcht oder religidſe Bewußtſein anzuregen, zu beleben, zu pflegen, oder ob man bie moraliſche und religiöfe Gewißheit letzthin in der Gemeiuſchaft begründet fein läßt. Wenn Herrmann einerſeits behauptet, nur in der Form ſittlichen Handelns werde das religiöſe Gut genoffen, fo wird, fo viel ich verſtehe, die Heilsgerwißheit von unferem Handeln abhängig, Tann alfo nur Selbſtge wißheit fein (&. 402) mag das Handeln immerhin feine Borausfegungen in ber Gemeinfchaft haben —, während wir anderſeits doch wieder mit unferer Gewißheit an die Gemeinfchaft gebunden fein follen (S. 408).

Über das Mefen der Saigon. 37

gang iſt; da iſt es allerdings notwendig, fi in der Gemeinſchaft davon zu überzeugen, daß das Sittiche wirklich eine empirifche, nicht bloß eine pſychologiſch vom Subjekt vorgeftellte Allgemein güftigfeit Habe, d. h. daß viele diefelbe Überzeugung haben.

Je mehr nun zugleich hervorgehoben wird, daß die fittlichen Ideale wechſeln, um fo mehr wird der unbedingte Charakter des Sittlichen ‚zurüdtreten. Es zeigt fich das 3. B., wenn der Verfaffer der Schrift „Der hriftliche Glaube und die menfchliche Freiheit“ das Chriften« tum nur in der Weife zu verteidigen wagt, daß er die höchfte unter ben empirifch vorhandenen Formen der Sittlichkeit als Im Ehriften- tum wurzelnd zu erweifen ſucht. Hier ift, wie es feheint, der Charakter des Unbedingten für das Sittliche preisgegeben, und das muß in dem Maße ftattfinden, als dasfelbe nur als ein empiriſch piychologifches Faltum angefehen wird !).

Wenn ſchließlich die bezeichneten Richtungen teilweiſe theiftifch zu fein behaupten, fo kann das nur in bedingtem Sinne gelten. In Wahrheit find fie anthropologiftiich, und Gott wird im Inter effe des Menſchen teils feiner Eudämonie teils feiner Moral vor« geftelit. Das beharrliche Ableugnen aller Beziehung zur Metas phyfit hindert Hier, im Ernft von einem Gotte zu reden, der wirk⸗ lich iſt. Er ift vorgeftellt, geglaubt; foll der Weg, Gott im Intereſſe der endämonifchen oder der moralifchen Seite des Menſchen zu poftulieren, nur phänomenologifch fein, jo hat er ger wiß feine begrenzte Berechtigung. Allein es will uns nicht ſcheinen, daß dies die Meinung der genannten Theologen fei. Wir hören viel von Selbftbeurteilung, Weltbeurteilung, moraliſchem Handeln, Anerkennung der Vorfehung, Einheit von dem Inhalt unferes Willens mit dem Inhalt des göttlichen, von der Tendenz mit Hilfe der Religion fi) über die Natur zu erheben ?). Aber das

4) Daß freilich Hier ein ſchweres Problem vorliegt, den Charakter des Unbebingten für das Sittliche mit ber Wandelbarkeit der empiriſch gegebenen eonereten fittlichen Ideale zu veimen und daß es eine Ergänzung von Kant bildet, wenn hierauf hingewieſen wird, ift nicht zu leugnen. Nur wirb der Charakter des Sittlichen abgeſchwächt, wenn man bie Unbedingtheit desfelben aufgiebt.

2) Bol. Weiß a. a. O. in dieſer Zeitichr. 1881, ©. 388. 896. Weiß findet Hierin Deismus.

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alles beweift nicht, dag wir es wirklich mit mehr als mit einer Hilfevorftellung von Gott im Interefje unferer Eudämonie oder der Moral zu thun haben. Diefer Theismus trägt alfo jedenfalls durchaus fubjektive Färbung, Wenn mit biefem Urteil bem be— treffenden Theologen unrecht gefchehen follte, fo kann fi das nur darauf beziehen, daß fie vielleicht mehr erreichen wollen. Alfein von ihren Vorausfegungen Läßt ſich in ber That ſchwerlich mehr erreichen. Gott bleibt hier Mittel für das Subjelt. Auch wird das Gefagte beftätigen, daß dieſe Theorieen als Theorien der Immanenz im bezeichneten Sinne anzufehen find, infofern fie es wefentfich nur mit der Welt immanenten Größen zu thun Haben, mit den Subjeften, welche Gott vorftellen. (Vgl. o. ©. 223.) Sie find anthropologiftifh und bafieren die Gottesvorftellung auf den Menfchen. Dagegen wagen fie nicht den Schritt, Gott ob- jeftive Eriftenz zuzufchreiben, da fonft die ganze Theorie erft darin ihren Abfchluß fände, daB Gott als objektiv feiender als die letzte Quelle auch für die Vorftellung, die von ihm gebildet wird, auf» gefaßt wird umd nicht in uns der legte angebbare Grund für die Vorſtellung Gottes gefunden würde 1).

Es ift durchaus natürlich und-eine wefentliche Ergänzung diefer Auffaffungen, wenn von dem immanenten Standpunkt aus in irgendeiner Weife Gott als der objektive Grund des religiöfen Ber- haltens und dem entfpredend and) als der immanente Weltgrund anerkannt wird. Es find auch Hier verfchiebene Betrahtungsweifen möglich, und in der Gegenwart mehr oder weniger vertreten, eine äfthetifche, eine intelfeftualiftifche, eine ſolche, die praftifches und inteffeftuelles Iutereſſe verbindet. Die Afthetifche fand fich in fpekulativer Weife bei dem älteren Schelling, der die Welt als ein göttliches Gedicht auffaßte, der den Weltprogeß in den Ozean der Poeſie einmünden ließ. Auch bei Schleiermader in den Reden über Religion ift es das Unendliche, das Univerfum in feiner Einheit und Harmonie, deſſen der Fromme inne wird. Religion ift Sinn und

1) Wenn hier von Offenbarung die Rede ift, kann es nur eine borgeftellte Offenbarung fein, oder eine willkürlich als objektiv angenommene, aber nicht eine in ihrer Objektivität wiſſenſchaftlich begründete.

Über das Weſen der Religion. 2

Geſchmack für das Unendliche. Sie ift das Gefühl der Abhängigkeit von dem Unendfichen, aber doc nicht bloß nackte Abhängigkeit; es ift vielmehr in diefem Gefühl zugleich ein Gefühl des Innewer⸗ dens ber Harmonie des Univerfums. in Nachklang davon zeigt fich bei Strauß, wenn er das Univerfum und feine Harmonie als Gegenftand der Verehrung !) anfieht, freilich ohne irgendwie diefen Nachklang mit feinem empiriftifhen Materialismns zu reimen. Bei anderen tritt mehr die intellektuelle Seite hervor und auch diefe Auffaffung ift bafd mehr empiriftifch gewendet bald jpelulativ, das erftere 3. B. bei Max Müller, der ?) die „Wahrnehmung des Unendlichen“ als das Wefen der Religion erfaßt, die fich mit der Entwickelung des Geiftes immer reiner herausarbeitet, in etwas anderer Weife bei Herbert Spencer °), der als die allem zugrunde liegende Urkraft das Unbefannte anficht, die unbefaunte Kauſalität, aus welcher alles Hervorgeht, deren Erfcheinung alles ift und bie unter den verfehiedenften Formen in den Religionen geahut wird. Das Wefen der Religion wäre hienach das Ahnen einer unerkenn⸗ baren Kaufalität, welche alles Endliche als feine Erſcheinung hat *).

1) Bgl. „Alter und neuer Glaube”, S. 123. 147. 243. Infoweit kanu man Ritſchl zuflimmen, wenn er in feiner Schrift über Schleiermachers Neben über Religion Strauß als von Schleiermacher beeinflußt bezeichnet,

2) Bgl. a. a. D., S. 24f. bof.

3) Bgl. „Die Grundlagen der Philofophie“, S. 25—46. 97 f.

4) Die Religion im Erkennen des letzten Grundes zu finden, liegt auch der Anfiht Stuart Mills zugrunde, nur daß er vom feinen empiriſtiſchen Borausjegungen glaubt, ein fidherer Schluß auf Gott fei nicht möglich, und bei einem Mittelwefen als einem wahrſcheinlichen fiehen bleibt, das wmädtig, gütig u. f. m. fei, aber nicht allmächtig, allgütig u. f. w., da bie empirifche Gegebenheit nicht ausreiche, dies zu erſchließen. Hingegen läßt ex im praf- tiſchen Intereſſe zu, daß wir die durch die Refigion begründete Hoffnung, wenn fie auch theoretifch bezweifelt wird, als Phantafieinhalt, der uns zum Handeln anfpornt, feſthalten. Inſofern er das letztere ganz befonders Bervor- hebt (vgl. „Über Religion“, &. 204f.), flatuiert er auf dem empiriſtiſch ſtep - tiſchen Grunde einen Dualismus, der dem Langes beraubt iſt, zwiſchen dem Zweifel an einer objektiven Gotteserfenntnis und der Anerfennung der veligiöfen Borftellungen für bie Phantafie im praltifhen Intereſſt. Es ift das in flär- kerer Form derſelbe Dualismus, der auch non fieptifcer Vorausſetzung aus

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Undere, mehr fpekulativ, ſchließen fih an Hegel an und fehen das Weſen der Religion darin, dag die an fich feiende Einheit zwifchen dem abfoluten und endlichen Geifte in unferem Bewußtſein vollzogen werde. Das gefchieht in der Religion in einer duch ſinnliche Vorftellungen noch verworrenen Art, während in der Philofophie dieſes Bewußtſein rein vollzogen wird. Religion iſt Volksmeta⸗ phyfil. So Hartmann, foweit er von Hegel beeinflußt ift und nicht duch feinen Peffimismus diefer Auffaffung noch die eigen- tümliche Färbung giebt, daß das Einswerden mit dem Abfoluten das Mitfühlen aller feiner Leiden in all feinen Erfheinungen zur Folge hat und den Entſchluß zu dem Aufhören diefes Leidens mit⸗ zuwirken, wo freilich dann die Religion völlig aufhört in dem Sage: Ich lann Gott erlöfen‘). Unter den Theologen, welche ſich eingehend mit dem Wefen der Religion befaffen, ftehen der Hegelichen Auffaffung der Religion Pfleiderer und Biedermann am nädften, wenn fie die Religion finden in dem: „fi in Gott wiſſen und Gott in fi, in Gott eins mit ber Weltordnung und durch Gott frei von der Weltſchranke“ 2). Aber diefe Theologen unterfcheiden fi) dadurch wefentlih von Hegel, daß fie bemüht find, der Religion in der Myftit eine felbftändige Stelle zu laſſen. Die Religion ift nicht bloß dem Gebiete der Vorftellung angehörig, das in das Wiffen überzugehen beftimmt ift; fie foll den ganzen Menschen umfaſſen. Es Handelt fih nicht bloß um Theore- tifhes, fondern aud um Praktiſches in der Religion. Aus dem Streit von Freiheit und Notwendigteit geht ſie hervor. Sie ift die Löſung diefes Streites, indem Selbft- und Weltbewußtfein, Freiheit und Abhängigkeit im Gottesbewußtfein geeint find. „Reli⸗ gion iſt nicht Gottesbewußtſein, fondern der Zufammenfchluß des

(die dem Empirismus entflammt) fich bei all denen findet, welche ein objeftives Erkennen Gottes ausfchfießen, aber im praktiſchen Imtereffe die Vorſtellung Gottes, den Glauben fordern.

1) Bol. meinen Aufjag über Hartmann in biefer Zeitſchr. 1881, 9. 1, ©. 77f. 54f. Über Hartmanns inzwiſchen erfhienene Arbeiten: „Das religidſe Bewußtfein der Menſchheit · und „Die Religion des Geifes“ vergleiche meine Anzeige, die in diefer Zeitfchrift erſcheinen wird.

3) Bfleiderer a. a. O., ©. 258.

Über das Wefen der Religion, 41

Selbft« und Weltbewußtfeins in Gottesbewußtſein“ 2). Der In. halt der Religion tft Hiernah, was bei Biedermann beſonders hervortritt, die Gottmenfchheit.

So richtig und notwendig es ift, der Religion in Gott eine objektive Bafis zu geben, fo fehr es auf Halbem Wege ſtehen bleiben Heißt, wenn man von einem refigiöfen Bedürfnis redet, ohne für dasfelbe einen anderen als pfycologifchen Grund anzu⸗ geben, fo lobenswert e8 ferner ift, daß die Religion als Sache des ganzen Menfchen aufgefaßt wird, fo find doch auch hier noch Ber denfen übrig. Wenn von Gott ausgefagt wird, daß er zwar Geift fei, daß aber fein Selbftbewußtfein mit feinem Weltbewußtfein eins fei, letzteres nur die entwickelte Totalität des Inhalts des erften bilde *), fo ift Hierin noch eine Nachwirkung Hegels, welche im Prinzip den Unterſchied zwiſchen Gott und Welt wieder hinfällig werden läßt, was Pfleiderer ja freilich nicht will ®). Denn wenn Gottes Selbftberwußtfein erft in feinem Weltbemußtfein entwidelt ift, fo kann man auch umgekehrt fagen, das endlihe Bewußtſein Mann ſich kaum feines Unterfchiedes von Gott Mar bewußt bleiben. Denn der Menfch kann ſich in der Einheit mit Gott eins mit der Weltordnung und frei von der Weltfchranfe wiſſen, weil er fi eben in der Einheit mit ihm über feine Endlichkeit erhoben, als einen Teil des göttlichen erpfizierten Selbſtbewußtſeins weiß. Und dadurch wird doch ſowol die endliche Stellung des Menfchen als auch die Abſolutheit Gottes alteriert. Ja konſequenter Weiſe müßte aner- fannt werden, daß der ganze Zwiefpalt zwiſchen Freiheit und Not« wendigfeit ein Zwiefpalt Gottes mit ſich felbft fei, da ja fein Weltbewußtſein, in dem er von diefem Zwieſpalt doc wilfen muß, ja ihn zeitlich begleitet 4), fein entwiceltes Selbſibewußtſein ift. Daß ferner das Wiſſen nicht in Hegelfcher Weife die Alleinherr-

2) Bgl. PBfleiderer a. a. O., ©. 2575. Lipfins, ſoweit er von Biedermann beeinflußt ift, ſtimmt Biermit zufammen (a. a. O., $ 28).

3) PBfleiderer aa. DO, ©. 418.

®) a. a. 0, S. 412f.

4) Daß Gott mit feinem Wiffen bie Weltentwickelung begleitet, if übrie gens an ſich ein berechtigter Gedante (©. 419).

2 . Dorner

ſchaft hat, daß die Neligion in das Gemüt verlegt und mit bem Wiſſen von Gott nicht identifiziert, und daß doc zugleich anerkannt wird, daß es ein Wiffen von Gott gebe, verdient zwar durchaus Beifall. Allein in der Meinung, dag die Religion von ihrem Ur- fprung aus eine Entwidelung durchlaufe, in welder Vorftellung und Phantafie diefelbe verbunfeln, bis am Ende durch den Prozeß eine gereinigte Myftit entftehe, an die fi die Spekulation an fchließe, fcheint mir doch der Gedanke Hegels nachzuwirken, daß es die Religion mit der Vorftellung zu thun Habe. Nicht das ift zu leugnen, daß thatſächlich die Phantafie in falſcher Weife fih einmifcht, fondern die Meinung, als ob die Phantafie mit Not mendigfeit fäljchte. Denn barin fcheint mir die Anficht enthalten zu fein, daß die Phantafie nicht ein dem übrigen gleich berechtigtes Oeiftesvermögen fei, was mit der Meinung zufammenhängt, daf alles Sinnlihe an ſich nicht imftande fei, Geiftiges rein darzuftellen. Die Konfequenz diefer Anficht muß dahin führen, daß wir auch in der Sprade bie Gotteserfenntnis nicht ausſprechen können, da in der Geftaltung ber inneren und äußeren Sprade die Phantafie ſtets mitwirlt, jedenfalls aber die Sprache durch die finnliche Schranke begrenzt ift. Die Gotteserkentnis will Pfleiderer mit Recht nicht preisgeben. Allein Lipfins wird fo lange mit feiner Stepfis recht behalten, bis zugeftanden wird, daß die Phantafie eine Geifteskraft fei, welche nicht der Wahrheit entgegen fein, nicht ihrer Natur nach mit der Vernunft in Streit fein muß, daß über⸗ Hanpt das Sinnliche verſtändliches Symbol des Abfoluten fein fönne. Denn nur dann ift Gotteserfenntnis fir uns keine Un möglichkeit. Hier wirkt alſo der ibealiftifhe Zug Hegels bei Pfleiderer und Biedermann noch ungünftig nad. Auch daraus, daß die religiöfe Erkenntnis zunächft praktiſch bedingt ift, folgt nit notwendig, daß fie teilweife falſch ift; Pfleiderer nimmt an, daß die von praktischen Intereſſen geleitete Phantafie die Er kenntais der Religion verfäljche, fo daß biefefbe erſt in eine rein theoretifche Erkenntnis durch den religtöfen Erkenutnisprozeß müffe umgefegt werden ). Auch Hier ift nicht zu leugnen, daß

2) Bgl. a. 0. O, ©. 271f.

Über das Weſen ter Religion. 43

fich thatſachlich im praltiſchen Intereſſe vielerlei Vorftellungen in die refigiöfe Erkenntnis einfcpleichen, die fich als unhaltbar erweifen. Allein gerade Pfleiderer, der geltend macht, daB das praftifhe In—⸗ tereſſe jelbft eine objektive Gotteserkenntnis fordere, was er Lipſius gegenüber betont, fcheint mir mit der Annahme einer notwendigen Verfälihung der religiöfen Erkenntnis durch das praktische Intereffe mit ſich in Wiberfpruch zu geraten. Wenn nach ihm die Art des phantafiemäßigen Vorftellens das Naturgemäßere für die relis giöfe Erfenntnisart ift, weil ſich die Phantafie ungebundener über die Weltwirkfichleit erheben kann als der durch die Gefege der Logik und der Erfahrung gebundene Verftand, fo möchte man hiernach faft fchließen, daß die fpefulative Gottes— ertenntnis ber Religion fremd, alſo ein Dualismus zwifchen dem vefigiöfen phantafiemäßigen und bem fpefulativen Erfennen kaum zu vermeiden fei. Wenn ferner die religiöſe Phantafie durch ſchöne Bilder, die fie uns vorzaubert, über die Schwierigkeiten ber Wirk⸗ lichteit Hinwegtäufcht, fo ift das nur fo Lange fittlich zu rechtfertigen, als man fich zugleich deſſen bewußt ift, daß man es mit einem ſchönen Schein zu thun Hat, der den Wahrheitsfern umhüllt. So- bald man aber um des eubämonifchen Intereſſes willen das in der Form der Phantafie Vorgeftellte auch mit diefer Form ſelbſt für Wahrheit nimmt, fo ift bierin eine eudümoniſche Selbfttäufhung enthalten, die mir weniger ein Fehler der Phan- tafie als ein fittlicher Fehler zu fein fcheint, ein eudämoniftiſcher Mißbrauch der Phantafie. Ye zarter Hier die Grenze zwifchen Sittfihem und Verwerflichem ift, um fo leichter Tann Bier die Phantaſie gemißbraucht werden. Allein man wird hier anzuerkennen haben, daß es fittliche Aufgabe ift, das Intereſſe der erfennenden Vernunft und der äfthetifch bildenden Phantafie auch inbezug auf den Inhalt de8 unmittelbaren religiöfen Bewußtſeins zu harmoni⸗ fieren 1). Die Meinung Pfleiderers, daß die Religion, weil fie

2) Das zeigt ſich beſonders darin, daß der Kultus der Hikfe der Phantafie taum entbehren Tann, wie Bfleiderer felbft fieht. Die Phantafie iſt nicht bloß eine pfychologiſche Vorſtufe der rein logiſchen Erkenntnis, fondern eine dem Denken glei berechtigte Geiſteskraft.

244 Dorner

empirisch Irrwege durdläuft, diefelben durchlaufen müſſe, erinnert auch an Hegel. Denn bie oben (S. 222) erwähnte Methode, für welche fich Pfleiderer entfcheidet, Teidet an dem Mangel, daß der empirische Prozeß als der logiſch notwendige, vernünftige Prozeß angefehen wird, der fi ja nad Hegels Meinung durch Widerfprüche hin- durch fortbewegt. Allein es fragt fich, ob die empiriſch vorhandenen Irrwege wirklich logiſch notwendig find und nicht Irrationales ent halten, was voll nur dann anerkannt werben fan, wenn man fich entfchließt, das Weltbewußtfein Gottes von feinem Selbftbewußtjein grümblich zu unterfcheiden. Denn ohne diefe Unterfcheibung wird es ſchwer fallen, die in der Welt vorhandenen Irrungen des religiöfen Bewußtſeins ernftlich als ſolche anzuerkennen und fie nicht dod am Ende an ihrer Stelle als notwendige Durchgangspunkte durchaus berechtigt zu finden *).

Wir Haben bisher ſolche Anfichten betrachtet, welche die Religion der Hauptfahe nad auf immanentem Wege zu erflären fuchen. Unfer Refultat ift folgendes: Während in den zuerft berüßrten ſubjektiviſtiſchen Auffaffungen der Religion ein ſtark anthropo- logiſtiſcher Zug ſich zeigte, fofern Gott Hinter das Subjekt zurüd- trat, in deſſen Intereſſe er vorgeftellt wurde, fo tritt in dem letzt⸗ genannten Richtungen, infoweit fie noch auf dem Boden ber Immanenz ftehen, eine mehr dem Pantheismus zumeigende Anficht hervor. Da aber weder die fubiektiviftifche noch die objektiv - pan- | theiftifche Sorm der Immanenz im obigen Sinne (S. 223. 224) zur | Erflärung der Religion genügt, fo läßt fi) der Standpunft ber | bloßen Immanenz, welche die Religion aus den der Welt felbft imma | nenten fubjeltiven Urfachen oder zugleich aus der immanenten ob⸗

2) Das zeigt ſich auf das flärkfte in Hartmanns Methode, bie aber am Ende dazu führt, daß es feinen im Prozeß auftretenden Standpunkt giebt, der nicht an feiner Gtelle als berechtigt, ebenſo aber auch Im weiteren Verlauf als unwahr fd erweiſt. Dieſe Methode leiſtet aber im der That dem Empi- rismus Vorſchub, weil nicht eine abfolute Erkenntnis, fondern nur hiſtoriſch an ihrer Stelle, alfo relativ berechtigte Standpunkte anerfannt werden. Das führt ſchliehßlich zur Skepſis, weil nur das Werden zur Geltung kommt. Vol. meinen Auffag über Hartmann in dieſer Beitfcheift 1881, Heft 1, &. 69. 72f. Bol. auch Harms, Die Philofophie feit Kant, &. 454. 459f.

Über das Weſen der Religion. Ab

jettiven letzten Urſache zu verftehen fucht, überhaupt nicht feft- halten. Es wird vielmehr notwendig, die Transcendenz Gottes im Verhältnis zur Welt mit der immanenten Erflärung zu vers binden.

Es ift der fpätere Schleiermacher, welder für die neuere Zeit grundlegend inbezug auf den Neligionsbegriff gewirkt Hat, infofern er die Religion urfprünglic als abfolutes Abhängigfeitsbemußtfein anfieht. Hiedurch wird einmal einer Vermifhung des Ich und Gottes vorgebeugt. Denn fo viel man Schleiermacher Pantheis- mus vorgeworfen hat, das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbewußtjein fchließt denfelben völlig ans *). Denn das endliche, fich ſchlecht⸗ hin abhängig wiſſende Subjekt kann ſich nicht irgendiwie mit dem identifizieren, von dem es ſchlechthin abhängt. Durch die abfolute KRaufalität Gottes ift ein Unterfchieb zwifchen Gott und ben Menschen begründet und zwar fo, daß jeder mit feinem indie viduellen Selbftbewußtjein das abfolute Abhängigfeitsbemußtfein verbindet und indem er fich mit der Welt von Gott fchlechthin abhängig weiß, die Allgemeingüftigkeit der Abhängigkeit mit der

1) Wenn Gott nur als Subjekt aufgefaßt wird, if ohne das ſchlecht Hinnige Abhängigkeitsbewußtſein eine Vermiſchung Gottes und der Welt nicht prinzipiell ausgeſchloſſen, wie 3. B. Pfleiderers Anficht beweift, der Gott Subjekt nennt. Mindeftens müßte Gott Subjekt ⸗Objekt genannt werben, wie Schleiermacher dahin tendiert, Gott als „Subjett-Objelt“ zu faflen. Bol. Entwurf eines Syflems der Sitteniehre ed. Schweizer, ©. 16. Nennt man Gott nur Subjekt, fo ift noch nicht ausgeidloffen, daß er zum vollen Bewußtſein feines eigenen Inhaltes erſt duch die Welt komme; denn ein felb- fändiges Bewußtſein Gottes von ſich kann nur mit der Formel voll ausge drückt werden, baf er Subjet-Objett fei. Das Subjeft braucht zur Ergänzung das Objekt; wird Gott nur Subjekt genannt, jo ift die Welt das ergänzende Objekt und erſt im Zuſammenſchluß mit der Welt wird er Subjekt ⸗Objekt, Tommt er zu vollem „expliziertem“ Selbſtbewußtſein. Läßt man den Gag Ritſchls als eine objektive Ausſage über Gott gelten (mas, wie gejagt, infonfequent wäre), Gott Habe feinen Selbftzwedt in feinem Reiche, fo wäre nnter der Kategorie des Zweces Bier dasſelbe gegeben, daß er erſt durch fein Reich, d. h. durch die Aktion der Menfchen dazu kommt, feinen Selbftzmed zu erreichen, ſich felbft als Zweck objektiv zu werden. Iſt aber Gott Subjekt- Objiekt, fo ift auch die Welt von ihm unterſchieden und Tann, wenn er abſolut iſt, nur ſchlechthin von ihm abhängig fein.

Theol. Etud. Dahrg. 1888, 17

a6 Dorner

befonberen Abhängigfeit feines Einzel-Jch im unmittelbaren Bewußt⸗ fein geeint iſt.

Wie aber das abfolute Abhängigfeitsbewwußtfein den Unter⸗ ſchied des Ich von Gott garantiert, To ift eben durch dasſelbe anch allen fubjektiven antgropologiftiichen Einfeitigleiten die Spike abgebrochen. Denn wenn wir mit ber ganzen Welt von Gott uns ſchlechthin abhängig willen, fo ift ber Gedanke einfach unmöglich, daß Gott lediglich ſubjeltive Vorftellung fei. Durch das ſchlecht⸗ hinnige Abhängigkeitsbewußtſein iſt jeder Gedanke daran völlig aus geſchloſſen, weil es unvernünftig wäre anzunehmen, daß dieſes Bewußtſein lediglich eine Projektion von ums felbft ſei. Indem wir Gott als den wiffen, von dem mir abfolut abhängig find, wiffen wir Gottes Urfächlichkeit ftets in unferem Bewußtſein gegenwärtig und das ift gegen ben anthropelegiftifchen Deis- mus!) gerichtet. Es muß bier von einem „Getroffenfein * von Gott gerebet werden. Es ift bie Bedeutung Schleiermacers, baf es ihm gehlückt ift fowoht die (deiſtiſche) ſubjeltiviſtiſche Einfeitig- keit in der Auffaſſung der Neligion als auch die objeftiv-pantheiftiiche zu überwinden. Wenn ich das Hervorhebe, fo foll damit keines⸗ wegs gefagt fein, daß fich bei ihm nicht Unebenheiten finden auch inbezug auf diefe prinzipielle Stellung. Ich habe früher ausge fügrt %), wie feine Darftellung in der Dialektik, nach welcher Gott in dem Gefühl ſein fol, weil das Gefühl die Indifferenz dar- ftelle und Gott ſelbſt die abſolute Identität fei, ſich ſchwer mit feiner Definition der Religion als ſchlechthinniges Abhängigleite- bewußtfein reimen laſſe. Nicht minder aber kann man jagen, daß feine rein pfychologifche Ableitung aller göttlichen Eigenfchaften außer der Allmacht wieder jener Auffaſſung Gottes als einer bloß fubjettiven Vorftellung Vorſchub Teiftet ®). Allen das hindert

1) Wenn ich den Authropologiemus als Deismus bezeichne, fo geſchieht das infofern, als derſelbe Gott Hinter die Zutereſſen der Perfon zucüdftelit, es ihm wicht umn Gott ſelbſt zu chun Aft, fondern um bie Inteveffen des Subjektes. Gott if als Mittel für diefelben zurlicgebrängt.

%) Bol. Jahrbücher f. deutſche Theologie: „Die Bedeutung ber inneren und äußeren Offenbarung für die Erkenntnis von Gott“, ®b. XVII, ©. 288 f.

®) Wenn er indes Gott als Subjet-Objeft faffen will, fo geht er doch baräber Hinaus, Gott bloß als Kaufalität zu denken, wie er andy in der „Dialektit“,

Über das Weſen der Religion. a7

nicht, anzuerkennen, daß in feiner Definition der Religion als ab- folutes AbHängigkeitsbewußtfein, ſowohl die Unterfheidung des Subjelts von Gott als aud der Zuſammenſchluß besjelben mit Gott, anerkannt ift. Wuc der Gedanke, daß ber Menſch in dem Bewußtſein der abfoluten Abhängigkeit über den Gegenfag von relativer Freiheit und Notwendigkeit (Abhängigkeit) Hinausgehoben werde, daß eben dadurch fein Bewußtſein erft einheitlich ab» geſchloſſen und vollendet werde, daß er eben deshalb in ber Religion fi über die relative Abhängigkeit von ber Welt er- hebe, infofern alſo ihr gegenüber frei werde, was fi in dem von der Religion ausgehenden ethiſchen Impuls zeigt, daß er eben hiermit auch ein höheres Luftgefühl Habe, mit einem Worte, der Gedanke, daß in dem fehlechthinnigen Abhängigfeitsbewußtfein jeder in feiner Eigentümlichkeit fi fo zu fagen beftätigt fühlt, das Subjekt alfo nicht von bdemfelben erdrüdt, fondern durch dasſelbe gehoben werden foll, verdient allgemeine Anerkennung. So finden wir aljo bei Schleiermacher die Tendenz mit der Immanenz Gottes in der Welt die Transcendenz Gottes zu verbinden 1).

In noch ſtärkerem Maße ift das von den tHeiftiichen Auffaffungen verfucht worden, melde die Unterſcheidung zwiſchen Gott und der Welt noch beftimmter durchzuführen fuchten, indem fie Gott ein von der Welt unterſchiedenes Selbftbewußtfein zuſchrieben und ben Begriff der Kaufalität jo verwendeten, daß Gott als verurſachen⸗ der Wefen Hervorrufe, welche felbft verurſachen können, ſekundäre Kaufalitäten find, ohne daß fie deshalb die Immanenz Gottes in der Welt, den unmittelbaren Verlehr der frommen Subiekte mit Gott, die Gotteserfahrung preisgeben wollten. Wir wellen dieſe verſchiedenen tHeiftifchen Verſuche, die teile mehr ſpekulativ, teils mehr empiriſch ) begründet werben, nicht im einzelnen weiter der⸗

©. 136 Anm. ſagt: „Die hoͤchſte Urjach Tamı man wirt denken als Smbifferemg von Bewußtſein und Bewuftlofigkeit“, und wenn er in ber „Dogmatit” fagt 8 167: „Gott iſt bie Liebe“, fo hat man wenigſtens gemeint, daß er hiermit auch das objektive Weſen Gottes beſchreiben wolle. Allein gegen bie Blichtige keit diefer Auffaffung laffen fi gegründete Bedenlen erheben.

1) Gott and Welt find „Correlata“. Dialekit, $ 219. 224. 225.

2) Auf der fpehufativen Seite ſtehen an Schelliug anliefenbe Theiſten,

17

us Dornet

folgen, da e8 uns Bier weniger auf bie Ausführung der Gotted- lehre als auf die Beftimmung des Religionsbegriffes anfommt.

IL Pofitive Erörterung des Religionsbegriffs.

Unfere bisherige Entwicelung Hat uns zu der Überzeugung geführt, dag die Religion als ſchlechthinniges Abhängigfeitsbemußt- fein aufgefaßt werden muß, da Gott nicht bloß „für ung“ fein tann, als vorgeftellter, fondern als die abfolute Kaufalität felbft der urfprünglic Seiende und die Quelle alles anderen Seins ift. Wenn aber Gott ald der Urheber ber Welt zu benfen ift, fo Kann auch die Religion felbft urfprünglih nicht aus menfchlicher Aktion hervorgehen, fondern muß auf göttliher That ruhen, der auffeiten des Menfchen Empfänglickeit entipriht. Das ergiebt ſich mit Notwendigkeit aus der Annahme der göttlichen Trans cendenz. Es find zwei durchaus zufammengehörige Säge, daß bie Religion Bewußtſein ſchlechthinniger Abhängigkeit ſei und daß die Religion auf einer That Gottes ruhe, da eben dies Abhängig keitsbewußtſein nicht aus uns ftammen kann. Bevor wir das abſolute Abhängigkeitsbewußtſein noch etwas genauer betrachten, wollen wir uns durch einen Bli auf die Religionsgefchichte da- von überzeugen, daß ohne dasfelbe feine Religion vortommt, mag es aud) in unvollkommener Geftalt erfcheinen.

Daß die monotheiftifchen Religionen alle die Gottheit als die allmächtige verehrten, ihnen alſo das ſchlechthinnige Abhängigkeit

wie Beders, F. Fiſcher, Martenfen, an Baader und Schelling 8. Hoffmann, an Schelling und Hegel Weiſſe und Rothe, in Verbindung mit Herbart und Schelling ſtehend Fichte d. J., an Herbart nicht ohne Selbftän- digkeit aulehnend Loge, im Zufammenhang mit Schleiermader Ritter u. a. Eine Verbindung von Schleiermacher und Hegel, jedoch fo, daf das Ethiſche als der abfolute Zweck gefaßt und eben dadurch der Hegeliche Pautheismus vermieden wird, erfireben Chalybäus (Philofopkie und Ehriftentum, ſpekulative Ethik, hochſt beadhtenswert!), Dorner, Chriſtliche Glaubenslehre u. a. Eben durch die ſtärkere Betonung bes unbedingten Charakters bes Sittlichen und bie daraus fich ergebenden Konfequenzen fir den Religiousbegriff unterſcheiden fich dieſe Denker von Biedermann und Pfleiderer, welche ihrerſeits auch eine Verbindung von Hegel und Schleiermacher anftreben. Auf der empiriſchen Seite ſtehen Männer wie Ulrici, Gott und die Matur, Gott und der Menſch.

Über das Weſen ber Religion. Ao

bewußtſein zugrunde liegt, wird man ſchwer in Abrede ſtellen Können. Der Buddhismus aber baſiert auf dem Brahmanismus, welcher, ſoweit er ſich über ben Polytheismus erhebt, die Gottheit als das abjolute Sein erfaßt, aus bem alles Endliche hervor quillt, und in das alles wieder zurücgeht. Das Endliche hat dem Brahm, dem Seienden gegenüber Teinen Beftand; die Abhängigfeit geht hier bis zur Vernichtung des Endlichen. Wenn das unendliche Sein bier eigentlich nur das nichtendliche ift, fo ift es nur eine andere Wendung besjelben Gedanken, wenn in dem Buddhismus die endliche Welt als dem Gefeg der Verkettung unterworfene als ein bloßer Schein behandelt wird, an dem zu hängen Leiden her⸗ vorbringt, während die Befreiung nur gefunden wird in dem Übergang aus dem Endlichen in das Nichtendliche, das, weil es nichts Beftimmtes ift, ebenfo wie ald Sein auch als Nichts *) an- gefehen werben kann. Wenn ferner fon in dem Geſetz der Ver- fettung ſich die unentrinnbare Abhängigkeit des Menfchen von dem Schickſal oder fofern dieſes Gefe zugleich als Geſetz der Vergeltung gefaßt wird, von der Vorfehung, mit einem Worte von dem Weltgefeg der Kaufalität ?) zeigt, fo ift der Bubdhismus als Reli» gion befanntlich auch keineswegs bei jener Verſenkung in das Nirwana ftehen geblieben, in ber felbft fi) doch auch nichts anderes aus⸗ fpricht, als die Nichtigkeit alles Endlichen gegenüber dem Nichts endlichen. Buddha felbft ift als fortlebend von der fpäteren Ge⸗ meinde vorgeftellt; e8 werben ihm immer mehr göttliche Prädilate zugefchrieben, und vor allem das der Allmacht ®). Übrigens fiel der Bnddhismus, foweit er nicht ſich als Philofophie erhielt, auch wieder in den Polytheismus zurück; und harafteriftifch ift für das Gefühl feiner eigenen Unvollkommenheit, daß er felbft ſich bie Dauer feines Lebens begrenzt vorftellt.

Die polytheiftifcden Religionen feinen ſich auf ben erften

1) Bol. Oldenberg, Buddha, S. 273f. 290. „Führt der Weg aus der Welt in ein neues Sein? führt es in das Nichte? Der buddhiſtiſche Glaube hält fi auf der Meſſerſchneide zwiſchen beidem.“

%) Bgl. Oldenberg a. a. D., ©. 257. 248f.

8) Koeppen, Die Religion des Buddha I, 555. 4305.

o Dorner

Blick in keiner Weiſe aus dem ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbe⸗ wußtſein begreifen zu laſſen. Allein abgeſehen davon, daß kein Menſch behaupten kann, daß ſich die polytheiftifche Frömmigkeit der monotheiſtiſchen an Wert gleich ftellen laſſe, daß bie polytheiftifchen Religionen felbft ein Gefühl ihrer Unvolltommenheit haben, das fi in dem Bewußtſein des Unterganges ihrer Götterwelt vielfach ausfpricht, 3. B. in der griechiſchen und nordiſchen Mythologie, finden wir in verfchiedenen Formen eine Annäherung an das mono⸗ theiſtiſche Bewußtſein, teils indem ein oberfter Gott, ein Water ber Götter angenommen wird, unter deſſen Herrihaft und Macht die übrigen Gottheiten und die Menſchen ftehen, oder ein Schichſal, das allmächtig ift, über der Götterwelt ſchwebt. Ebenjo aber ift aud in dem frommen Moment ſelbſt eine einzelne polythei- ftifche Gottheit als die erfaßt, von ber der Menſch allein abhängt, wird alfo als die ſchlechthinnige Macht angefehen. Beſonders deutlich Hat diefe Thatſache Mar Müller Hervorgehoben; er be zeichnet dieſe Erſcheinung als Henothelsmus ). Damit ein Menſch ſich ſchlechthin abhängig wiſſe, iſt durchaus nicht nötig, daß er for fort zugleich fich mit der ganzen Welt unter dem Abhängigkeitds bewußtſein zufammenfaffe. Von einem befonderen Ereignis ber Natur kann feine empfängliche Vernunft angeregt werden, fo daB er für diefen Fall, wenn aud nicht für alle Fälle fi von einer hinter der Natur ftehenden unbedingten Macht abhängig fühlt, for bald buch den Gegenfag von Selbjt- und Weltbemußtfein, der duch eine Naturerfcheinung Yebhaft erregt wird, zugleich die Em- pfänglichkeit für eine den Gegenſatz harmoniſierende Macht in ihm erwacht ift. Es ift durchaus der Art der Entwicelung ber Ver⸗ nunft, alfo auch der für Gott empfänglichen Vernunft, entfprechend, daß nicht fofort das Bewußtſeln des Unbedingten überhaupt ent, fteht, fondern daß zunächft im Zufammenhang mit einem beftimmten Ereignis die Ahnung des Unbebingten ſich erhebt?) 3. B. bei irgendeinem auffalfenden Naturereignis der Menſch die Hinter dem⸗

1) Bol. 3. B. a. a. D. die beiden Hymmen am Indra und Varuna, ©. 324. 327. 2) Ähnlich iſt es auch mit dem Erwachen des fittfien Bewußtſeins (f. u.)

Über das Wefen der Religion. 31

felben ihn und das Naturobjelt beherrſchende unbedingte Macht ahnt, ohne daß er fofort imftande wäre von biefem Natureindrucke das Bemuftfein des Unbebingten völlig abzuldfen, und das Bes wonßtfein des Unbedingten überhaupt zu erreichen. Aber wenn in vielen einzelnen Fällen diefelbe Ahnung oft wiederfehrt, dann lann die Vernunft auch den Schritt tun, ein Unbedingtes überhaupt zu ahnen. Ober beffer ausgebrüdt, die Empfänglichkeit des Mens ſchen fchliegt fich zuerft in Konfreten Fällen auf, und da kann Gott feinen Strahl in die Seele fallen laſſen, fo daß für den einzelnen Tall die Ahnung des Unbedingten entfteht. Aber es fegt eine Tängere Entwidelung voraus, bis der Menſch imftande ift, diefe Ahnung von ben konkreten erregenden Fällen völlig abzulöfen, bis Gott ſich ihm als den allmächtigen ſchlechthin offenbaren Tann. Denn ſchwerlich wird man leugnen Können, daß anfangs ein zu fammenhängend monotheiftifches Bewußtſein kaum vorhanden fein tann, was freilich noch nicht notwendig Polytheismus vorausſetzt. Denn wenn in konkreten Fällen Hinter einer gegebenen Erfcheinung 3. B. der Sonne eine unbedingte Macht geahnt wird, fo folgt daraus noch nicht, daß mit diefer Erfcheinung notwendig das Un⸗ bedingte felbft beftimmt identifiziert wird, wenn es auch noch nicht völlig Mar von derſelben unterfchieben ift. Im Gegenteil findet bei einer anderen Erſcheinung, 3. B. dem Gewitter, biefelbe Ahnung ftatt. Ob nun der Fortſchritt dahin geht, in all diefen Erſcheinungen ſchließlich dasfelbe eine Unbebingte zu ahnen und zwar mit bem Bewußtſein, daß es dasſelbe eine fei d. h. bewußt das Unbe⸗ dingte von den einzelnen Erſcheinungen völlig abzulöfen, oder ob vorher, ehe es dazu kommt, die Ahnung bes Unbedingten mit der Erfcheinung jelbft vermifcht wird und fo allmählich die Ahnung des Unbebingten verendlicht wird, das ifl eine Frage, die wir hier nicht entfcheiden wollen. ebenfalls find von dem Anfang aus beide Wege möglich und nur eine gefchichtliche Unterfuhung Tann darauf antworten, ob auch beide wirklich geworden find. Aber jedenfalls muß eine Ahnung des Unbedingten da fein, wenn es mit dem Endlichen fol vermifcht werden können. Daß der Poly- theismus das Bewußtſein der göttlichen Allmacht aufweift, ift eine Thatſache, die nicht aus dem bloßen Gegenſatz von Gelbftberoußt-

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fein und Natur erflärt werden Tann. Denn bie Natur zeigt fih uns gegenüber nie allmächtig. Sondern nur, wenn im Meenfchen eine Anlage für das Innewerden des Unendlichen, Unbedingten ift, iſt es verftändfich, daß biefe durch den im Verhältnis zur Natur entftehenden Gegenfag von Selbft- und Weltbewußtfein, von Frei⸗ heit nnd Abhängigkeit gewedt wird. Alfo auch der Polytheismus weift da8 Bewußtfein unbedingter Abhängigkeit, wenn auch in un volffommener Weife auf, während die volllommene Form des Be- wußtſeins unbebingter Abhängigkeit nur die fein Tann, dag dasfelbe nicht bloß in einzelnen Fällen aufleuchtet, ſondern ftetig ift, alfo die monotheiftifche Form *). Die Unvollkommenheit des poliptheis ſtiſchen Bewußtſeins ift im der mangelhaften Empfänglichkeit des Menſchen begründet, der den Strahl ber göttlichen Wirkfam- feit nur in gebrochener Geftalt aufnimmt; aber anderfeits ift ohne dieſe göttliche Wirkfamfeit eine Ahnung Gottes ale des un- bedingten Allmächtigen, wie fie aud ber Polytheismus aufweiſt, nicht erflärlih. Was endlich den fogenannten Fetiſchismus ans geht, fo verdient diefer faum Berückſichtigung. Denn die Theorie des Urfprungs ber Religion aus Fetiſchismus feheint mir durch die neueren Unterfuchungen von Mar Müller ?), fowie von Hap- pel ®) abgethan zu fein, fo daß der Fetiſchismus nur als eine Ver⸗ zerrung ber Religion anzufehen ift, ‚die nicht einmal Anſpruch darauf erheben Kann, als eigene Religion zu gelten. „Daß zus fällige Objekte“, fagt Mar Müller, „wie Steine u. f. w. einen theogonifchen Charakter Haben, d. 5. für ſich allein zur Ahnung von etwas Überſinnlichem und Unendlichem Hinführen, ift nie ber

1) Mon mag Hieraus abnehmen, daß die Differenz gar nicht fo groß ift, wie es auf den erſten Blick ausficht, zwiſchen einer Auffaffung, welder Gott als der Unbebingte nur in einzelnen Fällen in Verbindung mit beſtimmten Weltgeſtalten erſcheint in polytheiſtiſcher Weife und dem Verhalten, welches das monotheiftifche Gottesbewußtfein nur teilweiſe in einzelnen Momenten pflegt, im übrigen aber fid in die Welt verfenft. Im erſten wie im zmeiten Falle kommt Gott nur auf Momente, nicht ftetig zum Bewußtſein.

2%) A. a. O. in der zweiten Vorleſung.

3) „Die Anlage des Menfchen zur Religion“, vgl. die Anzeige von Klei- nert in dieſer Zeitfchr. 1879, ©. 549 ff.

Über das Weſen der Religion. 33

wiefen worden, während die Thatſache, daß alle wilden Bölfer, nachdem fie einmal zur Ahnung des Göttlichen fich erhoben, Tpäter die Gegenwart desſelben auch in rein zufälligen Objekten zu finden meinten, überfehen ift.“ Nach BPfleiderer a. a. O. ©. 319 „gehören die Fetifche in die Klaſſe der fatramentafen Kultusobjelte“.

Die empiriſche Geſtalt der Religion alſo beſtätigt unſere Ans nahme, daß das abſolute Abhängigkeitsbewußtſein für die Religion fundamental ift, und wo basfelbe gar nicht vorhanden iſt, iſt auch feine Religion, wo es unvollkommen fich zeigt, ift auch die Religion unvollfommen. Denn in ber Religion muß das Grund» verhältnis Gottes und des Menfchen zum Bewußtſein kommen.

Damit ift freilich nicht gefagt, daß die Religion nicht auch noch anderen Inhalt haben könne. Im Gegenteil ift dieſes Grund» verhältnis fo umfaffend, daß, ſobald es richtig begriffen ift, alle Mobifitationen des religiöfen Verhältniſſes fi als nähere Bes ftimmungen desfelben auffaffen laſſen. Ja man kann fagen, bag eine Religion, welche bei dem bloßen abjofuten Abhängigfeitsbes wußtfein ftehen bliebe, Höchft unvolltommen wäre. Vollkommene Religion ift nur da, wo das abfolute Abhängigkeitsbemußtfein kon⸗ Tret beftimmt ift. So ſehr man daran feftzuhalten hat, daß das abfolute Abhängigfeitsbemußtfein das Fundament des religiöfen Verhältnifjes bildet, fo wenig Tann man dasfelbe für ſich ſchon als vollfommene Religion anfehen, wenn es nicht konkret bes ftimmt ift.

Wir Haben hiernach noch zwei Aufgaben: einmal bedarf das abfolute Abhängigkeitsbewußtfein bei feiner fundamentalen Be— deutung felbft noch einer genaueren Analyfe. Sodann aber müffen wir die konkreten Beftimmungen desſelben betrachten.

a) Analyfe des abfoluten Abhängigkeitsbewußtfeins.

Auf den erften Blick ſcheint der Begriff des abfoluten Ab- hangigkeitsbewußtſeins einen Widerſpruch zu enthalten‘). Denn

1) Bol. Hierzu die Ausführungen in meiner Abhandlung Jahrbücher

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um meine Abhängigkeit zu wiſſen, muß ih wiſſen; um zu wiſſen, muß ih in Aftion fein; wenn ich aktiv bin, bin ich aber jeden⸗ falls, ſcheint «8, nicht ſchlechthin abhängig. Wenn ich mich alfo ſchlechthin abhängig wiſſen fol, fo fol ich mich zugleich wiffen, bin aber im Wiffen aftio, ſoll mich alfo auch aftiv wiſſen und doch zugleich ſchlechthin abhängig, d. 5. paſſiv wiffen. Um diefer Schwierigfeit zu entgehen, Könnte man an Stelle des abfoluten Abhängigkeitsbemußtfeins die Einheit mit dem Abfoluten fegen wollen. Allein es kommt nicht nur auf die Einheit an, fondern darauf, daß im Bewußtſein der Einheit mit Gott auch das Selbft- bemwußtfein erhaften bleibt, daß zugleich der Unterfhied von Gott ſich im Bewußtfein erhält. Betrachtet man das Verhältnis Gottes und des Menſchen objektiv, fo ift jehr wohl denkbar, daß Gott Wefen Taufiere, die felbft wieder kauſieren können, auf Grund ihres Kauſiertſeins. Inbezug auf das unmittelbare Bewußtſein aber wird man annehmen müffen, daß es ſich hier nicht etwa bloß um eine Schranke des Denkens handelt, fondern daß der Menſch mit feinem ganzen Bewußtſein, fofern er feiner eigenen Einheit und Realität inne wird, alfo da, wo er vollfommen als Totalität in fi ift, die abfolute Schranfe fühlt, welche ihm entgegentritt. Das Ich empfängt den Eindrud, dag es in Beziehung auf fein Sein überhaupt ſchlechthin beſchränkt ſei und dag alle Aktionen, die es ausübt, diefe Schranke nicht befeitigen Lönnen, vielmehr nur

f. deutſche Theologie, Bd. XV, ©. 247—251. Wenn ich den Ausdrud mabfolutes Abhängigfeitsbeuußtfein“ brauche, fo ift damit midht bloß ein einfeitiges Wiffen gemeint, fonbern das unmittelbare Bewußtfein ber Perſon ſelbſt; das Ich in feiner Totalität fühlt ſich abhängig, es ſtellt fih nicht bloß fo vor; fondern das Mbhängigfeitsbewußtiein if zugleich das Ger FÜHL dev Abhängigkeit der ganzen Perfon in ihrer Totalität, alfo auch in ihrer vollen Realität. Der Sit dieſes ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtſeins ift das Gemüt; denn im Gemüt ift der Menſch im feiner Totalität, im feinem Zentrum. Wenn ih ſtau „Möhängigkeitsgefühl“ „Abhängigkeitsberoußtjein“ fage, fo it das alfo keineswegs einfeitig intellektualiftifch gemeint, fondern es ift das unmittelbare Innewerden bes ganzen Selbft oder Ich als feiner Eriftenz nad) ſchlechthin abhängigen gemeint. Der Ausdrud „Gerüst“ ift nach anderer Seite Hin mißverftändlic, als ob es dabei primo loco auf Zuft und Unfuft anfäne.

Über das Weſen der Religion. 2

unter der VBorausfegung diefer Schranke gefchehen. Auf der anderen Seite aber vermag doch das Subjekt auch biefer Schranke gegenüber fi zu behaupten; ſchon in dem Innewerden der Schrante Tiegt, daß es eine Reaktionskraft befist, ohne bie e8 den Eindrud der Schranke gar nicht zum Bewußtfein bringen könnte; es muß fi fhon der Schranke gegenüber behaupten, um überhaupt von fich zu wiſſen. Die abfolnte Abhängigkeit Tann alſo nur feftgehalten werden, wenn das Subjekt auch diefe Fähigfeit der Selbftbehauptung, wie feine Aftionsfähigfeit überhanpt wieder in Gott begründet weiß, aber fo, daß diefelbe nicht aufgehoben, fondern beftätigt wird. Das heißt nichts anderes als, daß Gott nicht als bloß negative Schranke, als das Unendliche, das alles Endliche aufhebt und vernichtet, nicht als „schlechte Unendlichkeit“, fondern als eine zugleich pofitiv wirkende, das Endliche anerfennende Schrante empfunden wird, als die abfolute Macht, welche jedem feine Schrante fegt und jeden in feiner von ihr befehränften Exiſtenz erhält. Es ift kein Widerſpruch, fi abfolut abhängig zu wiffen, wenn bie relative Freiheit in die Abhängigkeit mit aufgenommen wird. Diefer Sad. verhalt fpricht Fih nun im unmittelbaren Bewußtſein vollfommen aus, ohne daß die einzelnen Momente auseinandergelegt wären. Kurz, die ſchlechthinnige Urfächlichkeit muß für alles die ſchlecht - hinnige Schranke fein und muß als folde empfunden werben; aber fie ift zugleich Hervorbringende Kraft. Alles, was fie her⸗ vorbringt, verdankt nur ihr fein Dafein: aber es kann fo her⸗ vorgebracht fein, daß es felbft Faufieren kann. Seine Schranke aber ift eben darin begründet, daß es nur kaufieren Tann, weil Gott es in feiner Eriftenz, in feiner Fähigkeit zu kaufieren erhält. Dem entſprechend weiß nun auch das Subjekt fich feiner Eriftenz nad mit all feinen Fähigkeiten ſchlechthin von Gott ab» hängig, aber fo, daß ihm gerade Hierdurch der Gebrauch feiner Fähigkeiten, feine relative Aktivität umd freiheit garantiert iſt. Übrigens ift auch durdaus natürlich, daß, obgleich das Sub⸗ jett in feiner Totalität unmittelbar diefe Abhängigkeit inne wird, es doch biefelbe nicht Mar erfafien Tann, bevor der Gegenfag von Welt⸗ und Selbſtbewußtſein hervorgetreten ift, da, bevor dies ger ſchieht, die relative Abhängigkeit von der Welt von der fhlecht-

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hinnigen Abhängigfeit nicht Tann unterfchieden werden. Hingegen ft es für das Auftauchen des fchlechthinnigen Abhängigkeitsbe- mußtfeins nicht nötig, daß der Menfch ſchon die ganze Welt als Einheit auffaffe, um ſich mit dem zum umfaffenden Weltbewußt⸗ fein erweiterten Selbftbewußtfein fchlechthin abhängig zu wiffen. Vielmehr Tann aud in einem konkreten Falle, wo in konkreter Weife da8 Selbft- und Weltbewußtſein auseinandertritt, die Em- pfänglichkeit der Vernunft für das Innewerden der abfolnten Raus falität Hervortreten. Denn das ift die Art, wie wir uns ent wickeln, daß die allgemeinen Wahrheiten nicht fofort in ihrer vollen Allgemeinheit und in ihrer ganzen Tragweite uns zum Bewußtfein kommen, fondern das Allgemeine zunächft in einem konkreten Falle ſich offenbart.

Wenn die Duplicität von Welte und Selbſtbewußtſein zu einer Einheit zurückgeführt werden foll, Tann es entweder nur in ber Form gefchehen, daß das Selbſtbewußtſein und die mit ihm ver- bundene Freiheit das Weltbewußtfein und die mit ihm verbundene Abhängigkeit aufgeht allein das führt zu dem reinen Anthropolo⸗ gismus, jelbft bis zum Solipfiemus —; oder daß das Weltbewußt⸗ fein das Selbſtbewußtſein verfchlingt das gefchieht in panko⸗

miſtiſchen Formen des Pantheismus; da ift der Menſch nur Durhgangspunft des Weltprogeffes, eine vorübergehende Erſcheinung der allgemeinen Natur u. ſ. w. Da auch dies nicht haltbar ift, fo bleibt nur die Vereinigung, welche in dem abfoluten Abhängigteite- bemußtfein gegeben ift, übrig, welches die Welt und das Ich gleihmägig Gott unterordnet und eben damit auch die Möglich. keit einer Harmonie des Ich mit der Welt in Ausſicht ſtellt, da beide aus einer Iegten Quelle ftammen, ohne daß das Ich oder die Welt, die dem Ich gegenüber fteht, negiert werden müßte. Das abfolute Abhängigfeitsbewußtfein, weit entfernt in ſich wider⸗ ſpruchsvoll zu fein, führt das Bewußtſein zur vollen Einheit und Harmonie.

Das wird ſich befonders Mar erweifen, wenn wir noch die fonkeeten Beftimmungen des abfolnten Abhängigfeitsbewußtfeins, ober objektiv ausgedrüct bie fonkret beftimmte göttliche Kaufalität etwas genauer betrachten.

Über das Weſen der Religion. 37

b) Rontrete Beftimmungen des abfoluten Abhängig- keitsbewußtſeins.

Wenn das abſolute Abhängigkeitsbewußtſein die Abhängigkeit des Menſchen in all feinen Grundfunftionen von Gott umfaßt, wenn objektiv ausgedrückt, Gott der Urheber all diefer Funktionen ift, fo werden die Beftimmungen des abfoluten Abhängigkeitsbemußt- feins weentlich diefen Funktionen entfprechen. Als dieſe Grund⸗ funktionen find aber die des Erfennens, des Wollens, der Phan⸗ tafie und des Gefügls anzufehen. Gott wird dem entfpredhend als Urheber des Wiffens, des Sittlihen, und ber die Phantafie und das Gefühl befriedigenden Harmonie angefehen werden, das abſolute Abhängigfeitsbewußtfein wird inteffeftuell, ethiſch, äſthetiſch beftimmt fein ?)

a) Die konkrete Beftimmtheit des abſoluten Abhängigfeits- bemußtfeins burd das Wiffen.

Gehen wir von der anfänglichen Entwicelung des Menfchen aus, fo kann der Umftand, daß Hier der Menfh in einem Zur ftande unbefangenen Strebens nah Eudämonie ſich befindet %), doc nicht den Schluß geftatten, daß er hier überall auf feine Eu- dämonie allein bedacht fei. Sol man ben Menſchen auch auf diefem Standpunkte als Menſchen denken, fo beginnt doch bei ihm die Unterſcheidung zwifchen Welt» und Selbftbewußtfein, und zwar zeigt fich dieſe Unterfcheidung ſchon in der finnlichften Borm ale Unterfceidung von Wahrnehmung und Empfindung. Nur wenn ein Objeft objektiv wahrgenommen wird und davon der Eins drud, den dasfelbe auf das Wohl oder Wehe des Subjefts macht, unterſchieden wird, ift ein menſchliches Bewußtſein vorhanden.

1) Wenn wir hier von ber fubjeftiven Seite, den Funktionen des Subjeftes, ausgehen, fo ift doch nicht die Meinung, daß eine diefer Funktionen ohne Be- siehung zur Außenwelt, zur Natur, zu ben Menſchen und ihrer Gemeinfchaft aktiv wird. Wir gehen bier von der fubjetiven Seite aus, weil es ſich um das Abhängigkeitsberwußtfein des Subjektes zunächft Handelt.

2) Wie Chalybäus ausführt: „Syſtem der ſpekulativen Ethik“, Bd. I, Bud 8, Tl. J.

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Nicht anders aber verhält es ſich mit der Neaftion gegen die äußeren Eindrüde. Sie findet nicht bloß ftatt durch die Aktion nad) außen, welche aus der Empfindung hervorgeht und zunädhft dem Wohl oder Wehe dient; fondern fie findet nicht minder ftatt in der objeftivierenden Phantafie, welche Vorftellungen bildet und verbindet. Diefes Sihraufbauen einer eigenen Welt in der (wenn auch zunächft fubjektiv, individuell und finufich) projizierenden Bhan- tafie, welche ſich übrigens an bie Objekte der Wahrnehmung Hält, hat zunäcft nichts mit dem Wohl und Wehe zu thun, ſondern ift die Befriedigung des erwachenden Erkenntnistriebes. Von Vorftellungen und deren Syntheſe wird er zu Begriffsbilbungen fortfchreiten, und indem ber Menfch fi fo immer im Zufammenhang mit der Außenwelt, die er wahrnimmt, feine eigene innere Welt aufbaut, bethätigt er feine Selbftthätigfeit gerade fo gut, als indem er durch die Empfindung veranlaßt zunächft durch Aktion nach außen feinen empfundenen Bebürfniffen Befriedigung zu verfchaffen ſucht. Es till mir num durchaus nicht feinen, dag man jene erfennende Funlktion einfach der praftifchen unterorbnen Kann. Im Gegenteil erweift fi eben mit dadurch der Menfch auch in den Anfängen feiner Entwidelung als Menſch, daß er nicht alles feiner Eubä- monie unterorbnet, daß er vielmehr, wie er Wahrnehmung und Empfindung anfangs unterfcheidet, fo fpäter auch einen auf bie objektive Wahrheit gerichteten Sinn hat. Schon in jener Thätig feit der Phantafte zeigt fih die Gabe, das Mannigfaltige zu Ein- heiten zu verknüpfen, zeigt fich der das Viele umfafjende, univer- felle Charakter des Erkennens. Mag immerhin die Erkenntnis im Intereſſe der Eudämonie verwendet werben, ihre Bedeutung geht auch im Anfang darin nicht auf. Wenn nun die Religion im Menfchen entfteht, jo wird fie keineswegs bloß dem Bewußtſein des Wehes, das ihm vonfeiten der Natur angethan wird, ihr Dafein verdanken; die Religion ift nicht bloß aus Furt entftanden, was Pfleiderer mit Recht beftreitet, aber auch nicht nur dem Bewußtfein des Wohle, da8 3. B. der Menſch von der Sonne empfindet und das ihn nun einen Wohlthäter Hinter diefer Erſcheinung ahnen läßt, übers Haupt nicht bloß dem von der Natur erregten Lufte und Unluftges fühl, das wohl Anlaß, aber nicht letzter Grund des religiöfen Ber

Über das Wein der Religion. 2

wußtfeins fein kann, fondern in ihr ift zugleich der Rückgang auf eine objektive Einheit, welche zwifchen dem Weltbewußtſein und Selbftbewußtfein die Harmonie Herftellen fann. Und diefer Drang nach einer letzten abfchliegenden Einheit ift keineswegs blog durch dem praftifchen Gegenfag von Freiheit und Abhängigkeit hervorgerufen. Sondern «8 ift auch das Bebürfnis der alles in einer Einheit zu⸗ ſammenfaſſenden theoretiſchen Vernunft, das über die Gegenfähe hinansführt, und in dem abfoluten Abhängigkeitsbewußtfein feine Befriedigung ſucht. Auch das Erkenntnisbedärfnis wird in dem abfoluten Abhängigfeitsbemußtfein befriedigt, in dem alles auf eine einheitliche legte Urfache zurüdgeführt wird; mag immerhin an- fangs das praktische und theoretifche Intereſſe nicht rein ausein⸗ andergehalten werden, das hindert nicht, daß boch beide vorhanden find und an gewifien Punkten fich auch geltend machen, wie auch die Erfahrung beftätigt. Der Weg zum Monotheismus, wie ihn die Griechen und die alten Juder ) durchlaufen haben, weiſt keines. wege bloß auf die praftiiche Seite der Cudämonie als Motiv hin; es ift vielmehr zugleich das Bedürfnis des Erkennens, des Findens einer legten Einheit hier wirlſam und das fo fehr, daß man viel- fa tadelt, daß bei den Griechen die Erkenntnis einfeitig hervor- trete. Aber auch ſchon die Mythologie giebt teilweiſe die deut⸗ lichſten Beweife, daß es ſich in ihr micht überall um eine unmittel« bare Beziehung auf das Praftifce handelt. Die Naturprozeffe werden verfinnbildlicht, ohne dag man die Abficht erfennen könnte, durch ſolche Dichtungen irgendwie dem Wohl oder Wehe der Men- ſchen zu nügen. Die Theogonieen und Kosmogonieen der My- thologie, wie der Schöpfungsbegriff des Alten Teftamentes, weiſen nit auf ein direltes Intereſſe am Wohl und Wehe Hin; es zeigt ſich in ihnen jedenfalls auch das objektive Intereſſe, die Welt in ihrem Urfprung zu verftchen. Es ift ein Moment des Erlennens ebenfo in der Religion enthalten, wie ein praftifches. Der Fromme glaubt, daß die Gottheit fo fei, wie er fie ſich vorftefit, daß wahr fei, was ihm von derfelben verkündet werde,

2) Bol. Zeller, Vorträge und Abhandlungen: Die Entwidelung des Monoihersimns bei den Griechen, S. 9—29, und Mar Mäller a. a. ©.

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Mon kann ja nun freilich diefe Erſcheinung fo zu erflären ver fügen, daß der Menſch, um vom der Gottheit irgendwelde Hilfe für feine Eudämonie oder auf höherer Stufe für fein mora- liſches Handeln erwarten zu Können, fie auch als objektiv vorftellen müffe. Allein alles würde fofort fih in Stepfis auflöfen, wenn die unabhängige Erkenntnis einfähe, dag das nur eine aus bem eubämonifcen oder moralifchen JIntereſſe Hervorgehende Bor« ftellung fei, mas er als objektiv anſieht. Ich ftelle natürlich nicht in Abrede, daß diefe Erflärung im einzelnen oft genug zu trifft; was ich bezweifle, ift nur, daß das allgemeine Streben ber Religion nach Wahrheit auf dem praktischen Wege genügend zu er Mären fei. Überall in den höheren Religionen finden wir den Trieb der Erkenntnis felbftändig ausgebildet und das Anſchauen Gottes, das Verftehen der religiöfen Offenbarung ift für ſich felbft Gegenftand von lebhaften Intereſſe. Auch derjenige, welcher meint, daß der Erfenntnistrieb nicht felbftändig, fondern nur in untergeordneter Form hier zur Geltung komme, daß er bier ſtets mit dem praf- tiſchen Intereſſe vermifcht, daß ein mirfliches objeftives Erkennen, da8 ohne damit verbundene Nebenabfiht rein um fein felbft ge trieben werde, in der Religion nicht zu finden fei, wird keinen falls Tengnen können, daß fich in der Religion Ausfagen über Gott finden, die mit dem Anfprucd wahr zw fein verfündet werden, und daß ebenfo der Erfenntnistrieh für fich die Tendenz Hat, ſich zu einer unbedingten legten Einheit zu erheben. Mag es nun immer- hin Entwidelungsftadien geben, wo die Erfenntnis ſich der Religion gegenüber relativ felbftändig entfaltet. Es bleibt doch die Frage, ob nicht der Rückgang auf die letzte unbebingte Einheit, auch wie ihn da8 Erfennen mittelft der von der Vernunft entwickelten Gotteö- idee vollzieht, ſchließlich auf einer That Gottes im Inneren, auf einer Gotteserfahrung ruht, ob nicht die in der Vernunft vor: handene Idee des Unbedingten auf eine göttliche Offenbarung im Inneren zurüdweift. Wenn man diefe Trage bejahen muß, fo giebt es eben im Erkennen einen Punkt, wo dasfelbe urſprünglich mit der Religion Loincidiert, und man kann dann jagen, daß die transcendente Seite des Erkennens in dem refigiöfen Bewußtſein urſprunglich feine Befriedigung finde, daß in dem religiöfen Ber

Über das Weſen der Religion. 31

wußtſein aud ein prinzipielles Erkennen der letzten Einheit gegeben fei, das niemals durch den Erkenntnisprogeß, der fpäterhin folgt, überflüfftg gemacht werben kann, weil es auf einer mit» teilenden That Gottes ruht. Aber jene obige Frage müflen wir bejahen. Die Vernunft verhält ſich zuerft empfanglich; denn fie tann die dee des Unbebingten nicht urfprünglich, fondern nur fefundär produzieren, wenn Gott ſich als unbedingten im Bes wußtſein geoffenbart Hat. Die abjolute Kanfalität, welche der letzte eingeitliche Duell von allem ift, wenn .fie gedacht wird, fann nur auf Grund des unmittelbaren Innewerdens durch eine That des Abſoluten felbft gedacht werden. Das ift im Begriff des Unbebingten felbft enthalten, daß es aud der letzte Urheber feines Begriffs im Menfchen ift. Diefes unmittelbare Innewerden aber ift religiös. Der Erkenntnistrieb wird alfo in feinem Drang nach Einheit urfprünglich religibs befriedigt werden, weil nur durch Ruckgang auf die letzte Einheit, aus ber alles hervor⸗ geht, demfelben genügt werden kann. Man müßte wieder dahin Tommen was wir als unhaltbar erfannt haben —, daß das religtöfe Erkennen gar feinen objektiven Charakter Habe, daß es nur ein Erkennen fei, das den praftifchen Intereſſen des Sub⸗ jetts dient, wenn man leugnen wollte, daß auch der Erkenntnis⸗ trieb in der bezeichneten Hinficht urſprunglich religids befriedigt werbe.

Bir Tönnen aber eben Hier noch einen Schritt weiter ' gehen. Wenn nur durch das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbemußtjein der Drang des Erlenntuistriebes nach Einheit befriedigt werden kann, weiß auch der Menfch feinen Erfenntnistrieb ſelbſt als von Gott ftammend. Inſofern num Gott Urheber bdesfelben ift, der die Einheit von Denken und Sein, von Subjett und Objelt vorausfegt, muß in Gott diefe letzte Einheit gegeben fein, durch die allein Wiffen mog lich ift. Gott muß alfo in dem Abhängigleitsbewußtfein als bie Quelle alles Wiffens gewußt werden. Die göttliche Kaufalität objektiv ausgedritdt, wird als Subjeft-Objett, als Urwiſſen aufs gefaßt, von dem alles Wiffen ftammt. Der alles Schauende ift Gott, der Allwiſſende, von dem alle Wahrheit und Erkenntnis kommt, die Quelle der Weisheit, das urviſſen.

feel. Stad. Jahrs. 1888. 1s

a B Dorner

Eben Hierdurch tft nun aber zugleich das abfoluie Abhängig. keitsgefuhl nach einer Seite Hin näher beftimmt.

Aber dadurch iſt nicht ansgefchloffen, daß aud die praktifchen Intereſſen in dem refigiöfen Bewußtfein zum Abſchlug kommen. Denu es iſt ſchlechterdings nicht einzufehen, warum von vornherein nicht theoretiſche und praktiſche Intereſſen ſollen vereinbar fein. An fich iſt doch beides nicht notwendig widerſprechend. Es ift vielmehr möglich, daß in dem abſeluten Abhängigteitäbewußtfein beides Hoineibiert. Das theoretifche Bebkrfuts nach Harmonie des Welt- und Gelbftbewwußtfeins, nach einer Die Erkenntnis ab- ſchließenden Einheit, wie des praktiſche Bebrfnis der Harmonie von relativer Freiheit und Abhängigkeit.

P) Die konkrete Bekimmtheit des abſoluten Abhängigkeits- bewußtfeins durch das Sittliche.

Gehen wir auch Hier von dem anfänglichen Zuftande aus, fo wird Hier, wo es fich um Praltiſches handelt, allerdings bie Reli⸗ gen, wenn fie hervortritt, zumädft mit ber Gubämonie in Ver⸗ bindung treten. Allein es will mir nicht ſcheinen, als ob man diefe Verbindung fo auffaffen Kännte, Laß der Menſch die Götter ober die Gottheit aus feinem Bewußtſein Heraus profiziere, meil er die Natur nicht beherrſchen kann, menjenähnliche Weſen als Herrſcher der Natur vorſtelle, um fie durch Gebete zu bexeben, duch Gaben gaudig zu ftinamen, damit fie ihm als Herrſcher über Beftimmte Naturgebiete feine Wunſche erfüllen. Denn abge fügen von dem Fetiſchismus und. Gchamanentum, bie doch ver⸗ tommene Geftalten im religibſen Leben find, findet ſich ber Haube nicht, daß. der Menſch die Gottheit, die einer Raturiphäre vor fteht, in feiner Gewalt Habe, alfo mittelft ihrer wirklich feine Zee figer erreichen könne, was dach der Ball fein müßt, wenn der Menſch die Gottheit zu diefem Zwecke profigierte. Daß allerdiugs der Menſch die Gettheit ale Mittel fir ſeive eudamo alien Wanſſche verwenden möchte, iſt eine nicht zu Tengmende MWatſache, die aber in der That fich volllommen erklärt, wenn man dns Berwußtfein ber ſchlechchinnigen Abhängigkeit von der Gottheit vorausfegt. Dean dann ift €& wohl Degneiflich, daß her

Über das Welen der Religion. 2

Menſch die über hn Herrfchende Gottheit gnäbig zw ſtimmen ſucht, um feing eudämoniſchen Zwecke durch ihre allmächtige Gunſt au erreichen; daun allein iſt aber auch begreiflich, daß der Menſch derartige Verſuche macht, ohne deßzhalb zu glauben, über die Gottheit wirtlich Gewalt zu Haben, worin ihn die Erfahrung auch nur in geringem Maße beftärken könnte. Man denke z. B. an das Sciejet bei den Griechen und den damit zufammenhängenden Begriff der Üßess: dag find gewiß feine im Intereſſe der Eudämonie erfundene Vorftellungen. Auf dem endämopifchen Stanbpupfte befigt der Menſch nqch nicht genug Euergie, um gegenüber der Natur ſelbſtändig zu handeln. Go lange er guf ber Stufe ber naturlichen Eubir monie ſieht, befinhet er ſich in großer Abhängigkeit von den Ob⸗ jelten, die er genießen will. So lange er nur unbefangen der Cubämguig lebt, ift bie Fhpffrgft gering. Daher die eubimonifche Stufe das Erwachen des abfoluten Abhängigkeitsbewußitfeins in der Form des Ergehung brgünftigt. Fijr den eubämonifc—hen Trieb bleiht, wo dag Handeln, das etwa gemagt wird, nichts erreicht, mur die Fr⸗ gebung übrig. Denn bie Verſuche, durch allerhand eulfifche Hand- hungen dje Gottheit gnäbig zu ftimmen, mm fo beu gewünſchten Erfolg zu erlangen, find an fi ſchon weit weniger Thaten der Treigeit gls Bepeiſe der Anerkenuung der Abhängigfeit ynb fordern, da fie die Sicherheit des Erfolges nie verbiirgen kbnnen, im Bringp Ergebung in die göttliche Fugung. Und hierin iſt allerdings auf der eudämoniſchen Stufe ber letzte —— ge⸗ gehen, indem das enbämonijche Streben des Subjektg fi in dem Bewußtſein abfoluter Ahhängigkeit mit dem Wiherftand, den es ponfeiten der Natur findet, ausſöhnt. weil er auf bie hochſte Macht aunhdgefübrt ift, was natürlich auch innerhalb polgtheiftijcher Porr ftelfyngen geſchehen kann, da man fich in den Wiffen, des Äber- uaähtigen Gnttes fügt, auf drffen Hilfe may pffe.

Allein per eudamoniſche Gtanbpunft " ar im Anfang der Entwickelung berechtigt. Denn wenn man aud mit Chalybäus diefen als die erfte Stufe menſchlicher Entwidelung au betrachten Hat, fo wird doch auf derjelben der Menſch nicht verharren können. Kant Hat ſchon darauf Hingewiefen, daß bie Triebe (melde durch das Verhältnis zur Natur In Aftion geſetzt werden .und zu einander in

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264 J Dorner

Gegenfag treten) die praftifche Vernunft zur Aktion veranlaffen. Sowohl das Auseinandertreten der menſchlichen Triebe und Ber- mögen als and) das Auseinandertreten von Welt- und Selbftbe- twußtfein ſowie von Handelndem und leidendem Ich gegenüber der Natur fest die Vernunft als die einigende Kraft in Thätigkeit. Nicht fofort im allgemeinen, aber in einzelnen Fällen macht die Vernunft ihre Forderung geltend. Es ift die praftifche Vernunft des individuellen Subjeftes, welche inbezug auf Einzelnes ihre Ent- ſchluſſe ausübt, die aber doch an ſich ſchon das allgemeine Gefeg in fich enthalten, bis durch Längere Thätigkeit hindurch endlich die Vernunft aud das allgemeine Geſetz für ſich als foldhes in das Bewußtſein erhebt *). Iſt aber das Geſetz in das Bewußtſein getreten, fo ift damit auch ein Wiſſen von der unbebingten Forderung, dem unbe» dingten Soll (gegeben. Es giebt dann ein fittlihes Ideal, das zwar keineswegs nad allen Seiten Hin vollkommen ausgebildet zu fein braucht, das aber fo befchaffen ift, daß jeder wenigftene weiß, was feine momentane Pflicht fei, und daß mit der Erfüllung der» ſelben das unbedingt Sein-follende gefchehe. Daß diefem Soll die Eubämonie untergeordnet werden muß, daß das Soll, da8 Geſetz darüber beftimmen müſſe, was in jedem Moment gefchehen fol, verfteht fi vom felbft. Es ift ganz vergeblih, das Bewußtſein des unbedingt Wertvollen aus der eudämonifchen Seite abzu⸗ leiten, die am fich nichts Unbedingtes Hat. Die fittlichen Giiter, welche hervorgebracht werben, find keineswegs bloß deshalb fittliche Güter, weil fie Luft bringen, fondern weil fie vernünftig find, und das zeigt fi daran, daB man bei dem Genuß derfelben nicht ftehen bleiben Tann, daß vielmehr jedes Gut wieder im fittlichen Prozeß zu verwenden iſt. Das fittliche Produzieren zum Mittel für die Eudämonie zu machen, die doch immer endlicher Art ift, da immer noch eine höhere Stufe der Luft denkbar ift, hieße das⸗ felbe feines unbedingten Charakters entlleiden, der eben in der inneren unbedingten Notwendigkeit und Vernünftigfeit des Guten liegt und fi durch das mit der Erfüllung der Pflicht unmittelbar

1) Diefen Gedanken hat H. Ritter befonders in feinen Paradora aus- geführt.

Über das Weſen ber Religion. 5

verbundene Höhere Luſtgefühl als unbedingt wertvoll erweift, das qualitativ eigentümfich ift und das eben nicht entfteht, wenn man die Luft zum legten Zweck macht, fondern nur wenn man das fittlich Vernünftige thut. Wenn hiernach alfo, fobald der fittliche Standpunkt voll erreicht ift, die Unterordnung der Eudämonie unter das Sittliche gefordert werben muß, fo kann auch die Reli» gion vollends nicht für fi der Befriedigung des eudämoniſchen Triebes dienen, da ſie fonft der fittlichen Aufgabe, welche bie Unterordnung des Eubämonifchen unter das Sittliche fordert, ent⸗ gegemarbeitete.

Iſt nun aber wirklich im Sittlichen ein unbebingt Wertvolles, fo bleibt nur möglich, entweder auf die abfolnte Autonomie zur rüczugehen ober das Bewußſein bes unbebingt Wertvollen auf Gott zurüdzuführen (Theonomie). Die abfolute Autonomie läßt fi aber im der That nicht Halten, die Vernunft felbft ift nicht unbedingt in jeder Hinfiht. Der Urheber der Annahme der Un- bedingtheit ber praftifchen Vernunft hat fie thatfächlich durch feinen moraliſchen Gottesbeweis fallen lafjen !). Wenn man dabei ftehen bleiben könnte, daß das Sittliche in der praltiſchen Vernunft für fich feine volle Eriftenz Hätte, fo würbe man auch einen Ruckgang auf Gott nicht nötig haben. Allein das Sittliche kann nicht bloß in ber Gefinnung fein; es foll zugleich realifiert werden. Eben das ift feine Forderung. Ein Sittliches, das nicht vermittelft der Natur realiſiert wird, ift fein wirkliches Sittliche. So ift zwar die Forderung unbedingt. Aber die Erfüllung fegt ein Beftimmt- fein der Natur für dem fittlichen Geiſt voraus. Die moraliſchen Beweife für das Dafein Gottes, welche von der faltiſchen Dis⸗ harmonie zwiſchen ſittlichem Soll und Sein auf eine das Soll zum Sein führende göttliche Kaufalität ſowohl inbezug auf bie eigene fittliche Kraft des Handelns als inbezug auf bie Überwindung der äußeren Widerftände ſchließen, wollen wir nicht näher bes leuchten. Der Beweis ferner, welder von Kant geführt wird, daß die änfere Eubämonie dem fittlichen Verhalten entſprechen müfje, würde mit dem Gedanken zu verbinden fein, daß das

4) Bol. meine Schrift über die Primgipien ber Kautſchen Ethik, &. 102.

5% Borker

Natürliche williges Organ des Sittlichen fer milffe; dem ſobalb die Natur von der fittlichen Vernunft volffommen durchdrungen wird, ergiebt fich die damit zufammenhängende natürliche Eudämonie ganz von felbft und braudjt gar nicht erft beſonders poftuliert zu werben. Jedenfalls aber wird man anerfennen müffen, ba, wenn das Sittlihe wirklich unbedingten Wert hat, dasfelbe in dem Un⸗ bedingten letztlich gegründet fein muß, da der Menſch nicht gegen- über der Natur ſich zu ſchlechthinniger Freiheit erheben katin 1), vielmehr ein Geordnetſein der Natur für das Sittliche vorausſezen muß. So führt gerade das Sittliche auf Gott zurüd. Der moraliſche Beweis kann alfo nur fo aufgefaßt werden, daß die Erſcheinung des Moralifhen als Thatfache, phänometidlogiſch als causa cognoscendi auf Gott zuruckweiſt, während dasſelbe in Gott begründet fein muß. Der Menſch ift hiernach erft durch göttliche Thätigkeit ein fittliches Wefen, fofern die Möglichkeit, fittlich zu fein, von Gott ſtammt, das Sittliche Hat in ihm fein letztes abfolutes Fundament.

"Das Sittiche laßt ſich ferner gar nicht als unbedingt Wert⸗ volles fefthalten, werm es immer nur Forderung bleibt. Dem ein Sittliches, das ſtets Forderung bleibt, ift ein Widerſpruch in fih. Nur wenn dasſelbe in Gott ſchon ein boilendetes Sein Hat, kann es in der Welt als Aufgabe in feinem unbebingten Charakter feftgehalten werden. So werben wir alſo annehmen, daß and) das Sittliche auf die letzte Duelle, auf Gott als Urheber zuruckzu⸗ fügen fei.

Allein wein auch der unbedingte Charakter des Silllichen for- bert, daß es von Gott felbft ftamme, daß er felbft der letzte Be⸗ grüner desſelben fei, wenn es auch unbedingt richtig ift, daß, falls Gott der ſchlechthinnige Urheber des Menſchen tft, er auch der Tegte Ürheber des Sittlichen ſei, fo iſt doch das Sittliche durch den Charakter des unbedingt Wertvollen ausgezeichnet. Eben weil nun das Sittlidhe durchaus Selbftthätigkeit betvußter-Art-vorauss ſetzt, und weil die ſittliche Perfon ſchlechthin wertvoll, Selbftzweck

4) Sonft müßte man bei Fichte ankommen, der die Natur als Produkt des Ich anfah.

Über das Beten der Religion. Ku

iſt, wird man dabei bleiben müffen, daß ber Menſch, wenn auch von Bott ſchlechthin abhängig, zugleich weil und fofern ſittlich, ſchlecchin wertol, Selbſtzweck ſei. Es ift unmöglich, die fittliche Autonomie völlig der abjoluten Abhängigkeit gu opfern, wenn überhaupt Sittliches fein fol. Denn fittlih Tann niemand fein als der, welcher unbedingt Wertvolles realifiert. Der Menſch mn wiffen, daß das Sittliche abfolut wertvoll iſt; fonft Hat «6 feinen Wert, wenn er es realifiert. Zu dem Wertvollen gehört das Bewußtfein bes Wertes. Sobald aber diefes Bewnktfein vor» handen ift, ift der Menſch zugleich relatio antonom; denn er will das Gute nicht bloß, weil er von Gott fich abhängig weiß, ber es will, fordern weil er feihft den unbedingten Wert desfelben ein» fieht. Eben dadurch iſt er frei. Und bier entfteht num eine Antinomie. Denn fofern der Menſch fih fhlehthin abhängig weiß, fell er das Gute molfen, weil ‚Gott es will, fofern er ver- nünftig ift, foll er e8 wollen, weil er feinen Wert felbft einficht. So wird das fittlihe Motiv zwiefpaltig. Werner foll er ſelbft das Gute wollen. Dazu braucht er Freiheit und do fol er auf der anderen Seite ſchlechthin abhängig fein.

Allein was das erfte angeht, fo iſt das Giktlihe doch nur dann vernünftig, wenn es realifierbar iſt; denn fonft ift es eine unbedingte Forderung, die nicht erfüllbar ift, alfo ein Widerſpruch. Diefe Realiſierbarkeit hängt aber Teineswegs bloß von unferem Willen ab, ſondern ift nur dur Gott garantiert. Alfo nur wenn wir Gott als den Urquell des Sittlichen wiffen, Können wir es als fchlechthin vernünftig anfehen. Das Motiv für das Sittliche iſt alfo einmal feine Vermünftigkeit. Aber dieſe Bernünftigfeit ver⸗ bürgt ſich uns ferner dadurch, dag Gott feine Realifierung ver- bürgt als Urquell des Sittlichen. Unfer letztes ſittliches Motiv alfo ift nicht ſchlechthin autonom, fondern wir wiffen unfer Sitte liches in Gottes fittlichem Weſen begründet und eben dadurch wiffen wir e8 als realifterbar und deshalb auch ſchlechthin werwoll und vernänftig. Durch dies Bewußtſein aber wird das Motiv nicht zwiefpaltig, fondern im Gegenteil erft recht kräftig. Wir haben ‚oben zu geigen geſucht, wie ſich die Vernunft als empfäng liche entwidtele, um den Eindrud von Gott aufzunehmen. Hier

3 Dorner

Haben wir gefehen, wie in der Vernunft das Bewußtſein bes un bedingt Wertvolfen entfteht, welches durch bie menſchliche Ar tion realiſiert werden foll 1). Beides Täßt fih vereinigen; denn das Unbedingte des Sittlichen weiſt auf feinen Urfprung in Gott.

Die Freiheit aber, welche zu der Realifierung desfelben in An» ſpruch genommen werben muß, fchließt das ſchlechthinnige Abhängig- keltsbewußtſein nicht aus; vielmehr muß diefelbe als eine ſtets von Gott Taufierte gedacht werden, aber fo Tauftert, daß fie felbft kau⸗ fieren kann. Die abfolute Wbhängigkeit nad) oben verträgt fich mit der Freiheit der Welt gegentiber. Mit einem Worte: fo wenig es fich widerſpricht, daß wir gefchaffen find und daß wir als Weſen gefchaffen find und erhalten werben, die zugleich durch ihre Attion ſich zu Selbftzweden erheben follen, die auf Grund ihres Geſetzt⸗ſeins ſich felbft durch ihre Altion zu dem machen follen, wozu fie beftimmt find, da im Gegenteil Gottes abfolute Kauſa⸗ litat um fo großartiger ift, je felbftändiger die Weſen find, die er Taufiert, und je wertvoller fie find, fo wenig wiberfpridt das Bewußtſein abfolnter Abhängigkeit dem Bewußtſein, von Gott als Selbftzweck gewollt zu fein, das Bewußtſein abjoluter Ab- hangigleit dem Bewußtſein fittlicher Autonomie in dem bezeichneten Sinne, da dieſes letztere in das abfolute Abhängigleitsbewußtſein Tann aufgenommen werden, indem man fich von dem Gott fchlecht- Hin abhängig weiß, der ethiſch iſt und ethifche Weſen will, alfo Weſen, welche zwar Gott als den Begründer und Hort des Sitt⸗ Tichen wiſſen, aber eben darum zugleich das Sittliche nicht etwa als etwas ihnen Fremdes, fondern als etwas durch fie Realiſierbares

1) Wenn wir fagen, bie Vernunft erzeuge das Bewußtſein bes unbedingt wertvollen Sittlichen, fo ſchließt das natäclid nicht aus, daß das fittfiche Bewußtſein ber Anlage nach ſelbſt von Gott flanımt. Aber das Tann nicht zum Bewußtſein kommen, bevor nicht es ſelbſt aktiv wird; gerabe fo wie daS religidſe Beronftfein nicht da fein Tann, bevor bas Vewußtfein ſich Bis auf einen gewiffen Grad entiwidelt bat, was aber ebenfalls nicht ausſchließt, daß die Empfänglichkeit fir göttliche Einwirkung von Gott ſtamme, wie das auch geroußt wird, fobalb das Bewußtſein fid fo weit entwidelt Kat, um für Gottes Eimirkung empfänglid) zu fein.

Über das Weſen der Religion. 2

und darum erft recht ſchlechthin Wertvolles wiſſen. Hier iſt das abfolute Abhängigkeitsbewußtfein zugleich mit dem Gefühl des Dantes gegen ben verbunden, der uns fo hoher Stellung ger wurdigt Hat 2); das Bewußtſein des ſchlechthinnigen Wertes, an dem wir teilhaben follen, giebt Hier dem Abhängkeitsbewußtfein eine befondere Färbung, ſchließt dasfelbe aber keineswegs aus, da es Hein Widerſpruch ift, ſich feiner Eriſtenz nad) von Gott abhängig zu wiffen und zugleich fi als gottgewollten Selbft- zweck zu wiſſen. Selbſtzweck zu fein verträgt fi mit dem Ger fchaffen-fein; ja erft dann Hat das Schaffen feine volfendete Ber grundung, wenn in ſich Wertvolles gejchaffen wird. Gefchaffenes aber bedarf fteter Erhaltung, ift alfo ſtets feiner Eriſtenz nach ſchlechthin abhängig. Wenn der Menfch feine Freiheit als eine von Gott ftammende weiß, fo ift darin feine Aufhebung derfelben, aber wohl ein Impuls, fie recht zu benugen. Die fittliche Freiheit, welche ſich ber

1) Wenn Ritſchl bie Anerkennung unferer Abhängigkeit betont, fo ift das infofern ficherlich berechtigt, als das Bewußtfein ber Möhängigfeit nicht bloß ein naturartiges fein foll, fondern and) ein von dem Willen angeeignetes. Frömmigkeit IR auch eine Tugend. Much; das if richtig, daß in ber Muere kennung ber Abhängigkeit bie Bethätigung der Freiheit enthalten ſei. Allein wenn biefe Anerkennung Wahrheit fein fol, fo muß ihe ein objektives Ber- hãltnis zugrunde liegen, eben bie ſchlechthinnige Abhängigkeit, bie abfolute Kaufalität Gottes, und biefe muß der Menfch erfahren. Erſt zu diefer Er- fahrung Tann er Stellung nehmen, Lan biefelbe pflegen oder vernachläffigen. Wenn nie bie Abhängigkeit wirkfich als eine ſchlechthinnige erfahren ift, kann er fie auch nicht anerkennen. Das erfte aber muß doch bie göttliche That fein. Ferner muß diefe Abhangigkeit als ſchlechthinnige auch bie Freiheit mmfaffen und bie Anerfenmung berfelben auch Anerkennung beffen fein, daß auch bie Freiheit felbft Gabe Gottes fei. Nur wenn, bie ſchlechthinnige Abhängigkeit umd die abfolute göttliche Kauſalität zugegeben, das fchlechthinnige Abhängig · keitsbewußtſein als auf einer bie menſchliche Empfänglichteit erfüllenden That Gottes, auf einem „Getroffen-fein” von Gott ruhend amgejehen wird, Tann wirklich von einer Auerkennung dieſes objeftiven Berhältniffes, aljo von Demut bie Rebe fein. Denm nur dann ift ein objeftives Verhältnis da, das anerkannt wird. Die Freiheit bes Auerkeunens aber fehlt and; nicht, da ja das Bewußt · fein ſich als frei von Gott geſetzt und als zum Zweck freier Aktion erhalten weiß. Das Genauere vgl. in meiner Abhandlung Jahrbb. f. deutiche Theol., 2b. XVII, ©, 250.

as Dorner

ftimmt weiß, unbebingt Wertvolles zu temifleeen, in Verbindung mit der Abhungigleit, die fie von dem Weltzuſammenhang er führt, karm ihren legten Stutzpunkt nur in Gott finden, Der ale der unbebingte Hort des Sittligen gewußt wird. Wort felbft wird als das Weſen erfahren, von dem allein andy wahre menſch- liche Sittlichleit ftammen Tann. Gerade wenn wir Gott als den letzten Hort bes Sittlichen wiffen, kaun uns fein Zweifel an dem unbedingten Wert besfefben auflommen. Er felbft ift ber un⸗ bedingt Wertvolle, nicht bloß foferu er menſthliche Sierfichkeit reali · fieren Hilft, fondern an fich ſelbſt. Gott bloß zum Mittel für menſchliche Sittlichleit zu machen, ift unmöglih. Ja er kann fogar nur dann, wenn er jelbft abfolut real⸗ſittliches Ideal, der abfelut venfrethifche Gott iſt, die Burgſchaft für die Realifierbar- feit der fittfichen Forderung leiften 2) und eben dadurch auch das kreaturliche Sittliche ermögfichen. Er muß, wenn er felbft Ur- heber und Hort?) des Sittlichen tft, Selbftzwed fein und fann

4) Um die Keafifierung des Sitilichen zu ermöglichen, genügt nicht etwa die Annahme einer unbewußten fittlichen Weltorbuung, welcher bie Natur- ordnung untergeorbnet fei. Denn emtweber wurde diefe ſittliche Weltorduunug ſelbſt wieder auf den ethiſchen Gott gurüdgeführt und als feine Vorſehung aufgefaßt. Oder wenn fie pantheiftiich gemeint if, wurde fie dem uubedingten Sharakter des Sittlichen ‚nit garantieren, weil in biefer Welt thatſächlich das Sittiche nicht vol realiſiert iR, die fittliche Weltordnung alfo fich wicht ſchlechthin discchführt. Das zeigt ſich and fo, daß viele fagen, fie gelte nur für die Evolution des Abfoluten in biefer endlichen Welt, aber nicht für das Abſolute ſchlechthin. Chen baher if unfere Meinung auch nicht, dag ſich mit dem Sittlichen nur eine nähere Beftimmung des ſchlechthinnigen Abhängigkeite bewußtſeins ergebe, die für Gott felbft Feine Geltung hätte, etwa fo, daß er nur als Urheber des Sittlichen ober der ſittlichen Weltorbnung gewußt wilcde, ohne ſelbſt ethiſch zu fein. Denn dann wäre der unbebingte Wert bes Sitilichen eben nicht garantiert.

3) Was für den Fall der Verlegung bes Sittlichen aus feinem unbebingten Bert fi auch für das religidſe Verhältnis ergiebt, if hier nicht genauer ame zuführen. Das Sittlice if notwendig wie probuftio, fo ſich felbft erhaltend. Oder vielmehr Gott als der Urheber des Sittlichen iR auf bie Erhaltung feines unbedingt wertvollen Charakters bedacht. Das Heißt nichts anderes als: wenn das Sittliche verlegt wird, fo muß fein unbedingt wertvoller Charakter, ber verlegt iſt, erhalten werden. Das mubedingte Recht des Guten auf Eyiften

Über das Wehen ber Religion. 21

feinen Seld ſtzweck wicht Bloß in feinem Reiche, d. 5. in der ſitt⸗ lichen Gemeinſchaft der Menſchen finden, er muß abfoluter Selbft- zweck fen, von dem alle andern wertvollen Weſen erft ftammen. Chen dieſe Gefahr, Gott bloß in den Dienft der fittlichen Sub⸗ Fette zu ſtellen, iſt durch die Verbindung des fittlichen Bewußtfeins mit dem ſchlechthianigen Abhängigkeitsbewußtſein befetigt, vhne daß dadarch die für das Sittlihe notwendige relative Autonomie und Freiheit aufgehoben wäre, die vielmehr Gott denen, die er als fittliche Weſen wollte, al Vermögen muß verlichen Haben und erhalten, dh8 fie altualiſteren können.

Rarz, wir Haben gefehen: eimmal, daß das Gittliche ſelbſt, dem, fobald es zum Bewußtſein gefemmen ift, die Enbämontie umergeordnet werden maß, auf das abfofnte Abhängigkeitsbewußt · fein hinweiſt, ſodann, daß das Freiheitsbewußtſein und die Autor nomie nicht durch dasfelbe darf beſeitigt wenden, endlich, dag die relative Autonomie und das Bewußtfein Selbftzwert zu fein, fi mit dem abfoluten Abhängigfeitsbewußtfein vereinigen läßt. Das Reſultat iſt hiernach: Gott ift der Urheber und Forderer des Sittlichen; er tauftert eben deshalb unbedingt wertvollen Inhalt habende Perfonen, oder fubjektio ausgedrüdt: Das abfolute Ab⸗ Hängigteitsbewußtfein umfaßt das Freiheitsbewußtfein und die fitte liche Autonomie als eine derivierte *).

muß fid offenbaren. Gott kann nicht, wo das Gute verlegt ift, nur anderes mene Gute hervorbringen. Bielmehr die Erhaltung des Guten iſt hier bie erfle Aufgabe, d. 5. die Erhaltung feines unbedingt wertvollen Charakters gegenüber dem, ber es antaflet. Die weiteren Ausführungen Fönnen Hier nicht gegeben werben. Hier ſetzt die chriſtliche Religion als Werföhnungs- und Erldſungs · religion ein.

1) Wenn wir das Berhältnis von Sittlichkeit und Religion uäher im einzelnen beftimmen wollten, mäßte ausgeführt werben, wie das fittfiche Ber wußtjſein eben dadurch fich mit dem ſchlechthinnigen Wbhängigkeitebewußtfein vereint, daß es bie Frömmigkeit, d. 5. die Pflege der Empfänglicleit für bie göttfiche Einwirkung, des Verlangens nad; Gott (des weiteren auch die Pfiege ber frommen Gemeinſchaft) ale Pflicht auffeßt, deren Erfüllung Wert in ſich ſelbſt Hat; fo daß Hier das ſittliche Berhaiten in der Frömmigkeit einmünbet. Zu der Frömmigkeit gehört aber auch das Bewußtſein, daßz das Sutliche jelbft

a2 Dorner

Hiermit feheint mir zugleich eine Einfeltigkeit überwunden, in welche die Entwickelung der Religionsphiloſophie teilweife geraten iſt. Schleiermacher Hatte die abfolute Kauſalitut Gottes betont und alle näheren Beftimmungen für Gott felbft abgelehnt. Um⸗ gefehrt Ichnen jegt viele die causa efficiens als auf Gott an wendbar ab und wollen bloß die causa finalis für ihr gelten Tafjen, wobei nit die causa, fondern ber Zwedigedanfe im ben Vordergrund tritt. Während bei Schleiermadjer die Gefahr droht, über der gleichen ſchlechthinnigen Abhängigfeit von allem zu über: fehen, daß bie Superiorität des Sittlichen auch in Gott begründet fein muß, fo feheitern die Neueren an ber Klippe, daß fie Gott nicht als causa efficiens betrachten. Allein Gott hat Natur und Geift gleichmäßig begründet, und das ſpricht ſich in dem alles ums faffenden ſchlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtfein aus; aber er hat bie Natur dem legten Zwecke untergeordnet, und das fpricht fich derin aus, daß wir und von ihm als dem Ethiſchen ſchlechthin abhängig wiſſen ).

Wir brauchen nur das Gefagte noch zufammenfaffen, um zu erfennen, daß Gott auch als ber Urheber der Harmonie empfunden werden muß.

in Gott begründet fei; ja man wird fagen Tönen: da die Frömmigkeit ale Empfänglichfeit in der Gotteserfahrung, Gottesgemeinſchaft erſt gefättigt if, und Gott als ber ethifche erfahren wird, fo wird durch die Refigion das Gitt« liche nicht nur fundamentiert, fondern im ber Testen Wurzel der Gefiunung immer aufs neue belebt. Wie aljo die Sitilichteit in bie Frömmigkeit ein - münbet, fo geht auch von ber Frömmigkeit wieder ſittliches Leben ans. Bol. hierüber bie trefflichen Ausführungen Köſtlins im biefer Zeitſchrift 1870: „Religion und Sittlichteit“, &. ba f.

2) Das iſt eigentlich auch die Gedantenlinie, weldie von Schleiermachers Ethik ans infofern ausgehen müßte, als er bie Natur ber Vernunft unterzu- orbnen als die ethifche Aufgabe anficht. Denn wenn bie Bernunft thätig, die Natur Teidend fein foll, fo kann bei dieſer Unterordnung ber Natur unter bie Bernunft Gott unmöglich als Identität aufgefait werben, im welcher ber Gegenfag von Vernunft und Natur gleichmäßig verſchwindet. Denn in diefer Ioentität iſt die Superiorität dee Vernunft nicht begründet. Bgl. übri- gens „Über bie wiffenfhaftlice Behandlung des Tugendbegriffs“ Schleier- machers Werke, Abtl. IT, Bd. 2, ©. 377. 378, wo bie ethiſche Seite im Gotteobegeiff Mar hervortritt.

Über das Weſen der Religion, 278

y) Die konkrete Beftimmtheit bes abfolnten Abhängigfeits- bewußtſeins durd das Äfthetifche.

Wir haben gefehen, wie das religidfe Bewußtfein im Zu. fammendang mit der durch äußere Anregung ber Natur mit ber dingten Entwidelung des Menfchen als Einigungspunft der ver⸗ ſchiedenen Gegenfüge, melde im Lanfe der Entwidelung des Menſchen fich erheben, allmählich zu feiner vollen Höhe gelangt. Welt» und GSelbftbewußtjein, fofern fie für das Sittliche in Betracht kommen, find durch dasfelbe zur Einheit verbunden, ohne durch dasſelbe aufgehoben zu werden. Denn das indivie duelle und das univerfelle Bewußtfein find Hier geeint. Der Fromme weiß fi als diefe Individualität ſchlechthin abhängig, aber eben damit zugleich durd Gottes Urfächlichfeit beftätigt, was eine Hebung ded Selbftbewußtfeins zur Folge hat; aber er weiß zugleich, daß diefe Abhängigkeit für alles gilt, und darin Tiegt die Begrenzung feines individuellen Bewußtfeins, und das ſchützt ihn davor, in feinem „Überweltlihen" Bewußtſein ſich über die Welt- ſchranke, bie er aud von Gott gewollt weiß, einfach wegzuſetzen, fich bloß negativ über die Natur zu erheben. Vielmehr, indem Gott als der Urheber des Sittlichen gewußt wird, ift in dem religibſen Bewußtſein auch die Harmonie von Natur und Geift prinzipiell ges geben, indem erftere dem fittlichen Zwecken des letzteren nach göttlichem Willen untergeordnet und dienftbar ift. Und eben damit ift auch der Konflikt zwiſchen der natürlichen Eudämonie und- Sittlickeit prinzipiell aufgehoben. Denn da der Menſch die Natur als Objelt feiner fittlihen Tätigkeit durch göttlichen Willen ſich unter geordnet weiß, hat er aud die Garantie einer durch feine Aktion zu erreichenden Harmonie beider, womit die äußere Eudamonie von felbft gegeben ift, ohne daß er fie um ihrer felbft willen er» ftrebt. So ift in dem religiöfen Bemußtfein prinzipiell ber Gegen- fag von relativer Freiheit und vefativer Abhängigkeit fo geeint, daß die Abhängigkeit von der Natur nur fo weit reihen muß, als die Abhängigkeit der fittlihe Zwedce vealifieenden Freiheit von den Mitteln reicht, deren fie bedarf. Ebenſo ift aber auch das Be wußtfein des unbedingt Wertvollen, die relative Autonomie, in das ſchlechthinnige Abhängigkeitsbewußtfein mit aufgenommen. Fer⸗

Kr 3 Dorner

ner ‚trägt. aber. bie Ginheit des Welt» und Selbſibewußtfeins im abfoluten Abhängigfeitebewußtfein auch theoretifhen Charakter, indem das Bedürfnis einer einheitlichen Grfenntsie in dem frommen unmittelbaren Bewußtfein in unmittelbarer Weiſe be friedigt wird, in welchem ein unmittelharen Wiſſen von der Einheit der letzten Gegeufäge in Gottes abſoluter Kauſalität eu halten ift, welder ſelbſt zugleich als das. Urwiſſen ber Urquell unſeres Wiffens iſt. Endlich aber ift auch in dem konkret be ftimmten ſchiechhinnigen Abhangigkeitsbewußtfein das Sittüche mit dem Wiffen prinzipiell geeint, in ihm der letzte Einheitspunft für beides gegeben. Weil beides hier in unmittelbarer Weiſe anf fein legte Quelle, auf Gott zurüdgefüßet wird, iſt ein prinzipielle Widerjprudy von beiden ausgeſchloſſen, da Gott nicht Bott if, wenn er mit fih im Widerſpruch wäre; ex ift letzte Quelle des Wiſſens mie des Ethiſchen, und das Wiſſen iſt, fofeen es mit dem Sittlihen in Harmonie fein muß, in ihm ethiſch hebingt.

Wenn fo prinzipiell in dem frommen Bewußtſein alle Gegen⸗ füge geeint find, fo iſt im ihm and die Harmonie des Memnkt ſeins vollendet. Somit wird anch dns ebſolute Ahhzängigleitsbe⸗ wußtfein ſchließlich durch das Bewußtſein der Harmonie laute bejtimmt und Gott wird als die Quelle aller Harmonie empfunden, die wir durch die anſchauende Phantafie und das wit ihr perbur⸗ dene Gefühl erfaffen, und bie ebenfalls in ihm ethiſch bedingt if: Und auch bier wird man fagen muſſen, Gott ift der Qrund der Harmonie, weil er felbft abfolnt harmoniſch if. Denn de wir genötigt find, in ihm Willen und ethiſchen Willen, und ehraı Allmacht zu unterſcheiden, ſo kann bie Harmonie nicht in Gott in der abſoluten Identität, ſandern nur in der mpliendeten Einheit der Unterſchiede gefunden werden.

* 4

So ift alſo in dem religidſen Berouftjein die Einheit aller Begenfüge in uumittelbarer Weiſe gegeben, wenn datzſelhe voll ab

gefupd entmistelt ift. Und Pas it möglich, weil der Menſch in dem frommen Bewußtfein ſich nicht hloß als wiſſender merhäl,

Über das Weſen der Religion.

ſondern hier in feiner unmittelbaren Totalität ſich gegenmärtäg ift, und in feiner Totalität von Gott fi getroffen fühlt. Daher men mit Recht fagen kann, daß der Sit der Religion das Gemüt fei, wenn man unter bemfelben dieſen legten Einheitspunft, in welchem ale einfeitigen Vermögen zur Einheit zufammenlaufen, veuftehen will, das Zenteum des Geiftes. Do das wollen wir hier wicht weiter auaführen, ebenfowenig auch dies, wie ans dieſer zentralen Stütte der Gotieserfaßrung heraus die einzelnen Funktionen des religiöfen Lebens ſich entfalten und wie fich weiterhin dem reli⸗ giöfen Leben gegenüber die übrigen geiftigen Thätigkeiten, welche ethiſch bedingt find, zu relativer Selbftändigkeit erheben, weil fie als von Bott in Ihrer Gigentümlichleit gewollt und beftätigt ge- wußt werden.

Nur darauf fei noch hingewiefen, daß, wenn fi die Religion als die leiste Einheit inbezug auf alle bie genannten Gegenſätze erweift, die Thatſache durchaus begreiflih wird, daß urſprüng Ad, ſobald das vefigidfe Beben erwacht war, alle menſchlichen Thatigleiten im engften Zuſammenhang mit der Meliglon geübt murden: es iſt aber ebenfo verftändlich, dag, je mannigfaltiger die Eotwideluug wurde, die einzelnen Gebiete des Handelns und Er⸗ kennens fi um fo mehr zu selativer Selbftändigkeit erhuben, one daß heahalb ihre prinzipielle Einheit im veliglöfen Bewußtfein aufs gegeben werden Könnte,

Faſſen mir unfer Reſultat zuſammen, fo tft die Religion zu⸗ nachſt als fubjektine Meligion zu hegreifen. Sie iſt Gott gegeu⸗ über weſentlich empfängliches Verhalten, welches fi überall auf das feplerhtäismige Abhängigfeitsbemußtfein grundet, welches intellef- tuell, ſittlich, Afthetifch näher beftimmt ift, indem wir und mit unferem Wiſſen, unferem fittlichen Wollen, unferer Harmonie han Gott abhängig wiſſen, den alfmärhtigen Bott als die Quelle des Wahren, Guten, als die Quelle aller Harmonie erfahren, indem Gott die Empfänglichkeit erfüllt. Hier kommt alfo das Wahre alfee der einfeitig vertretenen Anſchauungen zur Geltung, welche im erften Teile befprochen wurden. Denn das fittliche, wie bas äfthetifche und das intellektuelle Zehen, endlich auch die dem Sitt lichen untergeorbnete Eubämonie haben in dem religiöfen Bewußte

276 Dorner

fein ihren letzten Einheitspunft, indem fie in letzter Juſtanz als der göttlichen Quelle entftammend gewußt, auf Gott als den al» möchtigen Geber aller guten Gabe zurückgeführt werden, auf die göttliche Liebe. \

Wenn die Religion auf dem Verhältnis zu Gott ruht, welchet zuerft Gegenftand des unmittelbaren Bewußtfeins ber Perfonen if, fo erhellt Hieraus, daß es unmöglich Ift, ans der gefchichtlic anf tretenden objektiven Religion primo loco das Wefen der Religion zu verftehen, betrachte man nun als die objektive Religion die veligidfe Gemeinfchaft oder die äußere Offenbarung. Dem die refigidfe Gemeinſchaft kann gar nicht gedacht werden one die gemeinfhaftftiftende Fromme Perſon. Diefe Meinung wäre mr haltbar bei einer Anſicht, welche den unmittelbaren Verkehr mit Gott zurüdftellte und die Religion in dem Innewerden des Gr meinfhaftögeiftes fände, was nur von einer Theorie der Immer nenz aus verftändlih wäre. Und felbft dann bedürfte es def Immer nad) Analogie aller menfchlihen Entwickelung ſolcher Perſo⸗ nen, in welchen zuerft der Gemeinfchaftsgeift zum Bewußtſein käme, Die Gemeinfhaft fann Immer nur das Sekundäre fein‘). All: dings läßt fi denken, dag, wenn in den Maſſen das religidit Leben ſchwach ift, fich diefelben damit begnügen, ihren religiöfen Sinn dadurch zu befunden, daß fie fi an die zur Inſtitution gewordene Gemeinfhaft Kalten, und diefe als Vermittlerin zwiſchen Gott und ber Menſchheit betrachten. Allein als urfpränglic laßt fich diefer Zuftand nit denken. Denn einmal muß die Ge meinſchaft von Perfonen ausgehen, welche Gott erfahren haben und welche zugleich das Bedurfnis empfinden, ihre Gotteserfahrung mitzuteilen, und fobann muß in denen, welche der Gemeinſchaft zugehbren wollen, doch irgendwie ein religibſes Bedürfnis vor handen fein, das doch mur auf einer urfprünglichen eigenen Gottts⸗

i) Im Proteſtantiemus wird dies dadurch ausgeſprochen, daß begriff primo loco bie Kirche Gemeinſchaft der Glaubigen ſei. Dieſe Wahrkit darf nicht unter den Scheffel geſtellt werden. Mit beſonderer Schärfe wird fie hervorgekehrt von Köſtlin, Der Glaube, ©. 803f. und Dorner, Chriſ- liche Glaubenelehre II, 2. ©. 788.

Über das Weſen der Religion. 27

ahnung ruhen kann. Ohne ein eigenes, wenn auch noch fo ſchwaches Gottesbemwußtfein wäre nicht begreiflich, wie fie zu der frommen Gemeinfchaft gehören wollen. Man kann alfo wohl aus dem frommen Bewußtfein, das auf einer Gotteserfahrung, auf einer Gottesthat ruht, die Gemeinfchaft begreifen, aber nicht um⸗ gefehrt die Religlon aus den gejchichtlic gewordenen refigidfen Ger meinfdaften für ſich verftehen.

Aber ebenfo unmöglich ift es, aus Äußerer Offenbarung die Religion urfprünglich abzuleiten. Denn um fromm zu fein, muß man Gott innerlich erfahren haben. Es ift wohl wahr, daß bie äußere Natur der Anlaß ift, durch defien Anregung bie religiöfe Empfänglichkeit geweckt wird, welche Gott erfüllt; aber von Religion tanı erſt die Rede fein, wenn wirklich ein göttlicher Strahl in die Seele gefallen ift. Alle äußeren Medien von den Offen« barungen Gottes in der Natur an, den gewöhnlichen und ben aufergewöhnlichen bis zu den Offenbarungen Gottes durch einzelne Menſchen an die übrigen, fönnen nur die Bedeutung Haben, die inneren Offenbarungen Gottes vorzubereiten, die Menfchen für Gott felbft umd feine Einwirkungen empfänglich zu machen. Frei⸗ lich ift nicht in Abrede zu ftellen, daß die Neigung, das, woran ſich eine Erregung des Gottesbewußtſeins anfchließt, mit Gott jeloft zu identifizieren, die fi im Polhtheismus zeigt, in den höheren Religionen in mannigfachen Formen fi wiederholt, von der Meinung an, daß es am ſich Heilige Dinge gebe, denen man Verehrung erweift, weil in ihnen das Göttliche gegenwärtig fel, 5i zu der Annahme der Mittlerſchaft der Kirche, die an Gottes Stelle geſetzt wird, der „Gottheit der Kirche“.

Theol. Gtnd. Sahız. 1388. 19

278 Ryffel

2. Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber, an den Presbyter Jeſus. Mit einer Einleitung über fein Leben und feine Schriften. Eon

Lic. theol. Dr. 9. Ruſſel, Welvatbogent in Leipzig.

Zu der Zelt, wo im Abendlande infolge der allgemeinen Zer⸗ ſtörung durch die Stürme der Völkerwanderung, in denen auch bie Werte des Maffifchen Altertums bis auf geringe Überrefte ver⸗ nichtet worden waren, bie Pflege der Wiſſenſchaften faſt ganz darmieber Ing und bie gelehrten Beſttebungen nur Hinter Kloſter⸗ mauern ein Tärgliches Dafein frifteten, bfüßte in Syrien, dem Mittelpunkte des hriftlichen Morgenlandes, ein teges wiffenfchafte liches Leben, und es entftand auf Grund einer genauen Kenntnis ber antiken und chriſtlichen griechiſchen Kitteratur eine neue ſyriſche Litteratur, welche, obwohl ausfchlieglich dem Dienfte der Kixche ges widmet, doch duch ihre Wielfeitigkeit, durch ihren ſtreng toiffen- ſchaftlichen Charalter und durch die eigenartige DVerfchmelzung des altgriechifchen Geiftes mit Kriftlichen Elementen unfer ganzes Intereſſe in Anfprud nimmt. Ins Leben gerufen wurde biefes wiſſenſchaftliche Leben vor allem durch bie vielfahen Beziehungen der fprifchen Kirche zu der Kirche des oftrömifchen Reiches, weihe durch die Zugehörigkeit Syriens zum römiſchen Staate bedingt waren und den regen Verkehr der fyrifchen Kirche mit den Bifchöfen und Gemeinden der öſtlichen Reichshälfte 3. B. durd bie tirchlichen Verfammlungen griechiſcher und ſyriſcher Biſchöfe zur Folge hatten, wodurch zugleich ein Austauſch der allgemeinen und der ſpezifiſch chriſtlichen Anſchauungen hervorgerufen wurde. Diefer Iebhafte Verkehr zwifchen der fyrifchen umd griechifchen Kirche Hatte für die ſyriſchen Chriften die Kenntniß der griechiſchen

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 279

Sprache zur Vorausſetzung, und fo wurden benn nicht bloß nach dem Vorbilde der alten fyrifchen Bibelüberfegung aud die Kirch» Tichen Gefege und andere wichtige Werke der chriſtlichen Litteratur ius Syriſche übertragen, fondern es wurden auch in allen größeren Städten, die zugleich Biihofsfige waren, befondere Männer an« geſtellt, welche alle für die firchliche Amtsführung wichtigen grie- chiſchen Schriften zu überfegen hatten. Aber diefe Beziehungen ° zwiſchen der ſyriſchen und griechiſchen Kirche wurden auch die Ver⸗ anlaffung zur Gründung der berühmten fyrifchen Alademieen, auf welchen man ſich mit der Litteratur des klaſfiſchen Altertums und befonders mit den Werken der bedeutendften griechiſchen Philoſophen teils auf Grund der griechiſchen Originale, teils nad) Überfegungen und Kommentaren befchäftigte, um den Geiftlichen und Mönden eine auf allgemeiner Grundlage berugende tiefere Vorbildung zu verfchaffen; und ebenfo wurden begabte Zünglinge zur Ausbildung geeigneter Lehrkräfte nach den altberühmten Bildungsſtätten der griechiſchen Kirche gefandt, wie umgelehrt auch durch die auf den Heimifchen Afademieen gewonnene Kenntnis der griechiſchen Sprache und Litteratur die Fortfegung und Ausdehnung der begonnenen Studien im griechifchen Auslande weſentlich erleichtert wurde, Außerdem begann man damals in Syrien an den theologiſchen Hochſchulen, den Biihofsfigen und in den Mlöftern wertvolle Bib⸗ liothelen anzulegen, in denen man neben den Werfen der dhrift- lichen Nationallitteratur der Syrer auch die widtigften Werke der griechiſchen Maffiter und Kirchenfchriftfteller in den Originalen und im guten Überfegungen anfammelte und aufbewahrte.

Auch die politifchen Verhältniſſe Syriens, wenngleich fie ſich infolge der Schwäche des oftrömifcen Neiches traurig genug ger ftalteten, waren doch für die Pflege der Wiſſenſchaften nicht. uns günftig. So lange Syrien noch unter der Herrfchaft der griechiſchen Kaifer ftand, waren die Bewohner des Landes zwar auch den Ver- folgungen ansgefegt, welche infolge der fortwährenden Schwankungen der veligiöfen Überzeugung am Hofe zu Konftantinopel bad diefe, bald jene kirchliche Partei trafen, aber fie hatten doch wegen der größeren Entfernung vom Mittelpunkt des Reiches weniger unter diefen religiöfen Bedruckungen zu leiden, als die griechifch redenden

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Chriſten, die der Arm des Kaiſers leichter erreichen konntt. Ebenfo ftörten die das Reich nur zu oft erfchütternden politischen Wirren, die Tpronftreitigleiten, die zu blutigen Bürgerkriegen führten, den Frieden diejes weit entfernten Grenzlandes meift nır in geringerem Maße. Freilich war Syrien um fo mehr dem un- geftümen Anprall der gerade diefe Reichsgrenzen vor allem be⸗

- drohenden feindlichen Nachbarvölfer ausgefegt, und alle die Kämpfe

zwifchen dem nad der Vernichtung des parthifchen Reiches ge gründeten neuperfifchen Neiche und den römischen Kaifern ſowohl vor wie nad) der Teilung des Reiches wurden auf ſyriſchem Boden ausgefochten. Aber anderſeits wurde durch die vereinzelten Ein fälle der Perfer und bie Kriegszüge der römifchen Kaiſer der Friede meift nur vorübergehend unterbrochen, da diefe Kämpfe teils infolge der Schwäche oder Ohnmacht der römifchen Kaifer, teils infolge bald eintretender gegenfeitiger Erfhöpfung gewöhnlich nicht Tange andauerten.

Und als durch den ſchimpflichen Frieden, den Kaifer Jovian nad dem Tode Julians 363 mit dem Perferlönige Sapor II. abſchließen mußte, ein Teil von Mefopotamien und das dur Diocletian 298 eroberte ausgedehnte Gebiet am Zigrisufer an die Perſer abgetreten wurde und fomit die fprifchen Chriften jener Landftriche des öftlichen Syriens an das perfifche Reich kamen dem fie durch den von König Jeſdegerd I. (399—419) abge: fchloffenen 100jährigen Frieden, der die Kämpfe mit den Römern vorläufig beendete, dauernd einverfeibt wurden —, da fanden diefe Syrer unter ber perfifchen Herrſchaft Duldung und freie Religions übung, indem die perfifchen Könige diefer Zeit mehr die Politil als die Religion im Auge Hatten, obwohl auf die Wiedereinfegung der altiraniſchen Religion des Zoronfter das neuperfifche Reich ge gründet war. Wenn aber gleichwohl einzelne perfifche Könige die Ehriften ihres Reiches verfolgten, befonders dann, wenn wieder Kriege mit den griechiſchen Kaifern ausgebrochen waren, fo trafen diefe Bedrüdungen meift nur einen Teil der ſyriſchen Chriften. Als nämlich die ſyriſche Kirche im 5. Jahrhundert durch die neſtorianiſchen Streitigkeiten in zwei einander feindliche Teile ges fpalten wurde, wirkte Barfumas (Bar-faume), Biſchof von Nifibis,

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ungehindert für die Ausbreitung des Neftorlanismus im perfifchen Reiche, indem König Piruz (CF 488) infolge der Bemühungen des gewandten und einflußreichen nifibenifchen Biſchofs die Neftorlaner entfchieden begünftigte, während er allerdings die Katholiken wegen ihres Zufammenhanges mit dem griechiſchen Reiche blutig ver folgte. Ja, als die Lehrer der berühmten theologischen Schule zu Edefja, die fon früher einmal durch den Biſchof Rabulas von Edeſſa, einen Parteigänger des Chrill von Alerandrien, gefprengt worden war, fi aber nad) dem 435 erfolgten Tod bes Rabulas zu neuer Blüte erhoben Hatte, abermals auf Befehl des Kaiſers Zeno im Jahre 489 vertrieben wurden, nahm man bdiefe Gelehrten in Perfien mit Freuden auf. An Stelle der edeffenifchen Schule entftanden die berühmten Akademieen von Nifibis und Gandifapor, und 498 fagte ſich die ganze perfifche Kirche von der orthoboren Kirche des oftrömifchen Reiches los. So bradte denn au die Groberung des weftlichen Syriens durch Chosru I, der feit 540 erfolgreiche Kämpfe mit ben oftrömifchen Kaifern führte, ganz Syrien plünderte, die wichtigſten Städte famt Antiochien eroberte und fein Neid bis an das Mittelmeer ausdehnte, den Neftorianern feinen Nachteil. Und fo fehr Hatten fie es verftanden, fich in der Gunft der perfichen Herrſcher feftzufegen, daß Chosru II. (591 628) im Anfange feiner Regierung alle übrigen Chriften feines Reiches zwang, zum Neftorianismus überzutreten, wiewohl er fie fpäter bedrüickte, weil fie ſich bei der Wahl ihres Patriarchen nicht feinem Willen gefügt Hatten.

Als dann endlich im Jahre 635 ganz Syrien von den Arabern erobert wurde die übrigens ſchon weit früher einzelne nach der Wüfte Hin gelegene Teile des römiſchen Syriens fi unterworfen Hatten —, da waren es wiederum die Neftorianer, die ſich der Gunft der Kalifen und wichtiger Vergünftigungen zu erfreuen hatten; ja, zwei Kalifen des 10. und 11. Jahrhunderts beftimmten foger, daß nicht nur die Neftorianer, fondern auch die Katholiken und akobiten den neftorianifchen Patriarchen unterworfen fein follten. Und wenn auch der Sonnenſchein der Gunft der moham- medaniſchen Herrſcher nicht felten plöglich einem Unwetter wid, fo waren es doch mur vereinzelte und fchnell vorübergehende Be-

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druckungen, welche die Neſtorianer unter den Kalifen zu erdulden | hatten.

Nicht fo gut freilich erging es den frifchen Monophpfiten. Schon alle oftrömifchen Kaifer außer Zeno und Anaftaftus waren ihnen feindlich gefinnt gewefen, und wenn fie auch unter Juſtinian, der fie vergeblich zur katholiſchen Kirche zuriichzuführen fuchte, durch die raftlofen Bemühungen des zum Biſchof von Edeffa und all gemeinen Oberhaupte aller Monopäyfiten des Orients ernannten Jakobus Barabäus (} 538), nach deffen Namen fie fich Hinfort Ja⸗ kobiten nannten, zu einer eigenen wohlorganifierten Kirchenpartei unter einem eigenen Patriarchen fich zufammenfchloffen, die durch den 629 erfolgten Übertritt der Neftorianer von Chaldäa, Aſſhrien und Mefopotamien zum jakobitifchen Glauben noch bedeutend ver- ftärkt wurde, fo ſchützte fie dies doch nicht vor mannigfachen Be⸗ drüdtungen vonfeiten der griechifchen Kaifer der fpäteren Zeit, und auch unter ben Kalifen hatten fie, da dieſe ihre Gunft ben Nefte rianern zugewandt hatten, vielfach Schweres zu leiden.

Aber alle die religiöfen Streitigleiten zwifchen den einzelnen Parteien der Syrer, den Neftorianern, Jakobiten und Katholiken, fo fehr ſie auch bie ſhriſche Kirche erfchlitterten und die chriſtliche Gefinnung ſchädigten, da vom jeder Seite mit einer Erbitterung und einem Haffe fondergleichen gelämpft wurde, trugen doch zu gleich mit dazu bei, das miffenfchaftliche Intereſſe zu beleben, in- dem jede Partei beftrebt war, ihre befonderen Anfcanungen mit allen Mitteln wiſſenſchaftlichen Scharfſiuns als bie allein be rechtigten zu erweiſen; und auf biefe theologifchen Streitigkeiten fonzenteierte ſich fpäter um fo mehr das allgemeine Intereſſe, ald die Herrſchaft der andersgläubigen Kalifen den Ausbruch offener Teindfeligkeiten verhinderte.

So haben denn verfchiedene günftige Umftäinde diefe hehe Blüte der theologifchen Wiffenfchaft in Syrien Herbeigeführt: vor allem bie Kontinuität des Stubimms ber antiten wie ber aftdhrifte lichen griechiſchen Litteratur, fobann die trog aller inneren und äußeren Kämpfe doch fir das wiſſenſchaftliche Leben vorteilhaften politifchen Verhältniſſe, durch melde aud der Sortbeftand ber Bildungsmittel, der Schulen und Bibliotheken, gefichert wurde, und

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 23

außerdem noch einzelne andere Momente, bie gleichfalls dem Streben nad theologiſcher Gelehrfamkeit zur Förderung dienten, wie bie Eiferfucht zwiſchen den kirchlichen Parteien.

Au ber Pflege der theologiſchen Wiſſenſchaft iu der fyrifchen Lirche haben aber bie Neftorianer wie die Jalobiten gleichen An⸗ teil gehabt, uud aus den Kreifen beider kirchlichen Parteien ift eine fattfiche Reihe namhafter Gelehrter zu nennen, die jedem Lande und jeder Zeit zu hoher Zierde gereichen Lönnten. Den neftoria- niſchen Gelehrten ftehen ebenbirtig zur Seite die jakobitifcen, die jene an Vielſeitigkeit ihrer gelehrten Beſtrebungen wohl noch übertreffen. Unter ihnen find In erfter Linie bie berügmten Über» feger Sergius von Raf-‘ain, der Patriarch Athanafius IL. und der ad als Ereget rühmlichſt bekannte Jakob von Edeffa zu nennen, welde die klaſfiſche Literatur, und befonders die Werke der griedhifchen Philoſophen is muftergäftigen Überfegungen dem hrifcgen Gelehrten übermittelten, ferner die Kirchenhiſtoriler For hannes von Ephefus und Dionyfius vom Tellmachre, dazu nam⸗ bafte Dogmatiker, wie der Vorkämpfer des ſyriſchen Monophpfitis- mus Reuajas oder Philorenus von Mabug, der auch im Jahre 508 die nach ihm benannte Überjegung des Neuen Teftamentes und der Pſalmen anfertigen ließ, welche fpäter Thomas von Heraflea (Harkel) im Anfange des 7. Jahrhunderts (616) zu Alexandrien neu bearbeitete, und außer dieſen noch verfchiedene andere namhafte Sqriftſteller, welche die Auslegung der Heiligen Schriften des Aten und Nenen Teſtamentes durch Kommentare uud Monographien über einzelne ſchwierige Fragen ber Exegeſe und Realerklärung fürderten oder bie gottesdienſtlichen und kirchlichen Ordnungen bei den Jalobiten zu beſonderen Gefegesfommlungen zufammenftellten und als berechtigt zu erweiſen fuchten ober für den rituellen Ge⸗ btauch und zur Erbauung die Lehren der Kirche dichteriſch bes handelten. Der Abſchluß zu dieſer reichen und vielſeitigen Litte⸗ tatut der jalobitiſchen Syrer wird von dem beruhmteſten ihrer Vertreter, von Gregorins Barhebräus (} 1286), gebildet, der nicht mr auf allen Gebieten der theologiſchen Litteratur der Syrer ſhriftſtelleriſch tHätig war, fondern auch alles, was feine Vor- gänger in den verſchiedenſten Disziplinen geleiftet Hatten, in

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muftergültigen Werken zuſammenfaßte und ſo gewiſſermaßen die Frucht der wiſſenſchaftlichen Arbeit feiner Kirche im gedrängter, kompendibſer Darftellung der Nachwelt überlieferte.

Ihm gleich fteht an Vielſeitigkeit und wiſſenſchaftlichem Ernſte Georg, Biſchof der Mraber ?), neben Barhebräus und dem Zeit- genoffen George, Jakob von Edeſſa ( 708), einer der namhafteften Gelehrten der Jakobiten, deſſen fchriftftellerifche Bedeutung durch dieſen Aufſatz in ein helleres Licht gebracht werden ſoll. Dieſer jakobitiſche Biſchof, deſſen Wirkſamkeit als Schriftſteller und Biſchof in das erſte Viertel des 8. Jahrhunderts fällt, kann ſomit als typiſcher Vertreter der geſamten theologiſchen Wiſſenſchaft der Syrer gelten, wie ſich dieſelbe um das Jahr 700 alſo etwa in der Mitte zwiſchen ihren Anfängen und ihrem Abſchluſſe durch Gregorius Barhebräus ausgebildet Hatte. Dies aber ift zw gleich auch die Zeit ihrer Höchften Blüte,

Zwar ftehen ung nur wenige und bdürftige Nachrichten über den äußeren Gang des Lebens Georgs zur Verfügung, aber wir vermögen doch die Zeit und den Ort feines Wirkens in einem hohen Kirchenamte näher zu beftimmen. Dagegen ift uns ein großer Teil feiner zahlreichen Schriften erhalten, unb wenn auch von den noch vorhandenen Erzeugniffen feiner ſchriftſtelleriſchen Thätigfeit bis jegt nur der Heinfte Teil gedruckt ift, fo genügen doch die veröffentlichten Schriften George und die reichlichen Notizen, welde Aſſemani und Wright über feine Werke geben, um fih ein Bild von feiner miffenfchaftlichen Bedeutung zu verſchaffen. Es ift übrigens anzunehmen, daß wir mit der weiteren Ber

3) Über Georgs Lehen und Schriften ift zu vergleichen J. G. E. Hoff- mann, De hermeneuticis apud Syros Aristoteleis (Lipsiae 1869), P. 148—151, der fi im weſentlichen auf die Angaben von J. 8. Asse- mani, Bibliotheca Orientalis, T. I: De scriptoribus Syris orthodoxis, Cap. XVI, p. 494 (vgl. T. II: Dissertatio de Monophysitis, art. IX) Mügt. Ein Urteil über Georgs ſchriftſtelleriſche Bedeutung hat de Lagardı ausgefprodjen, indem er in dem Programm: De geoponicon versione syriaca commentatio (1855), p. 20, Anm. 1 (wieder abgebrudt in den „Geſammelten Abhandlungen“, ©. 142, 6) fagt: „Georgium episcopum Arabum erunt multi, qui adamaturi sunt, hominem maxime et acutum et circum- spectum.“ . .

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öffentfihung der wichtigften feiner Schriften nicht nur unfere Kennt⸗ nis feiner außgebreiteten Gelehrſamkeit erweitern, fondern auch neue wichtige Angaben über fein Leben und feine Wirkſamkeit als Biſchof erhalten werden.

Über die Zeit, in welcher der Araberbiſchof Georg Iebte, find bir von verſchiedener Seite berichtet. Nach Barhebräus firiert Afemant ) die Zeit feines biſchöflichen Wirkens auf die Jahre 686— 724. Während wir aber über das Jahr feines Todes nur die eine Notiz Haben, daß er in dem Jahre, wo er den Athanafius II. (# 740) zum Patriarchen ordiniert Hatte, geftorben ſei 2), liegen und über das Jahr feines Amtsantrittes drei einander widerſprechende Angaben vor. Nach Barhebräug ®), dem Affemani folgt, ift Georg im Jahre 687 orbiniert worden, zwei Monate nad) dem Tode des Patriarchen Athanaſius II. von Balad, der angeſichts feines Todes dem Sergius Zätünäjä, dem Erzbiſchof von Kartamin 4), die Wahl George zum Biſchof anbefohlen Habe; Athanafins II. aber ftarb 998/687. Es fragt ſich fehr, ob wir berechtigt find, diefe ganz beftimmte Angabe des Barhebräus zu bezweifeln, und war auf Grund einer Bemerkung des Ende des 8. Jahr⸗ hunderts, alſo freilich viel früher al8 Barhebräus lebenden Patri⸗ arhen Dionyfius von Tellmachre, der den Tod des Athanafius erft in da8 Jahr 1015/704 verlegt, aber die Ordination George im Jahre 961/650 geſchehen fein läßt o). Cine dritte Notiz über das

4) Bibl. Or. II. Diss. de Mönoph. IX. De episcopis Jacobitarum : sv. Hirta. Catal. bibl. Vatic. II, 402.

3) Bibl. Or. II, 338 und Chronicon ecclesiasticum edd. Abbeloos et Lamy, ®b. I, ©. 308, vgl. Note 4.

3) Chron. ecel. I, 294.

4) Barh., Chron. eccl, p. 285. Cr war Mapfrian (d. i. Metropolit) der Jakobiten und Hatte als folder auch den Titel Erzbiſchof.

5) Bibl. Or. II, 103. Bor Georg wird Johannes (617—650) als Biſchof von Hirta genannt; ein Vorgänger diefes war Theodor, den Dionyſius (im Chronicon ao. 862/551) erwähnt (B. O. I, 167). Bgl. hierzu die Lifte der jalobitiſchen Bifchöfe zu Hirta in dev Bibl. Or. (f. 0. Anm. 1) und bei Le Quien, Oriens Christianus, T. II (1740), p. 1585: Ecclesia Hirtae Naamanis.

% Ryifer

Jahr des Amtsantrittes George findet ſich in der Hydragiolota des Antonius Marfilius Columna, der da, wo er non der Segnung des Waſſers nad) ſyriſchem Ritus Handelt, auf Grunb eines alten ſyriſchen Coder berichtet, daß Georg bereits 647 ordiniert worden ſei 1). Überdies empfichft ſich die Angabe des Barhebräus auch noch dadurch, daß eine biſchöfliche Wirkſamkeit von 74 oder von 77 Jahren doch wenig Wahrſcheinlichkeit für ſich hat.

Aber daß Georg wirklich gegen Ende des 7. und im erften Biertel des 8. Jahrhunderts Biſchof der chriſtlichen Araber war, wird uns indireft auch noch anderwärts beftätig. So wird er bei Barhebräus ) als Zeitgenoffe des berühmten Jakob von Edeſſa bezeichnet, der etwa 684 (nicht aber 641, wie Pfeifer ©. 164 nad) der Bibl. Or. fagt) Biſchof von Edeſſa wurde und im Jahre 708 ftarb. Augenfcheinlich wollte Barhebräus, Indem er fagt, daß zu der Zeit beider Männer ein gemiffer Chrinus, Sohn des Manſur d. 1. Johannes Damascenus die Gefänge, die griechiſch Kanones hießen, erfunden Habe *), für feine ſyriſchen Leer den Anfang bes 8. Jahrhunderts als die Zeit der Er- findung diefer kirchlichen Hymmen angeben. Ein unzweifelhafte Beftätigung aber, daß Georg im erjten Viertel des 8. Jahr⸗ hunderts Biſchof der hriftlichen Araber war, erhalten wir durch ihn felbft, Indem wir eine Reihe genau batierter Briefe von ihm befigen, welche er in den Jahren 714 (1025) bis 718 (1029) als Biſchof und im Alter, wie fih aus dem Inhalte ergiebt, geſchrieben Hat (f. u. ©. 300ff., vgl. ©. 305, Anm. 1).

Georg gehörte der jakobitiſchen Kirche Syriens an. Zwar zählt ihn Afjemani *) den orthodoren Schriftftellern zu; dab er aber Jakobit war, geht daraus Hervor, daß er von dem jafo- bitiſchen Erzbiſchof Sergius Zuͤthunaja auf Befehl des Patrir archen der Jakobiten zu Antiochien Athanafius II. zum Biſchof

1) Bibl. Orient. I, 469; vgf. I, 167b.

2) Ethica, cap. 4, f. Bibl. Or. I, 494.

3) ©. Herzogs Realenchkl., Art. „Sohemıes von Damaskus“. 1. Aufl. Bd. VI, ©. 746; 2. Aufl. 8b. VO, ©. 39.

4) Bibl. Or. 1, 494.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 8

orbinkert wurde. Aber auch aus feinem Briefe an den Presbyter Jeſus, der unten im Auszug mitgeteilt werden foll, laſſen ſich meßrfache Zeugniffe dafür anführen, daß er der jafobitifchen Kirche angehörte. Wir erwähnen hier uur den einen Umftand von durch. Ihlagender Beweiskraft, daß er im 8. Briefe (f. u. ©. 362f., vgl. ©. 357 u. 358ff., ſpez. ©. 365) die „Adyos drıIgonon‘“ des berühmten monophyſitiſchen Patriarchen Severus von Antiochlen (612—518) als maßgebende Quellen für die reine Lehre citiert. Dazu tommt, daß er auch direkt als „Georg der Jakobite“ bes fihnet wird 1),

Seinem Kirchenamte nad; war Georg „Biſchof der arabifchen Vller“, oder, wie er häufig auch einfach genannt wird, „Biſchof der Völler“. Beiläufig ſei bemerkt, daß ein Lobredner der Jalo⸗ bien, der biefe abgekürzte Bezeichnung mißverftanden Hatte, ihn deshalb zum Patriarchen aller chriſtlichen Voller macht?). Sehr oft werden auch die arabiſchen Stämme genannt, über welde ex als Biſchof geſetzt war, indem er bald als Biſchof der Tanuͤchiten, Tüten und “Aghliten (ſ. u. ©. 305), bald ale „Biſchof der Ma addener 3) bezeichnet wird 4). Won biefen arabiſchen Stänmen find die Aquliten benaunt nad) der 5 Tagereifen von Bagdad ente fernten Stadt Küfa am Euphrat, deren alter ſyriſcher Name Ale war. Es iſt dies biejelbe Stadt, die, im 7. Yahıe hundert gegründet, eine Zeit lang Refidenz der Kalifen war, durch das Aufblühen von Bagdad aber in Verfall geriet und jegt in Trümmern Liegt. Die Tanüchiten find der bekannte Stamm, ben fhon Ptolemäus (Geogr. VI, 7, 28. cl. 21) unter dem Namen Havovicas oder Oavicas erwähnt und der nad) Barhebräus ®) auch um Haleb Herum oder, wie er am einer anderen Stelle fagt,

)&. Renan im Journal asiatique, Bb. XIX, Jahrg. 1852, ©. 824 Rote. Bol. 3. B. noch ©. 300f.

2) Bibl. Or. I, 494.

3) Elias von Niſibis, De anni computatione, in Land 8 Anecd. I, 473.

4) Bol. über diefe arabiſchen Stämme Th. Nöoldeke, Geſchichte der Perfer und Araber zur Zeit der Saſaniden (1879), ©. 23f. böff. 67. 148. 318 n. 833].

6) Chron. Syr., p. 188, 6 u. 144,8 v. u,

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am Fluſſe Kuwek bei Haleb in Zelten wohnte. Die an dritter Stelle genannten Tu'iten laſſen fich nirgends nachweiſen, weder in den geographifchen Wörterbüchern, wie in dem großen Werke Juͤquts, no im Dämüs. Während diefe Völfer gewöhnlich mit einander aufgezäglt werden, fteht diefer Beziehung die andere entgegen, wo⸗ nad) Georg Bifchof der Ma’addener genannt wird (f. o.). Diefer arabifche Volksſtamm nomadiſierte ſchon von 524 am füblic und öftlich von Hirta ) und erftredte fi im Jahre 772 zugleich mit den Tha labiten bis nach Moful Hin. Nach Barhebräus ?) gehörten auch die Taghlibiten zu den Hriftlichen Nomaden. Darnach war alfo Georg Bischof der nomadifierenden Araber, die ihre Züge bis nad dem nörblicheren Teile von Mefopotamien Hin ausdehnten und dem jatobitifchen Glauben angehörten.

Wann nad) diefen Gegenden das Chriftentum gekommen ift, Täßt fi) nicht genau fagen. Nach Eufebins *) Hat das Evangelium

in Arabien etiva felt dem Anfange des 3. Jahrhunderts, wahrfcein:

lich aber ſchon früher, Eingang gefunden. Ein Bistum Arabien gab es aber erft feit der Zeit des Biſchofs Maruthas von Tagrit (um 430). Dasfelbe war dem Maphrian von Tagrit untergeben, indem es eine der 12 Diöcefen bildete, die unter diefem ftanden %), umd war in 2 Teile geteilt: in das eigentliche Arabien, wo der Biſchofsſit gewöhnlich in Aquula war und zwar, wie wir umten zeigen werden, nicht in dem befannten “Agüla am Euphrat, das bei den Arabern den Namen al-Küfa führte und in das ffenitife Arabien d. h. das Gebiet der fog. Skeniten 4) (Aſſemani: Arabes Taalabenses Scenitae, d. 5. der nomadifierende Araberftamm der Taghlibiten, f. o.), wo der Sig zu Hirta des Naaman war.

1) Bibl. Or. I, 364 u. 365, vgl. Anm. 1.

2%) ©. Bibl. Or. II, 419.

s) Hist. ecel. VI, 19; vgl. jedod) auch V, 10 das über Pantänıs Ge- fagte, was auf Arabien zu beziehen ift.

4) Stephanus führt den Namen auf eine Stabt der Araber im für lichen und wüften Arabien, Namens ai Zxnvet (Strabo, lib. 16) zuräd, womit Hirta gemeint ift. Nach der gewöhnlichen Bezeichnung find diefe „Ste niten“ der Byzantiner die Bebuinen vom Stamme Belr-Wäil.

Ein Brief George, Biſchofe der Araber zc. 239

Diefe Skeniten (griech. Zxpviras und ſyr. AA usa d. i. Zelte moßner, oder auch arab. Kay d. i. Beduinen, für. u⸗ Jori Wüftenbewohner), die das Gebiet des wuſten Arabiens an den Grenzen Syriens, Mefopotamiens und Chaldäas 1) bewohnten und ſich bis an den perfifchen Meerbufen erſtreckten, waren ſchon im Jahre 320 dur die Biſchöfe von Edefja und Seleucia befehrt worden 2). Später wurden noch die Bewohner von Hirte, Matt, Maifhän (Bafra) und Jamuma bekehrt, wiedenn auch von den Königen von Hirta verfchiedene Chriften waren. Diefe Tagplibiten refp. Steniten, die zu dem Reiche der Könige von Hirta gehörten, hatten auch in Hirta ihren Biſchof, der nad; Seleucia gehörte. Später hatten die Neftorianer und Jakobiten unter diefen arabifchen Chriften ihre behre ausgebreitet. So gab es in der Stadt Hirte (für. Tlzam Hertä, arab. ill), die nur 3 Meilen von Kafa entfernt war ®) und nah Nomän, dem Sohne des chriſtlichen Araberfürften Mundäir, der hier feinen Sig hatte, benannt war (daher genauer

a Vu oder as Ann} Was), ſowohl einen Biſchof der Neftorianer als auch der Jakobiten. Und zwar find mit allen denen, die don Dionyſius von Tell⸗machre und Barhebräus ein fach als Biſchöfe der Araber bezeichnet werden, wie Theodorus, Johannes und Georg (f. o. ©. 285, Anm. 5), fowie auch Achu⸗ demes, der fpäter der erfte Maphrian der Jakobiten (feit 559) wurde, nicht die Biſchöfe des eigentlichen Arabien, die in Aqula und fpäter in Balad ihren Sig hatten, gemeint, fondern immer die Bifchöfe in Hirta, wie es uns auch ausbrüdlic bezeugt wird, daß der jalobitiſche Biſchof der Zaghlibiten, die auch Sfeniten genannt werden, in Hirta feinen Gig Hatte‘). Daß der Araberbifchof

1) Arabia deserta, auch Zxenvizis genannt, teilte man feiner Lage wegen in die ſyriſche Wüfte, in die Wüfte von Gefica d. i. Mejopotamien und von Irat d. i. Chaldäa. Bel. Bibl. Or. III, II. p. 553.

%) Sozomenus I. II, c. 17; 1. VI, c. 34.

3) Abulfeda, Tab. geogr. num. 270.

4) Dionyfins im Chron. zum Jahre 862/661, wo der oben erwähnte Theodor birelt als Biſchof von Hirta des Naaman bezeichnet wird. Dal. noch Bibl. Or. I, 494b.

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Georg, obwohl zugleich Biſchof der Aquliten genaunt (ſ. o. ©. 287), ebenfalls feinen Sig nicht in Aqula, ſondern in Hirta hatte, geht noch aus einer anderen Notiz Hervor. Da nämlich, zu derſelben Zeit, wo Georg Biſchof der “Agüliten war, in Agdıla ein gewiffer Bacchus Bifchof war !), der dieſes Bistum unter dem feit dem Fahre 999/688 im Amte befindlichen Mapkrian Denha erhalten und bis etwa drei Jahre vor der Ernennung des Vatriarchen Elias im Jahre 706 inne hatte, fo fann Georg zu diefer Zeit nicht Biſchof von Aqula gewefen fein. Er muß alfı, obwohl dies nirgends ausdrüdlid erwähnt wird, in Hirta feinen Sit gehabt haben, während Bacchus als der andere Araberbiſchof in ‘Agüla wohnte. Da übrigens unter ben arabifchen Stämmen, deren Biſchof Georg war, auch “Agdliten genannt werden, fo ift anzunehmen, daß das “Agüla, mo Bacchus feinen Sig Hatte, nicht die befannte Stadt diefes Namens ift, ſondern höchſt wahrſcheinlich das ‘Agdla (genauer Dair ⸗Aqula), das in der Nähe des Ligrie- ufers nicht weit von Bagdad entfernt Ing. Diefe Vermutung er- Hält eine indirekte Beftätigung dadurch, daß bie Bifcöfe vou Aqula fpäter die Doppeldiöcefe Tel “ofür und Abü marjah, ſowit Balad und Dairk d-mu‘allag inne Hatten. Diefe Didcefen Tagen aber mehr in dem nördlichen Teile von Mefopotamien, zu welchem auch Dair⸗Aqula gehört (f. Bibl. Or. II, s. v. Arabia).

Noch fei in Kürze darauf hingewieſen, daß Abbeloos in feiner Biographie des Jakob von Sarüg, Biſchof von Batnän (geb. 451, geft. 521) ®), zwei Uraberbifchöfe Namens Georg unterfcheidet. Indem Abbeloos vermutet, daß ber Verfaffer einer der beiden Biographien des Jaklob von Sarüg, des einem gewifen Georg zu⸗ gefchriebenen Carmen panegyricum, der „Araberbijhof Mar Georg“ ift, von welchem Barhebräus im Chronifon ®) erzählt, daß Zalob von Sarüg eine Auslegung ber 6 Bücher der Kirchenge

1) Barhebräus (tm Chronicon) erwähnt dieſen Biſchof Baechns von Aqdla, der nach Abfegung des Mapkrian Denha von dem Patriarchen Julian zum Primas des Orients eingefegt wurde. S. B. O. II, 430.

2) De vita et scriptis 8. Jacobi Batnarum Sarugi in Mesopotamis episcopi (Lovanii 1867), S. 86f. u. ſpez. ©. 87 Anm.

8) Bibl. Or. II, 822.

Ein Brief Georgs, Bliſchofs der Araber zc. 21

ſchichte des Evagrins auf die Bitte diefes feines Schillers verfaßt habe, jo wird er, da jener Lobredner des wie noch Abbeloos meint orthodogen Jakob von Sarüg ſicher au dem orihe- doren Glauben angehören muß, zu der Annahme veranlaßt, dag & zwei Araberbifchöfe Namens Georg gegeben habe, von denen der eine, der Verfaſſer des Paneghrikus, der Schüler des Jakob don Serüg geweſen fei, der andere aber unſer Georg, der, wie ſchon erwähnt, Zeitgenoffe bes Jakob von Ebeffa (+ 708) wart). Aber es ift doch einfacher, in jener Stelle des Chronikon eine Verwech⸗ felang des Schülers Jakobs von Sarug mit dem Zeitgenoffen des Yatob von Edeſſa anzunehmen; vielleicht andy, daß ein Abfchreiber dem Namen Georg das Beiwort „[Bifhof] der Araber“ Hinzu fügte, eben weil er am unferen Georg dachte, der zu Jakob von Ehffa in einem ähnlichen Verhältnis ftand, wie jener Georg zu Yatob von Sarüg (f. u. ©. 299). Es ift nicht unmöglich, daß die oben erwähnte Stelle auch ber Grund geweſen ift, warum Afemani den ‚Mar‘ Georg ber Araber unter die orthodoren Schriftftell er ftellte.

Die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit des Araberbiſchofs zeugt vom großer Vielſeitigkeit dieſes Autors, und feine Werke um⸗ faſſen neben feiner Überſetzung Ariſtoteliſcher Schriften die ver- ſchiedeuſten Zweige der theologiſchen Wiſſenſchaft. Außer einer Anzahl Auslegungswerke, die allerdings faſt ganz verloren gegangen find, Hat Georg auch dogmatifche Schriften, chronologiſche Abhand« fangen und verfchiebenartige Gedichte verfaßt; von befonderem In⸗ tereſſe find aber feine Briefe, weil fie uns nicht bloß näher mit feiner Perfönlichkeit bekannt machen, fondern uns auch zeigen, welche wiſſenfchaftliche Aufgaben in jener Zeit die Geiftlihen und Mönde hauptſächlich befchäftigten, welche dogmatiiche Tragen mit Vorliebe diskutiert wurden und wie die kirchliche Gefeßgebung im Leben der Kirche zur Ausführung gelangte 2).

1) Olernach iſt die Notiz in Herzogs Real-Enc. (2. Aufl, Art.: „Jakob dv. Sarng”) zu berichtigen, daß nach Abbeloos der Panegyritus dem Zeitge- offen Jalobs von Edeſſa zuzuſchreiben jet.

2) Byl. zu dem Folgenben das Verzelchnis der Schtiften Georgs dei Bar«

22 Ryſſel

Wir beginnen unſere Darſtellung der litterariſchen Produktien

1 Georgs mit feiner berügmten Überfegung eines Teiles des Organon von Ariftoteles mit Einleitungen, Anmerkungen und Kommentaren (Brit. M. cod. DCCCCXV aus dem 8. oder 9. Jahrh., ſ. Wright, ©. 1163F., vgl. Renan im „Journal asia- tique“, Bd. XIX, April 1852, ©. 324). Diefe Überfegung um faßte 1) die zehn Kategorieen, 2) die Abhandlung reg? Egpmvelas und 3) die Analytica priora, die er in zwei Büchern überjegte. Da dies ausdrücklich bezeugt ift, fo ift anzunehmen, dag er die Analytica priora ganz überfegte, was infofern von Intereſſe ift, als die Alten nur die erften fieben Kapitel, welde die einfageren Arten von Spllogismen behandeln, zu überſetzen pflegten ). Jeder diefer drei Teile zerfällt in drei Abteilungen: in die von Georg verfaßte längere Einleitung, in ben eigentlichen Text, der von Anmerkungen begleitet .ift, und in den ausführlichen Kommentar, welcher jedoch bei der Schrift regt Seunvstas fehlt. Das Ganze ift der umfangreichfte Ariftotelifche Kommentar, den wir im Sprifden befigen (Renan a. a. O.). Wie Hoffmann, der diefe Überfegung als „optimum Georgiani nominis ınonu- mentum‘ bezeichnet, gezeigt und durch Beiſpiele erläutert Hat ?), zeigt Georg fein Geſchick als Überfeger befonders dadurch, daß tr nicht fllavifch einen Terminus, eine Konjunktion und Partikel oder ein Kompofitum immer mit demfelben ſyriſchen Ausdruck wieder giebt, fondern je nad) dem Zufammenhang mit dem Ausbrud ab wechfelt; auch Hat er die von Ariftoteles angeführten Beiſpiele nicht mit neuen, dem ſyriſchen Verſtändnis angepaßten vertauſcht. In beider Hinſicht unterfcheidet er fich vorteilhaft von anderen ſyriſchen Überfegern, deren Überfegungen nicht ſelten durch ſtlaviſcht Nahakmung des griechiſchen Wortlautes dem ſyriſchen Spradgr

fatibäu® (Bar Slib2), Bibl. Or. II, 188 u. befonders aud; W. Wright, Catalogue of the Syriac manuscripts in the British Museum.

3) Über die orientalifchen Bearbeitungen der Analytica priora ſ. Stein: ſchneider, Al-Faräbi (M&moires de l’Academie imperiale des sciences de St. Pötersbourg, 1869. VII sec. T. XIII, No. 4), ©. 28ff.

2) De hermeneuticis apud Syros Aristoteleis (1869), ©. 18 ff.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 28

braud Gewalt anthun und unverftändlich werden oder auch duch willturliche Änderungen beweifen, daß fie nicht die nötige Achtung vor dem Wortlaute des Originals Haben. Bis jegt ift von dieſem großen Überfegungs» und Auslegungswerfe nur ein Heiner Zeil veröffentlicht, und zwar jo viel von der Überfegung der Schrift zesgi öpumveiag erhalten ift, nämlich ein Stüc ganz (Rap. 16, f. die Ausgabe von Bekker S. 16—17, 3. 36, die Parifer Aus« gabe ©. 24—27) und von den übrigen Teilen diefer Überfegung Heine Bruchſtücke 1).

Mit dem Zwede und der Anlage des an erfter Stelle er- mwähnten Werkes Georgs find nahe verwandt die Schofien zu 2 den Homilieen des Gregor von Nazianz (Brit. M. cod. DLXII aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, ſ. Wright, ©. 441f.), nur daß er die Überfegung der Homilieen nicht felbft an- gefertigt Hat und auch die eigentlichen Scholien nicht von Georg verfaßt, fondern nur zufammengeftellt find. Jeder Homilie geht eine kurze Einleitung voraus, welde einen Abrig des Inhalts und eine Lifte der darin eitierten Schriftfteller enthält %). Daß Georg der Verfaffer oder richtiger der Kompilator diefer Schofien ift, die er wahrſcheinlich der üfteren, neſtorianiſchen Überfegung des Gregor von Nazianz entnahm, ſoweit fie von Daniel, dem Schüler bes Rabban Benjamin, verfaßt waren, zu denen aber noch die von Aitallãhã (zur 1. Homilie) und von dem jafobitifhen Patriarchen von Antiohien Athanafins II. von Balad verfaßten hinzukamen, ift zwar nicht ausdrücklich gefagt; es geht diefes aber daraus her⸗ vor, daß er der Zeitgenoffe und Freund bes Athanafius von Balad ®) war, zu deſſen Lebzeiten 4) die Werke Gregors von Nazianz von dem berühmten Jalob von Edeſſa überfegt wurden. Diefe Vermutung wird dadurch beftätigt, daß gegenüber einer Stelle, wo

2) ©. Hoffmann a. a. O., S. 22—28, ferner ©. 30. 38. 4b. 53.

3) In den Schofien finden ſich auch folgende Eitate: Sokrates, Hist. ecel. I, 315g. 85. 38; II, 17. 26; II, 14. Theodoret, Hist. ecel. IV, 2. 82.

8) Daß Georg anf Befehl des Athanaſius IL zum Biſchof ernaunt wurde, AR ſchon oben (&. 285) erwähnt worden.

4) S. Gregorius Barhebräus in der Bibl. Or. II, 807; I, P. I, ©. 23 Anm.

eol. Stad. Safız. 1888. 20

[3 Rnfier

der Kommentator von ſich in ber erften Perfon rebet, der Name „Georg, Biſchof] der Völler“ an dem Rand beigefchrieben ift. 3 Weiter meldet uns Affemani !), dag Georg Kommentare zur heiligen Schrift verfaßt Habe, und fpeziell wird ein Kommenter zum Evangelium bes Matthäus erimähnt, von dem fich ein Fragment in einem ber ſyriſchen Codices dis Affemani (ood. 3, p. 316) erhalten Hatte, wie auch ein unbelannter Autor einer ſyriſchen Katene häufig Erläuterungen aus eimm Kommentar Georgs zu den vier Evangelien anfhhrt (cod. ms. Syr. Vat. 16). Auch bemerkte Affemani *), daß Barhebräus in feinem großes Auslegungswerke ausar raze (d. i. „Schag ber Geheiwniſſe“) mehrfach, Kommentare von Georg citiert. Prüfen wir aber die Mitteilungen näher fo weit bies ohne Eiaſich der Handſchriften, die dem Afjemani vorlagen, möglich ift —, fo ergiebt ſich ein weentlich anderer Sachverhalt. So enthält zw nüft eine Handſchrift der Vatilanijchen Bibliothek *) unter ver- ſchiedenen Scholien, bie einer and verfihiedenen griechiſchen und ſyriſchen Kommentaren zu Matthüus kompilierten Auslegung dei erften Evangellums angehängt: ſind, auch ein Scholion des Mraber- biſchofs Georg; in welchem bangelegt ifi, wie die Gotießgebärerin Maria veB der unfructbaren Anna gehoren und im. Tempel det Herta zu Jeruſalem dargeſtellt worden fei, „gleichwie auch bie Hanna, bie Mutter Samuels, des größten Propheten, unter Thräuen und. Gebeten und Gelübben ihn empfängen Hatte“ +). Weiter bat

1) Bibl. Or. I, 494; II, 160.

%) Bibl. Or. II, 288.

%) ©. Catalogus bibliothecae Vaticanae IM; 22; cod. CHI, die ä- tefle Gandfchrtft, enthaktenb Konmentare zum ten und Neuen Xeftament, darunter unter Nr. 49 dieſe kurze Auslegung zum Evangelium. Matthäi.

4) Diefe felbige Stelle iſt mögtichermeife auch in einer Cabena patrum tert, in welcher Annsfprüche der Kichemoäter von einem ebeffeniſchen Mönch, Rumens, Severus, im Jahre 861 fo meinendergeräiht And, ba fie einen fortlaufenden Kommentar zu einen guößeren Zeile des. Akten, und Neuen Tefta - mentes bilden (Brit. M. cod. DOCCLEIE aus tem Jahre 1392/10861). Hier ich, uutet Ns. 8 (Wright, S. 900b) zu Luh 1, 86: „Gott ift Fein Ding unmöglich“, mit ber gewöhnlichen Einführungsformel auch ein Ausſprnch George

Ein Brief George; Biſchofs der Araber zc. 2%

Dionyſius Barfalibäus, Biſchof von Amid, Im feiner Auslegung der Enanigelten ) bei der Beſprechung der tage, warum in ber Genealogie des Matihdus die drei Könige Ahasja, Joas unb Amazia weggelaffen find, außer den zahlreichen gewöhnlichen Er⸗ Härungsverfuchen der Kommentatoren auch zivei von Syrern vor⸗ gebrachte Erklärungen erwähnt, von bene bie eine von Georg ſtammt. Es Heißt Hier: „Georg, der Biſchof der Völler, meins, jene drei Perfonen felen weder von Matthäws ausgelaſſen, noch ſei die Summe der Generationen verändert worden, mm 14 flatt 17 zu erhalten; fondern weil er an die Juden fein Evangelium ſchtieb und die meiften Juden fich ldamals] der griechlſchen Sprache bedienten, in welcher n, y, x nicht mie im Hebrätfchen und Sytiſchen ausgedruckt werden können, da das griechiſche Alphabet feine Gutturalbuchſtaben Hat. Deshalb gaben es die Überſetzer, die das Evangelium aus dem hebrälſchen Originale ins Griechlſche äberteugen, im folgender Weife wieder: FJoram zengte den Ochezia, Ochoʒia den Joas, Joas den Ofia. Die Abſchreiber dieſes grie⸗ chiſchen Textes nun kamen aus Verſehen von dem einem Satze: Joram zeugte den Ochozia, in den anderen und ſchrieben: Joram zengte den Ozia, mit Auslaſſung ber Mittelglieder, indem ſie durch die Ähnlichteit der Namen irre wutben, und mit Veränderung des einem Buchſtabens x, was ißnen, ohne daß fie es inerkten, begegnet fein farm. Wenn aber nicht, jo muß man annehmen, daß die Zahl vierzehn der Generatisnen deshalb von ihnen worgezogen worden ift, weiß bie je fiebente Generation und bie Siebenzahl bei den Iubengjrifieh im befonderem Anſehen ftenden. Die auf dieſe Weiſe fehlerhaft gewordenen Handſchriften find daun zu allen Bölkern verbreitet worden“ Dieſe Erörterung Georgs wird auch von Barhebrãus in feinem „Schatz der Geheimmniſſe“ zu Matthäus, Rap. 1, B. 8 citiert ), indem er fagt: „Und Georgius, (Bifchof)

angefühet, ber leider nicht mitgeteilt iſt, aber in Rüchicht auf den Inhalt der behandelten Stelle recht wohl mit bein oben angeführten ibentifd} fein Tann.

1) ©. Bibl Or. II, id6sgq. Die citierte Stelle fieht S. 160.

2) Gregorii Alulfarag bar Ebraja In Evangelium Matthadi Scholia

e recognitione Johannis Spanuth (1879), p. 8. 20*

26 Ryſſel

der Voller, meint, daß ber erſte Abſchreiber fi verſah infolge der Ahnlichkeit der Buchſtaben und, ftatt Ahasja zu ſchreiben, Ufie ſchrieb; mich aber überzeugt diefe Auffafjung nicht, weil es mit diefen drei Berfonen ſiebzehn Geſchlechter find; und wenn dieſe nicht [bereit] von dem Evangeliften außgelaffen wurden, wie kommt es da, daß er nicht fiebzehn, fondern [nur] vierzehn zählt; deshalb it [die Zahl] vierzehn nach Origenes beabſichtigt.“ Wenn wir num erwägen, daß fonftige Stellen aus Auslegungsichriften George in dem Thefaurus des Barhebräus nicht citiert werden wenigftend nad dem, was fi) mir bei einer Durchſicht fümtlicher auf der Leipziger Univerfitätsbibliothel vorhandenen Publikationen aus Gre⸗ gors Werke ergeben hat —, fo wird wohl anzunehmen fein, daf Georg nicht einen fortlaufenden Kommentar zu ben heiligen Schriften verfaßt Hat, fondern daß er nad) der Sitte feiner Zeit einzelne, ihn beſonders intereffierende oder von anderen aufgemworfent ragen in befonderen Scholien behandelte. Wenigſtens erjceint diefe Annahme angefihts der Thatſache, daß nur folche Heinere Auffäge citiert werden, als das Wahrſcheinlichſte. Wir wenden und nun zu den bogmatifchen Schriften George. 4 Hierher gehört eine kurze Erläuterung der Saframente

ber Kirche, welde die Taufe, das Heilige Abendmahl und die

Weihe des Salböls behandelt. Diefer „Kommentar“, der fid in

demfelben Codex findet, der auch die Briefe Georgs enthält (j. u. |

©. 300), beginnt mit den Worten (©. 985): „Weil num die Lehrer der Kirche eine Erläuterung der Sakramente (‚Myfterien‘) in aus

führlicher und eingehender und erhabener Weife verfaßt Haben, Haupt |

ſachlich aber der Heil. Dionyfius, der Schüler des Apoftels Paulus, einer von den Richtern des Areopags, welder Biſchof der Stadt Athen wurde, jo Habe auch ich in Kürze zum Stublum für die, bie Belehrung lieben, und zwar befonders für die, welche unfere niederen Amtsgenoſſen find und denen es nicht möglich iſt, immerwährend

die Bücher (eig. ‚Tafeln‘) der Heil. Väter zu Iefen, ſei es, weil |

fie ihnen nicht zur Hand find, fei es, weil nicht jeder den er- habenen Sinn der Väter verftehen Tann, darum Habe ich mit kurzen Worten das, was von dem heil. Lehrern verfaßt und fo wohl von Dionyſius als von anderen in ſcharfſinniger Weiſe

Ein Brief George, Biſchofs dee Araber etc. 3

gefagt worden ift, in Teicht verftändficher und einfacher Darftellung behandelt, damit es jeber verftehen kann, der es nötig Hat, bie Kraft (ddvaıs) der Heiligen Sakramente zu erfennen.” Aus diefer Schrift ift möglicherweife das Citat genommen, das fi in einem umfangreichen Werke, beftehend aus einzelnen Abfchnitten über den Körper und feine Teile, über bie Seele, über die Auf- erſtehung, über die Menſchwerdung, über das Heilige Abendmahl und die Taufe u. f. m. borfindet 1), vorausgeſetzt, daß das Citat in den letzterwähnten Abfchnitten fteht.

Ob Georg eine kirchliche Gefegesfammlung verfaßt 5 dat, wie man nad) verfehtebenen Eitaten in dem „Liber directio- num‘ des Barhebräus, einem Auszuge der kirchlichen Kanones und der weltlichen Gefege 2), angenommen hat, ift fehr zweifelhaft. In diefer Schrift ſtellt nämlich Barhebräus Zeugniffe aus den Apoſtoliſchen Konftitutionen, aus griechiſchen und ſyriſchen Vätern Afammen. Ob man nun bereditigt ift, aus ber Anführung vers ſchiedener Entſcheidungen George °) zu fließen, daß er auch Kanones niedergefehrieben Habe, ift zum mindeften fraglich; es lönnen auch Stellen aus den Schriften George, melde Ent ſcheidungen über Fragen der Kirchenleitung enthalten, wie fich folde mehrfach in feinen Briefen vorfinden (f. u. ©. 336 u. f. w.), von Barhebräns als Zeugnis Herangezogen fein.

Ferner finden fi auch hronologifhe Abhandlungen unter den Werfen Gregors, fo ein Ehroniton*), das er ſelbſt citiert in 6 feinem Brief an den Presbpter Jeſus (f. u. ©. 320; vgl. La- garde, Anal. Syr., p. 115, 19). Diefes Chronifon oder Kalen- darium war ein Gedicht, im zwölffitbigen Metrum abgefaßt, in dem Jakob von Sarg feine Sermones ſchrieb. In 24 Kapiteln

1) Wright, Catal, ©. 1006 4.

%) Bibl. Or. II, 2995qq,, ſpec. ©. 230f.; vgl. cod. Berol, Peterm.

%) &. Ecclesiae Antiochense Syrorum Nomokanon Gregorii Bar- hebraei (bei Mai, Scriptorum veterum nova collectio, T. X, P. II, p 1268). Die „Canones‘ Georgs finden fi p. 12. 14. 16. 18. 28. 3.83 n. 58f.

4) Bibl. Or. I, 495. S. aud) Cat. bibl. Vatic. II, 532 (cod. CCXLV

vom dahre 1640).

26 Ryſſel

der Voller, meint, daß der erſte Abſchreiber ſich verſah infolge der Ahnlichkeit der Buchſtaben und, ſtatt Ahasja zu ſchreiben, Uſia ſchrieb; mich aber überzeugt dieſe Auffaſſung nicht, weil es mit diefen drei Perſonen fiebzehn Geſchlechter find; und wenn dieſe nicht [bereit] von dem Cvangeliften ausgelaffen wurben, wie kommt «3 da, daß er nicht ſiebzehn, fondern [nur] vierzehn zählt; deshalb ift [die Zahl] vierzehn nach Drigenes beabſichtigt.“ Wenn wir nun erwägen, daß fonftige Stellen aus Auslegungsichriften Georgs in dem Thefaurus des Barhebräus nicht citiert werden wenigften nah dem, was fi mir bei einer Durchficht ſämtlicher auf ber Leipziger Univerfitätsbibliothet vorhandenen Publikationen aus Gre gors Werke ergeben hat —, fo wird wohl anzunehmen fein, daß Georg nicht einen fortlaufenden Kommentar zu den heiligen Schriften verfaßt Hat, fondern daß er nad der Sitte feiner Zeit einzelne, ihn beſonders intereffierende oder von anderen aufgeworfene Tragen in befonderen Scholien behandelte. Wenigſtens erfceint

diefe Annahme angefichts der Thatſache, daß nur folche MHeinere |

Auffäge eitiert werden, als das Wahrſcheinlichſte. Wir wenden und nun zu den dogmatiſchen Schriften George. 4 Hierher gehört eine Eurze Erläuterung der Sakramente der Kirche, welche die Taufe, das Heilige Abendmahl und bie Weihe des Salböls behandelt. Diefer „Kommentar“, der ſich in demfelben Cober findet, der auch die Briefe George enthält (ſ. u. ©. 300), beginnt mit ben Worten (©. 985): „Weil num die Lehrer der Kirche eine Erläuterung der Saframente (‚Myfterien‘) in aus fürliher und eingehender und erhabener Weife verfaßt haben, Haupt ſachlich aber der Heil. Dionyfius, der Schiiler des Apoftels Paulus, einer von ben Richtern des Areopags, welcher Biſchof der Stadt Athen wurde, fo Habe auch id in Kürze zum Studium für die, die Belehrung lieben, und zwar befonders für die, welche unfere niederen Amtsgenoſſen find und denen es nicht möglich ift, Immerwährend die Bücher (eig. ‚Tafeln‘) der Heil. Väter zu Iefen, ſei es, weil fie ihnen nicht zur Hand find, fet es, weil nicht jeder den er habenen Sinn ber Väter verftehen Tann, darum Habe ich mit kurzen Worten das, was vom den heil. Lehrern verfaßt und fo wohl von Dionyſius als von anderen in ſcharfſinniger Weiſe

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 29

gefagt worden ift, in Teicht verftändficher und einfacher Darftellung behandelt, damit es jeder verſtehen kann, der es nötig Bat, bie Kraft (ddvamıs)' der Heiligen Sakramente zu erkennen.“ Aus diefer Schrift ift möglicherweife das Citat genommen, das fi in einem umfangreichen Werke, beftchend aus einzelnen Abfchnitten über den Körper und feine Teile, über die Seele, über die Auf- eftehung, über die Menfchwerbung, über das Heilige Abendmahl und die Taufe u. f. w. vorfindet ), vorausgeſetzt, daß das Eitat in den Tegterwähnten Abfchnitten fteht.

Ob Georg eine kirchliche Gefegesfammlung verfaßt 5 hat, wie man nad) verſchiedenen Eitaten in dem „Liber directio- num“ des Barhebräus, einem Auszuge der kirchlichen Kanones und der weltlichen Gejege ), angenommen Bat, ift fehr zweifelhaft. In diefer Schrift ftellt nämlich Barhebräus Zengniffe aus den Apoſtoliſchen Konftitutionen, aus griechiſchen und fyrifchen Vätern ufommen. Ob man num berechtigt ift, aus der Anführung ver- ſchiedener Entſcheidungen Georgs ®) zu fehließen, daß er auch Ranones miedergefchrieben Habe, ift zum mindeften fraglich; es können auch Stellen aus ben Schriften George, welche Ent» ſcheidungen über Fragen der Kirchenleitung enthalten, wie ſich folde mehrfach in feinen Briefen vorfinden (f. u. S. 336 u. f. w.), von Barhebräus als Zeugnis Herangezogen fein.

Ferner finden ſich auch chronologiſche Abhandlungen unter den Berten Gregors, fo ein Ehronitont), das er felbft citiert in 6 feinem Brief an den Presbyter Jeſus (j. u. ©. 320; vgl. La- garde, Anal. Syr., p. 115, 19). Diefes Chronikon oder Kalen- darium war ein Gedicht, im zwölffifbigen Metrum abgefaßt, in dem Jakob von Sarüg feine Sermones ſchrieb. In 24 Kapiteln

1) Wright, Catal, ©. 10068.

%) Bibl. Or. II, 299gg., fpec. ©. 230f.; vgl. cod. Berol. Peterm.

%) &. Ecclesiae Antiochense Syrorum Nomokanon Gregorii Bar- hebraei (bei Mai, Scriptorum veterum nova collectio, T. X, P. II, p 1268). Die „Canones“ George finden fich p. 19. 14. 16. 18. 28. 3.53 u. 58.

4) Bibl. Or. I, 495. S. aud) Cat. bibl. Vatic. III, 532 (cod. CCXLV

dom Jahre 1840).

298 Ryſſel

handelte eq über die Epafte!), über die Auffindung der being: lichen Fefte, über den Sonnen- und Mondchllus, über die Monate und Wochen, und über anderes, was zur kirchlichen Berechnung gehört, und giebt eine „ebenfo Turze als genaue“ Methode an, Der Titel der Schrift ift: „Ein Gedicht im Metrum des Mar Jakob, verfaßt von Georg, dem Bifchofe der Völker, über die Zeitberechnung (chronicon).“ Der Anfang, welcher lautet: „Dr einer von den Heiden in ftolzem Übermute ſich mit ihren Dichten brüftete u. f. w.“, weift auf die Veranlafjung zur Abfafjung bes Gedichtes Hin. Als nämlich ein Araber den Geift der arabif—en Dichter fo hochſtellte, daß er daneben die Dichter anderer Völler für nichts achtete, beſchloß Georg ihm durch die That zu beiveifen, daß die fyrifchen Verſe mehr Eleganz zeigen als die arabiſchen. Nach diefer Einleitung beginnt er dann feine Abhandlung über die Zeitrechnung wit einer Berherrfihung der Güte und Vorſehung Gottes, welche die Araber als Heiden leugueten. In ähnlicher Weife Hat auch Ebedjefu, Metropolit von Rifibis, fein „Bud des Baradiefes“ den weltberühmten Malamen Hariris als ein muſier⸗ gültiges ſyriſches Sprachkunſtſtück gegenübergeftellt %).

7 Chronologiſchen Inhalts ift any die Tafel über die Neur monde, genaner: „Tafel zu erkennen, an welchem Tage und u welcher Stunde der Mond wieder zuzunehmen anfängt.“ Dieſt Tafel findet fich ſowohl in der Vaticana als im Britifhen Mufenm 9); in letzterer Bibliothekl innerhalb eines Bandes, der nur Abhandlungen über die Zeitberechnung enthält, unter dem Titel: „Berechnung des Anfanges der Mondmonate aus dem Chronikon oder Kalendarium bed Georg“, woraus hervorgeht, daß diefe Tafel nur einen Zeil des Chronifons bildete. Bewerkt ſei

1) Die Epaktenrehnung, die zur Ducchführung des nötigen Korrektion im Mondeyklus bient, ift bie Berechnung nach bem Alter, welches der Wond am 1. anna bat.

9%) ©. Pins Zingerle, Uber das ſyriſche Buch des Paradieſes wen | Chebjefu, Metropolit vom Niſibis, in der Zeitſche. der DMG., Jahrg 1875 | Bd. XXIX, ©. 496ff. |

®) Oatal. codd. bibl Vat. IL, 402: cod. LXVEI, und Rosen et Forshall, Cat. codd. orient. in$Mus. Brit., p. 88.

Ein Brief George, Biſchefs der Araber ıc. 2.

noch, daß Georg auch verſchiedene Briefe chronologiſchen und aſtronomiſchen Inhalts geſchrichen Hat (j. u. ©. 303).

Die übrigen Gedichte, die wir von Georg beftgen, behandeln andere Gegenftände. So vollendete er das „Hegaemeren“ S des Yalob vom Edeffa, indem er dad fiebente, letzte Buch diefes Ge⸗ digen zum Abſchluß brachte. Dasſelbe Handelt „über den Men⸗ fen, welchen Gott nad feinen Bilde ſchuf und bildete und zw einer großen und wunderbaren Welt inmitten diefer einen Welt machte" iy. Dos ganze Gedicht bilbet dem erften Teil des cod. 66 der Leydener WBiblioihel ?), der von einer jafobitifäun Hand eiwa des 13. Jahrhunders geferieben ift. Der 7. Traltat umfaßt fol. 63 r. bis fol. 82, wovon ber Inhalt von fol. 68 r. bis 79 r. von Jalob felbft verfaßt ift, ber Neft dagegen von Borg ®). Des von letzterem Hinzugedichtete begiant mit ben Worten: „Us die Darftellung des weiſen Lehrers bis Hierher ſich erfiredt hatte, da endete fein Leben und fo ward auch feiner Darftellung tin Enbe bereitet; 68 fügte aber das Folgeude Hinzu ber Fromme und heilige Mar Georg, Biſchof der Völter, fein Zeitgenoffe.“ +)

Ein anderes Gedicht, dus mehrfach; Hanbjehriftiig überkiefert ih, trägt den Titel: „Über die Konfelration bes Salb- 9 d16*, Dasfelbe beginnt: „Reines und Heiliges Salböl, Ehriftus Fefus, du Herr, veinige und heilige unfere Leiber wie unſere Seelen; - füßer und angenehmer Duft des verborgenen Vaters, gieb auch uns Teil an der Lieblichteit und Sißigkeit“, und iſt im zwölffilbigen Metrum abgefaßt, weshalb es auch dem Jakob von Sarüg zuge färieben worden ift 5) (f. 0. ©. 297). Erhalten ift uns biefes Gedicht in einer Haudſchrift des Britiſchen Mufeums (cod. DOCCKXXV,

1) Der Menſch wird alfo als der Makrokosmos betrachtet, wie auch fonft in der orientafifchen Literatur.

2 &. Land, Anecdota Syriaca I, 4.

) Afo hat ©. Hoffmann (a. a. O., ©. 150) wicht recht, wenn er kt: „lbrum septimum addens“.

4) Mit der „Geſchichte der Schöpfungen ()" (. Weight ©. 7978, %L. S. 1275) Lönnte das Heraemeron gemeint fein. Doc; fragt es fich, ob ‚Seorg ber Monch“ mit dem Acaberbifdjof Georg ibentifih if.

5) BibL Or. I, 882; vgl. jebod) p. 860.

30 Ryffel

aus dem Jahre 1326/1015, Nr. 78; |. Wright ©. 848), welde Feſtſermone und andere Reben für das ganze Jahr enthält; ferner in einer Handſchrift der Vaticana (cod. CXVII, Nr. 188), welde - ebenfalls Homilteen und Gebichte, befonder8 von Jakob von Sardg, enthalt 1); auch ift es wahrfcheinfich identifch mit dem von Renan aus den Papieren von Renaudot in der Pariſer großen Biblio thet angeführten „sermo de chrismate“. Schließlich wird noch in einer von einem Monophyfiten kompilierten Abhandlung gegen die Neftorianer ?) ein Mimra von dem Heiligen Presbuter Georg dem Mönd; gegen Severus und Julianus citiert. Außer diefen Werken verfchiedenen Inhalts iſt uns mod eine

10 Sammlung von Briefen in einem Coder des Britiſchen Mufeums

(cod. DCCCLX, Nr. 35, ©. 986—988) erhalten. Diefer Coder gehört dem Ende des 8. oder bem Anfang des 9. Jahrhunderts an und enthält 1) eine Verteidigung des orthodoren und apoftos Ufchen Glaubens gemeint find die monophyſitiſchen Doftrinen gegen die Neftorianer, unter dem Titel: ZZAngopople, 2) eine Abhandlung zu demfelben Zwecke, unter dem Titel: Beweiſe oder Darlegungen über die olxovonule Chriſti, und 3) Aus züge und ausgewählte Stüde aus den Schriften verfchiebener Väter, manche von ihnen nur dem Sinne nach wiebergegeben. In biefem dritten Teile finden ſich neben Stellen aus Schriften des Hippo lytus, DOrigenes, Athanafius, Dionyfins des Areopagiten, Cyrill von Alerandrien, Chryfoftomus u. a. auch Briefe des Araber biſchofs Georg, welche ſämtlich die Antwort auf einzelne, an ihn gerichtete Fragen verfchiedenen Inhalts enthalten. Wir zählen diefe Briefe auf in derfelben Ordnung, in der fie ſich in der Handfchrift vorfinden: 1) „Antworten in Kürze auf 22 Häretifche Anfragen, die unten (db. 5. innerhalb des Briefes felber) angegeben find“; der Brief ift adreffiert am den Abt des KM lofters von Tell⸗-Adẽä, Namens Märi, und hauptſächlich gegen die Neftorianer gerichtet;

1) Der Anfang Tautet allerdings ein wenig anders: „Reines Galböl, das bie Kirche erfüllt; füßer Duft u. f. m.” .

2) Brit. Mus., cod. DOCXCVII aus dem Ende des 9. Jahrhunderis; ſ. Wright, S. 7978. Doch f. 0. ©. 299, Anm. 4.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 3

datiert it er aus dem Mai des Jahres 1028/717. Als Anhang find diefem Briefe folgende Schriftftüde von gleicher Form md verwandten Inhalte angefügt: a) „Schwere neftorianifche Fragen und Gegenfragen*, d. 5. Antworten auf Fragen, die von Neſtorlanern den Monophyfiten vorgelegt wordenwaren; b) „wiederum Biretifhe Fragen aus dem zweiten Brief des Succenfus an ben heiligen Cyrill Evon Alexandrien] *) und Gegenfragen“; und c) die Beantwortung einer „Frage des gottlofen (d. h. ketzeriſchen) Probus, die er richtete an die Mönche der Stadt Antiochilen“. Hierauf folgt: 2) „Antwort auf eine ihm von dem Diakon Bar» had- bes ſcabbã des Heiligen Mofters von Beth-Melũtã oder TEIHE vor⸗ gefrgte häretiſche Frage“ (im Syriſchen fteht das Diminutivum); datiert Januar 1026/715. Ferner mehrere Briefe an ben Preebyter Mar Jeſchũat, den Mausner aus der Stadt "Anab: 3) „Antwort auf eine andere häretiſche Frage, die ihm vorgelegt ward von dem Presbyter Mar Zeichn‘ u. f. w.“; diefer Brief üt, wie im Codex ausbrüdtfid, bemerkt wird, einem anderen Blatte entnommen, als die vorausgehenden Briefe, aber nicht vollftändig mitgeteift, wie aus den auf bie Überfhrift folgenden Eingangs» orten: „um. vieles hinter dem Anfange“, hervorgeht; 4) „Ante wort auf 9 Fragen des Presbyters Yefchün‘“ ; diefer im Jahre 1025/7114 gejchriebene Brief ift von de Lagarde in den Ana- leeta Syriaca veröffentficht worden, bis jegt die einzige Publifation aus den Werfen Georgs, auf Grund deren wir im Folgenden (S. 305 ff.) eine Überfegung des Briefe geben; 5) ein Brief an benfelben Kihtie‘, enthaltend Antworten auf 3 Fragen und datiert Dezem ber 10297718. 6) Ein Brief an den Presbyter Jakob, feinen Syncellus, die Auslegung einer Stelle in einer der Homilien des

I) Die Briefe des Cyrill von Alexandrien an ben Succenfus find uns ebalten (j. Migne, ®b. LXXVII, Op. Cyrilli X, 227 u. 237: Nr. XLV XLVN). Nach denfelben Hatte Succenfus, welcher Biſchof von Diocäfaren in Haurien war, an Cyrill verſchiedene chriſtologiſche ragen gerichtet, die Cyrill in feinen Briefen beantwortet, Nach Wright (Catal., p. 608) wird diefer Succenſus aud in einer monophyfitiſchen Abhandlung über die zwei Naturen Chriſti eitiert, welche von Elias, bem Patriarchen von Antiodjien, gegen dem Biſchof von Harrän, Leo, gerichtet if.

we Ryffel

Gregor von Nazianz *), in welcher er auseinanderſetzt, welches die erſte Pflicht eines Seelenhirten fei (Opera, T. I, p. 18 C: Hotoy uiv di) vodso, dv almansv sölußsiodar dio, pi) gyamdusda zjs Iaynaolag dgerjs xaxoi Loygapor, näher dA Luygdymr od yavkar Taus, üv dd nolliv yadlov do- xsrunov‘ 7 zos napomias m röggn Idwpsv, dldous bargeveıy Inıysigoüvsss, eurer Bodovrss EAxsos) enthaltene. Außerdem findet fi am Ende eine Kurze Erläuterung einer Stelle in ber Leichenrede auf feine Schwefter Gorgonia (Opera, T. ], p. 2185qq.). An benfelben Presbyter Jakob, feinen Syncellus, hat Georg noch andere Briefe geſchrieben, die ung aber nit er- halten find. Dies geht hervor aus einem Citat, das ſich in einem Briefe des Styliten Johannes von Litharb findet, der am einen Priefter des arabifchen Stammes der Tüten (ſ. 0. ©. 287), Namens Daniel, gerichtet ift und in demſelben Coder unmittelbar Binter den Briefen Georgs mitgeteilt wird, In diefem Briefe, der die Frage behandelt: „wie, wo und wann fi) die Weisfagung des Erzvaters Jalob erfüllt hat: «8 wird die Herrſchaft nit von Juda meiden (Gen. 49, 10)“, wird außer den Kirchen⸗ hifterifern Euſebius und Andronifus, außer Chryſoſtomus, Cyrill von Alerandrien und Hinpofyt, außer Ephräm, Severus Sabocht, dem Biſchof von Kinnesrin, und Jalob von Edeffa and Georg, Biſchof der Araber, imit folgenden Worten citiert (S. 989): „Der heifige Mar Georg, unfer gemeinfamer Vater und Euer Bifchof, ſchrich auch in der Antwort auf die 10. Frage an Jakob den Presbyur, feinen Syncellus.“ Die folgenden vier Briefe find wieder an ein und dieſelbe Perfon gerichtet, an Johaunes den Styliten, der, wie man aus dem eben erwähnten Briefe desſelben erficht, under die Botmäßigfeit Georgs gehörte, aber nicht bloß mit Georg und deffen Diöcefanen ®), fondern aud mit Jakob von Edeffa, dem Lehrer

1) Im der Mawrinerausgabe, nad ber im Folgenden citiert ift, die zweite, nad) früherer Zählung die erſte Rede (cap. 18).

2) Daß unter den Didcefanen George eim veges wiffenſchaftliches Lrben herrſchte, geht daraus hervor, ba mehrfach chriftfiche Gelehrte vom dem arabi - fen Stamme ber Tüiten, die unter der Botımäßigfeit des Biſchofe Georg fan

Ein Brief George, Bijſchofs der Araber 2c. 3%

George (f. a. ©. 299), in einem regen wiſſeuſchaftlichen Briefe wechſel ftand (f. bei. Wright, Catal,, ©. 595ff.), alfo zu dem Kreife gelehrter Männer gehörte, mit denen Georg feine theos logiſchen Anfchauungen austaufchte und feine wiſſenſchaftlichen Intereffen beriet. Die vier an Johannes gerichteten Briefe find fer verfchiebenen Inhalts: 7) „Antwort auf 8 Fragen, welde ihm zugefandt wurden von dem Presbyter Johannes dem Styliten im Mofter von Litharb“. Diefe 8 Fragen betreffen chronologiſche und aftronomifche Stoffe; datiert ift der Brief aus dem Yuli des Jahres 1025/7145; 8) „Brief an bdenfelben, enthaltend Antworten auf 7 Fragen: über einige ſchwierige Stellen in den Briefen des heiligen Jakob von Edeſſa“; datiert ift der Brief Anfang März 1026/7115; 9) „Brief an denfelben als Ant bort auf 3 Fragen über chronologifche und aftronomifche Stoffe“ ; datiert März 1027/7165 10) „Brief an denfelben über einen Zwift, der in einer Berfommlung von Mönden und Geiftlihen ausgebrochen war, indem einige behaupteten, daß die Sünden in- folge der Gebete der Priefter vergeben würden, andere, daß die Sünden nicht vergeben würden außer infolge von Werfen der Buße)“. In diefem Briefe, der aus dem März des Jahres 10297718 datiert ift, werden die Werke Dionyſius' des Arco» pagiten mehrere Male citiert. 11) Der Iegte Brief, der fi von Georg in jenem Sammelbande findet, ift an einen gewiſſen Abrafam ?) gerichtet und behandelt eine Stelle aus einer der Mas

den (ſ. 0. ©. 287), in ſyriſchen Schriften erwähnt werben: außer bem oben genannten Daniel aud ein gerwiffer Abraham (ſ. u. Anm. 2).

2) Bekanntlich Hielt bie alte Kirche daran feft, daß bie Sünbenvergebung buch ernftliche Buße, die fih auch in guten Werken kundthun müſſe, bedingt fi (ogl. 3. ®. Origenes, Hom. in Ley. II, 4). Später wird bie Sün- denbergebung von der Ausübung ber Schlüffelgerwalt durch das allein dazu ber tehtigte Merikale Prieftertum abhängig gedacht, wie 3. ©. Leo d. Gr. fagt, daß ohne Smterceffion ber Priefter leine Vergebung zu erlangen fei (ep. 82 al. 108 ad Theod., cap. 2: „ut indulgentia nisi supplicationibus sacer- dotum nequeat obtineri“). Wie man aus obigem Briefe erfehen kann, ſtan - dem im ber ſyriſchen Kirche noch zur Zeit George beide Anſchauungen neben einander.

2) Bielleicht iſt diefer Meier an den Abraham gerichtet, der auf einem

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draſchen des Ephrüm über den Glauben, welche lautet: „Es werden widerlegt bie Frechen und zum Schweigen gebracht die Grübfer') und fehen ein, daß von Natur niemand genügen kann“ (?).

Bon den Briefen, welche diefe Antwortfchreiben Georgs vers anlaßt haben, Hat ſich nichts erhalten, auch fonft finden ſich nirgends Briefe, die an den Araberbifchof Georg gerichtet find. Da fih zwifchen den Briefen des berühmten Jakob von Edeſſa an ben mehrfach erwähnten Johannes den Styliten ein Brief am einen Diakon Georg ?) vorfindet, jo könnte man zwar bei dem nahen Verhältnis, in welchem ber Araberbifchof Georg zu beiden Männern ftand, zu der Vermutung kommen, daß biefer Diakon Georg, an welchen Jakob von Edeffa über eine Stelle in der 25. Madräfde des Ephräm ſchrieb, der fpätere Araberbifchof fei; aber der Name Georg kommt doch zu Häufig vor, als dag man biefe Vermutung mit einiger Sicherheit ausſprechen könnte.

Nachdem wir im Vorausgehenden einen Überblick über die ſchriftſtelleriſche Thätigkeit Georgs im allgemeinen gegeben Haben, wenden wir ung nun zu einer genaueren Darlegung des Inhalts feines Briefes an den Presbyter Yefhu'a ®), indem wir bdenfelben teils

Tofen Blatte (f. Wright a. a. D., ©. 1195) als ein Araber von dem gläu- bigen Wolle der Tü'iten bezeichnet wird.

3) Der ſyriſche Ausdrud bezeichnet eigentfich „die Nachforſcher“, d. h. bit jenigen, welde neugierig die göttlichen Dinge genauer erkunden wollen, und ſteht manchmal direkt in der Bedeutung „Häretifer“ (3. B. Bibl. Or. TIL, P.l, pP. 29 not.).

2) S. Wright, Catalogue, p. 596. Bon ben ©. 595—604 ber ſprochenen Briefen Jalobs von Edeffa an Johannes den Styfiten, von benm einige beſonders intereffante Fragen behandeln, find drei veröffentlicht: ber erfe von R. Schröter in der Zeitfchrift der DMG. Bd. XXIV, ©. 261 und der elfte und zwölfte in dem Journal of Sacred Literature, 4. Series, vol. X, p- 430 (vgl. and; Zeitjchr. der DMG., Bb. XXIV, ©. 280. 290 u. 296).

3) Der ſyriſche Tert dieſes Briefes iſt mit ber befannten ausgezeichneten Alribie und Sachkenntnis abgedrudt in de Lagardes Analecta Syrisce, ©. 108, 3. 28 ©. 134, 3. 8; die drei erſten Kapitel des Briefes, welche auf Aphrantes, den „Perfiichen Weifen“, Bezug haben, hat auch Wright in feiner Ausgabe der Homifien des Aphraates, S. 19ff. zum Abdruck gebracht Da die Abweichungen beider Ausgaben des ſyriſchen Zertes nur Kleinig -

Ein Brief George, Biſchofe der Araber zc. 506

wörtlich, teils im Auszuge mitteilen und einige kurze Erläuterungen beifügen. Dem Briefe felbft, der in 9 Abſchnitte oder „Kapitel“ jerfält, in welchen Georg einzelne an ihn gerichtete Fragen ver⸗ ſchiedenen Inhalts beantwortet, geht eine Kurze Einleitung voraus, in der er fi mit den üblichen Worten der Entſchuldigung, wie bir fie aud aus vielen anderen Briefen jener Zeit kennen, an den Empfänger feines Briefes wendet.

Des heiligen Georgios, Biſchofs der Tanüciten und der Cüiiten ad der Agüliten, Antwort auf neun Scagen, welche der Pres- byter Jeſchn a der Klausner an ihn richtete,

Dem Freunde und Verehrer Gottes, dem geiftlichen Bruder und in dem Heiland Geliebten, dem Mar Jeſchu'a, dem Presbyter und Klausner in der Stadt "Anab, jagt Georg, der gering ift in dem Herrn, feinen Gruß (wörtlich: fih zu freuen xalgsı).

In der nun folgenden @inleitung zu feinem Briefe ent ſchuldigt fich Georg wegen feines langen Zögerns; nicht aus Miß- ahtung Habe er bis jegt auf die Beantwortung bes Briefes, den ihm der Mausner Zefa durch feinen Vetter und geiftlichen Bruder Georg zugefandt Hatte, warten Taffen, fondern wegen feiner vielfachen Geſchafte in und außerhalb des Kloſters, fowie wegen der immerwährenden Krankheiten des Leibes, die freilich ganz begreif» lich feien 2); da er aber augenblicklich von feinen Leiden aufatmen Tonne, fo wolle er nad) feiner ſchwachen Kraft, die Gott wie

teiten betreffen, die auf den Sinn und Zufammenhang Keinen Einfluß haben, fo gehen wir nicht näher auf biefelben ein; der Tert if im ganzen recht lorrelt (f. jedoch ©. 315, Anm. 2; ©. 817, Anm. 1; S. 824, Anm. 2, und ©. 331). Eine teifiweife Üserfegung des Briefes Findet fich in den „Syriac Miscellanies“ von Eowper (&. 6lff., vgl. Wright, Catal., p. 987), welder das 1. u. 5. Kapitel vollftändig und das 2. u. 8. nur zum Meinften Zeile (bisweilen fehlerhaft) überfegt hat.

1) Georg meint, wie fid) auch aus verſchiedenen Äußerungen im 9. Kar pitel des Briefes (f. u. ©. 866 f.) ergiebt, bie Gebrechlichkeiten bes Alters, woraus erfichtfich iſt, daß er bereits bejahrt war, als er diefen Brief ſchrieb. Da num der Brief vom Jahre 714 datiert iſt, ſo wird Georg etwa um 650 geboren fein.

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er hoffe ftärfen werde, auf die Fragen in einzelnen Sapiteln der Reihe nach Antwort geben, ohne bie Fragen ihrem Wortlante nach zu wiederholen; denn: „Darin befteht die Trefflichkeit ber Rede, fagt der in göttlichen Dingen weife (d. 5. ber gelehrte Theo log) Baſilius, daß du mit wenigem vieles kund thueſt )“.

Da die drei erften Kapitel das Leben des alten ſyriſchen Kirchenſchriftſtellers Aphrantes und verfchiedene intereffante Stellen aus feinen gegen die Mitte des 4. Jahrhunderts geſchriebenen Homilieen zum Gegenftande Haben, fo ſchiden wir zunädiit zur Orientierung das Wichtigfte über die Homilten des Aphraates und ihre Abfafjungszeit voraus, indem wir im übrigen auf die 1878 erſchienene Promotionsfchrift des (am 3. Juli 1880) früh ver ftorbenen Orientaliften Franz Saffe (geb. d. 15. März 1855 in Rheine): „Prolegomena in Aphraatis sapientis Persae ser- mones homileticos“, verweifen ?).

Die Homilieen ®) des „perfifchen Weifen“, Namens Aphranted, nehmen fowohl durch ihr Alter als durch ihren durchaus originellen Inhalt in der fyrifchen Literatur einen „Hohen Rang ein. Zroß dem aber waren fie fchon fehr früh faft vollftändig der Vergeſſen⸗ heit anheimgefallen. In der ganzen fyrifchen Litteratur, abgeſehen

1) Üpnliche Ausiprüdje finden ſich bei den Sahriftſtellern der alten Lirch ſehr Häufig. Bei Bafilins Yönnte man eine Anfpielung Georgs auf die 313 nfuragefaßten Vorſchriften“ (gl. 3. B. Parifer Ausgabe, Bd. I, ©. 41451) denfen, wenn nicht dem Wortlaute nad; anzunehmen wäre, daß ein mörtficee Eitat aus irgendeiner Schrift des Bafilius gemeint iſt.

2) Über das Leben des Aphrantes |. die Einfeitung zu Wrights Aus gabe der Homikieen (Bonbon 1869), zu welcher die Ameige von Th. Röfdele in den „Göttingifchen gelehrten Anzeigen”, Jahrg. 1869, ©. 1521ff., zu ver gleichen iſt. S. auch die „Einleitung über Leben und Schriften des Apheantes“ von Biel in ber Kemptener Bibliothek der Kirchenwäter: Ansgewählte Schriften der ſyriſchen Kichenväter Aphraates, Rabulas und Jſaak vor Rinive (1874).

®) Es find 28 Honnlieen, deren Namen bei Saffe (a. a. O., © 10), Bidelf (a. a. O., ©. 18ff.) und in den Ausgaben derfelben (f. vor. Aum und ©. 311) zu vergleichen ſind. Außer den Homilieen hat Mphranter nichte geſchrieben (f. Saffe, ©. 14f.).

Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 3

von einzelnen bürftigen Rotigen $päterer Litteraturhiſtoriler, ift von den Homilieen des Aphraates nicht die Rede und nur bei zwei ſyriſchen Schriftſtellern von denen überdies der eine den Namen des Verfaſſers nicht erwähnt, der andere aber ihn ſchon nicht mehr kunt konnen wir eine Belanutſchaft mit denſelben nachweiſen: bei Jſaak von Antischien (geft. um 460), der die Homilie des Aphrantes über das Faften feinem Gedichte über den nämlicen Gegenſtand *) zugrunde gelegt und zwar jo ausgiebig benutzt hat, daß viele Gedaulen und Ausdrücke wörtlich übereinftimmen, und bei dem Araberbiſchof Georg, der als den Verfaſſer der Homilieen den „ogemmmaten perfifchen Weifen“ nennt und über die Lebens⸗ verhaltniffe desſelben auch nicht das Geringfte anzugeben weiß. Der hauptſãchlichſte Grumd, warum die Schriften des Aphrantes fon früh im Vergeſſeuheit gerieten, war wohl der, daß fi in ihuen gewiſſe fonderbare Meinungen vorfanden, die mit dem chriſt lichen Glauben, wenigftene mit dem dogmatiſch formulierten Glauben der fpäteren Zeit unmereinber oder bach nicht übereinftinumeud erſchienen und namentlich ben Monophyſiten anftößig erſcheinen mußten %), ein Umftand, ber amd fonft vielfach die Beranlaffung wurde, daß man Einzelne Schriften, ſelbſt von befnnnten terhte gläubigen Vätern, in den Hintergrund ſtellte oder abſichtlich der Vergefjenheit anhrimgab *). Zwar find bie Anſichten, bie Aphraa⸗ tes in feinen Homilieen verträgt, nicht eigentlich als heterodex zu bezeichnen und betreffs der wichtigſten Glaubenslehren, z. B. der Chriſtologie, ſtimmt er mit ber Kirchenlehre überein (ſ. Saſſe 0.0. ©. 18), aber „man begegnet bei ihm einer wirklich vderwunderlichen Naivetät, weiche felbft bei der von dem Araber

1) Es iſt das erſte der zwei von Bickell überjegten Gedichte über das Foften, die fich beide fpeziell anf die AOtägige Faſtenzeit beziehen (ſ. „Aus- gewählte Gedichte der ſyriſchen Kirchenvüter Eyrillonas, Waläns, Jiaak von Antiochten tenb Jakob von Sarng“, S. 171—181. Bel. auch G. Bickell, 8. Isaaci Antiocheni opera omnia.

2) S. Nöldeke in den „Göttingifcjen gelehrten Anzeigen”, Jahrg. 1868; ©. 1522 m. 1525.

3) &. meine Schaft: „Gregorius Thaumaturgus; fein Leben und feine Säriften, S. Sf

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biſchof Georg zur Berückſichtigung empfohlenen Iſoliertheit dieſes Schriftſtellers und dem Mangel an jeglicher chriſtlicher Litte⸗ ratur und theologiſcher Schulung nur ſchwer erklärlich ift“ *) (vgl. ©. 325. 328 u. 329).

Ein weiterer Grund, weshalb in den folgenden Jahrhunderten das Intereſſe für die Homilieen des Aphraates ſchwand, lag darin, dag fid in denfelben auch viele rabbinifche Meinungen fanden. So berichtet Aphrantes, daß die Römer von Eſau ftammten (Hom. V, 8 18), daß Hiram, ber König von Tyrus, 440 Yahre regiert habe (ſ. Wright, ©. 84, 3. 2 v. u.), daß Kain wegen ber Er- mordung Abels die Flüche von fieben Generationen (vgl. Gen. 4, 15) empfangen Babe (a. a. DO. ©. 183, 2f.); ferner ſchließt er fih bei der Berechnung folder Zeiträume, die in der Bibel nicht näer beftimmt find, an bie rabbiniſchen Traditionen an ?), wie fon der Araberbifhof Georg richtig bemerkt (gegen Ende dx 3. Kapiteld feines Briefe an den Presbyter Jeſchũ'a, f. u ©. 330); ja, aud die auffälligen pſychologiſchen Anfhanunge, die auf dem Boden ber chriſtlichen Litteratur ohne Analogie find und deshalb fon zur Zeit George Anftoß erregten, gehen auf judiſche Vorftellungen zurüc, wie ich im Anflug am George Kritit im 3. Kapitel feines Briefes zeigen werde (f. u. ©. 339). Diefe eingehende Kenntnis der jüudiſchen Tradition hängt bei Aphraates damit zufammen, daß er in der Belämpfung des Juden tums durch Schrift und Wort eine ber wichtigften Aufgaben feines Lebens fah; denn nicht nur, daß zwei feiner Homilieen die 18. und 19. direlt gegen die Juden gerichtet find, fondern er lieh fih

auch zur Verteidigung des chriſtlichen Glaubens und ber kirchlichen |

Gebräude öffentlich in Disputationen mit den jüdifchen Gelehrten

1) So Schönfelder (in ber „Theofogifhen Quartalſchrift“, Jahrg. 1878, ©. 195—256 und fpeiell S. 289), weicher befonders bie Auffaffung der meſſianiſchen Stellen bei Daniel, die Aphraates gelegentlich feiner Polemil gegen die Juden auslegt, ſowie einzelne Paragraphen aus dem XVI. Zrattat: „Berveis, daß Ehriftus der Sohn Gottes ift“, behandelte.

3) Außer den von Saffe (a. a. D., ©. 11, Rote 6) angegebenen Brir fpielen dgl. die von Georg behandelten Fälle (j. u. ©. 388).

Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 809

ein, wie wir aus dem Anfang der 21. Homilie erſehen 1). Diefe Bolemit gegen das Judentum nötigte aber den Aphraates, fi mit der judiſchen Schriftgelehrfamfeit, deren Pflege damals gerade in Edeſſa, Nifbis, Neharden und anderen dem Wohnorte bes Aphraates nahe gelegenen Städten bfühte *), befannt zu machen. As aber fpäter mit der Bedeutung und dem Einfluffe der Juden in jenen Gegenden das nterefje für ihre Bekämpfung aufhörte, fo ſchwand auch das Intereſſe fir die diefem Kampfe vorzuge- meife gewibmeten Homilieen. Übrigens finden ſich auffällige Be tügrungen mit jübifchen Anfichten und Bräuchen außer bei Aphra« ales auch bei Ephräm und befonder& bei dem an wiſſenſchaftlichem Sinne mit Hieronymus ®) vergleichbaren Jakob von Edeffa, wie bir überhaupt in der ganzen alten Kirche die Beobachtung machen, daß manche chriftliche Väter bei allem Haß gegen die Juden doch ſehr geneigt waren, aus Mefpeft vor deren alter Überlieferung Weisheit und Thorheit von ihnen anzunehmen 4).

Ein dritter und letzter Grund lag in der Sprache des Aphra- ates, die durchaus rein ſyriſch und frei von allerlei unechter Ver- brämung mit fremdländifchen Wörtern und Konftruktionen ift, aber eben deshalb den fpäteren Syrern und zumal ben an die Ver- tenkung der Mutterfprache nach griechiſchem Mufter und an maffene haftes Einmifchen griechifcher Wörter gemöhnten Monophyſiten nit gelehrt genug erfchien 6).

Während aber alle dieſe Umftände die Homilieen des Aphraates in Vergeſſenheit braten, mußte noch ein eigentümliches Mißge⸗ ſchick den Namen des Aphraates der Nachwelt in ein undurde

1) Bel. auf Assemani, Bibl. Or. T. I, prolegg. p. magg.

2 6. Herzogs Real-Enc. (1. Aufl., Art. „Bolt Gottes”), Bd. XVII, ©. 320ff.) und Erſch m. Gruber, Allgemeine Encykl., Art. „Juden (Ger chichte)“, 2. Sektion, 27. Zeil, S. 184 ff.

3) Betreffs der Einwirkung der jübifhen Tradition auf Hieronymus, ber auch in diefer Beziehung mit Jakob von Edeffa zu vergleichen if, |. M. Rah- mer, Die hebräiſchen Traditionen in den Werfen des Hieronymus.

4) Bgl. Nöldete im „Literarifchen Bentralblatt”, Jahrg. 1875, ©. 1608.

5) Bgl. Nöldeke in d. „Oöttingifchen gelehrten Anzeigen“, Jahrg. 1869, ©. 1522.

Apeol, Gtub. Salz. 1888. 21

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dringliches Dunkel Hüllen. Schon der Araberbiſchof Georg, der exfte und legte fyrifche Schriftfteller, der eine eingehende Kenntnis der Homifieen verrät und auch ausdrücklich bezeugt, weiß wer den Namen noch fonft das Geringfte über die Lebeneuerhäftift | des „perfifchen Weifen“ anzugeben, ausgenommen das, was er aus feinen Schriften über bie Zeit feines Lebens und feiner ſchriftſtelleriſchen Wirkfamteit, jowie über feine Lebensſtellung in jcharf- finniger Weiſe nachweiſt. Und wenn auch einzelne ſyriſche Litte vaturhiftoriter, Elias Barfinäus (km 11. Jahrhundert), Gregorius Barebräns (f 1286) und Ebedjeſus von Soba (+ 1318)°) übereinftimmend melden, daß der perſiſche Weife Aphraates geheißen | Habe, fo blieben doch feine Homilieen aus dem Geduchtuis feine | ſyriſchen Landsleute gefhwunden. Umgelehrt verlor fich in Ar⸗ menien, wo bie Homilieen allgemein bekannt waren und in Hohen Unfehen ftanden, jede Notiz über ihren Verfaſſer, da fie hier unter dem Namen des Jakob von Nifibis, des Lehrers des Ephräm?), verbreitet wurden. Daß diefer beräfnmte ſyriſche Kirchenlehrer bie Homilieen auf Beranlaffung des Apoftels ber Armenier Gregorins Illuminator (} 382) und für im verfaßt habe, wird bereits in | der vielgebraudten armeniſchen Überfegung gelehrt, deren Abfaffung j Safe (a. a. O. ©. 24ff.) in die zweite Hälfte des 5. Jahr hunderts, des „goldenen Zeitalters der armeniſchen Sitteratur“, verlegt, in welchem auf Anregung von Iſaak dem Großen und Meſrop auch die Werke des Ephram und griechifcher Autoren, melde die zu diefem Behufe ins Ausland geſchickten Fünglinge heimbrachten, ins Armeniſche überfegt wurden. Wie bald diefer Irrtum weitere Verbreitung fand, geht daraus hervor, daß Geuna⸗ dius, der ıgegen Ende des 5. Jahrhunderts den Autozenkatalog des Hieronymus fortfegte, als den Werfaffer ber Homilieen ebenfalls den Jakob von Mifibis nennt ®). Unter diefem Namen wurden

1) ©. die Einleitung gu Wright, The homilies of Aphraates, p. 1309-

2) Wenn der Araberbiſchof Georg in feinen Briefen ausführlich nuseimandere ſetzt, daß Aphraates Fein Schüler des Ephräm geweſen fein Kanne (j. m ©. 316), fo tut er dies jedenfalls ohne Rückſicht auf biefe Verwechfelung bes Verfaſſers mit Jakob von Nifibis, von ber er-Teine Kunde haben Tonmie.

'$) Bol. die Stelle-bei Migne, Patrol. IMII, 10609q9.; 1. au Saſſe a. a. O., S. 28f.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 81

fie au im Abendlande befannt, indem Nikolaus Antonellus im Hahre 1756 dem Text ber armeniſchen Überfegung mit einer lateiniſchen Überfegung und Anmerfungen herausgab !).

Diefer feit dem 5. Jahrhundert allgemein verbreiteten irrtüm lichen Angabe über den Verfaſſer der Homilieen Liegt eine Ber« wechſelung zugrunde, die dadurch hervorgerufen wurde, daß Aphra- ates beim Antritt feines Kirchenamtes dieſen feinen urjprünglichen Namen mit dem ſpezifiſch cHriftlichen Namen Jakobus vertauſchte. Died geht aus einer vom Wright (Katal, S. 401b) mitgeteilten Notiz anf dem Rande einer ſyriſchen Handſchrift Hervor, wo ae ausdrücklich heißt: „Der Weife Aphraates ift Jakobus, der Biſchof des Nlofters des Mar Matthai.“ Da nun in den Handfchriften a8 Verfaſſer der Homilisen Mar Jaqub angegahen war), jo lunte es Jeicht geſchehen, daß ‚ber armwenifche Überſetzer ober dielleicht auch ein fpäterer Abſchreiber ber armeniſchen Überjegung —, der den Jakob Aphraates nicht kannte, an den bei den Armeniern im höchſten Anfehen ftehenden Jakob von Nifibis date, zumal da diefer ebenfalls den Beinamen des Weifen Hatte und gleich dem Verfaſſer der Homilieen, der, wie ihr Inhalt zeigt, Biſchof gemefen fein mußte, die Bifhofswürde inne Hatte. Aus demfelben Grunde Hatte Joſ. Sim. Affemani die Homilieen anfänglich dem Yatob von Sarug zugefehrieben ®); nachdem er aber mit ber armentfchen Überfegung befannt geworden war, bezeichnete er and den Jakob von Nifibis als Verfaſſer, wie ebenfo wahrſcheinlich Gennadius ober fein Gewährsmann auf Grund der armenifchen Überfegung der gleichen Anficht war.

Was nun weiter die Zeit des Lebens und die näheren Lebens⸗ verhaltniſſe des Aphraates betrifft, fo können wir uns nur bem anſchließen, was bereits Georg aus dem Inhalte der Homilieen

3) Den armenifcen Tert und die lateiniſche Überfegung her Ausgabe von Antonellus Hat Gallandins in feiner „Bibliotheca veterum patrum‘“ (Bemedig 1769) V, B—164 unter Weglaffung der Anmerkungen und Abtür- dung der ‚Einleitung wieder ahgebrndt.

3) Auch in den älteften Handſchriften der Werle des Aphraates, ‚bie uns tchelten find, wird der ‚Berfafier einfach Mar Sakap genaunt.

#) ©. Bibl..Or. I, 28sqg., bl. p. 887.

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nachweiſt. Wir teilen deshalb im Folgenden das erſte Kapitel feines Briefes mit, in dem er dieſe Fragen eingehend behandelt, und fügen dann die wenigen Notizen aus anderen Quellen hinzu, mit denen wir die Ergebniffe der Unterſuchung Georgs zu ergänzen imftande find. Um aber zugleich eine harakteriftifche Probe für die echt wifjenfchaftliche Methode George und feine hiſtoriſche Kombinationsgabe zu bieten, geben wir den Wortlaut feines Briefet, aber unter Hinweglafjung des umfangreichen litterarifchen Materials, mit dem er feine Darlegungen und Berechnungen im einzelnen bemeift.

Erftes Kapitel, Über den fogenannten perfifden Beifen, von welhem aud eine Schrift in Briefen‘) über verfhiedenartige Dinge verfaßt worden ift.

Wer diefer perfiiche Weife war, d. 5. welches feine Würde oder auch fein Rang in den kirchlichen Ämtern (wörtlich: Klaſſen) oder welches fein Name oder der Ort feines Aufenthaltes war, konnen wir nicht mit Zuverficht fagen; denn weber beantwortet er felbft diefe Fragen oder wenigftens eine davon am einer Stelle feiner Schrift, noch haben wir an einem anderen Orte bie jegt Auskunft darüber gefunden, auch Haben wir es nicht von einem Manne, der es genau wüßte, erfahren, und aufs Geratewohl etwas zu fagen und zu erdichten, wovon wir nicht genau überzeugt find und was wir nicht wenigftens einigermaßen beweijen können, ziemt fi nicht, wie mir und jedem Freunde der Wahrheit düntt. Daß der Mann aber von Natur fharfjinnig war und auch, je weit möglich, die Heiligen Schriften gelefen und ftubiert hatte, be weit feine Schriftftellerei.

Daß er ferner auch ein Mönch war und dem kirchlichen Klerus zugehörig, ift aus feinen eigenen Worten zu erkennen 2); zunädit,

1) Gemeint find die Homilieen, die zum Teil an eine beftimmte Adrrfft gerichtet find (gl. die 14, 18. und 19,, f. Bidell ©. 18) und deshalb alt Briefe“ bezeichnet werben.

2%) Bol. aufer den von Georg angeführten Stellen auch noch $ 11 der 7. Homilie (j. Wright, The hom. of Aphr., p. 161, lösgg.) u. a.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 318

dag er ein Mönch war, thut er Hund in dem Briefe, welcher überfhrieben ift: Darlegung über die Bundesbrüder 1) denn fo wurden damals die Mönde benannt, zugleich aud mit dem Ansdrude Einſiedler“ —, indem er darin alfo fehreibt: „Des⸗ halb ift biefer Nat pafjend und gut, den ich mir felbft wie auch Cud gebe, meine Geliebten, die Einſiedler, welche nicht Weiber nehmen, und die Jungfrauen, die feine Männer haben, und die, welde die Heiligfeit lieben: vecht und billig und paſſend ift es, daß der Menſch, auch wenn es ihm Zwang foftet, eig.: auch wenn er dadurch in Zwang ift, d. i. wenn e8 ihm beſchwerlich fällt, doch allein fi; und affo ift es für ihn pafjend zu wohnen, wie es gejchrieben ift bei dem Propheten Jeremias (Thren. 3, 27f.): ‚Heil dem Manne, der Dein Joch in feiner Jugend auf ſich nimmt und allein wohnt md ſchweigt, weil er auf fich Dein Zoch genommen Hat‘; denn fo ft es paffend, meine Geliebten, für den, welcher das Joch Ehrifti af fih nimmt, dag er fein Joch in Reinheit bewahre.“ Diefe Stelle zeigt, dag der fogenannte perfifche Weife ein Mönd war; daß er aber dem kirchlichen Klerus (duch Ordination) beigeordnet war, zeigen meiner Anficht nach die Worte, welche er am Anfange feines Briefes oder Traktates gefehrieben hat, der überfchrieben ift: nüber den Streit umd die Spaltungen, welche an jeglihem Orte eutſtanden find infolge des Stolzes und Hochmutes, und über den Bettftreit um bie Herrſchaft“ %); dieſelben lauten alſo: „Wir alle,

1) Es ift die 6. Homilie (Bidell: „Über den Orbeneftand“); die aus der« Ittben eitierte Stelle, die wir im Wortlaut mitteilen, weil Bickell biefe Ho- mifie nicht mit überfeßt Hat, findet fi) bei Wright (The Homilies of Aphraates), ©. 111, 3. 17fj. Der Ausdrud Yeaao wı> (wörtl.: „Söhne des Bundes“) bezeichnet die Mönche als folde, die einen befonderen Bund mit Sort gemacht haben, und fteht häufig im Gegenfag zu „Laien“. Bemerkt fei noch, daß diefe Homilie deshalb von Intereffe für uns ift, weil fie eine gewiſſe Drganifation bes Möndtums für jene Zeit im öſtlichen Syrien vorausſetzt. 8. Herzogs Real-Enc, 2. Aufl, VI 449.

3) Gemeint tft das Ermahnungsfchreiben im Auftrage des Konzils von Seleucia (j. Bickell ©. 18), das fid unter ben Homilieen an 14. Stelle findet; das Citat bildet den Anfang des Schreibens (S. 245 bei Wright). Daß Aphraates diefes Schreiben der Synode feinen Homilieen einverleibte, er⸗

814 Ryfiet

indem wir hier verfammelt find, Haben uns eutſchloſſen, diefen Brief an alle unfere Brüder, die Kleriker an jeglichem Orte, zu f&reiben, wir, die Biſchöfe und Presbyter und Diakonen und die ganze Kirche Gottes mit allen ihren Kindern an jeglichem Orte, bie Bei und find. Umfern geliebten mnb verehrten Brudern, m Bifäfen und Presbytetn und Diakonen, zufamt allen Kindern ber Kirche, die bei Euch find, und dem ganzen Wolfe Gottet, It zu Salq (d. i. Seleucia) und zu Oteflfün (d. 1. Ktefipkon) und an jeglihem Orte ift, durch unſeren Herrn und unferen Gott und unſeten Xebenöfpender, der durch feinen Meſſias uns lebendig gemacht und uns mit fi" verſöhnt Hat: vieler Friede )1

Siehe, hierdurch thut er kund, daß er bem Klerus beigenrinet war, wie wir gejagt haben. Wo er aber lebte, in ber Stadt Niſibis, wie einige gefagt haben, eder am einem atideren Orte in jenen Gegenden), thut er ganz und gar nicht kund.

Wenn aber, wie Deine brüderliche Liebe ſchreibt, einige fagen, daß er ein Schüler des feligen Mar Efrett ſei, fe ift dies niht wahr. Denn nicht gleicht der Charakter feiner Lehre der des Heiligen Mar Efrem. Auch erlaubt es die Verſchiedenheit der Zeiten ihter Lehtthatlgkeit nicht, dies zu behaupten; Denn dieſer fogenamit perfifche Welfe ſchrieb, wie wir wiſſen, im Jahre 648 der Griechen, d. ü der Ara Meranders, und ebenſo im den Jahren 655 und 656 ber Griechen und zwar die erſten 10 feier 22 alphabetifh geordneten Traftate im Jahre 648/337, ferner die zwölf folgenden 655/344 und dann noch ben „Traktat Über die Traube‘ im Jahre

tlärt ſich daraus, daß es eben nur formel ein Synodalſchreiben war, thatfäh- lich aber den Aphraates ziem Werfaffer Hatte, der es auch als feine eigme Arbeit ertsähnt.

4) Aus demſelben Ermahtuitgefcjteibett der Synode don Seleucis geit auch hervot, daß Aphraates Biſchof war, weil er barin (f. Wright ©. 26, 3. 16ff.) von der Prieſterwelhe als ton einer „Heiligen Handanflegung, bie die Menſchen von uns empfangen“, fpricht; vgl. auch die 10. Homilie, im der et

vom den Pflichten derer, bie „Hirten Ber Herde“ find, redet (a. a. O., S. 191,1). | 2) Dies letztete iſt das Richtige, wie unten gezelgt werben wirb €f.&. 318), |

da Aphraates pwar inuethalb bes altchrifſtlich- ſhriſchen Tigrislandee, aber nicht in Niſibis als Biſchof lebte. ©. and Röldeke a. a. O., ©. 1598.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. [1

636/345, wie dies hervorgeht aus einer Stelle in dem ‚Trab tat über den Tod und die letzten Zeiten‘ und aus einer Stelle in dem Tralktat über die Traube‘). Es war aber das Jahr 648, in melchem er, wie er ſelbſt ſagt, die 10 früheren Traktate ſchtieb nud vollendete, das 12. Jahr nad der Heiligen Synode in der Stadt Nicha, d. t. ein Jahr mad dem Hinſcheiden des gläubigen Könige Konftantin; deum cd verfammelte ſich die beilige Synode zu Nicda nach den kirchlichen Berichten im Jahre 636 der Griechen und etwa im 20. Jahre der Regierung Kon⸗ ftantins, der im ganzen 31 Jahre regierte; wenn wir nun von 648 Jahren 636 abziehen, fo bleiben 12 Jahre übrig, wie wir gelagt haben; und wenn wir ferner die 20 Jahre, nach deren Berlauf ſich die Synode von Richa verfammelte, von den 31 Jahren der Regierungszeit des Konftantin abziehen, fo bleiben uns 11 Jahre, folglich ift das Todesjahr des Konftantin das Jahr vor dem, im welchem diefer Schriftfteller feine erften zehn Traltate vollendete?). Wenn num 12 Jahre nad) der Synode von Niche und ein Jahr nach dem Hinfcheiden des Königs Konftantin dieſer perfiiche Schrift- ſteller die Abfaſſung der erften Traktate vollendete, fo ergiebt fich darans, daß er auch in den Jahren vor 648, alfo während ber Lebenszeit Konftantins, an den Zraftaten ſchrieb. Es ergiebt fi aud daraus, daß er nad der eben angegebenen Stelle die zwölf folgenden Zraftate im Jahre 655, aljo 7 Jahre fpäter dolfendete, den Traktat über die Traube aber im Jahre 656, alſo

1) Die erfiere Stelle (f. Wright ©. 440, 3. 15fj.) if von Bidelt (a. a. ©., ©. 149) mitgeteilt worden; in der zweiten (f. Wright ©. 507, 3.105; vgl. Bickelle Einleitung, S. 12) fpricht er von der ſchrecklichen Gprißenverfolgung unter dem perfien Könige Sapor, der in bemfelben Jahre, in welchem Aphraates feine Homilieen vollendete, die Einrelßung ber Kirchen and Hinrichtung vieler Märtyrer anorbnete, d. 1. im Jahre 344, dem 35. Regierungsjahre Sapors. Bermerkt fei noch, daß der Titel des zuletzt er- wäßnten Trakiates: „Über die Traube, welche wegen der geiegneten Veere nicht vertifgt werben fol“, in Rüdficht auf gef. 65, 8 gemählt ifl.

3) Im diefem Gate des ſyriſchen Textes, wie ihn be Lagarbe (©. 111, 3. 25) und Wright (©. 28, 3. 11) darbieten, fehlen verfchiebene Wörter, die ich Im Obigen dem Zufammenhange nad) ergänzt habe. Bol. Hoffmann 2. 0. D., ©. 150, Rote 87.

316 Ryfſel

8 Jahre fpäter ſchrieb, fo daß er alſo in 8 Jahren dieſe 13 anderen Traftate verfaßte. Wir bringen aber im ganzen von der Synode von Nicka bis zum Jahre 656/345 zwanzig Jahre zu fammen, und dies ift die Zeit, während welcher der perfiſche Schriftſteller fchrieb, wie wir, fo weit es möglich ift, aus feiner Schrift nachgewiefen haben.

Was aber die Zeit vorher, und fpeziell vor dem Sabre 648/337, angeht, fo finden wir in keiner Weife, daß Mar Efrem damals lehrte und ſchrieb, ſo dag wir fagen könnten, er fei ein Vorgänger dieſes perfifchen Schriftftellers oder er fei fein Lehrer oder fein Meifter. Die Zeiten aber, in denen der jelige Mar Efrem befanntermaßen ſchrieb, find zu erkennen aus der Kirchen geſchichte des Theodoret von Kyros: aus dem 31. Kapitel des 2. Buches und dem 29. Kapitel des 4. Buches !), aus denen hervorgeht, daß Efrem gegen Ende der Regierung des Konftun tius bei der Belagerung von Nifibis durch den Perferlönig Schäbör zugegen war und daß er zur Zeit des Valens in Edefja „gegen die der Wahrheit feindlichen Lehren ſchrieb“ Juden wir nun die Mittelglieder, um nicht zu weitſchweifig zu werden, übergehen, fo finden wir, indem wir die beiderfeitigen Angaben vergleichen, daß zwiſchen ber früheren Zeit, in welcher ber perfifche Schrift: fteller die 10 erften Traktate ſchrieb, und derjenigen Zeit, in der der felige Dear Efrem jene Lehren befämpfte d. i. nad) der Er oberung von Niſibis durch die Perfer und feiner Überfiebelung

1) In der erften der beiden Stellen, bie Georg ihrem Wortlaute nah mitteilt, wird erzählt, wie Efrem von Jakob, dem Biſchof von Nifibis, ger beten worden fei, auf die Mauer zu fleigen und auf die Barbaren d.h. auf die die Stadt belagernden Perſer Geſchoſſe von Verwünfchungen zu ſchleudern. Gemeint ift von ben drei vergeblichen Belagerungen von Rifibie durch Sapor II. d. Gr. in ben Jahren 388, 846 und 350 wohrſcheinlich die letzte. Im der Ausgabe von Schulze finden ſich die zwei citierten Stellen Bud) 2, Rap. 26, und Bud) 4, Kap. 26 (©. 906 u. 1008; vgl. Migne, Patrol, ®b. LXXXII). Eher flimmt bie Kapiteleinteilung Georgs mit der deß Stephanus, des Balefins und ber Baſeler Ausgabe überein (II, 30; IV, 29). Aus der Kirchengefchichte des Theodoret finden ſich aud zwei Eitate (1. IV, c. 22; 1. IV, c. 2) in den Scholien George zu den Homilieen des Gregor von Nazianz.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 317

nad Edeffa —, nahezu 50 Jahre find; denn wenn wir annehmen, daß dee perfifche Schriftfteller die 10 früheren Traktate in den [legten] 8 Jahren vor dem Hinfcheiden des gläubigen Königs Lonſtantin ſchrieb, und zu diefen 8 Jahren die 25 Jahre, welche Ronftantins herrſchte, und die drei des Julianus und des Yovia- aus famt den 14 von dem König Valens hinzuthun, fo bringen vir 50 Jahre zufammen, wie wir gefagt haben. Wie lange aber ein jeder von dem genannten Künigen regiert hat, ergiebt fih aus folgenden Stellen: Sokrates, Kirchengeſchichte I, 40; II, 45; IN, 16; III, 20; IV, 35 *). Indem nun etwa 50 Jahre zwiſchen der Blüte der Lehrthätigkeit de perfiichen Schriftfteller® und ber de Mar Efrem zwifcheninne fiegen, wie kann da jemand fagen, diefer perfifche Schriftfteller fei ein Schüler des Mar Efrem ger weſen? Es iſt dies unwahrſcheinlich, wie aud die Prüfung, die wir oben angeftellt Haben, zeigt, wenn auch Efrem vielleicht irgendeine Zeit Tang gleichzeitig war mit dem Leben des perfiichen Schriftfteller8 oder auch mit dem Leben und der Lehrthätigkeit, aber doch nur fo, daß Efrem noch ein Knabe war, als ber perſiſche Schriftfteller ſchon Tängft ein Greis war. So haben wir denn betreffs des jogenannten perſiſchen Weifen in Kürze ges zeigt, daß fein Name uns nicht befannt ift, auch nicht fein Rang und der Ort feines Aufenthaltes, wohl aber dies, daß er ein Möndh war und dem kirchlichen Klerus zugeordnet, fowie daß er nicht der Schüler des Efrem geweſen tft.

1) In der Ausgabe ber Kircheugeſchichte des Sokrates von Huffey ſtehen die Eitate Georgs, die übrigens nur die Angaben über die Regierungsjahte der Kaiſer von Konftantin bis Balentinian enthalten, an folgenden Stellen: I, 40; 11, 47; II, 21. 26; IV, 38. Im dem zweiten Citate ftehen ſtatt 13 Jahren der gemeinfamen Regierung bes Konftantius mit feinem Vater fälſchlich 3 Jahre, wos ſchon mad} den anderen Zahlangaben zu berichtigen ift. Die Überfegung George iſt ganz wörtlich; nur hat er einige Male Namen eingefetst, two fie im Zuſammenhange des griechiſchen Textes nicht nötig gewvefen waren. Aus ber Kirhengefchichte des Sokrates finden fich auch in den Schofien Georgs zu ben Homifieen Gregors von Nazianız verfchiedene Eitate: I, 38; I, 35; II, 17. 26; IL, 14; I, 31 u. 32.

8 Ryffel

Diefer Rekapitwlatten des Ergebniſſes der auf Grund ber Homilieen des Aphraates von Georg angeftellten Forſchungen über dad Lebe diefes „perfiichen Weifen“ haben wir nur wenig hinzuzufügen. Verfchiedene Steffen, welche außer den von Georg mitgeteilten dazu dienen, obige Notizen über die Lebensperhältwiffe des Aphraates zu erhärten, Haben wir ber reits in den Anmerkungen angeführt. Das wenige aber, was ſich fonft noch aus anderen Quellen über Aphraates feſtſtellen käßt, ift etwa Folgendes: Nach einer bereits erwähnten Rotiz auf dem Rande einer ſyriſchen Handfchrift war er „Bischof des Kloſters des heiligen Matthäus“, welches anf dem Berge Elpheph im ber Nähe von Moful gelegen war, desfelben Kloſters, das fpäter, nade dem der Maphrian die Didcefe von Nintve oder Moſul zu feiner Diöcefe von Tagrit hinzugenommen hatte, der Sig eben dieſes jafo- bitifhen „Primas des Oftns“ war). Da er übrigens au dem Möndäftande angehörte, fo tft anzunehmen, daß er zugleich Abt des erwähnten Kloſters geweſen if. Daß Aphraates die Chriftenver- folgung durch Sapor mehrfach erwähnt und bisweilen nad) Jahren der Regierung dieſes Königs rechnet (f. 0. ©. 315, Anm. 1), ferner daß er als Beauftragter einer in den perſiſchen Hauptftäbten Seleucia und Ktefiphon verfammelten Synode eine Enchklila ſchrieb (ſ. o. ©. 313, Anm, 2), ſowie daß er ald Bifchof der Diöcefe non Moſul im öftlichen Syrien, innerhalb der altchriftlic-fyrifchen Tigriolande lebte 2), alles dies weißt darauf Kin, daß er unter perſiſcher Herrfchaft ftand, woraus ſich zugleich die Benennung erklärt, unter der ihn Georg allein kennt und nennt, Da er übrigens im Jahre 648/337 bie erften 10 feiner Homilten-Sammlung vollendete und feine ſchrifiſtelleriſche Thätigkeit im Jahre 656/345 abſchloß und

1) ©. Bibl. Or., T. II: Diss. de Monophysitis. Xgl. über das Klofter Mär Mathai auf dem Berge Elfef reſp. Alfef ©. Hoffmann, Auszüge aus ſyriſchen Akten perfifcher Märtyrer. ©. 19, S. 175 (Anm. 1871) u. ©. 194.

2) Eine indirefte Beſtätigung bafür, daß Aphrantes im öſtlichen Syrien lebie, liegt auch darin, daß er die arianifche Ketzerei, die damals den ganzen Oecident beunruhigte, nirgends erwähnt, dagegen die gnofifchen Sekten ber Marcioniten, Balentinianer und Manichäer, die damals hauptſächlich in Eyrin bluhten, aufs heftigſte befämpft (f. ©. 51, 3- 6ff).

Ein Brief George, Biſchefs der Araber ıc. 3

da er bie Homilleen als Bifchof und fomit, wie aud aus dem Inbatte derfelben Hervorgeht, als gereifter Mann geſchrieben Bat, fo wird er etwa um 280 a. Chr. geboren fein. Seine Homilien gehören mit zu den fruheſten Dentmülern fyrifcher Literatur ; von ifrem in mehrfacher Hinſtcht intereffanten Inhalte handelt Georg Weiter in den zwei folgenden Kapiteln.

Zweites Kapitel. Über die Anſicht des perfiſchen Shriftftellers, daß nah Beendigung von 6000 Fahren biefe Welt untergehen werde.

Betreffs deffen aber, was Deine brüderliche Liebe fehreibt, do dieſer perfifche Schriftfteller gefagt Hat, es werde, fobald 6000 Jahre zu Ende wären, für diefe Welt das Ende eintreten, will ih dir mitteilen, daß auch viele andere Ehriften aus ber Zeit nach dem Erdenleben Chriſti diefe Meinung hatten dem eutſprechend, was ihre eigenen Ausſpruche darthun —, von denen bir, mit Übergehung der meiften, wenigftens einige wenige, wie zur Beftätigung unferer Behauptung, anführen wollen. So ſchreibt Bardaizan (d. i. Bardeſanes), der ehrwürdige und in ber Ertenntnis der Dinge berühmte Mann, in einem von ihm ver» fasten Werke „Über die gegenfeitigen ouvodos der Sterne des Himmels“ 7) alfo; „Zwei Umläufe des Saturn find 60 Jahre, fünf Umläufe des Jupiter 60 Jahre, 40 Umläufe des Mars 60 Jahre, 60 Umläufe der Sonne 60 Jahre, 72 Umläufe der Venus 60 Jahre, 150 Umläufe des Merkur 60 Jahre, 720 Um⸗ läufe des Mondes 60 Jahre, und dies iſt eine auvodos ihrer aller oder die Zeit einer ovvodog von ihnen, fo daß in» folge deſſen 100 derartige ouvodos 6000 Jahre ausmachen, alſo: 200 Umläufe de8 Saturn 6000 Fahre, 500 Umläufe des Jupiter 6000 Jahre, 4000 Umläufe des Mars 6000 Jahre,

3) Unter ben „gegenfeitigen auvodos“ find, wie aus dem folgenden here vorgeht, bie ſynodiſchen Umlaufzeiten der Planeten gemeint €s ift vielleicht m die im Fihriſt ermährtte Schrift des Bardefanes „Das Bewegliche und Fee” zu denken, bie auch von den Planeten haudelte.

820 Ryfſſel

6000 Umläufe der Sonne 6000 Jahre, 7200 Umläufe der Benus 6000 Jahre, 12000 (?) Umfäufe des Merkur 6000 Jahr, 72000 Umläufe des Mondes 6000 Jahre“; und zwar rechnet Bardaizan dies aus, um zu zeigen, dag nur 6000 Jahre diefe Welt beftehen werde. Auch der heilige Hippolytus, der Biſchof und Märtyrer, fagt alfo in dem 4. Auffage über den Propheten Daniel ?): „Das erfte Auftreten (megovaia) unferes Herrn im Fleiſche gefchah zu Bethlehem in den Tagen des Auguftus im Jahre der Welt 5500; er Titt aber im 33. Jahre [mach feiner Geburt]; e8 miüffen aber notwendigerweife 6000 voll werben (AmoIrvaı), damit der Ruhefabbat (26 Zeßarov) komme, [j xaranavaıs, j user ij dyla], an welchem „Gott ausruft von alfen feinen Werfen, [die er (wörtlich: Gott) angefangen hat zu thun]“; und kurz darauf: Von der Geburt Chrifti nun muſſen wir rechnen [und hinabgehen] die übrigen 500 Fahre bis zu dem Ende (eis ovunikfgwoıw) der 6000 Jahre, und fo wird da8 Weltende (70 z#Aos) fein." So zwar lautet diefer Ausſpruch, in dem auch der Heilige Hippolytus ganz deutlich gefagt Hat, dag diefe Welt nur 6000 Jahre beftehen werde; man muß aber wiſſen, daß diefem feinem Worte nach in dem gegenwärtigen Jahre 1025 der Griechen diefe Welt bereit6 215 Jahre untergegangen fein follte. Denn wenn 500 Jahre nad dem Kommen Chrifti, wie er fagt, das fechfte Jahrtaufend und diefe Welt zu Ende gehen werden, von dem Kommen. Chrifti aber bis zu dem gegenwärtigen Sabre 715 Jahre find denn im Jahre 310 nehmen wir an, daß der Heiland geboren ift, wie wir an einem anderen Orte?) ausführlicher gezeigt haben —, wenn wir daher von 715 Jahren

1) Beide Stellen finden ſich in Fragmenten feines Kommentars zu Daniel, die Migne in feiner Patrologia Graeca, Opera Hippol. X, 645 u. 618 (in Kap. 6) zum Abdruck gebradt Kat. Was Georg oder der Berfafier der ihm vorfiegenden Überfegung Hinzugefügt hat, ift durch edige Mlammern fenntlich gemacht; ebenfo die griechiſchen Wörter, die in ber Überſetzung weg- gelaffen find.

2) Gemeint iſt wohl das „Chronifon“, über welches zu vergleichen if, was oben (S. 297) in dem Verzeichnis der Schriften George gefagt wurde.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 821

500 abziehen, nach dem, was Hippofytus fagt, fo bleiben ung 215 Jahre übrig, wie wir bereitö gejagt haben.

Außer diefen beiden führen wir aber auch den Heiligen Mar Ju’güb den Lehrer ) an, welcher ebendiefelbe Meinung vorträgt, indem er im 6. der von ihm über das Seraemeron verfaßten Sermone alfo fagt: „1000 Jahre werden von Gott als ein Tag gerechnet, da 1000 Jahre in den Augen Gottes ein Tag find; und die 6 Tage, in denen die Erfchaffung (im Syr. plur.) zu⸗ ftande lam, find die Fahre der Welt, welde fon 6 ZYahrtaufende befteht; aber im fiebenten Zaufend Hört die Welt auf, und es zuben die Umläufe, und es entfteht Ruhe, wenn der Lauf des feßften beendet iſt.“ Und kurz darauf: „Es ruhete Gott am fichenten, indem er anbentete, daß er die Welt nur 6 [gahr⸗ tauſende] Taufen laffen werde; am 6. Tage war zu Ende die Grigaffung aller Geſchöpfe, damit die Welt lernen foll, daß fie in ſechs entfteht und im ſechs vergeht.“ Und kurz darauf wiederum: ‚Nicht iſt der Here deſſen bedürftig, daß er ausruhe, indem er nicht ermüdet, fondern er will nur ein deutliches Gleichnis bon dem Weltende geben, daß nämlich die Weltſcheibe, fobald fie 6 Rhyrtauſende gelaufen ift, im fiebenten vergeht und ſich nicht mehr dreht.“ 3) Und zwar Haben fie dies fo gejagt und behauptet, indem ein jeder von ihnen irgendein Gleichnis Hergenommen hat aus den Verhältniſſen der Dinge (d. 5. Erfcheinungen), die näm- (ih am Himmel ober.auf der Erde oder an beiden ſich ereignen.

So Hat auch diefer perfiſche Schriftiteller gethan; denn er fogt in dem Zraftate über die Liebe, gleich wie auch Deine brüder- fie Liebe alſo ſchreibt 2): „Stoße Dich nicht, mein Geliebter,

1) Gemeint ift Jakob von Sarug, Biſchof von Batnä (F 521), der den Ehrennamen malpänä, d. i. Lehrer, gleid) dem 5. Ephrem und Iſaak von Intiohien führt (ſ. o. ©. 290, Anm. 2). Seltener wird auch Daniel von Sala) als der „göttliche Lehrer“ bezeichnet.

2) Bgl. Bickell, Ausgewählte Gedichte der ſyriſchen Kicchenväter Cy - rillonas, Baläus, Iſaak von Antiodien und Jalob von Sarug (in der Kemp- tener Bibliothet), ©. 221.

®) Betrefis des Zuſammenhanges biefer Stelle (j. Wright a. a. DO, ©. 36, 3. 15), die fouft, befonders im Anfang, dunkel und unverftäudfid) if,

32 Ryſſel

an dem Worte, das ih Dir geſchrieben habe, daß Gott wäßend einer Hälfte feines Tages Jeruſalem vergeben habe; denn fo ftht geſchricben bei Dabid im 90 Pfalm: 1000 Jahre find in dm Augen des Herrn wie ber Tag, der geftern vergangen ift. Und auch unfere weifen Meifter ſagen alſo, daß, gleichwie in 6 Tag die Welt von Gott erfchaffen ift, fo ah am Ende van 6000 Jahren die Welt fih auflöfen und der Sabbat Gottes eintreim wird, mtfprechend dem Sabbat nad den 6 Tagen.“ ) 36 aber, wenn ih Geringer unferen Erlöfer und unferen Bott und anferen Heren Zeus EHriftus zu feinen Züngern fagen höre, dis Sie ihn nach feiner Auferftehung von den Toten fragten, ob er in diefer Zeit das Königtum Perael wieberherftellen werk: „Nicht iſt dies eure Sache zu wiſſen Zeit oder Zeiten, melde der Bater nach feiner Willkür beftimme Hat“ 3), fo fage ih Un wiffender, daß weher in der Zeit non Anfang der Welt bis jet, nod in der Zeit von jet bis zum Ende der Welt, noch vom Anfang der Welt bis zw ihrem Ende einer von allen Menfäen iſt, der es gewußt hat oder weiß oder wiſſen wird; und daß ich noch Wichtigeres fage: auch nicht bie Engel, wie ‚mir ſchaint, kennen die Zeit des Endes der Welt; wie unfer Hem vor feinem Leihen und feinem Tode und feiner Auferftehung van den Toten zu feinen Züngern gejagt Hat: „Die Stunde weiß niemand, auch nicht der Sohn und auch nicht die Engel im Himmel.“ ®) Denn menn er auch non fich ſelbſt in Ruckſicht auf feine menſchliche Natur (wörtl, olxovopsxös) und uneigentfih ſagt, daß er es nicht wiſſe, während er es doch meiß, fo bridt er ſich jedoch betreffs der Menſchen und Engel nicht uneigentlich, ſondern wirklich und eigens lich (xvolwc) aus, wie mir ſcheint. Und darum iſt die Trage, ob nad; 6000 Jahren oder nach 7000 Jahren oder nad) wie vie

vgl. Bidell (a. a O., ©. 44), der den ganzen Traktat fiber die irbe G. 83—51) mitteilt.

1) Andere Beifpiele ſolcher allegoriſchen Anslegung des Schriftwories bi Apbrantes |. Saffe a. a. O., ©. 17.

2) Ang. 1, 7.

8) Matth. 24, 86. Mark. 18, 32.

Ein Brief George, Biſchofs ber Araber ꝛtc. 323

Fehren das Ende dieſer Welt eintritt, die Sache des Vaters allein, lleichwie auch der Sohn geſagt hat; die Sache des Sohnes aber, veſſen alles iſt, was des Vaters ift, und die des heiligen Geiſtes, ber alles ergründet und auch die Tiefen der Gottheit, iſt es, dies deutlich zu verlundigen. Und dies ift, was ich betreffs deſſen, daß der perfifche Schriftfteller jagt, nad) 6000 Jahren werde die Welt vergehen und aufhören worliber deine bruderliche Liebe in Zweiſel geraten war —, zu fügen hatte.

Diefe Erwartung des Weltendes, welche mit den chiliaſtiſchen Anfhauungen nahe verwandt ift, aber doch nicht mit ihnen ver» wechſelt werden darf, geht auf eine Miſchung won allegauischer und budftählicher Auffaffung des Schriftwortes zur, indem man von ‚den 6 Zagen der Schöpfung nad) allegorifcher Auslegung in Anlehnung an Palm 90, 4 auf eine Weltdauer von 6000 Jahren ſchloß, fodann aber an der Zahl 6000 buchſtäblich fefthieit. Das bei verlegte man entweder, wie Hippolytus (f. 0. ©. 320), bie Geburt Chrifti ins Jahr 5500, oder man dachte fi, wie im ganzen Mittelalter, das erfte Weltalter von 5000 Jahren mit der Geburt Chriſti abgefchloffen. Aber während verſchiedene ältere Kirchenlehrer aufer ben von Georg angeführten aud re» näus 5, 28, 3, der ſich fait wörtlich fo wie Jakob von Sarüg und Aphrantes (f. o. ©. 321f.) ausdrädt, auf Grund diefer Erwartung bes Weltenbes nach Ablauf von 6000 Jahren den Hifioftifchen Erwartungen eines 7. Jahrtauſends, eben des taufend- jährigen Reiches entgegentraten, ‘haben andere wieder an die Er wartung des am Ende des 6. Jahrtauſends eintretenden Welt⸗ fabbats (vgl. 3. B. auch Barnabas, c. 15) die Hoffnung auf eine taufendjährige Endzeit ‚allgemeinen Friedens ‚gefnüpft, indem fie die Ruhe diefes Weltſabbats nicht als ein Aufhören des Welt laufes, fondern als ein Aufhören des duch das Boſe in die Welt gelommenen fittlich»veligiöfen und politifchen Unfriedens faßten (fiehe z. B. auch Lactant., Inst. VII, 14: „et rursus, quoniam perfectis aperibus requievit die septimo eumgque benedixit, necesse est, ut in fine sexti millesimi anni malitia omnis

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aboleatur e terra et regnet per annos mille iustitia, sitque tranquillitas et requies a laboribus, quos mundus iam diu perfert“). Daß übrigens diefe chiliaſtiſchen Erwartungen eines 7. Zahrtaufends auch dem Araberbifchof Georg nicht fremd waren, geht aus der Bemerkung am Schluffe des Kapitels hervor, wo er etwa in der Weife, wie Irenäus (a. a. O.: „non licet allegori- zare ... non in supercoelestibus intelligendum‘) ausein anderfegt, daß der Menſch nicht darnach forſchen folle, „ob nad 6000 Jahren oder nad 7000 Jahren oder nad wie viel Jahren das Ende ber Welt eintreten werde“.

Drittes Kapitel, Über die Anfiht des perfifgen Säriftftellers, daß, wenn die Menſchen fterben, der ſeeliſche Geift (70 veöne woxıxov) zugleich mit (eigentlich: innerhalb, in) dem des Bewußtjeins be raubten Leibe begraben wird.

Betreffs des anderen aber, was Deine brüderliche Liebe ſchreibt, daß der perfifche Schriftfteller in feinem Traktate „über die Yun- desbrüder“ gejagt hat 1): „Denn bei der erften Geburt werden die Menſchen geboren mit dem feelifchen Geifte, [der im Menfchen erfchaffen wird] *) umd nicht fterblich iſt gleichwie es haft,

2) 6. Wright a. a. O., ©. 125, 3. 9-16. Das Boransgehak Tautet von Anfang des 18. Kapitel® an folgendermaßen: „Darum, mein Lieber, haben auch wir von dem Geiſte Ehrifti empfangen, und Chriſtus wohne in uns, gleichwie geſchrieben fteht, daß biefer Geift durch den Mund des Propferm gefogt hat: Ich will in ihnen wohnen und unter fie gehen (2 Kor. 6, 10) Laßt uns daher unfere Tempel vorbereiten auf den Geift Chriſti und ife nicht betrüben, damit er nicht von und weiche. Geid eingedenk deffen, mat euch der Apoſiel lehrt: Vetrubt nicht ben f. Geift, durch den ihr Derfegelt feid auf den Tag der Erlöfung (Eph. 4, 80). Denn aus ber Kaufe em pfangen wir den Geift Ehrifti; denn zu ber Stunde, wo bie Priefter den Gein aneufen, öffnet er den Himmel und fteigt hecab und ſchwebt über dem [Taufe] Waſſer und es ziehen ihn am bie, welche getauft werben. Denn von alle: Kindern des Leibe iſt der Geift entfernt bis zu der Zeit, wo fie lonmen zur Geburt des Waſſers und bann dem Heiligen Geiſt empfangen.“

2) Die eingelammerten Worte fehlen bei de Lagarde (©. 117,30

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c, 826

daß Adam zu einer lebendigen Seele warb (Gen. 2, 7) —; und bei der Wiedergeburt der Taufe empfangen fie den Heiligen Geift, der gleichfalls nicht fterblich ift; wenn nämlich bie Menſchen ſterben, jo wird der feelifche Geift mit dem Leibe begraben, indem Bewußtfein von ihm (dem feelifchen Geifte) hinweggenommen ift, und der himmlische Geift, den fie empfangen haben, geht zu feiner Natur, zu Chriftus; und dies beides tut uns der Apoftel kund, denn er fagt: „Der Leib wird begraben ſeeliſch (adv.) und fteht anf geiftig (adv.)**); und der Geift wiederum wird zu Chriftus gehen zu feiner Natur, denn gleichfalls fagt der Upoftel: ‚Wenn wir abſcheiden aus dem Leibe, werben wir bei unferem Herrn fein‘ ®): denn zu unferem Herrn geht der Geift Ehrifti, der, den die Geifte lichen (d. 5. bie uvsuarıxod) empfangen, und der feelifche Geift wird begraben in feiner Natur in dem Leibe, indem das Bewußt- fein von ihm genommen ift“, betreffs deſſen darf die Weisheit Deiner brüderlichen Liebe den perfiſchen Schriftfteller nicht zu den erprobten und durch erprobte Schriften ausgezeichneten Schrift» ftellern Hinzunehmen und hinzurechnen, alfo daß Du Did; infolge deſſen in Deinen Gedanken abquälteft und in Deinem Sinne Dich abmüpteft, namlich zu erfafen und zu erkennen den Sinn (eg. duvanıs) aller der Worte, die er in feinem Homilieenwerke gefagt hat. Denn wenn er auch, wie wir oben gefagt Haben, ein von Natur ſcharf finniger Mann war nnd die Heiligen Schriften ftubiert Hatte (ſ. o. S. 312), fo gehört er doch nicht zu denen, die die bewährten Lehren der bewährten Lehrer gelefen haben; deun er war auch zu feiner Zeit gar nicht in der Lage, fie zu beachten und feine Gedanken und feine Worte nach denen jener zu richten, und darum find auch viefe Fehler und viele dunkle Stellen in jenem Werke für den, der weiß und verfteht, was er Kieft, fo wie es gefchrieben ift. Zu ſolchen Worten gehören auch die, worüber Deine brüderliche

md Wright (©. 81, 3. 16); daß fie aber zum Terte gehören, geht ſchon darans Hervor, daß das „und“ fonft finnlos if. Sie find ans dem Urtegte der Homilieen des Aphraates (j. Wright ©. 125, 3. 10) reſtituiert.

1) 1Ror. 15, 44.

3) 2Ror. 5, 8.

Theol. Stid. Yahıg. 1883. 22

828 . Ayffel

Liebe jetzt in Zweifel geraten if. Denn indem er den göttlichen Apoftel Baulns fagen Börte: „Es wird gefüet ein ſeeliſcher Le und ſtehet auf ein geiftlicher Leib“ ), mmd nicht die Bedeutung und den Sim des Wortes erfaßte, fo fam er dazu zu fehreiben un zu fagen, daß, wenn die Menfchen fterben, der feekifche Geift mit dem Leibe begraben und Bewußtſein vom ihm genommen werde, un der himmliſche Geift, den fie empfangen, zu feiner Natur m Shriftus gehe, und daß der Apoftel uns dieſes beides kundgethaa babe, da er ja fage, der Leib werde ſeeliſch begraben und fick geiftlich auf, indem er (d. i. Aphrantes) „begraben werden an Stelle von „gefät werden“ fagt, ſei es gemäß ber Hand ſchrift, die es damals vor fich hatte, oder indem er wielleicht die Besart Ändern wollte entiprechend dem Sinne, dem er für richtig Bielt %), d. 5. daß begraben wird ber ſeeliſche Geiſt im dem Reihe, infofern es ihm nicht ganz angemefjen war zu fagen: „Es wird gefät ein feelifcher Geift in dem Leibe und Bewußtſein if von ihm hinweggenommen.“ Was ift für ein Sinn oder Verſtaud in dieſer Anfiht 9)? Denn feelifcher Geift ohue Bewußtfein findet fich auch nicht bei irgendeinem von allen Gefchöpfen, außer allein bei deu Saaten und den Gräfern und den Bäumen und bi den Kindern im Miutterleibe vielleicht; denn das, was fie (it Pflanzen) wachfen und zeif werben läßt, ift ohne Bewußtſein und ohne die Fuhigkeit ſich von einem Orte zum amberen zu bewegen.

V Die bibliſchen Eitate des Aphrantes find infofern von großer Zötdtige keit, weil aus ihnen hervorgeht, daß die Peſchittä, da fie von Oſtſyrern, d. $ von Syrern unter perfiicher Herrſchaft, wie Aphraates, ebenfo gebraucht murk, wie von den mit den Oftfgrern in gar Keiner engen Beziehung ſtehenden Syretu im rönrifchen Reiche, ſchon von altersher als der eigentlich chriſtliche Tert be teachtet wurde. Denn die Peſchittã des Aphraates zeigt, wie die des Cyfräm, Bereits bie Spuren langen Gebrauches und zwar in der Eßraugelo-Scheift. ©. Th. Nöldete im Liuerariſchen Sentrafblatt* (Jahrg) 1875, &. 1505, und Saffe a. a. O., ©. 34ff. Bemerkt fei noch, daß Aphrantes, wie Zahn („Göttingifcje geiehrte Anzeigen” 2877, ©. 188f.) geyeigt Hat, feine Evan gelkeneitate aus Tatlans Diateffaron fejöpfte.

3) Pristeres iſt giweifelsofne das allein Fidtige. ©. u. ©. 834.

8) Gemeint iſt bie Anficht, daß der ſeeliſche Geiſt im menfehfichen Beide reſp. Leichname feine Empfindung Habe.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. [4

Denn wie nad ber Ansfage der Philoſophen die Subſianz () weten) ſich teilt in Korperliches und Unkörperlies, fo teilt fich and das Körperliche in BVefeeltes und Unbefeeltes, und das Bes fiefte teilt ſich wieder in Tier (eig. lebendes Weſen, animal), in Tierpflanze (Ieöyvsov) und in Pflanze. Tier nun iſt alles das, mas lebt und ſich vom einem Orte zum amberen bewegt, entweder in der Luft oder anf dem Trodenen oder in bem Meere; Tier pflanze aber bie Schwämme und die Schnecken, deren es ſehr viele giebt, und alle die Tiere, melde, obgleich Re an einen Ort fiziert find und mcht freiwillig von ihm fich entfernen Türmen, doch leben und empfinden, wenn ſich etwas nähert und fie berihrt und das Kennzeichen, daß fie Leben, ift ja außer dem, daß fie empfinden, and das, daß von ihnen Blut ausſtromt, wenn fie zerſchnitten werden —; die Pflanze aber iſt das, merkt, indem es friert und eingepflanzt iſt and an eimem Orte fich befindet, eine empfinbunge« loſe Seele ift, welche fie (die Pflanze), zugleich mit Erde und Waſſer und der Furſorge des Schöpfers, wachſen und gebeihen laßt. Der Art dieſer Pflanzenferle vergleicht der perſiſche Schrift fteller die Menſchenſeele, von ber eu ſagt, daß fie im dem Leich⸗ nam, der ohne Bewußtſein if, nach dem Tode mit begraben wird. Aber auch, daß bie mit bem Leibe der Manſchen begsabene Seele geringer iſt als bie der Pflanze, wied vom ihm behauptet. Denn fo Lange bie Seele der Pflanze in derfelben ift, iſt fie (bie Pflanze) frif und erhalt ſich und gebeigt fröhlich; und erfcheint den Augen wie etwas Lebendes; ſobald fie (die Gere) aber ans ihr herausgeht, wird fie dürr und vertrodnet und vergeht und erfcheint den Augen wie etwas Totes. Die Seele aber, die nach Ausſage des perſiſchen Schriftftellere in dem menfchlichen. Leibe nach dem Tode mit begraben wied, kaun ihn auch nicht einmal drei ganze Zage lang erhalten ohne Auflöfung und Zerſetzung und Verweſung innerhalb des Grabes.

Und. auch bie aubese Behauptung, daf ber Heilige Geiſt, den bie Menfcen. bei der Taufe empfangen, fobald fie erben, zu feiner Natur zu: Chriftus geht) d. 1. „zu unſerem Herrn geht

1) ©. Wright a. a. O., ©. 125, 3. 16, vgl. ©. 126, 3.22. De 29%

828 Ryſſel

der Geiſt Chriſti“, indem ich nicht wüßte, wen er mit „unſerem Herrn“ außer Chriſtus meinen könnte —, ift voll Dunkelheit und ohne ftäbtifche Gelehrfamteit (d. i. wiſſenſchaftliche Schulung).

Ebenſo auch die Meinung, bie er fpäter äußert. Ex ſchreibt nämlich kurz darauf: „Denn der, welcher den Geift Gottes in Reinheit erhält (eig. bewahrt), zu dem fagt er (dieſer göttliche Geift), warn er zu Chriftus geht: „Der Leib, zu dem ic ge tommen war und der mich umkleidet Hat feit dem Waſſer der Taufe, Hat mich in Heiligkeit bewahrt“, und der Heilige Geiſt bittet bei Chriftus um die Auferftehung des Leibes, der ihn rein (adv.) bewahrt hat, und der Geift verlangt, wieder mit ihm (dem Leibe) vereinigt zu werben, damit der Leib in Herrlichkeit aufs erftche. Der Menfch aber, welcher den aus dem Waſſer (der Taufe) empfangenen Geift betrübt, aus bem geht er heraus, noch ehe er fticht und geht zu feiner Natur zu Chriftus und ber Hogt fi über den Menfchen, der ihm betrübt hat. Und wenn die Zeit der fhlieglichen Vollendung eintritt, und es naht die Zeit der Auferftehung, fo empfängt ber heilige Geift, der in Reinheit ber wahrt worden ift, große Kraft von feiner Natur und kommt vor Chriſtus und ftellt fi auf die Pforten der Begräbnisftätte, dem Orte, wo die Menfchen begraben Tiegen, welche ihn im Reinheit bewahrt haben, und wartet auf den Schall des Hornes; und wenn die Engel bie Pforten des Himmels vor dem Könige aufthun, dann ruft dad Horn und die Pofaunen erſchallen, und es Hört es der Geift, der auf den Schall wartet; und eilends öffnet er bie

ganze Stelle, aus der mir erfehen, wie Aphraates durch Kombinierung mehrerer Bibelftellen feine Anficht zu beweiſen fucht, if von Georg am Ar fange dieſes Kapitels mitgeteilt worden (j. 0. S. 325, 3. 615). Duhin dem ſyriſchen Ausorude Tanaasn (f. 0. ©. 325, 3.95)

das zweite Wort, „Chriſtus“, dem erſten, „Natur“, Loorbiniert if, geht midt nur aus bem Zufammenhange hervor, fondern auch aus dem parallelen Aus-

drudt go a... ans (f. 0. ©. 825, 3. 14); denn mit hin der Leib als bie Natur, d. h. das Grunbelement, des „feeliihen (b. i. anime

Hifdjen) Geiſtes. bezeichnet wird, fo it Chriſtus als der Urguel bes „Hmm

luſchen Geiftes“ angefehen.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 829

Gräber und laßt die Leiber auferftehen und das, was im ihnen mit begraben ift *). Und furz darauf: „Und diefer Geiſt, mein Öefiebter, den die Propheten empfangen haben und fo auch wir, findet fi nicht immerwährend bei feinen Empfängern, fondern bald geht er zu dem, der ihm gefendet hat, bald kommt er wieder zu denen, die ihn empfangen Haben. Höre auf das, mas unfer Herr fagt: „Verachtet nicht einen von dieſen Meinen, die an mic glauben; denn ihre Engel im Himmel ſchauen zu jeder Zeit das Antlig meines Vaters ®)‘, d. h. der Geift geht zu jeder Zeit und ſtellt ſich vor Gott hin und ſchaut fein Antlig; der aber, welcher den Tempel ſchädigt, in dem er wohnt, über ihn beflagt er ſich vor Gott.“

Bemerfft du, o unfer Bruder, die Unbeholfenheit (wörtlich: das Bäuerifche) diefer Ausfprüche und welche Ehre fie dem Heiligen Geiſte (d. h. dem göttlichen Geiſte, der in dem Menſchen Wohnung nimmt) zuteilen und wie er die Engel der Gläubigen auffaßt, bon denen umfer Herr fagt, daß fie zu jeder Zeit das Antlig feines Vaters fehen? Dieſe Anficht äußert er auch in der Stelle gegen Ende des Traktats über die Auferftehung der Toten, bie ih wegen ihrer Länge mich ſcheue Hier anzuführen °).

ı) Wright a. a. D., ©. 126, 3. 4—21. Diefe Stelle ſchließt ſich unmittelbar an bie in der voransgehenden Anmerkung citierte an. Wir fügen noch die Worte Hinzu, die zwiſchen ben beiden von Georg Bier angeführten Gtaten fiehen, fo daß dann diefe ganze Partie der 6. Homilie (Wright, ©. 124, 3. 19 bis ©. 127, 3. 15) teils im Text, teils in den Anmerkungen mitgeteilt if. Diefelben Iauten (Wright, ©. 126, 3. 21 bis ©. 127, 3. 7): „Unb ex (dev Geift) bekleidet ihm (dem Körper) mit der Herrlichteit, bie mit ihm ſelbſt kommt, und ec iſt inwendig (in dem Körper), um ben Leib zu trwecken, und bie Herrlichkeit ift auswendig, um ben Leib zu ſchmücken; und der feelifche Geift wird verſchlungen von dem himmliſchen Geifte, und der ganze Menſch wird geiftig, weil fein Körper in ihm (dem Geifte) if. Und es wird verfchlungen der Tod durch das Leben, und der Leib wird verfchlungen durch en Geift, und ber Menſch ſchwebt Infolge des Geiftes empor dem Könige ent- xgen; und er empfängt ihn mit Freude, und Chriſtus danft dem Leibe, ber einen Geift rein bewahrt Bat." Hieran ſchließt ſich dann das zweite, ab« chließende Eitat George (Wright, ©. 127, 3. 7—18).

2) Matth. 18, 10.

3) Die Stelle findet fi bei Wright, ©. 172, 3. 20 bis ©. 173,

L} Ryſſel

Zudem wir dieſe Stellen, in denen die „Geiſter“ in der oben augegebenen Weile aufgefaßt worden find, beifeite laſſen, Tommen wir zu jenem anderen YAusfprude, den Deine brüder- liche Liebe in Erinnerung gebracht Hat. Er fagt nämlich in dem Traltat über die Traube 1), dag Noah bis zu dem 58. Jahre ds Lebens des Abraham Iebte und daß er in Ur der Chaldäer wohnt und dort ftarb und begraben wurde. Werner fagt er aud von Sem, daß biefer bis zu dem 52. Jahre des Lebens des Jeleh lebte. Wiſſe deshalb, o Du Freund der Belehrung, daß der perſiſche Schriftftelfer nach der Überlieferung der Schriften dr Juden alle feine Bexechnungen machte und nicht nach ber Über lieferung der LXX oder nad) der Überlieferung der Samaritaner, wie Du auch felbft vorher gefchrieben Haft. Du aber ſchließe Dich an die Überlieferung mad) der Überfegung der LXX an und fol diefer, und zwar beſonders in Müdficht auf die Jahre der Ey väter, weil die maßgebenben (wörtlich: weifen) Schriftfteller be | zeugen, daß fie wahrer ift als die anderen, indem Du von Adam bis zur Flut 2242 Jahre annimmft (eig. Haft, feftpättft), und von der Flut bis Abraham 943, und von Adam bis Abraham 3185; und von Abraham bis zum Auszuge der Kinder Israel aus Ägypten 515 und von dem Auszuge bis zum Anfange des Tempel⸗ baues 480 Jahre, wie es im Buche der Könige gefchrieben fickt, und von dem Anfange des Tempelbaues bis zu feiner Ber brennung durch Nebuladnezar 441 Jahre, und von ber Ber: brennung des Tempels bis zum Anfange der Jahre der Griechen 280 Yahre; im ganzen aber find von Adam bis zum Anfang

3. 9 und lautet folgendermaßen: „Sei aber eingebent, mein Geliebter, dah ih über dieſen Gegenftand did; in dem Traftate über die Einfiebler dahin belehrt Habe, daß der Geift, ben die Gerechten empfangen, zu unſerem Herrn zu ſeiun himumliſchen Matur geht, bis zur Zeit dev Anferfiehung, wo er kommt, um anzuziehen den Leib, in bem er gewohnt hat; und immerfort bittet er für ihn vor Gott und bemüht ſich um bie Auferſtehung des Leibes, in dem er gemohut | hat, gleichwie der Prophet Jeſaias über bie Rice aus den Heiden jagt (Rap. 62, 6. u, 7): ‚Immmermährend ſtehen beine Furſprecher und gönnen fich nicht Ruhe Die Gottlofen aber Haben feinen Fuͤrſprecher vor Gott, weil der heilge Grit fern von ihnen ift, da fie ſeeliſch find und ſeeliſch (ady.) begraben werben.” 2) S. Wright, ©. 463 m. 464.

Ein Brief George, Bifchofs ber Araber 2c. ss

ber Jahre der Griechen 4901 Jahre und von Adam bis zu dem gegenwärtigen Jahre, dem 1025. der Griechen, find 5926 Jahre, indem an 6000 fehlen 74 Jahre.

Wenn aber beine brüberliche Liebe weiter gefragt hat da⸗ mit and dies nicht unbeantwortet bieibe —, warum Noah feine Beitgenoffen nicht ermahnte, das Bild des Kenan, des Sohnes des Arpachſchad, nicht anzubeten, und Sem nicht die feiner Gene ration Angehörenden, die Gögen nicht zu verehren, fo geben wir in Kürze zur Antwort: wegen ber Freiheit und ber felbftändigen Verfügung, die Gott dem Menfchengefchlehte verliehen Hat, ver» möge deren jemand entweber fünbigen oder ſich als gerecht erweiſen mil. Auch Haben die Leute der damaligen Zeit in ben 100 Jahren dor der Flut, als fie ſahen, daß Noah Zedern pflanzte und zer» fügte und die Arche baute, um ſich zu retten, weber Reue empfun« den, noch find fie von ihrem böfen Lehen umgelehrt, ſondern fie ofen und tranfen und heirateten und verheirateten, bis daß bie dlut kam und alle vernichtete gemäß dem Wort unferes Herrn. Aber and) nach ber Flut wollte fi weder Kenan, der, wie ges fagt wird, ein großer Zauberer und Böſewicht war und des⸗ halb vergättert wurde, noch alle die Zeitgenoffen des Noah und des Sem von ihrem böfen Leben abhalten laſſen, wenn anders fie dazu von dieſen beiden ermahnt wurden. Es giebt jedoch auch einige, bie da jagen, daß die Menfchen in den Tagen de Serug onfingen, Bilder zu machen und Göten zu verehren. Wenn bies mn wahr ift, fo reichten aljo weder Noah noch Sem, fein Sohn, an jene Zeit heran, da es ja von der Flut bis zu Serug felbftoerftändlich gemäß der Überjegung der LXX unter Hin zurechuung der 130 Jahre des Kenan 794 Jahre find. Noah lebte aber nach der Flut 350 (im fprifchen Terte 330) Jahre, fo daß an 794 Jahren 444 fehlen; Sem aber Iebte nach der Flut 500 Jahre, fo daß. von den 794 Jahren bis Serug 294 (im fyrifchen Texte 494) fehlen. Alles das, was in biefen 3 Kapiteln fteht, bezieht fich auf die ragen, die Deine Liebe zu Gott betreffs des perſiſchen Weiſen und einiger Ansſpruche in feinee Schrift an uns gerichtet Hat.

332 Ryſſel

Unter den verſchiedenen Fragen, die Georg in dieſem Kapitel behandelt, fteht die erfte, die auf die pſychologiſchen Anſchauungen des Aphraates Bezug Hat, auch an Wichtigkeit oben an. Wie aus | den von Georg angeführten Stellen hervorgeht, unterfcheidet Aphro | ates von dem feelifchen Geifte im Menfchen, d. 5. der vermunft- begabten menfchlichen Seele, den himmliſchen Geiſt oder wie er ihn auch nennt ben Beifigen Geift oder den Geift Eprifti, der dem Menfchen in ber Taufe durch die göttliche Gnade zuteil wird. Während nun diefer himmlifche Geift beim Tode der guten Menſchen zu „Ehriftus, feiner Natur“, alfo zu feinem himm⸗ liſchen Urfprung zurüdkehrt, aus den böfen Menſchen wegen ihrer | Simden aber ſchon vorher weicht, fo wird nad der Anſchauung des Aphrantes die menfchliche Seele, „der feelifche Geiſt“, zugleih mit dem Leichnam begraben und bleibt in bemfelben ohne Bewußt⸗ fein bis zum Tage ber Auferftehung; an jenem Tage aber wird der himmliſche Geift Leib und Seele des Guten aus dem Grabe auferwecken und durch feine Herrlichkeit fo verflären, daß der ganze Menſch geiftig zum Himmel ſich erhebt, dagegen werben die, melde den himmlischen Geift verloren Haben und deshalb nur ſeeliſch auferftehen, durch die Schwere ihres Leibes daran gehindert, zur Höhe emporzufchweben, fo daß fie in der Erde bleiben und zur Hölle Hinabfteigen *). Den Zuftand der Seele im Grabe bezeichnet Georg felbft an einer anderen Stelle als einen fchlafähnlichen Zu ftand ohne Bewußtfein, indem er den Seelenſchlaf der Gerechten als einen füßen Schlaf fehilbert, dem nad erquicender Ruhe am Morgen ein Herrliches Erwachen folgt, den ber Böſen aber ald einen ſchweren und unrubigen, dem nach fieberühnlicher Beängftigung ein ſchreckliches Erwachen folgt ®).

2) S. Wright, ©. 181, 3. 22 bis ©. 188, 3. 10. ) Die Stelle Wright, ©. 170, 3. 5—15) Iautet folgendermaßen: „Die Gerechten ſchlafen, und ihr Schlaf iſt ihnen fÜR bei Tage und bei Rad, und dieſe ganze lange Nacht fühlen fie nicht, fondern wie eine Stunde er ſcheint fie in ihren Mugen; denn bei der Nachtwadie des Morgens erwachen fie und freuen fi. Aber der Gottlofen Schlaf ift unruhig, und fie gleichen dem Manne, ber durch heftiges und tiefes Fieber hin · und hergemorfen wird und fi auf feinem Lager hierhin und dorthin wälzt; und ſchredlich if die

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 888

Obwohl ſich nun eine ſolche Unterſcheidung zwiſchen der Seele (Yoyf) und dem Geiſte (mvsüne sc. äysov), der dem Menſchen durch die göttliche Gnade zuteil wird, auch bei anderen Kirchen⸗ ſchriftſtellern der erften Jahrhunderte findet, z. B. bei Jrenäus (adv. haer. 1. V, c. 7—13), Origenes (Comm. in Matth., T. 16, ser. 57. 62) und Didymus von Alerandrien (de trin. UI, c. 20), fo ſcheint doch die ganze weitere Ausführung biefer behre, die Schilderungen vom Seelenfchlaf und der bereinftigen Auferweckung, auf eine andere Quelle zuridzugehen und gleich fo vielen anderen Anfchauungen des Aphraates (f. 0. ©. 308) ber jũdiſchen Theologie entlehnt zu fein. Im der That findet ſich im Talmud ganz die nämliche Anfchauung, wie bei Aphraates, indem 8 Schabbath 152b Heißt, dag dem Leichnam ein Bewußtſein eigne, welches nach der Meinung einiger fo lange währt, bis der Leib derweſt ift, aber mit dem Unterſchiede, daß die Leiber der Ge⸗ tehten und der Mittelmäßigen im Srieden ruhen, die Leiber ber Gottloſen aber feinen Frieden Haben; und in einem fpäteren Werke, der Schrift“Abodath haggodesch des 1531 verftorbenen Rabbi Meir ben Gabbaj findet ſich ) ein Citat aus dem Midrasch Ruth hane'elam, wo es heißt ®): „Der Rabbi Alexander fagt: zur Zeit wenn der Menſch von der Welt abfcheidet, geht die Seele (WR) dem Leibe nach und bfeibt in demfelben, der Geift (m) aber füehet von demfelben Hinweg In das Paradies und befucht ftets den Ort der Seelen und muntert diefelben auf u. |. m.“ Hierzu bemerkt R. Meir ben Gabbaj: „Dreierlei Seelen find in dem

ganze, ihm langſam vergehende Nacht, und er fürchtet ſich vor dem Morgen, da fein Here ihn verdammt. Unfer Glaube aber Iehrt, daß die Menfchen, wenn fie in dieſem Schlafe Tiegen, feft fhlummern und nicht Gutes don Böfem zu unterſcheiden wiffen, und daß die Gerechten nicht ihre berheißungen erhalten und bie Gottloſen nicht ihre Strafe, bis daß der Richter ommt.*

3) Ya zweiten Teile (1139 phn), im Anfange des 28. Kapitels; fol. 46, ol. 2.

2%) Der Midrasch Ruth hane’elam ift ein aus kabbaliſtiſcher Überlie - ung geichöpfter fpäterer Zufag zu dem den jüngeren Midraschim zugehören« en Midrasch Ruth. Der Titel ſchon bezeichnet den Inhalt als myſtiſche ahypr eigentl.: verborgen) Auslegung.

BB Ryffel

Menſchen: die wpy (d. h. die menſchliche Seele), der mm und bie mogy, d. 5. die Seele, welcher herrlicher ift als die erfte, die we beißt. Wenn nun der vollkommene Gerechte von ber Welt ab ſcheidet, jo fährt die Du: wieder ohne jeglichen Verzug hinauf an ihren Ort und der mm geht in das untere Paradies; die ur aber bleibt bei dem Leibe, bis daß er verweſet und das Fleiſch verzehrt ift (maıpo dir nbıy mowam nbıym yo Supa Bbum prusmem 2) manaw unmon 315 mob yıp ya bie mob mm SnDıp an 3ba an baynn DB3 1y man by MANWD WEM) ....; und bie wm, welche in dem Leibe bleibt, bis er verweft, wird von dem m während diefer Zeit befucht . . . . Wenn aber das Fleiſch wieder zu Staub geworden und verweft ift . . . ., alsdann ruht der ım in dem Paradiefe aus von ber Befuhung (mrrpon d. 5. von dem Akt des Befuchens und der Innewohnung), durch melde er ben Leib, fo Lange er noch ganz (d. 5 umnvertweft) war, wegen der bei demfelben übriggebliebenen wpy beſucht Hat, und alsdann verbindet ſich die wpy mit dem ma und der mm mit der may.“ ) So ergiebt fi denn aus den angeführten Stellen, daß Aphraates auch feine pſychologiſchen Vorſtellungen den religiöfen Anfchauungen der damaligen Juden ®) entlehnte, und fomit iſt auch die von im vorgetragene Lehre vom Seelenfhlaf nicht etwa auf eine abweichende Lesart feiner Bibel⸗ (d. H. Peſchitta⸗) Handſchrift zurückzuführen, wie Georg für möglih Hält (f. o. ©. 326), fondern Aphraates Hat vielmehr den Ausdrud der mehrfach erwähnten Stelle 1.%or. 15, 44 geändert, um feine Lehre biblifch begründen zu Fünnen.

1) Gemeint ift der oben erwähnte Midrasch Ruth hane’elam.

2) Obwohl die Schrift des R. Meir ben Gabbaj, ber biefe Stelle ent- nommen Äft, aus einer viel fpäteren Zeit ſtammt, fo ift doch die im derſelben vorgetragene Lehre als eine altjüdifche zu bezeichnen, wie ja auch aus ber er- wähnten Talmudſtelle hervorgeht.

3) Eine weitere Ausführung dieſer Anſchauung vom Verweilen der Seele im verweſenden Leibe im Anſchluß an Hi. 14, 22 ift die Vorſtellung daß die Seele den Verweſungsprozeß ſchmerzhaft empfinde (f. Berachoth 18°: „der Wurmfraß ſchmerzt den Toten gleich Nadelſtichen“). Eine natürlich war rein phantaftifche Schifderung von ben Schmerzen ber mit bem Leibe ber weſenden Skele finbet fidh in Immermanns Epigonen (2. Aufl. III, 96f..

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. L

Nicht minder gehen auch die Aufftellungen des Aphraates über die Zeitrechnung der Genefis auf jüdifhe Tradition zurüd, wie Georg richtig bemerft (f. o. ©. 330)'). Anderfeits ift es durchaus den damaligen Berhäftniffen entſprechend, daß Georg die Chronologie der LXX empfiehlt, wie ja bekanntlich nicht bloß die Väter der alten Kirche ſich übereinftimmend an die LXX an geichloffen Haben, fondern auch die römiſche auf Grund der Vul⸗ gata an dem Wortlaute der griechiſchen Überfegung fefthätt. Auch im Oriente, wo dergleichen Berechnungen beſonders beliebt waren, hat man der Überlieferung der LXX den Vorzug gegeben, fowohl vonfeiten der gelehrten Muhammedaner (vgl. befonders die Licht» volle Darftellung des Verhältniſſes ber drei Berechnungen in der von Fleiſcher herausgegebenen Historia anteislamica des Abulfeba ©. 4ff.), als aud bei den Syrern. Wie vertraut man aud) bei den fprifchen Gelehrten mit diefen Fragen war, davon giebt 3. B. die Tabelle einen Beleg, die einem von Rand in feinen Anecdota Syriaca herausgegebenen fyrifchen Werke ?) beigegeben iſt und ſich in nichts von ben unferen heutigen Sommentaren zur Geneſis beigegebenen Tabellen über das gegenfeitige Verhältnis ber Chronologie de8 hebräif—hen Textes, der famaritanifchen Überfegung und der LXX unterfcheidet ®).

Auch die Frage, weshalb Noah feine Zeitgenoffen nicht vor

1) Mit den „Schriften der Juden“ meint Georg, wie ſich aus ben Zu- fammenhange ergiebt, das hebrätfche Original der altteftamentlichen Schriften. Da es aber nicht wahrſcheinlich ift, daß Aphraates des Hebräiſchen fo mächtig war, daß er den hebräifchen Tert ſelbſtändig benugen Konnte, fo ift anzunehmen, daß er die Kenntnis diefer Zeitrechnung, wie fo vieles andere, aus der judiſchen Tradition ſchöpfte, etron in ber Weife, wie wir es von Hieronymus wiffen, d. 8. indem er fi von einem Rabbiner unterrichten ließ.

2) ©. Land, Anecdota Syriaca III, 6—15 u. ſpeziell ©. 18. Die Tabelle berücfichtigt nicht die Chronologie ber ſamaritaniſchen Überfetgung, während Abulfeda in dem oben angeführten Werke and; baranf näher eingeht.

9) S. 3. B. ben Kommentar zur Genefis von Tuch, 2. Aufl, S. 9 u. 223, von Deligfch, 4 Ausg, ©. 189 u. 273, von Knobel-Dill- mann, &. 122 u. 219. Im den angeführten Kommentaren iſt auch das Nähere ber das gegenfeitige Verhältnis dieſer drei verſchiedenen Chronologieen einzuſchen.

886 Ryſſel

der drohenden Kataſtrophe gewarnt habe, iſt bekanntlich vielfach im Oriente diskutiert worden, und die Sage von der Sendung dr Noah zu feinen Zeitgenoffen, die ſich aud in den Tegendenhaften Berichten des Koran kryſtalliſiert hat wo Noah nicht weniger als 25 mal als großer Prophet und „Warner“ erwähnt wird !) —, ift jedenfalls aus dem Wunfche hervorgewachſen, daß neben der göttlichen Gerechtigkeit, die das Strafgericht Herbeiführte, aud) die göttliche Langmut nicht fehle, die dem Strafgericht eine eindringe liche Warnung vorhergehen läßt.

Biertes Kapitel. Über den orthodoxen Presbyter, der einem häretifhen Diakon Abfolution erteilte.

Betreffs der Angelegenheit (ÖrroIenıs) des orthodoxen Pres⸗ byters aber, von dem Deine britderliche Siebe geſchrieben hat, dab er einem Diakon Abfolution erteilte... . . 3) oder (sive) Chal⸗ kedon, höre in Kürze: „Wenn der Diakon, indem er frank und bettfägerig ift und ihn Angft und Furcht dor dem nahen Tode beunruhigen, bittet und fleht, von feiner Ketzerei, bevor er ftirht, entfündigt zu werden, es ift aber fein Biſchof (wörtlich: Ober priefter) oder Kurator ®) da, ihn zu entfündigen, aber eim ortho-

1) Zu dee warnenden Predigt des Sem vergleiche man die Propheten thätigfeit des Had (d. 1. Eher), melde der Koran der des Noah am bie Seite ſtellt.

2) Die Luce, die der ſyriſche Tert hier aufweiſt, iſt ungefähr fo ausıu- füllen: „... mie die Beſchlüſſe des Konzils zu... .. ober Ehalcedon geftatten.” Obwohl die Jakobiten die Beichlüffe des vierten dkumeniſchen Kom zils von Chaleedon (451) verwarfen, werben doch bie Beichlüffe des Chalet - donenſe nicht felten angeführt. Der erſte Name Iautete vielleicht Ephefns, da beide Konzilien gervöhnlich hinter einander genannt werden. Wegen bes „sive“ bes ſyriſchen Tertes, das allerdings eigentlich Identicität beider Namen voran fegen Täßt, an bie Synode meds zuv deiv 408 zu denken, bie ja ebenfo als Synode von Chaleedon bezeichnet werben Tönnte, ba dieſe Synode von einer Vorſtadt Ehalcedons, Namens „ad quercum‘, benannt ift, ift wohl wegen der geſchichtlichen Verhaltniſſe nicht ftatthaft.

8) Mit dem „Kurator“, oder bem „Kurator ber Gegend“, ober bem „Kur vator der Eparchie“ iſt ein Chorepiſtopus der Provinz (d. h. des biſchöflichen

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 887

doger Prieſter nahe, fo iſt es geftattet, daß der Priefter den Diolon entfündige, wenn der Presbpter auch nicht die Erlaubnis vom Biſchof Hat, von Ketzerei zu entfünbdigen, weil die Notwendig« feit ihm erlaubt zu entfündigen, wie dem Presbyter, welcher gegeffen Hat, zu taufen. Und wenn er ihn entfündigt Hat, fo gaiemt es fich für ihn zu dem Biſchof zu gehen oder zu dem Rurator der Gegend, und wie es diefem gut bünft, wird er feines Amtes walten. Wenn der Diakon aber, indem er gelund ift umd gehen Tann, inftändig bittet von feiner Ketzerei entfündigt zu werden, fo ift es dem Preöbpter ober dem Klausner ober dem Styliten, wenn er feine Erlaubnis dazu dat, nicht geftattet, ihn zu entfündigen, auch wenn der Diakon durcht vor dem Tode Hat infolge der Geſchwulſt (Beulentrante kit), die er hat, fondern es geziemt fi für ihn, wenn er um feine Seele beforgt ift, zu dem, der die Befugnis zu entfindigen bat, zu gehen und durch feine Hand die gefeglihe und vollfommene Abſolution won Gott zu empfangen. Wenn aber der Presbpter ſchon vor Tanger Zeit fich erdreiftet Hat, nämlich den Diakon zu entfündigen, fo ift ihm nicht geftattet, fein Priefteramt weiter zu verwalten (wörtlich: miniftrieren), bis er zu dem Biſchof oder dem Kurator der Eparchie gegangen ift, und wie es dieſem gutbünft, wird er feines Amtes walten. Daß aber ber vresbyter, welcher den entfündigten Diakon entfündigt Hat, ihm erlaubt Hineinzugehen in den Altarraum '), das iſt ganz und gar

Sprengels) gemeint. Bon Landbiſchöfen des biſchöflichen Sprengels Tann man infofern reden, als diefe Zwgertoxonos unter dem Biſchof flanden. Der f- tiſhe Ausdruck Wal bezeichnet wörtlich den „Geihäftsfährer“ und findet fih in der Peſchitia (1 Petr. 2, 25) für dntoxomos (rdv Yuyar), jo daß „Rurator der Gegend“ eine ganz wörtliche Überfegung von zwesntaxonos iR. Das daneben fiehende rn aauz bezeichnet eigentlich den „Hauptpriefter“,

(ade Yard „Priefter” von A „Presbpter”, eigentl. „Alter“, unter« ſchieden wird); gemeint iſt mit biefer Bezeichnung, bie ſich auch fonft in der ſyriſchen Litteratur findet, der Biſchof (j. Bernfteins Lexikon, ©. 483).

1) Der wörtlice Ausdruck im Syriſchen lautet: „In das Haus bes W- iars“; gemeint ift der Chorraum, das „Heiligtum“ ber Kirche.

888 Ryfſet

ungeſetzlich und ftrefbar; und nicht iſt es geſtattet, daß es ohne Erlaubnis des Biſchofs (wörtlich: Oberprieſtero) gefchieht, auch wenn es ber Kurator iſt, der ihn entſundigt hat, zumal wer er nicht von einem orthodoxen Biſchof, fondern von einem häretiſchen zum Diakon gemacht worden ift. Denn der Bifchof Hat Gebete über ihm zu ſprechen, und dann erft kann er das Heiligtum ber treten und feines Diafonenamtes warten (mörtlich: fich bedienen), felöftverftändfih aber erft, nachdem er beendet Hat bie Zeit der Buße, die ihm von dem Biſchofe zuerlannt worden ift.“ 1) Died war in Kürze hierüber zu fagen.

Die in diefem SKapitel enthaltenen Beſtimmungen finden fd dem Wortlaute nach in feiner der Konzilienfannnlungen 2). Doch giebt es verſchiedene Befchlüffe befannter Konzilien, in denen ähm liche Beftimmungen getroffen werden betreffs dieſes Reſervatrechtes der Bifchöfe, wonach nur fie befugt fein follten, durch Hand

auflegung die Wiederaufnahme (reconciliatio) reuig in den Schoß |

der Kirche zurücktehrender häretiſcher Kleriler zu bewirken. ©e | heißt es in dem 8. Kanon der Synode von Niche, daß häretiſhe

Kleriker nad erfolgter Handauflegung im Klerus verbleiben (ni vew Ev To Age) dürfen, alſo in ihrer priefterlichen Wurde anerfonnt werben (vgl. can. XIX hetreffs ber Pauligianer) 9), und in dem 2. Kanon der Synode von Ancyra 314 wird rüdfichtlig ber Diakonen beftimmt, daß die, melde geopfert Haben. zwar ihre Würde behalten follen, dag fie aber nicht zum SKirchendienfte zu⸗

1) Es iſt übrigens micht ausgeſchloſſen weder durch den Zufammen hang, noch durch den Wortlaut —, daß diefe Beſtimmuungen auf feinen Kon zilsbeſchluß zurücgehen, fondern zu ben „Ramones“ des Georg gehören (. u. ©. 297f.).

3) Eingeſehen wurden außer der Pariſer rnilienfammlung (Acta con ciliorum et epistolae decretales, Parisiis 1714) auch bie Bibliotheca iuris canonici und Affemanis Bibliotheca juris orientalis canonici et civilis (1762), bie leider keinen Regifterband hat; ferner Thomassin, Vetus ac nova ecclesiae diseiplina; Barbosa, De: ofhcio et potestate episcopi; Bingham, Origines ecel.; Hefele, Komiliengefchichte,

®) ©. aud) Aurelian. I. a. 511. can. X,

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 2

gelaffen werden dürfen (cessare vero debent ab omni sacro ministerio, ita ut nec panem nec calicem offerant nec pro- auneient) ; doch Kat der Biſchof das Recht weitere Verfügungen zu treffen. In den erwähnten Fälfen ift die Entfcheidung ausdrück⸗ Üih den Bifchöfen veferviert; dagegen find für den Fall befonderer Gefahr und der Befürchtung nahenden Todes freiere Beftimmungen Hinzugefügt worden. Während aber im 1. Kanon der Synode von Dranges 441 nachgelaſſen wird, daß in Abweſenheit des Biſchofs ad Presbyter dem Tode nahe Häretifer, die in die Kirche aufe nommen werden wollen, durch Salbung und Benediltion kon⸗ fonieren dürfen‘), jo wird in den von Georg citierten Ber fölaffen diefe auf häretiſche Laien bezügliche Beftimmung auch uf bie Kleriler ausgedehnt, indem es zwar den Preöbhtern ge⸗ fattet wird, in Abweſenheit des Biſchofs einem Diakon die Abſolution zu erteilen, wenn derfelbe dem Tode nahe oder durch ſchwere Krankheit an das Lager gefefielt ift, nicht aber in dem Falle, wo der häretifhe Diakon ſich an den Biſchof felbft wenden Tann; keinesfalls aber dürfe eim folder von einem vtresbyter wieberaufgenommene Diakon feinen kirchlichen Dienft ausüben, ohne daß der Bifchof feine nachträgliche Genehmigung zur der von dem Presbyter erteilten Abfolutien und der dadurch bon ihm vollzogenen Wiederaufnahme gegeben habe.

Fänftes Kapitel, Über Gregor, den Bifchof, der die Armenier lehrte.

Gregor, der Lehrer der Armenier, o Freund des Belehrung, war, wie aus den Worten feiner Lebenshefchreibung zu erlennen ift, feinem Geſchlechte nach ein Römer ?), aber ſchon als Kleines

i) S. auf Bibl. Jar. can., p. 145: Syn. apud Carthaginem Africa- ıorum VII, vgl. ©. 886.

2) Nach Agathangelns und Moses Chorenensis war Gregor ber Sohn tines parthifchen Firften, Namens Auag (Anaens) und wurde zu Caſaren in Cappadocien chriſtlich erzogen, wohin er durch feine Amme, eine Ehrifftn, gebracht worden war, die ihn gerettet hatte, als ber won ſeinem Water toͤdlich ver ·

30 Ryffel

Kind in das Land der Armenier gekommen, ſei es infolge der Dioffetianifchen Ehriftenverfolgung, ſei e8 aus irgendeiner anderen Veranlaffung, die uns nicht befannt ift. Und als er aufgewachſen war in dem Lande der Armenier und ihre Schrift und Sprade gelernt Hatte, breitete fich fein Name aus und wurde befannt, jo daß er einer von der Umgebung und den Hausbenmten des Künigs Tiridates wurde, der damals über die armenifchen Gebiete herrſchte. Und obwohl er an feinem Chriftentum fefthielt, fo war dies doch nur wenigen befannt. Als es aber dem König Tiridates durd einige von ihnen mitgeteilt wurde 1), berief er den Gregor zu fih und fragte ihn und erfuhr von ihm, dag er ein Chriſt fei; da wandte er die verfehiedenartigften Schmeiceleien und Drohungen and Martern gegen ihn an, damit er von feinem Chriftentume ablafjen folte, und als er nicht wollte, fo Tieß er ihn ſchließlich ergreifen und im eine Eifterne werfen, welche mit giftigem Ge wäürm angefüllt war. Und nachdem er dreizehn Jahre in ber Eifterne, in die man ihn geftürzt Hatte, gewefen war, wie es in der Lebensbeſchreibung heißt oder, wenn es Dir vet iſt, wollen wir nur drei Jahre annehmen —, 309 der König aus zum Vergnügen und zur Zierjagd. Und es fehidte Gott plöglih einen böfen Geift Über ihn, und er ward wahnfinnig und verlor

wundete König Choſrov, der Bater des Terdat, die Hinmeßelung ber ganzen Familie feines Mörders befahl (vgl. Moses Chor., edd. Whiston, ©. 1% u. 203). Bgl. v. Gutſchmid: „Agathangelos“, 3. d. DME. XXI, ©. 31. 1) Nach Agathangelus war Gregor in den Dienft des Königs Tiridates (armen.: Terdat) getreten, um die Blutſchuld feines Waters möglichft zu fühnen. Schon vorher hatte ſich Gregor, als er feines Vaters That erfahren hatte, nah Rom begeben. Nach demfelben Berichte (c. III, $ 21) erfuhr der König Ti ridates den chriftlihen Glauben des Gregor, als er ihn beauftragte, auf den Altar der Schußgöttin Armeniens, Anahit, Blumenkränze zu Iegen, nachdem Tiridates mit Hilfe des griechiſchen Kaiſers das Reich feines Vaters wieder erobert hatte. Auch im Folgenden weichen die gewöhnlichen Berichte vom den Angaben Georgs ab. So wird von Agathangelus ausbrüdlic erzählt, dab eine fromme Witwe ben Gregor während feines 13jährigen Aufenthaltes in ber Grube ernäßrt habe, und nicht das Weib, ſondern die Schwefter des Königs Habe ihn auf Gregor aufmerkſam gemacht, nachdem fie durch ein Traumgeficht erfahren Hatte, daß Gregor noch am Leben fei und ihn allein heilen könne.

Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber ıc. A

feinen Berftand und zerbiß fein Fleiſch; da erinnerte er ſſich des Heiligen durch die Sorge feines Weibes und er fandte in, ihn aus der Eifterne herauszuholen, und als Gregor über ihm betete, ward er geſund. Da dies gefchehen war, kamen num auf Befehl des Königs und duch die Furſorge des Heiligen die Gegenden Atmeniens zum Chriftentum. Hierauf, weil fie durchaus einen Biſhof brauchten, fandte der König angefehene Männer, bie er berufen und dem Gregor beigegeben Hatte, mit diefem zu Leontius, dem Biſchof und Metropofiten von Cäfaren in Cappadocien, damit er den Gregor zum Biſchof defigniere. Als diefer die Männer aufgenommen und ihren Wunſch erfüllt Hatte, entließ er fie in Frieden und in Freude von fit). Indem der Heilige num bie Gegenden Armeniens verwaltete, baute er feitdem Kirchen und After auf Befehl des Könige und mit eifriger Unterftügung der Großen feines Reiches, und er defignierte und ftellte an ihnen 0. $. den Kirchen) Presbyter und Diakonen an, indem er ihnen auch Geſetze und Verordnungen gab, wie es ihm gutbünfte. Und naher, als fich die Heilige Synode zu Nicha verfammelte, kam ud er hinauf zur Synode mit dem heiligen Leontius, ber ihn um Biſchof gemacht Hatte. Dies iſt der einfache und ſehr ver» fürte Bericht über Gregor, den Lehrer der Armenter.

Es ziemt ſich aber, wie wir meinen, um unferem Berichte größere Glaubwürbigfeit zu verleihen, daß wir auch einige wenige Borte aus der Lebensbefchreibung diefes Mannes anführen 2), welche alfo lauten: „LZur Zeit, als Diotletian über die Römer berrfchte, gleichzeitig aber auch Tiridates über die Parther und Armenier], da Hörte Tiridates, daß Lin feinem Palafte ein Mann mit Namen] Gregor Ljei, welcher die Götter nicht verehrte, fondern]

1) Uber die Weihe Gregors zum Bifchof durch Leontius |. v. Gutſchmid, Ayathangelos, a. a. D. ©. 59, vgl. ©. 56.

%) Um Raum zu fparen, teilen wir nicht den Wortlaut des griechi Men Originales mit, fonbern begnügen ung mit eimer Kenntlichmachung ber wörtlich übereinfimmenden Stellen durch Ausſcheidung alles beffen, was in den fyeifehen Gitnten George Hinzugefägt iR, indem wir biefe Bufäge in ecige Rammern einfließen. Fehlen bagegen Im ſhriſchen Terte Limelne Worte ip. Satze, jo iſt dies durch Punkte angedeutet.

Tpeol. Stab. Dahrg. 1883. 23

2 Ryıter

von der Religion der Ehriften ſei. Diefen fuchte er, lals er iin zu ſich gerufen Hatte], durch viele Drohungen zu erſchüuttern (eontinuo coepit increpare variisgue modis indignationem suam ostendere).* 1) Und turz darauf: „Da begann der Künig zu ihm zu fagen: Als ein Frembling und Heimatloſer bift du zu uns gelommen [und bift vieler Ehre und Anszeihnung von uns gewürdigt worden]; wie kannſt du jetzt wagen, den Gott zu ver ehren, den ich nicht verehrte." 2) Und viel fpäter: „Der Selige aber blieb in der Eifterne Doon bösartigem Gewurm], in welche er geworfen worden war, dreizehn (quatuordecim) Jahre [indem er vor dem bbſeu Gewürm bewahrt wurde durch Die Güte Gottes] *)." Und nad) anderem: „Und es befahl det König, fein Heer zu ber Sammeln, daß fie zur Jagd hinauszögen. Als dies aber geſchehen war und die Wagen angefpannt Waren und er auf feinen kouiglichen Wagen fieg, um fich zu ſetzen, . . . da ward der Zorn (ca stigatio) Gottes über ihn geſchickt, und es ſchlug ih der böle (immundus) &eift und flürzte ihn ans feinem Wagen auf das Angefiht zut Erde, und er firg an zu raſen und vom ſeinem Fleiſche mit ſeinen Zahnen [zu zerflelſchen und] zu eſſen (wei vos ldiæc adigxag zanedHew)." ) Und weiter unten: „Der Heilige

1) &. Acta Sahıctorüm, Sept., T. VIII, p. 880sgg. “Die Stelle finde fich tm 8. Rapitel (8 17) der Biographie des Agathangelub (geieditkher Lai mit lateiniſcher Überfegung). Die Ahrweidiungen des fyoifhen Eitates am Kar fange gehen jedenfalls nicht anf einen anderen Text zusüd. Bielmehr fügte

u die einleitenden Worte Hinzu, um ben Zufammenhang herzuftellu |

fo fheint er auch am Schluffe willtürkich den Mortreichtum feiner nee vermindert zu Haben, wie aus einer Vergleichung wıtt ben beigeſetzten Worten dee Originals Herborgeft. So kurzt Georg $. B. and die Schlaßphreſe det von ihm unten (f. ©. 344) citierten Berichtes aus Euſebins (Hist. ecd. VII, 28) ab, indem er einfach fagt: „unb viele andere, welche amfgmählen niemand vermag*, indem er ſich dabei mit Ruſinus: „ques longum est enu- merare per singulog“ berührt.

2) A. 0. ©. cap. II, 8 22.

9.0 O. cap V, 6

4) A. a. O. cap. VIEL, $ 69. Mer Anfang ber Stelle, den Gregor wieder zuſammengezogen Hat, lauitt folenbetumfien: „,Deinde veludt exire ad vens- tionem cum agmine (srgarauuem) sao: Cumque pedites line pararat et

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. us

Gregor aber . . . beugte feine Kulee zur Erde und flehte Bott dm Allmärhtigen an, daß er dem Könige Heilung verleihe. Und fihe, eine Stimme vom Himmel ward bei ihm vernommen, welche ſprach: Gregor, ſei ſtark und ermanne dich, da ich mit bir bin 6 and Ende; du follft mir Kirchen bauen und mir eine Wohn flätte meiner Heiligen errichten und ihr Horn erhöhen; und die⸗ mil du vor mir gebetet Haft, fiehe, fo Habe ich dich erhört und deine Bitte, bie du don mir erbateft, fiche, Habe ich dir gewährt. Und als dies zu dem Heiligen gefagt worden war, wandte er ſich m dem Könige und berüßete feiie Hände und feine Füße und brachte ihn zur richtigen Menſchermatur zuruck durch die Kraft unferes Herrn Jeſus Chriſtus.“ 1) Und nach anderem weiter: „WIE es aber der König Hörte, freute er fich und lobte Gott und befahl, daß fd die Erfahrenen und Ehrwürdigen unter den Satrapen und Broßen des Reiches verfannmeln folkten und mit dem feligen Gregor n das Land Cappadocien nu der Stabi Caſarea gehen, damit der ſelige Sregor ſchnell bie pricfterliche Warde empfange und nach dem Lande Armenien gurüdtchre. Und nachdem fie auf ihrem Bege nach Eäfaren gekommen waren, erſchlenen fie dor dem feligen Leontius, dem dortigen Biſchof; und als fie ihm dies vorgetragen hatten, machtt er den Gregor zum Biſchof, indem er die unter ihm fichenben Biſchbfe verfammelte und zu fich berief.“ *)

disvesetri essent Ad venationem in extapum ... rex currum suum uaeren · dt“ m. ſ. w. Das Folgende ftimmt wörtlid; überein.

2) Die Stelle findet fi Mile in ber MWioguaphle des Agathanselud, teils im der Mirgeen Biogtaphie, die nur Jateinif vorhanden if. Da die Übereimfinsrmung deine wöstfidhe iR, fo Seifen wir bie paralleien Stellen nit: „et u, inquit, confide, confortare et secarum te redde, quia opus ad ınamus was pervenit ...; sedificabis autem templam Dei nomine in loce tibi tenso“ (Agath., cap. X, $ 120, p. 379); dagegen aus ber Enten. Väta: ‚et cam complesset orstionem, apprehendans maaum regis signo orueis acto eum a dsemonio Hberavit‘“ (op. IH, & 86, p. 411). Sm ber Dar⸗ kung bes Wgothangelius 5 194 1. 127) iR viel von dem Heiligen Marthrern ie Rede; auch ift der Heilungsbericht weiter ausgeführt; jeboch berichtet auch t von einer Biſion, von der Gregor ſelbſt Mitteilung ınncht.

2) Auch dieſe Stelle Hat Meer Parallele mt in ber geöferen (. cap. XID), more in ber Miogere fatein. Tita, wo «8 (cap. IV, 5 88, p. 412) heit

23

84 . Kyſſel

Dieſes wenige haben wir aus der ausführlichen Lebensbe ſchreibung über Gregor bier angeführt; das aber, daß er einer von den 318 Bifhöfen auf der Synode zu Nicha war, wird aus den Alten (merrgayusva) der Synode erkannt, in welhen auch von Leontius von Cäfaren und Cappadocien berichtet wird, daß er der Synode beimohnte. Die Anweſenheit des Leontius wird aber auch durch den Heiligen Gregor den Theologen bezeugt, welcher in feiner Rede bei der Beerdigung feines Vaters )) fügt, daß Leontins der Große, als er an Arianzus vorüberreifte, um nad Nicha gegen den Wahnwig des Artus zu gehen, feinen Bater lehrte und ihn taufte und ihn zum Chriften machte.

Aus dem, was wir über den Armenier Gregor und über die Zeit, in welcher er lebte, gefagt Haben, geht weiter auch das unferer Meinung nad hervor, daß er nicht einer von ben drei Heiligen Gregoren war wir meinen weber ber Wunderthäter, noch der Biſchef von Nyſſa noch der Theologe —, fondern daß er jünger ber Zeit nad ift als der Wunderthäter, aber älter als die beiden anderen, wit wir im Folgenden zeigen werben. Gregor ber Wunderthäter näm lich, welcher Biſchof der Stadt Neocäfaren in der Landichaft Pon- tu8 war, ‚lebte befanntlich zur Zeit des Kaiſers Aurelianus und war einer von den Biſchöfen, welche fi in der Stadt Antiochien gegen Paulus von Samofata verfammelten, wie dies Euſebius im 27. und 28. Kapitel des 7. Buches feiner Kirchengeſchichte meldet 9). Es find aber von Kaiſer Aurelianus und der Syhuode,

„Tune rex ingenti gaudio et exsultatione repletus cum omni gloria et honore 8. Gregorium ad Leontium venerabilem praesulem Caesarese delegavit ... Caesaream in paucis diebus ... pervenit. Quo cum per venisset, tam a Leontio venerabili archiepiscopo, quam ab omnibus c- vitatis illius hominibus cum ingenti honore ... susceptus est ... Mittens ergo archiepiscopug per universam dioecesim guam legatos, omnes epi- scopos suse ditioni subiectos in Caesarea congregari mandavit ... Quibus congregatis in unum et manum super caput ipsius ponentibus, B. Gregorius ... potestatem ligandi et solvendi cum honore pontificatus accepit.“

1) Greg. Naz. Oratio XVII. Funebris in patrem, c. XII.

2) Im dem von Georg aus Eufebins im ganzen wörtlich mitgeteilten Titate iſt befonders auffällig, daß er ſchreibt: „Gregorius und Theodor,

Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber ıc. 35

welde den Paulus von Samofata exkommunizierte, bis zu dem gläubigen Kaiſer Konftantin und der Synode zu Niche 55 Jahre °); und ebenfo find von der Synode zu Nicha bis zu ber heiligen Spnode der Eingundertfünfzig, welche ſich verfammelte zu Kons fantinopel in den Tagen des großen Kaiſers Theodofius 2), ber« felben, auf welcher das göttliche Baar wir meinen Gregor, den Viſchof von Nyſſa, und Gregor den Theologen, den Biſchof von So— fing und Nazianz war, wiederum 55 Jahre, woraus ganz Mar hervorgeht, daß diefer Gregor der Armenter ein anderer iſt als bie brei übrigen obengenanuten, wie wir auch oben gejagt haben. Betreffs des legten aber, was Du gefragt haft: „Wenn dieſer Gregor rechtglaubig war, was iſt das dann für eine Anficht, die er die Armenter lehrte, daß fie nicht Waffer mit Wein in ben Kelch des Wendmahles gießen ſollten?“ fo wiſſe, daß er dies, daß fie nicht Baffer in den Wein gießen follten, feinen Untergebenen befehlen fonnte, wenn er vechtglänbig war und wenn er nicht rechtgläubig bar; denn das, daß er befichlt, Waffer in den Wein zu gießen oder nicht zu gießen, kennzeichnet ihn nicht als einen Rechtgläubigen der als einen Nicht ⸗Rechtgläubigen, da es auch heutzutage viele Niht-Mechtgläubtge giebt, welche Wafler in den Wein des Abend- mehlskelches gießen. Werner aber hat ihnen Gregor gar nicht bes fohlen, daß fie nicht Waffer in den Wein gießen follten, oder daß viemand das Abendmahl nehmen ſollte außer am Heiligen Feſte der Auferftehung die Presbyter und Diafonen und der Knabe

welche Brüder waren”. Da nun feine einzige geiedjifche Handſchrift diefe %sart Bietet, fo müfjen wir annehmen, baß Georg Hier flüchtig, vielleicht aus dem Gebächtniffe, citiert Hat, indem er dabei den Namen des Bruders Gre⸗ gors, Athenoborus, mit dem urſprünglichen Namen Gregors felber, Theodorus \ Euseb. Hist. eccl. VI, 80), ben diefer nad) der Gitte feiner Zeit bei ber Taufe mit dem Namen Gregor vertaufcht hatte, verwechſelte (j. meine Schrift Gttgorius Thaumaturgus“, ©. 1). Bl. ©. 342, Anm. 1.

2) Die einzelnen Poften der Berechnung von Aurelians Regierungsbeginn 270, alfo eim Jahr nach ber 269 abgehaftenen Synode zu Antiochien gegen Paulus von Samoſata) an find richtig, nur Täßt Georg auf Diokletiau (bis ’08) fogleich Konftantin (von 306 an) folgen.

3) Gemeint ift die zweite öfnmenifche Synode (881).

bas Ryſſel

allein ausgenommen —, oder daß fie nicht Bilder in ihren Kirchen machen follten, wenngleich fie dies von ihm berichten. em aber Gregor auch ihnen dies als Geſetz auferlegte, wie fir fagen, fo Haben fie zu bedenken, daß ihr Gregor nicht größe und vorzüglicher iſt als die heiligen Mpoftel, welche beinahe in allen Kirchen unter bem Himmel überliefert haben, daß man Baflır mit dem Wein im Abendmahlgkelche zufammengießen folle, nämlid Petrus und Paulus in Antiochien und in Rom und im ihren Ge⸗ bieten, Paulus aber und Johannes in Gphefns und Byzanz und in ihren Provinzen, Lukas aber und Markus in Alexandrien und in Ügppten und in allen umliegenden Gegenden; und won ihren ward fortgepflanzt und verbreitet die Überlieferung in alle Kirchen der übrigen Chriften bis heute. So Haben mir nun vier Par triarchenſtuühle, welche hezengen, daß man Waſſer in den Wein im Kelche des Abendmahls gießen fall; fie aber Haben micht einen Zeugen außer das Herkommen, das bei ihnen befteht, Und wenn von Dir, wie Du fehreibft, ein Armenier verlangt hat, Du möt- teft ihm aus dem Evangelium nachweiſen, daß Waſſer in dem Beier war, den unfer Herr feinen Süngern gab, oder daB es für und fich geziemt, Waffer in den Kelch zu gießen, fo Könnte ebenſo ah verlangt werben, man möge aus dem Goangelium nachweiſen, dab nicht Waffer in dem Kelche war oder daß es micht für und ge ziemt, Waffer in den Abendmahlskelch zu gießen. Aber viellecht konnte er ſagen, es ſtehe im Evangelium, daß unſer Here zu ſeiuen Jungern geſagt Habe: Wahrlich, wahrlich, ic ſage Euch, daß id nicht wiederum von dieſem Gewüchs des Weinſtocks trinken werk, bis daB Ich es neu trinke mit Euch im Reiche Gottes 1), und darıt, daß er ſage: „Gewächs des Weinſtocks“, fei Mar, daß reiner Wen in bem Becher gemwefen ſei und nicht mit Waffer gemifchter Erin. Aber er möge weiter Hören. WI man etma behaupten *), dej

1) Matt. 26, 29; vgl. Mark. 14, 25. Luk. 22, 18.

2) Worilich lautet der ſyriſche Ausdrud: „Was mm?” (vgl. vi ol), um auf bie falſchen Konſequemen Binzuweifen, welche fiih aus einer jo mir: lichen Auffoffung der eimelnen Anpbrüde des Schriftwortes Matth. 26, 3 ergeben.

Ein Brief Georgs, Viſchofs der Araber ıc. M

er „in dem Meiche Gottes“ d. h. in der Zeit nach feiner Hufe erſtihung, als unfer Erlöfer af und trank mit felnen Jungern in menſchlicher Weiſe (olxovonixus, |. 0. ©. 322, 3. 25), um feine Auferftehung zu beftätigen, während der vierzig Tage, die er bei ifnen hlieb, wie gefegrieben fteßt mit feinen Züngern unge miſchten (dxggsorv) Wein getrunken Habe, fo oft fie aßen und tranfen? Und wer ift fo abfurd, daß er dies behaupten wollte, anögenommen etwa der, welder behauptet, daß in dem Meder, den unfer Here unter Lobpreis und Segenefpruch nahm und aus dem feine Jünger tranten (ſ. Watth. 26, 27), niet Waffer war, fordern nur Wein? Aber wenn jemand, fo wie es ſich geziemt, diefe veriwerfliche Meinung und ihre anderen, bie ich oben angeführt babe, widerlegen wollte, fp würde er viele Worte und eine bes ſendere Darlegung nötig Haben; wir aber wollen diefe Trage jetzt berlaffen, um zu einem anderen von Deinen Kapiteln überzugehen.

Obſchon wir aus dem kurzen Berichte, den Georg über das &ben des Mpoftels her Armenier giebt, nichts Neues erfahren, fo iſt doch feine Darftelfung wegen ber aus feiner Quelle wörtlich, angeführten Belegſtellen nicht ohne Wichtigkeit, weil wir dadurch einen Einblick in die Quellen des Lebens des Gregorius Jllu⸗ minator überhaupt erhalten. Dies ift um fo wertvoller, weil wir fonft nur aus dem Inhalte der Quellen felber auf das gegen« feitige Verhältnis derſelben Schluffe ziehen können und weil bie Citate George, nach denen wie bie von ihm benupten Quellen beflimmen konnen, aus einer vefatio frühen Zeit ftammen. Was fi ans einer Vergleichung unferer Citate mit den verſchiedenen Quellenſchriften ergiebt, ift in Kürze Folgendes: Die Citate find, wie oben im einzelnen nachgewiefen worden ift, teils der Biographie des Agathangelus ?), teils der kürzeren Mita entnommen, die gleich

3) Der Berfaffer dieſer Bingraphie, bes fid; Agathangelus nennt, d. h. der mbelannte Berfaffer, der umter deſſen Namen ſchrieb, bezeichnet fich felbft als inen Beitgenoffen Gregors, wagegen aber grobt Anachronlomen ſprechen. Da⸗ ud lduute ber im 4. Jahrhundert lehende Agathaugelus, der Geheimſchreiber

38 Ryſſel

dem griechiſchen Texte des Agathangelus in ben Acta Sanctorum (Sept. [30.], VII. Band, ©. 320ff.) abgedruckt worden ift. Diefe kürzere Darftellung des Lebens Gregors, welche von einem un befannten Verfaſſer vielleicht aus dem 9. Jahrhundert ftammt und einem Manuſtripte der‘ Barberinifchen Bibliothek in Rom ent nommen wurde, geht auf die ausführlichere griechiſche Biograpfie zurück, jedoch fo, daß die kürzere nicht ein bloßer Auszug der längeren, ſondern eine freie und felbftändige Bearbeitung derſelben ift. Während man nun bisher *) annahm, daß der Verfaffer diefer Iateinifchen Schrift auf Grund des griechifchen Originals der au& fuhrlichen Lebensbeſchreibung refp. einer lateiniſchen Überfegung derfelben fein Werk niedergefchrieben Habe, geht aus dem Gitaten bei Georg hervor, daß auch diefer Tateinifchen Vita ein griechiſcheb Original zugrunde Tiegt, welches eben dem Gregor zugleich mit der ausführlicheren Biographie Gregors vorlag. Wir laſſen dabei die Frage offen, ob Georg von ber Schrift des Agathangelos, die armenifch 2) und griechifch vorhanden ift indem der armeniſcht Text feines Stils wegen der urfprüngliche ift —, die griechifche ober die armenifche Recenfion vor fich Hatte, was auf Grund der wenigen von ihm citierten Säge auch gar nicht zur Entſcheidung gebradt werden kann; und ebenfowenig läßt fich fagen, ob ber von une poftufterten griechiſchen Schrift, welche der Meineren, nur lateiniſch vorhandenen Vita zugrunde Liegen muß, nicht wiederum ein ar menifcher Urtert zugrunde Tiegt; da ferner Georg nur von einer Biographie (f. ©. 344) ſpricht, aus ber er fchöpft, fo märe ch aud nicht undenkbar, daß beide Biographieen auf einen gemein ſamen entweder armenifchen oder griechiſchen Bericht zurüd:

des Königs Tirkdates, nur dann der Verfaffer fein, wenn alle jene Stellen, in denen ſich hiſtoriſche Verſtöße finden, fpätere Interpolationen wären, wat an und für ſich unwahrſcheinlich ift (vgl. v. Gutſchmid a. a. O., ©. 10)

1) &. Acta Sanctorum, Sept., T. VIII, bie Einleitung zu den beiben Biographien Gregor, ©. 295ff., und fpeziell Kap. IV: „Quae et qualia sint S. Gregorii Acta cum Graeca tum Latina ... et vitae aliquot re centiores.“

2) Der armenifde Tert if mehrfach gedrudt worden, zuletzt Benedig 1862; eine itafienifche Überfegung der Ausgabe von 1835 erſchien Venedig 1843.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 39

gehen könnten. Cine ungelöfte Frage bleibt auch infofern ftehen, als auffälligerweife der Bericht Georgs in verfchiedenen Punkten von dem Berichte der von ihm benußten Biographieen, mit deren Text doch die von ihm mitgeteilten Eitate faft wörtlich übereinftimmen, nicht unweſentlich abweicht (f. 0. ©. 340, Anm. 1). Mit der Ler bensbefchreibung des Simeon Metaphraftes (um 900) Haben weder die Eitate Georgs, noch die Schriften, denen fie entnommen find, irgendetwas gemein, obwohl eriwiefen ift, daß der Metaphraft die größere Biographie benußte, was, wie erwähnt, auch der Verfaſſer der Meineren Schrift, aber unabhängig vom Metaphraften, gethan Sat; ebenfowenig mit den anderen auf das Leben Georgs bezüg⸗ lichen Schriften, die in der Einleitung zu der Publikation des griechiſchen Textes der Vita des Agathangelus noch namhaft ger macht find *).

Bon allen dieſen Berichten, bie wenigftens dem Stoffe nad) ſamtlich unter einander zufammenhängen, weichen in wichtigen Bunkten die allerdings nur kurzen Notizen ab, welde der berühmte armenifche Geſchichtſchreiber Moſes Chorenenſis, der wahrſcheinlich am Anfange des 5. Jahrhunderts geboren iſt, in feiner „Geſchichte der Armenter“ über Gregors Leben giebt *). Befonders auffällig iſt es, daß Mofes von Khorni nichts von der Anweſenheit Gregor auf der Synode von Nice weiß, fondern ausbrüdtich erzählt ®), daß Gregor es ablehnte, nach Nicha zu reifen, „um nicht von den berfammelten Vätern als Konfeffor allzu fehr geehrt zu werben, obgleich der Kaiſer den König Tiridates wenngleich ohne Erfolg bitten fieß, den Gregor zu fenden. Nach dem Berichte des Mofes

1) ©. Acta 8. a. a. D., Ende des 4. Kapitels. Alle dieſe Schriften, verſchiedene lateiniſche Überjegungen aus dem Armeniſchen und vier italieniſche Biographien, ſtammen aus dem Mittelalter ober aus noch fpäterer Zeit.

2) Bgl. befonders Wh. II, Kap. 77 der 1736 erſchienenen Ausgabe der Gebrüder Whifton, welches von der Erziehung und ben Sitten Gregors und feiner Söhne u. ſ. w. handelt. So ift z. B. aud) in den Acta Sanctorum a. a. D., ©. 317 ($ 116 der Einleitung) ausdrüdlich darauf aufmerkſam ge» macht, daß bei Mofes von Khorni durchaus nicht gejagt werde, Gregor habe die ganze Zeit von 13 Jahren in dem Kerker verbracht.

3) So B. 2, Rap. 86: Bon dem Ketzer Arins und bem über ihm gehale tenen Konzil zu Nicäa, forvie über das Wunber bei der Taufe Gregors.

Rviſel

Chorenenſis ſandte man nun Gyegors Sohn Ariſtarx, von dem er auch weiter berichtet, daß er bei der Taufe des Vaters Gregort des Theologen zugegen gemefen fei und mit Leontius und dem Ur enlel Gregors Jakob von Nifibis gejehen habe, wie ein Licht, das vom Waſſer der Taufe ausging, den Täufling umflutete, was Georg oben gleichfalls als ein Erlebnis des Armenierapoftels Gregor berichtet. Die größere Glaubwürdigleit kommt Hierbei dem Mofes EHorenenfis zu, wie auch der Name des Ariſtax, wenns gleich verftümmelt, fih unter den Namen der in den Alten des nicänifchen Konzils verzeichneten Biichöfe findet.

Betreffs der am Schluffe des Kapitels behandelten Trage, ob Gregor berechtigt gewefen fei, feinen Armenien bie Miſchung des Abendmahlsweins mit Wafjer zu unterfagen, fo fei in Kürze darauf hingewieſen, daß die ganze alte Kirche nur mit Waffer vermifchten Dein (zgäue) genoß *). Während aber in der abendländiſchen Kirche betont wurde, daß ber Wein das vorherrfchende Clement bleiben müffe *), fo ließ man in der griechifehen Kirche das Quantum des Waffers überwiegen, ja, bei den Syrern konnten drei Vierteile des Abendmahlsweines Waffer fein. Hieraus erklärt es ſich auf, daß die Sprer an dem Genufje ungemifchten Weines im Abendmahl als am einer unberechtigten Eigentümlichteit der Armenler Anftoh nahmen, um ſo mehr, als unter ben Chriften jener Zeit eben nur die armenifchen Monophyſiten ungemifchten Wein gebrauchten; und es zeugt fr den freien Blick Georgs, daß er diefe Sitte gemifler- maßen für ein adıayogov erklärte.

Diefe Erläuterungen zum 5. Kapitel find ohne Berückſichtigung des Auffages von Alfred v. Gutſchmid über „Agathangelos* (Zeit

1) Der Grund hierfür lag wohl nicht in astetifcger Weinfchen (ſ. Rüdert, Das Abendmahl, fein Weſen und feine Gefchichte in der alten Kirche, S. 456), fondern darin, daß man Überhaupt im Altertum ben Wein mit Waſſer meifte.

9) Doch findet ſich auch bei Cyprianus der Ausbrud: „oalix mixtug vino“ (ogl. Gregor von Nyffa: Üdwg oivp jdusuevor), duch welchen das Waſſer ale der Hauptbeftandteil, dem man dem Mein nur beimiſcht, bezeichnet wird. S. Rüdert a. a. O., S. 456, vgl. ©. 406.

Ein Brief Georgq, Viſchofs der Araber ıc. BB

fgrift der DMMG. XXI, 1— 60) abgefaßt worden. Es wird deshalb im Folgenden nachgetragen, was aus diefem Auffage für bie oben behandelte Frage über das gegenfeitige Verhältnis ber Quillenſchriften des Lebens Gregprs des Armenierapofteld von Wichtigkeit iſt.

Nach den ſcharſſinnigen Unterſuchungen A. v. Gutſchmids iſt von den verſchiedenen Beſtandteilen der Geſchichte des Könige Terdat und des heiligen Gregor, die unter dem Mamen des Agas thangelos überliefert ift, das „Reben des Heiligen Gregor“ ber Siftorifch wertoolifte. Und zwar ift ber Zeil des „Bebens des heiligen Gregor“, welcher die Belehrung der Armenier und das, was ſich nad ihrer Belehrung begeben, enthält, im ftrengften Sinne des Wortes geſchichtlich und darf ala eine Quelle von ab» feluter Glaubmwihrdigfeit betrachtet werden; der erfie Zeil aber, welcher fi mit den Thaten des Königs Khofrod und Terbat und des Gregor bis zu feiner Belehrung ber Armenier befchäftigt, ift wenigſtens in den Grundzügen hiftorifch, wenn auch „uerflärte Ger ſchichtt“. Auf- Grund einer Prüfung ber geſchichtlichen Glaub» würdigleit des Kernes dieſes „Lebens des heiligen Gregor” kommt v. Gutſchmid (S. 52 ff.) zu folgenden Aufftellungens Die Ans Inäpfung der Jugendgeſchichte Gregors an die Jugendgeſchichte des Terdat ) ift wahrſcheinlich unbiftorifh; der mahre Sachverhalt feint darin, daß Gregor in Gäfaren aufgewachfen ift und Terbat ihn als „einen Fremdling und unter uns unbefannt“ bezeichnet, noch durchzuſchimmern. Denn die Entdeckung, daß Gregor Sohn des Qonigsmörders Anak ift, bleibt etwas Nebenſächliches, das one

2) v. Gutſchmids Prüfung der Berichte über das Jugendleben bes Terdat (ogl. o. S. 339, Anm. 2) ergiebt in Kürze Folgendes (a. a. D. ©. 40ff.): Die Ermordung des Königs Khoerov im Jahre 238, der von feinen Brüdern im Einverflänbniffe mit ben Perfern ang bem Wege geräumt wurde, blieb zu- nachſt one allen Einfluß anf die Geſchicke Armeniens; es folgte dem Er - mordeten fein Sohn Terdat im zarteſten Kindesalter. Erſt ſpäter gelang es den Perſern im Bunde mit ben Brüdern bes Khosrod 252 ober 253, dein Terdat, ehe er noch erwachſen war, zu vertreiben und ſich Armeniens zu be mächtigen; und zwar war nicht Artaſhit, ſondern fein Sohn Shapur der Er- oberer von Armenien. Später aber ging Armenien ben Perſern wieder ber« Toren, und Terbgt Tonne in fein wäterfiches Reich zurücklehren.

32 Ryſſel

Einfluß auf den Verlauf der Handlung iſt: auch der Biograph motiviert das eigentliche Martyrium des Gregor dadurch, daß Ter⸗ dat nach dem Beiſpiele der römiſchen Kalſer gegen die Chriſten | einzufchreiten für nötig hält. Die Bebrängung Gregors um feines Epriftentumes willen läßt der Biograph fehon während der Ber- bannung Terdats auf römifhen Boden beginnen, indem damals die Kirche vom römifchen Kaifer verfolgt worden fei. Dies ente | fpricht wenigftens der Zeitlage: in der That fällt in den genannten | Zeitraum die Valerianifche Chriftenverfolgung. Das Martyrium Gregors und die Umftände, welde die Belehrung des Könige herbeiführen, tragen zwar auch beim Biographen den Stempel des Wunderbaren; es fpricht dies aber, angefihts ber Herrfchenden An- | ſchauung der Zeitgenoffen, nicht gegen die Glaubwürdigkeit. Der Kernpunft, daß die Belehrung der Armenier von oben herab erfolgt ift, wirb auch durch Sozomenus fichergeftellt; wie aber das von oben herab befohlene Chriftentum fo raſch tiefe Wurzeln hat | faffen Können, wird durch die überaus wertvolle Nachricht, die der | Biograph und aufbewahrt Hat, begreiflih, daß nämlich Gregor den Armeniern armenifch predigte. Die große Glaubwürdigkeit des Biographen bewährt ſich auch in feinen Angaben über das, was fi nad) der Belehrung zutrug: daß Gregor die Ordination in Gäfaren erhalten habe, daß R'eſtales oder, wie andere ihn nennen, Ariftats (d. i. Ariftar) der armenifche Katholikos war, der nad) Nicia ging, und daß des R'eſtalss Vater Gregor dar mals noch Tebte und zu den Canones des Nicänishen Konzils Zufäge machte, die ſich auf die fpeziellen Berhältniffe der armenifchen Kirche bezogen, drei hiftorifche Thatfachen, für die v. Gut ſchmid durchſchlagende Beweiſe beibringt (S. 56F.).

Ganz ander Tautet die Antwort auf die Frage mad ber hiſtoriſchen Glaubwürdigkeit ber „Alten des Heiligen Gregor und der Heiligen Rhipſimen“. Diefe Frage fann faft nur für bie Bartieen aufgeworfen werben, welche mit dem „Leben des Heifigen Gregor“ parallel laufen; dem Reſte ftcht der unhiſtoriſche Charakter meiftens an der Stirne gefchrieben. Das Beſte an ber Überfiefernng der „Akten“ ift, daß ihr die Anknupfung des Gregor an den Königemörder Anak, durch welche übrigens das Geſchlecht,

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ac. 368

in weldem von Gregor an bie Würde des armeniſchen Katholitos forterbte, zu einem arfafidifchen gemacht wird (ſ. ©. 33), fremd iſt, fo daß in biefem Falle fich das „Leben“ ans den „Alten“ lontrollieren und berichtigen Täßt. Auch die Abweichung, daß Gregor 15 ftatt 13 Jahre im Verlieſe zubringt, braucht nicht von vornherein verworfen zu werden. Völlig wertlos ift es dagegen, daß die „Akten“ die Einführung des Chriſtentums unter Diokletian und in der Zeit der Verfolgung, alfo etwa 304 (jo in der Ein- leitung der Acta Sanctorum) fegen; dies beruht nur auf der Einmiſchung des Martyriums der Nhipfimen (d. 5. der Beiligen Rhipfime und Ihrer Gefährtinnen), deſſen gefchichtlicher Wert gleich Rull ift (f. ©. 68f.), was aud von des „Viſion des heiligen Gregor“ und den anderen Zutaten des legten Bearbeiters gilt. Dagegen folgen auf den völlig ungefchichtlichen Bericht über die Translation der Heiligen Rhipfimen in den Akten wieder Stücke, die mit dem „Leben Gregors“ parallel Taufen und es zu ergänzen ſcheinen, ‚namentlih die Reife zur Ordination nach Caſarea (f. ©. 59, vgl. ©. 18ff.); doch ift auch Hier der hiſtoriſche Ger binn aus diefen Ergänzungen ein völlig illuſoriſcher.

Eine Vergleichung des Berichtes, den Georg auf Grund der von ihm benußten Biographie des Gregorius Illuminator giebt (. 0. ©. 3309ff.), mit diefen Ergebniffen der Unterfuhung A. dv. Gutſchmids giebt folgendes Nefultat: Georg Hat nicht das Reben des Heiligen Gregor“ vor fich gehabt, welchem aber Mofes von Khorni, der fih auf Agathangelos beruft, folgt (fo betreffs der Anknüpfung der Genealogie des Gregor au den Königemörder Anat ©. 339, Anm. 2 und der Erzählung von der Reife feines Sohnes Ariſtax nad Nicia S. 350). Vielmehr ſcheint er die „Alten des heiligen Gregor“ benutzt zu haben, mit denen er zumeift feinen Stoff gemein bat. Denn auch Georg Hat nichts von einer Anknüpfung an den Königsmörder Anak (f. o. ©. 339f.) und verlegt die Einführung des Chriftentums in Armenien unter Dioffetian (ſ. o. S. 341); anderſeits findet fich jedoch auch eine Abweichung, wenngleich nur in einem ganz unweſentlichen Punkte, der auch fonft dem Schwanken unterworfen war (ſ. o. ©. 342, dgl. v. Gutſchmid ©. 15 u. a.), nämlich darin, daß er 13 Jahre,

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nicht wie die „Alten“ 15 Jahre des Aufenthaltes im Gefängniffe angiebt. Der fonflige Stoff des Berichtes Georgs, fo bie Gr ſchichte der Belehrung des Könige und die Ordination Gregors in Eäfarea, findet fi fowohl in bem „Leben“ als in den „Alten“, nur in diefen mehr noch als in jenem fagenhaft ausgefchmüdt, Bas ferner im Berichte George mit dem Wortlaute der lateiniſchen Bita übereinftimmt, betrifft Bauptfächlich den Stoff, ber in dem Wert des Mgathangelos in den jüngften, durchaus unbiftorifchen Bartieen befonder& bearbeitet iſt (vgl. den Bericht S. 343 mit der Viſion des Gregor, f. a. a. O. Anm, 3), welche Bearbeitung alfo dem Georg am Anfange des 8. Jahrhunderts noch nicht vor lag. Was oben (S. 348) über das Verhältnis ber Quelle Georg zur lateiniſchen Vita vefp. deren griechiſchen Originale ge fagt iſt, bleibt beftehen, ba bei der wörtlichen Übereinſtimmmg | mit ber lateiniſchen Schrift die Annahme einer bloßen Bearbeitung

des und vorliegenden griechiſchen Textes des Agathangelos zur Erklarung dieſer Übereinſtimmung nicht ausreicht. Eher konni man annehmen, daß die lateiniſche Vita uns in dieſen Partien den Urtert der griechiſchen „Mlten“ erhatten Hat, während im | Agathangelos nur fpätere Paraphraſen desfelben vorliegen. Doch | bedürfen diefe Fragen erneuter eingehender Unterſuchung. Die | Vermutung v. Gutſchmids, daß die „Alten“, welche viel jünger find als das „Leben des Heiligen Gregor“, von einen Mon phyſiten, etwa am 450, verfaßt feien (ſ. &. 4Of.), findet em Betätigung darin, daß der Monophyſit Georg fie Tennt und ber nugt. Wenn es anderſeits auffällig erfcheinen muß, daß ſich unter den gefamten fyrifchen Handſchriften des Britifhen Muſeums kin Leben des Gregorins Illumtnator findet, fo könnte man hieraus vielleicht den Schluß ziehen, daß Georg ben armeniſchen Text der „Alten Gregors“ beuutzt Hat (ſ. ©. ©. 348). Zum Scluffe ſei noch darauf hingewieſen, daß ber ſchlichte, alles Wunderbaren ent Heibete Bericht über das Leben Gregors, den Georg aus feiner Duelle zuſammenſtellt (ſ. o. S. 339ff.), mit alleiniger Ausnahme der chronologiſchen Datierung der Ghriftianifierung rmeniens, | durchweg mit den durch glänzende hiftoriſche Kritit genommenen Aufſtellungen v. Gutſchmids zufammenftimmt, cn Reſultat, des

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 8

von größten Intereſſe iſt und für den Scharfblick beider Ge⸗ lehtten ein gleich ehrenvolles Zeugnis ablegt.

Sechſtes Kapitel. Über den greifen Simeon, welder unferen Herrn im Tempel auf feine Arme nahm.

Betreffs dieſes Simeon, des Greifes, nad weldem Deine brüberliche Liebe fragt, ob «8 Simeon Sirach ift oder nicht, fo wiffe wohl, o Du Freund der Wahrheit, daß die Leute vielerlei über ihn fagen. Denn die einen behaupten, daß es Simon Sirach if, wie auch Du gehört Haft; andere aber jagen, daß er 500 Jahre lebte ), und zwar von ber Zeit der Auswanderung nach Babel, bis daß er den Heiland im Tempel auf feine Arme nahm und bei fich ausrief: „Nun, mein Herr, läffeft Du Deinen Diener in Frieden fahren.“ ?) Andere wieder fagen, daß er ein Priefter war zugleich mit Zacharias und daß er mit Joſeph um das Geheimnis der Schwangerfchaft und Erzeugung unferes Erlbſers von ber Jungfrau wußte. Im Folgenden zeigt num Georg, wie die Ver⸗ wehfelung des greifen Simeon mit Sirach durch die Ähnlichkeit beider Namen herbeigeführt worden fei: doch birfe man den Namen Sirach nicht von ’asıra (d. h. der Gefangene) herleiten, fondern

1) Dosfelbe behauptete man von Hiram, dem König von Tyrus, wie Georg im Folgenden Mikteift. Vielleicht Hatte Georg dies ben Homilieen bes Aphraates entnommen, ber die Regierungszeit des Hivam auf 440 Jahre an- giebt (j. Wright, Hom. of Aphr., p. 84, 2 v. u. ff). Indem Georg dies als thöricht zurlichweift, bemerkt er, es fei eime ſolche Behauptung bei Hiram um fo unbegreiflicher, als dod „von dieſem Hiram, der in den Tagen des Könige Salomo Iebte, berichtet wirb, daß er 54 Jahre lebte, indem er 84 von ihnen regierte”. Dieſe Angabe iſt aber dem Jofephus entnommen (c. Apion. 1, 18), der dies bem Menander von Ephefus zufolge mitteilt, jedoch von 58 !ebensjahren fpricht. Es AM nicht unmöglich, daß Georg biefe Notiz bireft ans Iofephus geſchöpft Hat, da befien Schriften auch fohft, twermgleich ſeltener, in der ſyriſchen Litteratur citiert werben (vgl. Wright, Chtel, p. 613 u. 831) mad teilweiſe auch ins Syriſche überfegt waren, fo 3. B. das 6. Bud) des ñũdiſchen Krieges“ (j. Monumenta sacra et profana. Mediol. T. V).

2) eut. 2, 29.

36 Ryffel

muſſe bedenlen, daß es ein Hebräifcher Name wäre, der von vielen, und zu allen Zeiten, getragen worden fel!); aud Habe Simeon Sirach mehr al8 244 Jahre vor der Geburt Ehrifti gelebt, näm- fi im 65. Jahre der Griechen, zur Zeit des ägyptifcen Könige | Ptolemäus Euergetes 2). Aber nad) Terach jet außerhalb Indiens‘) | Niemand 200 Jahre alt geworden; auch dirfe man die Worte des Lukas (Rap. 2, V. 26 u. V. 29) nicht als Beweis für ein fo hohes Alter anführen; denn wenn au aus den Worten hervorgehe, daf er eine Lange Zeit von Jahren Iebte, indem Geſchlechter gingen und Geſchlechter famen, ohne daß er ftarb“, fo wären doch dieſe Worte auch dann am Plage, wenn er nur 80, 90 und 100 Jahrt alt geworden wäre; „denn auch der, welcher 80 und 90 und 100 | Jahre alt ift, aud der ift alt und Hochbetagt, und über bie | Davidifgen Grenzen 4) hinaus.“ Übrigens fei auch Hanna had betagt gewefen, und zwar etwa 105 Jahre, wie Georg md | Luk. 2, 36—38 berechnet 5), alfo „vielleicht ebenfo alt wie Simeon oder auch älter als er, obwohl zu ihr nicht vom Heiligen Geifte gefagt wurde, daß fie den Tod nicht fehen follte, bis fie ben Ger falbten des Herrn gefehen habe.“

3) Diefe Behanptung Georgs entſpricht nicht den thatſächlichen Berhälte niffen (j. S. 358); wenigftens kommt der Name Sirach im Hebrdiſchen nicht dor.

2) Gemeint iſt alfo Euergetes L, der von 247—222 regierte; von ©i- mon IT., der aber vom 219199 Hoherpriefter war, „dem Bater bes Ichus bar Afıca”, erzählt auch Gregorius Barhebräus (im Chronic. eccles.), daß et der Simeon geweſen fei, der das Jefusfind auf den Armen getragen habe, und daß er 216 Jahre Iang gefangen gewefen fei, weil ex der Weisſagung Id. 9 nicht geglaubt Habe. Bl. Über dieſe ganze Frage nach dem Zeitalter eb Siraciden Fritzſche s Kommentar zur „Weisheit Iefus-Strade*, ©. zufl.

8) Das nicht feltene Vorkommen einer Lebenszeit bis zu 200 (?) Jahren be richten neuere Reifende aud) von den Wüftenarabern Afrikas, 3. B. Riley, Fürft Pudler. Bol. die Literatur Über dieſe Frage bei Delitzſch, Geueſia (4. Aufl), &. 542, Anm. 42.

46. Bl. 90, 10.

5) Wenn fie 14 Jahre alt war, als fie Heicatete, fo war fie 21 Jahre alt, als fie Witwe wurde (8. 86); und 84 Jahre mar fie fon Witwe, als fie den Herrn im Tempel fa.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 857

Betreffs deſſen aber, daß der Greis Simeon Priefter geweſen fein ſoll, ift mir nicht unbefannt, daß es von dem Heiligen Mar Jaqub, dem Lehrer, in feinem Gedichte über diefen Greis !) gefagt worden it, felbftverftändlich aber nur, indem er nach feiner Gewohnheit allegorifiert (eig. feiner Rede feftlichen Schwung giebt) zur geift- fihen Freude der Herzen der Hörer. Aber wir meiiien, daß die der felige Lukas nicht verheimlicht hätte, da er über ihn.in feinem Evan. gelium (2, 25) ausführlich fehreibt, ohne daß er ihn an. diefer Stelle einen Priefter nennt. Auch der Heilige Cyrill *) bezeichnet den Simeon in feiner Auslegung biefer Worte nicht als Prieſter, fondern als Prophet, und ebenfo auch nicht der Heilige Patriarch Severus in feinen zwei Liedern, die er über ihm verfaßte ®).

Auch diefe Frage, wer ber greife Simeon gewefen fei, war bei den Syrern ein beliebtes Problem; wir finden ähnliche Aufftellungen wie die, von denen Georg berichtet, auch bei anderen ſyriſchen Scäriftftellern, fo 3. B. außer bei Barhebräus (f. ©. 356, Anm. 2) in den „biblischen Scholien“ eines Unbelannten 4). Was bie oben

2) Bgl. Abbeloos, De vita et scriptis 8. Jacobi Batnarum Sarugi in Mesopotamia episcopi (f. o. ©. 290), &. 108: Nr. 87 feiner Gedichte (De praesentatione Domini in templo et de Simeone sene) und Nr. 38 (In illud Simeonis senis: bie positus est in ruinam et in resurrectionem multorum in Israel). Beide Gebichte find im zwei Handſchriften (cod. 117 u. 118) der Baticana vorhanden; vgl. auch Wrights Katalog der ſyriſchen Sanbfcgriften des Britiſchen Muſtums, S. 362, Kol. 2, u. ©. 516, Kol. 1.

2) &. Migne, Patrol., 8b. LXXII: Cyrilli Alezandrini Opera, T. V, p. 504 (zu 2uf. 2, 28): Zuudov, ngopmmxj zagımı reruumusvos u. |. w.

3) Auch diefe zwei Hymnen des Geverus über Simeon den Greis find uns im ſyriſcher Überfegung in Handſchriften des Britiſchen Muſeums erhalten, und zwar in der Überfegung bes berüßmten Jakob von Edeſſa in cod. CCCOXXI (vielleicht Autograph Jakobe), Nr. 84 (zwar anonym, aber unter underen Ojmmnen des Severus); außerdem ein Hymuns auf Gimeon in cod. CCCCLXIV, Rr. 8.b, ala „Hymnus des Severus“ bezeichnet (S. 335 u. 869).

4) Opuscula Nestoriana syriace - tradidit G. Hoffmann, 1880, 5. 128168. Nach diefer Schrift (©. 189) war Simeon der Bater des Kfus bar Gira, der Bruder bes Prieſters Eleaſar, der an des Nathanja

Theol. Stud. Yahıg. 1888.

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erwähnte eigentümliche Werwechfelung des Namens Sirach mit dem forifchen Worte "asira anbetrifft, fo geht biefelbe auf die Peſchittã zuruck, wo am Anfange der „Weisheit Jeſus -Sirachs · als Verfaſſer Jeſchũ'a bar Schem’ün ’afirä d. h. Jeſus der Sohn Simeons des Gefangenen bezeichnet wird, während er am Ende nur Bar⸗ꝰ Aſirã d. 5. Sohn des Aſirã (tefp. Sohn des „Er fangenen“) Heißt. Diefe merkwürdige Abweichung der ſyriſchen Überfegung vom griechiſchen Urterte geht jedenfalls auf die rab- biniſche Schreibung des fonft nicht gebräuchlichen Namens Sirach 99 zurüd, wonad der Verfaſſer des genannten Buches in dr judiſchen Litteratur einfach wyıp 3 Heißt. Diefen Namen fahte der ber rabbiniſchen Tradition folgende ſyriſche Überfeger dem Gleichtlange nad) als Verkürzung aus ’afirk d. h. der Gefangene (vgl. ©. 356, Anm. 2), woraus ſich die weiteren Mißverftänd- niffe ableiteten. Auch fonft ift über den Siraciden, wie auf über alfe altteftamentliche Verfaſſer, viel gefabelt worden (f. Fritzſches Kommentar, ©. xff.); nit minder aber auch über den greifen Simeon, der in der hriftlichen Tradition allgemein als Prieſter galt *).

Siebentes Kapitel, Über diejenigen, welche verhüllten Hauptes vor dem Heiligen Altare ftchen und beten und Weihrauch anzünden, nämlich bei der Geier des Abendmaples.

Auf diefe Frage werde nicht ich jegt Antwort geben, fondern der heifige Patriarch Severus, dem eben diefelbe Frage von den Presbytern und Archimandriten des Kloſters des Heiligen Abba Petrus

bar Drin, einer ber Siebenzig, die ihre Überjegung im 6. Jahre mach der Nüdtche aus Babel, dem 17. nad) dem Tode Aleganders verfaßten. Da er derſelbe Stmeon war, bee den Heren auf dem Arınen trug, fo wird fein Lebensdauer auf 216 Jahre angegeben.

2) S. 3. ©. Epiphanius (Migne, Patr. Gr. XLIH: Epiphanius, T. II, p. 418). ®gl. Thilo, Codex apocsyph. I, 886sgg.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 890

vorgelegt worden war, worauf er alſo antwortet 1): „Ihr Habt gefragt, ob es fich geziemt für den ehrmürbigen Johannes, zum heiligen Altare wegen feiner Schwäche mit verhüfftem Haupte zu gehen. Es ift aber Mar, daß es fich gar nicht einmal zu fragen ger ziemt fir euch, die ihr doch In den Heiligen Schriften unterrichtet feid und aus ihnen angewieſen worden feld zu dem, was euch zu tun geziemt. Denn der poftel vebete zu Heiden, welche ſich von dem heidniſchen Irrtume abgewendet hatten, und zwar ſowohl zu den Männern als zu den Weibern von denen jene fich ihr Haar wachſen ließen, diefe aber gejchoren waren von der Ber- hüllung des Kopfes). Diejenigen aber, melde ihr Leben in wohlanftänbiger Weife führen und evangelifch Ieben, und wegen ihrer Schwäche einer nötigen Bebedlung bedürfen, nicht aber einer ungeziemenden Verhüllung ſſich bedienen] wie kann da jemand das apoftofifche Geſetz umzäunen und nicht in jeder Hinſicht er» lauben, daß fie ihre Schwäche tröften (d. h. ſich vor ſchlimmen dolgen, die aus ihrer Schwäche ®) hervorgehen Könnten, zu wahren ſuchen) entfprecend dem Bedürfniſſe fie zu bedecken, ohne deshalb bon den priefterlichen Gebeten abgehalten zu fein.“ Indem nun dieſer heilige Lehrer derart auf Deine Frage antwortet, fo wollen auch wir darauf antworten, was uns richtig erfcheint, felbftver- fändfich aber im Anſchluß an die Meimmg des Lehrers: Wenn die Styliten und Klausner ihr Haupt bededen wollen, zu einer ‚Zeit, wo fie niemand fieht, wenn fie beten und Weihrauch anzunden, fo ſchadet dies auch nichts, weil es ja nicht anftößig ift für ſolche, die es fehen. Ebenſo aber auch verfallen die Presbyter und Kuratoren (f. ©. 336) und Bifhöfe und Patriarchen, die bei folder Schwäche

2) In Mädficht darauf, daß ber Brief, dem diefe Stelle entnommen ift, fich nicht unter den in dem ſyriſchen Handſchriften des Britifchen Muſeums (f. Bright, ©. 1328) und erhaltenen Briefen befindet, teile id) bie Stelle Im Bortlaute mit. Daß dieſes Wort auch inſofern vom Wichtigkeit iſt, ala es bezeugt, daß Georg ber jakobitifchen Kirche angehörte, iſt ſchon oben (f. S. 286) erwähnt worden.

2) ©. 1 Kor. 11, 2-16.

3) Gemeint if, wie fi aus dem Zuſammenhange ergiebt, eine Glatze.

24*

860 Ryſſel

eine Celebration haben oder infolge ſtrenger Kälte frieren oder von der Gewalt eiſiger Winde hart mitgenommen werden, durch⸗ aus feinem Tadel, wenn fie ſich aus der Kopfbededung einen Troft zu verfchaffen fuchen, zu der Zeit, wo fie beten ober Weihrauch anzunden außerhalb des Altarraumes oder außerhalb der Kirche, vorausgefegt daß ihr Haupt nicht mit einem Schleier (wörtlich: Teppich) oder mit einer Kappe (genauer: einem Capuchon) oder gar mit einem Turban bededct ift; in dem Altarraum aber ober in der Kirche ift dies nicht geftattet, außer wenn es wegen Kranf- heit ober großer Schwäche geſchieht. Wenn aber andere Kleriker und Mönche, was fie auch fein mögen, ohne die oben angeführten Gründe es thun, fo ift erfichtlih, daß fie mit Oppofitionsgeift und Hochmut und teufliſcher Hoffart behaftet find, und fie ver- fallen dem Tadel und der Verdammnis des Teufels. Wenn aber Deine brüderliche Liebe fchreibt, daß Du nicht bloß Presbpter und Kuratoren fiehft, die mit verhulltem Haupte beten und Weihe rauch darbringen, fondern ebenfo auch Biſchöfe, fo Hat uns das ein wenig Spaß gemadt. Denn dur den von Dir gewählten Ausdrud (d. 5. das „nicht nur“ .... „ſondern auch“) deuteft Du an, um wie viel tadelnswerter der Bifchof fei, der ſolches thut, als der Presbpter und Kurator. Meiner Anficht nach ift dies aber nicht fo, fondern auch wenn der Bischof es thut fei es wegen feines Alters, fei e8 weil er das Recht dazu Kat —, fo darf es doch deshalb keineswegs der Presbyter oder der Kurator thun, aus genommen unter den bereits oben angeführten Berhältniffen. Das ift, was wir auf Deine Frage betveffs der Kopfbedeckung zu er widern hatten.

Zur Erläuterung dieſes Kapitels, welches ung in bie Interna des Kultus und der Sirchenzucht in der fyrifchen Kirche einen Blick thun läßt, iſt nichts Hinzuzufügen, da fi der Inhalt des Kapitels aus ſich ſelbſt erkllirt. In den Sammlungen ber für die abendländiſche Kirche maßgebenden Verordnungen, foweit dieſelben mir zuganglich waren, finden ſich keine Verordnungen über dieſe ſpezielle Trage, die den kirchlichen Anftand bei der Berrihtung der

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 861

geiftfihen Amtshandfungen betrifft und deren Beantwortung von der ftraffen Subordination Zeugniß ablegt, die in der fyrifchen Kirche unter allen Umftänden gefordert wurde,

Ahtes Kapitel, Über bie neugetauften Kinder, bie ber Satan fid bienftbar madt.

Auch über diefe Frage antwortet Div an meiner Statt zuerft Athanaſius der Große und Bifchof der großen Stadt Alerandrien, welcher in feiner Lebensbefchreibung des Antonius, des durch feine edle Gottesfurcht ausgezeichneten Asketen, Folgendes über den Heiligen erzählt: „In der Zeit des Nachdenfens und der Überlegung fiel ihm [die Frage] ein, warum Heine Kinder Hinweggenommen werden ?) d. 5. vor der Zeit fterben —, hochbetagte Greife aber am Leben bleiben, bis fie fogar von ihren Bedienſteten gefüttert werden müffen. Als nun diefe Erwägung dem Heiligen einfiel, warf er fih vor Gott nieder und flehte zu ihm, daß er ihm diefes Ger heimnis offenbaren möge. Nachdem er eine geraume Zeit im Ges bet zugebracht hatte, gefhah eine Stimme vom Himmel zu ihm, welche ſprach: O Antonius, forge für dich felbft; denn meine An- ordnungen (wörtlich: Rechte) find unfagbar.* 2) Indem nun auch Du diefes hörft, fo verlange nicht weiter darnach, die göttlichen Geſetze, die ein gewaltiger Abgrund find und von niemand erforfcht werben können, zu ergründen oder feine Wege, d. i. feine vers ſchiedenartigen (d. 5. widerſpruchsvollen) Thaten, zu prüfen; und fordere auch nicht von deinem Mitmenfchen und dem, der gleicher Abftammung ift, daß er lallwiſſend wie] Gottes Sohn fel, deſſen

1) Bol. die Rede „mepl zuv mod Ögas dpapnafousvor vralar « von Gregor von Nyſſa („Oratio de infantibus, qui praemature abripiuntur [Borifer Ausgabe 1638] II, 3175qg.), welche aber die Frage behandelt, ob in dem Neugeborenen bereit8 Sünde fei, indem ſich Gregor barin für einem findfofen Lebensanfang des Menfchen eutſcheidet und die Sünde erſt mit dem Gebrauch des freien Willens eintreten Täßt, allerdings zugleich eine allgemeine Neigung zum Gündigen annimmt.

3) Über diefe Erzählung und deren Duelle f. die Erläuterungen am Sqlufſe bes Kapitels, ©. 364f.

302 ‚öfter

alles ift, was des Vaters ift, und der ihn allein kennt, ober der heilige Geift, der alles erforfcht, auch die Tiefen Gottes 1). Wenn Du aber für Deine Seele forgft, wie das Deine Pflicht ift, fo ber denke dies vor allem und erkenne, daß alles, was Gott an dem Menſchengeſchlechte und um des Menſchengeſchlechtes willen thut, aud wenn es den Unverftändigen verderblich (mörtlich: feindlich) zu fein feheint, doch von ihm zur Belehrung und zum Nugen und zur Unterftügung derer, die fehen oder Hören, gethan wird, mögen fie nun Hausgenoffen (d. h. Ehriften) fein oder Fremdlinge.

Ein derartiges Problem ift aber auch dies, daß infolge der Zulaffung Gottes der Satan die getauften Kinder, welche noch nicht gefündigt Haben, überfällt und in fie hineingeht. Rüdfiht- lich deffen aber, daß ber „Exeget“ 2), wie Du gefagt haft, behaupte, es fei nicht möglich, daß der Dämon in den Meenfchen Hineingehe, wenn er nicht gefündigt Habe oder wenn feine Eltern ober bie Eltern feiner Eltern nicht gefündigt Haben, fo fende Hin und laß Dir bringen das Buch der auf dem Thron gehaltenen Neben des heiligen Mar Severus und lies in der Rede, welche der Lehrer verfaßt Hat Über ben vom Mutterleibe an Blinden, betreffs deſſen auch die Zünger unfern Herrn fragten: „Hat diefer gefündigt oder feine Eltern, da er blind geboren ift“ ®); und von ihm kannſt Du Ternen, was betreffs diefer Auslegung 4) richtig ift; denn ich bin verhindert e8 Hier anzuführen wegen der Länge ber Darlegung ).

4) Mit diefen Worten, die fi in ähnlichem Zuſammenhange auf am Schluſſe des 2. Kapitels (ſ. oben &. 322) finden, weiſt Georg derartige Fragen als Überhebungen über das gottgewollte Maf der menfcfihen Er kenntnis zurüd.

9) Den Chrennamen „Ereget”, reſp. „Interpret”, bat in ber ſyriſchen Kirche Theodor von Mopfueftia, ber „Vorläufer bes Neſtorianismus“, beffen Werke eben deshalb jo viel gelefen wurden, weil man ſich auf ihm berufen tounte. Übrigens finden ſich bie beiden von Georg citierten Stellen weber in den Fragmenten aus feiner Schrift gegen bie Berteibiger der GErbfünde (ſ. Migne, Patrol. LXVI, 1005; f. u. ©. 364), noch in feinem Sommentare zum Johanneseyangelium (cap. 9).

3) Joh. 9, 1ff.

4) Gemeint ift zweifelsohne bie oben angeführte Auficht bes „Egegeter“ Theodor von Mopfueftia.

5) Unter ben 125 Homilieen, den fog. Adyos dnuIedrios des Patrianhen

Ein Brief George, Biſchofs der Araber 2c. 368

Betreffs des anderen aber, was ber „Exeget“ behauptet hat, dag nämlich der Dämon nicht in den Menſchen Hineingehe, außer wenn er des Heiligen Geiftes beraubt ift, ift es Sache der Ein, fißtigfeit Deiner brüderlichen Liebe und eines jeden, in bem Berftand ift —, daß Du erforſcheſt und zu erkennen fuchft, ob dies wahr ober nicht wahr ift. Siehe, e8 giebt wie Du beobachten kannſt und auch gefagt Haft viele Kinder, deren fi, nachdem fie den heiligen Geift aus der Taufe empfangen Haben und Kinder Gottes geworden find, der feindliche Dämon (wörtlich: Geift) bemächtigt und welche er dann fchädigt und quält. Leider aber haben wir feine Muße, um jegt viel darüber zu fagen, fo nötig es auch ft. Denn auch alles das, was wir oben auf deine Fragen, lieber Bruder im Geifte, geantwortet Haben, auch dies habe ich, wie du miffen follft, mit innerem Widerftreben und in der [wenigen] freien Zeit, welche die vielen mir aufgelegten Gefchäfte mir gelaffen haben, gefchrieben. Wenn Du es nun mit wohlwollender Prüfung lieft, fo behalte das, was Dir der Wahrheit zu entfprechen fcheint, das aber, bei dem es ſich etwa anders verhält, laſſe beifeite; Deine Gebete nur widme ber doppelten Schwachheit. Denn da ih meine geringe Kraft und Erkenntnis in dem, was ich Deiner

Severus von Autiochien, die in der ſyriſchen Überfeung des Jakob von Edeſſa im cod. DCLXXXV bes Britifchen Muſeums erhalten find (. Wright, Ratal., ©. 534ff.; verſchiedene Homilieen in einer anderen Überfegung, viel · leicht der des Paulus von Callinicus, enthält der cod. DOLXXXVI, &. 546), findet ſich die von Georg citierte Rede über den Blindgeborenen unter Mr. 38. Vemerkt fei noch, daß die griechiſchen Fragmente, weldie Mai im IX. Bande feiner „Scriptorum veterum nova collectio“ (&. 750ff.) mitteilt, die zwei Homifieen über den Märtyrer Drofis und die Homilie über den Märtyrer Thallelaus enthalten, welche auch in ber oben erwähnten ſyriſchen Überfegung des Ialob von Edeſſa als die 100., 114. und 110. Homilie ſich vor- finden, Bier andere Homilieen, die Severus zu Ehren von Heiligen gehalten hat, teilt Mai a. a. O., ©. 742 ff. in Inteinifcher Überfegung mit (vgl. auch Spieilegium Romanum X, 202 u. 212), Die 21. Homilie, eine „Ermahe nung, gerichtet am Mittwoch der großen Woche des Paffafeftes an bie, welde beabfichtigen ſich zur Taufe zu melden“, Bat E. Neftle in ber „Brevis lin- guae Syriacae grammatica, litteratura, chrestomathia“ S. 79 -88 mit- geteift,

364 Ryſſel

brüderlichen Liebe geſchrieben habe, voll und ganz ausgenutzt habe, fo bin ich auch frei von Tadel, der vielmehr die menſchliche Natur trifft, welche nicht überall nach Wunſch Erfolg Hat.

Diefes Kapitel berührt eine Frage, welche das Morgenland in einer den abendländifchen Anfchauungen entgegengefegten Weife be- antwortete, die Lehre von ber Erbfünde. Während diefe Frage feit Auguftin für das Abendland im weſentlichen entfchteden war, hielt man in der griechiſchen Kirche 1) nad) wie vor, trotz der Ver⸗ dammung des Pelagius auch auf der Synode zu Ephefus, an der Freiheit des menfchlihen Willens feſt. Vor allem wandte fih Theodor von Mopfueftia gegen Auguftin und die Vertreter feiner Anfiht im Morgenlande in der Schrift „meds Tous Asyovzas ydosı zul od yvaum mralsıy zods dvIgwnovs‘?). Wenn nun auch Georg in dem obigen Kapitel augenſcheinlich nicht alle Konfequenzen der Anſchauungen des Theodor vertreten will, fo ift doch nicht anzunehmen, daß er deshalb in auguftinifcher Weiſe die Freiheit des menfchlihen Willens leugnen will, vielmehr wird er etwa in ber Weiſe Gregors von Nyffa °) eine allgemeine Neigung zum Sündigen als Erbteil der menſchlichen Natur angenommen haben. Es ift zu bedauern, daß er weder den Wortlaut der Aus⸗ laſſung des Patriarchen Severus über diefe Frage mitteilt, noch auch feine eigene Meinung in ausführlicher Darftellung zum Auss drud bringt.

Bon befonderem Intereſſe find in dem Kapitel aud die Eitate. Im der Biographie des Antonius, die fi unter den uns erhaltenen Schriften des Athanafius findet 4), iſt die oben citierte Stelle

1) Betreffs der ſyriſchen Kirche vgl. U. Hahn, Ephräm der Syrer über bie Willensfreiheit des Menfchen, nebſt ben Theorien derjenigen Kirchenlehret bis zu feiner Zeit, welche Hier befonders Berücfichtigung verdienen (im III- gens Denlſchrift der hiſtor.theol. Geſellſchaft zu Leipzig, 1819).

2) ©. ©. 362, Anm. 2.

%) &. On. I, p. 75lsgg.: or. V. de orat. dom.

4) Der Titel diefer Schrift lautet: „Bios zul molıreie Tod aylon “- zaylov 'suyypapeis“,

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ꝛtc. 365

nit zu finden. Nun findet fih unter den Werken des Patriarchen Severus von Antiochien, die dem Georg wegen der hervorragenden Stellung, die Severus in der jakobitifchen Kirche einnahm, wohl befannt waren und mehrfach von ihm eitiert werden (f. 0. ©. 857. 358 und 362), eine Homilie auf den Heiligen Antonius, die fich ausbrüdfich als eine Ergänzung der Biographie des Athanafius an» fündig 2). Es wäre nun leicht möglich geweſen, daß Georg eine Stelle diefer Schrift, wenn fie fi in der ihm vorliegenden Hand« fhrift gewiffermaßen als Fortſetzung der Schrift des Athanaſius unmittelbar an diefe angeſchloſſen Hätte, irrtümlich als aus der Biographie des Athanaſius entnommen hätte bezeichnen können. Aber auch in diefer Homilie, fo weit fie uns vorliegt, findet fi obige Stelle nicht. Entweder alfo hatte Georg einen vollftändigeren Tert der Schrift des Athanafius vor fi, als der iſt, der in unferen Ausgaben vorliegt, oder es ift die Stelle aus jener Schrift des Severuß entnommen, was uns deshalb nicht unmwahrfchein. lich dünkt, weil von dem griechiſchen Originale der Schriften des Seberus nur wenige Fragmente erhalten find, wie das bei einem folgen Häreſiarchen nicht zu verwundern tft, während die Werke des Athanaſius, eben weil er in der ganzen Kirche als pater orthodoxiae galt, auch zu aller Zeit viel gelefen und verbreitet waren.

Renuntes Kapitel, Über die nächtliche Prüfung.

In biefem Kapitel giebt Georg dem Presbyter Jeſus, der vielfach in der Nacht mit fündigen Gedanken zu kämpfen Hatte, auf Grund „möndifcher Schriften“ und feiner eigenen in der Jugend gemachten Erfahrungen gute Ratfchläge, wie man neben dem

1) &. Mai, Sceriptoram veterum nova collectio IX, 742sqq. Der Anfang lautet: „Divini Antonii gesta Athanasius ille ... singulari opere complexus est.“ In der ſyriſchen Überfegung des Jalob von Edeſſa 0.0. ©. 363 Anın.), nad) welcher die Tateinifche Überfegung bei Mai a. a. D. angefertigt ift, nimmt obige Homifie die 86. Stelle ein; bie Überfchrift lautet: „Über ben 5. Antonins, ber in Ügypten Iebte, ben Exften und das Haupt der Einfiebfer und Eremiten“,

366 Ryifel

eigenen Gebet und der Fürbitte anderer, die Georg ihm zufagt die „jchändlichen Leidenfchaften* wirkfam befämpfen könne. Erſtens folle er fich vor böfen Gedanken hüten, aus denen die Leidenſchaft hervorgeht, die zur böfen That führt; zweitens folle er ſich vor fetten und ſchweren Speifen hüten, weil fie den Magen beſchweren und fo zu finnlicher Luft reizen; ferner möge er nicht zu zeitig zu dem Nachtdienſte aufftehen, fo daß er dann fich nochmals ſchlafen legen müfje, weil in diefem Schlafe nach dem Nachtdienfte die böfe Leidenschaft der Unzucht den Mönch vielfach ſchädige; auch möge er fi vor dem langen Stehen an einem Orte Hüten und, wenn fein Fremder da fei, zwifchen den einzelnen Benediktionen der Pjalmo die umbergehen und fih in feine laufe begeben; weiter möge er vor der neunten Stunde zu Abend efjen, damit der Magen vor dem Schlafengeen ſchon ein wenig verdaut Habe; vor allem aber Tolle er fi vor andauerndem Umgange mit Frauen und weltlih gefinnten Männern hüten, weil aud dadurch die Seele des Ein- ſiedlers verdunfelt werde, wie bie Heiligen Ichren. Auch halte das fortgefegte Nachdenken über bie göttlichen Schriften ganz befonders den Sinn des Mönches ab, nach fremden Dingen abzufchweifen. Hierauf fließt er mit folgenden Worten: Dies ſchreibe Ih, weil ich Mufe habe und außer der Reihe des Kampfes bin (b. h. wegen feines Alters, vgl. den Anfang diefes Kapitels), aus großer Liebe zu Dir; Du aber Handle wie ein ampfbereiter Mann und ein waderer Streiter, und prüfe und fiehe und, was nüßt, behalte. Ee gebe Div aber unfer Herr Kraft und Weisheit in allem; denn c& ift gut, daß unfer Schreiben an Dich fein Ende Habe durch das apoftofifche Gebet. Geſchrieben im Juli des Jahres 1025 der Griechen.

Überblicken wir nun zum Schluſſe den Inhalt des Briefe Georgs an den Presbpter Jeſus, jo müffen wir fagen, daß wir zwar feine neuen Auffchlüffe über fein Leben und feine Lebens verhältniffe erhalten ), wohl aber von feiner ſchriftſtelleriſchen

1) So wird 3. ®. durch verſchiedene Stellen feines Brieſes beRätigt, def

Ein Brief George, Biſchofs der Araber ıc. 86

Bedeutung und bem ganzen Charakter feiner wiſſenſchaftlichen Arbeit ein Hares und deutliches Bild erhalten.

Bor allem tritt feine außerordentliche Beleſenheit in der gefamten thriſtlichen Litteratur zutage. Er kennt nicht nur die hervorragen⸗ den Werke der kirchlichen Geſchichtsſchreibung, die Kirchengeſchichten des Euſebius (ſ. S. 344 vgl. Anm. 2), des Sotrates (ſ. S. 317) und Theodoret (ſ. ©. 316), ſondern er beherrſcht auch die dogmatiſche Litteratur der griechiſchen und ſyriſchen Kirche. Son namhaften griechiſchen Lehrern citiert er den Athanaſtus (. S. 361), Baſilius den Großen (ſ. S. 306) und Gregor den Theologen (ſ. S. 344, vgl. ©. 302), zu defien Homilieen er aud) Sholien fehrieb (ſ. o. ©. 293), ferner Cyrill (ſ. S. 357), Hippolytus (f. S. 320), fowie Theodor von Mopfueftia (. S. 362 f.) und von den berühmten Schriftftellern der fyrifchen Lirhe erwähnt er Bardefanes (f. ©. 319), Jakob von Sarug (1.©. 321; betr. Jakob von Edefja, feinen Lehrer, ſ. S. 299), wie er and mit den Homilieen des Aphrantes (f. o. ©. 312 bis ©. 331) die eingehendfte Bekanntſchaft zeigt. Daß er auch in den Schriften des Patriarchen Severus von Antiochien, des befannten monophy⸗ ſitiſchen Lehrers, genau bewandert ift (f. ©. 357f. u. 362) und in der lirchlichen Gefeggebung Befcheid weiß (f. S. 336'u. 358 ff.), iſt bei einem monophyſitiſchen of am wenigften zu verwundern. Aber diefe Aufzählung der von Georg benutzten und citierten Schriften der chriſtlichen Pitteratur ift noch bedeutend zu vermehren, wenn man auch feine übrigen Schriften und befonders feine Briefe (.S. 300ff.) durchmuftert, in denen wir außer den obengenannten und anderen Koryphäen der chriftlichen Sitteratur auch weniger wichtige Schriftfteller 3. B. (dem Pfeudo-) Dionyfins Areopagita (. ©. 296 u. 303%), citiert finden, wie er and) des Joſephus

tt Bifhof war (f. S. 360, vgl. ©. 814, Anm. 1); weitergeführt wird aber unfere Kenntnis feines Lebens nur durch die eine Notiz, daß er im Jahre 1025/714, Ivo er dieſen Brief ſchrieb, bereits ein bejahrter Mann war (ſ. 0. ©. 805 u. 865 f.), was aber auch aus der Stellung, bie er damals bekleidete, geſchlofſen werden lann.

1) Die Bekanntſchaft mit dem angeblichen Schriften des Dionyſios Areo- pagita iſt anderfeits deshalb weniger auffallend, weil diefe Schriften befanntfich

368 Ryſſel

Schrift conträ Apionem gekannt zu haben ſcheint (ſ. S. 355, Anm. 1). Ob er auch die armeniſche Litteratur in gleicher Weiſe beherrfchte, Können wir nicht näher beftimmen; ficher ift aber, daß er verſchiedene wichtige armenifche Geſchichtswerke, befonders die auf den Armenierapoftel Gregor bezüglichen Schriften entweder im Ori⸗ ginafe, oder in Überfegungen Tannte (vgl. ©. 348 u. 354). Aber, was wichtiger ift als diefe umfafjende Kenntnis ber chriſtlichen Litteratur, er weiß auch das Material, das die er mähnten Werke ihm darboten, in einer echt wiſſenſchaftlichen Weiſe zu verarbeiten. Er operiert mit dem Inhalte in einer Weife, die von unferer modernen Methode wiſſenſchaftlicher Arbeit nur wenig verfchieben ift, indem er das Material nicht nur über fihtlih zufammenftellt und die einzelnen Faktoren desſelben zur Gewinnung neuer Auffchlüffe und zum Beweife feiner Behauptungen tombiniert, fondern auch in feharffinniger Weife Kritit übt und

falfche Meinungen zurücweift. Freilich, eine Hiftorifche Kritik, wie |

wir fie heutzutage fordern, können wir bei ihm nicht vorausfegen, obwohl es ihm an freiheit des Urteils nicht fehft und ein Harer Über- blick ihm zugebote fteht. Indem wir zu diefen Urteilen über die fehrift-

ftellerifche Bebeutung Georgs noch einzelne Belege beifügen, maden

wir zunächft auf die genaueren chropologiſchen Berechnungen aufmerf- fam, die er zugleich in Überfichtlicher Weife zu gruppieren verfteht: wir verweilen 3. B. auf feinen Nachweis, dag Aphraates nicht ein Schüler Ephrems fein Tann (f. ©. 314ff.), fowie daß Gregorins Illuminator nicht einer der drei berühmten Gregore Gregorius Thaumaturgus, Gregor von Nyffa und von Nazianz ift (f. ©. 344f.), wobei wir noch beſonders bie Überfichtlichteit diefer chronologiſchen Berechnungen, die wir allerdings nur im Auszuge mitgeteilt Haben, anerfennend erwähnen müſſen, die er teils durch kunſtvolle Gruppierung erzielt, indem er häufige Rer Tapitufationen zwifchen die einzelnen Poften feiner Berechnung ein-

in den reifen der monophytiſchen Severianer zuerft aufgetaucht find, und zwar auf der im Jahre 533 auf Befehl des Kaifers Juſtinian unter dem Vorſih des Metropoliten Hypatius von Epheſus zu Konftantinopel mit ben Eeveria- nern abgehaltenen Unterredung. &. Hefele, Komzifiengeichichte IL, 747 ff.

Ein Brief George, Biſchofs der Araber. zc. 869

fiebt, oder auch dadurch, daB er, wie er fih im 1. Kapitel (S. 316) ausbrüdt, die Mittelglieber feiner Darlegung übergeht. Äpnlicer Art iſt auch feine Berechnung über bie Chronologie der Urväter (f. ©. 330f.) und fein Beweis der Unmöglichkeit einer Venticität des greifen Simeon, ber den Herrn im Tempel auf feine Arme nahm, mit dem Simeon Sirach, den die ſyriſche Überfegung als den Vater des Verfafjers der befannten apokryphiſchen Schrift, der „Weisheit Jeſus Sirachs“, bezeichnet (f. ©. 356). Und wie Georg es verftand, aus einzelnen gelegentlichen Äußerungen in einem größeren Schriftganzen fih ein Bild gewiffermaßen mofaitartig zufammenzufegen, das zeigen u. a. die Auffchläffe, die er über das Leben und die Lebensftellung des Aphraates auf Grund tinelner Stellen feiner Homilieen giebt (f. ©. 312 ff.).

Seine kritiſche Befähigung können wir dagegen 3. B. da kennen Iren, wo er an der Hand der Schriftftelle uf. 2, 36—38 der traditionellen Meinung entgegentritt, daß Simeon der Greis ein Briefter geweſen fei, indem er darauf hinweiſt, baß bei einer fo eingehenden Schilderung, wie Lufas fie giebt, auch dies mit er- wäßnt fein würde (f. ©. 357). Scarffinnig ift aud der im Boransgehenden gelieferte Nachweis, daß man aus Luk. 2, 26 nit auf eine menschliches Maß überfchreitende Lebensdauer Simeons fließen dürfe, da er auch dann, wenn er 80, 90 oder 100 Jahre alt geworden war, eine über das gemühnliche Lebensalter hinaus⸗ ragende Lebensdauer erreicht habe (ſ. S. 356). in gleich treffen» des Urteil beweift Georg ferner bei der Auslegung der Schriftftelle Matth. 26, 29 (f. ©. 346), vor allem aber bei feiner eingehen« den Behandlung von 1Ror. 15, 44, wo er an der Hand des enerfannten Bibeltextes den eigentümlichen pſychologiſchen Ans ſchauungen des Aphrantes entgegentritt (f. ©. 326f.). Hierbei zeigt Georg eine echt philologiſche Aribie, befonders indem er auf die Moglichkeiten der Herkunft jener faljchen Lesart näher eingeht, auf welche Aphraates feine Theorie vom Seelenfchlafe gründet (1.&.326, 3. 11ff.). Auch giebt ihm die Befprehung diefer feltfamen Aufftelfung Gelegenheit zu einer philoſophiſchen Darlegung iiber die verfhiedenen Arten der organifchen Wefen (ſ. ©. 326f.). Im dog natiſcher Beziehung zeigt er ein freies Urteil, 3. B. indem er die

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Frage, ob man den Wein mit Waffer vermifchen müfle oder m gemifcht genießen dürfe, gewiſſermaßen als ein ddıdyoger kr zeichnet (ſ. ©. 345Ff.). Ebenfo ftand er auch dem Wunderglauben feiner Zeit ziemlich vorurteildfrei gegenüber, was er zeigt, indem er bei der Erwähnung des 13 jährigen Aufenthaltes des Gregor | Illuminator in einem ungefunden Kerker noch feherzend Hinzufügt: ober wenn es dir recht ift, wollen wir nur drei Jahre am nehmen“. Doc dürfen wir felbftverftändlich im diefer Beyiehun den Georg, ber ſicher auch ein Kind feiner Zeit war, nidt mit unferem Maße meſſen. Selbft ein Blick für die Eigenarten der dogmatifchen Lehrthpus der verſchiedenen Perioden ber Kirche ſchein ihm zueigen gemefen zu fein, fo fehr fonft die alte Zeit folden biftorifchen Urteils entbehrte; wenigftens Täßt feine Bemerkung, daß bie Verſchiedenheit des Lehrtypus bei Ephrem und Aphrates der Annahme, daß letzterer der Schüler des erfteren fei, dirch widerſpreche (f. S. 314), einen ſolchen kritiſchen Blick für di Entwickelung der dogmatifchen Anſchauungen vermuten. Daß fit Genauigkeit in der Benutzung litterariſchen Materials auf Grund der unvichtigen Wiedergabe der Eufebinsftelle im 5. Kapitd (f. ©. 344, Anm. 2) nicht ernſtlich bezweifelt werben Kann, ift bei kr ganzen Art und Weiſe, mie man in jener Zeit citiert, midt be ſonders darzulegen nötig. Auch Können wir in diefer Bejichung auf die Maren Worte Hinmeifen, mit denen Georg am Anfang feines Briefes (f. S. 312) gewiffermaßen fein wiſſenſchafllichee Bekenntnis ablegt, das von der Gemiffenhaftigkeit und Treue zeugt, die ihm bei feinen Forſchungen und Arbeiten Teiteten.

So ftand denn Georg auf der Höhe der Wiffenfchaft feinr Zeit, umd es iſt vom Intereſſe zu fehen, daß er ſich deſſen an wohl bewußt war, wie wir aus feinem Urteil über Aphtaatee erfehen können, von dem er zu wiederholten Malen fagt, daß er der „ftädtifchen Gelehrſamkeit“ entbehre, ımd zwar ſchon um der⸗ willen, weil er zu feiner Zeit noch nicht Gelegenheit gehabt habt, die Schriften der Hauptautoritäten ber chriſtlichen Literatur zu Tefen und zu ftudieren (ſ. ©. 325. 328 u. 329).

Mag num and; eine fo ausgebreitete Litteraturkenntnis und fo gründliche Gelehrſamkeit, wie fie Georg befaß, bei den Eyrem

Ein Brief George, Biſchofs der Araber zc. 871

der damaligen Zeit nicht zu den Seltenheiten gehört haben, fo ift do die Belanntſchaft mit Georg ſchon deshalb nicht ohne Intereſſe, weil er eben in feiner wiffenfchaftlichen Arbeit die gelehrte Bildung der ſyriſchen Geiftlichkeit feiner Zeit in ebenfo vieljeitiger als tharalteriftiſcher Weife repräfentiert. Und überdies ragt doch zu gleih Georg durch feine umfichtige Bearbeitung des von ihm bee augten umfafjenden Materiales, durch feinen Scharffinn, durch fein treffendes Urteil und feinen freien Blick unter der großen Menge der ſyriſchen Gelehrten weit hervor und ift den beften khrern der Kirche Syriens, ja der chriftlichen Kirche jener Zeit überhaupt, an die Seite zu ftellen.

Benn wir nun zum Schluß noch auf den liebenswurdigen Humor aufmerkſam machen, mit dem Georg bie Anfpielung des Preobpters Jeſus, die ihm, den Biſchof, einer Meinen Eigene mädtigkeit zeihen follte, gelaſſen zurückweiſt (j. ©. 360) und an den warmen Herzenston edler Befcheidenheit erinnern, mit dem ſich ber erfahrene Mann als väterlicher Berater zu dem jüngeren dteunde wendet, um ihn aus dem Schatze feines Wiſſens und feiner Lebenserfahrungen mit Belehrung und Mat beizuftchen (. ©. 363 u. 365), fo dürfen wir wohl die Hoffnung hegen, daß es der geiftig bedeutenden Perfönlichteit Georgs gelingen werde, das Wort de Lagardes, des gelehrten Herausgebers feines Briefes an den Presbyter Jeſus, in Erfüllung gehen zu laffen: „Georgium episcopum Arabum erunt multi, qui adamaturi sunt, homi- 2em maxime et acutum et circumspectum.“

Sedanten und Bemerkungen.

esl. Etub. Yahrg. 1888. 25

1.

Luthers Uberfegung der altteitamentlichen Apo⸗ kryphen. Von Dr. Wilibald Grimm,

Profefior der wolevie und, Bieieneat Im Seo, Mitglieb ber zur Reviſion der Lutherif El —eS iſion weriſchen

In den die Lutherbibel behandelnden Monographieen wird die Überfegung der Apokryphen entweder, wie von Lüde:) und Hopf®), gar nicht, oder wie von Palm), Banzer t), Hein rich Schott®) nur nad der Zeit ihrer erften Drude und deren typographiſcher Beſchaffenheit berüdfichtigt. Auf den inneren Charakter diefer Überfegung und ihren Unterſchied von derjenigen der lanoniſchen Bücher wird nicht eingegangen. Und doch iſt der⸗ felbe fehr bedentend. Denn wollte Luther auch in Verdeutſchung

1) „Kurz gefaßte Geſchichte der Lutherſchen Bibefüberfegung”, in @tefeler md Lüüce, Zeitjchrift für gebildete Ehriften (Eiberfeld 1828), 8. Heft, ©. 1ff. und 4. Heft, ©. 86 ff.

3) In feinem ſehr verdienftvollen Bude: „Würdigung der Lutherſchen Bibelverbeutfgung mit Rüdfiht auf ältere und neuere Überfegungen“, Rürn« berg 1847.

3) Hiforie der deutſchen Vibelüberfegung D. Martin Luthers vom Jahre 1517 an bis 1584, Berausgeg. von Joh. Melch. Goezen. Halle 1772. 4%,

4) „Entwurf einer vollkändigen Geſchichte ber dentſchen MWibelüberfegung D. Martin Luthers“ (Nürnberg 1788) und Zufäge des Verfaſſers zu dieſem Berte (Nürnberg 1791).

5) „Geſchichte ber deutſchen Bibelüberſetzung Luthers“ (Leipzig 1885).

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876 Grimm der kanoniſchen Bücher nichts weniger als „Buchſtabiliſt“ fein,

trug er aud) Hier, befonders in den nachmaligen Revifionen, nicht |

felten der Verftändlichfeit auf Koften der Form des Originals Rechnung: fo geftattete er ſich doch bei den Apokryphen, weil er hier nit an einen heiligen Text gebunden war, ungleich größere Freiheit und vertaufchte ſehr Häufig die Aufgabe des Überjegers mit der des Bearbeiter, Kritifers, Paraphraften und Auslegers, ohne Zweifel weil er hoffte, auf foche Weife die Lektüre diefer Bücher als veligiöfer Vollsſchriften leichter, angenehmer und ver⸗ ftändlicher zu machen. Bevor ih die Nachweiſung im einzelnen beginne, Habe ich die mir bisweilen in mündlicher theologiſcher Unterhaltung entgegengetretene, von Holgmann ?) fogar öffentlich aufgeftellte Behauptung zurückzuweiſen, daß Luther die Apokryphen aus der VBulgata überfegt habe. Es gift dies nur von den Büchern Judith, Tobit und dem Gebet Manafjes. Dem Gebet Afarias und dem Gefang ber drei Männer Hat er felber den Ber merk vorgefegt: „Aus dem Griechiſchen“. Wenn er aber in nicht wenigen Stellen der Vulgata?) folgt, fo Hat er dieſelbe nur al eine Art Kommentar benugt. Denfelben Gebrauch macht er von ihr fo wie von der LXX nicht felten auch in den kanoniſchen Büchern des Alten Teftamentes; niemand aber wird deshalb br- haupten, er Habe das Alte Teftament aus der LXX oder Zuls gata überfegt °).

Nachdem im Jahre 1528 „der Prophet Jeſaia Deudſch“ in zwei Auflagen erfchienen war, fah Luther durch verfchtedene Um-

4) In Bunfens Bibelmert VIL, df.

3) Über Luther Benugung der Bulgata vgl. Hopf a. a. O., ©. 214 Auf Luthers Verhältnis zur LXX ift Hopf nicht eingegangen.

3) Ich bebiene mich des herfömmmlichen Ausbrudes Bulgata, bemerkte aber, daß Hieronymus den Jeſus Sirach, das Buch der Weisheit, die Maccabärr- bücher und ben Baruch ans der fog. Itala unverändert in fein, fpäter Bul- gata genanntes Bibelwerk herübernahm, bie Zufäge zu Eſther ziemlich frei, bie zu Daniel wörtlich überfete, dagegen in Bearbeitung ber Bücher Judith und Tobit ſehr willturlich verfuhr. Bol. Fritzſche, Art.: Lateiniſche Bibel: Überfegungen in Herzog, Theol. Real-Enc. VIII, 446 (2. Auflage), und im „Exegetifhen Handbuch zu ben Apokryphen“ I, 74. 119. 175; I, 12ff. 121 ff.

Luthers Überfegung ber altteftamentlichen Apokryphen. 877

fände *) ſich genötigt, bie ſchwierige Dolmetſchung ber übrigen Propheten auf gelegenere Zeit zu verfchieben. Um aber bie Über fegungsarbeit nicht ganz ruhen zu Laffen, nahm er in ber ihm im Frühjahr 1529 verbleibenden Muße, während er an Schwindel, Bruſtkatarrh und Heiferkeit litt, da8 Bud der Weisheit vor, zunächft wohl, wie ich glaube, um in demfelben an bie Feinde des Evangeliums unter den weltlichen und geiftlichen Machthabern eine energiſche Mahnung und Warnung zu richten. Wenigftens führen hierauf feine Worte in der Vorrede: „Sonderlich ſollen es (das Buch der Weisheit) Tefen bie großen Hanfen, fo wider ihre Unter⸗ thanen toben und wider die Unfchuldigen um Gottes Wort willen wüten. Denn diefelbigen fpridt er an im 6. Kapitel und befennt, daß dies Buch an fie fei gefchrieben, da er ſpricht, euch Tyrannen gelten meine Reben. Und fehr fein zeuget er, daß die weltlichen Oberherrn ihre Gewalt von Gott haben und Gottes Amtleute feim. Aber dreuet ihnen, daß fie ſolchs göttlichen befohlen Amts brauchen. Darnm Kommt biefes Buch nicht uneben zu unfer Zeit an den Tag, dieweil igt auch die Thrannen getroft ihre Oberfeit mißbrauchen wider den, von dem fie ſolche Oberfeit haben. Und leben doch wohl fo jhändlich in ihrer Abgötterei und unchriſtlicher Heiligkeit als hie Philo (dem Luther für dem Verfaffer des Buches hielt) die Römer und Heiden in ihrer Abgötterei befchreibet, daß fichs allenthalben wohl reimet auf unfere igige Zeit.“ Daher gab er dem Buche die Auffchrift „Die Weisheit Salomonis: an bie Tyrannen“. Nachdem Melanchthon nad feiner Ruückkehr von Speier die Arbeit durchgefehen und verbeffert Hatte, erfchien diefelbe wahrſcheinlich im Juni 1529). Bei nohmaliger Revifion der- felben brachte Luther mancherlei Veränderungen an, bie aber nicht alle als Berbefferungen gelten Lönnen. In dieſer zweiten Be— arbeitung ward das Buch in die in der erften vollftändigen Bibel vom Jahre 1534 erjchienene Sammlung der Apofryphen aufs jenommen. Wenn Luther in der Vorrede bemerkt, „er habe das Buch der Weisheit mit Hilfe feiner guten Fremde aus dem fin-

2) Bel. Schott a. a. O., ©. f. 2) Säott a. a. D, ©. 57.

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fteren Lateinisch und Griechiſch in das deutſche Licht gebracht“ 1), fo wiffen wir nach dem Obigen, daß er damit nur fagen kann, er habe auch das Lateinische zurate gezogen und benugt. Den die lateiniſche Verfion enthält in 1,15; 2, 8.11; 9,19; 10,1; 11, 5. 8; 17, 1 Zufäge von verfchiedenem kritiſchen Wert; aber feinen berfelben bat Luther aufgenommen und überfegt. Auch hat er auf das Buch der Weisheit diefelbe Gewifienhaftigkeit und Sorgfalt verwandt, wie auf bie kanoniſchen Schriften, wenn er auch wie bei biefen manches verfehlte. Ich Hebe nur drei Bei: fpiele aus. Die Mahnung Ygorjeare negd Tod xuglov & ayagdene 1, 1 überfeßte er in der erften Ausgabe: „Verfehet euch alles Cuts vom Herrn“, in der zweiten: „Denket, daß der Herr Helfen kann“. Er mochte wohl fo erklären: „in Betreff des Heren benfet an (deffen helfende) Güte“. Die Revifionstommiffion (wie ich der Kürze halber die zur Reviſion der Lutherbibel beru⸗ fene Konferenz von Theologen nennen will) Hat geändert: „Denkt dem Herrn nah in frommem Sinn“. Aber richtiger würde zu fagen fein: „in reinem Sinn“; denn der Gedanke des Schrift- ftellers ift, daß zur Erforfhung und Erkenntnis des Göttligen ſittliche Reinheit erforderlich fei (vgl. mein exeget. Handbuch zu der Stelle). Den folgenden Sag: &v anddrıuı xagdiag Lı- ifoare adıdv hatte er erft richtig überfegt: „Suchet ihn mit einfältigem Herzen“, nachher falſch: „Suchet ihn mit Ernſt“ 2). Die Revifionstommiffion hat hier die frühere Lesart wieder her⸗ geftellt. In 16, 3 Tieß er ſich durch die falſche Lesart: „der

4) Der Abſchuitt der Vorrede, aus dem wir Vorftehendes entnehmen, findet fid) nur in der Separatausgabe des Buches vom Jahre 1529, abgebrudt in der Erlanger Ausgabe von Luthers Werken LXIII, 93. In der vollftändigen Bibel von 1534 und ihren Nachfolgerinnen Heß ihn Luther weg. Daher hat ihn auch Bindfeil in feiner Ausgabe der Originalbibel vom Jahre 1545 weggelaffen, ohne etwas über deſſen früheres Borhandenfein zu bemerfen.

2) Zu beiden Änderungen ließ er ſich wohl duch den auf bie Zeitverhält« niffe fid) beziehenden Ste verleiten, den er bei Veröffentlichung der Über fegung biefes Buches verfolgte (vgl. das oben aus der Borrebe Bitgeteilte). Den erften Sat feheint er fo gefaßt zu haben: „daß er den von Gud Be drängten Helfen Tann“.

Luthert Überfegung der altteſtamenilichen Apolryphen. 59

1deioav“ in der Aldina (au Compl. und bedeutende Sands föriften) und das „propter ea, quae illis ostensa et misse sunt“ in der Vulgata zu der konfuſen Überfegung verleiten: „Auf daß die, fo nach folder Speife Lüftern waren, durch ſolche dar⸗ gegebene und zugejchicte Wachteln Terneten auch der natürlichen Nothdurft abbrechen, die Anderen aber, fo eine Meine Zeit Mangel ften, einer nenen Speife mit genoffen.“ Er verlannte alſo ben Gegenſatz von Exeivos av (die Ägypter) und odsos da (die Juden), indem er exeivos auf die Juden bezog und daher zwei N lafien derfelben unterfchied. Und um nun dem erften Sag einen auf Juden paſſenden Sinn zu geben, verftand er das „Zugeſchicte“ von den ihnen befcherten Wachteln. In der revibierten Bibel foll der Vers alfo lauten: „Auf daß jene, fo fie nach Speife lüftern waren, wegen des fcheußfichen Anſehens ber zugefchidten Tiere ſich auch von der motwenbigen Nahrung abwandten, biefe aber, fo fie eine Heine Zeit Mangel Titten, einer neuen Speife genoffen.“

Nachdem Luther die Überfegung der Propheten und damit bie der fämtlichen kanoniſchen Bücher volfendet hatte, verbentfchte er feit dem Herbſt des Jahres 1583 und im Jahre 1534 die noch teftierenden Apolryphen und zwar zuerft ben Jeſus Sirach, deffen erfte Ausgabe zu Wittenberg 1533 in Mein Oftav mit Randgloſſen erſchien. Luthers Strap tft feiner Art ein Mufter war nicht treuer Überfegung, wohl aber freier Bearbeitung 2). Zu der Freiheit, die er ſich Hier nahm, fühlte er fich berechtigt durch die (mach ihrer beziehungswelſen Nichtigkeit für nicht zu unterfuchende) Überzeugung, daß der überlieferte Text zu entſetzlich verderbt fei®), dann aber auch wohl durch ben Zweed des Buchs

1) Vgl. meine Abhandlung: „Zur Charalteriſtit der Lutherſchen Überfegung det Buches Jeſus Sirach“ im der Zeitſchr. f. wiſſenſchaftliche Theologie 1872, 4. Heft, aus der ich im Folgenden, wit Hlnzufügung einiger Ergänzungen, das Nötigfe auhebr. .

2) Ex bemerkt im ber Vorrede: „Es find fo viel Kluglinge in allen

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als eines müglichen Buchs für den „gemeinen Mann“, „wie er fi gegen Gott, Gottes Wort, Priefter, Eltern, Weib, Kinder, eigen Leib, echte, Güter, Nachbarn, Freunde, Feinde, Obrigkeit und jederman halten ſoll“. In der Vorrede klagt Luther über die fehwere Arbeit, welche ihm diefes Buch gemacht 1); er iſt abır auch des Wertes feiner Arbeit bewußt und giebt ihr den Vorzug nit nur vor allen bis damals erfchienenen Verdeutſchungen, fondern auch vor dem griechifchen und lateiniſchen Texte,

Bor allem tft dankbar anzuerkennen und beweift Luthers feitifchen Blick, daß er dem Abfchnitt, der im Griechiſchen Kap. 33, 12; 34, 1 36, 168 umfaßt, feine in der Vulgata, wie auf beim Sprer, Araber und in der Komplutenfis erhaltene urfprüng liche und allein richtige Stellung nad) Kap. 30, 24 des Griechiſchen (bei Luther 30, 26) zurlicgegeben hat ?).

Im Sirachbuche ift die Vulgata fehr reich an Zufägen. Doc; hat Luther nur diejenigen des erften Kapitels vollftändig aufgenommen, nämlich in 88. 5. 14. 15. 16 (hier von den Worten an: „und wohnet allein bei den ausermählten Weibern); 38. 17—19. 26f. Im Kap. 1, 2f. überfegt er nicht die Futura des Griechiſchen ris EEagıduncsı, vis SEiyvscioes, fondern die Präterita der Vulgata quis dinumeravit? quis investigavit? wer bat zuvor gedacht? wer Hat zuvor gemefjen? mit willfüclicher Einfegung des „zuvor“, wodurch aber, wie ih glaube, der Gedanke ungleich bedeutender wird. Bon Kapitel 2 an folgt er nur felten der lateiniſchen Überfegung. Einen intereffanten Fall von Kombination des

Sprachen über dieß Buch kommen, daß nicht Wunder wäre, weil ohne das alle Ding drinnen von feinem Anfang nicht in der Orbnung gefaffet geweft find, daß es ganz unb gar unkenutlich, unverfländlih und aller Ding untüchtig worden wäre. Wir habens aber, wie einen zuriſſen, zertretten und zerſtrentten Brief wieder zufammengelefen und ben Kot abgewiſcht.“

1) Am 2. Rovbr. 1532 ſchrieb er an Amsbdorf: „Ego in Ecclesiastion vertendo totus sum. Spero, intra tres hebdomates liberari ab hoc pistrino.“

2) Den deutfehen Text citiere ich nach der Canſteinſchen Ausgabe, dem grir- chiſchen nach Fritzſches Apokryphen, den lateiniſchen nad; der Clementins von van Eß.

Luthers Überſetzung der altteſtamentlichen Apokryphen. 881

Griechiſchen und Lateiniſchen bietet die Stelle 25, 9—14 (griech. BE. 7—10; fatein. 88. 9—12). Hier fündigt Sirach an, daß er zehn Tugenden und Erlebniſſe aufzählen werde; er nennt aber deren nur neun. Entweder hat ſich alſo der Schriftfteller vers Ahle, oder aber es ift ein Glied im Texte verloren gegangen. Auch die Vulgata Hat nur neun Glieder, aber ftatt des griechiſchen Hazdgiog, oc sögs yedımom bietet fie „„beatus, qui invenit amicam verum“ Um nun bie Zehnzahl herauszubelommen, nimmt Luther bie genannten Glieder beider Texte auf: „Wohl dem, ber einen treuen Freund hat! Wohl dem der Hug iſt!“ gu 8,8; 9, 12; 19, 5; 24, 15 (griech. Be. 11); 24, 28 (griech. Vs. 178); 32, 13 (griedh. 35, 9b) überſetzt er nad arten, welche die Vulgata und das Griechiſche der Kompluten⸗ ſis bei gleicher Abmweihung von der Aldina und den fpäteren tejipierten Text mit einander gemein Haben. In 48, 19 (griech. 8. 17) überfegt er nicht das wunderliche #6» Tey der Aldina, fondern Ödwg in der Komplutenſis und Vulgata. Bolgende fieben Steffen überfegt er nad) fingufären Tomplutenfifchen Les⸗ arten: 19, 3; 21, 9. 27 (griech. Vs. 25); 23, 17 (geied. 3. 13); 43, 17 (griech. Be. 16f.); Be. 25 (grieh. 236); 46, 9 (grieh. 16, 3). Genauer habe ich diefe Stellen beſprochen in der „Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie“ 1872, ©. 531. Daß aber gleichwohl mur die Wenebiger Ausgabe der Aldina die Hauptgrundfage ber Rutherifchen Überfegungsarbeit gebildet Haben lann, glaube ih a. a. O. ©. 529ff. erwieſen zu Haben ?),

Zu den Freiheiten, die Luther fich erlaubte, gehören üftere Auslaffungen, von denen id nur drei namhaft machen will,

1) Ein Eremplar ber 1522 veröffentlichten komplutenſiſchen Polyglotte hatte Kurfürft Friedrich der Weiſe aus Spanien zum Geſchenk erhalten. Im Jahre 1548 wurde es mit der Turfürtlichen Schloßbibliothel von Wittenberg nach Jena gebracht, welche dafelbft den Grundftamm ber nachmaligen Univerfitäts- bibliothel bildet. Es muß alfo das Exemplar Luthern wohl zugebote ger Rauden haben. Dennoch bleibt deſſen Verhältnis zu diefer Bibelausgabe min« deſtens zweifelhaft. Vgl. meine Bemerkung in der „Zeitfhr. f. wiſſenſchaftl. Theologie” 1873, ©. 581. Im Luthers übrigen Apokryphen bin ich ſpezifiſch lomplutenſiſchen Lesarten nicht begegnet.

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zu denen für ihn guter Grund vorhanden war. Rämlid Kap. 12 zwifchen den Sah dis 16 dya9u zul un) dvsshaßn zod anap- To4od (im griech. Vs. 7; in ber Vulgata weggelaſſen), weil Sirach diefe Ermahnung ſchon faft unmittelbar vorher, Vs. 4, gegeben Hatte, nur daß er bafelbft edoeßet ſtatt dyada ge brauchte. In Kap. 41 zwiſchen 38. 17 und 18 läßt Luther fogar vier Glieder aus, von vopla dA xexguuusden bis voplar adrod (im Griech. 41, 14be bis Vs. 15ab) als wörtlide Wiederhofung von 20, 29. im Griechiſchen, bei Luther 20, 32f. Zwei Vorderfäge, deren jeder einen ziemlich gleichlautenden Nad- fag hat, verbindet er im einen einzigen, um der zweimaligen Wiederholung desfelben Nachſatzes überhoben zu fein. Ander⸗ feits macht er willkürliche Zufäge, nämlich 10, 22 (nach 10, 18 des Griechiſchen): „ber Menfch ift nicht böfe geſchaffen“. 12, 13: „und von ihnen zerriffen wird“. Nacdrudsvoll, obſchon bem Griechiſchen fremd ift das fiebenmalige „fchäme dich“ in 12, 23—29.

Dreimal überfegt er nad) Konjektur; nämlich 33, 31 (griech. 30, 40b os yuyr cov dmidenasig adrod): „denn dir bedarfft fein als deines eigenen Lebens“, alfo nad der von dem meiſten Späteren befolgten Konjeltur s Yuxijs vov. 36, 23 (griech. Vs. 26) überfegt er ndvre Agdeva Enıdeferas yurı) falih: „die Mütter Haben alle Söhne lieb“, und weiß diefe Überfegung nur dadurch zu fihern, daß er im folgenden Gliede Zar de Yvyarne Ivyargös xosloowv fehr kühn ftatt Fuyargos als vermeintlich richtige Lesart viod konjizierte: „und doch gerät bis weilen eine Tochter befjer als der Sohn“. In 42, 2 (ad im grieh. Texte) verftand er dixamdons dep nicht und über fest daher, al8 wenn edoeßi zu leſen wäre ftatt daefn.

Um Verfehlungen und Quid-pro-quo’8 zu übergehen, hebe ih als Beifpiel abfihtlih freier Wiedergabe des Griechiſchen nur folgende aus, durch welche er wahrſcheinlich den Gedanten des Schriftftellers zu verbeffern ſucht. So 41, 20—22 (grieh. 38. 17—198), wo er die Perfonen, vor denen ſich zu ſchämen Sirach ermahnt, zu Subjekten der Pflicht, fich zu fchämen, macht. Statt 43, 19 (gried. Vs. 17ed) wörtlich zu über

Luthers Uberſetzung ber alttelamentlichen Apokryphen. 888

fegen: „Wie herabfliegende Vögel ſtreuet er Schnee, und wie ſich niederlaſſende Heufchreden fein Ball“, giebt er dem Gedanken folgende ohne Zweifel viel ſchönere Wendung: „Und wie bie Vögel füegen, fo wenden ſich die Winde und wehen den Schnee durch⸗ einander, daß er fi au Haufe wirft, als wenn ſich bie Heuſchrecken nieder thun.“ Kap. 40, 18 (auch im Griech.) wiirde im mög⸗ fihften Anschluß an das Griechiſche zu überfegen fein: „Eines Genügfamen und Arbeiters eben iſt füß und doch über beides ift der, welcher einen Schag findet.“ Diefen auf das Irdiſche ger tigteten befehränften Sinn des judiſchen Weifen veredelt er dur die ſchöne freie Überfegung: „Wer fi mit feiner Arbeit nähret und läßts ihm genügen, der Bat ein fein ruhiges Leben. Das heißt einen Schag über alle Schäge finden.“ Schon der Alt- lateiner hielt Hier eine Verbeſſerung des Sinnes für geboten: „et in ea (d. h. vita sibi sufficientis operarii) invenies thesau- rum“. In zwei Stellen fucht Luther durch freie Überfegung das Delorum zu wahren: Kap. 26, 15 (gr. Vs. 124) würde wörtlich fo zu Überfegen fein: „Sie (das wollüftige Weib) öffnet jedem Pfeife den Köcher.“ Luther: „Sie nimmt an was ihr werden Bann.“ ap. 47, 21 (gr. 38. 19) überfegt er in einer Anrede an König Salomo: „Dein Herz hing fih an Weiber und fiegeft dich fie bethören“ ftatt wörtlich: „Du legteft deine Weichen an die Weiber und gabft dich in (ihre) Gewalt mit deinem Libe,- In drei Stellen giebt er Guomen in Reimen: „So gehet 8 dem auch, der ſich am die Gottlofen hänget und ſich in ihre Sünden menget“, 12, 13. „The nichts ohne Rat, fo gereut's dich nicht nad der That“, 32, 24 (gr. 35, 19). „Geld und Gut machet Mut; 40, 26 (aud im Griech.). Eine Banonomafte bringt er an in 18, 5: „wehren noch mehren“, wo 8 nach dem Griechifchen Heißen müßte: „mindern noch bins zuthun“.

Wahrſcheinlich um dem chriſtlichen Bedurfnis beſſer zu ent ſprechen, gebraucht er häufig den Ausdruck Gottes Wort, wo die Tertvorlage etwas anderes Hat. So fr vonos in 9, 22 (w. 38. 15), 15, 1; 32, 19 (ge. 35, 15) und Be. 28 (gr. 23); 35 (gr. 36), 2; für sople in 4, 15 (gr. 88. 14);

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34, 8 (gr. 31, 8); für dadıjem Heod 11, 20 (gr. BE. 18); für defmmoıs Isle 6, 35 (gr. BE. 34). Die Redensart xera- onsöderv ant va zginara advod (d. i. 9600) zu Gottes Ge boten eifen, d. 5. ihre Kenntnis und Befolgung ſich eifrigft an gelegen fein laſſen, überfegt er „fleißig Gottes Wort hören“, 18, 14 (gr. 88. 13°),

Bekanntlich, liebt es Luther, da wo die Sache es mit fih bringt, wo e8 fi um Unebles und Gemeines Handelt, ftarfer und maffiver Ausdrücke der Vollsſprache ſich zu bedienen *). Aber in keinem Buche hat er es Häufiger gethan, ala im Sirach, wo er Dinge des gemeinen Lebens befpricht. Das Außerordentlichfte in diefer Beziehung leiftet er in Kap. 31, 12f. (griech. 34, 12): „Wenn

du bei eines reichen Mannes Tiſch figeft, fo fperre deinen Rachen ,

nicht auf, und denke nicht: Hier iſt viel zu freſſen.“ Vs. 19 (gr. 38. 20): „ig wie ein Menſch was dir vorgefegt ift und feiß nicht zu fehr“. Kap. 37, 32—34 (gr. 38. 29): „Friß nicht zu gierig, denn viel freffen macht Trank und ein unfättiger Fras kriegt das Grimmen. Viele haben ſich zu Tod gefrefien °)."

Es erübrigt noch zu bemerken, daß Luther auch den Prolog

des griechifchen Überſetzers des Sirachsbuchs mit verbeutjchte. Da derfelbe in den fpäteren Oftav» Ausgaben der Tutherifchen Bibel weggelaffen wurde €) und demzufolge vielen unferer Leſer nicht zur

1) Mit berfelben Freiheit fegt er Gottes Wort für »owos 2 Macc. 2, 21; für 9eloug vonous, 2Macc. 4, 17; Aöyor dyasol (tröftende Worte) 2Macc. 15, 11; für BupAla äyın, 1Macc. 12, 9; für via veritatis, Tob. 1, 2; für timere deum 1, 10; monita salutis 1, 15; Gottes Wort und Strafe für zefpara: dixam, Sufanna, 8. 9. Solcher Freifeit im Gebranche des Ausdrudes Wort Gottes bedient fid Luther im Kanon nur Micha 6, 8; 7, 11. Hofea 4, 1. 6.

2) Ausführlich behandelt diefen Punkt Wegel, Die Sprache Luthers in feiner Bibelüberfegung (Stuttgart 1859), ©. 31ff.

3) Ausführlicheres |. im meiner Abh. in dev Zeitſchr. f. wiffenfchaftl. Theologie 1872, ©. BBBf.

4) Aus den genauen Nachrichten, welde Herr Paſtor Karl Bertheau in Hamburg nad) forgfältiger Einfiht in die reiche Sammlung Intherifcher Bibeln in der Hamburger Stabtbibliothel auf meine Bitte mir gütigft hat zugehen laſſen, glaube ich mit ziemlicher Sicherheit annehmen zu bürfen, dab fünntfiche Foiobibeln von 1534 an bis zur Testen Auflage ber Kurflärkbibel

Luthers Überſetzung ber altteſtamenilichen Apokryphen. 885

Hand fein wird oder nicht zugebote fteht, bderfelbe aber in bie tevidierte Bibel wieder aufgenommen werden fol, fo teile ich ihn bier mit, indem ich die von der Reviſionskommiſſion in ihm bes ſchloſſenen Änderungen durch gefperrten Drud bemerkbar made, darunter zur Vergleichung Luthers eigene Lesarten fege. Luther hat ihn in vier Abfäge geteilt. Diefelben follen in ber revi⸗ dierten Bibel mit der Stier ſchen Versabteilung in der Art vers bunden werden, daß der Anfang eines jeden Abſatzes durch einen fetten Anfangsbuchftaben bezeichnet wird.

386. 1. Bieles und Großes iſt uns gegeben durch das Gefeg und die Propheten und die anderen‘), fo denfelbigen nachgefolget, daher man muß Israel billig loben um ſolche ) Weisheit und Lehre,

88. 2. Darum follen nicht allein die, fo es Haben und leſen, beije daraus werden, ſondern au denen in der Fremde ®) dienen mit Lehren und Schreiben.

vom Jahre 1768 (und auch wohl die Quartbibeln, mit Ausnahme ber Fan- Reichen) neben Luthers Vorreden zu den einzelnen bibliſchen Büchern aud die Überfegung des Prologe zum Bude Sirach enthalten. Die Angabe der Er- langer Ausgabe der Werte Luthers, Bo. LXII, ©. 102, daß bie Sirachvor - ide erft in der Ausgabe von 1545 entfalten fei, iR faljch, wie ich aus Wer- gleihung ber auf ber jenaiſchen Univerfitätsbibliothet befindlichen Ausgaben don 1534 und 1586 fonftatieren kann. Aber auch viele Oftavbibeln, wie die Minebieger von 1686, 1659, 1690, 1693, 1707, bie Wittenberger von 1664, 1702, die Leipziger von 1704, 1710, 1738; die Stuttgarter im Pfaffichen _ Vibelwerke enthalten genanute Vorreden. Folgende Ausgaben Haben nur bie Giraborrede.: Frankfurt a. M. 1582, 1602, Straßburg 1596, Hamburg 1690, 1708, Stuttgart 1704. Beide Vorreden fehlen in ben Ausgaben von Straßburg 1587, Nürnberg 1688, Baſel 1698, Stade 1703. Seit dem dritten Jahrzehent des 18. Jahrhunderts feinen fie in allen Oftavbibeln weg« gefallen zu fein. Bon den Züriher Bibeln fanden mic zu Vergleichung dugebote nur bie erſte vollftändige Ausgabe von 1580 in Oktav, desgleichen die von 1828 und bie zuletzt durchgreifend vevibierte von 1868. Nur Ietere enthält die Sirachvorrede.

1) uther: „Es haben uns viel und große Lente bie Weisheit ans dem Geſetz, Propheten und anderen dargethan“, nad; der Bulgata: „mul- torum nobis et magnorum per legem sapientia demonstrata est“.

2) Luther: „ihre“.

®) Luther: „andere mehr”.

386 Grimm

28. 3. So hat mein Großvater Jeſus, nachdem er fih fonderlich befleißiget zu Iefen das Geſetz, die Propheten und die anderen Bücher, fo und von unferen Vätern gelafjen find,

und ſich wohl darinnen gelobt Hatte, fi vorgenommen?) |

and etwas zu fehreiben von Weisheit und guten Sitten, 8. 4. auf daß die, fo gerne lernen und klug werben wollten, defto verftändiger und gefchicter witrden, ein gut Leben zu führen. 28. 5. Darum bitte ih, ihr wollet es freundlich annehmen

und mit Fleiß Tefen und uns zu gut halten, fo wir etwa in |

einigen Worten gefehlt haben, obwohl wir alten Fleiß gethan Haben, recht zu dolmetſchen ?).

38. 6. Denn was in ebräifcher Sprache gefchrieben ift, ia lautet nicht fo wohl, wenn man's bringet In eine andere Sprache

38. 7. Richt allein diefes mein Buch, fondern and das Oefeg felber und die Propheten und die Abrigen‘) Bücher lauten gar viel anders, werm fie in ihrer eigenen‘) Sprache gerebet werben.

28. 8. Als ich nun in Ägypten kam im achtundbreißigften Jahre des Königs Ptolemäus Energetes und drinnen‘) blieb, gewann ih Raum viel Guts zu leſen und zu ſchreiben.

38. 9. Darum fehe ich's für gut und not an, daß ich den Fleiß und die Mühe darauf legete und dies Buch verdolmetjſchte.

38. 10. Und wie viel ich Zeit hatte, arbeitete ich und Fehrete Fleiß an, daß ic dies Buch fertig machte ) und an Xu brächte, auf daß aud die in der Fremde”), fo lernen wollen, ſich zu guten Sitten gewöhnen, anf daß fte nach dem Gefege deb Herrn leben mögen.

2) Luther: „Mein Großvater nahm er vor“. 9) Luther: „ob wir nicht fo wohl reden Fönnen, als die berllhmten Redner“. 3) Luther: „des Geſetzes, der Propheten und anderer“. 4) Luther: „unter ihrer“. sh 5) Luther: „zur Zeit des Königs Ptofemäi Euergetis und ſein Leben laug innen“. 6) Luther: „ausmacht“. 7) Luther: „die Fremden“.

Luthers Überjegung ber aliteſtämentlichen Apokcyphen. 887

Das erfte Buch der Makkab äer erſchien zuerft 1533 zu Wittenberg in zwei Einzelausgaben unter dem Titel: „Das Buch don den Maccabeern, darin dns Furbilde des Endehrifts, Antiochus, beſchtieben iſt.“ Der einen diefes Ausgaben ift beigefügt „Die Hifterie von des Suſanna und Daniel“ und „Vom Bel und Drachen zu Babel“. Im erften Maccabäerbuch iſt Luther ſeht Häufig der Vulgata gefolgt. So gleih zu Anfang, wo er zu „Alexander“ als zweite Uppofition beifügt „der erfte Monarch as Grucia“ und fo die Schwierigkeit glücklich umgeht, welche im Griechiſchen mmodreoos oder rgdregov verurſacht. Kap. 2, 1: ‚auf dem Berge Moden“, Bulg.: in monte Modin, griech. &v Mudev, 2, 9 Täßt er in Übereinftimmung mit der Bug. des griech. drsexecdvgn sa vie adrijs unüberfegt. 2, 15: tt opfern und zw räuchern“, Vulg. immolare et accendere thura, griech. blog va Ivoıdawaı, 2, 16: „bleiben bes ſtandig“, Vulg. constanter steterunt, was als pafjenderer Gegen. fag erſchien als das griechiſche auıiiggnsar. 3, 6: „feine deinde“, inimiei ejus, griech. ol dvonos. Rap. 9, 1 ftellt Luther nach Vorgang der Vulg. (interea) am die Spike des Soges „mitklerzeit“, zum Vortell des geſchichtlichen Verſtänd⸗ niſſes. Rap. 16, 10: „Da verbrannte Johannes bdiefelbigen deſtungen“, nad; dem lateiniſchen eas,' auf turres bezogen. Aber nach dem Griechiſchen verbrannte er die Stadt, sm. Val. meinen Kommentat zu d. St. Außerdem vergleiche man 2, 325.; 3, 15; 7, 41; 8, 17; 9, 88; 50; 16, 10. Mehrere Formen von Eigennamen entwimmt er dem Lateinifhen, nämlich Laiſa 9, 15; Bethbeſen 9, 62. 64; Odaren 9, 66. Bei der großen Freiheit, die er in Behandlung diefer Bücher fich geflattete, lam e8 oft zweifelhaft fein, welchem der Beiden Texte er folgte. Aber an vielen Stellen iſt es fonnenflar, daß das Griechiſche der Aldina tum als Vorlage diente. So z. B. 9, 40: „Jonathan und Simeon“, griech. od mregd Iovdday, während ber Lateiner feine Subjette namhaft macht. Kap. 13, 20 Tann „war Ihm ſtets zur Seite“ nur Überfegung von dvssmagiyev ads fein; Valg. ambulabant. Rap. 13, 29 überſetzt Luther mavondie wie Weish. 5, 18. Eph. 6, 11 u. 13 mit Harniſch, während

838 Grimm

Bulg. arma hat. Vol. außerdem 3, 48; 4, 15; 5, 3; 7, 2; 9, 48; 11, 63; 15, 22f.; 39; 16, 4.

Als Beiſpiele von zum Teil ungemein freier Überfegung oder Baraphrafe find Hervorzugeben: 1, 16. (Über 1, 38. ſ. unten) 2, 6f. 35. 49; 3, 43—48. 51. 55; 4, 3; 5, 38. 45—48; 6, 57; 8, 9; 10, 78; 11, 12. 18; 9, 11. 66; 11, 58; 12, 42. In 14, 9 überfegt Luther: „Die Ülteften faßen im Regiment unverhindert und hielten gute Ordnung, und bie Bürger befferten fi fehe am ihrer Nahrung und fchafften Waffen und Borrat zum Kriege“, während es textgemäßer heißen müßte: „Die Alten foßen auf den Gaffen und redeten mit einander von des Landes Beftem, und die Yüngeren Meideten ſich mit Ehren und Kriegsräftung.* Es iſt nicht zu verkennen, daß hier Luther ein angemefjeneres und genaueres Bild des von boransgegangenen Drangfalen befreiten Landes giebt, als der Sthriftfteller. Damit hängt zuſammen Vs. 12: „Und ein jeber befag feinen Weinberg und feinen Garten" ftatt des wörtlichen: „ſaß unter feinem Wein⸗ fto und unter feinem Feigenbaum“, Vs. 12. Während er fonft Hn und xad Zyevero überall überfegt: „und es begab fi“ ober „und es geſchah“, Täßt er es in unſerem Buche unüberjegt: 1,15 5,15 6, 8; 7, 2; 9, 23; 10, 38%). Ex feßt bie direlte Rede in indirelte um: 5, 17. 19. 82. 42. 48; 7, 3; 10, 34, 55. 56 (hier fogar den Inhalt eines Briefs); 63; 11, 9—11. 55. 57. (Cbenfo 2Mace. 9, 4; 14, 9; 15, 2, und umgefehrt die indirekte in direkte 2 Mac. 3, 10—12). Wo er. glaubt, daß es der Logifchen Ordnung befier entfpredhe, ftellt er Säge um: 5, 11; 6, 49; 7, 42; 10, 80. 84; 12, 28. Im Intereſſe der hiſtoriſcheu Wahrheit lieſt er Kap. 8, 8: „Jonien umd Afien“ ftatt des textuellen „Ondien und Medien“. Er ver ſchmilzt mit ber Überfegung feine Auslegung. So 3, 45: „Das Heiligtum war entweiht mit dem Gößen, der darin geftellet war“

1) Dasfelbe gilt von dem dem genannten hebräiſchen Ausbrud im Sinne gleichfommenden, im 2. Macc-Buch fehr häufigen ovseßn (vgl. meinen Rom- mentar zu 8, 2). Nur 10, 5 umfchreibt er ihm fehr paſſend mit: „Und Gott ſchidte es affo”. J

Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apotrypheu. 889

(vgl. mit 4, 43) nad der älteren Meinung, daß Antiochus IV. eine Statue des olympifchen Jupiter im Tempel habe aufftellen Tafjen. 11, 8: „unterftand fich Alexander zu vertreiben“ ftatt „er ſann gegen Alerander böfe Anfchläge*. Vs. 60 „Euphrat“ ftatt „Buß“ 16, 1: „zeigte ihm an, daß Cendebäus ihnen ins Land gefallen wäre und hätte Schaden gethan“ ftatt „was Cendebäus vollbracht“. Das Üußerfte in diefer Beziehung leiftet er 1, 38 (grieh. 36), wo er die fehr anſchauliche Vorftellung, die er fi von der dafelbft erzäplten Sache macht, in Form von folgender Überfegung mitteilt: „Und belagerten da das Heiligtum und lauerten auf die Leute, die in den Tempel gingen und fielen heraus aus der Burg in das Heiligtum, den Gottesdienft zu wehren“ ftatt des tertgemäßen: „und ward im Hinterhalt gegen das Heiligtum und ein böfer Widerſacher gegen Israel alle Zeit“.

Nicht felten macht er Zufäge, wie 2, 56: (Caleb) „ftrafte das Boll“. 6, 49: „darinnen man die Felder mußte feiern laſſen, und fie erlangten Geleit vom Könige, daß fie ſicher Heraus möchten gehen“. 7, 2: „Hauptftadt“. Vs. 11: „aber es war eitel Betrug“. 8, 5: „neulich“ und Vs. 7: „jährlich“. 9, 7: „zu tröften“, und Vs. 17: „da mußte ſich Judas gegen diefe ehren und wehrete ſich lange“. Vs. 55: „Gott frafte den Alcimus“. 10, 38: „und Galilaa“. 11, 67 zur Orientierung der Lefer: „des vorigen Demetrius Sohn“. 11, 42: „aber jegt bin ich in großer Gefahr“. 13, 21: „ehe fih’8 Simon verfähe". 08.23 falſcher Einfag: ‚Juda“. Vs. 37: „die wir euch zuvor zu erlaffen zugefagt haben“.

Größer als die Zahl der Einfchiebungen ift die der Auss laſſungen. Da, wie wir ſahen, Luther durch die Einfäge, fo wie durch freie Überfegung dem Verftändnis ber Leſer zuhilfe zu tommen fucht, fo Haben wir die Auslaffungen wohl nicht in Leichtſinn oder Eilfertigfeit, fondern in der ſehr wahrjcheinlichen Meinung zu fuchen, daß das Ausgelaffene zum Verftändnis des Erzälten nicht unbedingt nötig feit). Außer dem unten in der

4) Schon ber 1720 als Generalfuperintendent von Bremen und Berden geftorbene, durch die Stader Bibeln um den Tert der Lutherbibel ſehr ver- Theol. Stad. Dahrs. 1888. 26

5” 5 Grimm

Anmerkung angeführten Stellen find zu bemerken: In 8, 8 iſt nad „Held“ ausgelaffen: „gürtete ſich mit Kriegswaffen, that Schlachten“ ). Kap. 3, 37 verkürzt Luther; voliftändig muß es heißen: „und der König nahm die andere Hälfte feines Kriege- volles und zog aus von feiner Stadt“. Kap. 4, 21 zu Ans fang ift einzufegen: „Da fie aber das fahen, murden fie ſehr verzagt.“ Kap. 5, 7 muß es vollftändig lauten: „und fie wurden von ihm gefchlagen, und er ſchlug fie“. 5, 28: „mit feinem Heere* nad „Zudas“. 5, 54 übergeht Luther die ihm wahrſcheinlich unglaublich vorfommende Angabe, daß fein einziger Zube in dem erzählten Feldzuge umgelommen fe. 6, 2 frei and verkurzend: „Der König ans Macedonien“ ftatt: „Der Mace- donier, welcher der erfte König der Griechen war“, 6, 37 wird nad) „Turm“ in Luthers Sprache zu ergänzen fein: „fe auf feinem Rüden wit Kanft gegürtet war." 6, 58: „Loft uns biefen Renten die Hand reihen und“. Rap. 8, 7 überjekt Zuther den Satz Naßoy adrov Lüvre nicht, jedenfalls wegen deſſen Ungeſchichtlichteit. 8, 15 übergeht er die falfche Angabe, daß der römifche Senat fid täglich verſammelt Habe. 9, 5 überjegt er &xAexrof nicht, wahrſcheinlich weil nach dem folgenden Verſe die Betreffenden diefes Prädilates fich nicht wurdig er- wiefen. 9, 34: „am Sabbat“ und „über den Jordan“, zwei ſchwer zu rechtfertigende Auslaffungen. 9, 45 am Schluß: „ımd & ift kein Raum zum Ausweichen“. 10, 33: „ohne Der zahlung“ (dugsav) nach „frei fein". 10, 35 am Schluß:

diente Johann Diecmanı fand folgende Ergänzungen für nötig, bie nad- mals in die Canſteinſchen und meiften fpäteren Ausgaben aufgenommen wurden. Kap. 1, 68: „und e8 war ein großer Zorn über Israel”; 5, 52: „gegen Bethfan über“; 10, 49: „fi unter einander“; 18, 48: „und dankte und obere Gott“. Desgl. in 2Macc. 11, 18: „anf billige Mittel”. Die in 2Macc. nad 8, 2 von Luther gelaffene größere Lüde (über diefefbe f. nuten) zu ergänzen nahm Diecmann Aufland, um den Vorwand eigenmächtiger Beränderung oder Interpolation ber deutſchen Kirchenbibel zu entgehen. Vgl. Palm a. a. D., ©. 398.

2) Deine Überfegung de8 Ansgelaſſenen gebe ich in Worten and bem Spradjfchatg der Lutheriſchen Überjegung.

Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apokryphen.

„und fol niemand Macht Haben ihrer einen zu bedrängen und zu beſchweren vonwegen einiges Handels“. 10, 42: „oder deſſen Zugehör“ (vgl. 11, 34) nad „Tempel“. 11, 4: „und ihre Borftädte" nad „Stadt. 11, 34: „fo von Judäa zu Sa- maria gethan find“ nad „Ramathä*. 12, 53 „und eroberte es“ nah „Joppe“. 13, 1 ift FIoose röν Auöv nicht überfegt. 13, 51 verkürzt Luther „mit allerfei Saitenfpiel*, ftatt defjen es voliftändig lauten muß: „mit Zithern und Zymbeln und Lauten und Pfalmen und Liedern“. 15, 1 und 14 ftarfe Verkürzung. 15, 2: „und Zürften“ nad „Hohenpriefter“. 16, 3 „und ihr fteht durch Gottes Gnade in den beften Jahren“ (fehlt auch in der Vulgata) ?).

Noch ift zu erwähnen, daß Luther 7, 45; 9, 52; 18, 54; 14, 7. 34; 15, 28. 35; 16, 1. 19. 11 fuiſchüich Gaza ftatt Gazara oder Gazera gefegt Hat. Au ift unferem Buche der fonft nirgends in der Bibel gebrauchte Ausdruck mittlerzeit eigentümlih: 6, 55; 9, 1. 675 11, 41; 12, 18; 13, 89; 15, 25. Zu bebauern ift, daß Luther das dem König Ans tlochus IV. erteilte Prabilat Zrupavıjs nach Vorgang der Vul- gata in 10, 1 (nobilis) mit Edler überfegt, da der gewöhnliche Leſer aus dem Vollke diefes Wort im ſittlichen Sinne ver ftehen und darum nicht begreifen wirb, wie man einem Könige, von dem fo große Granfamfeiten berichtet werden, diefes Prädikat habe erteilen Tönnen. Entweder war der griechiſche Ausdruck beie zubehalten (dies das Ratlichſte) oder der Erl auchte zu über fegen.

Das zweite Buch der Maccabäer, die Bücher Tobias und Baruch, der Gefang der drei Männer und die Stüde in Eſther deinen nicht in Einzeldrucken (wenigſtens wird nirgends folder gedacht) erfchienen, fondern unmittelbar aus der Preſſe in bie erfte

3) Die falfe Lesart maidas, Bırlg.: pueros (flattrrddas), in 8, 42 Bat Luther mit Recht unllberſetzt gelaffen. 26*

32 Grimm

vollftändige Bibel vom Jahr 1534 aufgenommen zu fein‘). Das zweite Bud; der Maccabäer Hat Luther gerade fo bes handelt, wie das erfte, nur daß er die Vulgata ungleich feltener benugt. Derfelben gehören an: „bie mit ihm waren“ (qui cum eo erant) 1, 16. „Den Ort“ (hunc locum, gried. zoüro, diefes Wafler) 38. 36 „und fegte den Menelaus ab“ (et Menelaus remotus est a sacerdotio) 4, 29. „Antiochien“ ftatt „Athen“ 6, 1. „am fünften Tage“ ftatt „am fünf und zwanzigften“ 10, 35. „Diostori“ ftatt „Xanthikus“ 11, 9. „eine Stadt, die mit Brüden wohl bewahret und mit einer Mauer umfchlofjen war“ (eivitatem firmam moeris pontibusque circumseptam) 12, 13, wo Luther offenbar wegen der Unklar⸗ heit des griechiſchen Textes ben lateiniſchen vorzieht. Belege dafür beizubringen, daß er ſonſt überall aus dem Griechiſchen überfegt, Halte ich für unnötig. Ich bemerke nur, daß das 1, 24 von Gott gebrauchte Präbifat „Gefalbter“ Überjegung der aldinifchen Lesart xeoros ift ftatt genazds, Vulg. bonus.

As Beifpiele ſehr freier Überfegung oder Umſchreibung find hervorzuheben: 2,29 (griech. Vs. 28); 3, 16; 4, 30. 37. 40; 5, 10 (Hier paraphrafierende Briefe); 6, 23; 7, 2. 22; 9, 4. 8. 11; 9, 28. 12. 15. In 9, 28 überjegt er &v vols Ögeaıw „in ber Wildnis“, woburd das Tragiſche des Todes Antiochus’ IV. fchärfer gezeichnet wird. Nicht übel find folgende Zuſätze oder Einfhaltungen: „Diana“ 1, 14, mwodurd er den Lefer belehren will, welches Wefen unter Nanäa (oder wie er ſchrieb Nane 38. 15) zu verftehen ſei; „innge“ vor „König“ 4, 21. „Wiewohl es ein ungleiher Zeug war“ 10, 28; „und ftopfe die böfen Mäuler“ 14, 36. Unbefugt dagegen ift der Zujag: „die nicht befegt war“. Anderwärts verfürzt er: 2, 32f. (grieh. 38. 31f.); 12, 39; oder erlaubt ſich Anslafjungen. So hätte er 1, 16 beginnen follen: „und öffnete die verborgene Thür der Dede". In 4, 13 überfegt er: „und das heidniſche Wefen

2) Bol. Schott a. a. O., ©. 73f. Ohne einen Beleg beizubringen, Täßt die Erlanger Ausgabe von Luthers Werken LXIII, 98, 103. 106f. bie genannten Apokryphen zuerft im Jahre 1588 erſcheinen.

Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Apokryphen. 8393

nahm alfo überhand“, ftatt deffen es volfftänbig heißen müßte: „Und das Heidnifche Wefen nahm durch des gottlofen und Nichte Hohenprieſters Yafon alfo überhand“. Von jeher hat man bie Auslaffung des längeren Abfchnittes 8, 33 —36 befremdlich und unerffärlich befunden 1).

Die Revifionskommiſſion hat die Lucke in folgender Faſſung anszufüllen befchloffen. Vs. 33: „Sie feierten aber den Sieg daheim zu Serufalem und verbrannten den Kallifthenes und einige andere, welche die Heiligen Thore angezündet hatten und in ein Heines Haus geflohen waren, daß fie alfo den verdienten Lohn ihres gottlofen Weſens empfingen.”

28. 34: „Der Erzböfewicht Nifanor aber, der die taufend Kaufleute mitgebracht Hatte, daß fie die Juden Kaufen follten“,

38. 35: „wurde durch die Hilfe des Herrn von denen ger demütigt, die er für die allergeringften gehalten Hatte. Und nach⸗ dem er fein prächtiges Gewand abgelegt hatte, kam er ganz allein wie ein entlaufener Knecht mitten durchs Land nad Antiochien und war über die Maßen traurig, daß fein Heer zunichte geworden war.“

38. 36: „Und der ſich untermunden Hatte, er wollte von den Gefangenen Jeruſalems das Geld Töfen, das er den Römern jährlich zu bezahlen ſchuldig war, mußte verfündigen, daß Gott für die Juden ftreite, und dag die Juden darum unliberwind« lich feien, weil fie wandelten in den Geboten, die ihnen Gott ge⸗ geben hat.“ -

Endlich Hat Luther in 9, 25 die Worte yeygaya da roös

1) Solfte (mm eine nur ſchüchterne Vermutung auszufpredien) ber Grund der Auslaffung vieleicht in einem äſthetiſchen Interefje Luthers zu fuchen fein? Die Heine Erzählung macht nämlich den Eindrud, als müßte Nikanor mit der ſchimpflichen Flucht feine Rolle ausgefpielt Haben und aus der Geſchichte ver« ſchwunden fein. Num aber tritt er von Kap. 14, 12ff. vom neuem auf dem Schauplatz. Da mochte Luther das 8, 88 ff. Erzählte für eine das zwiſchen den Juden und Nilanor ſich abjpielende Drama ftörende Scene halten. Oder aber auch, er hielt es für unwahrſcheinlich, daß der Mann, ber durch bie ſchimpfliche Flucht das Anfehen des ſyriſchen Königtums fo ſchwer Tompro- mittiert Hatte, bald darauf wieder eine Hohe und einflußreiche Stellung erlangt habe.

3 Grimm

avsov za Unoysyganusva ficher mit Abficht ausgelaffen, weil der Erzähler den von Antiohus Epiphanes angeblich an feinen Sohn und Nachfolger gejchriebenen Brief nicht mit aufgenom⸗ men hat.

Nicht unintereffant iſt es, wie Luther über die Aufgabe des Überfegers fi; Hinwegfegend als Kritiker verführt in 1, 7 und 10. Um nämlich (griech. Vs. 9) die befannte in dem Datum „im Jahr 169“ (aer. Sel, = 143 vor Ehr.) liegende, gegen die Echtheit des Briefes (griech. 1, 1—9) entſcheidende chronologiſche Schwierigkeit zu befeitigen, ftellt er dasfelbe an den Anfang des zweiten Briefs in Vs. 10 und tilgt das an den Schluß von Vs. 9 gehörende Datum „im Jahr 188“ (— 124 vor Ehr.). Da mun aber unter dem Vs. 10 genannten Judas der Schrift ſteller ſicher Judas den Macrabäer verftanden Hat, der in ge nanntem Fahre nicht mehr Iebte, fo wandelt er den Namen in Zohannes um, indem er ohne Zweifel Johannes Hyrlanus verftanden wiffen wollte. In 11, 33 und 38 modte er es (freifig mit Unrecht) für unwahrſcheinlich Halten, daß die Be. 27 bis 33 und Vs. 34—38 erwähnten Urkunden an einem und dem jelben Tage ausgeftellt fein, daher ex das Datum von 11, 38 als Zeitangabe zu 12, 1 zieht.

Betannt ift Luthers Art, für bibliſche Münzen, Maße, Amter, Amtstitel, Gebräuche u. dgl. deutſche Bezeichnungen mehr oder weniger analogen oder auch fehr entfernt ähnlicher Objekte zu ger brauchen. Aus den Maccabäerbüchern gehören hierher: „Vogteien“ (auch von de Wette beibehalten) fir somagyeaı, 1 Marc. 10, 30 (griech. 88. 28); „Ämter“ (— Amtsbezirke) 2 Macc. 3, 3; „ben Ball ſchlagen“ ftatt „den Diskus werfen" 4, 14; „einen Reichstag ausſchreiben“ 4, 21; „Malen“ (für Idgao) 10, 7; „35000 Gülden“ ftatt „70000 Dramen“ 10, 20; „April“ für mxantifus“ 11, 30. Hie und da in feiner Bibel nennt er die heidnifchen Tempel Kirchen), aber doch in feinem Buche fo Häufig als im 2. Macc. Buch, nämlih 1, 15; 6, 2 (zweimal);

1) Ausführlich ‚handelt über diefes Wort Jütting, VBiblifches Wörterbuch zu Luthers Überfegung (Leipzig 1864), ©. 100f.

Luthers Überfegung der altteftamentlichen Apokcyphen. 20

9, 2; 10, 2; 14, 33 (wo Nifanor fagt: „Ih will diefes Gotteshaus fchleifen und dem Bacchus eine ſchöne Kirche an die Statt fegen.“ (Bol. auch Baruch 6, 42.) Vom Tempel in Serufalem gebraucht er den Ausdruck nur 2 Macc. 2, 9.

In den Maccabäerbüchern ftimmen oft ganze Stellen ber Züricher Bibel vom Jahre 1828 mit der Lutheriſchen überein. Hierans ift aber nicht etwa zu fchließen, daß Luther jene Bibel, deren erfte vollftändige Ausgabe fehon 1530 erfchien, benußt habe. Denn biefe erfte Ausgabe bietet von Luther ganz Verfchiedenes. Die teifwelfe Übereinftimmung kann daher nur durch eine ber öfteren Reviftonen bewirkt worden fein, welche diefe Bibel unterzogen wurde und in denen man Luthers Bibel benutzte.

Völlig unbegründet, weil auf einen Hiftorifchen Beweis geftigt, ift die Angabe des von hoher Bewunderung feines Lehrers Meland- thon erfüllten David Chyträus, daß bie Maccabäerblcher von Melanchthon überjegt fein, mie ſchon der Charakter ihres Deutſch beweife, welches reiner und verftändlicher fei, als das Lutheriſche 1). Alten wie Hätte im diefem Falle Suther auf dem Titel der Uransgabe des erften Buche (vom zweiten ift eine ſolche nicht befannt) als Überfeger ſich bezeichnen können? Im Kenntnis und Handhabung des Deutſchen aber iſt Luther bekanntlich von feinem feiner Zeitgenofjen übertroffen worden. Melanchthon „jchreibt fein fließende Deutſch. ebenfalls nimmt es ſich neben dem Luthers recht unbeholfen ans.“ %) Auch würde Melanchthon wohl

1) Im Onomasticum (ed. Viteb. 1578) p. 486 (id) entlehne bie Aufüh- zung aus Schott a. a. O, ©. 71) fagt Ehyträus: „In germanicis bibliis duo primi tantum Maccabaeorum libri ex graeca in teutonicam linguam conversi sunt & Philippo Melanchthone. Quem versionis germanicae auctorem etiam oratio propria et purissima et multo simplicior et fa- cilior, quam in ceteris bibliorum lihris demonstrat.“ Diefe Behauptung iR von Martin Mylius (Chronographia scriptorum Mel. ad ann. 1529), Strobel (Melanchthons Berbienfte um bie Beil. Schrift, Altdorf 1773, ©. 19) und anderen nachgeſprochen worden, von Palmer (a. a. O., S. 289), Ban- 3er (a. aD, ©. 248), Schott (a. a. D, ©. 71), Matthes (Phitipp Melanchthon [Altenb. 1846], &. 58) mit Recht zuräichgerviefen.

2) Adolf Pland, Melanchthon (Nördlingen 1860), &. 100.

8% Grimm

ſchwerlich fo viele Freiheiten in der Verdeutſchung ſich geftattet haben wie Luther.

Ganz denfelben Erfheinungen, in Freiheit der Überfegung, um- fhreibungen, Erweiterungen und Verfürzungen, Ausfaffungen und Zufägen, einzelnen kritiſchen Verbefferungen des Inhalts der bibfifen Texte, wie in Sirach und den Maccabäerbühern ber gegnen wir auch in dem übrigen Apofryphen. Da diefe von ger tingerer Wichtigkeit find, fo befchränfe ich mich auf einzelnes Charafteriftifche. Wie ſchon bemerkt ward, Hat Luther die Bücher Judith‘) und Tobtä aus der Vulgata überſetzt. Doch hat er es auch nicht an einzelnen Blicken in den griechifchen Text fehlen laffen. Dies ergiebt fih aus den Namensformen Hydafpes (Zulg. Jaduson), Arioch (Vulg. Erioch) beides in Judith 1,6 —, Bagoa (Bulg. Vagao) 12, 11; ferner aus der dem Sinne fehr angemeffenen Überfegung „was er (Gott) vor Hat“ (& EßovAsdoaro; Bulg. quae cogitavi), 12, 4; endlich aus 16, 19 (griech. Vs. 16): „Denn alles Opfer und Wett ift viel zu gering vor dir, aber den Herren fürchten ift fehr groß“, welchen Gedanfen die Vulg. übergangen hat. Das Wort Box (Bulg. abra), Lieblingsſtlavin, Zofe, Hielt Luther für einen Eigen» namen (worin ihm Stier in feiner verbefjerten Lutherbibel ges folgt ift), indem er überfegt „ihre Magd Abra“ (Vulg. abram suam) 6, 2. 11; 16, 28.

Auch im Bude Tobiä läßt Luther den griechiſchen Text nicht unberüdfichtigt, indem er 13, 10 (Vulg. Bs. 11; griech. Vs. 9) überfeggt „wird dic) zuchtigen“ (waarıydosı, Vulg. castigavit te), „aber er wird ſich dein wieder erbarmen“ (mad Zisjaeı, welden zweiten Sag die Vulgata wegläßt). Sehr richtig, da ber Erzähler feinen chronologifch-Biftorifchen Standpunkt in der Zeit

1) Bom Buche Judith kannte Palm nur einen Magdeburger Nachdrud vom Jahre 1634; Bindfeil (a. a. O. V, 4) hat den in ber Kirchenbibfiothet zu Arnſtadt befindlichen Wittenberger Originaldruck (vom bemfelben Jahre) verglichen.

Luthers Überfegung der altteftamentfichen Apokryphen. 89

zwiſchen dem aſſyriſchen und babylonijchen Exile nimmt, folglich Zerufalem und deſſen Tempel als nod) beftehend vorausfegt, aber ben alten Tobias deren Zerftörung und prächtige Wieberherftellung in der meffianifchen Zeit weisfagen Täßt, 14, 4—7 (bei Luther Be. 6—9); 13, 9—18 (bei Luther Vs. 10ff.) . Mit Rüdfict hierauf läßt Luther 13, 18 den alten Tobias fagen: „wird er Löfen“, ftatt liberavit in der Vulgata. lm den vom Erzähler genommenen, in der Bulgata und demnach auch bei Luther verdunfelten chrono⸗ logiſch /⸗hiſtoriſchen Standpunkt ans Licht treten zu laffen, foll nad Beſchluß der Revifionsfommiffton Kap. 14, 6 u. 7 im Anſchluß au das Griechiſche künftig alfo gefefen werden:

„Zeuch nad) Medien, mein Sohn! Ninive Friede fein. Und unfere Brüder werden zerftreut werden aus dem guten Rande, Und Jeruſalem wird wüfte fein und das ‚Haus Gottes darin verbrannt werben und wird wüfte fein eine Zeit lang.“

Vs. 7: „Aber Gott wird fich ihrer wieder erbarmen und fie in das Land zurücführen, und fie werden das Hans bauen, nicht fo wie das erfte geweſen ift, bis ber Zeit Lauf erfüllt ift. Und darnach werden fie zurückfehren aus ihrem Gefängniffe und Jeru⸗ falem Herrlich aufbauen; und das Gotteshaus darin wird prächtig erbaut werden auf ewige Zeiten, wie die Propheten von ihr ges redet Haben.“

Da endlich von dem asketiſchen Rate, den nach 6, 19— 23 der Engel Raphael dem jungen Tobias und feiner Braut giebt, in den griechiſchen Handferiften feine Spur fi findet, der⸗ felbe alfo wohl als ein Fündlein des Hieronymus anzufehen ift, fo Hat die Revifionsfommiffion in einer Plenarfigung einftimmig beſchloſſen, den Abfchnitt bei Luther 6, 17—23 auf 6 Berfe au reduzieren und nach dem von den meiften Handſchriften gemwähr- keifteten feptuagintalen Texte (bei Tiſchendorf Vs. 16—18) alfo zu geben:

38. 17: „Da ſprach der Engel zu ihm, gebenfeft du nicht der Worte, die dir dein Vater geboten hat, daß du dir ein Weib ans deinem Geſchlechte nehmeft?“

2) Vgl. meine Abhandlung: „Über einige, das Buch Tobit betreffende Fragen“, in der Zeitfchr. f. wiffenfhaftl. Theologie 1881, ©. 44 ff.

28 Grimm

28. 18: „Und nun höre mich, Bruder; denn dein Weib wird fie werden, und um ben böfen Geift fümmere dich nicht, denn in diefer Nacht wird dir diefe zum Weibe gegeben werben.“

38. 19: „Und wenn du in die Kammer kommſt, fo follft du glühende Kohlen nehmen und von dem Herzen und der Leber des Fiſches darauf legen und räudern; fo wird der böfe Geift es riechen und fliehen und in alfe Ewigkeit nicht wieder kommen.“

38. 20: „Wenn du aber zu ihr naheft, fo ftehet beide auf und rufet zu dem barmherzigen Gott, fo wird er euch erretten und ſich erbarmen.“

38. 21: „Furchte dich nicht, denn dir war fie beftimmt von Ewigkeit, und du mirft fie erretten, und fie wird mit bir ziehen, und ich achte, du werdeft von ihr Kinder haben.“

38. 22: „Und als Tobias dies Hörete, gewann er fie lieb und feine Seele hing fehr an ihr.“

In Übereinftimmung mit Vorftehendem foll aud Kap. 8, 4 nad) dem Griechiſchen alfo gelefen werden: „Darnach ermahnete Tobias die Jungfrau und ſprach: Schwefter ftche auf und laß uns beten, daß der Herr ſich unfer erbarme.“

Im Buche Baruch 6, 30 (griech. Vs. 6, 31) Hat es Luther durch die teilweis freie Überfegung: „Und die Priefter figen in ihren Tempeln mit weiten Ghorröden, fcheren den Bart ab und tragen Platten, figen da mit bloßen Köpfen“, augenfcheinlich darauf abgefehen, die Heibnifche Priefterfchaft als Typus der Tatholifchen erſcheinen zu laſſen.

Die in die LXX und Vulgata der kanoniſchen Bücher Efther und Dantel eingefehalteten oder ihnen beigefügten apokryphiſchen Stide (Stüde in Efther, Stücke in Daniel) erflärte Luther für „Kornblumen“, „weil fie im Hebräifchen nicht ftehen“ ; wir haben fie daher „ausgerauft, und doch, daß fie nicht verbörben, hie (d. 1. im feinem Bibelwerke) in fonderlihe Würzgärtlein ober Beete gefeit, weil dennoch viel Guts und fonderlich der Lobgeſang Benedicite darin gefunden wird“.

Am Schluffe der LXX des Buches Efther wird berichtet, im

Luthers Überfegung ber aliteſtamentlichen Apokryphen. 3”

vierten Jahr ber Negierung „des Ptolemäus und der Kleopatra hätten der Priefter Doffitheus und fein Sohn Ptolemäus „den vorftehenden“, das Purim betreffenden Brief (ryy mooxeusunv änworolnv zür Yeovgai) herein (nad; Ägypten) gebracht, von dem jener behauptete, es habe ihn Lyſimachus zu Serufalem ins Griechiſche überfegt. Unter rooxsıudon Eroroln iſt das griechiſche Buch Efther zu verftehen, welches als Brief bes Mordohäus an die Juden angefehen werben follte, |. Efth. 9, 20. Luther aber bezog den Ausdruck auf das königliche Ausfchreiben des Artaxerxes, welches in ben bisherigen Ausgaben der Tutherifchen Bibel unter den Zufägen zum Buche Efther als Kap. 6 er- fheint und, obfchon nur ben Raum eines Verſes einnehmend, als Kap. 5 bezeichnet iſt. In der Gloſſe dagegen bemerkte Luther, dag man das Meine Stüd am Ende des 8. Kapitels vor bem 9. Kapitel des Fanonifchen Eſterbuchs Iefen möge. Nach Beſchluß der Revifionsfommiffton ſoll das Stüd künftig am Ende ber Stüde in Ejther gelefen werden mit Wegfall der Kapitelziffer und mit der Überfehrift: „Unterfchrift des Buches Efther in der griechiſchen Überfegung“, dabei in Parentefe mit Heiner Schrift: „sonft Kapitel 5“.

Das Tieblichfte Beifpiel von Freiheit, die fi Luther nahm, findet fih in der Hiftoria von der Sufanna Vs. 54f. 58f., wo er bie griedifchen Wortfpiele örro axivov oylası ce und oͤro neivov reloeı os im Deutfchen alfo nach bildet: „unter einer Linden!) wird di finden und zer» ſcheitern; unter einer Eichen did zeichen (S zeichnen) und zerhauen“.

Das Gebet des Könige Manaffe gehört unter diejenigen Meineren bibliſchen Stüdte, welche Luther verdeutfchte, noch ehe er feine große Überfegungsarbeit begann. Luthers Überfegung erfchien zuerft in Leipzig 1519 als Anhang zu der nachher öfter heraus-

1) Hierzu bemerkt Luther in der Gloſſe: „Im Griechiſchen ftehet unter einem Schino, das Heißt latine Lentiscus, und ift der Baum, bavon das Gummi fleußt, fo man Mafid; nennt. Weil aber der Baum uns Dentfchen nicht bekannt, hat man einen anderen bafür nehmen müffen.“

400 uſteri

gegebenen kleineren Schrift: „Kurze Anweiſung, wie man beichten ſoll“. Da das Gebet in der Complutensis und Aldina fehlt, fo war Luther lediglich an die Vulgata gewieſen. Derjenige Text, den van ER in feine Ausgabe der Vulgata TI. II, S. 596 auf- genommen Hat, ift wörtliche Übertragung des Griechiſchen. Luthers Überfegung ift fürzer. Doch verficherte mir mein Freund und Revifionskollege, Hr. Pfarrer Dr. Schröder zu Endersbah im Württembergfchen, Luthers Text ftimme faft wörtlich mit einer im Stuttgart befindlichen Ausgabe der Bulgata vom Jahr 1512 überein. Bei der Unbebeutendheit des Schriftftücs Hat die Reviſionskommiſſion Anftand genommen, bie Lücken in Luthers Text aus dem Griechifchen auszufülfen.

Das im Staatsarchiv zu Zürich wieder aufge⸗ fundene Original der Marburger Artikel im Falfimile mit erlänternden Vorbemerkungen

don

Doh. Marlin After,

Biarrer in Hinweil.

Als ich anläßlich, meiner Studien über Zwinglis Tauflehre u. a. mit den Marburger Artikeln mic befcäftigte, befand ich mid) durch die Güte des Tit. Staatsarchivariats in der angenehmen Lage, das Original mit den eigenhändigen Unterfehriften der Neformatoren vergleichen zu können. Nach Ofianders Bericht (Corpus Reformat. XXVI, p. 115 oben) find in Marburg drei Exemplare unterzeichnet worden, die fämtlich lange Zeit für ver»

Das Original der Marburger Artifel. 401

loren gegangen galten, bis Heppe im Negierungsardiv zu Kaſſel ein erftes auffand und es 1847 im Fakjimile veröffentlichte. Ein zweites, deſſen Echtheit fchon um des Aufbewahrungsortes willen feinem Zweifel unterlag, war nunmehr zu meiner Einficht gelangt, und ich glaubte, eine Veröffentlichung desfelben im Fakfimile fei darum um fo mehr von Intereſſe, als erſt feit Auffindung dieſes Doppels der authentische Text der Marburger Artikel in feinem ganzen Umfang feftgeftellt werden kann. Den Herren Staatd- ardjivaren, Dr. Strickler und Dr. Schweizer, die mir in zuvor- kommender Weife die Veröffentlichung ermöglicht Haben, ſpreche ich hier meinen verbindlichften Dank aus.

Das in Rede ftehende Aktenftüd, deſſen ganz getreue Nach— bildung das dargebotene Falſimile ift, befteht aus drei Foliobogen und einem einzelnen Blatt, das vermittel® eines Nückens mit den drei Bogen verbunden, reſp. zufammengeheftet ift. Es ift, was Bapier und Schrift anbelangt, wohl erhalten, aber ganz ſchmuck⸗ los und nicht frei von Schreibfehlern. Einen erften Bogen bilden die Seiten 1, 2, 7 und 8, einen zweiten Bogen die Seiten 3, 4, 5 und 6, einen dritten Bogen nur eine befehriebene (S. 10) und drei leere Seiten, das abfchließende einzelne Blatt endlich enthält die letzte Seite des fortlaufenden Textes (S. 9) und Seite 11 mit den Unterfohriften. Daraus geht klar Hervor, daß Bogen 3 mit den drei leeren Seiten nicht zum urfprünglichen Konzept gehörte, denn er unterbricht ja ftörend die Reihenfolge der Seiten und ftünde richtiger Hinter den Unterfcriften am Schluß des Ganzen, wie er ja wirklich feparat ausgefertigt und dem Altenſtucke beigegeben worden ift. Der Grund, warum er zwifchen die zwei Bogen und das abjchliegende letzte Blatt hinein geheftet wurde, läßt ſich indefjen leicht erraten. Sein Inhalt fol dadurd dem Dokument einverleibt und als deſſen authentifcher Beftandteil auch äußerlich gekennzeichnet werden. Würden die Unterfehriften voranftehen, fo könnte es ja leicht den Anfchein ges winnen, wie wenn die Vereinbarung nicht auf das Nachkommende ſich ausgedehnt hätte, wie wenn in dieſem ein willkürlicher Zuſatz borläge.

Es muß num auffallen, daß der auf ©. 10 ftehende Nach—

2 uſteri

trag, der gewiß auch dem in Kaſſel aufgefundenen Original bei⸗ gegeben, aber eben nicht beigeheftet war, verloren gegangen iſt. Da dort wie im Zuricher Dokument die Unterſchriften auf ber Nücfeite des legten Blattes ſich unmittelbar an ben Schluß des fortlaufenden Textes anreihen, konnte Heppe natürlich nicht auf die Vermutung kommen, baß feinem Exemplar ein integrierender Beſtandteil fehle. Er mußte im Gegenteil bie ſchon in den ätteften Druden ſich findenden Zufäge als unecht verwerfen, wobei freitich rätſelhaft blieb, wie fie fich dort einfchleichen konnten. Heppe gelangte durch Vergleihung der Schwabacher Artikel, welche die nämlichen Zufäge in etwas weiterer Ausführung enthalten, zu ber Anficht, fe feien aus dem Konzept ber Ieteren in die ültefte Druckausgabe der Marburger Berübergelommen (doch warum zugleich auch in die von diefer unabhängige, durch Oſiander nach einem mitgenommenen Exemplar beforgte Nürnberger Ausgabe und warum vollends in die Züricher?). Und er erblickte überdies in diefer Kombination eine Hauptftie für die auf einer Notiz des Veit Dietrich 1) beruhende Annahme, Luther Habe mit feinen Kollegen die Schwabacher Artikel noch in Marburg unmittelbar vor feiner Abreife nach Schleiz konzipiert. So kam er denn zu folgendem Refultat: „Da ſich jene unechten Stellen in allen Aus: gaben der Marb. Artt. finden, fo kann diefe Erſcheinung nur durch die Annahme erklärt werden, da die Schwabacher Artilel eben da zuftande gefommen find, wo die Marb. Artt. ausgearbeitet und zuerſt veröffentlicht wurden, d. 5. in Marburg. Dem offen bar müflen das Konzept der Schwabarher und die zur Beröffent- lichung benugte Kopie der Marb. Artt. ans einer Hand gekommen fein, wenn ſich jene unechten Stellen aus den Schwabachern in die allererfte Marburger Ausgabe der Marb. Artt. einfpielen Tonnten." Diefe Hypotheſe, die ohnedies etwas Kunftliches Hat, füllt durch Vergleihung des Zuricher Dokumentes, das jene Zu⸗ füge als offiziellen Nachtrag enthält, dahin. Nicht nur die Ein⸗ fügung derfelben, fondern namentlich auch die unverfennbare Iden

1) Praefatio Lutheri scripta Coburgi ad XVII articulos Marpurgi seriptos (Corp. Ref. XXVI, 138 Anm).

Das Original der Marburger Artikel. 408

tität der Handſchrift und die Übereinftimmung in Dialelt und Orthographie verbürgen ben offiziellen Charakter, der zudem allein die Thatſache zu erklären vermag, daß fragliche Zufäge meines Wiſſens in allen Drudausgaben von Anfang an fi) vorfinden. Ob vor oder nad Abfafjung dieſes Nachtrags unterfchrieben wurde, lußt ſich nicht mehr entfcheiden; aber ficher ift, daß der Nachtrag allgemeine Zuftimmung fand und zum authentiſchen Text zu rechnen ift. Ebenſo wenig läßt fich entjheiden, von welder Seite diefe Zuſätze beantragt wurden. Ich äußerte in meinem Artifel über Zwinglis Tauflehre ) die Anfiht, es fei ohne Zweifel von reformierter Seite geſchehen, weil Okolampad wirklich einiger weniger von diefer Partei gewünfchter Abänderungen gebenkt, und weil die Zur ſatze zugleich am betreffenden Ort im Text oder ala Randbemerkung von anderer Hand und teilweife in anderem Dialekt notiert find (auch die Tinte ift blafjer); fie möchten dann, bemerkte ich, auch von den Lutheranern angenommen und vom Schreiber als Nad- träge offiziell dem Altenſtück beigefügt worden fein. Diefe Auf- faffung des Hergangs ift mir aber bei näherer Überlegung aus folgenden Gründen fraglich geworden: 1) deutet der Wortlaut jener Notiz des Ofolompab: „Ut articuli Zwinglio et mihi praelecti, quaedam verba dumtaxat mutare petiimus propter contentiosos quosdam, qui verba magis quam verborum sensa urgent‘“ (Zw. Opp. IV, 191) auf Üuderungen und nicht auf Zufäge; es bezieht ſich aljo biefelbe wohl ausſchließlich auf einige unbebeutendere Korrekturen; 2) entgalten die Zufäge nichts der Anfhauung der Schweizer Eigentümliches, und 3) find eben diefe Zufäge faft wörtlich in die Schwabacher Artikel, die den Lutherifchen Lehrtypus entfchiedener repräfentieren und ſchärfer ausprägen, binübergenommen worben. Sie gehen aljo eher auf Lutheriſche Ynitiative zurück, fanden aber natürlich leicht auch die Zuftimmung der Neformierten.

Die Eintragung in den Text oder an gehöriger Stelle am Rand wurde daun mohl nachträglich durch irgendeine in Schweizere deutsch fehreibende Hand vorgenommen; ob füt die Veranftaltung

1) Stud. u. Krit. 1892, 9. 2, ©. 272 Anm.

404 Ußeri

des Drudes, ift ungewiß, weil zwar das Original» Dofument der Zuricher Drudansgabe zugrunde gelegen zu Haben ſcheint, dieſe aber doch nicht als ein wörtliher Abdruck desfelben ſich darftellt, indem fie die Unterfhriften in anderer Reihenfolge aufführt und den Text in ſchweizeriſcher Mundart reproduziert.

Eine zweite, freilih nur äußerliche Eigentümlichleit unferes Attenftüces beruht darauf, daß die Unterfcriften der Reformierten voranftehen. Die Reihenfolge der einzelnen Namen hingegen ent ſpricht derjenigen im SKaffeler Dokument. Bei der Drucklegung hat man allerdings auch in Züri ben Lutheriſchen ben Vortritt gelafjen, jo daß meines Wiffens keine Drudausgabe die Reformierten voranftellt. Nur in dem Abdrud bei Hottinger (Histor. eccles. N. T., T. VII, p. 444sgq.) follen ihre Namen die Reihe er» Öffnen, was Riederer (Nachrichten zur Kirchen, Gelehrten- und Bücher» Geihichte IV, 438) fehr fonderbar findet. Hottinger ſcheint demnach das fonft ganz verſchollene und nirgends tale quale abgedruckte Züriher Aftenftüd gekannt zu haben.

Eine genaue Vergleihung der Kaffeler und Züricher Exemplare weift wenig Abweihungen auf. In Art. 8 am Schluß hat das Züricher Er. die Worte: „ober Evangelion Chriſti“ zuerſt geftrihen, dann aber durch darunter geſetzte Punkte als gültig be zeichnet; im Kaſſeler fehlen fie und in dem älteſten Zuüricher Drud ebenfalls. Sie find als Repetition von etwas unmittelbar Vorausgehendem „felbftverftändlih Schreibfehler. Die übrigen Differenzen folgen bier überfichtlich:

Zürid. Er. Kaſſel. Er. Art. 8 fin.: wirkt er und ſchafft er wirkt er und ſchaft ibidem: wo und in wilden wo und in wildem Art. 10: Bitten zu Gott beten zu got 14: bie Kinnderthauffe der finder taufe 15: nad Innſatzung nad der Infagung

(An ſammtilichen 5 Stelten folgt der äftefte Zuricher Druck unferm Attenftüd.)

Was die Korrekturen anbetrifft, fo findet fi nur diejenige bei Art. 12 in beiden Dokumenten genau übereinftimmend; auf diefe

Das Driginal der Marburger Artikel. 405

wird ſich alfo-jene Notiz Okolampads ohne Zweifel beziehen, wor für aud ihr inhaftlicher Charakter fpricht. Abgeſehen von diefer haben beide Exemplare noch je zwei Korrekturen von Schreibfehlern oder Auslaffungen, jedoch an verſchiedenen Orten. Ein uns geihicter Schreibfehler (, Gaube“ ftatt „Gabe“ in Art. 6) ift im Zuricher Er. ftehen geblieben. Daß beide Schriftftüce nicht von der gleichen Hand fein können, Teuchtet fofort ein. Abgeſehen von ber Verfchiebenheit der Schriftzüge weicht die allerdings gar nicht Tonfequent durchgeführte Orthographie ungemein ab; ber Schreiber des Züricher Dofuments liebt Verdoppelung der Kons fonanten, große Initialen und dergleichen. Auch dialeftifche Ver⸗ ſchiedenheiten laſſen fi faum verfennen, wie folgende Beifpiele zeigen:

3. €. 8. E. volltommenlich volllommen Sönnde fonde ufferftanden auferftanden erlöſt erleſt Pfarrer pfarher darinn dorin

Im Zuricher Er. iſt die Interpunktion oft finnftörend, eine Erſcheinung, für die fi freilich audh aus Druden jenes Zeite alters zahlreiche Belege anführen Tießen. Sicher iſt, daß der Schreiber kein Schweizer war; ein folcher Hätte 3. B. nicht „die Thauffe“, fondern „der Touf“ gefchrieben, auch nicht, wies im offiziellen Nachtrag Heißt: „theufel“, fondern, wie von anderer Hand dem Texte beigefegt ift: „tüfel”.

Die Übereinftimmung der beiden Dokumente ift nad dem Ges fagten, was den Wortlaut anbetrifft, eine beinahe totale, und die wenigen unbebeutenden Abweichungen erklären fi am leichteſten, wenn man annimmt, die Artifel fein mehreren Schreibern in bie Feder diftiert worden. Auch das dritte offizielle Erempfar würde wohl folche kleine Differenzen aufmeifen. Oflander, der ein Exemplar nad) Nürnberg mitnahm und es dort druden lieh, Tieferte bei weitem nicht einen jo diplomatiſch genauen Text und

Theo. Etzb. Iapız. 1888,

406 Uperi

Bullinger gab eine noch freiere Reproduktion, was Riederer (a. a. ©. IV, 437) fehr übel vermerkt. Hingegen ift die bei Froſchauer erfdienene editio princeps, welcher wohl nur bie Marburger Ausgabe ebenbürtig ift, eine fehr genaue Übertragung des Originals in den ſchweizeriſchen Dialekt. Sie ift in die Schuler ⸗Schultheßſche Sammlung von Zwinglis Werken (II, 3, 52ff.) aufgenommen. Bis auf die Zahl der Spezialtitel hinaus entjpricht fie den Originalien, und zwar abgefehen von der Reihenfolge der Unterſchriften fpeziel dem Züricher Exemplar, und zwar gerade da, wo dieſes vom Kafjeler abweicht. Ich ber merkte nur zwei Differenzen von feinem Belang. In Art. 8 feine Gaben“, während das Original hat: „feine Babe“, und Art. 13 „offentlih wider gottes Wort“, während im Original; „widder offentlich Gottes Wort“.

Zum Schluß fei noch bemerkt, daß in Art. 9 von der Taufe die Lesart „gefordert“ durch das Züriher Dokument eine neue Beftätigung erhalten hat, fo daß fie nun als fiher geſtellt be⸗ trachtet werben darf. Indem th im allgemeinen auf die bez. Ver- handfungen (Löscher, Histor. motuum, P. I, c. 6, 8 10, ©. 153; , Unſchuld. Nachrichten a. 1707“, ©. 289-293; Rie⸗ derer a. a. O. IV, 421—426; Köftlin, Stud. u. Krit. 1866, ©. 347 ff.) ſowie auf meine diegbezügl. Ansfügrungen in der Abhand⸗ Lung über Zwinglis Tauflehre (a. a. O.) verweiſe, erlaube ich mir noch folgende Bemerkungen. Es will mir feinen, wie wenn bier eine beabfichtigte oder wenigſtens wit Abſicht nicht vermiedene Zwei deutigfeit vorlage. BÜBLI (in der Borrede zum 3. Zeil der Beitr. zur Ref. Geſch. der Schweiz, ©. XCIV) möchte doch nicht ganz unrecht gehabt Haben mit feinen Bemerkung, die Artifel feien in vielem geftelit worden, daß fie jede Portei zu ihrem Varteil aus⸗ legen konnte, fa bedenklich auch Kiederer (0. 4 D. ©. 495) biefe Außerung findet. Zwar könnte dag „gefürdert“ in der Nurn⸗ berger Ausgabe des Ohrenztugen Oſiander für die Ermittelnug des Siunes ſtaxk in hie Wegſchale fallen. Allein dem ift ent- gegenzußalten, daß bie Folio⸗Ausgahe, die als die editio princeps von Marburg gilt, „gefodert“ hat (Corp. Ref, a. a. D., &. 125, An. 55), defien Sinn wenigfiens zweifelhaft iſt daß ferner

Das Original der Marburger Artikel. 47

in der Zenenfer Ausgabe von Luthers Werfen das unzwei- deutige „gefoddert“ fi finden foll (Riederer a. a. O., ©. 425), und namentlich, dag die reformierten Teilnehmer am Geſpräch famt und fonders. „requiritur‘“ interpretierten, auch in diefem Sinne Öffentlich den Artikel auslegten, fo Zwingli in feinen Noten und namentlich Bucer in feiner Nachricht von dem Mar⸗ burger Gejpräd, die er feiner Evangelienerflärung voranſchickte und den Theologen von Marburg mibmete !), ohne dag meines Wiſſens zu jener Zeit von lutheriſcher Seite Widerfprud ers hoben wurde. Nicht einmal innere Gründe ſcheinen mir abfolut zugunften des „gefordert“ im Sinn von „gefördert“ zu entfcheiden, fo wenig id ihr Gewicht verfenne. Es ift wahr, daß, wie Riederer (a. a. O. S. 423 unten) bemerkt, in den Schwabacher Artikeln am Ende des 10. zu leſen ift: „gleich wie die tauf auch den glaub bringt und gibt, jo wan ir begert“; aber unmittelbar vorher heißt es, allerdings mit Bezug auf die Einfegungsworte des Abendmapls: „Diefe wort fordern und pringen auch zu dem, glaubn (Bar. : den glauben) 2), Bben auch denfelbigen, bei allen den, fo ſollichs Saframent begern umd nit dawider handeln‘. Könnte nicht Hier da8 „fordern“ als requirunt zu verftehen und gegen das opus operatum gerichtet fein? Allerdings bezieht es ſich mie gejagt auf das Abendmahl ; der Artikel non ber Taufe, der ald 9. vor angeht, nimmt eben feiner ganzen Haltung nad viel fpezielleren Bezug auf die Kindertaufe als der entſprechende der Marburger Artt. und läßt daher anders als diefer legtgenannte ®) die piycher

2) Simmler, Sammlung alter u. neuer Urkunden 2c., Bd. II, 2. ZI, ©. 495f. Riederer a. a. D, ©. 439.

2) Corp. Ref. a. a. D, p. 156, Anm. 98.

3) Iqh begreife nicht, wie Heppe a. a. D., S. 16, Ann. ** fagen kaum, daß im der Lehre von der Kaufe wohl gegen die Auffaffung bes Sakrameutes 018 eines ledigen Zeichens, nicht aber gegen bie gleich nahe liegende Verkehrt» heit einer falſchen Objektivität polemiftert werde. If denn das „durch welchen tsc. Gfauben) wir zum Leben wiebergeboren werben“ nicht bezeichnend genug, alfo daß die in der Augustana fpäter beigeſetzte ausdrückliche Polemik gegen das opus operatum barin ſchon in nuce enthalten ift?

27*

408 uſteri

logiſche Vermittelung der Wiedergeburt durch den Glauben ganz auf der Seite, bie objektive Machtwirkung des Wortes um fo mehr betonend. Aber der Gedanke, daß die Saframente im allgemeinen den Glauben als Grundlage eines gefegneten Gebrauchs ſchon fordern und vorausfegen, nicht erft ihn bringen und geben, ftärfen und üben, was fie allerdings auch thun, Tann gewiß nicht als unfutherifch bezeichnet werden, und es wäre daher nicht unmöglich, daß Luther demfelben im 9. Marburger Artikel Hätte Ausdruck geben wollen. Von bejonderem Intereſſe ift ung nun aber, Hierzu den 13. Artifel der Conf. Augustana zu vergleichen: „Vom braud) der Sakrament wirt geleret, das die Sakrament eingeſatzt find, nicht alfein darumb das fie zeichen find, dabei man euſſerlich die Chriften fennen möge fonder das es zeichen umd zeugnus find Gottlichs willens gegen uns, umfern glauben dadurch zu erwecken und zu fterden, derhalben fie auch glauben foddern, und denn recht gebraucht werden, fo man's im glauben empfehet und den glauben dadurch fterdt.“ Vergleicht man die Varianten zu dem „fobdern“, wie fie Corp. Ref. XXVI, 564, Anm. 16 mitgeteilt find, fo wird man überraſcht, fo zu fagen den nämlichen zu ber gegnen: Ed. ant. 6: fodern, Nor., Onold. 1, Wim. 1: fordern, Onold. 2: furdern, Dresd., Nordl. Ed..ant. 5: vordern, Editt, ant. 1—4: vorderend. Wim. 1: Das fie aud den glauben forbern und erheiſchen, und alsdann recht und nutzlich gebraucht werden. Die Variata hat: „Und wie uns das wort zu gleuben vermanet, und glauben fobdert und erwecket, alſo vermanen uns die Saframent zu gleuben, foddern und erweden glauben, als zeichen und ſiegel des worts. Darumb werden die Saframent alfo recht und krefftiglich gebraudet, fo man dazu gleubet und glauben "damit ſtercket, das gewißlih uns Gott wolle dasjenige halten und geben, das er im Evangelio zugefaget hat, welde aus fage er durch dieſe zeichen und zeugnis, dazu von im eingeſetzt, und verorduet, und vermanen wil, wie Paulus leret die Gafra- ment brauden, Röm. 4." Much in den lateiniſchen Ausgaben ift der Sinn diefes 13. Artikels ganz übereinftimmend (Corp. Ref. XXVI, 279sq. u. 359).

Mit alledem fol num feineswegs behauptet werben, daß Luther

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Das Original der Marburger Artilel. 49

im 9. Marburger Artikel das „gefordert“ geradezu im Sinn der Zwingliſchen Note: Glaube gefordert, sive ipsius qui baptizatur, sive ejus qui ad baptismum mittit, puta parentis, h. e. ut baptizatus aut in promissa credat et ecclesiae velit inseri, aut cum ädolescat de fide doceatur (Zw. Opp. IV, 183f.) verftanden wiffen wollte; aber fo viel dürfte doch aus dem Mit- geteilten erhellen, daß die Auslegung, welde die Neformierten dem „gefordert“ gaben 1), der lutheriſchen Auffaffung vom Satrament nicht widerftrebte, mochte fie immerhin in derfelben ein mehr unter geordnetes Moment bilden.

Der Wortlaut der facfimikierten Urkunde ift folgender (Hier die gedruckte Wiedergabe des Textes der Urkunde):

Beilage zum Facſimile.

Genauer Abdrud des im Zuricher Staatsardiv aufbewahrten Ori⸗ ginals der Marburger Artikel ?).

Differ hernach gefhriben Artietelin Haben ſich die Hierunden- gefchriben, zu Warpurg verglichenn tertia octobris 1529.

Erftlih. Das wir beberfeits Cintrehtiglih glauben und hallten / das allein ein einiger rechter Natürficher Gott ſey / Schopffer aller Creaturen / und derſelbig Gott einig im weſen /

3) Bucer (Riederer IV, 440): „Fidem autem requiri, sed quae suo se tempore proferat, cur non fateremur, cum, quicunque baptizantur, in hoc baptizantur, ut Christum tandem induant, quod haud quaquam absque fide fieri potest?“

2) Die erſte Zuricher Drudausgabe von Froſchauer Hat ſich im Drie ginal auch mod; vorgefunden in dee Simlerſchen Manuſtriptenſammlung auf der Stadtbibliothel zu Zurich. Simler bemerkte dazu handſchriftlich, er Habe das Autograph, das damals noch im Kirchenarchiv Tag, genau verglichen und es, abgefehen von der Reihenfolge der Unterſchriften, die alfo ihm ſchon auffiel, gleidjfautend gefunden. Im der nämlichen Sammlung finden fih auch die Zw. Opp. IV, 183 abgebrudten, von Zwingli eigenhändig bem gebrudten Exemplar beigefeßgten Noten im Original, ebenfo das urſprünglich auch im Kichenarhio aufgefundene, Zw. Opp. U. 3, p. 58 abgedrucdte Manuffcipt mit ber nämlichen Vorbemerkung.

40 Ußeri

unnd Natur unnd Drepfaltig inn den Perfonen/ Nemlich vatter / Söone, unnd hepliger Geift ꝛc. Allermaffen wie im Eoncifio Niceno beſchloſſen umnd im Symbolo Niceno gefungen und ge» Tefen wurdett. bey gannzer Chriſtlicher kirchen inn ber wellte.

Zum andern / glauben wir / das nicht der vatter / noch heyliger Geiſt / Sonder der Sone Gottes Vatters / rechter Naturlicher Gott ſey menſch worden / durch wirkung de heyligen Geyſtes / on Zu- thon mennlichs Samens geporen von der Reynen Junkfrawen Maria / leyplich volkommennlich / mit leyb unnd Seele / wie ein annder mennſch / on alle Sönnden.

Zum dritten / das derſelbige Gottes und Maria Sone / onzer⸗ trennte perſon Iheſus Chriſtus fey/ für ums gecreuzigt / geſtorben / und begraben / ufferſtanden von thoten / ufgefahren / gen Hymmell / ſtzennd zur Rechten Gottes / Herr uber alle Creaturn / zukunnfftig zurichten, die lebendigen und thoten 2c.

Zum vierten. Glauben wir, das die Erbſunnde ſey unns von Adam angeporen / unnd uffgeerbet / unnd ſey ein ſollich Sonnde / das sie t) alle mennſchen verdammet / unnd wo Iheſus Chriſtus unns nicht zu hillff kommen were / mit ſeinem thode und leben ſo hetten wir ewig daran ſterben / unnd zu Gottes Reich / unnd Seligkeit nicht kommen müffen.

Zum funnfften/ Glauben wir/ das wir/ von ſollicher Sonnde unnd allen annderen Sonnden / fampt dem Emigen thode/ erlöft werden / &o wir glauben an folfichen gottes Sone Iheſum Ehriftum / für unns geftorben) ꝛc.) unnd außer follihem Glauben / durch keinerleh werck / ftand oder Orden x. loß werden mogen von einiger Sönnbde ꝛtc.

Zum Schften/ das follicher Glaube] fey ein Gaube Gottes] den wir mit feinen vorgeenden werden ober verbiennft erwerben] noch aus Eygener Crafft machen Tonnen] Sonnder der Heyllig Geyſt gibbt und ſchafft / wo er will / denſelbigen inn unnſere Herzen, wenn wir das Euangelion oder wort Chriſti hören /

i) „Go“ nachher mit anderer Tinte hineingeſetzt.

Das Original der Marburger Artilel. 41

Zum Sibennden) Das follicher Glaube fey/ unnfer gerechtikeit für Gott/ alle umb welchs willen) unns Gott/ geredht/ Fromme, und Heylig rechent / unnd hellt / on alle wer unnd verbiennft/ unnd dadurch von Sonnden / thod / Helle) hillfft Zu gnaden nimpt/ und ſelig macht umb / ſeines Sons willen / inn wilchen wir allſo gleuben / und dadurch feines Sons gerechtileit / lebenns unnd aller guter genieſſen unnd theylhafftig werden / darum alle cloſterleben unnd gelibde als zur gerechtileit nutzlich gang verdampt fint )

Von dem euſſerlichen Wortt.

Zum Achten / das der heyllig Geyſt / ordennlich zu reden / nymands / ſollichen glauben / oder feine Gabe gibt / on vorgend Prebigt / oder muntlich wort / oder Euangelion Chriſti / ſonndern durch u. mit ſollichem muntlichen Wort / oder Cuangelion Chriſti 8?) wirft er und ſchafft er den glauben / wo unnd in wilden er will Rom. 10.

Bon der Thauffe)

Zum neundten/ das bie hepfige thauffe/ fey ein Sacrament / das zu ſollichem Glauben / von Gott inngefegt/ unnd weil Gots gepott/ Ite baptisate/ unnd Bots vorheifjung drynnen ift Qui erediderit. jo ifts nicht allein ein leddig Zeichen] ober loſung unnder den Ghriften fonnder ein Zeichen unnd Wert Gottes] barinn unnfer Glaube gefordert/ durch welchen wir zum Leben wider geporen werben.

Von guten werden]

Zum zehenden / das follicher Glauben durch wirkung bef hehligen Geyſtess / hernach jo wir gerecht und heyllig dadurch ges rechennt unnd worden find/ gute werde duch unns. übett/ Nem⸗ lich die Liebe gegen dem nechſten / Bitten zu Gott/ unnd leyden allerley veruolgung/ 2.

Bon ber beicht/

Zum Eyffften/ daß die beicht oder Rathſuchung bey feinem

Pfarrer oder nechſten / wol ungezwungen und frey fein fol/ aber

1) Zuſatz von anderer Hand. %) Im Original wie folgt: „ober Euangeflon Chriſti S*.

412 . uſteri doch faft nützlich den betrübten/ angefochten / oder mit ſonnden be⸗ laden] oder inn irthumb gefallen) gewiſſen / allermeift. umb der Abfolution oder troftung willen deß Cuangelii / welchs die rechte abfolution iſt.

Bon der Oberfeit.

Zum Zwolfften das alle Oberfeit unnd weltliche Gefezte] Ge⸗ richt oder Ordnung) wo fy find/ ein rechter guter ftanndt finndt/ unnd nicht verpotten / wie etliche Bäpſtiſche uund wibertgeuffer leren unnd hallten *)/ ſonnder das ein Chriſt fo darinn beruffen / oder geporn wol kan / durch den glauben Chriſti ſelig werdenn ꝛc. gleich wie vatter unnd mutter ſtanndt / Herr unnd frawen ſtanndt / ꝛtc.

Zum dreyzehennden / das man heiſt Tradition mentſchlich Ordnung. Ian Geiſtlichen oder kirchen geſchefften / wo ſy nicht widder offentlich Gottes Wort ſtreben mag man freyhalten oder laſſen / darnach die leuthe ſinndt / mit denen wir umbgeen / jnn alle wege onnöttig ergernus zu verhütten / unnd durch die liebe ben ſchwachen und gemeinem fridde zu Diennft 2c.

Daß ouch die lere jo pfaffen Ee verbiit tufels leer ſeh ?).

Zum vierzehennden/ das die kinnderthauffe recht ſey / unnd fh dadurch zu Gottesgenaben unnd in die Chriftennheit genommen werben.

Vom Sacrament des Teibs und bluts Chrifti.

Zum fünnffzehennden Gleuben unnd halten wir alfe/ vonn dem Nachtmale unnfers Lieben Herrn Iheſu Chriſti / das man bede geftalit nach Innſetzung Chrifti prauchen ſoll / das ouc die Meſſe nicht ein werd ift/ do mit einer dem andren tod oder lebendig gnad er⸗ langt ) Das auch das Sacrament def Altar) fey ein Sacrament deg waren leibs unnd pluts Iheſu Chriffi und die geiftliche Nieffung deffelbigen leibs unnd pluts/ einem Iden Chriften fr»

1) Korrektur von der gleichen Hand: „verpotten hallten“. Vorher hieß e3: fo farlich an im ſelbs wie der baptst unnd bie feinen gehallten.

2) Zufat von anderer Hand.

3) Randbemerfung von anderer Hand: „das ouch die Meffe erlangt”.

Das Original der Marburger Artifel. 48

nemlich vonn nöthen/ begleichen der prauch deß Sacraments/ wie das wort) von Gott dem allmechtigen gegeben) und georbennt ſey / damit die ſchwachen Gewiſſen / zu gleuben/ zubewegen/ durch den heyligenn Geift. Unnd wiewol aber wir unns/ ob der war leyb unnd plut Chrifti/ leiplih im prot unnd wein ſeh / difer Zeit nit vergleicht haben) fo foll doc ein theyl gegen ben anndern Chriſtliche Kieb) fo fern Ideß gewiffen ymmer leiden kan / er⸗ zeigen / unnd bede theyl / Gott den Allmechtigen vleyſſig bitten / das er unns durch ſeinen Geiſt den rechten verſtanndt beſtetigen well. Amen.

Nachträge von der Hand des Schreibers:

Vor dem Tittell (von dem Euſſerlichen worte) ſoll ſteen /

Darumb alle Cloſterleben oder Gelübde alls zur Gerechtileit nuzlich / gannz verdampt ſein /

Im funfzehennden Artikel (ibi das man bede geſtallt nach der Inſezung Chriſti prauchen ſolle) ſoll ſteen /

Das auch die Meſſe nicht ein werk iſt / damit einer dem anndern thod oder lebendig gnad erlannge /

Nach dem dreyzehenden Artikel in fine ſoll ſteen / Das auch die lere fo pfaffen ehe verbeut theufels lere ſey / . Joannes Decolampadius f8. Huldrychus Zwinglius. Martinus Bucerus. Caſpar Hedio.

Martinus Luther. Juſtus Jonas. Philippus Melanchthon. Andreas Oſiander. Stefhanus agricola. Joannes Brentius.

Bars, Google

Nezenjionen.

Digiize

1.

Analeeta ad Fratrum Minorum Historiam.

1. Fr. Nicolai Glasbergeri Narratio de origine et pro- pagatione ordinis e cod. Ms. primum edita et illu- strata.

2. Quaestiones de ordinis conventu Lipsiensi. Seripsit C. F. Carolus Evers, Dr. theol. et philos. pastor in aede S. Matthaei Lipsiensi, p. 89. 4. Lipsiae, G. Böhme, 1882.

Seitdem Lukas Wadding in feinem großen Wert gelehrten Sammlerfleißes (1625f.; 2. Aufl. 1731) die Geſchichte des Tranzisfanerordens ausführlich geſchrieben hat, find die urfprüngs fiften Quellenfhriften zur äfteften Geſchichte des Ordens bis auf die neuefte Zeit unbeachtet geblieben. Erſt feit 1870 find einige derfelben ans Licht gezogen worden, durh Georg Voigt (Ab. der 8. Sächſ. Gef. der Wiff., philof.-hiftor. Klaſſe, V. Band, 1870) die Denkwürdigkeiten des Jordanus von Giano vom Jahre 1262. D. Evers dagegen Hat fi um eine andere bisher faft nur dem Namen nah befannte Denkfchrift zur Gefchichte des Ordens ver» dient gemacht. Der Minorite Nikolaus Glasberger, aus Mähren, 1472 in den Orden aufgenommen, hat im Jahr 1508, aus Auftrag des Guardians im Nürnberger Konvent, auf Grund älterer Denkſchriften und Chroniken, eine Gefchichte des Franzis⸗ fanerordens, feiner Stiftung, Entwidelung und Ausbreitung in

48 Anslecta ad Fratrum Minorum Historiam.

Deutſchland, feiner Oberen, feiner öfter und der gehaltenen Kopitel bis zum Jahre 1508 reichend, handſchriftlich abgefaßt. Bon diefer Chronik hat zwar Waldbing in feinem Werk (III, 138) Erwähnung gethan, allein erft Riezler (Lit. Widerfacher der Papſte) und Woker (Nordb. Branzisfanermiffionen, 1880) Haben in neuerer Zeit einiges daraus geſchöpft. Schlieklih Hat der Verfaſſer, als er bei Gelegenheit des Umbaus der fogenannten Neutirche in Leipzig (jegt Matthaikirche) als Pfarrer derfelben, über den Urfprung diefer ehemaligen „Barfüßerficche” Forſchungen anftelite, fi darum bemüht, die Handfhrift aus dem Archiv der bayerifchen Ordensprovinz zu erlangen, was ihm durch die Biberali« tät des Provinzial P. Modeftus Leipold, damals in München, man beliebigen Gebrauch“ gewährt wurde.

Aus dieſer Handſchrift (auf Papier, im 4%, nicht übel ge- ſchrieben) veröffentlicht nun der Verfaffer nach einem kurzen Bor« wort, S. 1—3, den Eingang, eathaltend bie Aufforderung von» feiten des Guardiand Bartholomäus Wyer, fobann die zu— jagende Antwort und Debifation Glashergers, hierauf das fachliche Vorwort des letzteren (S. 4— 6), demjenigen Teil der Ehronif felbft (brevis Annotatio betitelt), weldher über 56 Jahre ſich erftredt, nämlich von 1206 bis 1262, d. h. bis zu dem Kapitel von Halberftabt, S. 6— 72, unter Veifügung von Litter rariſchen und fachlichen Anmerkungen.

Die Schrift Glasbergers enthält manche befangreiche Beiträge zur Inneren Geſchichte des Sranziöfaner- Ordens, aber aud) zur Geſchichte chriſtlicher Frömmigkeit im XII. Jahrhundert über⸗ haupt. Zum Beiſpiel in den Gang des inneren Lebens des Stifters der Minoriten bekommt man durch die Mitteilungen Glasbergers ©. 6f. einen Maren Einblick. Es unterſcheiden ſich in der inneren Entwictelung des Mannes zwei Stadien: früher, al8 junger Kauf- mann, einen weltlichen Wandel führend, wurde er 1206 erwedt und führte nun einige Jahre lang ein Eiufteblerleben, welches ſich von dem anderer Asfeten nicht unterſchied. Da machte im Jahr 1209, während er die Meſſe Hörte, die Verleſung der Worte Jeſu an die Apoftel Matt. 10, 9: „ihr follt nicht Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln Haben, auch Feine Taſchen zur

Analecia ad Fratrum Minorum Historiam, 418

Wegfahrt feinen Schuh aud feinen Stecken“ ſolchen Eindrud auf ihn, daß er auf der Stelle Schuhe, Taſche und Stab abfegte, feinen Rod mit einem ganz gewöhnllchen Strid umgürvtete, um fortan ein volfftändig apoſtoliſches Leben zu führen. Damit begann denn, nach der fpäteren Anſicht der Franziskaner, der Minoritenprden in der Perſon des Stifters felbft.

Berner, der BVerfafer ift aufrichtig genug, von allen den Meinungsverfchiedenheiten, Irrungen und Spaltungen zu erzählen, welde innerhalb des Ordens fich ereignet haben, während der eigentliche Geſchichtſchreiber des Franzisfaner- Ordens, Lukas Wad⸗ ding im XVII, Jahrhundert, dieſe Differenzen möglichſt zu ver⸗ tuſchen gefucht Hat. Jene Abweichungen betrafen fümtlih die Ordensregel. Bald ſollte Diefelbe verfchärft, bafd gemildert werden. Erftereg wurde ſchon 1219, nur 10 Jahre nad Gründung der Minoriten verſucht, während Franz von Affift ſelbſt ſich im Morgenlande hefand, wo er durch Mifftonieren unter den Muhas medauern den Märtyrertod ſuchte. Die beiden Bilarien, welche Zranz bei feiner Ahreiſe für Italien heſiellt haite, ordneten gewiſſe Verſcharfungen inbetreff des Faſtens om, welche Unzufriedenheit exregten. Diefe wurden indes, nochdem Franz zurückgelehrt war, wieder abgeſtellt, ſ. S. 17—19.

Starkere Konflikte eutſtanden durch Verſchulden des Minoriten Elias. Derſelbe Hatte anfangs (1224) die eben erwähnten Ver⸗ ſcharfungen erneuert, welche jedoch durch Franz van Aſſiſi anders weit kaffiert wurden (©. 32). Allein nachdem letzterer geftorben war, wußte er auf einem @enerallapitel zu Aſſiſt 1230 den Ber ſchluß durchzuſetzen, daß einem Mimoriten geftattet würde, durch Mittelsperfonen Geld. einzunehmen u. f. w., was nur durch Papft Gregor IX, ay den die Beguer appelliert, wieder aufgehoben wurde (S. 48F.). Nachdem indes Eljas 1232 auf einem zu Rom gehaltenen Generalfapitel zum Ordensgeneral gewählt worden war. mußte er papſtliche Privilegten zu langen, kraft derer er durch Meittelöperfonen Geld einuehmen durfte, dem Orden allent- halben Geldſamuilungen anferlegte, despotiſch zu regieren und fürft« Uch zu leben anfing. Glasberger, welcher auf Elias ſtets übel au ſprechen iſt, behauptet, die Wahl deaſetben zum Ordensgeneral

420 Analecta ad Fratiium Minorvm Historiam.

fei nicht kanoniſch korrekt gewefen, vielmehr durch Parteiumtriebe durchgefegt worden. Die Gegner wurden bedrüdt, und von da an Scheint die Oppofition der fogenannten Zelatores ſich gebildet zu haben (S. 52ff. vgl. 59. 63. 66). Glasberger macht aus feiner Sympathie mit den letzteren kein Hehl. Sieben Jahre fpäter wurde, infolge von Appellationen und längeren Verhandlungen vor Gregor IX, Elias auf einem Generalfapitel zu Rom 1239 des Generalats enthoben (S. 56ff.). ine Mafregel, deren Rechter güftigkeit 1241 durch die Partei des Elias, welche ſich inzwiſchen wieder verftärkt Hatte, während Elias felbft bei Kaiſer Friedrich IL zu Hoher Gunft gelangt war, beftritten wurde (S. 6Lff.).

Bas für eine Vorftellung von der welthiftorifchen Bedeutung des Franz von Affift und feiner Stiftung fi in gewifien reifen bildete, ergiebt fi aus den angeblichen Äußerungen eines Ber feffenen, welche nad) der Mitteilung eines gewiſſen Bartholomäus, der ein vertrauter Freund und Verehrer des heiligen Franziskus war, Glasberger ©. 15f. erzählt. Der Dämon in dem Beſeſſenen berichtet nämlich: vor nicht gar langer Zeit Hat unfer Furſt uns alle verfammelt, und ung eröffnet, daß Gott jederzeit einen Mann zur Belehrung der Welt fende; fo ſei Noah, fpäter Abraham, dann Mofe und die Propheten gefandt worden, nad diefen Chriſtus und die Apoftel; weil aber gegenwärtig die Menfchheit den Weg Chrifti und der Apoftel verlaffen Habe, und fein Leiden den Herzen entf hwunden fei, werde ein Mann zur Belehrung des Volts erſcheinen, um die Paſſion des Sohnes Gottes den Herzen der Gläubigen wieder einzuprägen. Diefer Mann fei eben Sran« ziskus. Deömegen feien gegen ihn und feinen Orden alle ihre (damoniſchen) Machte aufgeboten worden, um biejelben zu Falle zu bringen. Unmittelbar aus dem Herzen eines frommen Minor riten fließt der Pragmatismus des Verfafjers der Chronik, nach- dem er erzählt Hat, wie Bruder Jordanus, Provinzial von Thür tingen, bei feiner Rucktehr von Affift, wo ihm der General Haare und Kleidungsſtücke des Heiligen Franz als koſtbare Reliquien mit» gegeben hatte, im Jahre 1230 im Minoritenfonvent zu Eiſenach mit Kreuzen, Weihrauch und Palmzweigen in feierlicher Prozeffion und mit Gefang in die Klofterfirche geleitet worden, und Jordanus,

Analecta ad Fratrum Minorum Historiam. 421

anfänglich betroffen über ſolche Verehrung, fih nun erinnerte, daß er ja die Reliquien des Heiligen Vaters bei ſich habe, und dag die Verehrung der Brüder, ihnen unbewußt, dem heiligen Franz don Affifi gelte. Hier fügt Glasberger, vielleicht einem älteren Ordensfchriftfteller folgend, die Bemerkung bei: „Wer dies mit frommem Sinne Tieft, wird nicht bezweifeln können, daß nicht in« folge menfchlicher Gedanken, fondern aus Eingebung des heiligen Geiftes die Söhne ihren feligen Vater angeſichts feiner Reliquien geehrt haben. Diefe ungewöhnliche Art des Empfangs und diefe anbächtige Stimmung hatte ihnen nur ber Geift gegeben, von welchen alle gute Regung ausgeht, und den der feligfte Vater, welcher in dem Geſchenk feiner Reliquien gegenwärtig war, für feine Söhne gnadenreic erlangt Hatte. O feliger Vater Franzis- tus, wer Tann fi würdig vorftellen, in wie großer Herrlichkeit du bei Gott im Himmel ftrahleft, wenn Gott macht, daß bein Allergeringftes, nämlich Haare und Kleider von dir, fogar von nichts ahnenden Söhnen auf Erben fo hoch geehrt werben!“ (S. 505.) Hier ift allerdings ein Punkt, an dem Erhabenes und Lacherliches fih unmittelbar berühren.

Nur eine Thatſache möge Hier noch Erwähnung finden, ein mittelalterlicher Magdalenenverein, von welchem Glasberger be richtet, daß ihn der grundgelehrte Biſchof Wilgelm in Paris 1225 ftiftete, indem er öffentliche Dirnen, die durch feine Predigten ber fehrt worden, zu einer Kongregation von Bußerinnen der heiligen Maria Magdalena vereinigte, ein Orden, der durch Gregor IX. Betätigung erhielt (S. 35f.).

Die fähfifhe Ordenschronit Nikolaus Glasbergers zeichnet ſich durch Genauigkeit, ja felbft durch eine gewiſſe Kritik, ander» weitigen Nachrichten gegenüber, fowie durch Angabe der Quellen föriften aus. Es laffen ſich innerhalb des von Evers ver- öffentlichten Teils der Chronik wenigftens 10 verfchiedene Schriften nachweiſen, welche der Verfaſſer benutzt hat. Es find das aller» dings überwiegend Denkwürdigkeiten zur Geſchichte des Franz von Affifi und des Minoritenordens, 3. B. die Memorabilia des Jordanus von Giano, die Chronik Balduins von Braun ſchweig, Legenden über das Leben des Srangietus, von Thomas

æheol. Stid. Yafız. 138.

42 Analecta ad Fratrum Minorum Historiam.

von Celano, und Bartholomäus von Pifa; aber and allgemeinere Geſchichtswerke wie des Vincenz von Beauvais Geſchichtsſpiegel, die Geſchichte Jeruſalems von Kard. Jakob de Vitriaco u. ſ. w.

Bel Beſorgung des Abdruckes Hat der Herausgeber geglaubt, ſich volfftändig der Handſchrift anliegen zu follen, bis auf die mittelalterliche Schreibung und die Interpunktion, welche wicht felten das Verftändnis erſchwert. Der Text ift, abgefehen von Fällen, in denen eine Abbreviatur nicht beachtet ober faljch ent- ziffert wurde, 3. B. ©. 8 oben pari ftatt parari (bie HS. zeigt Hier allerdings fein Abfitrzungszeichen), S. 59 unten corri- gilibus für corrigibilibus, was die HS. fehr deutlich Hat, ©. 32 unten apparuit ftett apperuit oculos, S. 35 Mitte novitatis ftatt noveritis, oder fonft falfch gelefen wurde, 3.8. S. 13 unten fortes Zabulon et Neptalim, ftutt sortes Z. et N. richtig wiedergegeben. An mehreren Stellen Hat der Herausgeber die Richtigkeit der Schreibung beanftandet, während diefelbe, genau betrachtet, einen vollſtändig zutreffenden Sinn giebt, z. B. ©. 6 quod; ©. 7 oben: malleo tribulacionum at temptacionum probatus (fo die Abkürzung anfzulöfen ftatt: tribulacionem temptacionem). ©. 57 unten ift das Fragezeichen nad quasi um bdeswilfen völlig entbehrlich, weil quasi in ber mittelalterlihen Latinität dfters fo viel iſt als eireiter, wie ber Herausgeber aus Stellen feines Autors, bie er ©. 61 unten, ©. 72 unten hat abdrucken laſſen, erfehen Konnte. Das Fragezeichen zu dem Eitat S. 67 oben war gleichfalls über- ftüffig. "

Dies alles Tann Ref. um ſo zuverſichtlicher behaupten, als durch die gütige Vermittelung bes jeßigen Kuſtos der bayriſchen Franzisfaner-Provinz, des gelehrten Paters Herrn Petrus Högt, die Glasbergerſche Handſchrift aus Italien requiriert und im zu⸗ gefandt worden ift, fo dag er von allen fraglichen Stellen Einficht zu nehmen In der Rage war.

Die Anmerkungen des Herausgebers beftehen teils aus Titte- rariſchen Angaben paralleler Stellen von Werfen wie Wabding, Jordanus von Giano u. a., zum Teil auch aus Eltaten neuerer Geſchichtswerke, tells aus chronologiſchen Notizen. Sachliche Er⸗

Analecta ad Fratrum Minorum Historiam. 43

Tünterungen wären je und je erwünfcht gewefen. Die Reihenfolge der vier erften Sranzisfaner-Generale ift zweimal gegeben: ©. 53, Anm. 1, und ©. 60, Anm. 2.

Der zweite Teil diefer Schrift, De fratrum Minorum Conventu Lipsiensi, ©. 73— 89, giebt fragmentarifche Mitteilungen über Gründung und Gefchichte bes Franziskaner Mofters zu Leipzig, beziehungsweife der „Barfüßerkirche“ dafelbſt. Der Berfaffer Hat dabei möglichſt Urkunden des Leipziger Stadt- archlvs des Staatsarchivs zu Dresden, be8 Codex diplom&- ticus von Sachſen, und andere zugrunde gelegt. Den ftärkften Eindrud macht der Einblick in den fittlichen Verfall der Bar- füßer zu Seipzig im KV. Jahrhundert. Klare Bezeichnungen find hie und da zu vermiffen; was foll man fich denken unter cano- nici ordinarii episcopatus Augustini, ©. 84? Ber mutlich find die Auguftiner Chorherren von St. Thomas ger meint. Der lateiniſche Stil dieſes Teils Täßt doch hie und ba Ausftellungen zu.

Ein Druckfehlerverzeichnis wäre für ben I. imb den II. Teil wohl nicht überflüffig geweſen.

9. Sehler.

2.

Lambert Daneau, sa vie, ses ouvrages, ses lettres inedites. Par Paul de Felice, pasteur. Paris (Fisch- bacher) 1882. VI u. 384 ©. gr. 8°.

Ein Werk des adtungswerteften Fleißes und von einer nicht geringen Gelehrſamkeit zengend iſt diefe Monographie über Dar näus, diefen alten Calviniften des ſechzehnten Jahrhunderts, ber als treuer Baftor und aufopfernder Belenner feines Glaubens wie als namhafter Theologe tüichtig In dem verſchiedenſten Disziplinen

28*

424 Fölice

und Schöpfer der theologiſchen Ethil (60 Jahre vor Calixt) die Bedeutung vollauf verdient hat, die feine Zeitgenoffen ihm bei⸗ gelegt, und Heute noch der Beachtung wert ift. Einer abeligen Familie angehörig, wurde er um das Jahr 1530 zu Beaugench- fur» Loire geboren, machte dort, und von 1543 an in Orleans, die Schule durch, ftudierte in Paris Philofophie, dann 1552 bis 1557 Jurisprudenz in Orleans unter dem nachmaligen Märtyrer Anne du Bourg, und in Bourges unter dem berühmten Daneau, und wurde 1559 Dr. juris. Der Märtyrertod feines Lehrers du Bourg (1559) brachte feinen Übertritt zur reformierten Kirche zur Reife. Oftern 1560 begab er fid nad) Genf, wo die Predigten und Dorlefungen Calvins ihn bewogen, ſich der Theologie zu widmen, mit ber er fich längft ſchon befchäftigt Hatte. Bereits vor Oftern 1561 folgte er einem Rufe als Paftor nad Gien, dem alten Genabum (wofür meift Orleans, aber fälſchlich, gehalten wird; eine Vorſtadt von Gien Heißt noch Ia Genabie). Die manchfachen Gefahren und Leiden, die er dort mit feiner Gemeinde während der Religionskriege zu beftchen Hatte, können wir hier nicht im einzelnen verfolgen; der betreffende Abfchnitt des Werkes iſt intereſſant durch die aftenmäßige Widerlegung verfchiebener papiſtiſcher Nachrichten von Greueln, die den Hugenotten aufs gebürdet wurden. Bel der Bluthochzeit floh er nach Genf, unter Verluſt feiner Bibliothel und vieler; Manuftripte. Er wurde nun Brofeffor der Theologie in Genf und daneben Paftor im nahen Vandeuvres, dann in der Stadt ſelbſt; ein Doppelberuf, der bei feiner ſchon damals wankenden Gefundheit ihm fehr fehwer fiel. Seine Bejoldung belief ſich zulegt auf 400 Gulden; dafür hatte er abwechfelnd mit Beza, feinem einzigen Kollegen in jeder zweiten Woche drei Stunden (von 2 bis 3 Uhr, Montag, Diens- tag und Mitwoch) zu lefen.

Nach langen Verhandlungen folgte er im Februar 1581, mit einem ehrenvollen Zeugnis des Rates von Genf verfehen, - einem Rufe an die, 1575 geftiftete Univerfität Leyden. Unterwegs, in Straßburg, wo er Jak. Sturm aufſuchen wollte, Hatte er ſeitens der dort eben zur Herrſchaft gelangten ubiquitarifchen Theologen eine Reihe von Schilanen zu erdulden, welche de Felice als pueriles

Lambert Daneau. 425

bezeichnet, welche man aber eher als bübifch zu bezeichnen geneigt fein möchte. Den 13. März kam er in Lepden an um es fon nad einem Jahre wieber zu verlaffen. Die Anſchauungen und Begriffe von Kirche und Kirchenverfaffung, die er in den Niederlanden vorfand, waren denen, die er aus Frankreich und Genf mitgebracht, diametral entgegengefegt. Schon die Toleranz gegen Katholiſche, wenn diefe nur fir die pofitifche Selbſtändig⸗ feit der Niederlande mitwirken halfen, dunkte ihm Verrat an ber Sade des Herrn. Vollends die Unterwerfung des kirchlichen Gouvernements unter bie weltliche Obrigkeit mußte ihm, der fi nur eine presbyterial verfaßte, vom Staate unabhängige Kirche denen konnte, als ein Greuel erfcheinen, und dies um fo mehr, da unter den vornehmften und einflußreichften Vertretern ber entgegen» ftehenden Anficht mehrere ausgefprocene Schwenkfeldianer ſich bes fanden, welche „die äußerliche Kirche“ für ein Adiaphoron erklärten, auf deſſen Geftaltung gar nichts anfomme, und von welchem „bie unſichtbare Kirche“ ganz unabhängig ſei. Danäus feinerfeits Bielt, wie Calvin, an bem Begriffe der ecclesia universalis als einer visibilis feft, welde beides, mater fidelium und coetus sanc- torum (Führerin zum Glauben und Reſultat des vorhandenen Glaubens) zu fein berufen ſei. Mit Polanus geftand er fogar der römifchen Kirche zu, ein Teil der ecclesia universalis visi- bilis, wenn aud eine pars impurissima, zu fein, forderte aber von einer pura ecclesia die Requifite reiner Lehre und Safrar mentsverwaltung, bibliſcher Verfaffung und hriftlicher Zucht (Diss ziplin).

Wenige Wochen war Daneau in Leyden, als die beiden, ein⸗ ander widerſtreitenden Grundanſchauungen ſchon in praktiſchen Einzelfällen in Konflikt gerieten. Daneau ſamt ſeinem ehemaligen Lehrer und jetzigen berühmten Kollegen Daneau widerſetzten ſich den Eingriffen der ſtädtiſchen Obrigkeit in kirchliche Angelegen⸗ heiten der walloniſchen Gemeinde mit Nachdruck und nicht mit Unrecht; erſterer griff aber auch die ganze, in Leyden herrſchende, durch Domine Coolhaes plumb genug vertretene ſchwenkfeldiani⸗ ſierende Kirchentheorie in fulminanten Streitſchriften an. Der Streit ſetzte ſich in die Synoden fort und: führte, was noch

426 Felice

ſchlimmer, zu Stubentenunruhen. Der Prinz von Oranien that, was er fonnte, zum Schuge der beiden berühmten Profefforen. ALS aber eine der beiden Magiftratsperfonen erklärte, der Rat wolle die Genfer Inquifition ebenfo wenig, als die fpanifche, da antwortete Daneau: in einer Stadt, wo die dem Worte Gottes gemäße Kirchenordnung auf eine Linie mit der ſpaniſchen Inqui⸗ fition geftellt werde, könne er feinen Augenblick Länger bleiben. Er reichte feinen Abſchied ein und verließ Leyden den 20. Mai 1581.

Es ift bekannt, daß mit feinem Weggange der Streit ber beiben Prinzipien nicht zu Ende war, fondern noch 37 Jahre Tang die Niederlande erſchütterte. Der arminianiſche Streit war ja feinem tiefften Grunde nach nichts anderes, als der Kampf zwiſchen der calviniſch⸗ orthodoxen, auf Selbftändigkeit und dogmatiſche wie disziplinare Neinheit gerichteten fynodalen und der national« firhlihen, in Beziehung auf Dogma und Disziplin latitu— dinariftifchen antifynodalen, weil ſtaatskirchlichen Partei. Da bie leßtere zugleich einen Staatenbund, die erftere einen Bundes⸗ ftaat wollte, fo warf der Oranier für die erftere fein Gewicht in die Wagfchale und Half ihr in Dortreht zum Siege‘). „Mir {ft es einerlei“, fagte Morig von Oranten, „ob die Prädeftination gran ober blau ift; aber das weiß ich, daß bie Pfeifen des Advo⸗ Taten (Oldenbarneveldt) und die meinigen eine Freifchende Diffonanz bilden.“

Daneau ging nach Gent, wo er an der dortigen, ftreng cal⸗ viniſchen theologiſchen Alademie ein halbes Jahr Tang dozierte. Er kehrte dann nad) Frankreich zurück und wirkte als Profeffor an der theofogifchen Alademie von Bearn, welde erft in Orthey dann in Tesrar ihren Sig Hatte. Eudlih 1592 folgte er einem Rufe als Paftor nach Caftres, wo er den 11. November 1595 ftarb.

Die Herftellung dieſes Lebeuslaufes war eine überaus mühe- volle. Aus vereinzelten Notizen in Briefen und Vorreden, aus den zerftreuten Akten der einzelnen Städte und Univerfitäten, aus

1) Eine ausführliche Darftellung des merkwürdig Tompfigierten Streites habe ich in meiner Kicchene und Dogmeugeſchichte IE, 504—588 gegeben.

Lambert Daneau, 421

Vapieren in verſchiedenen Bibliotheken hat der unermüdete Verfaffer, unterftügt van feiner reichen Beleſenheit, die einzelnen Notizen ufammengefudt, verglichen, in feharffinuiger Kritik und nüchterner Beſonnenheit kombiniert und fo zu einem, freilich nicht lückenloſen] aber immerhin reichen Lebensbilde vereinigt.

Nicht minder mühfelig war und nicht minder danfenswert ift der zweite Hauptabfchnitt feines Werkes, der bibliographiſche, wo er den 66 größeren und Mleineren Werken Daneaus nah all ihren verfchiebenen Ausgaben, Wiederabdruden und Überfegungen in fremde Sprachen, wie fie in ben verfchtedenen Bibliothelen Europas ſich zerftreut auffinden Tießen, nachgegangen ift, ſich aber mit diefem formelf-bibliographifchen Material nicht beguügt, fondern don den wichtigeren Werken, wie 3. B. der Ethik, der Iſagoge oder dem Compendium sacrae theologiae, fowie auch den hüdjft interefjanten verſchiedenen Streitfchriften wider den Tanz und die Kleiderpracht, äußerft geſchicte Auszüge und kompendiöſe Repro- duftionen des Inhaltes giebt, fo daß man ans feinem Werke auch von der Methode Daneaus und feinen theologiſchen Anſchauungen ein Hares Bild gewinnt.

Was insbefondere die Ethit (1577) betrifft, fo glaubt der Verfaſſer auf die von Alexander Schweizer aufgeworfene Frage eingehen zu müffen, wie es ſich reimen laſſe, daß die prädeftina- tianifchen Calviniften die erften Schöpfer einer Ethik waren. De Selice meint die Löfung darin zu finden, daß die Ealviniften nicht von der Prädeftination zur Ethik, fondern von der Ethik aus zur Prädeftination geführt worden feien, und beruft ſich zum Beweiſe dafür darauf, daß „in der Moral des Dandus nichts ift, was einer Apologie der Prädeftinationslehre gleichſähe“. Das ift denn aber doc nicht richtig. Der ganze erfte Teil von Daneaus Ethik (feine Unterfuhung über den Willen und deſſen Freiheit) ruht ja doc; gänzlich auf der Grundlage der prädeftinatianifchen Dog- matif; das prädeftinatianifche Theorem, daß der Wille feinen In⸗ halt vor dem Falle von Gott, nah dem alle vom Teufel empfange, und daß nur die Form des velle (de Begehrens) vor und nad) dem Falle, vor und nach der Belehrung dem Menfchen eigne, finden wir in Daneaus Ethik in alfer Breite entwidelt.

48 Felice, Lambert Daneau.

Auch wo er von ber hriftlichen Heiligung, dem Kampfe des neuen Menfchen gegen den alten rebet, fagt er (bei de Felice, ©. 184): „Die Ermwählten können nie fo tief in Sünden fallen, als die BVerworfenen, weil die Gnadengabe Gottes nie gänzlich verloren werden kann.“ In der That bedarf au die von Schweizer aufgeworfene Frage keiner fo Künftlichen Antwort. Würde derfelbe nicht die altveformierte Präbeftinationslehre im Sinn eines philo⸗ ſophiſchen Determinismus verftanden d. 5. mißverftanden haben, fo würde er jene Frage überhaupt nit aufgeworfen Haben. Die Unterfu_hung, wer als letzte Urfacdhe die Umwandlung aus dem fündigen in den geheiligten Menfchen bewirke, ſchließt ja doch die Unterfu_hung, worin dieſe Umwandlung beftehe, nicht aus. Die Tegtere Unterfuchung ift Gegenftand der Ethik, die erftereift dogmatiſcher Art und wurde von Daneau wie von Calvin in dem mechaniſchen Sinne der abfoluten Prädeftination, unter Verkennung des Bes griffes der, in der Wiedergeburt dem Menfchen zurücgegebenen aktiven Rezeptivität, beantwortet.

Der dritte Teil des Werkes: die diplomatifch genaue Mit teilung von 61 bisher noch ungedrudten Briefen von und an Daneau, ift felbftverftändfih ein höchſt wertvoller Quellenbeitrag zur Geſchichte der Kirche und Theologie des 16. Jahrhunderts.

Und fo Haben wir alfe Urſache, dem Verfaffer für diefe ges lehrte Arbeit Herzlich dankbar zu fein, und werben feinem bes fonnenen Urteile gerne beiftimmen, wenn er Daneau für ein Kind feiner Zeit, aber immerhin fir einen bedeutenden Theologen und ernften warmen Chriften und treuen Diener der Kirche er» tlart.

U. Abrard.

Stade, Zeitfäeft für aftteRamentlie Wiffenfeaft 49

3.

Beitfehrift für allteſtamentliche Wiſſenſchaft. Herausge- geben von Dr. Bernhard Stade, ord. Profeſſor der Theologie zu Gießen. J. Rickerſche Buchhandlung. Jahrg. 1881. 1882, Heft 1. (Der Jahrgang koſtet 10 Mar.)

Gegenwärtig find auf aftteftamentlichem Gebiete eine große Zahl von Einzelunterfuhungen zu führen, für welche weder eine all» gemein theologifche noch eine phifologifche Zeitſchrift den nötigen Raum gewähren fann. in Unternehmen wie das vorliegende, das Übrigens von der Deutfchen Morgenländifchen Geſellſchaft unterftügt wurde, kommt alfo gewiß einem dringenden fachlichen Bedürfniffe entgegen. Wie ſchon der billige Preis der Zeitſchrift zeigt, iſt diejelbe auf einen großen Leſerkreis berechnet, und es fteht zu wünfchen, daß es dem Herrn Herausgeber gelingen möge, auch feinen Stoff dem entſprechend auszuwählen. Die Vor bedingung dazu ift freifich eine möglichft alffeitige Beteiligung ber Fachgenoſſen. Möge die Gemeinfamleit bes fachlichen Intereſſes alle hier etwa entgegenftehenden Schwierigkeiten überwinden! Evens tuell wäre Übrigens zu fragen, ob bie Zeitfchrift zeitweilig nicht and in zwanglofen Heften erfcheinen könnte, ein Ver— fahren, das fich bei einer ähnlichen Unternehmung vortrefflich bewäßrt hat.

Eröffnet wird ber erfte Jahrgang durch eine Abhandlung des Herausgebers über Deutero⸗Zacharja“. Es wird Hier ber Nachweis verfucht, daß die Kapp. Sad. 9—14 von einem und zwar nadj- exilifchen Verfaffer herruhren, den Stade in bie griechiſche Zeit fegen möchte. Die Schwierigkeiten, die dem Verſtändnis diefer rätfelhaften Kapitel im Wege ftehn, find außerordentlich groß; auf Schritt und Tritt muß der Ausleger ſich fragen, ob er wirklich verfteht ober zu verftehen glaubt, ob der Text verderbt ift ober ob unfere Mittel zu feiner Erklärung nicht ausreichen. Auch in

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der forgfältigen Inhaltsangabe, die Stade feiner Erörterung vor- ausſchickt, werden namentlich feine tegtkritifchen Anmerkungen viel- fach den Widerfpruc Heransfordern. Bei diefer Sachlage ift die Löfung des Problems mehr als anderswo von ber richtigen Frage ftellung bedingt, es ift Bier durchaus unerlaubt, von bdiefen und jenen Einzelgeiten auszugehen, die zum Zeil mit großem Schein für die eine ober andere Meinung gektend gemacht werden lönnen. Dem gegenüber verlangt Stade mit vollem Recht, daß man biefen Abſchnitt vor allen Dingen in feiner Gefamtheit und dann im Zufammenhang der übrigen prophetiſchen Litteratur betrachte. Diefen Weg hat man fon beim Buche Joel eingefchlagen und m. €. mit Erfolg. ‚Der fekundäre Charakter des Buches Joel und des zweiten Teils des Buches Sadarja ergiebt fih m. E. in der That aus der Überfadung und Undurchſichtigkeit der Hier vor- liegenden eschatologiſchen Schilderungen, deren Unverftändlichkeit zum großen Teil darauf berußt, bag fie nicht lebendig vor unferen Augen aus der prophetifchen Predigt hervorwachſen, wie das bei den Älteren Propheten und noch bei Ezechiel und Sadarja der Tall if. Im Zuſammenhang damit fteht die Thatſache, daß bei Zoel und Deutero-Sacarja von der eigentlich propketifchen Predigt nichts mehr zu fpüren iſt. Binden wir Hier nun weiter die Zur kunftsbilder faft aller übrigen Propheten zum Teil ziemlich äußer- lich miteinander verarbeitet und ftehn wir vor der Alternative, ob Joel und Deutero-Sadarja die Fundgruben waren, aus denen Jeſaja, Jeremia und Ezechiel ihre Zufunftsbilder entlehnten, oder ob umgekehrt jene von diefen abhängig find, fo kann m. E. die Entſcheidung nicht zweifelhaft fein. Dann fragt ſich's immer noch, wie die große Bedeutung zu erklären fei, die fir Deutero⸗Sachar ja die Griechen haben. Wie könnte man bei einem (gleichgefinnten) Zeitgenaffen Jeſajas und Zeremias den Wunfch begreifen, dag die Prophetie doch endlich ein Ende nehmen und jedem Propheten mit Schlägen der Mund geftopft werden möge? Freilich hat Stade die Beweistraft feiner Auseinanderfegungen ſehr weſentlich durch Überladung beeinträchtigt. Der Wunfch, den Beweis fo allſeitig wie möglich zu führen, Hat ihn bfter zu geivagten Behauptungen geführt. Nichtsdeſtoweniger möchte diefe Abhandlung zu einer

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Nevifton des Eritifchen Urteils über Sad. I—14 das Ihrige beis tragen.

Die Abhandlung von Eduard Meyer: „Kritik der Berichte über die Eroberung Paläftinae“ (I, S. 117ff.) knupft in der Analyfe der jehoviftifhen Geſchichtserzählung von Num. 13 bis Richt. 1 überall an die Unterfuhungen von Wellhaufen an und Hat bdiefelben am mehreren Punkten mit Fleiß und Geſchick weiter geführt. Der Verfaffer hätte aber vieleicht wohlgethan, wenn er ſich hierauf befchränft hätte. Denn in der hieran ſich fehliegenden Kritik der jehoviſtiſchen Erzählung hat er die Schwierigkeit feiner Aufgabe m. E. weſentlich unterfhägt. Es Handelt fi Hier zus nächſt um die Rekonſtruktion der jahoiftifchen Erzählung (I), als der nah Wellgaufens und Meyers Urteil älteren Duelle des aus Jahviſten und Elohiſten (E) zufammengefegten jehoviftifchen (JE) Werkes. Die Scheidung von J und E fteht aber im einzelnen noch viel zu wenig feft und bei der Freiheit, mit der Redaktor (JE) gearbeitet Hat, ift die Refonftruftion von J und E vielleicht nicht überall fo einfach, als der Verfaſſer zu glauben ſcheint. Terner ift es zum mindeften zweifelhaft, ob der Jehoviſt ſowohl I als auch E überall vollftändig aufgenommen Hatte; gewiß ift, daß uns das Werk des Jehoviſten nicht ganz vollftändig vorliegt. Unter diefen Umftänden ift aber bei ber Kritik der verſchiedenen Erzählungen die Außerfte Vorficht geboten. Es mag fein, daß E jünger al J und vielfach von diefem abhängig ift, daß die Dar» ftellung von E durd) gewiſſe religiöfe Anſchauungen nicht unweſent lich beeinflußt ift. Aber dem Ephraimiten E ftand doch ohne Zweifel noch eine andere Überlieferung zugebote als dem Judäer I, und wer neben J die Erzählung von E nirgends als eine felbftändige Quelle gelten laſſen will, muß zuvor beweifen, daß die Verfärbung der überlieferten Stoffe hier eine derartige ift, die die Verwertung der Relation von E für die Gefdichtsdarftellung überall ausſchließt. Es will uns feinen, daß die Erzählungen von E doc auf einer anderen Stufe ftehn als Richt. 19—21. 1Sam. 7. Auch ift mit der Vergleihung der beiden hauptſüch- lichen Erzählungen über die Eroberung des Landes und dem Nachweis, daß fie auf einer Zurücktragung fpäterer Verhäftniffe

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in die Vergangenheit beruhen könnten, noch nicht alle Arbeit gethan. Es ift m. €. freilich unlengbar, dag Nicht. 1 uns ein wefentlih anderes Bild von der Feftfegung Israels im Weſt⸗ jordanland bietet als felbft der Kern der Erzählung des Buches Joſua. Schon Richt. 1 erfcheinen die Stämme vereinzelt und während ber Richterzeit, Hat ein einheitliches Israel nicht exiftiert; deshalb Hat die fpätere Überlieferung aud fein Bild vom Ge famtverlauf der Nichterzeit fondern mur einzelne Geſchichten von durchaus lokaler Färbung fefthalten können. Aber daraus folgt feineswegs, daß die Erinnerung nicht über bie Nichterzeit hinaus⸗ reichte und eine Reihe von Ereigniffen fefthielt, die in der Haupt face wirklich die Schickſale des Volles vom Auszug aus Agypten bis zur Einwanderung in Kanaan beftimmt Hatten. Denn aus anderen Gründen ift es dennoch eine unzweifelhafte Thatſache, daß die Stämme unter Mofe in gewiffem Maße eine Einheit bilbeten und einheitlich handelten, und hieran finden die Erzählungen von Num. 21. Joſ. 1—12 doc einen mefentlichen Anhalt. Es mag fein, daß das Lied Num. 21, 27 ff. ſich auf andere Ereigniffe bezieht, als die dortige Erzählung. Wer aber deshalb die Gefchichtlichkeit der Erzählung leugnen will, muß zuvor beweifen, daß die Erzäh fung aus dem Liede ftammt. So Hat ber Verfaffer mehrfach zu weitgehenden Schlüffen ſich hinreißen Taffen, die der genligenden Grundlage durchaus entbehren. Er ift 3. B. der Meinung, da I in der Kundfchaftergefchichte nichts vom Murren des Volkes ber richtete, und folgert daraus, daß der AOjährige Aufenthalt in der Wüfte in feiner Erzählung keine Stelle Hatte. Alfo: weil in ben übrigen Quellen die 40 jährige Wüftenwanderung mit dem Murren des Voffes motiviert ift, hat I, ber (angeblich) von diefem Grunde nichts berichtete, auch jene Thatſache nicht berichtet. Sole über- eilten Schfüffe find um fo mehr zu bedauern, als fie mandem Lefer leicht auch die Prüfung der Prämiffen des Verfaſſers verleiden Könnten, überhaupt aber nicht gerade zur Empfehlung feiner kri⸗ tiſchen Pofition dienen.

Ein wertvoller Beitrag zur Pentateuchkritit iſt Gieſebrechts Abhandlung „Über den Sprachgebrauch des herateuchiſchen Elohiften“ (dl, S. 177— 275), d. 5. des Prieftercoder (Q). Nicht als ob

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auf diefem Gebiete die Entſcheidung über das Zeitalter. des letzteren zn ſuchen wäre. Es ließe fi, wie Giefebrecht ausführt, auch im Fall der nacherxiliſchen Entftehung diefer Schrift fehr wohl be» greifen, wenn ihre Sprache einen altertümlihen Charakter zeigte, und umgefehrt kann der Beweis des Gegenteil® aus mehr als einem Grunde immer nur in zweiter Linie in Betracht kommen. Aber im Gegenfag zu V. Ryſſel (De Elohistae Pentat. sermone, Lips. 1878) Hat Gieſebrecht auf alle Fälle gezeigt, daß der ſprach⸗ liche Charakter des Prieftercoder, foweit man bis jegt fieht, der Annahme feiner nachexiliſchen Entſtehung durchaus nicht im Wege fteßt, fondern eher derfelben günftig ift. Der Verfaffer zieht drei ſprachgeſchichtliche Perioden in Betracht (vor 700 v. Ehr., von 700 bis 450, nach 450), es fommt eben darauf an, für die zu führende Unterfuchung eine möglichft breite Baſis zu gewinnen. Die Ber- gleihung der Sprache des Prieftercoder mit der des einen Ezechiel führt ſchließlich nicht weit, da die größte Verwandtſchaft zwiſchen beiden an ſich allerdings noch nicht die ungefähr gleichzeitige Ent« ftehung derfelben beweift. Nun ftelit fi) aber heraus, daß die Ver⸗ wandtſchaft des Prieftercoder mit Ezechiel in diefem Punkte am Ende nicht größer ift als die mit Deutero⸗Jeſaja und Jeremia. So namentlich was das Lexikon betrifft. Man wird in der tabellarifchen Zufammenftellung S. 188 197 dieſes und jenes Wort mit Recht oder Unrecht beanftanden, die Thatſache bleibt beftehn, dag der Prieftercoder und mit ihm zumeift die Literatur der zweiten und dritten Periode für Befig und Erwerb, für ſchreien und ſchluchzen, für fürbitten und bundfchliegen, für Fürft und Stamm, fürausfundfhaften und fteinigen andere Ausdrüde hat, als die Literatur der erften Periode. Dagegen kann ich dem Verfaſſer nicht beipflichten, wenn ex weiterhin auch den teilweife aras mäifchen Charakter des elohiſtiſchen Wortſchatzes erweifen will. Bei einzelnen Wörtern mag dies wahrfcheinlich fein; geradezu beweifen kann man 8 vielleicht bei feinem einzigen. Übrigens wird dadurch das Gewicht der übrigen Nachweiſe Gieſebrechts nicht aufgehoben. Merk» würdig ift namentlich der von ihm nachgewieſene poetifche Charakter gewiffer Ausdrücke des Prieftercoder, und Ichrreich ift die mit großem Fleiß angeftellte Unterſuchung über einzelne feiner ſyutaktiſchen

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Eigentumlichkeiten, ſowie über den Gebrauch von ax und van, den Gebrauch der Nota accusativi und des Verbalfuffizes.

Eine zweite Abhandlung desfelben Berfafjers über die Ab- faffungszeit der Pfalmen (I, S. 276— 332) wird vielfach zum Widerſpruch Herausfordern, fowohl da, mo er mit fprachlicen, als auch da, wo er mit inhaltlichen Indizien argumentiert. Gleich⸗ wohl Halte ich and dieſe Abhandfung für nüglih. Der Ber faffer Hat die ſprachlichen Erfcheinungen in einem Maße zu⸗ fammengeftelft, twie das bisher kaum gefchehen ift, und betreffs des Inhalts mehrerer Palmen Hat er neue Beobachtungen ge macht, die mir richtig und wertvoll zu fein feheinen.

Es tann nicht meine Aufgabe fein, den ganzen Inhalt der bis dahin erfehienenen Hefte durchzugehen. Im Vorbeigehen nenne ich nod) die forgfältige Arbeit Buddes „Über das hebräiſche Magelieb“ (U, ©. 1-52), Harkavys Herausgabe und Überſetzung eines Fragments von der Vorrede zu Saadjas nam eo (I, ©. 72 big 94), fowie die Mitteilungen von J. Hollenberg (I, ©. 97 ff.) und Bäthgen (I, ©. 105ff.). Beſonders wertvoll iſt die Unter» ſuchung von Georg Hoffmann nad der Bedeutung des Wortes po (IL, ©. 58— 71). Hoffmann weiſt nah, daß dies Wort die Bedeutung „Ziegelofen“ nicht wohl haben Fan, fondern zus nachſt die Ziegelform bedeutet. Danach ift 2 Sam. 12, 31 hochſt wahrſcheinlich zu überjegen: „und er ftellte fie an die Säge umb an bie eifernen Picken und am bie eifernen Ärte (d. h. er vers wandte fe zu Steinhanern und Steinmegen) und Tieß fie mit der Ziegelform arbeiten“ (lies am). Es iſt von Bedentung, daß die herkömmliche Auslegung diefer Stelle fortan für die Eharafte: riftit Davids und überhaupt des althebräifchen Weſens nicht in Betracht kommt. Betreffs einer Abhandlung des Ref. fei es ge ftattet, hier nachträglich zu bemerken, daß derfelben eine alademiſche Antrittsporlefung zugrunde liegt.

Ich ſchließe mit dem Wunſche, daß die nene Zeitfchrift viele Mitarbeiter und Lefer finden möge.

Bafel, 22. Juli 1882. Rudolf Smend.

Miscellen.

Programm ber Haager Geſellſchaft zur Verteidigung der hriftlichen Religion für das Jahr 1882.

Nach dem Abdrud und der Veröffentlichung des vorigen Pros grammes haben ſich als Verfaſſer der Abhandlungen über „, Wiexandre Binet als Hriftlicher Moralift und Apologet“, denen von den Direktoren in ihrer Herbftverfammlung von 1881 ein Ehren- preis zuerfannt war, befannt gemacht, der einen mit dem Motto: „Jai cru, c’est pourquoi j'ai parlé“

F L. Fred, Chavanues, emeritierter Prediger in Laufanne,

und der anderen mit dem Sinnfprudh: „Virtutem videant“

3 Cramer, Dr. theol. und Profefjor in Gröningen.

Beide Arbeiten befinden fi fon unter der Preffe und werben als XVI. Band der Werke der Geſellſchaft ans Licht treten.

Als Verfaffer der Abhandlung über die bergleihende Religionsgefhichte und das Chriftentum mit dem Motto aus Schiller: „Religion des Kreuzes u. f. w.“ dem von

Tiesl, Stab. Yapız. 1208. 2

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den Direktoren der Geſellſchaft ein Beweis der Anerkennung feiner BVerdienfte angeboten war, hat ſich befannt gemacht

R. Seydel, Dr. und Profeſſor zu Gohlis bei Leipzig.

In ihrer Verfammlung im Herbft von 1882 am 11. Sep- tember und folgenden Tagen mußten Direktoren ihr Urteil zu⸗ fammenfaffen über zehn Abhandlungen, welche vor dem 15. Der zember des vorigen Jahres bei der Geſellſchaft eingegangen waren.

Fünf davon, alle in der dentfchen Sprache, verfuchten die Löfung der Preisaufgabe:

„Wie muß auf Hriftlidem Standpunkte geur— teilt werden Aber den Eid und feine Aufreqht· haltung im modernen Staate?“

Drei dieſer Abhandlungen, mit den Mottos: „Qui non reverentur homines, fallunt deos“ (Curtius), „Ju- ramenta justae necessitati serviant“ (Calvin) und „Ich glaube nit, daß es die Aufgabe u. f. m.“ (Bie- mare) ftanden weit unter den Anforderungen, welche die Gefell- ſchaft berechtigt ift zu machen. Es verftcht fich ja von ſelbſt, daß bei einem Preis, wie er von der Gefellfchaft ansgefegt wird, nur diejenigen in Betracht fommen, welche ein gefliſſentliches Studium auf den Gegenftand der Preisaufgade verwendet Haben und das ernfthafte Streben kundgeben, das Ergebnis, wozu bie Unterſuchung fie geführt Hat, mit wiſſenſchaftlichen Beweisgründen zu bemahr- heiten und in gebührender Form abzufafien, um es auf diefe Art auch denen zu empfehlen, welche nicht ſchon a priori mit ihnen derfelben Meinung find. Es zeigte ſich gleich, daß die drei ge- nannten Abhandlungen, an diefen Anforderungen geprüft, ganz um» zulanglich waren. Die erfte enthielt wicht viel mehr als einige flüchtige Bemerkungen und wohlmeinende Wunſche inbezug auf den Eid und die Art feiner Aufrechthaltung, keinen Auſatz zur Be⸗ weisführung, fein einzige6 Zeichen eines eruften Studiums. Die zweite Abhandlung, mit dem Motto aus Calvin, litt an innerem

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Widerfprud. Mit der ftrengen Handhabung des geſchichtlichen Charakter des Chriftentums im erften Teil ftimmte die Stelle, welche im zweiten Zeil dem Chriftentum eingeräumt wurde, nicht überein. Außerdem enthielt der zweite Teil viel Überflüffiges, und ſowohl die Beſtimmung des modernen Staates im dritten Zeil, als auch die Anficht über fein Verhältnis zum Eid im vierten Teil war von Oberflächlichkeit nicht freizufprechen und daher ungenügend. Aber auch die dritte Abhandlung, mit dem von dv. Bismard entlehnten Sinnſpruch wurde einftimmig für ungenügend erflärt. Es gelang den Direktoren nicht, den Plan ausfindig zu machen, welchen der Verfaffer verfolgt Hatte. Er verfiel oft in Wiederholungen und brachte dasjenige, worauf es, der Preisfrage zufolge, am meiften ankam, nur im Vorbeigehen zur Sprache. Das Ergebnis der Abhandlung konnte daher auch nicht für eine vehtmäßige Folgerung aus der vorhergehenden Ber weisfüßrung gehalten werben und entbehrte Hierdurch jedes wiſſen⸗ ſchaftlichen Wertes.

Gunſtiger als über diefe drei Arbeiten lautete das Urteil über die vierte, eine Abhandlung von 122 Seiten in Folio, gezeichnet mit den Worten: „yo d2 Adym udy um duouas üdng‘ (Matih. 5, 84). Sie erwies ſich als die Arbeit eines fehr tüch⸗ tigen und felbftändigen Mannes und enthielt, nach dem einftimmigen Urteil der Direktoren, viel Schönes und Beherzigenswertes. Trotz⸗ dem konnte ihr der Preis nit zuerkannt werden. Die ganz eigen tümliche Denfweife des Verfaſſers wärde gegen die Rrönnng kein Bedenken erregt haben, wenn fie ihn wicht fortwährend zu einfel- tigen und übertriebenen Anftchten geführt hätte, been ſchwerlich jemand beiftimmen dürfte. Sogleich tm erften Abſchnitt („Wefen und Zwed des Eides“) wurde die Möglichkeit, daß der Eid im Lauf der Jahrhunderte einen modifizierten Charakter angenommen Hätte, ohne hinlänglichen Grund beifeite geſetzt. Der zweite Teil („Der Eid auf dem Boden der heiligen Schrift und die Ent wickelung ber in der Eidesfrage Tiegenden Gegenſätze auf chriftlichem Lebensgebiet“) Lieferte unzweifelhaft die Beweiſe genauer und viel» umfaſſender Unterſuchungen, wurde jedoch zugleich beherrfät vor dogmatifchen Vorausfegungen, welche ſchließlich zu einem gang um

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annehmbaren Ergebnis führten. Demzufolge verloren jet auch die Anfichten des DVerfaffers im dritten Zeil („Die Stellung zum Eib von Kirche und Staat“) viel am Werte, welcher ihnen, wenn fie in eine andere Verbindung gefegt wären, unftreitig Hätte zuerkannt werden müfen. Zu ihrem Bedauern mußten daher die Direl- toren dem Berfafjer den Preis abſprechen.

Auch die fünfte Abhandlung über den nämlichen Gegenftand von 36 Seiten in 4°, gleichfalls mit dem Motto: „Zyo da Asyo öpiv xroᷣ.“ (Matt. 5, 34) trug wohl Lob, aber nicht den Preis davon. Sie war nicht ohne Talent gefchrieben, zeichnete fi durch ordentliche und bzw. vollftändige Behandlung der Aufs gabe aus und zeugte don Nachdenken und Hellem Urteil. Dem gegenüber ftand jedoch, daß der Verfaffer oft mehr andeutete als entwickelte und namentlich im BHiftorifchen Teil den Beweis für die Richtigkeit feiner Mitteilungen durchgehende ſchuldig blieb. Auch mußte es gemißbilligt werden, daß er in der Beſchreibung der „Eidespraxis“ faft ausfchließih auf Deutſchland und die Schweiz achtgegeben hatte. Endlich ließ er, wie man meinte, im Tegten Teile den Beweggründen derer, melde ben Eid aufrecht halten wollen, nicht völlig Gerechtigkeit widerfahren. Das eine und das andere zufammengenommen führte Direktoren zu einem den Preis verfagenden Endurteil.

An der Löfung ber Preisaufgabe:

„Die Geſellſchaft verlangt eine Abhandlung, worin die firchliche Lehre Über die Heilige Schrift nach der Schrift felbft geprüft wird“,

hatten fünf Einfender ihre Kräfte verſucht.

Einer von ihnen hatte fich der Iateinifchen Sprache bedient und feinen Auffag gezeichnet mit den Worten: „eo gina Kuglov usver slg 509 alava“. Cr konnte für den Preis gar nicht in Betracht kommen. Umfonft verſuchte er zu beweifen, daß die Schrift im ganzen und in jedem ihrer Teile die kirchliche Lehre völlig beftätige. Die Methode war ganz veraltet, die fog. Wider- Tegung der kritiſchen Bedenken meither geholt und willkürlich, der Verfaffer offenbar unberechtigt, um in der gegenwärtigen Zeit feine Stimme abzugeben.

der Haager Geſellſchaft 3. Verteid. d. chriſtl. Religion. 41

Die zweite Abhandlung in der deutfchen Sprache und mit dem Motto: „mavres dv vosgovam xrö.“ (1Ror. 9, 24) konnte faum für eine Antwort auf die geftellte Frage gehalten werben. Anftatt zu unterfucen, ob und inwiefern die h. Schrift der kirch⸗ lichen Lehre über die Schrift entfpricht, Kieferte der Verfaffer eine Geſchichte der kirchlichen Lehre betreffs der Schrift und Tieß der- felben, wie eine Einleitung, eine „grundlegende Unterfuchung der Schriftlehre über die h. Schrift“ vorhergehen. Während darin vieles vorfam, was nicht zur Sache gehörte, wurde gerade bie Hauptfache faft ganz vermißt. Überdies war des Verfaſſers Eregefe oft fehr willkürlich und feine Anficht über den Charakter der 5. Schrift nebelhaft und unbeftimmt.

Auch der Verfaffer der dritten, einer niederländifchen Abhand⸗ lung, gezeichnet mit den Worten: „Ile ndvra za) dvdod- rawa ndvea“, hatte ſich nicht freng genug an die Preisfrage gehalten und Infolge davon einesteils mehr gegeben, als verlangt war, andernteils dem eigentlichen Gegenftand fein Recht wider fahren laſſen. Die größte Hälfte feiner Schrift wurde einge nommen von einer Gefchichte der Firchlichen Lehre über die 5. Schrift, welche nicht nur überflüffig war, fondern auch Yeinen Ans ſpruch auf wifjenfchaftlichen Wert machen konnte. Der zweite, Meinere Abſchnitt enthielt vieles, womit bie Direktoren gerne ſich einverftanden erffärten; aber die Anordnung befriebigte nicht ganz, die Auffaffung entbehrte jeder Urſprunglichteit, und ber Beweis führung fehfte nur gar zu oft die überzeugende Kraft. Das Ends urteil lautete, daß dem offenbar noch ungelbten Verfaffer um feines ernfthaften Strebens willen Lob zufomme, aber feine Ab⸗ Handlung nicht gekrönt und zum Drud befördert zu werden vers diene.

Die vierte Abhandlung, eine deutſche und gezeichnet mit dem Spruch: „Sapere aude“, war mit großer Klarheit und Les bendigkeit geſchrieben und zeichnete ſich ferner durch ordentliche und bezw. vollftändige Behandlung des Gegenftandes aus. Der britte Abſchnitt (, Grundlinien eines Neubaus“) war in der Preißfrage zwar nicht verlangt, enthielt jedoch fo viel Gutes, daß er gegen bie Krönung jebenfalls Yein Bedenken erregt Haben würde. Was

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die Direktoren davon zurückhielt, war etwas anderes. Sie fanden nämlich in der Abhandlung eher Aphorismen als Eine ausgearbeitete Beweisführung. Mehr als eine Cinzelheit, welche eingehendere Auseinanderfegung erheifchte, wurde nur eben berührt, während viele Punkte, welche auch mit in Betracht kommen mußten, mit Stillſchweigen Übergangen wurden. Obgleich die Direktoren mein- ten, daß ber geſchickte Verfaſſer, wenn er ſich daran Hätte gelegen fein lafjen, imftande gewefen wäre, der Aufgabe vollftändig Genüge zu Teiften, konnten fie doch die von ihm eingefandte Abhandlung, troß ihrer Vorzüge der Krönung und der Aufnahme in die Werke der Geſellſchaft nicht würdig Hakten.

Der fünften Abhandlung, ebenfalls von einem deutſchen Vers faffer, mit dem Motto: „7 divanıs Ev dadsvsig velsizar“ ward eine andere Entſcheidung zuteil. Verſchiedene Bedenken hielten die Direktoren von der vollftändigen Zuerfennung des ausgeſetzten Preifes zurüd. Es erhoben fih nämlich Bedenken gegen die Form der Abhandlung, ſowohl gegen die dann umd wann weits ſchweifige Veweisführung, als gegen die Anordnung der Teile. Der Berfaffer ſchien ihnen auch feinem Plane, den er in feinem Vorwort angezeigt und verteidigt Hatte, nicht ganz treu geblieben oder, mit anderen Worten, nicht durchgehende von der h. Schrift, wie fie von der Kirche angenommen und betrachtet wird, ausge gangen zu fein. Hier und da Hatte er ferner, ihres Erachtens, dem Zeugnis des Neuen Teftamentes hinſichtlich bes Alten nicht völlig Recht widerfahren laſſen und bisweilen Steffen und Aus— ſpruchen der Bibel eine Beweiskraft gegen die Kirchliche Lehre zu- erfannt, welche ihnen von Andersgläubigen mit Recht abgefprochen werden Tann. Die Direktoren fanden daher ihr Ideal in dieſer Abhandlung nicht ganz verwirklicht, fahen jedoch anderfeits in ihr eine in vieler Hinfit fo verdienftliche Arbeit und meinten von ihrer Veröffentlichung fo viel Gutes erwarten zu dürfen, ſowohl zur Förderung einer gefunden Wertfhägung der Bibel, als zur Befeitigung falſcher Begriffe über die Bibel, daß fie befchloffen, dem Verfaſſer eine filberne Medaille nebft 200 Gulden und bie Aufnahme feiner Abhandlung in die Werke der Geſellſchaft anzu⸗ bieten, im Vertrauen auf feine Bereitwilligkeit, von ihren Bemer⸗

der Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. Heißt. Religion. 48

Zungen Kenntnis zu nehmen und Gebrauch zu machen. Wenn er ſich diefe Berfügung wohlgefallen läßt, fo melde er fi beim Sekretär der Geſellſchaft an und gebe Erlaubnis zur ffnung feines Namensbilletties.

Die Preiöfrage über den Eid und feine Aufrehthals tung im modernen Staate wird nicht erneuert.

Die jest ausgeſchriebenen Preisfragen find die folgenden:

I „Die Geſellſchaft verlangt: Eine kritiſch-hifto— riſche Unterſuchung über den Urfprung des Apo— ftolates und bie Bedeutung, welde demſelben nad den Schriften des Neuen Teftamentes und der weiteren chriſtlichen Litteratur der erſten zwei Jahrhunderte in der hriftligen Kirche zu» erfannt wurde.“

DI. „Die Geſellſchaft wünſcht zu erhalten: Eine ge⸗ meinfaßlihe Schrift für gebildete Leſer, worin mit Rüdfiht auf die Bedürfniffe der gegen— wärtigen Zeit, die wichtigſten Fragen, das fitt- liche Leben betreffend, ins Licht geftelft und be» antwortet werden.“

Bor dem 15. Dezbr. 1883 wird den Antworten auf biefe Fragen entgegengefehen. Was fpäter eingeht, wird beifeite gelegt und der Beurteilung nicht unterzogen.

Vor dem 15. Dezbr. 1882 erwarten die Direktoren Ant worten auf die im Jahre 1881 ausgefchriebenen Preisfragen über Glaube und glauben in den Schriften des Neuen Teftamentes und über die Lehre vom Gebet nad dem Neuen Teftamente. Über den Iegtgenannten Gegenfiand ift fon eine Abhandlung in der miederländifchen Sprache und mit dem Motto: „Gy dan, bidt aldusl‘ eingegangen.

Für die genügende Beantwortung jeder Preisanfgabe wird die Summe von vierhundert Gulden ausgefegt, welde die Ver⸗

44 Programm dee Haager Geſellſchaft zc.

faffer ganz in barem Geld empfangen, es ſei denn, daß fie vor⸗ ziehen, die goldene Medaille der Geſellſchaft von zweihundertfünfzig Gulden Wert nebft Hundertfünfzig Gulden in barem Geld, oder die filberne Medaille nebft dreihundertfünfundachtzig Gulden in barem Geld zu erhalten. Werner werden bie gefrönten Abhand- fungen von der Gefellfchaft in ihre Werke aufgenommen und herausgegeben. Eine Krönung, wobei nur ein Teil des ausgefegten Preifes zuerkannt wird, es fei die Aufnahme in die Werke der Geſellſchaft damit verbunden oder nicht, findet nicht ftatt ohne die Einwilligung des Verfaſſers.

Die Abhandlungen, welche zur Mitbewerbung um ben Preis in Betracht kommen follen, müffen in holländiſcher, lateiniſcher, frangöfifcher oder deutſcher Sprache abgefaßt, aber mit Iateinifchen Buchſtaben deutlich lesbar gefchrieben fein. Wenn fie mit deutfhen Buchftaben oder, nach dem Urteil der Direktoren, undeutlich gefchrieben find, werben fie der Beurteilung nicht unterzogen. Gedrängtheit, wenn fie dee Sade nur nicht ſchadet und den Anforderungen der Wilfenfchaft nicht zuwider ift, gereicht zur Empfehlung.

Die Preisbewerber unterzeichnen die Abhandlung nicht mit ihrem Namen, fondern mit einem Motto, und ſchicken dieſelbe, mit einem verfiegelten, Namen und Wohnort enthaltenden Billet, worauf das nämlice Motto gefchrieben ſteht, portofrei dem Mitdiveltor und Sekretär der Geſellſchaft: A. Kuenen, Dr. theol., Brofeffor zu Leiden, zu.

Die Berfaffer verpflichten ſich durch Einlieferung ihrer Arbeit, von einer in bie Werke der Gefellfchaft aufgenommenen Abhand- lung weder eine neue ober verbefjerte Ausgabe zu veranftalten, noch eine Überfegung herauszugeben, ohne dazu bie Bewilligung der Direktoren erhalten zu Haben.

Jede Abhandlung, welche nicht von der Geſellſchaft Herans- gegeben wird, Tann von dem Verfaſſer felbft veröffentlicht werben. Die eingereichte Handſchrift bleibt jedoch das Eigentum der Geſell⸗ ſchaft, es fet denn, daß fie diefelbe auf Wunfch und zu Nuten des Verfaſſers abtrete.

Programm ber Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft zc. 45

2. . Programm der

Teylerſchen Theologiſchen Geſellſchaft zu Haarlem für das Jahr 1883.

Die Direktoren der Teylerſchen Stiftung und die Mitglieder der Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft Haben in Ihrer Sigung vom 27. Oftober 1882 ihr Urteil abgegeben über bie zwei bei ihnen eingegangenen Abhandlungen zur Beantwortung der im Jahre 1881 geftellten Preisfrage nach einer „Lebensbeſchreibung Melchior Hofmanne*.

Eine diefer Abhandlungen war holländiſch verfaßt, unter dem Motto: „Ich vermag nit überall u. ſ. w. (Eornelius)“, die andere, eine deutſche, mit ben Worten: „Zmovdalers ngeiv erv Evörmra zul.“ gezeichnet.

In den beiden Abhandlungen fchägten die Beurteiler den bes fonderen Fleiß und die Ausdauer, womit die Autoren, fich nicht bloß befchränfend auf das, was in der legten Zeit Hinfichtlich diefes Gegenftandes ans Licht Fam, auch an den verſchiedenen von Mel chior Hofmann befuchten Orten felber eine neue Unterfuhung an ftelften, welche ſowohl bei bem einen als bei dem anderen zu in⸗ tereffanten Refultaten führte. Sie mußten beide feiner feltenen, hier und da in fehr weit von einander entfernten Bibliotheken zerftreuten Schriften mächtig zu werben, und berichteten über die⸗ felben fo umftändlic (bisweilen gar zu meitfäufig), daß ihre Arbeit allerdings an Vollſtändigkeit wenig zu wünfchen Täßt. Keinem von beiden ift es aber gelungen, ein anfchauliches Lebens» und Charafterbild Melchior Hofmanns zu Kiefern. Dafür ift ihre Behandlung zu fragmentarifch: zwar wird der Inhalt jeder Schrift zur Zeit Ihres Erſcheinens bis in geringe Einzelheiten mitgeteilt, die Schriften aber nicht mit einander in pragmatiſchen Zufammens

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hang gebracht, und eine allgemeine Überficht der Lehre und der Anfihten des Mannes fehlt. Überdies Hätte, um ein wahres Charafterbild von ihm zu zeichnen, was von beiden Autoren zu fehr vernachläſſigt wurde, feine tiefe Ehrfurcht vor der h. Schrift, feine innige Srömmigfeit, fein tadelloſer Lebenswandel in Betracht gezogen und zugleich gezeigt werden müfjen, wie in feinem Mangel an wiſſenſchaftlicher Bildung, in feinen unter Sürften und Ger lehrten erworbenen Erfahrungen, in feinem fpäteren Verkehr faft ausfchließlich mit Perfonen ber niederen Volksklaſſe die Erklärung dafür zu finden ift, daß die Gebildeteren ihm zuwider waren, daß er fo unfenffam war, daß er fi manderlei Träumereien und Schwarmertien hingab.

Außer diefem in den beiden Abhandlungen Fehlenden urteilte man betreffs der hollandiſchen: daß fie, „Ein Beitrag zur Ger ſchichte des Chiliasmus im Zeitalter der Reformation“ genannt, diefe Geſchichte kaum berührt, dag der Autor manchmal felun- dare Quellen benutzt, während doch die urfprünglicen noch vor- handen find, daß er viel zu weitfchweifig mitteilt, was er für fich ſelbſt brauchte, um ſich die Zuftände, welche Melchior Hof mann an verſchiedenen Orten vorfand, klar vorzuftellen, und daß er anf die Sprache und ben Stil zu wenig Sorgfalt ver- wendete. In ber deutfchen Abhandlung, die auf manchen Seiten Lob erntete wegen der gründlichen Kenntnis des Zeitalterö der Reformation und der genialen Auffaſſung, bedauerte man indeſſen einige Lücken, 3. B. hinfichtlich des Ereigniffes in Stockholm, mehr aber noch die große Überellung, weiche der Autor fi wohl ber müht zu entjchuldigen, zum Teile auch erflärt, welche aber der Herausgabe diefer Schrift Hinderlich im Wege ſteht.

Trog diefen Einwendungen erfannten die Beurteiler die Ver⸗ dienfte der beiden Abhandfungen und meinten, obgleich fie aus den erwähnten Gründen feiner von ihnen die goldene Medaille zufagen konnten, daß es doch mit Rückſicht auf die vielumfafienden, zu diefem Zwed veranftalteten Nachforſchungen und die bedeutenden, dadurch erhaltenen Nefultate unverantwortlich wäre, die Frucht fo vieler Arbeit umbenugt zur Seite zu legen. Ste wünſchen alfo, vorausgefetzt daß die Antoren ſich bereit erffären, ihre Arbeit den

der Teylerſchen theologifchen Geſellſchaft zc. 447

genannten Einwendungen gemäß abändern und ergänzen zu wollen, die beiden Schriften in die Werke der Geſellſchaft aufzunehmen, mit Anerbietung der filbernen Medaille und 200 Gulden für jeden der zwei Autoren. Falls fie diefe Entfcheidung genehmigen, wollen fie ſich ſchriftlich wenden an die Herren Direktoren der Tehlerſchen Stiftung und diefen erlauben, ihren Namenszettel zu Öffnen.

Die andere, für den 1. Mai 1879 ausgefchriebene und im vorigen Jahre wiederholte Preisfrage „Über die Übereinftimmung der Rechte der Individuen mit den Anſprüchen der Zufammen- gehörigkeit“ blieb aud nun wieder unbeantwortet, weshalb ber ſchloſſen wurde, diefe Frage zurlichzunehmen.

Als neue Preisfrage wird angeboten:

„Nahdem eine ausführliche Bibliographie der Schriften Coornherts, mit Andeutung der Büder- fammlungen, wo bdiefe vorhanden find, neulich in ber ‚Bibliotheca Belgica‘ gegeben ift, ver— langt die Gefellfhaft als Beitrag zur Geſchichte der Hriftlihen Kirche und des chriſtlichen Lebens in den Niederlanden: Ein Lebens- und Charakter— bild Dirt Volkertszoon Coornherts.“

Der Preis befteht In einer goldenen Medaille von 400 Gulden an innerem Wert. .

Dan kann fi bei der Beantwortung des Holländiſchen, Latei⸗ nischen, Sranzöfifhen, Englifhen oder Deutfhen (nur mit lateis nifher Schrift) bedienen. Auch müffen die Antworten mit einer anderen Hand als der des Verfaſſers gefchrieben, vollftändig eingefandt werden, da feine unvollftändigen zur Preisbewerbung zugelaffen werden. Die Frift der Einfendung ift auf 1. Januar 1884 anberaumt. Alle eingeſchickten Antworten fallen der Gefell- ſchaft als Eigentum anheim, welde die gefrönte, mit oder ohne Überfegung, in ihre Werke aufnimmt, fo daß die Werfaffer fie nicht ohne Erlaubnis der Stiftung Heransgeben dürfen. Auch be> hält die Geſellſchaft fi vor, von den nicht gefrönten Antworten nach Gutfinden Gebraud zu machen, mit Verfchweigung odert Meldung des Namens der Verfaffer, do im letzten Falle nic

448 Programm ber Teylerſchen theologiſchen Geſellſchaft ıc.

ohne ihre Bewilligung. Auch können die Einfender nicht anders Abfchriften ihrer Antworten befommen als auf ihre Koften. Die Antworten müffen nebft einem verfiegelten Namenszettel, mit einem Denkſpruch verfehen, eingefandt werden an die Abreffe: Funda- tiehuis van wijlen den Heer P. TEYLER VAN DER HULST, te Haarlem.

Berichtigung. In der Inhaltsangabe der „Studien“ 1888, Heft 1 iſt zu berichtigen, daß der 2. Artitel der Gedanken und Bemerkungen: „Über die alten chriftlichen In ſchriften nad) dem Tert der Septuaginta” nicht von Böhl, fondern von Neftle if.

Deut von Weiebr. Audr. Verthes in Gotha.

Dirzao, GOOglE 8

Theologiſche Studien und Kritiken.

Fine Zeilſchrift für das gefamte Gebiet der Theologie, begrundet von D. C. Ulmenn und D, F. W. €. Unbreit und in Verbindung mit D. G. Sanr, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner moD. 3. Wagenmann Heransgegebeit er IN D. 3. Köftlin um D. E. Riehm.

SER u?

1883. Sechsundſünſziglter Bahrgang. Zweiter Band.

334

Gotha. Friedrich Andreas Perthes. 1883.

Theologiſche Studien und Kritiken.

Line Zeilſchriſt für das geſamte Gebiet der Theologie,

begrundet von D. C. Ullmann un D. F. W. €. Umbreit und in Verbindung mit D.6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner u D. 3. Wagenmanu herausgegeben

D. 3. Köftlin m D. €. Riehm.

Dahrgang 1883, driftes Heft.

Gotha. Briedrih Andreas Perthes. 1883.

Abhandlnungen.

Go0g fi

1. Zur Frage der fittlichen Weltordnung.

Bou

Dr. X. Sacmeifer, Gtabtpfarrer in Öfeingen.

Im II. Heft des Jahrgauges 1881 der „Jahrbürher f. pro⸗ teftant. Theologie" hat Poul Mehlhorn dieſes Thema der ſittlichen Weltordnung erörtert und auf das im Jahre 1877 erfchieneg Wert von Morig Caxxiere: „Die ſitiliche Meltordgung“ anfe mertſam gemadt. Dieſes Wert ſcheint in ber That nicht bie Beachtwng gefunden zu haben, welche ihrn ſchon der Name feines Autor, „des eblen und geiftvefen Kunſtphiloſophen“, wie ihn Mehlhorn mit Recht nennt, hätte geben fpllen. In der theolo⸗ giſchen Fachlitteratur ift wenig Notiz dapon genommen worden, uud, fo weit wir ſehen können, Haben die Philoſophen ihm auch feine größere Beachtung geſchenlt. Sp dürfte man es beun eis Verdlenſt Mehlhorns nennen, das Buch Carrieres bervorgezogen zu haben, che ſich der Herüchtigte Blbliothelenſtaub darauf Tagerte, um fo wehr ein Verbienft, wenn es ſich beftätigen follte, daß „bie zwolf Kapitel des Buches wie zmblf Apoſtel erfcheinen, die ſowohl bei ben verlorenen Schafen aus dem Haufe Isbrael als auf der Heiden Straße und in der Samariter Städten noch eine recht geſegnete Miſfionswirlſamleit erfülfen Könnten, die den Heißfporneu von rechts und hen Kaltblutigen von linls wie der lauen Mitte gar mavches beherzigenswerte Wort zu fagen hätten“. Wir wmüfjen

456 Bacmeifter

zwar fofort bemerken, daß wir diefe Verleihung nicht für ganz gelungen Halten, denn die Konfequenz, welche in der That ſchon ftille Vorausfegung tft, ift die, dag „die fittliche Weltordnung“ an die Stelle des Evangeliums treten kann; befanntlich Haben die Apoftel eben das Evangelium gepredigt, und wenn jene Kapitel Apoftel genannt werben, fo ift ihr Inhalt das Evangelium. Da- gegen aber möchten wir gerade Verwahrung einlegen, und wenn wir das Ergebnis unferer Unterfuhung zum vorans nennen follen, fo ift gerade das der Grund der Nichtbeachtung von Carrieres „fittlicher Weltordnung“, daß folhe das Evangelium nicht erfegen Tann. Man könnte viel eher fagen: es iſt die Stimme eines Predigers in der Wüfte, es ift Johannes der Täufer: aber wie dieſer nichts gewefen wäre, hätte er feine Jünger nicht zu dem „Größeren nach ihm“ gewieſen, fo ift aud nit die fittliche Weltordnung „das tägliche, nahrhafte Brot“, wie Mehl- Horn meint, ſondern das ift das Evangelium, genauer derjenige, welcher von fi) fagt: „Ich bin das Brot des Lebens“, Joh. 6, 48. Oder verhält fih „der Gedanke der fittlihen Weltordnung“ zu dem Evangelium wie das Hausbrot zum Zuderbrot? Faſt konnte es fo gebeutet werden, wenn ber Verf. fagt: „Es gilt zu- nächft das tägliche Brot ſich zu erwerben, von dem ber geiftige Menſch leben kann, und von allem Luxus und Zuderbrot vorläufig abzufehen. Solches nahrhafte Brot ift aber der Gedanke der fitte lichen Weltordnung.“ Gene Deutung liegt um fo näher, als fo fort die oft gehörte Behauptung wiederhoft wird, bie Religione- Tofigfeit fo vieler Zeitgenofjen komme daher, daß „man fo Lange Zeit Religion und Dogmatik verwechſelte“, weshalb mit dem Ge⸗ ſchmack an legterer aud der Geſchmack an ber erfteren verloren gehe. Wir möchten diefe Behauptung zu denen reinen, bie, ein- mal aufgeftellt, fofort nachgeſprochen werden und dann bald felbft als faft hätten wir gefagt „Dogmen‘ als Ariome gelten, bis die Münze auf die Goldwage gelegt und hier als nicht voll wichtig erfannt wird. In der That ift nichts unrichtiger als die Ableitung der Religionslofigkeit, ja Neligionsfeindfhaft aus der Dogmatif. Leider begegnen wir diefer Meinung auch bei Carriere, wenn er (a. a. O., ©. 27) fohreibt: „Die Dogmatik der pro

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 7

teftantifchen Orthodoxie mit ihren natur» und gefchichtwidrigen Sagungen Hat die Dogmatik des Unglaubens bei den Kraftftofflern hervorgerufen.” Und noch fchärfer ift der Sag (S. 378): „Es ift nicht zu verwundern, wenn bie Denkenden und fittlih Ernften der Kirche den Rucken wenden, wenn Tauſende und aber Taufende die Dogmatif mit dem Chriftentum, das finnlofe Glaubensbefennte nis mit der Religion verwechſeln und von beiden nichts mehr wiffen wollen.” Run, ein beſonders glänzendes Zeugnis für diefe „Dentenden“ wäre jene Verwechfelung gerade nicht, aber es iſt auch das Gefagte gefhichtlih gar nicht begründet. Denn die „Kraftftoffler" Büchner, Moleſchott, K. Vogt und Genoffen Enüpfen an das „Systöme de la nature‘ an, und biefes ift bekanntlich nicht im Gegenfag gegen proteftantifche Orthodoxie entftanden, denn eine ſolche gab es in Frankreich gar nicht: die Bartholomäus- naht und die Dragonaden Hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Aber wenn ein Mann wie Earriere einen folden geſchichtlichen Fehler begeht, was foll man dann von anderen erwarten? Raſch wird's ein Dogma werden, daß ber Materialismus durch die pros teftantifche Orthodogie erzeugt fei. Richtete überhaupt die Dog« matit das Unheil an, die Religionslofigkeit Hervorzurufen, fo müßten die Dogmenfreieften, wenn der Ausdruck erlaubt ift, auch bie Religiöfeften, Srömmften fein, wofür wir den Beweis nicht erbringen möchten. Umgekehrt müfjen gerade die Liberalften viels Teicht mit Bedauern zugeftehen, daß die dogmatifch „Befangenen* wirklich veligiöfes Leben zeigen. Das kann doch nicht Zufall fein. Es gift, daß wir uns endlich von einem alten Vorurteil gegen bie Dogmatit und das Dogma losmahen, welches alle Dogmen und alle dogmatifche Arbeit in einen Topf wirft und fehr wenig tole- rant alles mit einander verdammt oder verladht, das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papfted wie das Dogma von ber Rechtfer⸗ tigung allein durh den Glauben. Das Unrecht diefes Vorurteile zeigt namentlich auch die Gedichte, denn die Neligionsfeindfcaft Hat ihren Anlaß nicht am Dogma der Kirche, fondern an deren Lebensanfchauung und Ethik genommen, wie deutlich an dem enge liſchen Deismus und franzöfiichen Materialismus zu erfehen ift. Überhaupt iſt es einfeitig, wenn man die Urſache der Religiond«

468 Baemeiſter

loſigleit oder ber Feindſchaft gegen den Chriſtenglauben nur in dem Intellekt ſucht; weil dieſer das Harte lirchliche Dogma nicht er⸗ tragen könne, daher ſoll die Spannung kommen. Nein, min⸗ deſtens ebenſo oft liegt jene Urſache in dem Willen des Menſchen, und am richtigſten wird man ſagen: beide Seelenkräfte zuſammen, Verſtand und Wille, find, wie beim Glauben, fo auch beim Un— glauben beteiligt, wobei der eine oder andere in den einzeluen Men⸗ fen das Übergewicht bilden Fann. Darum denfe man nicht durch eine einfache Belehrung etwa über die fittliche Weltordnung relis giöfe Meuſchen zu machen, jo wenig man durch eine ſolche Bes lehrung über das kirchliche Dogma ſchon Chriſten bilde. An jener Unmöglichkeit ſcheiterte überhaupt ber Nationalismus; er ift eine Stufe, auf der man nicht ftehen bleiben kann, ent« weder vorwärts zum Chriſtianismus oder rüdwärts zum Dia» terialismus. Ein Stüd Nationalismus, und wohl das werwollſte an ihm, ift aber auch der Begriff der fittlichen Weltordnung, und es Lohnt fi gewiß, auch einen der neueſten Verfuche des Ratio- nalismus zu prüfen, um fo mehr als die Abſicht eine edle ift. Wen würde «8 nicht ſympathiſch berühren, weun Carriere in heißer Sorge für unfer Volt vor den fluhwürdigen Beftrebungen der voten Jnternationale warnt? Wer würde nicht zuflimmen, wenn er fagt, daß die Maßregeln von außen keineswegs ausreishen, um jene Peft ferne zu halten, es müffe vielmehr „von innen her, vom fittlichen Geiſte aus“ die Genefung und die Zurüdführung der verirrten Lebenskräfte verfucht werden? Es fommt nur alles darauf an, wie diefeß „von innen Her“ beftimmt wird, und woher „der fittlihe Geift“ feine Impulſe erhält.

Es Tann ung nicht beifalfen, dem gelehrten Verf. auf allen feinen Schritten zu folgen; das würde ein zweites Buch geben. Wir wollen nur unfere Bedenken über einige Houptpunfte aus« fprechen und e8 zu erffären verfuchen, weshalb der Gedanke einer fittlichen Weltordnung nicht recht verfangen will. Er ift mit einem Worte zu abftrakt und darum nicht für das Leben geeignet. Das ſcheint ein hartes Urteil; aber wenn wir uns ernfthaft befinnen, warum fo viele goldene Worte, die der Verfaſſer redet, in den Wind gefprochen fein werden, fo können wir feinen anderen Grund füt«

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 459

den, als daß er, im Rationalismus zu fehr befangen, feinen Staud⸗ punft in der Sittlichkeit ftatt in der Religion nimmt und an die Stelle des Tebendigen Gottes den Begriff der fittlichen Weltord⸗ nung feßt. Es bedarf wohl keiner ausdrüdlichen Verſicherung, daß wir das Wort Rationalismus nicht ald Scheltwort gebrauchen, und daß wir fein Glaubensgeriht über den Verf. der „fittlichen Weltorduung“ Halten wollen, fo dag uns fein Wort „über die gewöhnlichen verfegernden und denunzierenden Schmähungen des ultramontanen Pfaffentums“ (S. 365) träfe. Nein, der Begriff des Nationalismus ift ein gefchichtlicher und Hat in ber Geſchichte feine ehrenvolle Stellung, und ein Maun, der ſolch ernfte Geiſtes⸗ arbeit im Dienfte der Wifjenfhaft und feines Volles, ja „der fittlichen Weltordnung“ felbft vollbracht Hat, der, man darf wohl fagen, fein 2eben daran gefet hat, dem Materialismus zu wehren, verdient unfere höchſte Achtung. Solche aber zollen wir igm ges wiß thatſächlich dadurch am beften, daß wir feine Gedanken den» kend verfolgen; und wenn uns bier manches Bedenlen aufftößt, fo wird er zuerft es zu würdigen willen.

Wir fagten: es ift an die Stelle des Konkretums des leben digen Gottes das Abſtraktum der fittlichen Weltorbnung gefegt, es kommt daher die Religion gegenüber der Sittlichkeit zu kurz, und das rächt fi) am der Leßteren felbft, fie wird zur trodenrationa« liſtiſchen, es fehlt ihr die kräftige Wurzel, welde allein in dem realen Verhältnis des Menſchen zu dem lebendigen Gott zu finden ift, und weil das letztere verkürzt ift, darum kommt das Chrijtene tum oder, da dieſes Ehriftus ift, Chriſtus felbft nicht zu feiner vollen Würdigung und muß die Dogmatik die ſchon angeführten arten Urteile über fich ergehen laſſen. Wir haben nun diefe Behauptungen zu erhärten und beginnen mit dem Schlußabſchnitt des Werkes, dem Abfchnitt von „Gott“. Der Verf. geht nämlich den analytifchen Weg, das hat ja gewiß feine Vorzüge, indem es vor dem Hörer das Refultat entftehen läßt, aber. bringt auf der anderen Seite auch den Mifftand mit fid, daß auf allen den vor- bereitenden Stufen diefes Reſultat noch fehlt und weshalb der Schein entfteht, als fei dort das im letzten Rejultat zu Gewinnende noch nicht wirkſam. Unwillkurlich fteigt, wenn man am Ende an⸗

460 Bacmeifter

gefommen ift, der Wunfd auf: möchte ber Verfafer num no einmal den umgekehrten Weg, den der Synthefe, gehen, ob nicht das Ganze viel Iebensvoller würde! Bei dem jegigen Gang muß er eine faft ängftliche Zurücdhaltung beobachten, daß ja nicht der Begriff Gott gebraucht wird, ehe er Logifch gewonnen ift. Ri das Gefagte nicht 3. B. durch folgenden Sa beftätigt: „Die Natur und ihr Mechanismus vollendet ſich in der Empfindung der für fich feienden Wefen und wird zur Grundlage einer idealm Welt, indem fie den für ſich feienden Wefen, dem Geifte, beftän- dig die Bedingungen und Mittel zur Selbſtverwirklichung ge währt" (S. 384)? Natur und Menfch find Hier fo felbftändig geftellt, daß der Gottesbegriff faft Feine Stelle mehr daneben hat. Und doch ift der Verfaſſer redlich bemüht, einen Tebendigen Theismus zu gewinnen, ja er hat zum Teil ganz vortreffliche Säge Er wehrt vor allen Dingen den neueren Monismus ab, der in dem Sinne von Einerleigeit (und Gleichgültigkeit) gebraucht wird, und auf Koften der Seelen und aller fittlichen idealen Begriffe den felöftlofen Stoff, die bewußtlofe Kraft für das einzig Wirhliche erlärt. Treffend bemerkt Carriere dagegen: „Der Übergang von der räumlichen äußeren Bewegung zur Empfindung und zum Willen wie zum Gebanfen ift der Sprung, der fih auf dem Papier und mit Phraſen leicht vollzieht, den aber bis Heute kein Materialift, und aud Strauß nicht, denkbar gemacht oder durch einen Verſuch fichtbar aufgewiefen Hat. Das Gehirn ein Ge danfenfilter, ja wohl, wenn nur Gedanken etwas Gegenftändliches wären und man zeigen könnte, wie fie abgefondert werden!" (©. 382.) Statt diefes falſchen Monismus will er einen wahren aufitellen, der von ben Einfeitigfeiten des Deismus und des Pan theismus fich gleichweit entfernt Hält. . Wiederum mit Recht fagt Earriere, daß der erftere einen Mittelpunkt ohne Peripherie und der letztere eine Peripherie ohne Mittelpunkt Habe, und erkennt mit ſcharfem Blick, daß alles auf die Perſonlichkeit Gottes anlommt: „Dieſe ift der Stein des Anftoßes" (S. 391). Was er zum Schutz dieſes Begriffes namentlich gegen die bekannten Angriffe der Straußfchen Glaubenslehre vorträgt, gehört wohl zum Beften, das über diefen Gegenftand gefagt worden ift. Es wird zuge

Zur Frage der fittlichen Wellordnung. 461

geben, daß die Perfönlicfeit Gottes dann unlösbare Schwierige teiten enthält, wenn man fie deiftifch neben die Natur und Geis fterwelt ſtellt, ftatt in ihr da8 Innere der Natur und das zur fammenfafjende Ich des Univerfums zu erkennen. Doch iſt letztere Beftimmung einer Mißdeutung fähig und könnte pantheiſtiſch aus⸗ gebeutet werden. Solches iſt freilich nicht bie Abſicht des Vers faſſers, was namentlich aus Bemerkungen wie bie folgenden er» hellt: „Indem das Unendliche fi felbft erfaßt, feiner in feiner Einheit bewußt ift, wird es nicht verendlicht; im Gegenteil, ohne ſich felbft erfaffende Einheit wäre es verendlicht, aufgelöft in die Bielpeit der Dinge“ (S. 398) und: „Die Enblicfeit erzeugt nicht die Perſönlichkeit, fondern beſchränkt fie" (S. 405). Der Tegtere Sat ift von grundlegender Bedeutung und großer Tragr weite, duch ihm iſt für die Perfönlicleit Gottes der fichere Boden gewonnen; denn wenn es wahr ift, baß „wir unfer weder völlig bewußt noch mächtig find, daß uns vieles in uns dunkel bleibt, und dag wir nur nad und nah, nit mit einem Blick, die Fülle unferes inneren Lebens überſchauen und unfere Triebe beherrſchen lernen“, wenn das wahr ift und es möchte ſchwer das Gegenteil zu erweifen fein —: dann folgt mit Denknotwen⸗ digkeit, daß „das Unendliche, das nichts außer ihm Hat, fondern alles in ſich ſchafft und Hegt, es auch ganz anders durchſchauen und die Allmacht mit Allwiſſenheit erleuchten kann, und daß ſich alfo in ihm die Identität von Sein und Denfen vollendet“. Mit einem Worte: die Perfönlichkeit tommt Gott allein in vollkom⸗ mener Weife, den Menſchen nur bderiviert zu. Das ift die ein« fache alte Schriftlehre vom Ebenbild Gottes, welche denfelben Ger danken, nur im plaftifchen Bilde ausgedrückt, enthält und doch zu⸗ gleich dafür geforgt hat, daß das Bild nicht buchftäblih genommen wird, wenn fie verbietet: „Du follft die fein Bildnis noch Gleich nis machen x." Es dürfte nicht überflüffig fein, auf den philo⸗ ſophiſchen Tieffinn der Schrift immer wieder Hinzumeifen, da thats ſächlich in derſelben das bereit Tiegt, was die Spekulation immer wieber erft erarbeitet. Gegen letzteres ift an fi nichts einzu wenden, wird doch erft durch ſolche eigene Arbeit die Wahrheit unfer perfönfiches Eigentum; aber man vergeffe doch nicht, daß

482 Bacmeifter

es nur ein Nach —denken ift, dann bleibt man ebenfo vor dem Hegelfchen Irrtum, das Abfolute nur im menfchlihen Denken zum Bewußtſein kommen zu laffen, wie vor der Oberflädlichfeit des Materialismus, die Wirklichkeit eines fhöpferiihen Denkens über⸗ Haupt zu leugnen, bewahrt. Diefes Streben Garrieres, die Per- ſonlichteit Gottes philoſophiſch zu erhaften, iſt hoch anzufchlagen; er will Spinoza und Leibnig vereinigen und, wie Loge gefagt Hat, „den Begriff einer unendlichen Subftanz zu dem des einen leben⸗ digen Gottes verflären“. Im der That eignet er ſich auch, auf dem Höhepunft feiner Unterfuhungen angelangt, geradezu das neu⸗ teftamentlide „Gott ift die Liebe" an, als die vollfte, edelſte Wefensbezeichnung für den All-Einen ?). Und ſchön wird ber Be- griff der Liebe alfo entwicelt: „Liebe ift das Gefühl perſönlichet Weſen bei allem Unterſchied eines Weſens zu fein, einander zu ergänzen und dadurch die felige Lebensvollendung zu gewinnen. Liebe ift die Überwindung der Selbſtſucht im Selbſt, das im Wohle des andern und im DBeglüden jein Gluck findet.“ *) „Ohne den Unterfchied feine Einigung, in der Einigung aber ber thatſachliche Beweis, daß die Einheit das Urfprügliche. Wir ftehen unverrüdbar mit unferem Wefen in Gott, aber mit umferem Den⸗ ten umd Wolfen können wir uns von ihm fcheiden, doch er bfeibt und innerlich gegenwärtig mit feiner Bitte, und indem mir uns zu ihm zurückwenden, geſchieht fein Wille und kommt fein Reid,

1) Im Borübergehen nur fei bemerkt, daß wir den Urſprung dieſes Wortes nicht einem Sohannes zufchreiben können, der „die höchſte Blüte refigiöfen Ge fahis im Semitentum in der gottinnigen Seele von Jeſus“ mit „der reifften Feucht ariſcher Weisheit im griechiſchen Altertum im Geifte Platos und feiner Jünger“ vereinigt Habe, denn ein folder Johannes ift ebenjo wenig geſchicht ũch erwiefen, als das Weſen Jeſu mit der gelehrten Phrafe von ber „Göheren Einheit von Judaismus und Hellenismus“ erklärt ift; vielmehr ift aus diefen Schriften des Johannes ganz Mar zu erfehen, woher er jenen Gottesbegriff Hat, näwlich von dem perfönlichen Auſchauen beffen, „von dem wir genommen haben Gnade um Gnade“; wie ließe ſich auch nur fonft der Eingang des exfien Briefes, diefes wiederholte Hervorheben der perfönlichen Angen- und Ohren gengenfcaft ertlären?

3) Letztere Beſtimmung teifft aber nur auf die menſchliche Liebe zu, denn von einer Überwindung der Selbſtſucht im göttlichen Gelbft kann do feine Rebe fein.

N

Zur Frage ber fittfichen Weltordnung. 468

find wir deſſen freie Glieder und Genofien, ift die Liebe, iſt Gott als die Liebe verwirklicht.“

Diefen legteren Sag können wir alferdings nicht ohne Frage⸗ zeichen paffieren laffen, denn es fcheint uns ein Widerſpruch, daß wir mit unferem Weſen unverrüdbar in Gott ftehen, aber mit unferem Denfen und Wollen von ihm fcheiden fünnen. Was ift denn unfer Weſen? nicht eben dieſes Denken und Wollen? So Hat ja Garriere ſelbſt das Weſen ber Perfünlichkeit früher be— ftimmt, wenn er (S. 393) fagt: „Wil man den Begriff der Perſonlichteit auf das Endliche beſchränken, fo ift das willkürlich; ihr Weſen ift Bewußtſein und Wille, Selbftfein.“ Danach würde der Menfh, der mit feinem Denken und Wollen ſich von Gott ſcheidet, auch mit feinem Wefen von ihm getrennt fein und nicht mehr unverrückbar in Gott ftehen können. Das ift menigitens Tonfequent und nicht bloß eine logiſche Silbenfteherei, fondern von folgenfchwerer Bedeutung. Denn hier fest das Chriftentum ein, darauf fußt das Kirchliche Dogma von der durch Gott felbft in Jeſu Ehrifto vollzogenen Verföhnung umd Erlöſung. Gerade wenn nad) den Prämiffen Carrieres der Menſch mit feinem Den- fen und Wolfen ſich von Gott geſchleden hat, und wenn dies, wie wir daraus folgern, eine Scheidung des Weſens ift, fo wird die Heilung des Riſſes nicht fo einfach dadurch bewerkſtelligt, daß „wir ung zu ihm zuruckwenden“, es muß das alterierte Weſen ſelbſt wieder hergeftellt werden, d. h. es muß eine Neufchöpfung erfolgen, das, was die Schrift Wiedergeburt nennt, und das Dogma der Kirche erftheint von biefem Gefihtöpunfte aus doch nicht fo gar unvernünftig. Doch wir werden auf biejen Punkt noch zuritfommen. Iſt es aber ein ſtark ratlonaliſtiſcher Sauer- teig, der fich in dieſem „indem wir uns zu ihm zurücwenden“ offenbart, fo Mingt ums der Schluß, es wird dadurch „die Liebe, ja Gott als die Liebe verwirklicht“ zu pantheiftifch, ober follen wie mildernd fagen: zu myſtiſch? Aber es tft bekannt, wie Pan⸗ tHeismus und Myſtieismus den fiamefifhen Zwillingen gleichen. Es ift entfchieden zu viel gefagt, denn es gefährdet die Perſönlich- teit Gottes, es werde Gott als bie Liebe „verwirklicht“, denn ift fein Wefen am voliften und ebelften als Liebe bezeichnet, fo iſt

464 Bacmeifter

jener Sag gleichbedeutend mit dem pantheiftifchen: Gott wird in dem Menfchen, ja durch den Menſchen verwirklicht, er gewinnt fein Wefen in und. Carriere felbft Hat dieſen Irrtum Hegels und feiner Schule wohl erfannt, aber er verfällt demfelben faft unwillkurlich felber, wenn er fein Bud fchließt: „Das Eine ents faltet fid im All, und das AU findet ſich wieder im Einen, im Wollen und Wiffen wird das Wefenhafte durch bie Freiheit ver wirklicht und empfunden, das Heißt Gott ift die Liebe‘ (S. 434). Wem kommt diefes Wollen und Wiffen zu? nach den Prämifien dem Menfchen, denn defien That ift auch die Freiheit, und durch diefe That wird das Wefenhafte, d. h. offenbar Gott, verwirklicht und empfunden. Das iſt reiner Hegelianismus, nur verbrämt durch die That der Freiheit, die von Kant hergenommen ift, aljo BVermifhung von Pantheismus und Rationalismus, aber Keine Höhere Tebensvolle Einheit. Man kann jenem Sich ⸗verlieren des Einen an das AU und dem Sic-wiedergewinnen des Einen im Einzelnen, d. h. im Subjeft, nur daburch entgehen, daß man dem Einen ein inneres Leben zufchreibt. Das ift der tiefe Gedanke des wiederum als fo unvernünftig dargeftellten kirchlichen Dogmas von der Dreieinigkeit, da® der goldene Faden in dem „feft gedrehten NAnäuel von Widerfprühen in der Kircenfagung von der Dreis einigfeit" (S. 378). Iſt auch zuzugeftchen, daß mander Dog matifer bier mit mathematiſch⸗logiſchen Diftinktionen des guten zu viel that und entfchieden ierte, wenn er der Meinung war, das Weſen Gottes in eine enge Formel zu fpannen, fo muß doch der Dogmenhiftorifer einen hoheren Standpunkt einnehmen. Wer Baurs Kirchen und Dogmengefchichte zum erftenmale Tieft, wird ſich des Eindrudes nicht erwehren Können: wie kommt es doch, daß in den kirchlichen Lehrftreitigfeiten das Unvernünftige und Uns logiſche fich immer behauptet Hat? Erft fpäter vielleicht kommt ihm dann der Gedanke: es könnte nit nur das, was bie Kirche als Härefte ausgeſchieden hat, etwas zu vorteilhaft dargeftelit fein, fondern es müfje notwendig dem kirchlichen Dogma ein tieferes Bedürfnis zugrunde liegen. Und ift nicht in der That Athana- fius im Recht gegen die Mythologie des Artus, und ift nicht ber Ausbildung des Trinitätsdogmas der berechtigte Kampf gegen die

Zur Frage der fittfichen Weltorbnung. 465

‚gnoftifche Vereinerleiung Gottes und der Welt zugrunde gelegen? Daß hierbei einzelne Lehrer der Kirche zu weit gingen, indem fie die Tiefen der Gottheit erjhöpft zu Haben glaubten, foll, wie ge⸗ fagt, nicht geleugnet werben, und doch haben wir gerade von einem der fühnften Denker, von Auguftin, die bekannte ſchöne und tiefe finnige Parabel von dem, der das Meer mit einer Muſchel aus⸗ ſchöpfen wollte. Aber daran ift mit ftrenger Beharrlichkeit feft- zuhaften, daß Gott, und zwar ber perfönliche Gott, nicht in bie Welt fi auflöfen darf. Sonft wird der Spinozismus nicht dauernd überwunden, wie doch Garriere felbft will. Wir finden hier eigentümliche Widerſprüche. Auf der einen Seite ſtellt er.den Sag „des jugendlichen Hegel in der Phänomenologie des Geiftes“, es komme alles darauf an, daß die Subftanz als Subjekt gefaßt werde, ganz richtig fo dar: „Aber nur in der Entfaltung zur Ende Tichleit, nur im Menſchen ließ er Gott zum Selbftbewußtfein kommen" (S. 390), und Earriere erfennt darin eine Nachwirkung Spinozas, wenn die Subftanz nicht in fih, fonbern nur in ihren Modifilationen Verftand und Wille ift. Aber auf der anderen Seite vernehmen wir als eigene Anfhauung des Verfaſſers die Aufftellung von Strauß, die Perfönlichkeit Gottes dürfe nicht ale Einzelperfönlichkeit, fondern müfje als Allperſönlichkeit gedacht wer⸗ den, „ftatt das Abfolute zu perfonifizieren, müfjen wir es als das ins Unendliche ſich ftets Perfonifizierende begreifen lernen“ (S. 392). Und daß ja fein Zweifel übrig bleibt, wird noch hinzu gefügt: „Ich bin mit diefem Schlußfag (Straußens) volitommen einverftanden: auch Gott ift nicht Geift, Perfönfickeit, Bewußt⸗ fein an fid, weil das dem Begriff der Sache wiberfpricht (warum denn?); er iſt es durch fortwährende Willensthat, er ift der ſich ſtets Perfonifizterende" (ib). Ufo ift Hegel wiederhergeftellt, ober follen wir nicht vielmehr Carrieres Widerlegung von jenen Sügen der Hegelſchen Phänomenologte auf feine eigene Anerken⸗ nung der Straußſchen Säge anwenden? Cr Hatte ja gewiß mit Recht gegen Hegel Spinoza gefragt, woher in dem Enblichen Ver⸗ ftand und Wille wäre, wenn fie nicht aus der Subftanz ftammen; er Hatte treffend Hinzugefügt, das wäre ein Werden aus nichts und das Ubgeleitete wäre größer als das Prinzip, und I jenem, nit Theol. Etub. Yahız. 1888.

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in diefem Täge, was dem Sein allein feinen Wert und fein Leben verleiht. Damit aber ift der fich ſtets perfoniftzierende Gott, wie ihn Garriere denkt, ſelbſt widerlegt. Der Gegenfag von Einzel perfönficfeit und Allperfönlichkeit ift ein fehr ſcheinbarer, aber auch nur ein fcheinbarer. Dem Anſchein nad ſoll dadurch dem Abfoluten etwas verliehen werden, der Begriff der Perſonlichkeit, im Wirklichkeit wird diefer nur dem eingelmen Subjekt zugefchrieben, und das Abfolute gewinnt fi erft in diefem, d. 5. alfo, wie Earriere felbft vortrefflih fagt: „Das Abgeleitete ift größer als das Prinzip", es kommt ihm eine Wefensbeftimmung zu, um welde das Abfolute ärmer ift. Das ift aber ein Ungedanke. Wozu aber jene Straußſche Rehabilitation der Perfünlichkeit des Abfoluten führt, das zeigt wiederum unſer Philofoph, wenn er fagt: „Und id) gehe einen Schritt weiter. Es bedarf dazu (um ſich zu perfoniftzieren) der Welt. Ohne fi von einem anderen zu unterſcheiden und ſich in ſich zufammenzunehmen befteht oder entfteht fein Selbft." Die Welt wird geradezu der in beftändiger Umbildung begriffene Organismus Gottes genannt, es wird von einem „eigenen dunkeln Grunde des felbftlofen Seins" Gottes geredet, aus dem er allerdings „immerdar“ ſich felbft erhebt und erfaßt und das Sein im Bewußtſein erleuchtet, die ewigen Wahr heiten denkt und die vernunftnotwendigen Gefege der Wirklichkeit alten befonderen Kräften innerlich, aus der Tiefe des eigenen Wer fens, eingiebt. Das ift aber offenbar Tein Theismus mehr, fon- dern Pantheismus, wenn auch geiftvoller und nicht geiftesarmer oder gar geiftlofer. Dem gegenüber kommt es für eine lebendige Religion und Sittlichkeit darauf an, einen Gott zu Haben, ber wirklich von der Welt ſich befondert oder richtiger, der nicht bloß alles in allen, fordern auch über alle und über alle if. Ganz echt hat Carriere, wenn er ſich dagegen verwahrt, daß Gott „ein Objelt außer uns“ ift, denn dann ift er eigentlich nur unfer Ges danke, ber, wie Feuerbach fagt, feine Wefenheit von und Hat; aber ſchief iſt es, wenn Garriere Gott als „Subjeft in uns“ faßt, er | ift vielmehr Subjeft über uns, das „über“ natürlich nicht räum—

lich gefaßt, nit trans, weshalb der Ausdrud transcendent | überhaupt fein glücdliher tft. Gott ift Subjeft über uns, das |

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heißt vielmehr: er iſt das Urfubfekt, die vollkommene Perſonlichteit, während uns diefes Prädikat nur in abgeleiteter Beziehung zu⸗ Tommt. Wir find aber doch wieder relativ felbftändige Perfonen, fonft ift feine Sittlichkeit möglich. So können wir Carriere auch darin nicht beiftimmen, wenn er das Verhältnis von Gott und Welt und Menſch fo fagt: „Gott iſt Feine Perfünlichkeit neben anderen, außer der Welt, fondern als Weltfeele und Weltgeift in allem gegenwärtig; und weil wir in ihm bewußt und mollend werden, ift fein in und gegenmwärtiges Weſen Bewußtfein und Wille" (S. 395). Damit wäre unfer Bemußtfein und Wille eo ipso göttlich, und eine ethiſche Beſtimmung ift dann ausge ſchloſſen, denn jedes Bewußtſein und jeder Wille ift das im Men- ſchen gegenwärtige Wefen Gottes. Diefe Konfequenz wird aus jenen Sägen unweigerlich gezogen werden müffen, aber wie gefähr⸗ lich fie für die Ethik, für eine „fittliche Weltordnung“ iſt, Teuchtet ohne weiteres ein. Das mar doch Fichtes Irrtum, wenn auch die Ankfage auf Atheismus tief zu bedauern bleibt und infofern nicht einmal berechtigt war, als eigentlich das menfhlihe Ich von dem göttlichen verſchlungen wird ?).

ft aud jo das Streben Earrieres, die Einfeitigfeiten des Deismus und des Pantheismus zu vermeiden und mit der Perfüns Tichfeit Gottes Ernft zu machen, Höchft anerfennenswert, fo Können wir doch nicht geftehen, daß er fein Ziel erreicht Habe. Aus Schen vor einem inneren verborgenen Leben Gottes in fich felbft giebt er das Göttliche an die Welt, bzw. an den Menfchen preis, trog allen Anfägen, diefen Sehler zu vermeiden. Wir wiffen nicht, ob nicht jene Schen aus einem Widerwillen gegen das kirchliche Dogma entftanden ift; aber faft fcheint e& fo, wenn wir uns der oben angeführten Ausfprühe über das Trinitätsdogma erinnern. Der Widerwille aber gegen das Dogma ift wohl aus dem Kampf wider den Geiftesbefpotismus Roms, wider Syllabus und In⸗

1) Bei Fichte ift das Bewußtſein am ſich das Göttliche; aber freilich die Kehrfeite wird duch bie Wirklichkeit doch twieder in den Vordergrund gedrängt, das menſchliche Subjekt läßt fid nicht in Abgang befvetieren, es behauptet fein Recht, und das göttliche Ich verſchwindet, wenn e8 nicht forgfäftig von jenem gefchieden wird.

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fallibilitat entfprungen, ein Kampf, der im Dienfte der flttlichen Weltorbnung felbft geführt wird, der aber leicht dazu führt, alles, was ber Gegner fein eigen nennt, zu zerftören. In der That wir halten es wohl für möglih und bei einem hochzuſchätzenden Denker ift es fogar fittlihe Pflicht, nad einer Erklärung zu ſuchen —, daß der Widerwille gegen die ſpezifiſch chriftliche An- ſchauung fih urfprünglic gegen Auswüchfe und Mißbräuche ders felben gebildet und dann auf fie felbft übertragen Hat. Weil von- feiten derer, welche das kirchliche Dogma auf ihre Fahne fchreiben, Anfprüche erhoben werden, die allem gefunden Denken wider ſprechen, und Thaten begangen werben, die alles fittliche Urteil empdren, darum führt man mit einer wohl nahe liegenden, aber keineswegs berechtigten Verwechſelung ſolche Anſprüche und Thaten auf das Dogma ſelbſt zurück, ja ſieht dieſes als die Urſache da⸗ von an und richtet feine Waffen gegen dieſes ſelbft. Was iſrs doch für einen Gegner Roms für eine Verlodung, weil ein In⸗ ftitorie oder Sprenger die Hexen „zu Ehren des breieinigen Gottes" verbrannt haben, die Greuel der Hexenprozeſſe mit dem Trinitätsdogma in Verbindung zu bringen! wie nahe liegt es, namentlich der großen Menge es vorzudemonftrieren, folder Greuel wird man nur dann ein» für allemal Ios, wenn man das Dogma aufgiebt! So plump geht freilich ein Garriere nicht zumerk, aber es will uns dod feinen, als fei ihm etwas Ähnliches pafe fiert, als Habe er fi an ber vielleicht unbeholfenen Form des Dogma geftoßen und darob ben tiefen Wahrheitsgehalt nicht ent deckt, und ſei für feinen eigenen Gottesbegriff in einen Zuftand gefommen, den man vieleicht als ein Schweben zwifchen Himmel und Erde bezeichnen darf, dem aber der folide Untergrund und Stügpunft fehlt. Sein Gottesbegrifi ift keine Befriebigung der Bitte: dos nos od oro.

Eine Beftätigung des Gefagten finden wir, wenn wir die Ausführungen des Verfaſſers über das Verhältnis Gottes zur Welt im ganzen ins Auge faſſen. Man könnte zwar fragen, wie ſolches mit der „fittlichen Weltordnung* als folcher zu. fammenhänge; allein das metaphyſiſche Verhältnis Gottes zur Welt ift doch die Grundlage für fein fittlihes Verhältnis zu

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ihr, wenn auch vielleicht das Tegtere der Ausgangspunkt für das menschliche Denken if. Es kommen bier hauptſächlich drei Ab- ſchnitte aus Carrieres Wert in Betracht, der erfte über „die mechanische Weltorduung und die Materialiften“, der achte über „den Emporgang des Lebens in Natur und Gefchichte* und wieder der legte über „Gott“. Die Eindrücke, die wir beim Lefen bes tommen Haben, find furz die: fo dankenswert ber Kampf gegen bie Ritter der Materie”, wie fie Melchior Meyer nennt, tft, fo laßt fi Carriere doch allzu fehr von dem Mechanismus ber Weltordnung imponieren; fo anerfennenswert der Kampf gegen bie Ausschreitungen des Darwinismus ift, fo bringt es der Verf. doch nicht zu einer einhelligen Anſchauung; fo wenig er einen beiftifchen Gott will, fo ift fein Gott doc eigentlih zur Ruhe gefegt. Beginnen wir mit dem legteren. Carriere leugnet ebenfo bie zeitliche Schöpfung, wie die Schöpfung aus nichts, verteidigt alſo die Ewigfeit der Materie und bie fogen. ewige Schöpfung. Die Schöpfung aus nichts wird mit dem gemöhnlichen „aus nichts wird nichts“ abgethan und durch den Syllogiomus ad absurdum zu führen gefucht, wonad das Sein aus dem Nichts geworden, das Nichts aljo felbft das Sein wäre. Doc; ift dabei vergeffen, daß die creatio ex nihilo nur bie eine Hälfte des kirchlichen Schöpfungsbegriffes ift, die megative, wonach Gott bei ber Schöpfung nicht an einen fehon vorhandenen Stoff gebunden wäre. Allerdings ift mit diefem Sag bes kirchlichen Dogmas die Ewig⸗ keit der Materie gelengnet eben Im JIntereſſe des Schöpfungsbe- griffes, ja im Jutereſſe des lebendigen Gottes felbft. Es ift eine BVerfchiebung der Frage, wenn es das Recht ber Materialiften ger nannt wird, fo lange zu ftreiten, bi man ben Grund der Materie in Gott, in der göttlihen Natur erkennt. Das Dogma erkennt diefen Grund der Materie in Gott an, aber ftatt „in der gött- lichen Natur“ fagt es „im göttlichen Willen‘ oder „in der gott⸗ lichen Liebe‘ oder beides zufammengefaßt „in dem göttlichen Liebes- willen“. Es ift Garriere nicht gelungen, bie Perfönfichkeit Gottes in Übereinftimmung zu bringen mit biefer göttlihen Natur oder vielmehr beide in das rechte Verhältnis zu fegen. Denn wenn er fagt: „Die Natur in Gott, das iſt die Bafis der Realität, die

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das Ideale trägt, die Fülle der felbftiofen Kräfte, deren Bethä- tigung und Bewegung fortwährend die Entwidelung der Welt her- vorbringt" (S. 410), fo ift jedenfalls dabei überfehen, daß Bafis und Bethätigung und Bewegung lauter Begriffe find, die in der Zeit fich volfziehen, und daß ftreng genommen ein ewiger Vorgang keine Bafis hat, ja daß der Begriff „Vorgang“ felbk fon die Zeit in ſich ſchließt. Es ift wichtig, daß wir Hier die Grenze unferes Erkennen einfehen. Wenn die Kirche lehrt: Gott bat bie Welt, die Materie mit der Zeit geſchaffen, fo Liegt freilich die Frage nahe: und was hat er denn zuvor gethan? Luthers Wort vom Sigen im Birkenwüldchen ift eine gefunde Antwort. Im Ernft geredet aber ſcheint es uns richtiger, die Schranke unferes Wiſſens zu erkennen und zu befennen, als mit Begriffen die Lücke auszufüllen, die, genau geprüft, doch nicht Stich Halten; denn was ndie Natur in Gott“ ift, Hat noch niemand Mar zu mahen ge mußt. Wir verftehen es nicht recht, wie Carriere in Oppofition gegen das kirchliche Dogma von der Schöpfung die Natur in Gott als die Bafis des Realen zubilfe nimmt und dann doch wieder fagt, ftatt die Welt durch einen Zauberſpruch entftehen zu Laffen, lehren wir lieber: „Der Schöpfer ſchöpft aus fich felbft, die Welt ift die Entfaltung und Wechſelwirkung feiner in ihm unterfchiedenen Kräfte, umd er erſchöpft fich nicht darin, fondern ift gerade da durch feiner als der Urkraft inne, fi und fein Reich wollend und wiffend“ (©. 411). Der Schöpfer ſchöpft aus fi ſelbſt, das lehrt auch die Kirche; die Vorftellung von einem Zauberfprud wird man allweg nicht in ihrer Lehre finden, ebenjo ift es ganz richtig, dag der Schöpfer fih niet in der Schöpfung erſchöpft; aber gerade bie Interpretation, wonad bie Schöpfung nur ein Spiel ber Kräfte in Gott ift, ober wonach ſich die Welt entfaltet, wie der Schmetterling aus der. Puppe, diefe wehrt die Kirche ab und gewiß nidt, mit Unrecht. Dan muß Mar ſcheiden: entweder Schöpfung tm vollen Sinn als eine That des in legter Bes ziehung fir unfer Denken grumblofen, nad) der Offenbarung aber fiebevollen Willens, ober „Entfaltung und Wechſelwirlung ber Kräfte in Gott“; dann aber iſt von feiner Schöpfung und eigent- lich auch von keinem Schöpfer und fomit aud von feinem per

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ſönlichen Gott mehr bie Rede tertium non datur. Carriere fegt ſich an diefer Stelle mit Ulrici auseinander, und es ift in⸗ tereffant zu Hören, worin er mit biefem Philofophen übereinftimmt, und worin er fi von ihm unterfcheidet. Beide wollen Deismus und Pantheismus durch eine höhere Weltanfhauung überwinden, beibe Inüpfen bei den Ergebniffen der Naturwiſſenſchaft an und kommen vom Kaufalitätsverhältnis. der Atome unter einander zw einem unbedingten Bedingenden, welches um feiner Zwede fegenden Tpätigkeit willen als mit Selbfibewußtjein ausgeftattet und um der mit Freiheit und Berfönlichkeit ausgeftatteten Menfchen willen ſelbſt als Ich und Perfon zu denken ift. In allen diefen wich. tigen Punkten find die beiden Gelehrten eins. Die Differenz tritt nun aber nad Carrieres eigener fcharfer Beftimmung an dem Buntte hervor, wo es ſich darum Handelt, die Einwirkung Gottes auf die Welt Har zu maden. Hören wir ihm ſelbſt. „Ulriei fagt: wie Die Welt nur durch Gott entfteht, fo befteht fie nicht bloß dur ihn, ſondern auch in ihm, umfaßt, getragen, durch⸗ drungen von ihm; auch ber Prozeß der Weltbildung und Welt» entwicelung beruht auf göttlicher Thätigfeit. Aber nachdem durch die fhöpferifche Thätigfeit Gottes die einzelnen Wefen gefegt find, vollzieht fi der auf der Natur wie der Gedichte gemäß der ihm einwohnenden göttlichen Beftimmung felbftändig auf Grund der in ihm waltenden Kräfte, und nur der Erfolg jedes Wirkens der Dinge auf einander ift durch eine Mitwirkung Gottes bedingt, da jede Wirkung in die Ferne eine ſolche übertragende, vermittelnde Thatigkeit erfordert. Dies letztere Habe ich oben bereits berührt. Aber Hier tritt der Unterfhied meiner Weltanfhauung von der ulricis ſcharf hervor. Sein Gott ſchafft die Atome als ein von feinem Wefen Unterfeiedenes, ift damit außer ihnen, obwohl er fie umfpannt und in fih trägt“ (&. 412). Im Gegenfag hierzu formuliert Earriere feine eigene Anſchauung alfo: „Das AN if ein Syſtem von Kräften, Entfaltung ber Einheit, die in fich zus fommenhängenb bleibt, indem die Urkraft ſich in fi zu den ein- zelnen Kraftzentren befondert, die dadurch von einander unterſchieden und zugleich auf einander bezogen find; die vielen Realen find nicht als ſolche außer einander, um dann in Beziehung zu kommen,

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fondern fie find Urpofitionen des Einen, Unendlihen, das fein Weſen in ihnen erſchließt, deſſen Kräfte fie bleiben, wie fie für fich auch außer einander da find; in ſich einheitlich, weil Pofi⸗ tionen des einen, grenzen fie ſich gegen einander ab, find aber für einander da, und das Gange bleibt in jeder gegenwärtig, ihre Beftimmtheiten find feine GSelbftbeftimmungen, und im Spice ihrer Bewegungen haben wir nur die Metamorphofen und beſon deren Erfceinungen ber einen urfprünglichen Bewegung als der ewig venlen Bethätigung der Urkraft, des. Einen“ (S. 413). Wir ftehen aufſeiten Ulricis und nehmen Lieber den Vorwurf eines überfünftelten Mechanismus oder einer fortwährenden äußerlichen Affiftenz Gottes Hin, als daß wir die prinzipiell wichtigfte Pofi- tion eines fpezififcden Unterſchiedes zwifhen Gott und den Atomen aufgeben. Damit daß Carriere in den wirkenden Kräften der Welt „die Offenbarung göttliher Weſenheit“ erblickt, zieht ex ſich den Vorwurf des Semipantheismus zu und, wenn er fi auch dagegen wehrt, wird er ihm nicht los werden. Hier ſieht Ulrici ganz vecht: die Atome find nicht eines Weſens mit Gott, nicht Selpftbeftimmungen feiner Natur. Wohl ſucht Carriere die Per⸗ ſonlichkeit Gottes zu retten, er fagt, die Urweſenheit verliere fih nicht an die Vielheit ihrer Beſtimmungen, an die in ihr befow derten Kräfte, fondern fie bleibe das in ihnen Thätige und ge winne ſich felbft durch fie als Syſtem und Harmonie der Kräfte, als Energie der Liebe in der Entfaltung und Einigung des Unter ſchiedenen. Das ift anzuerkennen, daß er nicht beim Ev za mar ftehen bleibt, fondern das rr&v ausds fefthalten will. Aber fol ches gelingt doch nicht. Denn wenn man fragt: ift Gott auch außer diefer Vielgeit feiner Beftimmungen etwas für fih? fo muß nad dem vorhin Angegebenen mit Nein geantwortet werden, er „gewinnt fich ja erft“ durch dieſes viele, in dem er das eine iſt, er wird doch erft „Energie der Liebe“ durch diefe Atome, d. 5. durch ihre Entfaltung und Einigung. Er ift aljo ohne diefelben nicht zu denfen, ja fie gehören nicht nur zu feinem Wefen, fon- dern biefes vollendet fich erft durch biefelben. Wie ftimmt aber das zu dem früher gehörten Sag: der Schöpfer erſchöpft fid nicht in diefen Kräften? Ob nicht doch Ulrici vecht behält, wenn

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er Carriere beshalb den Vorwurf des Semipantheismus macht, wonach etwa ber Halbe Gott, ein Teil feiner Subjtanz zur Welt imerde, ein anderer niht —? Uns fheint, bie Trage fei zu bes jahen. Forſchen wir aber nach dem Grund, der Earriere bewegt, in den Atomen Gottes Wefen felbft zu fuchen, fo dürfen wir den« felben wohl kaum allein oder vorzugsweife in dem von J. G. Fichte erhobenen Einwand gegen die Schöpfung aus nichts fehen, dieſer ſcheint ihm vielmehr nur als eine Stüge, die ihm gelegentlich willtommen ift. Denn wenn Fichte fhreibt: „Wie Begriffe als Beitimmungen einer Intelligenz entweder in Materie fi verwane dein mögen in dem ungeheueren Spftem einer Schöpfung aus nichts oder die ſchon vorhandene Materie mobifizieren mögen in dem nicht viel vernünftigeren Syftem der bloßen Bearbeitnng einer felbftändigen ewigen Materie: darüber ift mod immer das erfte verftändliche Wort vorzubringen“, fo hat gewiß Earriere felbft die Widerlegung bei der Hand, daß es ſich eben bei dem Denken des Schöpfers gar nicht um bloße „Begriffe*, um Abftraktionen Handelt, fondern daß diefes Denen felbft ein fchöpferifches, ein Segen ift. Nein mit einer ſolchen logiſchen Spitfinbigfelt ift die Sache nicht abgethan. Vielmehr finden wir das Motiv von Carrieres Anſchauung in einem allzu großen Reſpekt vor dem Mechanismus der Weltkräfte.

Schon in dem Abſchnitt über „Gott“ wiefen einzelne Aus⸗ ſpruche darauf Hin, fo 3. B. wenn er die „fortwährenbe Außer liche Affiftenz Gottes“ um der Wechſelwirkung der Dinge, ber endlichen Kräfte auf einander ablehnt, indem er die Thatſache ber tont, daß doch alle Kräfte in emergifher Beziehung zu einander ftehen, daß Feine für ſich allein, fondern nur in der Gemeinfam« kelt mit anderen wirke, baf alles Gefchehen ein Zuſammenwirken fet (S. 413). Das mag ja wohl nicht geleugnet werben, es ift nur die Frage, ob dieſe Kräfte auch fo felbftänbig auf einander wirken, wie die fittlichen Wefen, ob jene Gott zu berfelben Frei⸗ heit entlaffen Hat wie dieſe. Ulrici Iengnet dies, und, zwar gewiß mit Recht; er leugnet es (Earriere fagt: „die Thatſache“), daß in der Natur von innen heraus wirkende, nicht gemachte, fondern ſich felbft entwidelnde Kräfte walten, unter Berufung darauf, daß

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nur das Unbebingte wahrhaft fponten und von innen berans In bend fei (S. 414). Letzteres muß Earriere natürlich einräumen, aber er beruft fih auf die Entwidelung des Organismus, die vor innen heraus kraft des „eigenen Bermögene“ geichehe, freilich, jegt ex faft ſchuchtern hinzu, „ale endliches Weſen allerdings in Be sichung auf andere und unter ihrer Mitwirkung“ (ib.). Aber hat nicht das gerade Ulrici im Ange, wenn er von einer fortwähren den Affiftenz Gottes redet? demm woher jene „Beziehungen auf andere" und jene „Mitwirkung anderer Kräfte?“ Des ift das punctum saliens. Die Antwort Iantet nr: entweber duch Zu | fall oder da ja bei dieſem die Kräfte amd zufällig fich zer | Rören könnten, und da überhaupt der Zufali dem Denfen jeht | wenig einleuchten will durch präftabilierte Harmonie. Diefer | letztere Begriff aber treibt notwendig weiter zu dem des lebendigen Gottes. Ulrici hat wohl recht, wenn er die Schöpfung als ein Thun fegt, „welches das Gegenteil des Machens ſei“, und Carriere darf mit Grund daraus folgern, alſo müſſe es ein Gewähren⸗ laſſen fein, wonach der Schöpfer den Lebensquellen und Lebens⸗ trieben freien Lauf Lafje und ihnen den Spielraum ihrer Thätig keit innerhalb ber ihnen gefegten Ordnung gemähre (©. 415). „Znerhalb der ihnen geſetzten Orduung“ darauf fommt alle an, ſoll nicht jener Spielraum ein Tummelplatz der wildeften Un ordaung werden. Und es fragt fi num, ob diefe Ordnung ein für allemal gejegt ift, dann Beben wir den zur Ruhe gefegten Gott des Deismus, oder ob diefe Ordnung fort und fort gejegt wird, dann haben wir einen lebendigen Gott. Wir meinen: wir können uns Gott nicht lebendig und nicht thätig genug deuten, gerade weil er ganz @eift it. Gr, und nur er und er allein, iſt das Alles in allem. Es ift aber eine an Gnofticismus ſtrei⸗ fende Behauptung, wenn Garriere fagt: „Der Schöpferwißle des Geiftes und die Natur als der Mutterſchoß aller Dinge, fie zur ſammen begründen die Welt, fie gründet damit in Gott, und er beherrſcht fie und durchwaliet fe wie die Secle ben Leib und das Selbſtbewußtſein ſeine Borftellnugen” (S. 416); und noch mehr: „Indem GEndlihes fi, im Uneublichen befondert und vervollftän⸗ bigt, ſcheidet es fih für ſich von dem Ganzen ab, verdunkelt de

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mit in fih das Licht der Einheit, das Selbftbemußtfein, und ift num blinde Kraft, felbftlos, vom ewigen Selbft (08, und aud in dem feelifchen, geiftigen Wefen bleibt diefe Naturgruudlage als die Bafis ihrer gefonderten Eriftenz* (S. 419). Diefer Dualismus wird niemand befriedigen, und wenn Carriere die Anwendung dier ſes Begriffes auf feine Anſchauung abwehren wollte, jo müßten wir uns eine genauere Definition des Begriffes „der göttlichen Natur" und ihres. Verhältnifjes zu dem „Schöpferwillen des Geiftes“ erbitten. Dieſe Begriffe. find wohl nicht weniger ſchwer als die des kirchlichen Dogmas von der Trinität, melde eine fo herbe Berurteifung erfahren Gaben. Wenn ſich Earriere auf Gior⸗ bano Bruno und auf Jakob Böhme beruft, um feine Anficht zu ftügen, fo ift es ſchwer einzufehen, weshalb, er nit einmal die Brzeihnung Semipantheismus für feine Anfchauung geftatten will, denn jene beiden find anerkannte Pantheiften. Mit etwas mehr Grund ruft er I. H. Fichte als feinen Bundesgenoffen auf, der, den „unverwüftlichen Grund" des Individualen betonend, „das gefamte Erfcheinende als den Werhfel von Löfung und Bindung urbeharrlicher, urqualitativer Kräfte" faßt, und es als „einen völligen Nichtgedanlen bezeichnet, jenjeits des Wirklihen, das uns alfgegenwärtig umgiebt und aus der eigenen, nie verfiegenden Quelle ewig fid) erneuert, mit entſchiedener Trennung und Entgegenfegung noch eine andere transcendente (jemfeitige) Wirklichkeit Gottes zu ſuchen“. Aber abgejehen davan, daß J. H. Fichte felbft jenes Judividuale fofort als in der Menfchengefchichte vorzugsmeife zur Erſcheinung kommend auffaßt, ift es Hödft bedeutfam, daß er wieder behauptet, daß Gott auch wicht fehaffen könnte, ohne dadurch in feinen Wefen ärmer ader innerlich verändert zu werden, Golde Behauptung befremdete Carriere fehr, und mit Reht, wenn man fi) on Säge von 9. H. Fichte erinnert, wie bie von jenem citierten: „Bott als das Unbedingte ift zugleich auch das eigentlich Wirkliche, und umgekehrt die wahre Wirklichkeit ift nur die Gottes“ and: „Gottes Wirklichkeit ift fein Erhalten des Monadenuniverr ſums; er hat fein objeftives Leben ihre Unendlichkeit zu fein und ihre Einheit zumal, die wirkende Urſache aller urbeharrlichen Weſen, aber darin auch ihre einende Madıt, was er nur im felbft

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anſchauenden Geifte vermag." Wohl gehört das Wort von dem Nicht-fein-Fünnenden in das Weich der leeren Möglichkeiten, mit welchen die Philofophie nichts anzufangen weiß. Aber wenn wir uns darüber befinnen, was denn wohl J. H. Fichte zu jenem Ausfprud; veranlaßt Habe, fo können wir feinen anderen Grund denken, als die Einfiht, die vielleicht mehr in der Form des Gr fühts fich geltend machte, es Tönne das Weſen Gottes doch nidt in jenem „Monadenuniverfum* erjhöpft fein. Dieſes Gefühl if dann, allerdings etwas fonderbar, fo ausgedrüct, Gott könne auch nicht ſchaffen und wäre darum doch nicht im fi ärmer. Weiſt aber diefer Gedankengang nicht wieder auf den Kern des kirchlichen Dogmas von der Dreieinigkeit zurüc, auf ein innergöttliches Leben? An dieſem müffen wir fefthalten, wenn aud bei jedem Verſuch begriffliher Formulierung euergiſch an das apoftolifde: „Unjer Wiſſen iſt Stückwerk“ erinnert werden muß. Sit unſet Wiffen das einmal, fo ift es das Bier; „Sein Saum füllete den Tempel“, ins Angefiht vermögen wir ihm nicht zu fehauen; es fei uns genug, daß wir an feinen Saum rühren mit unferem armen Denken. So künnen wir aud nicht in das freudige Lob einftimmen, welches Earriere dem Schöpfungebegriff J. H. Fichtes ſpendet, wonach Gottes Schaffen „ein Für⸗ſich-wirken-laſſen der jenigen Kräfte in Gott heißt, welche nur untergeordnet, nur Zeile feiner Einheit find, wie wenn fie für fi felbftändig wären“.

Nehmen wir die Analogie des menſchlichen Weſens zuhilfe, bi |

welchem wir aud von einem Schaffen reden. Aber verftchen wir darunter das Fur ſich⸗ wirken⸗laſſen der untergeordneten Kräfte? dann müßte das Wachſen des menschlichen Körpers eine Schöpfung® that fein. Uber im allwege ift bei dem Begriff des Schaffens

der des Bewußtſeins feitzuhalten, und wenn wir recht fehen, je |

iſt das göttliche Schaffen, im Unterfchie von dem partiellen Schaffen des menfchlichen Geiftes im Gebiet des Idealen, deshalb das vollkommene, weil es ſich in gleicher Weife wie im Idealen fo aud im Realen vollzieht, was die Schrift einfach fo ausdrädt: „So er fpricht, fo geſchieht's; fo er gebeut, fo ſtehers da.’ Dagegen enthält die Vorftellung von den blinden Kräften in Gott, zu denen fich fein Selbſt verdunfelt und aus denen ein Teil wie

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der zum Licht des Bewußtſeins ſich emporarbeiten foll, fo viel Unvollziehbares, daB wir fie unmöglich annehmen Können. Bes finnen wir uns aber, wie Carriere wohl auf folden Gedanten lam, fo finden wir als zureihenden Grund den oben angeführten allzu großen Reſpelt vor dem Mechanismus in der Natur.

Wohl läßt fich die Freude des Gelehrten, ja jedes Denfenden begreifen, welche die Entdeckung eines „Geſetzes“ in der Welt und die immer herrlicher ſich auffchliegende Harmonie dieſer Geſetze verurſacht, und es fei ferne von uns, diefe Freude über die feit Galilei, Kepler, Newton gemachten Fortfehritte der Phyſik trüben ober verachten zu wollen. Auch ben Sa unterfchreiben wir, daß „die Gejege unferes Denkens zugleich die Weltgefege find“ und umgefehrt. Damit ift das dunffe Kantfde „Ding an fih“ in das Licht des Geiſtes gerüdt. Ganz befonders aber ift dem Verfaſſer die emergifche Zuruckweiſung de Materialismus, der Gedanken loſigkeiten eines Büchner und Hellwald, der Ungeheuerlichfeiten eines Schuricht und einer Mathilde Reichardt, denen wir nicht die Ehre einer Wiederholung anthun wollen, zu danken. Aber wenn wir aud) dem ganz zuftimmen, daß ber praltifche Materialismus für die Kultur tödlich, und daß die Häckelſche Unterſcheidung eines wiſſenſchaftlichen und ethifchen Materialismus eine leere Abftraktion ift, wenn es auch gewiß richtig ift, daß erft mit der Erhebung des Menſchen über das blog Sinnliche, mit dem Bewußtfein des Geiftes, der Freiheit, des Göttlichen die Kultur beginnt, fo möge doch der Berfaffer zufehen, ob nicht auch er vom Naturmechanismus zu fehr überwältigt ift, wie die Materiafiften, genauer, ob er jenen nicht fo felbftändig ftellt, daß die Konſequenzen notwendig bie jenigen der Materialiften find. Es wird den Tegteren zugeftanden, dag alles Gefchehen in der anorganifhen Natur auf mechanifche Weife und mit ausnahmslofer weil fachgemäßer Gefeglichkeit durch Stoß, Drud und Bewegung der Atome fich vollziehe (S. 40). Aber wenn fon eine tiefere Betrachtung dieſes mechaniſchen Ges ſchehens auf die Erkenntnis der. unfinnlihen Atome als Kraft zeuntren führte, fo ift man ja damit ſchon über „Stoß, Drud and Bewegung“ als legte Urſachen Hinausgefchritten, und man ans freng genommen von einem bloßen Mechanismus nicht mehr

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reden, fondern von einer alles beftimmenben Kraft und Vernuuft. Darauf fheint und das Wort Lotzes Hinzuführen: „Uns hat der vereinigte Eindrud ber gefamten Erfahrung die Welt langſt ale ein zufammenhängendes Ganze kennen gelehrt, innerhalb deſſen jeder einzelne Inhalt, jeder Zuftand, jede Eigenfchaft, jede Natut eines Dinges andere Inhalte, Zuftände, Eigenfchaften und Naturen dergeftalt antrifft, daß aus der Zufammenfafjung beider Zeile der vollftändige Grund einer neuen Folge entftehen fan; jest, nad dem wir das willen, fcheint es uns freilich felbftverftändlich, daß jedes Einzelne, wie vereinzelt und unabhängig es auch ſcheinen mochte, doch in das Gewebe diefer allgemeinen, die Welt ums faffenden Wahrheit und Korrefpondenz alles Seins aufgenommen fei; an ſich aber eröffnet diefe Thatſache einen Abgrund der Ber- wunderung.” Ja auf bie „Zufammenfafjung beider Teile“ kommt es an; fegt dieſe nicht ein Zufammenfafjendes oder richtiger gedacht, weil das Zufammenfaffen eine Thätigkeit ift, die nur von einer Perſon im vollen Sinn ausgeübt werden Tann eimn Zufammenfaffenden voraus? Woher kommt's, daß biefer eingelne Inhalt mit jenem einzelnen zufammentrifft, woraus ſich der neu Inhalt ergiebt? Es mag ja fein, dag die Natur ein Mechanis⸗ mus, eine Maſchine ift, aber wir haben noch Keine felbftarbeitende Maſchine im vollen Einne des Worts gefehen; jede Mafıhine muß bedient fein, und ohne den vernünftigen Willen fteht fie ftill oder wirkt nicht zwedtentfprechend. Nicht erft in den Organismen des Staats ober der Kirche, im fittlichen Handeln, in der Kauſt, in der Wiffenfhaft tritt die Notwendigkeit der Annahme einer Seele (des Menſchen) zutage, fondern ſchon der Naturmechanis mus fordert eine der Analogie wegen ſei's geſagt Seele (der Welt), richtiger einen allwirtenden Geiſt. Wenn Virchew für die organifche Welt die Lehre von einer felbftändig wirkenden Lebenskraft mit Recht für einen Überwundenen Standpunkt erklärt, muß nicht auch die Bewegung in der anorganifchen Welt als cin „Ergebnis eigentümficher Umftände” gefaßt werden, wenn dieſe „Umftände* Hier auch nicht fo kompliziert wirken, wie in der organifchen Natur, für welche Virchow noch weiter ,‚ungewöhnliche Bedingungen“ verlangt, „wodurd die Offenbarung eines ſonſt

Zur Frage der ſittlichen Weltorbnung. 49

Intenten @ejeßes vermittelt ward, fo daß die gewöhnlichen mecha- niſchen Bewegungen in vitale umſchlugen“. Wenn Carriere hier treffend fagt, ſolche Bedingungen ſetzen doch ſchon eine Urſache voraus, jo gilt dies auch für die gewöhnliche Bedingung in ber anorganiſchen Natur. So allein kommt eine einheitliche Welt» anfhanung zuftande; darum aber Tann auch der Naturmechanismus nicht aus der beftändigen göttlichen Machtwirkung entlafjen werden. Carriere verteidigt gegen Strauß die Entftehung des organifchen Lebens aus nichtmechanifchen Urſachen und fagt: „Wil man dag Raufalitätsgefeg nicht verleugnen, will man den ftrengzufammen» hängenden Bewegungsmechanismus, den bie Naturwiſſenſchaft feit Galilei und Newton zu ihrer Grundlage hat, nicht außeracht Laffen, fo muß man eine Urfache anerkennen, melde die neuen und eigen« tümfihen Bewegungsverhäftnifje ans dem gewöhnlichen Gang der Natur Heraustreten läßt, ihr Richtung, Maß und Ziel fegt und ihr Bildungsgeſetz giebt.“ (S. 52.) Uns fheint Loge richtiger zu fehen, wenn er fagt: „Nicht durd eine höhere eigentümliche Kraft, die ſich fremd dem Übrigen Gejchehen überordnete, nicht durch uns bergleichlich ſandere Geſetze -unterjCheidet ſich das Lebendige von dem Unlebendigen, fondern nur durch die befondere Form der Zu⸗ ſammenorduung.“ Das Kaufalitätsgefeg mag wohl zu Recht be⸗ flehen, aber es wirft auch in der anorganiſchen Welt nicht durch» aus felbftändig, fondern es wird durchweg gehandhabt; fo allein tann man die wunderbar verfchiedenen Formen in diefem Teil des Seins erflären. Und das wird vollends auf einem Standpunft gelten, der jo entichieden den Zweckbegriff fefthält, wie Garriere, aud ihn fo glücklich gegen „Se. Majeftät den Zufall“ verteidigt. Tritt auch die Wirklichkeit des Zweds im Organiſchen, man möchte faſt fagen: Handgreiflih vor Augen, fo findet fie ber venkende Forſcher aud im Unorganifchen. Zweck, Zwedjegen, Zwederreichen aber ift nie und nimmer Sache des Mechanismus, ieſer iſt Höchftene ein untergeordnetes wenn auch weſentliches Mittel dazu. Wohl ift der Zweckbegriff zunächft ein menfchlicher Jegeiff, „wir kommen zu ihm durch unfere eigene geiftige Thätige it“ und zwar in der Weife: „unfer Wille ergreift eine Vor⸗ lung, um fie zu verwirklichen, er faßt einen Entſchluß, um ihn

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auszuführen; damit fegt er feinem Wirken ein Ziel, und alle, was er anwendet ober bedarf, um dasſelbe zu erreichen, um feine Gedanken zu verwirklichen, Heißt Mittel und ift die verbindende Mitte zwiſchen dem innerlihen Entſchluß und der Außenwelt; am Ende erfcheint verwirfficht, was am Anfang vorgebildet und bir ftimmt war, und das erreichte Ziel ift zugleich der Grund der Bewegung nad) ihm hin, es ward erftrebt und das letzte ift zu gleich das erfte, der Gedanke ift die Urſache der Handlung, die ihn ausführt“ (S. 55). Das ift vollftändig richtig, aber wenn & wahr ift, daß unjere Denkgejege zugleich die Weltgefege find oder, möchten wir lieber fagen, daß die Weltgefege fich in unferem Denken wieberfpiegeln, dann ift der Zmwedbegriff nit nur cin fubjeftiver, fondern ein objeftiver. Dann aber trifft aud die oben gegebene Beſchreibung der Art und Weife, wie der Zwedbegriff zuſtande kommt, vollftändig zu: ein Wille fegt feinem Wirken ein Ziel, wendet feine Mittel an und verwirklicht das im Anfang Bor gebildete. Solches aber können wir nicht auf einen Naturmedhanie mus zurüdführen, auch nicht auf einen deiftifch ober pantheiftifd gedachten Gott, fondern dieſer Welt» Zwedkbegriff fordert den Tebendigften, aktivften Theismus (vgl, Joh. 5, 17: 6 rarrjg noo Eus &orı doyaleraı). Es ift ein fehr willtommenes Beifpid, das Carriere aus Hädels natürlicher Schöpfungsgefchichte nebſt einer Bemerkung €. v. Hartmanns anzieht; nur werden wir ans diefem Beifpiel noch mehr lernen. Hädel in feinem Fanatismns gegen den Zwedbegriff nimmt die Lokomotive zuhilfe, um zu be weifen, daß nur ein Wilder die Leiftungen dieſes Mechanismus als unmittelbare Wirkungen eines mächtigen Geiſtes anftaunen tönne, während alles doch Mechanismus fe. Der Wilde denkt doch richtiger als der Jenenſer Profeffor. Carriere bemerkt einjah und treffend: „Hat denn der Wilde nicht recht? Steckt dem nicht Geift, ſehr viel Geift in der Lokomotive? Der Geift von Archimedes und Watt und Stephenfon und vieler anderer Denter! Und Hört diefer Geift, Hört der die Machine konſtruierende Ger danke damit auf zu beftehen, wenn wir die Räder, Schrauben, Triebfräfte auseinanderlegen und erkennen, durch bie er wirft?“ (&. 58.) Dazu bat fhon E. v. Hartmann bemerkt: „Hädes

Zur Frage der fittlichen Weltorbnung. sl

Beiſpiel beweiſt ftrifte das Gegenteil: es beweiſt nämlich, dag nur das ein Mechauismus zu heißen verdient, dem die Teleologie in demſelben Sime immanent iſt, wie bie Rofomotise, deren Daſein der Wilde mit Recht als Beweis einer der feinigen überlegenen Jutelligenz einfieht, und deren ftaunenswerte Zweckmäßigkeit ſich dadurch um nichts vermindert, wenn man ben vollen Einblid in den Mechanismus erlangt hat. So bleiben auch wir im Rechte, werm wir in dem weit ftaunenswilrdigeren großen Mechanismus der Natur die Dolumentierung einer der uufrigen weit überlegenen Intelligenz bewundern, und unfere Bewunderung wird dadurch nicht vermindert, fondern erhöht, wenn es uns gelingt, mit unferem Berftändnis allmäplih mehr und mehr in den Zuſammenhang diefes Mechanismus einzubringen.“ Das ift ganz richtig, bedarf aber der Ergänzung, daß das beſſere Verſtundnis des Mechanise mus zugleich eine reichere Erichliegung der Gedanken der Kon. ftruftoren der Maſchine ift, alfo, wie wir oben fagten, nicht beim Mechanismus ftehen bfeibt. Wir können auch das Wort Harte manns von der immanenten Teleologie vollftändig acceptieren, denn in berfelben Weife, wie der Lokomotive die Teleologie immanent ift, iſt fie es im großen Stile der Welt. Aber kanu man im ftrengen Sinn von einer immanenten Xeleofogie der Lokomotive reden? iſt es micht im beften Ball eine paffive Teleologie? und mo ift die aktive Zeleologie zu finden? natürlich in ihrem Er— bauer, diefer aber ift der Lokomotive nicht immanent, fonbern trangceendent, geht darum auch mit feinem Weſen nicht in der Lokomotive auf, ja man fönnte nicht fagen, er wäre gar nicht, wenn er die Lolomotive nicht gebaut hätte, er wäre nur nicht der, als dem er ſich durd diefe Schöpfung dokumentiert hat. Die Anwendung auf den Schöpfer des teleologifchen Naturmehanismus ergiebt fi von felbft. Es ift uns das eine willlommene Be- Ftätigung unferer Auffaffung von der Notwendigkeit eines lebendigen Scöpfungsbegriffs gerade au fr das Gebiet, das die Natur- viſſenſchaft für fich ganz mit ihren Gefegen in Anſpruch nimmt, »bgfeich die beſonnene Wiſſenſchaft Tängft ihr das Memento zu» erufen hat: wir meinen den viel citierten Vortrag „Über bie Srenzen des Raturerfennens“ von Emil Du Bois-Reymond vom Ayeol. Gtub. Yahrg. 1888. 32

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14. Auguft 1872, der ein Markſtein in der Geſchichte genannt zu werden verdient. Diefer geiftvolle Denker faßt die Möglichkeit einer folhen Höhe des Naturerkennens ins Auge, daß „ber game Weltvorgang durch eine mathematifche Formel vorgeſtellt würde, durch ein unermeßliches Syſtem ſimultaner Differentialgleichungen; aus dem ſich Ort, Bewegungsrichtung und Geſchwindigkeit jedes Atomes im Weltall zu jeder Zeit ergübe“ (S. 3). „Ein Geil“, fagt Laplace, „der für einen gegebenen Augenblic alle Kräfte fennte, welche in der Natur wirkſam find, und bie gegenfeitige Lage ber Wefen, aus denen fie befteht, wenn fonft es umfaſſend genug wäre, um diefe Angaben ber Analyfis zu unterwerfen, würde in derfelben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und db feichteften Atoms begreifen: nichts wäre ungemiß für ihn, und Zu funft wie Vergangenheit wäre feinem Blicke gegenwärtig. Der menſchliche Verftand bietet in der Vollendung, die er der Aftronomie zu geben gewußt Hat, ein ſchwaches Abbild ſolches Geiftes dar.“ Und diefen kühnen Gedanken ausmalend, fährt Du Bois-Reymond fort: „In der That, wie der Aftronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewiffen negativen Wert zu erteilen braudt, um zu ermitteln, ob, als Perilles nad Epidaurus ſich einfchiffte, die Sonne für den Pirdeus verfinftert ward, fo könnte der vom Laplace gedachte Geift durch geeignete Disfuffion feiner Weltformel ung fagen, wer bie eiferne Maske war oder wie der „Präftden“ zugrunde ging. Wie der Aftronom den Tag vorberfagt, an dm nad Jahren ein Komet aus den Tiefen bes Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaudt, fo laſe jener Geift im feinm Gleichungen den Tag, da das griechifche Kreuz von der Sophie moſchee bfigen, oder da England feine legte Steinkohle verbremen wird. Setzte er in der Weltformel t = 00, fo enthüllte fh ihm der rätfelhafte Urzuftand der Dinge. Er fühe im unendlicen Raume die Materie bereits entweder bewegt oder ungleich verteilt; da bei gleicher Verteilung das labile Gleichgewicht nie gefürt worden wäre. Ließe er t im pofitiven Sinn unbegrenzt wodfen, fo erführe er, ob Carnots Sag erft nad; unendlicher ober jhm nach endlicher Zeit das Weltall mit eifigem Stillftande bedroft. Solchem Gelfte wären die Haare auf unferem Haupte gezählt,

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 488

und ohne fein Wiffen ftele kein Sperling zur Erde. Ein vor und rüdwärts gewandter Prophet, wäre ihm, wie ſchon d'Alem⸗ bert in der Einleitung zur GEnchflopädie, Laplaces Gedanken im Reime Hegend, es ausdrüdte, „das Weltganze nur eine einzige Thatſache und eine große Wahrheit". Auf diefem faft ſchwindeln⸗ den Höhepunkt erinnert Du Bois⸗Reymond, daß der menschliche Geift von diefer volltommenen Naturkenntnis ftets weit entfernt bleiben wird ignoramus et ignorabimus. ber, fügen wir hinzu, felbft den Fall gefegt, daß wir dieſe Weltformel finden fönnten, fo wäre fie fängft da, und wir müßten doch wieder jagen: es ift noch etwas Größeres als diefe Formel, nämlich der, welcher fie gedacht und zugleich gefegt hat. Man fanıı mit Earriere ganz wohl fagen, das Geſetz fei undenkbar ohne ein Etwas, für welches «8 Geſetz ift; aber die Kehrſeite lautet: es ift aud undenkbar ohne Segenden, und nad Analogie der vollfommenften Organismen in der fittlihen Welt ift der Triumph des Geſetzes nicht der ftarre Mechanismus, Sondern der im Geſetz ſich bethätigende freie Wille, und als folhen denken wir uns angefichts des unendlichen Wechfels in der Natur auch den Schöpferwillen oder das Schöpfungsgefe Gottes. Aber ift nicht diefe ganze Anſchauung durch den Darwinismus erfhüttert, ja umgeſtoßen? Carriere fegt fi mit dieſer Hypo⸗ theſe denn mehr ift bis jegt diefe Lehre nit in dem ntereffanten 8. Abjchnitt: „Über den Emporgang des Lebens in Ratır und Geſchichte“ auseinander, wo zugleich der Übergang zu ver Frage im engeren Sinn nad) der fittlichen Weltorbnung Liegt, ob» lei Garriere eigentümficherweife die Erdrterungen über die Freiheit md das Gefeg, über das Gute und das Böſe vorangehen läßt. Schon bei Entwickelung des Zweckbegriffs war er auf die Iehauptung von Strauß geftogen, daß demfelben durch Darwin er Todesſtoß verſetzt fei, ſeitdem dieſer gezeigt, wie die Organismen ıf rein mechaniſchem Wege entftehen. Er Hatte dort (S. 57) ach im Anſchluß an €. dv. Hartmann diefe Meinung Straußens gültig widerlegt, daß dann jedenfalls kraft mechaniſchen Ger bes die Vorftellung des Zweds im menſchlichen Denken erzeugt erde, das zweckmäßige Handeln des Menſchen alfo im Anor« niſchen ſchon, wenn aud noch implicite, enthalten fei. Dagegen

82°

B⸗ Bacmeifter

wird nicht aufzukommen fein. Über es ift nun die große rag, 06 das Organifche wirklich auf bloß mechaniſchem Wege aus dm Anorganiſchen hervorgeht.

Der Streit um Darwins Hypothefe begann von da am heftig und leidenfchaftlih zu werben, wo die Abſicht zutage trat, den Meufchen zu degradieren und damit die ganze ideale Weltanfchaumg zu zerftören. Das Pathos ift Hier in feinem echt, wenn & auch den Blid für wahre Wiſſenſchaft leicht trübt. Nun iſt s ein fehöner, glucklicher Gedanke Earrieres, gleich im Anfang jmb Vathos zu beruhigen durch die Verficherung, es gebe auch eine Auffaffung ded Darwiniemus, monac der Idealismus nicht mır erhalten fondern ſogat ausgedehnt werde. Statt alfo mit mol: tüftigem Behagen den Menfchen in den Schlamm herunterzuzichen and mit teufliſchem Grinfen die gefalfene Größe zu betrachten, will Garriere Tieber das Niedere zum Höheren emporziehen; tr will ein Band zwiſchen Phyſik und Ethik knüpfen, ſtatt letztere an die erſtere preiszugeben. Dieſer Gedanke Carrieres iſt vor-

trefflich und verdient alle Anerkennung. Mit Bug fragt er: „I |

nicht das Volllommene ein ethifcher Begriff, und können wir von volltommenen Gebilden anders reden, ala weil wir fie am Sie

der Bernunft meffen, und Tann ohne die Wirklichkeit desfeln | ein Anffteigen vom Niedern zum Höhern geſchehen?“ (©. 268) |

Es ift eine Hohe Aufgabe, Natur und Geſchichte zu verfetten; ob

aber diefelde, wie num Cartiere raſch folgert, durch den Gedanken |

der aufſteigenden Rebensentwicelung vollzogen wird, tft eine andere ,

Frage. Zuvor aber dürfte es nicht überflüffig fein, darauf Hin weifen, daß jene dee einer Verkettung von Natur und Geſchichte ſchon bei einem Jeſaias, Paulus und Johannes Mar ausgeſprochen ift, daß fomit der Zanber, welcher von diefer Idee aus anf den Darwinismus fällt, gänzlich verſchwindet. Wir denken Hierbei m

die fchöne Stelle Jeſ. 11 von dem Frieden in der Natır zur |

‚Zeit des Heils, welche Strauß in der Einleitung zu feiner Glanbent- Ihre mit fo rohem Spotte übergoffen hat, an das tiefe Wort Paul NRom. 8 von dem Seufzen der Kreatur und ihrem Schnen nad dr herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, an die großartige Rede Mt Apokalyptiters Kap. 21 vom neuen Himmel und von der nenen Erde.

Zur Frage der fitlichen Weltorbnung. 485

Den Weg zu diefer „auffteigenden Lebengentwidelung“ aber glaubt ſich Earriere durch eine Polemik gegen die Schriftlehre von der Erfhaffung der Organismen fpeziell des Menſchen bahnen zu wöfen. Die Schöpfung eines fertigen Organismus nennt er einfoh „natur» und vernunftwidrig" (S. 266) und dekretiert: „Der Menſch konnte nicht als fertiger Organismus wit einem Schlag da fein, weil dies dem Begriff des Organismus. wider ſpricht· Wir geftehen, diejen Widerſpruch nicht zu begreifen, denn im Begriff des Organismus liegt nur, daß er dem in ihm liegenden Geſetzen entfprecend Lebe; aber damit ift nicht ausgeſagt, woher diefe Gefege fommen, und woher er fein Leben habe. Es ift hochſt ſonderbar, wenn Carriere das nicht für natur» und ver⸗ wuoftwidrig Hält, daß ein neuer Organismus „in dem Leib eines hochſteheuden Tieres“ aus einem nur fich felöft homogenen, dieſem Tiere aber allogenen Keim ſich entwickele. Woher kommt dann plotzlich in diefes hochſtehende Tier der fpezififch verſchiedene Keim, aus weichen dann ber Menſch entfteht? Carriere fragt: „ft es glaubliher, daß der Schöpfer für die Menſchenzelle den rohen Thon nimmt, oder die bereits durch Pflanzen und Tiere vorbes teitete organifche Materie?“ (S. 265.) Die Antwort kann nur lauten: eines ift fo glaublich als das andere, und es ift cbeufe vernunfte als naturgemäß oder ebenfo vermunfte und naturwidrig, b eine Menfchenzelle oder ein fertiger Menſchenorganismus ger Hoffen werde. Es kommt für und nur auf die Anerkennung au, wirklich etwas fpezififch Neues geſchaffen wurde. Aber. es iſt benfo ein Dogma, wie das der Kirche, wenn die Naturmwiffen- Haft erflärt: „nicht der Affe macht den Menfchen, fondern Affe nd Affin find die Organe, deren Gott oder die Natur ſich ber ient, num der Menfchenfeele die Stätte zu bereiten und die Mittel no Yedingungen ihrer Organifation zu gewähren‘ (&. 266). fa, wenn man die Sade genau nimmt, fo müßte hier eine jener rüctigten Durchbrechungen der Naturgefege, aljo ein Winden - hkorribile dietul fonftatiert werden, wenn aus dem samen 8 Affen umd dem ovum ber Affin nicht wieder ein Äffchen. ndern plöglich eiwas ganz Neues, ein Menſch entftehen folk. ver das iſt die in der Gegenwart oft beliebte Art, durch einen

4 Bacmeifter

Seitenhieb auf das kirchliche Dogma ſich für allerlei natur» und vernunftwidrige Behauptungen Luft und Recht zu verfchaffe. „Mag der Geift von Gott ftammen, der Leib ift ein Sohn der Erde; das kann auch der gläubige Theolog nicht Teugnen“ © iſt ihm mie eingefallen, da zu leugnen, denn ſchon auf dem zweiten Blatt feiner Bibel ſteht: „bon Erde bift du genommen und zur Erde folift du werden“. Aber dagegen wird der Theolog, mem er biefen Namen mit Recht trägt, auch füglich proteftieren dürfen, daß die Lehren feiner Kirche mit einem anderen Maßſtab gemefen werben als die Lehren der Philoſophie und Naturwiſſenſchaft, daß mit einer Verketzerung jener diefe fi einen Freibrief für allerlei Aufftellungen erfanfen, welche ebenfo wenig eine mathematiſche Deduftion geftatten wie jene. Über Vermutungen wird die Natur wiſſenſchaft nicht Hinausfommen, nur wird fie folch’ ſchillernde Aus⸗ drücke vermeiden müffen, wie 3. B. „der Organismus verlangt die Selbftgeftaltung aus dem homogenen Keim“ oder „Bott oder die Natur bedient fich der und der Organe“, denn ein „Selbit” fegt Bewußtſein voraus und ebenfo ein „Sich-bedienen“; man wird aber weder dem Keim noch der Natur Selbſtbewußtſein zw ſchreiben Tönnen. Wir fehen in folhen unwillkürlichen Redeweiſen unfreiwillige Geftändniffe der Unentbehrlickeit eines perſonlichn Scöpfers; denn daß auf diefen jene Ausdrüde allein im eraftm Sinn und vollen Umfang pafjen, bedarf faum eines befonderen Wortes. Das gilt auch von der Vorftellung Partys umd Karl Snells, wonad der Menſch ſich aus einer eigenen Zellenart ſtufenweiſe neben der Pflanzen und Tierwelt emporarbeite, ein Gedanke, den Carriere nicht verftehen zu können erklärt. Ba einem Sidjremporarbeiten kann doch im Ernſt nicht geredet werden, wenn fein Bewußtfein davon vorhanden ift. Aber an fich ift der Gedanke konfequenter als der Carrieres, wonach eines fchänn Tages der befruchtete Keim in der Affin ein Menfchentein ge worden ift. Jenen Forſchern ift der Keim das, was er if, di Potenz des Organismus und darum weſensgleich mit diefen. Darum ift der Wit ganz übel angebraht: „Dann wären ja in dm Verfteinerungen unfere Ahnen zu ſuchen, ober ſchämt fih dr Bettelftolz feiner Naturverwandtfaft?" Dann fage ich mit Kat

Zur Frage der fittlichen Weltorduung. 47

Bogt: „Lieber ein emporgelommener Affe als ein gefallener Engel!“ Damit ift die Frage wahrlich nicht erledigt. Die Na⸗ turwiffenfchaft fpottet fo gerne der Theologie, als fei diefe feine Erfahrungswiſſenſchaft; Tann fie vieleicht felbft in diefem wichtigen Stuck fi als ſolche dokumentieren? Tann fie einen mathematifch exalten Beweis antreten? Wir warten immer noch darauf und tönnen wahrſcheinlich noch lange warten.

Auf die ganze Streitfrage des Darwinismus fünnen wir hier nicht eingehen. Nur einzelne Bemerkungen zu wichtigen Punften feien erlaubt. Carriere pflichtet Nägelt und Häckel bei, daß das Prinzip der Vervolllommnung ein organifches Grundgeſetz ſei, nur daß er foldes Gejeg nie dem Zufall in die Hand geben ann. Aber wenn er die nahe liegende Frage, warum es benn überhaupt noch niebere Formen giebt und warum fie nicht alle in die höheren emporftreben, fo beantwortet: „Halten wir feſt, daß durch ein Prinzip der Vervolltommnung, durch ein Entwickelungs⸗ geſetz das Höhere aus dem Nieberen emporfteigt, dann kann dieſes neben jenem fortbeftehen, dann geſchieht es durch einzelne Wefen, daß die vollfommenere Form hervorgebracht, die höhere Sphäre erreicht wird, während die anderen bleiben, was fie find, ja wie die Pflanzen für die Tiere, wie die einzelnen Tierklaffen für an⸗ dere als deren Nahrung zum Leben berfelben fortbeftehen müfjen“ (S. 271), jo ift wahrlid Hier eitel Willkür und entfernt kein „Geſetz' mehr. Iſt das Entwicdelungsgefeg, daß das Höhere aus dem Niederen emporfteigt, dann muß diefes Geſetz allen niederen Formen einwohnen, oder fie find unter ſich ſchon fpezififch ver- ſchieden, wenn die einen emporftreben, die anderen in ihrer Niedrigkeit beharren. Trifft aber jenes zu, fo ift die notwendige Folge, daß alle niederen Formen mit der Zeit verfchwinden, ja der Sieg ber höheren Form müßte diefes Verſchwinden ungemein bes ſchleunigen; es ging Hier wie mit ben Rothäuten Amerikas: jeder Morgen Landes, den die Blaßgefichter weiter befegten, Koftete einer immer größeren Anzahl von Indianern das Leben, und jet find Hre Tage gezählt. Man muß mit der Anwendung des „Gefeges“ »orfichtig fein, denn es ift ein zweiſchneidig Schwert. Ferner adelt Earriere an Huber und Ulrici, dag fe den Darwinismus

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befämpfen, ftatt fi als Freunde deöfelben zu befennen. Aber das, was er felbft vom Darmwinismns noch gelten laßt, ift ſchließ⸗ lich fo wenig, daß man nicht mehr von einem —ismus reden kann. Drüdt doch Carriere den „Kampf ums Dafein“ und bie „Vererbung“, diefe zwei ſtärkſten Springfebern des Darwinismut, ausdrücklich zu „techniſchen Behelfen für die Selbſtverwirklichung des fortſchreitenden Lebens“ herab und ſetzt an die Stelle des ſchließlich von Darwin ſelbſt zugeftandenen „inneren Entwickelungs⸗ geſetzes“ gewiß den lichtvolleren Begriff „einer das Beſondere durchwaltenden einheitlichen zwedjegenden Macht“ (S. 274f). Man frage Häckel, ob er das noch Darwinismus nenne. So tann jeder „gläubige Theolog“ Darwinianer ſein. Warum aber die Theologie, da wo fie ſich ſelbſt verftand, von Anfang an gegen den Darwinismus Front machte, das war gerade die Eliminierung jener „da® Befondere durchwaltenden einheitlichen Zweck ſetzenden Macht“ durch die mechaniſchen Begriffe Kampf ums Dafein und Vererbung. Es war freilich fehr befehämend für die neue oder doc neu aufgelegte Weltanfhauung, daß fie, bie anfangs mit einem fühnen Handftreih die Eitadelle des Theismus erftürmt ya Haben ſchien, Schritt für Schritt wieder zurüdgedrängt wurde, daß Darwin felbit, „der fi anfangs von dem Gedanken leiten eg, die organiſchen Typen als Prägftüce zu erflären, die ihr Gepräge ausiclieglih von der Matrige der äußeren Umgebung erhalten, mit dem Belenntnis endete, daß diefelben nur als Re⸗ fultate eines inneren Entwidelungsprogefies erflärlih feien“. Man darf wohl fagen, der Darwinismus feinem Begriff nach ift heute ſchon überwunden, und es gereicht den Forſchern nur zur Ehre, wenn fie einen tühnen Gedanken, der die nachfolgende Prüfung nicht aushält, aufgeben, wie das Darwins Freunde Lyell und Hurley thun, jener durch Betonung der durchgängigen, volltom- menen Harmonie des Planes und Zwedes in der Natur, befer durch einen Verſuch der Verſöhnung der teleologifchen und der mechaniſchen Naturerflärung, wobei der Teleologie die Ehre des Brius gewahrt bleibt.

Weiter ſchutzt Carriere ben Meifter, Darwin, vor dem Ber wurf, welchen man den nach ihm benannten Syſtem gemacht hat,

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den Zufall und den Mechanismus der Atombewegung zum Vater altes Rebendigen zu machen. Mit Recht, obwohl feine genuinen Schüler beharrlich die philoſophiſche Vorſicht Darwins verſchwiegen haben, welche in feinem öfter angeführten Worte enthalten iſt; „Es ift wahrlich eine großartige Anficht, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgiebt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht habe, und daß, während unfer Planet den ftrengen Gejegen der Schwerkraft folgend, fih im Kreife ſchwingt, ans fo einfachem Anfang ſich eine Reihe immer ſchönerer und voflfommenerer Weſen entwidelt hat und noch fortentwidelt.“ Über es iſt uns ſchwer verftändlih, wenn Garriere den Mangel des Darwinismus in der „Vernadläffigung der Immanenz“, „der Entwicelung, der Seldftbildung“ findet, jtatt in dem Brachliegen Ines Winkes von Darwin felbft. Wohl ift der Vorwurf berech⸗ tigt, daß Darwin zu viel Einfluß den äußeren Umftänden, 3. B. Bind und Wetter, Froft und Hige u. ſ. w. zuſchreibt. Aber wie er dafür gelobt werden Tann, daß er gegen „den äußeren Eingriff eines geijtigen Prinzipes, eines fchöpferifchen Gottes in das Ges triebe des Stoffes“ ift, das ift ein Nätfel. Man muß den Por danz „des äußeren Eingriffes“ zubilfe nehmen, um deu Schöpfer felbit zu befeitigen. So fagt auch befremdlicherweiſe Karl Ernſt d. Baer: „Die Elimination des äußeren Schöpfers ift es ja, was dem Darwinismus den Reiz verliehen hat.“ Nun ja, den äußeren Schöpfer fennt aud die Schrift nicht, aber einen von der Materie ſtrenge unterfdiedenen Schöpfer. Es ift fonderbar: man weiß feine höhere Voritellung als die des Naturmehanismus; aber entſteht denn nicht auch jeder Mechanismus durch einen Geift, der außer" demjelben ift? Wohl verwirklicht diefer Geift feine Ges banten in der Mafchine, aber darum iſt er doch nicht die Mar Idine, und die Maſchine ift nicht er, er ift wenn man will, ja „außer“ derfelben, d. h. er verliert fein Weſen, ſich ſelbſt uicht an die Maſchine. Man kann ganz wohl mit Baer ſagen: ‚Man ſuche das Schaffende in jedem Organismus, fo läßt es ſich nicht heraustreiben? darum bleibt doch die Frage: woher das Ei? Carriere muß auch hier den oben ſchon angefochtenen Begriff „der göttlichen Natur“ anwenden, um die Organifationg»

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prinzipien als „göttliche Kräfte zu erkennen, die aus dem innerſten Quell des Ewigen felbft in die Erſcheinung treten" (S. 282). Wir fragen nur: mit phyſiſcher Notwendigkeit oder mit feinem Willen? Wird jenes bejaht, fo Haben mir die eimapmern über dem Zeus; wird letzteres zugeftanden, dann haben wir den Gott des Theismus. Und wahrlich diefer Gedanke erſcheint uns vid erträglicher al® der im Naturmechanismus höchft befremdliche eins „Sprunges“ (S. 285). Carriere jagt nämlih: „Wo immer die Zahl der Organe verändert ober ein friſches Gebild emtwidelt werben foll, da tft dies ein Sprung und bleibt ein Sprung, mochte derfelbe noch fo gut vorbereitet und ihm das Ziel noch jo nahe gerüdt fein. Und diefer Sprung fann nur durch Metamor- phofe des befruchteten Keimes gefchehen, fo daß bie Eltern ein Kind erhalten, das von ihnen felbft der Art nach verfchieden ift.“ Mit diefem Sag ift der Darwinismus dem Prinzip nad zerftört, und es bleibt die große Frage: woher denn diefe Metamorphofe? Wir Tönnen ja wohl die Thatſache den Naturforſchern zugeben, vorausgefegt, daß fie als folche feftgeftelit wird, während die Keim- metamorphofe bis jegt nur Problem ift, aber jene Frage bieiht doch. Die urſprüngliche Frage nad) dem Entſtehen bes Organifchen, ja des Seienden der finnlihen Welt ift nur hinausgeſchoben, nicht gelöft. Da plötzlich findet fi der Ausſpruch: „Nehmen wir ein mal zur Erklärung des Weltprozefjes einen göttlichen Willen der Weisheit an, warum diefen nur in der grauen Urzeit walten und alles wie eine Maſchine fertig machen lafjen, ftatt daß er das Werden und Wachen der Natur begleitet und zur rechten Zeit das Neue, Höhere ſchöpferiſch Hervortreten läßt?“ (S. 290.) Mit diefem Sage käme man dur; ſchade nur, daß Carriere jo wenig Gebrauch davon macht (er dient nur zur Widerfegung von Wigands kunſtreichem Automatenmechaniemus) und ihm fofert (S. 291) wieder neutralifiert durch die „einwohnende Gotteöktuft“, welche zur Bedingung und Leitung ber ganzen Entwickelung ger nügen foll. Es iſt ein fruchtbarer, fhöner Gedanke, die fleigende Vervollkommnung in den Naturwefen, wie fie ohne Zweifel ſicht bar und dur Darwins und feiner Anhänger fleißige Torfchunge noch mehr aufgefchloffen worden ift, in Parallele zu felgen mit der

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neuen been, die in der Menfchengefchichte auftreten. Aber gerade für die letztere Erfcheinung ift, wie wir fehen werden, ein leben⸗ diger Gottesbegriff nötig, wie ja Earriere felbft hier von Offen barung, Eingebung, Miſſion redet, und von biefem Punkte aus fällt dann auch ein neues Licht auf das weite Gebiet der Schöp- fung. Iſt es doch nicht zufällig, daß der Eingang bes Evan« geliumd Johannis von dem aus, den fie gefehen und gehört und mit ihren Händen betaftet Hatten, bis an die Anfänge des Welt lebens ja bis in die Tiefen der Gottheit zurücgeht. Nur der wird die Natur vecht verftehen, der die Gefchichte verfteht; in letzteret aber offenbart ſich Gott als perfönlicher.

Damit find wir an den Punkt gelangt, an welchem die eigent» liche Ftage der fittlichen Weltordnung beginnt. Aber alle die feit« her beſprochenen Punkte find unentbehrlich zur richtigen Würdigung unferes Themas, ja es ift ein gut Zeil deöfelben ſchon gelöft in den allgemeinen Fragen des Gottesbegriffs, der Perfönlichkeit, der Transcendenz und Immanenz, der Schöpferthätigleit. K. E. v. Baer ſchildert den Mufftieg vom Anorganifchen bis zum Menfchen in Borten, welche die Großartigfeit des bibfifchen Schöpfungsberichts nur in ein deſto Helferes Licht fegen und keinesfalls in einem prinzipiellen Widerfpruch mit der Kirchenlehre ftehen: „In der Entwidelung des Erdförpers finden wir zuerft eine Periode der anorganiſchen Maffe ohne Form, Leben und Beſeelung in einem rohen Metallklumpen. In einer zweiten Periode wird fie von Form und Geſetz gefeffelt in kryſtalliſchem Gefüge. In einer dritten tritt fie in den Dienft des vegetabtlifchen Lebens: Pflanzen bes deden den Erdboden, bewußtloſe Ziere beleben das Wafler. In einer vierten Periode entwickelt fi) aus dem vegetativen Leben das animalifche, und Tiere, mit Leiden und Sreuden befchentt, find eifrigſt befchäftigt, den Stoff weiter zu bearbeiten, in dem fie bie Subſtanz der Pflanzen in die Mafje ihres Körpers umwandeln. In einer fünften beginnt das geiftige Leben des Menfchen feine Mat zu entwideln, den Stoff zu bezwingen, die Elemente zu eherrſchen, das Lebendige zn feinen Sklaven zu machen, um end⸗ id den geiftigen Gewinn in eine Einheit zu fammeln. So ift er Erblörper das Samenbeet, auf welchem das geiftige Erbteil

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der Menſchen wuchert, und die Geſchichte der Natur ift die & |

ſchichte fortfchreitender Siege des Geiftes über den Stoff.“ an ann fi ja wohl auf diefe Weife das Werden der Menfhug ſchichte, die Entwidelung bis zu deren Beginn anſchauliqch m ftellen und alfo die großen Schöpfungsgedauken Gottes nadkerin. Nur wird der Wechfel, der mit dem Auftreten des Menden u der Natur ſich vollzog nicht bloß in der Weife erklärt wen dürfen, es fei uun die Menfchheit an die Stelle der Bid höherer Arten in der Natur getreten und ihr Charakter fi H, Gefchichte zu machen (S. 295), fondern das Band ift enger m tnüpfen und zu fagen: erft mit dem Menfchen war das Ziel kr Schöpfung, im Prinzip wenigftens, erreicht. Die phyſiſche Ent widelung der Natur hat ihren Zweck nicht in ſich, fondern über fi, fie dient zur Unterlage der ethifchen Geftaltung, wie ſolches Schleiermacher in treffender Weife jo ausgedrückt Hat, der Merſch übe an der Natur ebenfo eine organifierende wie fymbolifierende Tpätigfeit, jenes, indem er fie zu feinem immer vollfommeneres Werkzeug bildet (aber ohne deshalb den Geift zum Mechanismus erſtarren zu laſſen), diefes indem er ihr feinen Stempel aufrüh und fie alſo ein Spiegelbild des Geiftes wird. Der ganze Go danfe aber iſt ſchon Gen. 1 plaſtiſch jo ausgedrückt: hertſchet übe die Erde und machet fie euch unterthan. Auch Carriere erkmm diefen Zuſammenhang zwiſchen dev phyſiſchen und ethiſchen Di aa, wenn er (a. a. DO.) davon redet, daß durch die der da Beroolltommnung das Ethiſche ind Phyſiſche Himeinfchien; mat ſcheint und, dieſer Gedante fei mehr geftreift, als in den Wittd punft gerüdt. Es ift num freilich befannt, wie eine Art vum Bgitofopgie diefe ganze Anfchauung vom Zwed der Natur in it Menſchengeſchichte für eitel Hirngefpinft und verrückten Hochuu des Menſchen erklärt, und wie fie mit einem Schein des Kuh auf die Widerfpenftigleit, ja die Übermacht dev Natur gegesäbt deu Kultwrbeftvebungen des Menſchen hinweiſt. Und es lät hd nicht leugnen, daß, wenn der Menſch der einzige Zweck der Kar fein ſoll, unaufgelbſte Reftfragen übrig bleiben, daß insbeſerder ine Art von Größenwahnfinn des Menſchen gründlich dung I Ubermacht der kosmiſchen Kräfte ernüchtert werden mug. Abt

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die Schrift erweitert auch unferen Gefichtöfreis, der Menſch als Herr ber Erde iſt mach ihrer Anfchauung nicht der hödjfte Gedanke der Schöpfung, fondern diefer iſt darin zu finden: „auf dag Gott fei alles in allen“ (1 Kor. 15, 28). Eine Stufe auf dem Wege au diefer Höhe, die wie eine im Goldglanz ſchimmernde Berges- frige über die Woltenmaffen und Dunſtgebilde der Niederung herdorragt, {ft die Menfchengefchichte, eine Stufe, die freilich fir ans eine zahllos fcheinende Menge Heinerer Stufen, Krümmungen amd Steige enthält, die aber für das zuſammenſchauende Auge des Hochſten doch nur eines ift, ein Glied, wen auch ein wertvolles, im der Offenbarung feiner Herrficteit und Siebe. Es ift gewiß werwoll, daß bie Geſchichtsphiloſophie dieſes Hbchſte in ber Meſchheitsentwickelung ſchauend fefthätt, damit ihr Blick nicht in der Menge ber Einzelheiteen ſich verftert und aus derfelben ſich nicht mehr zurechtfindet. Ganz befonders notwendig aber ift ſolches um des willen, daß das Weſen der Menſchengeſchichte nicht eins feitig, vom bloß menschlichen Standpunkt aus, beſchrieben, fondern als das gefaßt werde, mas es ift: eine Wechſelwirkung menſchlichen Thuns und göttfichen Waltens. Jeder ber beiden Faktoren muß im feinem Rechte kommen, jeder für fh allein würde eine Gin feitigteit derfefben und in unlösbare Widerſprüche hineinführen; beide im richtigen Verhältnis zu einander ftellen das dar, was man fittfiche Weltordnung nennt. Es darf vielleiht die Ber mertung vorausgeſchickt werden, daß die Beftimmung des Ver häftniffes der beiden Faktoren bislang eine unvofffommene ift. Bir maßen uns aber nicht an, mit Zirkel und Winkel dasſelbe zaft darzuftellen, fehen vielmehr bie Notwendigkeit jener Unvoll ommenpeit ein, welche einfad; darin ruht, daß die Geſchichte noch tiht vollendet, fondern mitten in ihrer Entwidelung begriffen ift. Infer Wiffen muß hier noch vielmehr Stuckwerk fein als in der hyfiſchen Welt, denn letztere ift, wem auch noch nicht ihrem ‚hften Ziel das erreicht fie erft In Gemeinfchaft mit dem Nenſchen in dem „neuen Himmel und der neuen Erde“ —, fo och zu einem relativen Abfchluß eben mit dem Auftreten des Nenfchen gelangt. Aber doch befinden wir uns aud in der Renfchengefchichte nicht im Zuftand des Tohu-wabohu, fondern

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haben in der chriſtlichen Weltanfhauung, beftimmte feftgepidnte Linien, einen Grundriß, der den Aufbau des Ganzen wenigften ahnen läßt. Darnach fteht in dem Mittelpunkt der Zeit lt Chriſtus und iſt es nicht zufällig, dag wir unſere Jahre nf feinem Eintritt in die Geſchichte zühlen. Wir ſtellen als On fag auf, daß nur innerhalb der chriſtlichen Weltanſchauung kr Zee einer fittlihen Weltordnung zu ihrer vollen Bedeut kommt, während diefelbe aus biefer Verbindung gelöft nicht lebem⸗ fähig ift; es geht ihr wie der Pflanze, die aus dem nähreden Boden gehoben wird: fie vertrodnet.

Nun hat Carriere eine große Anzahl von Sägen, bie un fompathifch berühren. Dazu gehörte vor allem feine Befämpfun, Hädels und defien Windmühlenfampf gegen „das Därden von der fittlichen Weltorbnung“. Es ift in der That nicht einzuſchen, warum gegen ein „Märden“ fo große Macht aufgeboten wird; wahrhaft komiſch aber ift es, wenn das Märchen mit Hilfe der rudimentären Organe, 3. B. des fog. Wurmfortjages am Blind darın oder der Heinen halbmondförmigen Hautfalte im innen Winkel des menfchlichen Auges befämpft wird. Carriere fagt mit Recht, Häckels Machtſprüche, wonach die fittliche Weltordnung ebenfo wenig in der Natur als in der Menjchheit exiftiere, fer noch feine überzeugenden Gründe. Wir fügen Hinzu, wo die Be weisführung einzig in Schimpfwörtern befteht (Häckel fagt, mr noch der idealiſtiſche Gelehrte, der fein Auge vor der madten Wirklichkeit verfchließt, oder der fehlaue Pfaffe predigen jmd Märden), da iſt's mit ihrer Vernunft ſchwach beſtellt. Verlieren wir hierüber fein Wort weiter! Werner freuen wir ung der An erfennung des Providentiellen im Gang der Geſchichte. In da Sedanrede, welche der Verfaffer am 3. September 1870 unter dm unmittelbaren Eindrücken der gewaltigen Ereignifje in einer Mündenr Volksverſammlung Hielt und welde er als Einleitung feinem Bert vorangeftellt Hat, beginnt er mit dem kraftvollen Worte: „Cs giht eine ſittliche Weltordnung!“ und fagt im Verlauf: „Auch das gr Hört zu dem geheimnisvollen Gang und Plan der Vorfehung dab, wenn das Gute nicht mit der reiten Stärke begabt, die Bahl: wollenden nicht mit der rechten Einſicht erleuchtet find (freilich

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woher da6? der Prophet jagt: „Mich, die lebendige Quelle, ver» laſſen fie 2c.”), alsdann die Selbſtſucht Raum erhält und ihre Ziele erreicht; aber dieſe Ziele Tiegen denn dod auf den Wegen der Geſchichte und find Mittel für die Zmede der Menfchheit, bie unter der einwohnenden göttlichen Leitung auch über das Wollen und Berftehen der Handelnden hinaus vollführt worden.“ Verfaſſer citiert Fhering, der fchreibt: „Es ift die Mitarbeiterfchaft an einer großen nationalen Aufgabe, zu ber der Einzelne berufen ift, möge er fie erfennen oder nicht. Denn das ift das Große und Er— habene in umferer großen Weltordnung, daß fie nicht verftanden zu werden braucht, um der Dienfte des Menfchen ſicher zu fein, daß fie der Hebel und Motive genug befigt, um auch denjenigen, dem das Verftändnis für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit heran. auiehen.“ Und mas der Rechtsphiloſoph findet, beftätigt ber Hlfterifer. Heinrich v. Sybel jagt Über die Wölferwanderung: „Wenn wir uns das damalige Sneinanderfliegen der römischen und der deutfchen Welt vergegenwärtigen, fo erſcheint uns ein ganz providentielles Verhältnis der gegemfeitigen Ergänzung. Dort verödete Acker, die der Menſchen Karren, Bier eine Völtermaffe, der in jedem Jahr ihr Ader zu eng wird, Dort Abnahme der kriegerifchen Kraft, Berfiegen der Vollsſubſtanz, düfterer Lebens⸗ und Weltüberdruß, hier frifhe Freudigkeit an Kampf und Ruhm, an Genuß und Natur, an Gefahr und Erfolg. Dort eine weite formale Bildung, Hier eine unbegrenzte Bildungsluſt und -fühige *it. Dort eine an ihrer Allmacht abfterbende, in ihren Rechts⸗ ormen beifpiellos entiwicelte Monarchie, hier ein ftarker Freiheit inn, der nur ber politifchen Schule bedurfte und nad politifcher form hindrängte. Dort eine ausgebildete Kirche, auf den tiefften ttlihften Prinzipien ruhend, zur fittlichen Erziehung wie feine ndere geeignet, aber damals ohne ſittlich brauchbare Menſchen nd deshalb mehr als bilfig zur Weltflucht und Weltverachtung ‚neigt; Hier ein ſtarkes und keuſches, aber weltfrohes und in inen Leidenſchaften unbändiges Geſchlecht, welches von der Kirche 1e heilſame Zucht erwartet und ihr dafür als gleichwertige Gabe te freudige Erfriſchung entgegenbringen konnte.“ Wir freuen & dieſes consensus doctorum. ber gerade an dieſer Stelle

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haben in der chriſtlichen Weltanfhauung, beſtimmte feftgezeidnt Linien, einen Grundriß, der den Aufbau des Ganzen twenigfint ahnen läßt. Darnach fteht in dem Mittelpunkt der Zeit Jr Chriſtus und iſt es nicht zufällig, daß wir unſere Zahre ud feinem Eintritt in die Geſchichte zählen. Wir ftellen als On fa auf, daß nur innerhalb der chriſtlichen Weltanſchauung de Idee einer fittlihen Weltordnung zu ihrer vollen WBedeubu tommt, während dieſelbe aus diefer Verbindung geföft nicht Ichens fähig ift; es geht ihr wie der Pflanze, die aus dem mährenden Boden gehoben wird: fie vertrodnet.

Nun hat Carriere eine große Anzahl von Sägen, die uns ſympathiſch berühren. Dazu gehörte vor allem feine Bekämpfung Hackels und deſſen Windmühfenfampf gegen „das Märden von der fittlichen Weltordnung“. Es ift in der That nicht einzuſchen, warum gegen ein „Märchen“ fo große Macht aufgeboten wird; wahrhaft komiſch aber ift e8, wenn das Märcden mit Hilfe der rudimentären Organe, 3. B. des fog. Wurmfortfages am Blind darm oder der Meinen Halbmondfürmigen Hautfalte im inneren Winkel des menfchlichen Auges befämpft wird. Carriere fagt mit Recht, Hädels Machtſpruche, wonach die fittliche Weltordnung ebenfo wenig in der Natur als in der Menſchheit exiftiere, fein noch feine überzeugenden Gründe. Wir fügen Hinzu, mo die Be⸗ weisführung einzig in Schimpfwörtern befteht (Häckel fagt, un noch der idealiſtiſche Gelehrte, der fein Auge vor ber nadten Wirftichkeit verfchliegt, oder der ſchlaue Pfaffe predigen jms Märden), da iſt's mit ihrer Vernunft ſchwach bejtellt. Verlieren wir hierüber fein Wort weiter! Berner freuen wir uns der An erkennung des Providentiellen im Gang der Geſchichte. In der Sedanrede, welche der Berfaffer am 3. September 1870 unter din unmittelbaren Eindrücen der gewaltigen Ereigniffe in einer Mündenr Volksverſammlung Hielt und welche er als Einleitung feinem Watt vorangeſtellt Hat, beginnt er mit dem fraftvollen Worte: „Es gut eine fittlihe Weltordnung!“ und fagt im Verlauf: „Auch das gr Hört zu dem geheimnisvollen Gang und Plan der Vorſehung dad, wenn das Gute nicht mit der rechten Stärke begabt, bie Wohl wolfenden nicht mit der rechten Ginficht erleuchtet find (freifih

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moher das? ber Prophet jagt: „Mich, die Lebendige Quelle, ver- faffen ſie 2c.”), alsdann bie Selbftfucht Raum erhält und ihre Ziele erreicht; aber dieſe Ziele Liegen denn doch auf den Wegen der Geſchichte und find Mittel für die Zwecke der Menſchheit, bie unter der einmohnenden göttlichen Leitung auch über das Wollen und Berftehen der Handelnden hinaus vollführt worden.“ Verfaſſer citiert Jhering, der ſchreibt: „Es ift die Mitarbeiterfchaft an einer großen nationalen Aufgabe, zu ber der Einzelne berufen ift, möge er fie erfennen oder nicht. Denn das iſt das Große und Ers habene in unferer großen Weltordnung, daß fie nicht verftanden zu werden braucht, um der Dienfte des Menfchen ſicher zu fein, daß fie der Hebel und Motive genug befigt, um auch denjenigen, dem das Verftändnis für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit herans ziehen.“ Und mas ber Rechtsphiloſoph findet, beftätigt ber Hifteriter. Heinrich v. Sybel ſagt über die Völkerwanderung: „Wenn wir uns das damalige Ineinanderfließen der römiſchen und ber dentfchen Welt vergegenmärtigen, fo erſcheint ung ein ganz providentielles Verhältnis der gegenfeitigen Ergänzung. Dort verödete Ücker, die der Menfchen harten, Bier eine Völfermaffe, der in jedem Jahr ihr Ader zu eng wird. Dort Abnahme der riegeriſchen Kraft, Verfiegen der Vollsſubſtanz, büfterer Lebens⸗ md Weltüberbruß, Hier friſche Breudigfeit an Kampf und Ruhm, m Genuß und Natur, an Gefahr und Erfolg. Dort eine weite ormale Bildung, hier eine unbegrenzte Bildungsluft und -fähig« it. Dort eine an ihrer Allmacht abfterbende, in ihren Rechts⸗ rmen beifpiellos entwidelte Monarchie, Hier ein ftarter Freiheits⸗ an, ber nur der politiichen Schule bedurfte und nad) politifcher arm Hindrängte. Dort eine ausgebildete Kirche, auf den tiefften tlichften Prinzipien ruhend, zur fittlichen Erziehung wie feine dere geeignet, aber damals ohne fittlih brauchbare Menfchen d deshalb mehr als billig zur Weltflucht und Weltverachtung aigt; Hier ein ſtarkes und keuſches, aber weltfroßes und in sen Leidenfchaften unbändiges Geflecht, welches von der Kirche e heilfame Zucht erwartet und ihr dafür als gleichwertige Gabe : freudige Erfriſchung entgegenbringen konnte.“ Wir freuen dieſes consensus doctorum. ber gerade an biefer Stelle

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tritt uns ein Mangel an Carrieres Darftellung entgegen. Wat heißt „einmohnende göttliche Leitung“? Iherings Wort wird dam erft recht wahr, wenn man bie fittliche Weltordnung perſönlich faßt und fie in einem fonfreten Willen anſchaut, denn von dieſem allein kann im Ernft gefagt werden, er befigt Mittel genug, um and; denjenigen, dem das Verſtandnis für feine Gebote abgeht, zu Arbeit Heranzuziehen, während man von „Geboten“ einer Ordnung, von einem „Heranziehen“ ſeitens derfelben nur uneigentlich reden tann. ber Earriere neigt doch wenigftens zu einer immanenten ſittlichen Weltordnung; fo namentlich, werm er das Wejen der Geſchichte nicht bloß ala Veränderung, fondern als „Entwidelung* faßt; fie ift auch nicht bloß Entwidelung, fondern That, Fortſchritt, fie ift Schöpfung einer fittlihen Welt, Aufrichtung eines Reiches, größer noch al® das nene Deutſche Reich, Aufrichtung des Reiches Gottes. Es liegt etwas Wahres in dem Sag: „Die Ziel- u Richtpunkte der Geſchichte find nicht die Erfindung deſſen, der fir findet (ahnt, erfaut), fondern das Junewerden an ſich feiender ewiger Wahrheiten“ (S. 300). Aber eben dieſes Innewerden muß genauer beftimmt werden, d. h. hier ift der Puntt, wo ver Begriff der Offenbarung zu entwideln if. Das Schmwanten zwiſchen zwei Ertremen ift hier leicht möglich. Entweder mar faßt die Offenbarung zu mechaniſch und macht aus berfelben cin Eingiegen mittelft des Nürnberger Trichters; damit thut man aber der Geſchichte Gewalt an und wird der Pſychologie wie der Ethil nicht gerecht. Oder man macht die Offenbarung zu einem bloßen pfghifchen Vorgang und verlegt damit wiederum die Thatjachen des Selbſtbewußtſeins und der Geſchichte. Letzterer Gefahr ſcheint uns Garriere heimzufallen, wenn er 3. B. kurzweg das Wort des Dichter8 adoptiert, daß die Weltgefchichte das Weltgericht ift um Goethes „Ale Schuld rächt fih auf Erden“ alſo interpretiert: „Jedes Unrecht erregt das Gefühl der Rache, Sügne, Vergeltung, und fie bfeibt nicht aus; früher oder fpäter findet jede That ihr Lohn duch die im der Menfchheit wirkenden Kräfte feloft“ (ib.). Es dürfte ſchwer werden, den Beweis für die letztere Behauptung anzutreten. Ganz befonder® aber ift das Verhältnis der dee zu der Geſchichte fo gefaßt, daß von einer Offenbarung fans

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mehr bie Rede iſt, umb doc iſt wieder die Idee als „an ſich feiende ewige Wahrheit dargeftelit, welche offenbar einer Offen» barung bedarf, um zum Bewußtſein zu kommen. So leſen wit anf ©. 807: „Die fittlichen und äſthetiſchen Ideen find an fi feiende ewige Wahrheiten fo gut wie die Säge ber Mathematik; wir erfinden fie nicht, wir finden fie; fie find der Kampfpreis des dorſchens, Denkens, Bildens, um der Freiheit willen nicht ges geben, aber erreichbar; und fie zu erfennen und zu verwirklichen, das ift die Lebensaufgabe der Meenfchheit und die Bedeutung ber Geſchichte.“ Und auf &. 306 Hatten wir gelefen: „Da find die MPeen nicht das Gegebene, bereits Verwirklichte, bloß aufzufafjenbe, fondern fie find das aus der eigenen Junerlichleit zu Schöpfenbe, durch eigene That Hervorzubildende, fie find Prinzipien nicht bloß des Erkennens, fondern des Geftaltens, des Handelns, das durch fie Mag, Richtung und Ziel empfängt.“ So richtig ber letzte Teil des legten Satzes ift, fo dürfte es doch ſchwer fein, zwiſchen den beiden Hauptfägen einen Einklang Herzuftellen. Dort Heißt es: die Ideen find nicht zu erfinden, nur zu finden; bier aber: fie werden durch eigene That aus der eigenen Innerlichkeit here vorgebildet. Am letzteren wird’8 hängen, an ber eigenen innere lichleit. Sind wir in der That ſchöpferiſch, oder befteht die freilich unerläglihe That des Menſchen nicht vielmehr in einer Rezeptivität? Wir erinnern uns des richtigen Wortes uns feres Philofophen: die Denkformen find zugleich die Gefege der Dinge, Für den Real -Idealismus, den Carriere pflegen will, ann da nicht Hegelifch gedeutet merben, eher im Sinne der Leibe uiſchen präftabifierten Harmonie. Aber ba der Verfaſſer ent» chieden den Standpunkt eined erft in der Zeit und dazu verhult⸗ nismaßig fpät erfolgten Auftretens des Menſchen vertritt, fo muß 08 Prius den Gefegen in den Dingen vor den Denfformen zus eſchrieben werden, und bie allerdings große That des Menfchen efteht darin, jene Geſetze nachzudenken, jene Ideen in ſich aufzu⸗ men. Das aber geſchieht nie ohne Mitwirkung der Dinge Sbft, oder richtiger da wir gefehen haben, daß dieſe in ihrem keftand ebenfo von dem Iebendigen Gott erhalten werden, wie fie m ihm gefchaffen” wurden, und da zugleich ein Ver umua zu dem eol. Stud. Yang. 1088.

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Weſen des Menſchen als Verftand und Wille oder Perfönkicteit fih nur feitens wieder einer Perſönlichkeit denken läßt —, fo fommt jene Erkenntnis der Dinge und die Kraft, fie zu geftalten, nad) den ewigen Ideen nur unter Mitwirkung des perfünliden Gottes, d. h. durch Offenbarung zuftande.

Es fehlt zwar dieſer Begriff bei Earriere durchaus nicht; aber es ſcheint uns, als fei derfelbe feines ſpezifiſchen Weſens doch ent- Heidet, wenn Offenbarung auch bei einem Voltaire und Rouſſean angenommen wird. Das Providentielfe bei ihnen (S. 429), des zunüchſt allerdings nur betont ift, wird man nicht beftreiten können; man dürfte e8 aber vielleicht richtiger „Zulaffung“ nennen. Dod bleibt e8 ein Mangel am Offenbarungsbegriff, wenn er nicht dazu führte, das Spezifische im Chriftentum zu erkennen, und daß ſolches hier zutrifft, werden wir fofort nachweiſen. Yoranszu- ſchicken iſt nur ein anerfennendes Wort und zugleich eine Ein- ſchränkung zu dem allgemeinen Begriff der Offenbarung, den Earriere, allerdings ausſchließlich, vertritt. Es find wiederholt Anläufe gemacht, die Offenbarung ins Leben einzuführen. Wer wollte nicht beiftimmen, wenn er 3. B. Hört: „Offenbarung ft das Machtigwerden und Sichbezeugen des allgemeinen Geiftes im einzelnen“ (wenn au der Ausdruck „allgemeiner Geift“ nidt gerade glüclich ift)? oder: „Unfer Urfprung und unſer Urftand iſt in Gott, darum fönnen feine Gedanken im Innerſten des Ge möütes und aufgehen, . . . es ift aber nicht eine Impulſion oder Mitteilung von außen, fondern von innen, vom Zentrum alles Lebens ans; es ift auch nicht ein mechaniſches und fertiges Üher- Kiefern, fondern wie alles geiftige Einwirken die Erregung zu ber Geftaltung und Erfaffung derfelben Ideen, fo daß wir ben Gott zwar leiden, zugleich aber felbft den Eindrud feines Waltens in uns zum Wort, zur That, zum Bilde formen und feine freie thätigen Organe find." Auch dagegen wird nichts zu fagen fein, daß die Offenbarung im allgemeinen nit auf die Propheten und Religionsftifter befchränkt, fondern auf die Denker und die Männer der That ausgedehnt wird. Aber bier gerade zeigt füch eine Ge fahr, welche die Kirchenlehre glücklich durch ihre Unterfcheidung von providentia und revelatio vermeidet. Denn es ſtellt fich doq

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bei Garriere fo dar, daß jede geſchichtliche Perſon eine Dffen- batung Gottes ift, was die Perfönlickeit Gottes ſchließlich aufe hebt. Auch ift die Vorftellung, welde Carriere von dem Binden der Ideen feitens der Menfchen Hat, fonderbar. Danach ſollen die Ideen Feine Wefen fein, welche ſuchen und bewegen können, fondern zur Ausführung beftimmte Gedanken, welde die Vorfehung erfieht, und deren Darftellung diefelbe Vorſehung dadurch bewirkt, daß fie zur vechten Zeit und am redten Orte die geniale und originale Perfönlichkeit dazu ins Leben treten Täßt. Iſt das nicht faſt wie ein Puppentheater? und iſt es nicht wichtiger, das per⸗ ſonliche Verhältnis in den Vordergrund zu ſtellen, auf Grund deffen dann die Kräfte des Menſchen ſich frei und doc; zugleich innerhalb der geſchichtlichen Ordnung entfalten? Es iſt eigentüm⸗ fh, daß man bet Carriere abmechfelungsweife den Eindrud ber lommt, es gehe die Perfünlichteit Gottes ober die des Menſchen verforen. Das tührt von dem oben Hervorgehobenen Semipan- theiemus her.

Die Beralfgemeinerung bes Offenbarungsbegriffes aber führt, wie gefagt, namentlich zur Verfennung des ſpezifiſchen Charakters des Ehriftentums, inſonders feines Stifter. Daß die Geſchicht⸗ Uigkeit des Ehriftentums anerkannt wird, ift freilich zu acceptieren, verjteht ſich jedoch im Grunde von felbft; denn fein Hiftorifer fann den tiefgreifenden Einfluß biefer Religion auf die ganze Menfchen- gefhiäte leugnen. Das Chriftentum erhebt aber bekanntlich einen noch höheren Anſpruch, nämlich etwas pofitiv Ewiges, „das ewige eben“, zu geben, und dieſer Anſpruch wird indirekt abgelehnt, wenn nan feine Gefchichtlichkeit ganz in Parallele zu der der Römer und Germanen fett. Werner ift es ganz richtig, daß Kunft, Religion, Staatsverfaffung, Sitte, Wiſſenſchaft als die verfchiedenen Seiten es Volksgeiſtes im innigften Zufammenhang mit einander ftehen. Iber welche dieſer Seiten die beherrſchende, ausfchlaggebende iſt, ird mit diefer Nebeneinanderftelfung nicht angedeutet. Das Epriften- m fagt: bie Religion ift das Herz der Menfchheit, und zwar cht bloß in dem Sinn, daß Bier das innerlichfte Reben und Wirken 8 Menſchengeiſtes zur Erſcheinung fommt, fondern fo, daß hier ie Berührung des Menſchlichen mit dem @öttlichen ftattfindet:

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boo Baemeiſter

„Du Haft Worte des ewigen Lebens“ oder das Gleichnis um Sauerteig. Hier tritt eine Nachwirkung des Rationaliemus zum Schaden des wahren Weſens des Ehriftentums wie der wichtigen Auffafjung bes Menſchen zutage. Es ift ſchön gejagt, daß die Freude an der Wahrheit bezenge, wir feien ethiſche Wefen (S. 153); aber nur mit einem großen Fragezeichen können wir den Seh ſtehen laſſen: „unfer Streben nad Glüdfeligkeit felbft wird uns zum Heile führen, das an das Gute geknüpft ift und damit in unfere Hand gelegt wird“ (S. 158). Wenn das wahr ifl, dam iſt das Wort Ehriftt unmahr: „Ich bin ber Weg.“ Und mit deutlicher Bekämpfung der chriſtlichen Auſchauung fügt dort Car⸗ tiere noch bei: „Und nit die gefchenkte, fondern die durch Glud⸗ wurdigkeit verdiente Gefigfeit als der Lampfpreis der Züchtigfeit ift die hochſie, zeitgemäße.“ Wir wollen zwar nicht mit Schlag wörtern eine philoſophiſche Anfiht bekampfen; aber hier tann men doc ganz kurz und einfach fagen: das ift der Pelagianismus des Nationalismus, und wie in after Zeit muß auch heute die Lirche fi) deöfelben erwehren, wenn aud mit anderen Mitteln als dayı- mal. Es ift ein verhängnisvoller Irrtum Carrieres, dag er da Gute nicht als objeltiv Seiendes, fondern nur als Seim ⸗ſollendes gelten läßt, da® in der Geſinnung lebt ud im Willen verwirkidt wird, daß er überhaupt das Gute nur als Probuft des Willens faßt. Wir find es, welde die Ider des Vollkommenen bilden; damit daß der Geiſt feinem Begriff na nur durch eigenes Denten und Wollen zu fi kommt, ift auch ſchon gegeben, daß er die Idee der Pflicht, des Sollens faßt, und das Gewiſſen ift deshalb nur der Ausdrud unferes eigenen ethifchen Wefens“ (S. 164). Reben dieſen deutlichen Sägen finden wir dann aber Andeutungen von einer „Högeren Ordnung der Welt“, d. h. der ſittlichen Welton⸗ nung, zu welder uns der Tategorifche Imperativ erhebt, inden er uns von der Macht der Außerlichteit und Naturgebundenheit befeet. Iſt denn da nicht diefe höhere Ordnung als ein objektiv Gutes gefaßt, deffen Exiſtenz doch geleugnet wurde? Und were gefegt wird, im Gewiſſen komme uns die Unterfcheibungenorm wen Get und Böfe zum Bewußtſein (S. 158) und wir fühlen uns ver pflichtet, innerlich getrieben, uns ihr gemäß zu entſchelden, I

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. [33

fragen wir billig: fegt das wiederum nicht eine objektive Untere ſcheidung von Gut und Boſe voraus, und wo ein Verpflichten und Treiben iſt, ift da nicht aud ein Verpflichtender und Treibender ? Ulrici hat ganz richtig Kants Schwäche gejehen, wenn er aus der Boentität des Sittengefege® und des Selbftbewußtfeins des vernünfe tigen Willens die Zolgerung zieht: dann giebt es nur ein Wollen aber fein Sollen, der Imperativ Löft ſich auf, und mit der Pflicht fält die ganze Ethik dahin; fie wird zur pfpchologifchen Erſchei⸗ nung und fchließlich zur Phufit. Carriere meint diefer fatalen Wendung entgehen zu Löunen durch folgende Betrachtung: „Das vernünftige Wollen ift eben ein Wollen des Gefollten, das nicht als etwas Fremdes, Zwingendes, fondern als das Gelbftgefegte, als die Verwirklichung des eigenen Wejens empfunden wird, wie das Wachstum des Reims zum Organismns“ (S. 162). Gerade bie legtere Bergleichung, wenn fie aud nur eine Bergleihung fein ſoll, zeigt doch bie vorhin angebeutete Gefahr der Auflöfung der Ethik in die Phyſit deutlich. Gerade wenn das vernünftige Wefen des Denfhen nur ans ſich felbft ſich entwidelt, iſt der Begriff des Sollens eigentlich undenkbar; es ift in jedem Augenblick das, was es fein fol, es entwickelt fi ja, wie man von bem Organismus in feinem Augenblick fagen kann: er babe fein Sollten noch nicht errticht. Es trifft eben dieſe Kategorie gar nicht auf bie phyſiſche Rotur zu. Kant hat ſich bekanntlich durch die Unterfcheidung des Phänomenon und Noumenon zu helfen gefucht; aber wenn auch Uricis Bemerkung dagegen ganz zutrifft, es folge aus der Ent ngenfegung von Vernunftwefen und Sinuenweſen nicht, daß fi ieſes jenem unterwerfe, fo ift doch Kants Berſuch damit nicht ab⸗ han, daß man einfach jenen Gegenfag für falſch erlärt; es Tiegt emfelben vielmehr die unwillkürliche Anerkennung einer über dem hänomenafen Sian des Menfehen ftehenden Gefetzgebung zugrunde, sehe uns auf bie Anfhauung der Schrift führte, wonad in dem ten und gnädigen Willen Gottes das objektiv Gute und das Ber- lichtende für den Menfchen Tiegt. Ein Apriorifces, die Unter kidung von Gut und Mbfe nimmt auch Carriere mit Wfrkl id 3. H. Fichte an; aber was diefes Mpriorifche ift, erfahren x nicht. Wir dürfen es aber gewiß nicht bloß als eine Kater

52 Bacmeifer

gorie, als ein „Bildungsgefei des Geiftes“ faflen, wie Earriere tut, fondern die Kategorie ruht auf dem bildenden, ordnenden, regierenden Willen; das Apriorifche ift zugleich das Tranfcendente, das über dem menſchlichen Einzelweſen fteht, aber wiederum nicht in der vagen Faſſung als „Ganzes“, fondern als der perſönliche Wille Gottes. Es wird der Philofophie nie gelingen, diefem Be griff des „Ganzen“ Leben einzuhauchen, fo daß er felbft zur beieben- den Kraft würde. Ausführungen wie die nachfolgende Lafjen voll« ftändig kalt: „Das Selbft erhebt fi) aus dem gemeinfamen Lebensgrunde des Seins und wird für fi; aber es ift dabei auf alles andere bezogen, durch anderes bedingt, und wenn es dies ver⸗ Teugnet und in der Selbſtſucht nur es felbft fein will, wenn der Wille damit zum Eigenfinn und Eigenwillen wird, fo löſt das Seldft fih in feinem Denken und Wollen von feinem Lebensgrund und feiner Wefensgemeinfchaft, und ergiebt ſich trügeriſchem Schein und eitlem Unmefen; es trachtet nach feinem Nugen, auch zum Schaden der andern, es möchte fie unterbrüden und verlegen, um ſich groß und frei zu machen, und es befteht doch nur als Glied eines Ganzen und fann deshalb nur im Zufammenhang mit diefem und in der einträchtigen Wechſelwirkung mit anderen Gliedern fein Leben haben. Und diefe Thatfache wird notwendig aud als Ger fuhl in ihm mächtig, fie ift das Gefühl der Liebe, des Bebürf- nifjes der erglänzenden Gemeinfchaft, der Hingabe als das Ganze“ (S. 160). Die Antwort auf diefe ganze wohlgemeinte Ausfüße rung ift: Kampf ums Dafein. Wenn der Wille feine ftärfere Motivation erhält, als diefe, fo wird er nie zum Opfer feines Selbſt es bringen; denn gerade die Hingabe ans Ganze ift ftrittig: wie viel Recht Hat das Ganze an mich? mie viel Recht Habe ih an das Ganze? Über biefem Streit könnte ein ganzes Leben hin gebracht werden. Wohl fagt Carriere, auf diefe Weife komme auch feine Seligkeit und fein Friede in das Menfchenherz, dem die Lieblofigkeit werde auch als Unfeligfeit empfunden. Ganz reift; aber ob der Weg zum Frieden der ift: „fein Wohl im Wahl bes andern zu erftreben umd zu begründen, den Zwed des Ganuzen zum eigenen zu machen“, das ift die Frage, d. h. halb wahr ift das Geſagte, es fehlt ihm Teider nur die andere, erfte Hälfte: Die Lich

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 508

zu Gott, und der Weg zu diefer ift die Neue, welcher wohl auch die Erkenntnis und das Wollen des Rechten folgt, Mur mittelft des richtigen Zwifchengliedes der Vergebung. Kurz gefaßt: die fpezififch Hriftlichen Anfchauungen vom Heilsweg find bei Carriere ausge gefallen, und diefer Ausfall verurteilt das, was noch ftehen bleibt, zur Lebensunfähigleit. Iſt nicht die ganze Unfeligkeit und Fried» Tofigkeit de8 Heidentums darin begründet, daß ihm nicht das Einsfein mit dem Ganzen (ſolches ift eigentlich immer da) fon dern das Einsfein mit Gott felbft fehlt! Und giebt es, kirch⸗ lich geredet, eine Nächftenliebe ohne Gottesliebe? d. h. eine Nächſten⸗ liebe als durchgreifende Charakterbeſtimmtheit, nicht nur als flüch⸗ tige Regung oder edle Aufwallung? Es iſt gewiß wahr, daß die Gottesliebe in ſich krankt, ja hohl wird, wenn ſie die Nächſtenliebe nicht im Gefolge hat (die Sprüche des Neuen Teſtamentes in dieſer Hinſicht ſind den Kindern bekannt); aber ebenſo gewiß iſt, daß bie Nachſtenliebe die Liebe zu Gott zur unentbehrlichen Vor⸗ auoſetzung hat. Liebe zu Gott aber darf nicht in Liebe zum Ganzen aufgelöft werden, fo wird fie zu einem Schemen, das nur noch in Redensarten fpuft. Liebe ift ein perfönliches Verhältnis, in ihr ſchließt ſich das eigentliche Sein unferes Weſens auf, und da Liebe eben ein Berhäftnis Herftellt, fo kann fie ihr Ziel auch nur in einem perſonlichen Wefen finden. Daher kann man von „Liebe zur Natur“ z. B. nur im uneigentlihen Sinn reden. Ya, wir wagen fogar die Behauptung, auch Liebe zum Menſchen ift für fi nicht möglich, nämlich Liebe zum faktiſchen Menfchen, Denn wenn in der Liebe ſich unfer innerftes, ideales Weſen aufe fchließt und wenn dieſes Wefen ethifher Natur ift, fo kann es feine Befriedigung nur in einem vollfommenen ethifhen Weſen finden; diefes aber ift Gott. Zugleich aber ift der Weg Hiermit gezeigt, fi) dem Ganzen wirklich dienftbar zu machen: wir Lieben die Menſchen „um Gottes willen“, d.h. weil er fie zu feinem Reich berufen hat und weil diejes Neid erft fommt, wenn es in den Menſchenherzen aufgerichtet wird und weil dieſes Aufrichten mittelft der Liebe gefcieht („er Hat uns zuerſt geliebet“), darum lieben wir auch die Brüder, können in ihnen die Kinder Gottes fehen, zu welden fie durch bie entgegenfommende (vergebende, erlöfende)

u Bacmeifter

Liebe Gottes auch wirklich geworden find. Wie verwäſſert iſt da gegen die „Gotteökindfchaft“ bei Earriere, wenn er ©. 411 fagt: „Nur weil das Göttliche ſich in uns bezeugt ald das Unendliche, das allem Endlichen innewohnend bleibt, fühlen wir unfer Selbft als Glied eines Ganzen, fommen wir zum NReligionsgefühle und zur Gottesidee. Wie könnten wir die Kindichaft empfangen, wenn uns ein Zauberſpruch aus dem Nichts geſchaffen, uns außerhalb des ewigen Weſens geſetzt, uns gemacht hätte?“ Danach wären wir alfo nit „gemacht“, alfo wohl aus uns felbft? Ein drittes giebt es doch nicht. Und wo bleibt hier das ethiſche Moment in der Gottesfindfchaft, das doc den Ausſchlag giebt? Es ift ga fo dargeftellt, als dürfte der Menſch nur ein Kind Gottes fein mollen, und fofort ift er es auch. In der ſchon angeführten Sedansrede, die allerdings nicht im Schulftil gehalten ift, aber doch auch die wefentliche Anfhauung des Philofoppen ansdrüdt, Heißt es mit dürren Worten: „In der Selbſtſucht, wenn wir an deres fein und Haben wollen als Bott, als das Wahl des Ganzen verlangt (Gott und das Ganze ftehen au Hier als Korrelat⸗ begriffe), da verfinftert fich unfer Wefen, reißt ſich los von feinem wahren Grunde und verfällt der Sünde und ihrer Pein; fobal wir aber wieder nichts anderes wollen und ſuchen als das Gou⸗ liche, Ewige, find wir eins mit ihm, find wir befeligt von der Liebe, find wir Kinder Gottes, Glieder feines Reiches“ (©. 12). Sa, „jobald wir wollen und ſuchen“ daran hängt’s. Bei Car⸗ rieres Anſchauung ift fein Raum für das Wort Chrifti won dem ſuchenden guten Hirten, für den Ausſpruch: „wen der Sohn frei macht, der ift recht frei“, oder „niemand kommt zum Water deun durch mich“. Es wird ebenfo fehr die Stellung Ehrifti verkürgt, wie die Bedeutung der Sünde unterfägt. Über die Mögligtet tommt man nicht hinaus; es Heißt: „wenn das Selbft nicht wieer Herr [über die Leidenſchaft] wird, dann verliert es fich ſelbſt im Wahnfinn oder in der Knechtſchaft der Sünde“ (S. 198). Hier, wo der Rationafismns, überhaupt das menſchliche Wiſſen und Mägen nicht weiter weiß, ſetzt eben das Chriftentum ein. Es ſoll nicht dem Zufall überlaffen bleiben, ob das Selbſt wieder Herr wird, oder ob der Menſch verfinkt, fondern das ift das Weltgeſchichtliche

Zur Frage der fittfichen Weltorbmung. 506

des Kommens Chriſti: Gott will, daß allen Menfchen geholfen werde. Um aber diefem Willen Gottes Eingang zu verſchaffen, um ihm aufzunehmen, muß vor allen Dingen das rechte Ges fühl und Verſtändnis für das Böfe vorhanden fein, dann wird auch die Bedeutung Chrifti beffer gewürdigt werden (vgl. das Bort: „Die Gefunden bedürfen des Arztes nicht“, Luk. 5, 31. 32).

Wir lönnen zwar nicht fagen, daß Carriere fein Verftändnis für das Bbſe und Gute zeige, im Gegenteil es find viele gute Keime da, ja manches ſchöne Wort ift zu lefen. So z. B. wenn er ſchlagend fagt: „Das Gute befteht in ber Liebe, die zugleich ihre Bejeligung in ſich trägt“ (S. 220), oder wenn mit Ariſto⸗ teles das Gute die Weſenheit Gottes genannt wird. Aber diefe Reime find nicht entwidelt und haben daher keine Frucht hervor gebragt. Wie vahe Liegt es, aus jenem Ausfprud) das Reſultat für die Perfönlichleit Gottes als Heilige Liebe zm ziehen und in dieſer den Lebendigen Urſprung für bie fittliche Weltordnung, für das fittlich Gute, das dem menfchlihen Willen als Geſetz vor⸗ ſchwebt, zu gewinnen. Über jenes Reſultat ift nicht gezogen, und darum bleibt Gott immer in deiftifcher Ferne, und diefer Urfprung iſt nicht aufgedeckt, vielmehr ift die Idee des Vollklommenen mie aus der Piftole gefchoffen; woher fie dem Menſchen tommt, erfährt kin Menſch.

Wiederum fehlt es nicht am Ernſt gegen das Boſe, und wir find weit entfernt, Carriere der Beichtfertigkeit befchuldigen zu wollen, aber das Spejifiiche des Böfen als Unrecht gegen Gott felbft wird doc verwilcht, wenn das Gute den Willen, dem Gefege des Ganzen zu dienen, für das Gemeinwohl zu wirken, gefegt, ftatt daß es ale Kindesgeporfam gegen Gott gefaßt wird. Wie umftändfich ift dan am die Erklärung von der Entfiehung des Böfen (S. 2275): „Indem ein Weien ſich als Selbft erfaßt, ſcheidet es ſich dadurch son der unmittelbaren Einheit mit allen anderen, mit feinem Lebens⸗ runde, und macht ſich zum Bür+fich-feienden von allem Unter⸗ Giedenen. .... Indem das Seldft nun ſich fühlt und weiß und ille Dinge in der eigenen Empfindung, im eigenen Bewußtfein hat, iegt «8 ihm fo nahe, daß es in der Freude dieſes erften Lebens“

506 Bacmeifter

oder Sonnenaufganges beharrt, daß es nichts anderes will als fih, daß es fich fiir den Mittelpunkt der Welt, für das allein wahr, allein berechtigte Sein hält und danach handelt; und damit üft die Selbſtſucht da und das Böfe geboren.“ Wie viel einfacher ift die Schrifterflärung von der Entftehung des Böjen: „Die Sünde ift das Unrecht oder die Übertretung des Gefeges“, abgefehen davon, daß jene Gedanken alle, nur ethiſch gefhärft, in Gen. 3 mitenthalten find. Zu den Hoffnungsvolliten Keimen aber möchten wir das Wort rechnen, wie trog allem Böjen „das Ewige im endlichen Selbft Geftalt gewinnen will“ (S. 240). Die Wahrheit und Wirklichteit deffen haben wir im Chriftentum, d. h. in Eprifto als dem fleifchgewordenen Worte.

Aber hier gerade zeigt fi ein Mangel an Verftändnis. Nicht nur wird Jeſus neben Muhammed geftellt (5.379), jadem Islam in faſt unbegreiflicher Boreingenommenheit der Vorzug vor der chriſtlichen Kirche und ihrem Dogma gegeben, fondern es wird namertlich Zefus und das Evangelinm nicht recht gewürdigt. Es ift ſchief, zu fagen: „Jeſus brachte die indiſche und die griechiſche Lebensider in Einklang“ (S. 226), denn er wird dadurch in die Reihe der Philo- fopen gerüdt; er ift aber fein Philoſoph vom Fach, fondern von der That. Carriere erfennt das felbft an, er Hat das gute Wort: „Der, welcher das fittliche Ideal verwirklichte, hat es zugleich er gänzt, indem er die Selbftgenugfamfeit des griechiſchen Weiſen auf- hob in ber Liebe, die des Geſetzes Erfüllung und das Gute ift, deffen Befeligung fie in ihr felber fühlt, Jeſus von Naaret“ (S. 225). Aber warum wird diefer wirklich einzigartigen Perfönlich- feit dem faft feine Bedeutung zugefchrieben? Oder kann man denn von einem der andern großen Männer in der Gejchichte fagen, was hier Carriere von Jefus ausjagt: er Habe das fittlihe Jeal verwirklicht? Damit ift unendlich mehr gejagt, als Laſault von den Helden der Gefchichte rühmt: „Zu den fhönften und erhaben- ften Erfgeinungen im Leben der Völker gehören die geiftigen Heroen desjelben, die großen Männer, welche gerade zur reiten Zeit in den Entwickelungsperloden des Wöllerlebens mie lidjte Göttergeftalten erſcheinen und als die Träger der neuen, dat Leben geftaltenden Ideen, als Gründer und Wiederherſteller der

Zur Frage der fittlichen Weltordnung. 587

Religion und der Staaten auftreten, jene Männer, die wie Sproffen aus dem urfprünglichen Lebensfeime des Volkes, ja aus dem Herzen der Menſchheit ſelbſt geboren und eben darum mit ur« fprünglichen elementaren Kräften ausgerüftet, nicht bloß für ihre Zeit, fondern auf lange Fahrhunderte hinaus thatkräftig wirken.“ Das gilt von einem Luther; aber daß diefer das fittliche Ideal in der Weife wie Jeſus verwirklicht hat, wird niemand fagen wollen, Und aus demfelben Grunde ijt au der Tod Jeſu dem des So— trates nicht einfah an die Seite zu ftellen, wie das S. 306f, geſchieht. Jeſus ift überhaupt nicht in das richtige Verhältnis zu feiner Religion, oder fagen wir lieber zu dem von ihm geftife teten Gottesreich gefegt. Er ift nur Religionsſtifter wie Buddha oder Muhammed, nicht der lebendige Herr feiner Gemeinde, nicht derjenige, als welchen ihn unfer Glaube befennt: dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden übergeben ift. Garriere fagt nur: Jeſus verwirklicht das fittliche deal, er ftellt damit das durch die Sünde getrübte göttliche Ebenbilb, das verlorene Bewußtſein der Kindſchaft, der Wefensgemeinfhaft der Menſchen mit Gott wieder ber; fo ift er der Erlöfer, und indem wir ihm nachfolgen, fein Wefen in uns leben laffen, gehen wir durd ihn in das Himmelreich ein, das nicht mit äußeren Geberden kommt, fondern in uns ift, im Gewiffen als ſittliche Weltordnung fich bezeugt, die Einrichtung unferes Willens mit Gottewillen als die wahre Freiheit und Lebensvollendung“ (S. 377). Carriere fteht hier auf demfelben Standpunft wie Bunfen, auf welchen er ſich auch aus⸗ drüclich beruft. Er citiert aus deffen Werke: „Gott in der Ge⸗ ſchichte“, die folgende Stelle, welde den Kern des Ghriftentums darftellen foll: „Der Geift Gottes lebt in jedem Menſchen, welder ſich dem inneren Gottesbewußtiein nicht verfchliegt. Dieſes Ber wußtfein ift das urfprüngliche Wert Gottes in ihm. Es giebt eine wahre Offenbarung als durch den Geift Gottes im Menſchen, als durch menfchliche Perfönlichkeiten, an deren Spige ein ur- fprünglih Erleuchteter ſteht. Indem ſich der Menſch dem Emigen Hingiebt und ſich entſchließt, in Übereinftimmung mit den ewigen Weltgeſetzen (dem Willen Gottes) zu Leben, folgt er dem innerften Zriebe feines Wefens; und indem er ſich gedrungen fühlt, den

8 Bacmeifter

Liebesgebanten des Ewigen in ſich felbit zu verwirklichen, im Kaurpfe gegen das Boſe in ihm, fürdert er das Reich Gottes und dadurf den wahren Bortfchritt der Menſchheit. Jeſus Heißt deshalb der Sohn Boties, weil diefes Bemußtfein feine wahre Natur gewor den; alle Menſchen find aber Gottes Kinder (Söhne), und folle den Geift Gottes in ſich felbft finden, wenn fie Epriftus nad folgen. Er ift alfo der Heiland, der, durch welchen die Meufde heit ſich erlöft fühlt vom Drud der Sünde und verfähnt (wieder vereint) mit dem Ewigen.“ So weit Bunfen. Allerdings, wem das „der Kern des Ehriftentums ift“, dann ift die Kirche kaum mehr egiftenzberechtigt oder fo teformbebürftig, wie in dem dunkel⸗ ften Zeiten des Mittelalters. Wohl ift mit Befriedigung zu fon ftotieren, daß auch die Philofophie die Notwendigkeit einer Erlöfung und Berföhnung anertennt, womit fie eo ipso die kirchliche Vor⸗ ansfegung von der allgemeinen Sundhaftigkeit zugeftcht. Ebenje iſt die kirchliche Lehre von der andern Voransfegung der Erlöfung und Verföhnung gefihert durch Carrieres Anerkennung: Jefus verwirklicht das fittliche Ideal die Borausjegung der Eünde Iofigfeit Jeſu. Strauß hat wohl gewußt, weshalb er das in Ab⸗ rede zieht, wenn auch die angeführten Mängel, 3. B. das fehlende Finanztalent u. f. w., faft kindifch find. Uber der moderne Ratio nalismus ftellt e8 nun fo dar: Jeſus ift damit ſchon ber Erlöfe, daß im ihm das Bewußtſein von der Wejenseinheit des Menjchen mit Gott aufgegangen ift und daß er dies ift eine Errungen⸗ ſchaft der geſchichtlichen Unterſuchungen über das Leben Jeſu und eine Frucht de gefräftigten gejchichtlichen Sinnes diefed Ber wußtfein im Kampf gegen das Böfe behauptet, bethätigt Hat, und es bebarf unferfeits nur ein Ihm ⸗nachfolgen, Sein-Wefen-in-unk Teben-laffen“ dann find auch wir erlöft und ganz ebenfo Gottes Söhne, wie er der Gottes Sohn ift. Von dem Ießteren abgefchen, weiches übrigens in ſich fchlöffe, daß dann auch wir das fittlice Ideal in un verwirklichen müßten, ift es gewiß als eine Einfeitige keit zu betrachten, daß das Göttliche, .d. h. Gottes Gnade, nHllig verkürzt wird und der menſchliche Wille allein alles aucrichtet. Ausdrudlich verfigert Carriere, nachdem er die Notwendigkeit einer Wiedergeburt anerkannt Hatte, daß biefelbe doch nur umfere eigen

Zur Frage ber fittfichen Weltorduung. 609

Tat fein könme; und ald Grund dafür wird angeführt, fonft ber geände fie nicht das Gute in uns, dieſes fünne feine fremde Macht, mar der eigene Wille hervorbringen (S. 282 u. 238). Aber wenn wir die Parallele des Denkens beiziehen, ift denn das, was wir vom den Gedanken anderer aufnehmen, nicht auch unfer geiftiger Befig, und giebt es dem entfprechend nicht auch ein receptives Verhalten des Willens, ohne daß deſſen Weſen alteriert wird? 9a, dürfen wir vielleicht die Parallele noch weiter ausdehnen und fogen: wie e8 fein Wiffen ohne ein Objekt gäbe, wie das Denken zunuchſt an dem gegenftändlichen Sein erwacht und geübt wird, jo ſchopft auch der Wille nicht rein aus fi, aud er bedarf eines Objeltes, an dem er fi Abt, und das iſt in hochſter Beziehung Gottes Gebot. Weil aber, wie anerfannt wird, der Wille durch die Sünde geknechtet ift, fo bedarf er einer Erlöfung, die ihm ger fett wird, und feine erfte ganze That Hierbei ift, daß er ſich dieſelbe fehenten läßt. Carrier felbit citiert die Reden der Juder, 3 8. den Spruch:

Ich ging, du ftarker lichtet Gott, aus Schwachheit auf dem falſchen Weg, gieb Gnade, Almächtiger, Gnade!

Db ich in Waſſers Mitte ftand, tam über mich des Durftes Rot, gieb Gnade, Almägtiger, Gnade!“

Er nennt es „Herrliche Ausfprüche des religids»fittlihen Be—⸗ wußtſeins“, wenn es im indifchen Epos heißt:

„Ein jeber, der fein Inn'res von dem Guten losreißt, welche Schuld begeht er nicht! Gin Mäuber iR er an dem eignen Ichl

und wer nit aljo handelt, daß ber Michter in ber Bruft es billigt, bem find nimmerdar bie Götter gnädig.“

Es ift nur zu bedamern, daß biefe richtigen Begriffe Schuld und Gnade gar nicht verwertet find. Un dieſen hängt eigentlich

810 Bacmeifter, Zur Frage der fittfichen Weltordmung.

alles. Wird die Schuld als das gefaßt, was ihr Name fort, dann kann unmöglich an der That des Menſchen, fo wie Carrier und Bunfen fie beſchreiben, alles Liegen, dann muß die Gnade in ihr Recht eingefegt werden, und dann befommt die Berfon iu | eime ganz andere Stellung, und aud die Kirche mit ihren Gnade mitteln ift nicht mehr das Afchenbrödel. Aber der Grunbdirrtum des ganzen Werkes ift der, daß „ber Kern in allen Religionen der Glaube an die fittliche Weltordnung“ ift (S. 365). Man Kinmte zwar damit einverftanden fein, wenn man fich der Definition der | fittlichen Weltordnung erinnert, wonach „die moraliſche Weltord- mung, bie wirfende Vernunft Gott“ felbft ift (S. 102); danadı wäre der Kern aller Religionen der Glaube an Gott. Aber wenn wir eben dort leſen: „AU unfer Leben ift fein Leben, er iſt das Band der Geifter, ihre gemeinfchaftlihe Quelle und ihre Har- monie“, fo werden wir wieder fehr bedenklich, denn dann vers ſchwimmt das Weſen der Religion wieder, und das, was fie dem Menſchen unentbehrlich macht, die Rettung und. die Gewähr feiner Perſonlichteit oder kirchlich geredet, das Heil feiner Seele, ift in unabfehbare Ferne gerüdt. Es ift der Irrtum der pantheiftiſchen Philoſophie und frei davon ift auch Carrieres Philoſophie nicht —, daß über dem Ganzen ber Einzelne verfchwindet. Der an ſich feöne und wertvolle Gedanke der fittlihen Weltordnung darf nicht bloß wie des Himmels Blau fich über den Menfchen wöl ben, fondern muß wie das Sonnenlicht auf die Erde, ja in die Erde Hineinfcheinen, d. h. nur der perfönliche lebendige Gott, wie er ebenfo den einzelnen Menfchen wie die Menſchenwelt, ja die ganze Schöpfung im Auge hat, Ienft und vegiert, ift diefe Sonne; jenes Blau und jene Wölbung Löft fi dem Forſchenden auf, bie Sonne bleibt, je genauer man fie erforſcht. Es ift aber der welt geſchichtliche Beruf des Ehriftentums, diefen lebendigen perfönliden Gott der Welt geoffenbart zw Haben und fortwährend zu offen baren; darum ift diefes die abfolute Religion. Und wer derm Weſen genau erforſcht, wird finden, daß alles perſönlich gefaßt iſt, darum bleibt das Wort Chriſti unerſchüttert ftehen: „Niemand tommt zum Vater denn durch mid." Joh. 14, 6.

Der Gebrauch der Wörter dAnsea ac. 51k

2.

Der Gebrand der Wörter dA7Sera, almSrs und ahmS>ınos im Neuen Teitamente

auf Grund des alttefamentlichen Spracgebrandes unterfucht von

$. 6. Wendt.

Behufs einer genaueren Feſtſtellung der Bedeutung, welche die Begriffe AnIsıe, AAnIis und dAnIıvds im Sprachgebrauche des Neuen Teftamentes Haben, ſcheint es mir notwendig, zunächſt die entfprechenden hebräifchen Begriffe im Alten Teftamente zu prüfen.

Belannt ift, daß der Verbalftemm pode, von weldem bie Sub» ftantive nyg (= nygs) und my abgeleitet find, die Grund⸗ bedeutung des Zeftfeins Hat. Im Kal bedeutet das Verbum das Feftfein des Stügenden, Haltenden ); wenigftens findet ſich das Particip einige Male in der Bedeutung bes Wärters oder der Amme, welde das Kind auf dem Arme tragen (Num. 11, 12. 2Sam. 4, 4. Gef. 49, 23. Ruth 4, 16; vgl. das Part. pass.: Thren. 4, 5) und in ber von Bier aus erweiterten Bedeutung des Erzichers (2Reg. 10, 1: 5. Efth. 2, 7). Im Niphal bedeutet das Berbum das Zeftfein des fih Stügenden, Gehaltenen. So wird es zuerft gebraucht von dem Zeftfigen des getragenen Kindes "Zei. 60, 4), dann von dem Feſtſein des mwohlbegründeten Haufes "1 Sam. 2, 35; 25, 28. 2Sam. 7, 16. 1Reg. 11, 38) und yon dem Feſtſein des Plages, an welchem ein Pfloc feine ſichere Stelle findet (Jeſ. 22, 23. 25). In erweiterter Bedeutung wird 8 ef. T, 9 'gebraucdht zur Bezeichnung bes Feſtſeins von Per⸗ onen binfihtlic ihres politifchen Zuftandes; wir können den ge-

3) Bgl. 2Reg. 18, 16: MIHNT „bie (eine Thür tragenden) Pfeiler“.

“2 Bendt

nauen Sinn dieſer Stelle mit ihrer pointierten Gegenüberftellug bes Hiphil und des Niphal wohl folgendermaßen wiebergehm: „Wenn ihr nicht [Oott] zu einer feften Stüge macht, fo Habt ir keine Feſtigkeit. An der Stelle Hiob 12, 20 find die „Sehe“, denen Gott die Sprache entzieht, Die in ber RNedekunft Sicherer.

Bon bejonberer Wichtigkeit find dann aber folgende Wendungen, welche die Bedeutung des Niphal nimmt.

Erſtlich wird es gebraucht zur Bezeichnung des richtigen Über- einftimmens von Ausfagen oder Erſcheinungen mit der Wirklichkeit, welde fie zur Darftellung bringen. Die Wirklichkeit iſt Bier ge wiffermaßen als die Grundlage gedacht, welche den Ausſagen oder Erſcheinungen Feftigfeit verleiht. Wir überfegen das Wort dam duch „wahr fein“. So finden wir es von Worten und Offen barungen (Gen. 42, 20. Hof. 5, 9. 1Reg. 8, 26. 1Chron. 17, 23f. 2Chron. 1, 9; 6, 17) und von ausfagenden Berjonen gebraudht (Jeſ. 8, 2. Ger. 42, 5. Bf. 89, 38). Mit Bay auf Erideinungen ift es an den Stellen Deut. 28, 59. gef. 33, 16 und Jer. 15, 18 gebraucht, wo das „Feftjein“ der Krank» heiten oder des Waſſers bedeutet, daß der Aufere Anſchein deriel- ben, welcher auch täufchen Fönnte, mit der Wirklichkeit überein ftimmt, daß es alfo wahre, richtige Kranffeiten und wahres, rid- tiges Waſſer find ).

1) Gewögulich findet man am biejen drei Tepten Gteflen JOR] die Dre deutung „dauerhaft, beſtäudig fein“. Die oben angenommene Bedeutung ſcheiut mie aber deu Vorzug zu verdienen, I) weil an der Stelle Ser. 15, 18, mie wiederum zur Erklärung der anderen beiden Stellen bient, im dem Begriffe EM IE die Vorfellung des unwahren Scheines des Waſſers ber Rünmt vorliegt, daß es am 'einfachften if, in dem erlänternben Bufake AAN) eben dieſe Borftellung fortgefegt zu finden; 2) weil, wie wir nachher fehen werben, in ganz analogen Fällen MAN die Richtigkeit im Gegeufage zum falſchen Scheine oder zur falſchen Borflellung bebeutet; 3) weil amd; font die Bedeutung der Dauerhaftigfit dem Stammworte ON und bem aßgeleiteter Worten wicht direkt anhaftet. Auch TAI MIIF bedeutet zumächft eim fehek, ſe · Üibes Haus, und nur fofern das Haus dann zur bildlichen Wezeidenug ber Nachtommenſchaft dient und wir in der Überfegung gleich das Bill anfldfen, gewinnt das Epitheton die Bedeutung „dauernd“, weil eben bei einer Rachtommenſchaft ſich die Feſtigkeit in ihrer zeitlichen Fortdauer derfel

Der Gebrauch der Wörter dAjdeie ıc. 518

Zweitens aber wird das Niphal gebraucht zur Bezeichnung auch anderer Arten richtigen Übereinftimmens ober richtig entſprechenden Verhaltens. So wird es vorzugsweiſe gebraucht von der richtigen Korrefpondenzg, in welcher das ethifche Verhalten einer Perſon gu beftimmten verpflichtenden WBerhiftmifien oder Thatſachen fteht. Wir überfegen es in diefen Fällen duch „tren fein“. Die Bere ſchiedenheit diefer Bedeutung von der auf Ausfagen oder Erſchei⸗ mungen oder Erkenntniſſe beziiglichen Bedentung des Wahrfeins erhellt befonders deutlich aus einer Stelle wie Prov. 11, 13, wo es von dem minang im Gegenfage zu bem die Grheimniſſe aus Hlandernden Ohrenbläfer Heißt, er verherge das Wort. Yu biefer Bedeutung wird mun das Wort ansgefagt von Perfonen, ſofern fie im allgemeinen jenes den Verpflichtungen entſprechende ethiſche Verhalten üben (Bf. 101, 6. Prob. 11, 18. Nehem. 18, 18) 2), oder fofern fie es in einem befonderen verpflichtenden Verhältniſfe üben: vom Knechte (Num. 12, 7. 1:Sam. 22, 14), vom Boten (Brov. 25, 13), vom Priefter (1Sam. 2, 35) oder vom Gott in feinem Berhäftniffe zum Velfe IJsrael (Deut. 7, 9. Hof. 12, 1. ef. 49, 7), oder von den Ssrneliten in ihrem Ber häftniffe zu Gott (Yef. 1, 21. 26. Pf. 78, 37). Weiter wird es ausgeſagt von der perfünlichen Gefinnung, fofern fie ſich auf iemes ethifcje Berhalten richtet (Pf. 78, 8. Nehem. 9, 8) und endlich von Äußerungen und Bethätigumgen bes Witlens, fofern ſich im ihmen jenes Verhalten bewährt: von dem Bunde Gottes (Bi. 89, 29) und von feinen Hulderweiſungen (Jeſ. 55, 3). Etwas anderer Art ift das durch yony bezeichnete „Richtigfein" an olgenden Stellen. Die Uutfage Prev. 27, 6: Aye ıyp DON edeutet: &ereht find die Wunden, die der Liebende fchlägt.“ In ®. 19, 8; 93, 5 und 111, 7 aber werden wir das von en Verordnungen Gottes ausgeſagte joy Überfegen: „anges 1ejfen fein“; der Siam ift nicht, daß dieje Verordnungen wahr ind, d. h. etwas Wirkliches richtig zum Ausdruck Bringen, fonbern 28 fie den Dingen und Berhältniffen, auf welche fie ſich beziehen,

1) Im dem gleichen Ginne, wie an dieſen Stellen das Particip TON ird das Adjectivum ION gebraudt: Pi. 12, 2 u. 31, 24. Tpeol. Stad. Dahrs. 188. 34

514 Bendt

inſofern richtig entfprechend find, als fie diefelben im zutreffen Weiſe regeln *).

Daß aud) bei diefer Verwendung des Wortes im übertragen Bedeutung die finnfihe Grundbebeutung des Feſtſeins dem Be mußtfein des Hebräers nicht ganz entfchwunden ift, Täßt fi nd daran erkennen, wie 1Sam. 2, 35 dem ſpoy ja ein yamma verheißen wird, wo das gleiche Attribut doch offenbar eine gleide Beſchaffenheit bei dem Priefter und dem Haufe bezeichnen jal, wie ferner das og Pf. 111, 7 erläutert wird durch den Zu fag 8. 8: ph upop, oder wie es in Pi. 78, 37 im Parallib gliede zu der Ausfage MrI72 ua) 8 in ganz ähnlichem bildlichen Ausdrude Heißt: „Ihr Herz ftand nicht aufrecht (iaz-sb) mit ipm* (ogl. Bere 8).

Auf die Bebeutung des Hiphil brauden mir Hier für unſeren Bwed nicht einzugehen.

Ganz analoge Bedeutungen wie beim Niphal von yox nehmen wir nun wahr bei den Gubftantiven mpg und mag. Über bie Trage, ob fi) beim Verbum dieſe Bedeutung in Abhängigkeit von den Bedeutungen, welche die Subftantive allmählich angenommm hatten, entiwidelt haben, oder ob das Abhängigkeitöverhältnis en umgefehrtes iſt, laſſe ich das Urteil dahingeftellt. Teils der Küng halber, teils um das Maß der. zwifchen beiden Subftantiven be ftehenden Spnonymität deutlich hervortreten zu laſſen, Halte ich e# für zwedimäßig, die beiden Subftantiva nicht getrennt von einander, fondern in Verbindung mit einander zu betrachten.

1..Die finnlihe Grundbedentung der durch gute Stügung kr geftellten Feſtigkeit findet fi ganz rein nur einmal bei mx naml. Exr. 17,12, wo es von ben geftüßten Händen Moſes heißt: „fie wurden F“. Zur Bezeichnung der ſoliden Sicherheit eines politischen -Zuftandes, aljo in analogem Sinne, wie yayy an der Stelle Jeſ. 7, 9, wird mehrfach muy gebraucht. So in der Verbindung nam big: Ger. 33, 6. Jeſ. 39, 8. 2Reg. 20,19.

1) Die Rechtfertigung biefer Auffaffungen des Wortes an dem vier zulht genannten Stellen liegt in ben analogen Bedeutungen, welche wir nachher fr MIN und ON finden werden.

Der Gebraud; der Wörter dAjdera ac. 515

Et. 9, 80 oder nyy op: Ser. 14, 13; ohne dieſe Verbindung nur 2Chron. 32, 1: „nad; diefen Begebenheiten und diefer 'x*, d. i. nad) dem in ben vorangehenden Kapiteln gefchilderten Fries denszuftande im Gegenfage zu den in Rap. 32 zu berichtenben Kriegsläuften. mon findet fic in dem gleichen Sinne Jeſ. 33, 6: „es wird ‘x (d. i. Sicherheit) deiner Zeiten fein“ 1).

II. Häufig bezeichnet dann ng bei Ausfagen oder Vorftellungen oder Erſcheinungen die Feſtigkeit oder Gültigkeit, welche diefelben infofern Haben, als fie etwas Wirkliches richtig zum Ausdrud oͤringen: d. i. die Wahrheit. So heißt es von Wortausſagen, daß fie nyy find, oder Worte der d find, oder x zum Gegen- ftande Haben, im Gegenfage zum Irrtum oder zur Lüge: Gen. 42, 16. Deut. 13, 15; 17, 4; 22, 20. 2ſam. 7, 28. 1Reg. 10, 6; 17, 24; 22, 16. Jeſ. 43, 9. Jer. 9, 4. Sad. 8, 16. ®f. 119, 160; 182, 11. Prov. 22, 21. Kohel. 12, 10. Dan. 10, 1; 11, 2. 2Chron. 9, 5; 18, 15; ebenfo von einem Zeichen: Joſ. 2, 12; von einer Schrift: Dan. 10, 21; von einer Viſion: Dan. 8, 26; von Lippen: Prov. 12, 19; von Zeugen: Ser. 42, 5. Prov. 14, 25. So heißt e8 ferner, etwas fei oder ge⸗ ſchehe max, d. i. richtig fo, wie man es fagt ober benft, oder wie andere es fagen oder meinen: Jud. 9, 15. Ser. 26, 15; 28, 92). Wenn die durch my bezeichnete Übereinftimmung mit der Wirklichkeit darin befteht, daß Worte ober Handlungen, welche eine beftimmte Gefinnung zum Ausdrude bringen, wirklich anf der Gefinnung beruhen, welche fie ausdrücken, jo gewinnt der Begriff die Bedeutung der Aufrichtigkeit im- Gegenſatze zur Heuchelei. Vorzugsweife wird er in biefem Sinne mit Bezug auf religtöfe

2) Bgl. 2Cam. 20, 19: DNPr OR bp, d. i. „feiebfame, ſichere Eente) Ieraclo”. Es foll am biefer Stelle geroiß nicht der moralifche, ſondern der politifche Zuftend der Einwohner der Siadt Abel gelobt werben.

2) In dem gleichen Ginme werden bie Abverbia DIHN wab (in eageägen) EION „fihierlich, gewih“ gebrandit, um die Richtigkeit deffen, was man fagt »der Denkt, zu befräftigen, bzw. um die Richtigkeit einer Ansfage oder Bore tellung in frage zu ziehen: Gen. 20, 12. Joſ. 7, 20. 2Reg. 19, 17. Ief. 17, 18. Siob 9, 2; 12, 2; 19, 4. 5; 84, 12; 38, 4. Muth 8, 12. Gem. 8, 18. Rum. 22, 87. 1Reg. 8, 27. 2@hron. 6, 18. Bi. 58, 2.

sa”

516 Bendt

Funktionen angewendet, fofern biefefben nicht bloß äußerlich volle zogen werden, ſondern wehrer Ausdruck frommer "Gefiunung find: in Tioeg wandelt der Fromme vor Gott (1 Reg. 2, 4; 3, 6, 2Reg. 20, 3), ober bient er Gott (of. 24, 14. i Sam. 12,24), ober ftügt er ſich auf Gott (Jeſ. 10, 20), eder ſchwört er ki Gott (Jeſ. 48, 1. Jer. 4, 2), oder ruft er Gott am (Bi. 145, 18). Bon der Aufrichtigkeit Gottes bei feinem Verfahren gegen über feinem Wolle wird das Wort fo gebraucht: Ser. 32, 41, vielleicht auch Sach. 8, 8. In faft allen diefen Fällen ift ag mit einem parallelen Ausdrucke verbunden, welcher entweder nog befonder® amgiebt, daß das betreffende äußere Verhalten in der inneren Gefinnung feinen Grund Hat (35 -b77 ober op aba), oder aber in anderer Weiſe bie fittliche Rechtbeſchaffenheit des Subjektes bei diejem Verhalten hervorhebt (MpIyp oder Dana). Endlich bedeutet gig einigemafe, in analoger Weiſt wie joyy an den Stellen Deut. 28, 59. Jeſ. 38, 16. Jer. 15,18, die Rich⸗ Higfeit, welche eine Sade infofeen Kat, als ihr äußerer Anfıhein oder die Vorfteliung, welde man ſich über fie gebildet Sat, der Wirklichleit entſpricht: na yr7 (Gen. 24, 48) bedeutet „richtiger Weg”, welder nicht trügeriſch fo erfdeint, als führe er zu dem brabfigtigten. Ziele; np xx (2Ehron. 15, 3 vgl. Jer. 10, 10) „richtiger Gott“, weicher nicht fätfhlih für Gott gehaften ae ald Gott verehrt wird; mo ya (Ger. 2, 21) „richtiger Same.

Das Wort mymy wird in dieſer Bedeutung nicht gebrandt. Un einigen Stellen Liegt es beim erften Anblid nahe, diefe Ber deutung anzunejmen (j. B. Ger. 7, 28. Prov. 12, 17 vgl. 8. 19. 2Chron. 19, 9); aber ‚eine genauere Betrachtung zeigt doch, daf hier vielmehr die Bedeutung der im Folgenden zu er Örternden Kategorie vorliegt.

II. Sowohl nyy als auch zymy bedeuten an Tehr zahlreichen Stellen nit die „Teftigkeit“, welche Ausfagen oder Erſcheinungen oder Borfteliuugen dadurch Haben, daß fie eiwas Wirkliches aut dructen oder darftellen, fondern eime „Zeftigleit“, welche bei Gand- nngen, Kußerungen oder Geflnmmgen durch ein anderdartiget richtiges Rorrefpondieren zu etwas Begebenem, Beſtehendem her geftellt wird. Je nach der befonderen Art der korrejpondierenden

Der Gebrauch; der Wörter dAyj9eıa ıc. 617

beʒichung nehmen die Worte dann die Bedeutung der Gerech⸗ tigleit ober der Angemeſſenheit oder der Pflichttreue an.

So bezeichnen die beiden Worte zuerft die Gerechtigkeit, welche gebührend urteilt: und vorgilt. nyx wird.in diefer Beeutung am folgenden Steffen. gebraucht. uf, 42, 3 heißt es: „(der Knecht Jahves) wird dh das Gericht ausgehen: laſſen“; &d, 18, 8 und Sach. 7, 9; 8, 16 iſt von der Ausübung. von run die Rede; Prov. 29, 14 vom Könige, welcher da die Innen richtet. Entſprechende Belohnung gefjhicht in. 'x (Gef. 61, 8: „ich gebe ihren. Sogn 3%, d. i. gebührend, wie er ver⸗ dent ift; Prod. 11, 18: -naiy); entiprechende Beſtrafung chen fal, (Pf. 54, 7: „er [Gott] wird das Böſe meinen Wider⸗ fagern vergelten; in deiner '; x vertilge fiel"). Sierher werden mir auch die Stelle Pf. 119, 43 ziehen dürfen, wo das max 27, um. beffen, Bewahrung der Dichter bittet, nicht, als. „Wahrheits- wort", fondern als „gebührendes Wort*: zu faffen fein wird, in⸗ dem der Gedanke der Bitte in Beziehung. zu dem vorangehenden Berie fteht, wo es Heißt: „ic werde Antivort geben meinem Schmäher“. Nicht darauf, daß der Inhalt feines Wortes der Birffichkeit entfpricht, fondern darauf, daß derſelbe für -die Schmä« dungen des Gegners eine gebührende Entgegnung bildet, kommt es m Bittenden · an. tywdꝛ wird in gleichem Sinne gebraucht Bi. 96, 13: „Fahve richtet den Erdkreis in pyy und die Volker n feiner 'y#; und ebenfo Pf. 119, 75: „ich weiß, Jahre, daß M beine Gerichte find und ® (d& i. gebührend, wie ich e8- vers, inte) du mich gedemütigt Haft“ %).

Wenn an diefen Stellen unfere: beiden Worte mit Beyug- auf ie Funktionen des. Richters angewendet: find, fo finden- wir fte n einigen- anderen Stellen mit Bezug auf die des Gefeggebers raucht. Won den dophrd, ber my, bden- mini, der niyo heites Heißt es, fie ſeien mu: Pf. 19, 105.119, 142. 151. !h. 9, 18. Im Munde Levis war nya nam: Mal. 2, 6. benfo wird np gebraudt Pf: 119, 86: „alle- Gehote Gottes

3) Bgl. die oben (©. 518) berüdfichtigte Stelle Brov., 27, 6: „Die unden, die ber Licbende ſchlagt, find BA“ (d. i. geremt).

518 Bendt

find '* (vgl. 8. 138). Der Sim ift Hier chenfo wie am ben oben (S. 513) angeführten Stellen, wo ug in analogen Aus fagen gebraucht ift, daß die Geſetze infofern Richtigkeit haben, als fie den Dingen, Verhältniffen und Perfonen, auf welde fr fih beziehen, angemeffen find, fo daß ein gutes Berhalten herausfommt, wenn fie in Geltung find.

Dann fommt für und nun eine große Reihe von Stellen in Betracht, wo aus dem Zufammenhange zunächſt das Negative far ift, dag mpg und npox die auf Ausſagen und Vorftellungen fih begiehende Wahrheit jedenfalls nicht bedeuten. Sehr Häufig er ſcheint der eine oder der andere Ausdruck als Objeft oder als Prädikat oder mittelft einer Präpofition als adverbielle Näher- beftunmung mit igy verbunden, fo daß man hieraus erficht, es ſei eine beftimmte Art praftifchen Verhaltens gemeint (mu: Gen. 24, 49; 32, 11; 47, 29. Joſ. 2, 14. Ju. 9, 16.19. 2 Sam. 2, 6. Eyeh. 18, 19. Pf. 111, 7f. Neem. 9, 33. 2 Ehron. 34, 20. nymy,: 2 Reg. 12, 16, 22,7. Jeſ. 25,1. Pſ. 33, 4. Prov. 12, 22, 2Chron. 19, 9; 34, 12). ferner werden die beiden Ausdrücke einerfeits oft in koordinierende Ber- bindung geftelit mit anderen Worten, melde bie fittliche Rechthe ſchaffenheit ganz im allgemeinen bedeuten, mit mpg, yr, DD, ago? und anderen (3. B. 1 Sam. 26, 23. Jef. 11, 5; 59, 14 Sad. 8, 8. Pf. 15, 2; 111, 8; 143, 1. 2 Chron. 31, 20), anderfeits in Gegenfag zu dem Gittlih-Böfen im allgemeinen, (Deut. 32, 4. Prov. 8, 7. Nehem. 9, 33; vgl. Jeſ. 59, 15. Pſ. 51, 4f.). Wir müffen den befonderen Sinn von rg und apoy auch in diefen Fällen darin finden, dag fie eine ſolche gute Beſchaffenheit oder ein ſolches gutes Verhalten bezeichnen, wie es durch ein, richtiges Entfprechen gegenüber Beſtehendem, Gegebenem hergeftellt wird, die Pflichtt reue nämlich in den verfchiebenften Formen, in welder man den beftchenden verpflictenden Verhält- niffen oder Erfahrungen oder Handlungen oder Zufagen gebührend entſpricht 1). So find die na Wan „welde (unrechten) Gewinn

1) Im dem gleichen Sinne wird TON Deut. 32, 20 und DYNOX Ye.

26, 2. Prov. 18, 17; 20, 6 gebrandt. An der Stelle Prov. 14, 5 aber wirt der DINDON IX 018 „Zeuge der Wahrheit” zu überſetzen fein.

Der Gebrauch der Wörter Andere x. 519

Haffen* (Er. 18, 21; vgl. Nehem. 7, 2) und der nina wi, welcher einem ſolchen gegenübergeftelft ift, der „ſich drängt reich zu werden“ (Prov. 28, 20): „pflichttreme Leute“, welche ſich von dem ihnen pflichtmäßig obliegenden Handeln dur feine Ruckſichten auf ihren äußeren Vorteil abbringen laſſen. Wenn Jotham zu den Sichemiten darüber redet, ob fie nyx2 gehandelt Haben, indem fie den Wbimelch zum Sönige gemacht Haben (Jud. 9, 16.19), fo ift feine Meinung, wie aus dem Zufammen« ange der Worte deutlich Hervorgeht, ob fie in biefem Verfahren den Verpflichtungen, welche fie gegen Jerubbaal und fein Haus Haben, entſprochen Haben und „gemäß dem, was feine Hände ihnen er» wiefen haben, ihm gethan haben“ (3. 16). Wenn es mit. Bezug auf Beamte, und zwar vorzugsweife auf folhe, denen die Bes wahrung oder Verteilung von Geldern obliegt, Heißt, fie hätten yroyy fungiert (2 Reg. 12, 16; 22, 7. 2 Chrom. 31, 12. 15. 18; 34, 12), fo ift der Sinn, man hätte ſich auf die Amts⸗ treue diefer Leute bei ihrer Thätigfeit verlaſſen, oder verlaffen können, ohne eine andere als diefe moralifhe Garantie zu verlangen. In der gleichen Bedeutung werden unfere beiden Worte auf Gott bezogen; fie bezeichnen die Eigenſchaft Gottes oder die Art des Berhaltens Gottes, in welcher er trew den Verpflichtungen ent« ſpricht, welche durch feine Bundfgließung mit dem Volke Israel und durch fein Verhältnis zu den einzelnen Frommen bedingt find. Deshalb erwartet der Fromme, daß bie myy oder die mpmx Gottes oder Bott vermöge derfelben ihn erhöre in den Zeiten der Not (Bf. 69, 14; 148, 1), ihn errette und beſchirme (Bf. 31, 6; 91, 4) und ihn auf feinem Wege leite (Pf. 25, 5; 43, 3).

1) In den an Gott gerichteten Ausſagen Pf. 86, 11: „ic will wandeln FMPF“ und Dan. 9, 13: „ir flehten nicht zu Gott, um uns abzukehren von unferen Sünden und um klug zu ſein TMPNI“ find die an MN ange hängten Suffira fo zu verſtehen, daß fie Gott nicht ale Gubjett, ſondern ale Objekt der geübten Treue bezeichnen: alfo „in Treue gegen di“. Au der Stelle Pi. 26, 3: MONI Aabann iſt dagegen durch die vorangehenden Worte: „deine Huld if vor meinen Augen“ ber Sinn angezeigt: „in deiner (. i. der von dir erwiefenen) Treue ergebe ich mich”, d. h. ich beichäftige mich mit ihr in meinen Gebanten.

So umijeikend zun aber das darch die beiden Worte bezeichnete Fülic-gate Berheften ijt, indem chem für cimem jedem die treue Erfüllung der jür ihm befichenden beionberen Berpilictumgen bie ftlihe Hauptaufgabe bildet, je erhellt dach, dal eine beftimmte fein fan, nämfih nicht des olme befichende Verpflichtung oder gar irog erfahrener Unbill zunortommende, neu anfnüpjende, verföhnlige Verhalten. Das if der Grund, weshalb nor uud yızae je ungemein häufig verbunden werden wit 90; dem Die derch Dieie beiben Begriffe bezeichneten Berhaltungsweifen er gänzen einamber: die Huld, weiche durch ihre freie Kiebeserweijung mene Gemeiniceftsverhältnife ftiftet oder in dem beftehenden über Gebühr Wehlihaten erweilt oder die fduldvoll umterbradesen Ge- meinfhaften guabenvoll wieder aufuimmt, und die Bflidttreme, weiche gebüßrend die empfangenen Güter und Wohligaten vergilt, bie beftchenden Gemeinjhaftsverhättnife durch entiprehenee Be thätigung aufredit erhält und aud die freiwillig und gnadenmäßig übernemmenes Berpflidtungen gewiſſenhaft erfüllt. Worzugsmeife wirb fo als nom on oder (eiwas feltener, nur in Pſalmen vosfommend) ymmı 'n der Snbegriff des heilsmäßigen Verhaltens Gottes gegenüber feinen Frommen und feinem Volke bezeichnet und gepriefen: Gen. 24, 27; 32, 11. Er. 34, 6. 2 Sam. 2, 6; 15, 20. Mid. 7, 20. ®f. 25, 10; 36, 6; 40, 11f.; 57, 4 11; 61, 8; 86, 15; 89, 23. 15. 25. 34; 92, 3; 98, 3; 100, 5; 108, 5; 115, 1; 117,2; 138,2. Aber auch Maschen erweifen fid) einander 'ry und ne (Gen. 24, 49; 47, 29, Zei. 2, 14. ®rov. 16, 6; 20, 28; vgl. Jeſ. 16, 5), und das Borhandenfein dieſes Doppelverhaltens im Volke wird als da takteriftifches Merkmal eines guten und glücklichen Zuftandes ans gegeben (Bf. 85, 11; vgl. Hof. 4, 1). An den Stellen Preu. 3, 2; 14, 22 ift vom Erfahrung von ’xy '7 die Rede, pne deß fpeziell Gott oder fpeziel die Menfchen als bie dieſes Bere halten Erweiſenden genannt und gedacht find: die Erfahrung zes Outem im allgemeinen ift gemeint.

Nicht an allen Stellen, wo nyx vorfommt, läßt fih mit Be ftimmtheit erfennen, ob die von uns unter II oder III angegebene

Der Gebrauch der Wörter dAjIea ıc. [718

Bedeutung verliegt. Wir dürfen wohl annehmen, daß in ſolchen Fällen au für dag Bewußtfein der Scheififtelier nicht beftimmt nur die eine oder die andere Bedeutung Play gehabt Bat. Wen 8 Bi. 119, 160 Heißt: „die Summe beines (Gottes) Wortes, ift g*; oder Sach. 8, 16: „redet d gegen einander“ ; ober Prob. 8,7: „y fiunt mein Gaumen und Greuel für meine Lippen ift Boſes“, fo find mir einerſeits durch die Beziehung der ’'x auf Ausfogem aufgefordert, fie von der Wahrheit im Gegenfage zur Lüge zu verftehen; anberfeits ijt ee durch den Bufanmenhang. nahegelegt, die Angemeſſenheit, Gerechtigfeit, Treue mithezeichnet zu finden, alfa dem Worte auch die Bedeutung zuzumelfen, welche wit für yung annehmen, wo dieſes Wort mit Bezug auf Aut Tagen gebraucht ift (Ger. 7, 28; 9, 2. PBrav. 12, 17. Pi. 119, 86. 138). Den gleichen, ſowohl die Wahrheit des Aus⸗ fagens als aush die Treue des Handelns umfafjenden Sinn merden, wir daun aber aud an anderen Stellen annehmen, wo. von may geredet wird, 3. B. Gef. 59, I4f.: „es wankt anf dem Blage y, und die V ift. verlaſſta“; Sach. 8, 19: „liebet bie 'x und den Frieden" ; Prov. 23, 28: „'y kaufe und verkaufe nicht, Weispeit und Zucht und Beeftand“.

Wir können das Mefultat unferer biöherigen Unterſuchung folgen- dermaßen zufammenfafien. Das Wort ng hat einen viel umfafien- veren Sinn als unfer Wort „Wahrheit“, und zwar wäre es nicht tichtig, dieſen umfoffenderen Sina nur als eine fehmbäre Er⸗ veiterung des Simes „Wahrheit“, welder den eigentliches und. viehtigften Sinn: des Wortes darftallte, zu. betrachten. Sondern uf Grund der urſprünglichen finnficgen Bedeutung der durch, Stügen hergeſtellen Feſtigke it bezeichnet das Wort in Über ragung auf Außerungen oder Handlungen oder Gedanken, ber chungsmeiſe anf Perſoner, ſofern fie eben aber Handeln oder enten, eing ſolche „Beftigkeit*, d. h. einen felhen gültigen guten. Beftanıd, wie ihn biefefben dadurch gewinnen, daß fie fih auf etwas Jeſtehendes, Gegebenes in genau entiprechenber Weife beziehen, ſich wiffermagen auf dasfelbe ftügend. Unfer Wort „Beftigfeit“ ‘auchen wir nicht in dieſem übertragenen Sinne; das Wort Richtigkeit“ giebt den allgemeinen Sinn des hebräifshen Wortes

522 Bendt

vielleicht am beiten, und doch infofern nur ungenügend wieder, ld wir fpeziell die Korreſpondenz, in welcher ein pflichttreues Verhalten zu den verpflichtenden Verhältniffen und Thatſachen fteht, nit ale „Richtigkeit“ zu bezeichnen gewohnt find. Die Wahrheit, welche darin befteht, daß Äußerungen in Wort oder That, Cr ſcheinungen oder Borftellungen etwas Wirkliches ausdrücken oder darftellen und in dieſer Bezugnahme auf Wirkliches ihre intellet⸗ tuelle Gültigkeit Haben, bildet die eine Art der durch mye ber zeichneten „Richtigkeit“ ; ihr koordiniert find als andere Arten diefer Richtigkeit“ die Pflichttreue, Gerechtigleit, Angemeffenheit, welche darin beftehen, daß Handlungen oder Ausfagen oder Gedanken den in gegebenen Verhältniffen oder Thatſachen liegenden Forderungen gebührend entſprechen und in diefem gebührenden Ent fpregen ihren moraliſchen, bezw. rechtlichen Wohlbeſtand Haben. Mit noy ſtimmt nymy in der allgemeinen Bedeutung ganz überein, unterjcheidet fi aber im Gebrauche infofern, als zur Bezeichnung dev befonderen Art der Nichtigkeit, welche auf intellektuellem Gebiete durch die Übereinftimmung von Äußerungen ober Erfceinungen oder BVorftellungen mit der Wirklichleit her geftelt wird, nur gg und nit mymy gebraudt wird.

Die Bebeutung der Worte p)y und mpg iſt mit derjenigen unferer beiden Begriffe nahe verwandt und doch auch beftimmt von ihr gefchieden. Auch jene beiden Worte bedeuten „NMichtigkeit", aber genauer die Richtigkeit, welche auf der Übereinftimmung mit einer Norm beruht, alſo die „Megelrichtigleit“ 2). In einer An wendung dedt fih nun freilich diefer Sinn ganz mit dem von np, ba nämlich, wo pyy in der Weife von Worten gebrandt wird, daß die Wirklichkeit als die Norm gedacht iſt, welcher die Worte richtig entſprechen; deun Gier bedeutet pıy einfach „Wahr heit“, 3. B. Bi. 52: „Du lichſt Luge mehr als zu reden "y“, Prev. 8, 8 u. 5.9). Nur zweifelnd wird man dagegen die Gleiqhe- deutung don mg ober may mit pry oder mpg in Betracht zichen,

1) Bol. E. Kautzſch, Über die Derivate des Stammes PS im altirkament- lichen Sprachgebraud; (Programm; Tübingen 1881), ©. 27 ff. 2) Bol. Kaupfh a. a. D, ©. 80.

Dev Gebraud; der Wörter dAjdeıe ıc. 5233

wo dieſe Begriffe mit Bezug auf richterliche Funktionen ange wendet find )Y. Denn bier wird es ſich doch fragen, ob nicht die Verſchiedenheit des Sinnes darin befteht, daß jene erfteren Worte die Gerechtigkeit bezeichnen, fofern diejelbe in der genauen Korre⸗ ſpondenz zwiſchen dem Urteile oder der Bergeltung und bem ber urteiften oder vergoltenen Thatbeftande liegt, während die anderen beiden Worte die Gerechtigkeit bezeichnen, fofern diefelbe in der genauen Kongruenz des Urtelles ober der Vergeltung mit der für das Urteilen und Vergelten gültigen Gefegesnorm befteht. Wo es fi dann aber um die Anwendung der genannten Begriffe auf die ethiſch gute Beſchaffenheit oder das ethifch-gute Verhalten, ſei es der Menſchen, ſei es Gottes, handelt, geſtaltet ſich die Ver⸗ ſchiedenheit der Bedeutung folgendermaßen. Da bedeuten pry ober 8, daß die Befchaffenheit oder das Verhalten infofern gut find, als fie den irgendwie gegebenen, ethiſch gültigen Normen gemäß find, welche beftimmen, was für das betreffende ethiſche Subjekt gut it, und was nicht gut; mug oder mymy aber bedeuten, daß die Beſchaffenheit oder das Verhalten infofern gut find, als es zum wefentlichen Inhalte des durch jene ethlich gültigen Normen beftimmten Verhaltens gehört, daß eine folche ethifche Wechſel- wirkung ftattfinde, in welcher fid neue Leiſtungen in entſprechender Weiſe auf früßere Erfahrungen oder auf beftehende verpflichtende Berhäftniffe oder Zufagen beziehen. pIy und mp Haben aljo eine viel allgemeinere Bedeutung als umnfere beiden Worte; fie tönnen auch den ganzen Umtreis besjenigen normgemüßen Gute verhaltens umfaffen, welches fich nicht in der Erfüllung der bes ftehenden Verpflichtungen, fondern darüber Hinausgehend in der Erweifung unverbienter, gnadenvoller Liebe bewegt; diefe Art des Gutverhaftens ift, wie oben bemerkt wurde, im Begriffe der Dom oder mpg nicht mit eingefchlöffen.

Die Septuaginta haben das Niphal joxy ſowohl wo «8 „wahr fein“, als aud wo es „treu, gerecht, angemefien fein”

1) Bgl. Kautzſch a. a. D., ©. 80f. 38. 42.

524 Bendt

bebeutet, durchgehende duch zugrescdas (mur Ser. 15,. 18: nlarıv Eye) ober, wo €6 im Particip gebraudit- ift, durch nuosds (Prev, 27, 6: afsörsarag) wiedergegeben.

In der Stelle GE 17, 12, wo das Wort my im ber urfprünglices Bebeutung der geitäßten Weftigleit von den Händen Moſes gebrandt ift, haben die Septuaginta überfett: dysrarzo ab yaiges demgıyndvar,.

Souſt: Haben fie. tiefes Wort in doppelter Weife wiedergegeben. Saft bei der Hälfte der Stellen überfogen fie es durch minus @. 8. 1Sem. 26, 28. Ier. 5, 1.8; 7, 28; 9, 3); und Hieran fliehen ſich die Stellen Deut. 32, 4, wo fie es durch raasdg, und Prov. 28, 20, wo fie es durch afsozosog wieder geben. Bei der anderen Hälfte der Stellen. bagegen überfegen fie es durch aAjIsıa. Hierher gehören einerfeits mit Ausnagme von Bj. 33 (82), 4, wo. fie zuiossg brauchen, und von Bi. 37 (36), 3, wo fie den Sinn des Urtertes ganz. verlaffen., alle Pſalmſtellen, und darunter alle Stellen, wo ‘x ie Verbindung mit or vorfommt; anderſeits, mit Auenahme von Jeſ. 38, 6, me wieder eine ganz freie Überfegung.gegeben ift, die Sefajaftellen (11, 5: alıfIsa; 25, 1 und 59, A: dAmdıyac; 26, 2: mm == alı- Isa); außerdem nur noch. 2Ehran: 19, 9.

Dog Wert nog geben die Geptuaginte in: den weitaus meiften Fällen durch - Adern wieder, und zwar ebenſowohl ba, wo «6, „Wahrheit“, als da, wo es „Pflichtreue* bedeutet. Die Ber bindung nen, any überfegen fie faft. durchgehends mit ZAsos zei adjdsa, und die Medensart ng migy mit dAfdssay morsir (Gen. 32, 10; 47, 29. 9ef. 2, 14. 2Sam. 2, 6. Reh. 9, 33; vgl. Jeſ. 26, 10). Da, wo ſie das Wort abjeftivifd wieder · geben, brauchen fie vorzugsweife EAntinds, und. zwar in ber Be deutung „wahr“ (2 Sam. 7,.28. 1Reg. 10, 6; 17, 24. Je. 2, 21. ®rov. 12, 19. Dan. 10, 1. 2Chron. 9, 5; 15, 3), wie in der Bedeutung „treu“ (Ez. 34, 6. Pf. 86 [85], 15); feltener EAnIıfs, bezw. aAyIäc (Deut. 13, 14; 17, 4. Prov. 22, 21. Dan. 8, 26).. Nur an verhältnismäßig ſehr wenigen Stellen überfegen fie nz anders, nämlich teile durch decasoauen oder abjektivifch durch dinnsos, teils durch zuiassg, beziehungswriie

Der Gebraud; der Wörter dAndae ıc. 55

durch muoeög. mpg, ofby wird Jeſ. 39, 8 wiederhegeben durch deyjyn zul dexuroeden, dagegen Jer. 33, 6 durch sigrjen ul acoric; tbenfo Ay u Ger. 42, 5 durd) nagrus dixaioy, aber Prob. 14, 25 durch uagrus mierdc; ferner my on Gen. 24, 49 darq Neoc xal Uskarooven, dagegen Prov. 3, 23 16, 6 duch elemuooivar al nmiareis. Außer on dieſen Stellen wird dixamedn oder Hxaros noch an folgenden yebrandt: Er. 18, 21. Bf. 9, 14. Jeſ. 38, 19 (in B. 18 wird dutch Impoodem überfegt); &. 18, 8. Zah. 7, 9. Dan. 8, 12; dgl. Jeſ. 61, 8; mmlarıs dagegen nur noch er. 28, 9; 32, 41.

Die Adverbin mpg und oppx pflegen entweder duch AlnIais @. 9. Gen. 18, 18; 20, 12) oder dAndele (ARE. 19, 17) oter En’ dindelas (5. B. Ye. 37, 18. Hiob 9, 2; 19, 4) ausgedrückt zu fein.

Dfters werden aber aud von ben Geptuaginta die Worte Adjdere, dlydfs, Almdıvös zur Wiedergabe ünderer, als der bisher beriffichtigten Hebräifihen Ausdtucke verwendet. Zum Teil gefchiehtt es da, wo der Bepriff. des Waren bezeichnet werden foll. So Gen. 41, 32: „io} wird das Wort fein“; LXX: ZAndac Zoras co gina. Jeſ. 41, 26: „So wollen wir fügen pas (d. h. er tft mit feiner Behauptung im Rechte) )*“3 LXX: za) dgoäsv, des dündi duolv. Mi. 45, 19: „IH Sin Jahve, welcher oa verkünbigt“; LXX: wverysilor dlıjdeser. Hiob 17, 10: „Ich werde munter uch nicht einen v5n finden“; LKX: ou page söplonun wo dar Windes. Hiob 42, 7 u. 8: gIhr Habt nick mytoy geſprochen⸗; LXXI ovx Wdairjowes UAndsc. Deut. 25, 16: „Du ſollſt Haben pry) molug gay umd ' V mRIR“; LXX: oredInov alndwör nal Hinosov, uirgov alndwdv x. & (d. h. Gewichte und Maße, welche vimmfets wirklich fo ſchwer oder groß find, mie fie ünkerlich erſcheinen odet man von ihnen behauptet, und anberfeite ſo ſchwer dder geoß, wie es für fie normal if). Vol. auch die Überfegung des Chalduiſchen Sy Dan. 2, 45: 'dimdwor co vdemor, 6, 12: dindıvos 6 Adyos. Ebenſo werben aber dieſe griechifähen Worte in Futlen

2) Bl. Raupich a. 0. ©, ©. 18.

526 Bendt

verwendet, wo der Begriff des fittlich Rechten bezeichnet werben fol. Prev. 28, 6: „Ein Armer, welcher tanz wandelt"; LXX: news nogevönevos dv Alrdelg. Hiob 2,3: BEE 20T LXX: äydgumog dxaxog alndwos. Ebenfo: dir Ywds: Hiob 4, 7; 8, 6; 17, 8; vgl. 6, 25; 23, 7. Ferner Hiob 27, 17: „In das Silber teilt fi py“; LXX: re ger para dindwol xaddkovow. 5, 12: „Ihre Hände ſchaffen nicht man“; LXX: od an) momjaovoov....dAmd6s. (8 fheint mir beachtenswert, daß an dieſen legtgenannten Stellen der Sim von aAnIsa, dAnIvög, dAndEs offenbar nicht eingefchränkt ift auf die befondere Art des fittlih rechten Verhaltens, welde durd ng und mx bezeichnet ift, fondern dag die Worte hier gleich⸗ bedeutend mit dixasoouyn und dixasos gebraucht find. Bei den hebräifcgen Worten war jene Einfchränkung des Sinnes durch das fortwirkende Bewußtſein von ihrer finnlihen Grundbedeutung un« mittelbar gegeben. Hatte man aber die Bedeutung jener griechi⸗ ſchen Worte einmal fo erweitert, daß fie neben der Wahrheit auch eine Richtigkeit rein fittliher Art bezeichnen Tonnten, fo hatte man bei ihnen Seinen ſolchen Anlaß, nur an eine fittliche Richtigkeit ber fonderer Art zu benfen.

In der gleichen Weife, wie in der Überfegung aus dem hebräl- ſchen Kanon, finden wir die Worte dAjIesa 2c. auch im Bude Tobit, beim Siraciden und in der Weisheit Salomonis gebraudt. Als charalteriſtiſche Beiſpiele feien folgende Stellen angeführt. Wenn es Tob. 3, 2 heißt: dlnmsos el, ugs, zal ... mac as ödol cov dlemuoovvas xal dien, zal xglaıv dindıiv xai dıxalav av xglvsrs, fo müffen wir hier aAndeı= von der Treue des fittlichen Verhaltens verftehen, in welcher Gott den Ber pflichtungen, die er eingegangen ift, gebührend entſpricht, EAnFewds aber von ber Gerechtigkeit des richterlihen Verhaltens, in welder er die Thatſachen, über welche er richtet, gebührend beurteilt wud vergilt. Wenn dann in B. 5, nachdem nod einmal die zgfosx almdıval Gottes hervorgehoben find, im Gegenfage zu Diefem ger büßrenden Verfahren Gottes gefagt wird: oux dmomjaaper zus dvrokdis aov' od yag dmogsddnusv con, fo werden wir auch hier unter der dAnIeı= nicht die Aufrichtig

Der Gebrauch ber Wörter dArdeir 2c. 527

feit im Gegenfage zur Heuchelei, fondern! die den Verpflichtungen entſprechende Treue verftehen müffen. Den gleichen Sinn hat alfdeıan aud an den Stellen 1,* 2f.: ödois aAndelag dmo- gevöunv xal dixasoadıng ... xal dAemuoodvag moAldg dmolnge und 4, dff.: um mogevdis Tai Odois zus adızlas, dis nooÖvrös cov znv aljdsav, sodie Zaovras Ev roig Egyois 00v,... dx z@v Önagyövsuv cos oleı dAenuoavvnv, wo beide Male die Danebenftellung der &Asyuoouvn es deutlich macht, daß unter &indsın das pflichttreue Verhalten gemeint ift. Wie an der Tetgenannten Stelle kommt die Wendung dAjgauv rroieiv „pflichttreues Verhalten üben“, auch 13, 6 vor. In den Worten 14, 7 dagegen: ol dyanavıss xugiov Tov Heov &v dimdelg ai dıxaadyn werden wir bie dAdeı= nach Analogie von nyx an den Stellen 1Meg. 2,4; 3,6 u. f. w. (vgl. oben S. 515f.) als Aufrichtigkeit verftehen. In der Weisheit Jeſus Sirachs heißt es 7, 20: „Mißhandle einen Sklaven nicht, welcher dv @ln- Felge (d. i. in Treue) arbeitet.“ Diefelbe Bedentung hat dAn- sem 27, 9: „Vögel ruhen aus bei ihres Gleichen und EAyIea wird wieder zurückkehren zu denen, welche fie üben; ein Löwe ſtellt dem Wilde nach, ebenfo die Sünden denen, welche Unrechtes üben“, während wir in den Ausfagen 4, 25: „Widerfprich nicht der @Arj- ser und ſchäme did deines Ungebildetſeins“, und V. 28: „Bis wm Tode kümpfe für die Ana, fo wird Gott der Herr für ich ftreiten“, die Anden wohl als die für die Erfenntmis güftige Wahrheit auffafjen müfjen. Aus der Weisheit Salomonis ift mer der an Er. 34, 6 erinnernden Stelle 15, 1: Du, unfer Yott, bift zenorös zul arnIns (d. i. rechtichaffen und treu), lang⸗ zütig und. in Barmherzigkeit über alles waltend*, auch die Stelle , 9 zu eripähnen, wo es heißt: „Die auf Gott Trauenden ausr- ovow ührdear, und die Treuen werden in Liebe in feiner Jemeinfchaft bleiben“ ; denn hier hat die erſte Satzhälfte gewiß icht den Sinn, daß die Frommen richtige Erkenntniffe erlangen ‚erden, fondern daß fie bei ihrem treuen Feſthalten an Gott wie- ‚rum das treue Berhalten Gottes gegen fie merken werden.

Uns liegt alfo bei den Septuaginta ein Gebrauch der Worte FI, am9rs und AAnIwös vor, für deilen Verftändnis uns

Der Gebrauch der Wörter dArdeıe x. 529

ide mit dem Verbum verbunden, weldes das Ausſagen ober

kennen bezeichnet (dm’ aAndelag einag, örı xur.: Mark. 12, 32;

ülmdelas Myo: Lut. 4, 25; Zn’ ühmdelas xarolauparouoı:

4. 10, 34; dAm9ös Ayo: Wut. 9, 27; 12, 44; 21, 3; nos olda: Apg. 12, 11; Anus Eyvwoar: Joh. 7, 26; 8), teil8 werden fte mit der Bezeichnung der Thatfache felbft, cn Behauptung richtig ift, verbunden (3. B. Zu’ arndelas xal 105 wer’ aörod Av: Ruf. 22, 59; dAndüs Ieov viöc el: 'attf. 14, 33; vgl. 26, 73; 27, 54. Mart. 14, 70; 15, 89. ch. 1,48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xheff. 2, 13; 305.2, 5). Zu diefer letzteren Kategorie gehört auch bie Stelle %. 4, 27: ovviydnoar yüg du’ ühy$elas tv v5 nöleı varım 4, nur mit der Befonderheit, daß hier als die Ausfage, deren tige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch ir’ dA7Ieag rvorgehoben werben foll, nicht biefe gegenwärtig bie Thatſache sprechenden Worte gedacht find, ſondern das vorher in V. 25f. geführte Pſalmwort, weldes prophetiſch die Thatſache verfün« :gt hatte,

Dann wenden wir uns zunächſt zu den paulinifchen Brie- a), wo bei einer erften Reihe von Stellen Anden „Wahr- eit“ bedeutet, d. 5. die Richtigkeit, welche Hußerungen oder Er» antuiffe infofeen haben, als fie etwas MWirkliches zum Ausbrude ”r zur Vorftellung bringen. Doc ift Hier wiederum eine Ver⸗ hiedenheit des Gebrauches zu bemerken. Nur an wenigen Stellen rd das Wort fo gebraucht, daß «6 bie Wahrheit rein als eine tt und Beſchaffenheit des Ausſagens oder Erkennens bes Idnet, indem «8 mit einer Präpofition als abverbiale Näher- fimmung zu dem Verbum des Ausfagens oder Erkennens Binzu- it, nämlich 2Kor. 7, 14: ds ndrsa dv Anden Aarroapıer wir; Kol. 1, 6: dmtyvwre zrv xapw Tod Heu dv Almdelg;

1) Die Stellen des Epheferbriefes, ben ich nicht für authentiſch pauliniſch ıfte, diche ich doch Hier glei; mit in Betracht, weil fich der Gebrauch des dortes AAnIsıe in diefem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen 'riefe auſchlietzt. Die Stellen der Paſtoralbriefe bagegen werde ich nachher !londers berückfichtigen.

Tel Stad. Iahız. 1885. 35

Bendt

bie Bebentung der hebrätchen Worte nyxe und mx den Schluffel sieten muß. Ein Wort, welches den Sim diefer hebrätfchen Worte ganz gencu wiedergabe, fehlt ber griedhifchen Sprache ebenfo mie der deutſchen; verhältwisnäßig am pafjenditen wurde das Wort nilorıs fein, weil basfelbe ſowohl die Treue des ber Böirktichleit ‚entfprechenden Auoſagens und Borftellens, als auch die Treme des pflichtgemaßen Verhaltens bedeuten fan. Und fo haben aud bie Sepinaginia das Niphel des Verbums Joy in nfl den detjchie denen Bedeutungen, welche denen von ring und mx analog ſind, durch Worte, die vom Stamme zıor- gebildet find, wiedergegeben. Aber auffallenderweife haben fie das Wort yoy nur am ber Häffte der Stellen, das Wort ng num in ganz wenigen Fällen darch nlorız bezw. aioroc Überjegt. An den übrigen Stellen haben fie füft durchweg die Worte dAnden, AnIng ud almdrdg an- gewendet, deren eigentlicher Sinn doch nur ber Bedentung entfpriät, welche das Wort rip in einer beftimmten Auwendaug hat, deren Sim von ihnen mum aber fo erweitert worden iſt, daß er and die Bedeutungen, weiche nypx in den anderen Arten feiner Auwen - bung und damit übereinftinmmend mx Hat, umfaßt.

.

Wern wir unter dieſen Vorandfegungen an das Neue Te- ftament hinantreten, fo kann es us bei der fiarten Beeinfin- fung durch die Septuaginta, weldhe die Sprache des Neuen Teile mentes fonft zeigt, wicht befremden, wenn wir auch bie Worte enden, amd und ahmdwög hier zum Teil in einem Sinue verwendet finden, für deffen Eigentinnkikeit wir in der Bedeutang der Worte gg und ymy bie Erfläruug ſuchen müſſen. Es gitt für uns jegt, diefen hebraifterenden Gebrauch jener Worte im neuen Teftamente genau feftzuftellen.

Vorwegnehmen lönnen wir zuerft die vielen, faft anefclich- lich den gefchichtlihen Büchern angehörigen Stellen, wo bie And dructe Zu’ areas Über King einfah in demjelben Sinne gebraucht find, wie im Hebräifchen mpg ober nyne, mm bei Aut- fagen ober Erkennmiſſen hervorzuheben, daß ihr Ingakt amit der Wirklichteit übereinftimmt. Teils werden biefe abdverbiellen U

Der Gebraud; der Wörter dArdeım ıc. 529

drüde mit dem Verbum verbunden, welches das Ausſagen oder Etlennen bezeichnet (dr? AmIelas einag, örı xri.: Marl. 12, 82; 3 amdelas Ayo: Lut. 4, 25; Zn’ MAmIelas xaralaußaronar: Ag. 10, 34; aAm9as Alywı ul. 9, 27; 12, 44; 21, 3; amdos olda: Apg. 12, 11; Anus Zyrwoav: Joh. 7, 26; 17, 8), teils werben fie mit der Bezeichnung der Thatſache felbft, deren Behauptung richtig iſt, verbunden (z. B. Zu’ arndelns xal oirog ner’ abrod wi Lut. 22, 59; Amdüs Fu vig el: Matt. 14, 33; vgl. 26, 73; 27, 54. Mark. 14, 70; 15, 39, Ih. 1, 48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xheff. 2, 13; 195.2, 5). Zu diefer legteren Kategorie gehört auch die Stelle Apg. 4, 27: ouvixImoov yüp in’ ülmdelag iv I nöleı rarım ch, nur mit der Befonderheit, daß hier als die Ausfage, deren richtige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch Zr’ dindelag hervorgehoben werben foll, nicht biefe gegenwärtig die Thatſache ausſprechenden Worte gedacht find, fondern das vorher in B. 25f. angeführte Pfalmwort, weldes prophetifh die Thatſache verfün- digt Hatte,

Dann wenden wir uns zunächft zu den paulinifchen Bries fen), wo bei einer erften Reihe von Stellen Anden „Wahr- heit“ bedeutet, d. h. die Nichtigkeit, welche Äußerungen oder Er- fenntniffe infofern haben, als fie etwas Wirkliches zum Ausdrude oder zur Borftellung bringen. Doc ift hier wiederum eine Ver⸗ ſchiedenheit des Gebrauches zu bemerken. Nur an wenigen Stellen wird das Wort fo gebraudt, daß es die Wahrheit rein als eine Art und Befhaffenheit des Ausſagens oder Erkennens bes zelchnet, indem es mit einer Präpofition als adberbiale Näher- velimmung zu dem Verbum bes Aue agens oder Erkennens hinzu⸗

tritt, nämlich 2Mor. 7, 14: ds märz ir äimdelg Makiioaper div; Kol. 1, 6: Zntyvare ı77 xügıv Tod Heu dv Amdeg;

4) Die Stellen des Epheferbriefes, den id; nicht für authentiſch pauliniſch alte, ziehe ich doc) Hier gleich mit in Betracht, weil fi der Gebraud des Bores dAn9sıe in diefem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen driefe auſchließt. Die Stellen der Paftoralbriefe dagegen werde ich nachher fonders berücfiätigen.

TesL Etub. Safe. 1888. 3

380 Bendt

Vhil. 1, 18: mars) re0np, eire mpopdseı eire AArIelg, Kooros zarayyirsrcı!). Als Eigenſchaft ber ausfagenden Perfon, die in der Bedeutung „Wotrhaftiglelt“, erſcheint AArdem 2 Kor. 11, 10: Zorw AI Xguorob dv Zuöl, örı xrA.?) Beikr aber wird das Wort fo gebraucht, daß es einen folden Gedanken⸗ inhalt bezeichnet, in welchem die Wirklichkeit zur richtigen Dar ſtellung gelangt: Wir gebrauchen unfer Wort „Wahrheit“ in der⸗ felben Weile, werden aber ben Sinn des geischifchen Wortes nad präcifer wiebergeben, wenn wir in dieſen Fällen überfegen: „Wake res, Richtiges“ ober: „Was wahr, richtig ift.“ Im Übergonge zu diefer Bedeutung fteht das Wort, wo es präbifativiich ven Ant fagen gebraucht wird (2 Kor. 7, 14: 7 wies Auar ... älr- Ian yerndn; Eph. 4, 21: eye... & airo Ldıdüzdnre, udag lorw dran dv Inoov). Beftimmter aber tritt biefe Se⸗ deutung hervor, wo das Wort als Objekt bei Berhen de Ant fagens gebraucht ift (MnIear Alyw: Röm. 9, 1; And Ipd: IRor. 12, 6; Anleire äl7Iaarı Eph. 4, 25), ober als Gene- tivus objeeti bei Subftantiven, welche ein Ausſagen begegnen (ARor. 4, 2: 77 Yarsguası vis Adelas „durch Qundthuung des Wahren“; 6, 7: dv Ayo dindelus „in Berkündigung won Weh⸗ rem“; Kol. 1, 5 unb Ep. 1, 18: 6 Aöyog zfs Andelas; ferner Röın.2,20: Yyovra iv nöppwar Trs yrinasıg zal wis AArdelus ir 70 vönip „ber du den Mussbrud der Erkenntnis umb deſſen, mes wahr ift, im Geſetze haft“). Hieran reifen ſich folgende Stel: Gai. 2, 5.14 und Kol. 1, 5 bedeutet 1 dAgIea ad erayyekion: „der wahre (d. i. richtig die Art und die Bedingungen des He verhäftmifies der Menſchen zu Bott bezeichnende) Erfeustnisingelt,

3) An ber Teßtgenonnten Stelle Hat dArgew« im Gegenſatze zu medgens den Cm der Aufrichtigfeit, weil Hier als das Wicfliche, welches bei bem ur ayy&isosoı dv dAndeig zum Ausdrud gebracht wird, bie innere Gefimmung dee Berfündigenden gebadht ift, welche ſich wirklich auf das Berfünbigen [3.23 richtet, währen bei dem zurayy£Alsodes dv mgopdesı die Gefinmung Dt Berkündigenden fich eigentlich auf etwas auberes richtet, das Berfündigen Chriti aber als Mittel braucht, um diefe anderen Ziele zu erreichen.

2) Bol. das Abjectivum 2 Kor. 6, 8: dis aAivror xal Aindeis „mt Irrende und Wahre (d. h. richtig Erkenneude und Redende)“.

Der Gebrauch der Wörter dAnseıe 2c. 531

welchen das Evangelium un verleiht.“ Gal. 5, 7 Heißt es: „Wer hat euch gehemmt, aAn9ela !), d. 5. Wahrem (einer Ver⸗ kündigung, welche end; richtig belehrte), zu gehorden?“ Ferner Röm. 1, 18: &rIgune räy zrv ülndeıny dv Ada xursgörrem, d. 5. „ber Menfhen, welche das Richtige (mämlich ihre richtige Erkenntnis von Gott) in- Ungerechtigkeit unterbräden“, und ganz analog in V. 25; ofswes nernAlufav ziv alter Tod Heov » ro yeider, d. h. „welche die richtige Erkenntnis von Gott (richt, wie gewöhnlich erklärt wird: „das wahre Wefen Gottes“) in ihrer Lüge verwandelt haben“. Endlich wird an der Stelle Eph. 4, 22ff. dem alten Menſchen, „welcher verderbt wird gemäß den Zmutuulen zig inaeng", d. i. gemäß den fündigen Begierden, welche den verfinfterten, irrenden Gedanken des borchriſtlichen Zur ftandes entjpringen (vgl. ©. 17f.), gegenüberftelit der neue Menſch „welcher gottgemäß geſchaffen worden ift dusauaurn xal dmörnzı zn nIelos“, d. h. in der Rechtbeſchaffenheit und Heiligkeit, welche aus der richtigen Verkündigung und Erfenntniß (über Bott) entfpringen (vgl. V. 21).

Andere pauliniſche Stellen erinnern uns beftimmter an den oben betrachteten hebräifchen Sprachgebrauch. Zuerft eine Stelle, wo &ijdsa entſprechend ber Bedeutung, welde wir fit Ay und my einige Male fanden (dgl. oben ©. 517), bie rigterlihe Gerechtigkeit bezeichnet. Aöm. 2, 2 Heißt es: „wir wiffen, daß das Gericht Gottes xarı dAjdeev über die ſolches Thuenden ergeht“. Mir fieint, dag wir Hier den Ger danken des Apoſtels nicht vollftändig wiedergeben, wenn wir xasd armFerav überfegen: „wahrheitsgemäß“, fondern daß wir übers jegen müffen: „nad Gerechtigkeit, gebührend“, fo daß der Sinn nieht, wie bei der anderen Auffaffung, nur ift, beim Gerichte werde daB Verhalten der Menfchen durch Gott richtig erfannt unb berüdfiätigt, fondern vielmehr noch beftimmter, e8 werde eine

3) AAndelg iſt mit Tiſchendorf mad; NAB ohne Artikel zu leſen. Durch »a® Fehlen desſelben iſt ausgebrüdt, daf; basjenige, was bei der beſtimmten vahren Verkündigung, welcher die Galater nicht gehorcht Haben, ihren Gehorſam ‚äste reizen und finden follen, die Wahrkeitsgualität im allgemeinen mar. 36*

682 Wendt

feinem Schuldwerte entſprechende richterlihe Vergeltung er- fahren, wie dies nachher in B. 6ff. vom Apoftel noch befonders ausgeführt wird. "AA Isa bedeutet Hier doch eine etwas andere Art der Übereinftimmung mit der Wirklichkeit, als welche wir duch „Wahrheit“ zu bezeichnen pflegen.

An zwei anderen Stellen des Römerbriefes ift von ber airgeıa Gottes die Rede, wo wir durch den Zufammenhang unmittelbar darauf geführt werben, fie von der Treue Gottes zu verftehen, in der er dem Heilsverhältniffe, zu welchem er ſich dem Volke Israel gegenüber durch feine Verheißungen verpflichtet Hat, pflichtgemäß entfpriht. Am Anfange von Röm. 3 weit Paulus zuerft die Trage, ob nicht die amıozia der einzelnen Sgsraeliten die relorıg Gottes aufheben werde (®. 3), zuruck durch die Behauptung der diefer Befürchtung entgegengefeßten Thatſache, daß vielmehr Gott aAndns und jeber Menſch weuaras. werden müffe, indem er diefe Behauptung dur das altteftamentliche Schriftwort begründet, daß Gott in feinen Worten ein dıxason- 09a: erfahren, d. 5. als dixwsog anerkannt werden müfe (B. 4). Hieran fhliegt dann Paulus die Frage, ob nicht, wenn fo die Uizmoodyn Gottes gerade durch die Adızla der Israeliten zur Darftellung gebracht werde, das Strafgericht Gottes über die adırda ungereht, unbillig fein würde (V. 5), und biefe Frage wieberholt er in V. 7 noch einmal, indem er nur ihren Wortlaut verändert: „denn wenn die dAndeın Gottes auf Grund meines yevona@ Übergroß geworden ift zu feiner Ehre, was werde ih dann noch als Sünder gerichtet?“ Es iſt einfeuchend, daß in biefem Zuſammenhange die Begriffe ziorıs und ümorin, ar Io und wedoua, dixumorrn und adırla von Paulus ganz gleichbe⸗ deutend gebraudt find. Er läßt zuerft für zlorıg und amıorla den Gegenfag dns und wedorns eintreten, und kann feine Ber Hanptung, daß Gott trog aller Untreue der Menſchen immer 5975 bleiben müffe, deshalb durch das vom dıxmmucdn: Gottes redende Schriftwwort begründen, weil nad feinem Bewußtjein Slxorog dasfelbe bedeutet, was er vorher unter &An975 verftanden hatte; der Ausdrud des Schriftwortes veranlagt ihn dann bei der Aufftellung der neuen Frage, zunädft das Wort duxuoadyn zu

Der Gebrauch der Wörter dArdeım ac. 688

brauchen und aderla dazu in Gegenfag zu ftellen; daß es ihm dabei aber doch noch um den Gegenfaß derfelben Verhaltungsweiſen zu thun ift, von denen er vorher geſprochen Hatte, beweiſt er da- durch, daß er ſich bei der Wiederholung der Frage in V. 7 au im Wortlaute wieder zurückwendet zu der Gegenüberftellung ber in ®. 4 gebrauchten Begriffe. Man beachte übrigens, wie Bier im Abhängigkeit von der Bedeutung der Begriffe dry und arrIeıu auch die entgegengefeßten Begriffe wedorns und werouu offenbar einen im Vergleich zu ihrer fonftigen griechiſchen Bes deutung erweiterten Sinn erlangen; denn ficher meint Paulus in 2. 4 u. 7 nicht nur die Lügenhaftigkeit der Menfchen, in welcher fie die erfannte Wirklichkeit nicht recht zum Ausdruck bringen oder fi) der ihnen dargebotenen wahren Erkenntnis und Kundgebung verfchließen, fondern im Gegenfage zu der Treue Gottes die Un« treue der Menfchen, in welcher fie gewiſſenlos ihre Verpflichtungen Gott gegenüber verlegen. Die zweite Stelle ift Nöm. 15, 8f., wo es heißt: „ich meine, daß Ehriftus Diener der Befchneidung geworben ift öndo aAndelas Heov, damit er die Verheißungen ber Väter befeftige, die Heiden aber reg 2Aovs Bott priefen.” Hier find Ar eu und Neoc die Übertragung von npx oder mon und pr; die letztere Verhaltungsweife Gottes, feine die Sünde bergebende und ein Heilsverhäftnis neu begründende Barmherzig⸗ teit bewährt fic gegenüber den Heiden; feine Treue aber, in welcher er das beftehende Heilsverhältnis aufrecht erhäft und die in dem⸗ felben gegebenen und ihn felbjt verpflichtenden Verheißungen durch entfprechende Erfüllung befeftigt, bewährt ſich gegenüber dem Volke der Beſchneidung. .

An einigen anderen Stellen finden wir dAnIeı in direkten Gegenſatz geftellt zu zovrela und adırla, und fünnen Hier an nehmen, daß Paulus mit dem Worte die Richtigkeit des ethifhen Verhaltens, zu welcher die Wahrhaftigkeit in Wort und That nur als eine Seite gehört, Hat bezeichnen wollen, und zwar ohne daß von ihm dabei noch die Verfchiedenheit des Sinnes, durch welche im Hebrätfchen npx und mmy von pyy und mpyy getrennt find, beobachtet iſt. 1 Kor. 5, 8 heißt es: Eopralwuer pr... dr Cum xaxlas xol movmolas, GAR dv Albuoıs efdıngiveiag

581 Wendt

nal dlndelas, 13, 6: od zalgeı Ani ci ddnla, auyyalge di ij Almdela, Rom. 2, 8: vol... anıhodaer dv v7 Ahle, mutoubvors d2 ı7 Adızla. Wenn Paulus ferner 2 Theſſ. 2, 10f. mit Bezug auf die mugovola dB Avonos, deB Örspwnog Ti; Gyagsius ſchreibt, fie werde geſchehen dv maoy Amdrm adılas rg Gnoikvulvos, dvd’ dv viv Gyanıy vg Ahm9elas ol lkarıo ds To awdiva aureös" xol dis Toro meuns amrois 6 Ik dripyea mlarıg, els To mioreugo: abroüg To yedder, Tra zudinw ämavreg ol um muosebaurreg v7 ülmdela daR” eudoxjoarz z5 üdedg, fo beachte man, dag auch hier die Anden nid etwa im Gegenſatz zur dmaen ober zAcen fteht, fo daß mir fe deshalb als Wahrheit der Erkeantnis oder Verkündigung auffaſſen müßten, fondern im Gegenfage zu der adırla, melde den Inhalt und die Art der Irreleitung ausmacht. Der Sim ift, daß jene Berfonifitation der Unfittlichkeit, als welche” der Antieift gesadt ift, die Ungläubigen zur Unfittlickeit verführen wird und daß in biefer Verführung und dem darauf folgenden göttlichen Gerichte die Strafe dafür Liegen wird, daß fie dem, was ethiſch richtig it, nämlich dem criftlihen Evangellum, welches fie über das richtige eihifch-religiöfe Verhalten belehren und zu demſelben antreiben und befähigen wollte, feine Liebe und kein Vertrauen gewidmet haben. Unter der Area iſt alfo freilich das chriſtliche Evangelium ver ftanden, aber dasfelbe nicht im allgemeinen, fonbern fpeziell in ber Beziehung, daß e8 jene ethiſche Art und Abzwedung hat. Wir mäfen dann aber aud im dem folgenden B. 12, wo Paulus feine Dante barkeit daritber ausſpricht, daß Gott die Theflalonicher, im Gran fage zu den eben charafterifierten &roAvuuevor, erwählt Habe zum Heile Wr öyıwoup nreinerog xal mloreı dhmdelus, diefe letzten Borte von dem Vertrauen auf das ethiſch Richtige verfichen; nicht ber chriſtliche Glaube im allgemeinen, fondern fpeziell die Hingabe det Gläubigen an ben ethiſchen Juhalt des Evangeliums ift gemeint, und deshalb erſcheint diefe miorıs GAySelas fo unmittelbar ver nüpft mit dem dyınanög mwesnarog, welcher ebenfalls dm im Fittlichen Leben fich vollziehende Erfahrung des Gläubigen duch den Gottesgeift bedeutet,

In der Ausſage 2 Mor. 13, 8: od yüp duvduedd ru zur

Der Gebraub der Wörter dAnsen 2c. [>

ur: aldelas, AMa Uno Tr AmIelas, iſt der angegebene ethiſche Sinn ded Wortes oA’Ian zwar nicht durch ausdrüdkiche Gegen überftellung von adıla, aber doch deutlich genug durch den Zur femmenhang angezeigt. Paulus hat im Vorangehenden ausgeſpro⸗ Gen, daß er bei feinem bevorftegenden neuen Beſuche in der ko— tinthifchen Gemeinde ein ſchonungsloſes Strafgericht über die agonuapenxözes werde ergehen lafjen (12,21 13,2), und daß er barin die Bewährung feiner apoftolifcken Autorität geben werde, welche die Korinther angezweifelt und herausgefordert hatten (13, 3. 4. 6). Aber er fügt Hinzu, fein eigentlicher Wunſch richte ſich doc darauf, dag die Korinther nichts Böſes, fondern nur Gutes täten, und ihm ſelbſt dadurch jene Gelegenheit, feine apoſtoliſche Autorität ihnen gegenübes zu bewähren, entzogen würde (B. 7). Benn er diefen letzten Gebanfen nun durd bie angeführten Worte in ®. 8. begründet, fo kann ber Sinn derſelben nur fein, daß es ihm nicht möglich wäre, im Intereſſe ber Geltendmachung feiner Autorität Partei zu ergreifen gegen ein richtiges Verhalten, wie er e8 bei den Korinthern vorfinden würde, Tall fein in V. 7 ause geiprochener Wunſch fich erfüllte, fondern daß er nur für das richtige Berhalten Partei ergreifen Lönne.

Nur zweifelhaft möchte ich mich ausdrücken hinſichtlich der Stellen Phil. 4, 8: don orlv dAm$H, dom orırd, dom Irma, ... & rıg üperr wol el rg Inmvog, radsa Aoylleoge, Eph. 5, 9: 6 xagnös Tos pwrös dv don üyadwavrj) ol damoorvn zo aAndeg, 6, 14: orjre odv negılmodueror vv doplv Gucv dv Ündela wol bvdvoaneroı Tov Iopaxa Ts Immoodvng, WO einer- ſeits Die enge Zufammenftellung mit anderen Begriffen, welche fittfiches, gutes Verhalten im allgemeinen bezeichnen, es nahe Legt, auch AyIr und AArFea don dem richtigen Verhalten im allge» meinen zu verftehen, wo doc aber auch die Möglichkeit zugegeben werben muß, daß Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit im Gegenfage zur Lüge und Heuchelei gemeint feien.

Der fehr umfafjende Gebrauch, welcher in den johanneifchen Schriften, dem Evangelium und den drei Briefen, von den Be— zriffen ange, Ans und dAnIwög gemacht ift, zeigt die nächfte Ber wandtſchaft mit dem Gebrauche diefer Begriffe in den pa

586 Bendt

liniſchen Briefen, und zwar berußt diefe Verwandtſchaft auf dem gemeinfamen Anfchluffe an den altteftamentlihen Sprachgebrauch Mir ſcheint in diefer Thatſache, welche ich im Folgenden darzulegen habe, ein Moment zu liegen, welches auch für die Beurteilung des Urfprunges der johanneifhen Schriften nit ganz unwefents lich ift.

Wir betrachten zuerft den Gebraud des Subftantivum atr- 9aa im Evangelium. An einigen Stellen ift mit dieſem Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirllihe richtig zur Darftellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Tow- vns] neuogrögmer ij ähmdeln, und 16, 7: yo ziv ülr- Year Ayo vuiv, anderſeits A, 24: Todg mpogeuwonrrag adrov dv nveinun zul dAmdelg det moogeweir. An de Tegteren Stelle bedeutet das artitellofe 2v aAndee, ebenfo wie nosy an den oben ©. 516 angeführten Stellen, „in Aufrichtig- keit“, d. 5. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens nicht eine bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der auf die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung.

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und dA7Iau als Treue des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner als Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zuerft im Prolog Kap. 1, 14: 2Ienospeda ziv doku adrod, dökar ix Hovoyevovg nuoù nurgög, mangng xagıros ol ühm$elas. Bet bie Bedeutung der altteftamentlichen Wortverbindung my pr, oder yon, n erfannt hat und berüdjichtigt, wie die Geptugiate den Begriff nyy oder mpg in dieſer Verbindung wiedergegeben haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Gnade und Treue“ und der Erflärung Ritſchls und anderer zuftimmen, der Evangelift meine, daß fih die volle Offenbarungsperrligkeit Gottes in der geſchichtlich-irdiſchen Erſcheinung Jeſu den Züngen infofern dargeftellt habe, als fie an ihr diefelbe Berhaltungsmiit wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen anderen altteftamentlichen Ausfprächen (vgl. oben S. 520) die darafte riſtiſchen Merkmale des ſich offenbarenden Heilsgottes find. Ken wir das Begriffspaar in diefer Weife auffaffen, wird es un

Der Gebrauch der Wörter dArYeia ac. 537

aud nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein. heit der Empfindung und des Ausdruckes des Evangeliften er» feinen, dag.er in ®. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin- weis auf das, was die Junger in dem Kreatur gewordenen Logos angeschaut haben, noch verftärfen und beftätigen will durch den Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von einem Anußavev xagıv üyrl xagırog vebet, während er dod) hinter- ber, in V. 17 wieder fagt, dag in Jeſu Ehrifto die zagıs und die aArIeıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiftungen, welche die Zünger für ſich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erfdeinen, nur als eine fi immer erneuernde xagıs, nicht aber als ein Verhalten, zu welhen in dem zwifchen ihnen und Jeſu beftehenden Verhälte alffe oder in vorangehenden von ihnen felbft Jeſu erwiefenen Leiſtungen ein verpflichtender Grund gelegen hätte, und infofern nit als &AnIea. Und doch konnte für die Junger das Urteil Beſtand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeftellt habe,

Eine zweite Stelle finden wir am Schluſſe der Nikodemusrede, Rap. 3, 21. Derin B. 19 ansgefprochene Sag, daß der Grund, weshalb die Menſchen das Licht, d. i. daS durch den Sohn Gottes in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren bdfen Werken fiege, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn ieber, weicher das Böfe thut, haft das Licht und kommt nicht an has Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber bie Anem thut, kommt an das Light, damit feine Werke kund verden.” Das moriv vv Alter iſt Hier die Übertragung »es hebräiſchen nyx infpy, und fomohl durch die Gegenüberftellung egen pavao mgaooer, als aud durch den übrigen Zufammen« ang der Stelle ift es Mar, daß wir unter ihm verſtehen auſſen: „das ſittlich Rechte thun“, oder: „pflihtmäßig, gewiſſen⸗ aft handeln“.

Mehrfach wird das Wort dArIea gebraudt in der Rede ‘ap. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, ie 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr

586 Bendt

liniſchen Briefen, und zwar berußt diefe Verwandtſchaft auf dm gemeinfamen Anfchluffe an den altteftamentlichen Sprachgebrauch Mir ſcheint in diefer Thatfache, welche ich im Folgenden darzulegen babe, ein Moment zu Tiegen, welches auch für die Beurteilung des Urfprunges der johanneifhen Schriften nicht ganz ummwelens lich ift.

Wir betrachten zuerft den Gebrauch des Subftantivum dir- 9a im Evangelium. An einigen Stellen ift mit biefem Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirklihe richtig zur Darſtellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Iuw- uns] Menagrögmeer ri ührdela, und 16, 7: yo zer ülr- Haar Aym duiv, anderfeits A, 24: Todg zpogxuvoUvıu; aurdy Zv mveiuar xol almdelg dei moogxuveir. An der legteren Stelle bedeutet das artifellofe AArdeis, ebenfo wie Apxz an den oben ©. 516 angeführten Stellen, „in Aufrichtig- keit“, d. 5. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens wicht eine bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der auf die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung.

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und Ana als Treue des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner al Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zueft im Prolog Kap. 1, 14: 2Iewoaueda ziv dokar adrov, dökar is Hovoyevovs nuoà nurgös, -mangng zugırog xul dhmdelas. Ber die Bedeutung der altteftamentlihen Wortverbindung ngm mn. oder ya, D erfannt hat und berüdfictigt, wie die Septunginte ben Begriff ng ober my in dieſer Verbindung wiebergegeben haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Gnade und Treue“ und der Erflärung Ritſchls und anderer zuftimmen, der Evangelift meine, daß fich die volle Offenbarungsperrlidteit Gottes in der gefchichtlicheirdifchen Erfcheinung Jeſu den Züngern infofern dargeftellt habe, als fie an ihr dieſelbe Verhaltungeweijt wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen anderen altteftamentlichen Ausfprächen (vgl. oben S. 520) die daratte riſtiſchen Merkmale des ſich offenbarenden Heilsgottes find. om wir das Begriffspaar in dieſer Weiſe auffaffen, wird es um

Der Gebrauch der Wörter dAndera ac. 537

auch nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein heit der Empfindung und des Ausdrudes des Evangeliften er⸗ feinen, daß.er in V. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin» weiß auf das, was die Syünger in dem Kreatur gewordenen Logos angeſchaut haben, noch verftärfen und beftätigen will durch den Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von einem Aupußareır xagır Ävrl xapırog redet, während er doch Hinter ber, in V. 17 wieder fagt, da in Jeſu Chriſto die zupıs und die aArIeıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiſtungen, melde die Zünger für fich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erfceinen, nur al eine fi immer erneuernde xugıs, nicht aber als ein Verhalten, zu welchem in dem zwiſchen ihnen und Jeſu beftehenden Verhält» niſſe ober in vorangehenden von ihmen felbft Jeſu erwiefenen Reiftungen ein verpflichtender Grund gelegen Hätte, und infofern nicht als Area. Und doch konnte für die Jünger das Urteil Beſtand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeſtellt Babe,

Eine zweite Stelle finden wir am Schluffe der Nikodemusrede, Rap. 3, 21. Der in ®. 19 ausgefprodhene Sag, daß der Grund, weshalb die Menſchen das Licht, d. i. das dur den Sohn Gottes in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren bdfen Werken liege, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn jeder, welcher das Böfe thut, haßt das Licht und kommt nicht an das Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber die Ansam thut, kommt an das Licht, damit feine Werke kund verben.” Das noir ziv Ahrdem Äft hier die Übertragung »es hebräifcgen mug imppp, und ſowohl durch die Gegenüberftellung gen padvıc npwooer, als auch duch den übrigen Zufammen« ang der Stelle iſt es Mar, daB wir unter ihm verftehen aüffen: „das fittlich Rechte thun“, ober: „pflitmäßig, gewiſſen⸗ aft handeln“.

Mehrfach wird das Wort darge gebraucht in der Rede ‘op. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, ie 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr

588 Bendt

in meiner Verkündigung bleibt, fo feid ihr wahrhaft meine Finger und werdet die aAnFeıa erkennen, und die &Area wird euch frei machen“ (8. 31f.), fo wird ums der Zweifel, ob Hier nicht unter de die Wahrheit im Sinne eines richtigen Erkenntnisinhaltes über Gott oder daB göttliche Hell zu verftchen ſei, dadurch ges nommen, daß Jefus gleich darnach auf bie Einrede der aber, daß fie als Abrahamiden bereit: frei wären, die Antwort giebt: Wahrlich, ich fage end, jeder, der die Sünde thut, ift Knecht der Sünde“ (8. 84). Denn eine rechte begrimdende Baziefung diefer zweiten Ausfage auf jene erfte Liegt nu dann vor, wenn die adden als der Gegenfag und die Aufhebung der Süunde ge dacht ift, fo daß die Befreiung non der Knechtſchaft, in welcher die Sünde den Menſchen hält, erft mit der Aufnahme der 1r7Iea durch den Menfchen eintreten fann, mit ihr aber auch eintreten muß. Der Sinn von ®. 32 ift alfo: „he werdet das richtige ethifcp-religiöfe Verhalten erkennen und biefes Verhalten wird end frei machen“. Jeſus hält den Juden dann weiter vor, def fie, wie fie trotz ihrer außerlichen Freiheit doch hinſichtlich ihres eigente lich in Betracht fommenden Zuftandes, nämlich des ethifchen, ww frei find, fo auch trog ihrer Außerlichen Abftanınang von Abra⸗ Ham doch hinfichtlich ihres eigentlichen Weſens von einem anderen Vater abſtammen und daß fie dieſe ihre Herkunft daran bewähren, daß fie feine Verkündigung nicht aufnehmen wollen und ihn zu morden ſuchen, trogdem er ihmen die area verkündigt hat, weldhe ihm feitens Gottes, feines Vaters, offenbart worden iſt (8. 40). Ihr Vater ift der Teufel, und deſſen Begterban möhten fie ausüben, „der war Menfgenmörbder von Anfang und fieht wit in &Andelo, und Arsen ift nicht in ihm; wenn er das weidos ausfprit, fo fpriht er aus feinem eigenen Befige heraus, ....; weil ich aber die däYen verkimbige, glaubt ihr mir nicht; wer von euch überführt mid) in Betreff von Sünde? wenn ich aber arrIen verkündige, weshalb glaubt ihr mir nicht?“ (8. 44—46). Wie wir bier einerſeits um der beutfichen Be ziehung willen, in welcher dieſe Erbrterung zu dem fie beranfafiene den Anfangsworte Jeſu V. 31f. fteht, genötigt find, die ArIem weldje der Inhalt der Verkündigung Jeſu ift, welche aber dem

Der Gebraud) der Wörter dAndsıe ıc. 589

Weſen und ber Verkündigung des Teufels ganz fremd ift und deshalb auch bei den Kindern des Teufels feine Anerfennung und Aufnahme findet, ebenfo wie dort am Anfange von dem richtigen ethiſchen Verhalten im Gegenfage zur Sünde zu verſtehen, fo wird und anderfeits durch die Schlußworte der Grörterung, wo wieher Area in direkten Gegenfag zur äuapria geftellt ift, die Richtigkeit dieſer Auffaſſung beftätig. Denn nur bei dem durch diefe Aufe faffung gegebenen Sinne kann Jeſus mit vollem Rechte die zur geftandene Thatſache, daß man ihm Sünde nicht vorwerfen Tan (und dem Zufammerhang ift dabei nicht an Sünde feines Handelns, fondern an Sünde als Inhalt feiner Verkündigung gedacht), als Grundlage für dem Vorwurf betrachten, daß man feiner Wer Kindigung von dArIeıu keinen Glauben ſchenkt. Man Hat viel fach, um eine richtige, Logifch folgernde Verknüpfung zwiſchen den beiden Fragen B: 46 Herzuftellen, die Bedeutung der aͤucorla auf den Begriff der Unwahrheit oder des Srrtums einfchränfen su milffen gemeint; aber man muß vielmehr bie gewöhnliche Ber deutung der AAnIen auf ben Begriff des der fittlichen Pflicht entſprechenden richtigen Verhaltens erweitern, und zwar muß man diefe Erweiterung nicht als eine willkarlich vom Evangeliſten vor⸗ genommene Berſchiebung der Wortbebettung betrachten, ſondern als eine folche, welde in dem Sprachgebrauche der Septuaginta, der feinerfeits wieder deutfich durch den Kebrätfchen Sprachgebrauch bedingt ift, ihre gefchichtliche Begründung und in dem Sprachge⸗ brauche des Paulus ihre vofiftändige Analogie Hat.

Das hHohepriefterliche Gebet Jeſu bietet uns einen meiteren Beleg für Diefe Bedeutung. Jefus bittet, daß jet, mo er felbft ws der Welt geht, Gott feine in der Welt zurückbleibenden Jünger bewahren möge (17., 11ff:). Cr bittet nicht, daß Gott ie aus ber Welt fortnehme, fondern daß er fie wor bem Böjen dx 100 movngoö) bewahre (®. 15). Auf dieſe Bitte folgt zuerſt n 8. 16 die Ausfage, daß die Jünger nicht ans der Welt ſeien, vie er felbft, Jeſus, nicht aus derſelben fe, eine Ausfoge, welche sofern zur Motivierung der Bitte dient, als das den Jüngern ir die Zukunft Erbetene ihrem gegenwärtigen Zuftande entfprechend t. Dann aber fegt Jeſus feine Bitte mit folgenden Worten

bie Bebentung ber hebrätfchen Worte nur und oy den Schluffel bieten muß. in Wort, welches den Sim diefer hebrätfchen Work ganz genau wiedergabe, fehlt der griechiſchen Sprache ebenſo wir der deutfchen; verhaltmiomäßig am paffenditen wurde das en loric fein, weil basfelbe ſowohl die Treue des ber Wirklichtei entfprechenden Aubſagens und Borfteliens, als aud die Trem as | pflichtgemaßen Verhaltens bedeuten fan. Und fo Haben aud dir Sepinaginta das Niphel des Verbums Toy in Dil den werfiier denen Bedeutungen, welche denen von ring und mymx anafog find, durch Worte, die vom Stamme nıor- gebildet find, wiedergegeben. Aber auffallenderweife haben fie das Wort my nur an de Häffte der Stellen, das Wort non nur in ganz wenigen Fällen darth aloric bezw. mıorög überjegt. An den übrigen Gteffen haben fie faſt durchweg die Worte Ad7den, ddnIyg und dänderds an- geivendet, deren eigentlicher Sinn do nur ber Bedentung entipricht, welche das Wort mg in einer beftimmten Aumendaug hat, deren Sim von ihnen mem aber fo erweitert worden äft, daß er and die Bedeutungen, welde px in den anderen Arten feiner Auwen- bung und damit übereiuftiutmend yox Hat, umfaßt.

u Bendt | | |

Wern wir unter dieſen Boransfegungen an dus Neue Te ftament hinantreten, fo kann es uns bei der ftarlen Besiuflnj fung durch die Septuaginta, welche die Sprache des Neuen Teie mentes fonft zeigt, nicht befremden, wenn wir andy bie Worte dtden, Ahnds und AySwös hier zum Teil in einem Cime verwendet finden, für deffen Eigentimlichteit wir in der Bebruung der Worte npy und pay bie Erklärung ſuchen muſſen. Es gift für uns jet, diefen Hebraifierenden Grbrauch jener orte im neuen Teftamente genau feftzuftellen.

Vorwegnehmen konnen wir zuerft die vielen, faſt aueihfiehe lich dem geſchichtlichen Büchern angehörigen Stellen, wo bie Ant dräde Zu’ anmdelag über dintüg einfach in demſelben Gimme gebraucht find, wie im Hebraifchen ngyg, ober dywte, am bi Unie fagen oder Erkennmiſſen hervorzuheben, daß ihr Inhalt mit dar Wirklichteit übereinftimmt. Teils werden dieſe abperhiclm Ude

Der Gebrauch der Wörter dANdee ıc. 529

ride mit dem Verbum verbunden, welches das Ausfagen oder Ertennen bezeichnet (dre’ dAmIelas ehnog, örı xer.: Marl. 12, 32; ir umdelas Mya: Luk, 4, 25; Zu’ Almdelos xorakapparonar: Apq. 10, 34; aAnIos Alyw: Qul. 9, 27; 12, 44; 21, 3; Andig olda: Apg. 12, 11; Andus Yyrwoav: Joh. 7, 26; 17, 8), teil werden fie mit der Bezeichnung der Thatfache felbft, deren Behauptung richtig ift, verbunden (3. B. dr’ aindelns zul irog ner’ adron Mr: ul. 22, 59; Amdüg Head viög ef: Matth. 14, 33; vol. 26, 73; 27, 54. Mark. 14, 70; 15, 39. 91,48; 4, 42; 6, 14; 7, 40; 8, 31. 1Xefj. 2, 13; 190.2, 5). Zu diefer letzteren Kategorie gehört auch die Stelle A. 4, 27: ovrnyInoas yüp In’ üyselag iv T5 möleı zarım x, nur mit der Beſonderheit, daß hier als die Ausfage, deren richtige Übereinftimmung mit der Wirklichkeit durch ir’ dArSelag hervorgehoben werden foll, nicht diefe gegenwärtig die Thatſache ausfprehenden Worte gedacht find, fondern das vorher in V. 25f. angeführte Pfalmwort, welches prophetifh die Thatfache verkün- digt Hatte,

Dann wenden wir und zunächft zu den paulinifchen Brie fin‘), wo bei einer evften Reihe von Stellen ary9eın „Wahr: Heit“ bedeutet, d. h. die Nichtigkeit, welche Äußerungen oder Er fenntniffe infofern haben, als fie etwas Wirkliches zum Ausdrude der zur Borftellung bringen. Doc ift Hier wiederum eine Ver⸗ Idiedenheit des Gebrauches zu bemerfen. Nur an wenigen Stellen wird das Wort fo gebraucht, daß es die Wahrheit rein als eine It und Befchaffengeit des Ausfagens oder Erkennens ber Adnet, indem es mit einer Präpofition als adverbiale Näher- eſtimmung zu dem Verbum des Ausfagens oder Erkennens Hinzu« ritt, nämlich 2Ror. 7, 14: ds narsa dv Anden Makroaner iv; Kol. 1, 6: Zmeyrwre sr» ya Ton Heu dv Almdeig;

V Die Stellen des Epheferbriefes, ben ich nicht für authentiſch pauliniſch Mte, ziehe ich doch Hier gleich mit in Betracht, weil fich der Gebraud des ortes ARHISEa in dieſem Briefe ganz dem Gebraude der pauliniſchen siefe anfchließt. Die Stellen der Pafloralbriefe dagegen werde ich nachher onders berückfihtigen.

Abesl. Stud. Yafız. 1888. 86

880 Bendt

Vhil. 1, 18: nayrl reömp, eire mpopaneı eire Andele, Kouors zuroyy&akeroı!). Als Eigeuſchaft ber ausfagenden Perſon, alſo in der Bedeutung Wohrhaftigkeit“, erſchrint aandeis 2 Kor. 11, 10: dorıw Ad Kororod dv Zul, örı xur.?) Boeiker aber wird das Wort fo gebraucht, daß es einen ſolchen Gedanken⸗ inhalt bezeichnet, in welchem bie Wirklichleit zur richtigen Dar ſtellung gelangt: Wir gebrauchen unfer Wort „Wahrheit“ in der felben Weife, werden ober ben Sinn des griechtjchen Wortes noch präcifer wiebergeben, wenn wir in dieſen Fällen überjegen: „Wah⸗ res, Richtiges“ oder: „Was wahr, richtig if.“ Im LÜbergauge zu dieſer Bebentung fteht das Wort, mo es präbdifativiich van Aus fagen gebraudt wird (2Ror. 7, 14: 9 wwunuug Auar ... dr- Ha yerıdn; Eph. 4, 21: eye... dr abrh Lrdugdyse, zudıi low üdrdeın dv 70 Inoos). Beftimmter aber tritt diefe Ber deutung hervor, wo das Wort als Objekt bei Berbm des Aus- fagens gebraucht ift (MArIear Ayo: Rom. 9, 1; indem Zaw: Kor. 12, 6; Ankeire äi7Iuv: Eph. 4, 26), ober als Gene- tivus objecti bei Subftantiven, welche ein Ausſagen bezeichnen (2Ror. 4, 2: 77 Yuregwosı z76 Amdelag „burd, Qundthuung des Wahren“; 6, 7: dv Ayo arndelas „in Verkündigung von Wa rem“; Kol. 1, 5 und Eph. 1, 18: 6 Aöyog zis dtmdelas; ferner Rom. 2, 20: oyro rw nogpuow rrs yraasug xal zig aAmdelag Ir zo vöup „ber du den Ausdruck der Erkenntnis und defien, mas wahr ift, im @efee Haft *). Hieran reihen fich folgende Stellen: Gal. 2, 5. 14 und Kol. 1, 5 bedeutet 7 dAgIeıu Tau erayyelloo: „der wahre (d. i. richtig die Art und die Bedingungen des Hele« verhältmifjes der Menſchen zu Gott bezeichnende) Erkeuntnisinhalt,

1) An der letztgenannten Stelle hat dAyHeıa im Gegenſatze zu wedpass den Sim der Aufrichtigkeit, weil hier als das Wirkliche, weiches bei dem zur- ayyöiiscdns Ey dAndelg zum Ausbrud gebracht wird, bie innere Gefiuzung de8 Berkündigenden gebacht ift, welche fich wirklich auf das Verkündigen Chriſti tidhtet, während bei dem zasayyeilsogu Ev mgopdası die Gefinmung des Berkündigenden ſich eigentlid auf etwas auberes richtet, das Berfündigen Chrii aber als Mittel braucht, um dieſe anderen Ziele gu erreichen.

9) Bgl. das Abjectivum 2 Kor. 6, 8: ds midvo xal dindeis „wit Irrende und Wahre (d. h. richtig Erkenneude und Redende)“.

Der Gebrauch der Wörter dAydeıe 1c. 81

welchen das Evangelium uns verleiht.“ Gal. 5, 7 Heißt es: „Wer hat euch gehemmt, aAm9sla !), d. h. Wahrem (einer Ber»

- kündigung, welche end vichtig belehrte), zu gehorden?“ Werner Rom. 1, 18: ardgunws züv ırv ihydeav dv üdurla xursgörren, d. h. „der Menfchen, welche das Richtige (uänlich ihre richtige Erfenntnis von Gott) in- Ungerechtigkeit unterbräden“, und ganz analog in B. 25: ofrwes wernMabav Tiv arg Too Heu » ro yeider, d. h. „welche die richtige Erfenntnis von Gott (wicht, wie gewöhnlich erflärt wird: „das wahre Weſen Gottes“) in ihrer Lüge verwandelt Haben“. Endlich wird an der Stelle Eph. 4, 22ff. dem alten Menfchen, „welder verberbt wird gemäß den Zmudyular zig ünurng", d. i. gemäß den fündigen Begterden, welche den verfinfterten, irvenden Gedanken des borchriſtlichen Zur ſtandes entfpringen (vgl. V. 17 f.), gegenüberftelit der neue Menſch welcher gottgemäß geichaffen worden iſt 2 dummar»n xal önrörsre zus mdelag“, d. h. in der Rechtbeſchaffenheit und Heiligkeit, welche aus der richtigen Verkündigung und Erfenntniß (über Gott) entfpringen (vgl. B. 21).

Andere paulinifhe Stellen erinnern uns beftimmter an den oben betrachteten hebräifchen Sprachgebrauch. Zuerſt eine Stelle, wo &Ajdsıa entſprechend ber Bedeutung, welde wir für Ag und ymy einige Dale fanden (vgl. oben ©. 517), bie rihterlihe Gerecht igke it bezeichnet. Nm. 2, 2 heißt es: „wir wiffen, daß das Gericht Gottes zur aljderev über die ſolches Thuenden ergeht“. Mir feheint, dag wir Bier den Ger danken des Apoftels nicht vollftänbdig wiedergeben, wenn wir xaza Akjesav überfegen: „wahrheitsgemäß“, fondern daB wir über⸗ Jetzen müffen: „nach Gerechtigkeit, gebührend“, fo daß der Sinn nieht, wie bei der anderen Auffaffung, nur ift, beim Gerichte werde das Verhalten der Menſchen durd Gott rihtig erfannt und berüdfiätigt, fondern vielmehr noch beftimmter, es werde eine

1) 4Andelg iſt mit Tiſchendorf nah NAB ohne Artikel zu Iefen. Durch das fehlen desfefben iſt ausgebrüdt, baf dasjenige, was Bei der beftimmten wahren Verkündigung, welcher bie Galater nicht gehorcht haben, ihren Gehorfam jätte reizen und finden follen, die Wahrheitsqualität im allgemeinen mar.

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5832 Bendt

feinem Schuldwerte entſprechende richterliche Vergeltung er fahren, wie dies nachher in V. 6ff. vom Apoſtel noch befonders ausgeführt wird. "AA Isa bedeutet hier doch eine etwas anbere Art der Übereinftimmung mit der Wirklichkeit, als welche wir durch „Wahrheit“ zu bezeichnen pflegen.

An zwei anderen Stellen bed Römerbriefes ift von der alrdeıa Gottes die Rebe, wo mir durch den Zuſammenhang unmittelbar darauf geführt werden, fie von der Treue Gottes zu verftehen, in der er dem Heilsverhältniſſe, zu welchem er fih dem Volle Israel gegenüber durch feine Verheißungen verpflichtet Hat, pflichtgemäß entſpricht. Am Anfange von Röm. 3 weiſt Paulus zuerft die Trage, ob nicht die amriorde ber einzelnen gsraeliten die relazıg Gottes aufheben werde (B. 3), zuräd durch die Behauptung der diefer Befürchtung entgegengefegten Thatfadze, daß vielmehr Gott dAndrs und jeder Menſch weuarns. werden müffe, indem er biefe Behauptung durch das altteſtamentliche Schriftwort begründet, daß Gott in feinen Worten ein dızaou- 09a erfahren, d. 5. als dixmrog anerfannt werden müffe (8. 4). Hieran fchliegt dann Paulus die Frage, ob nicht, wenn fo die dexaioodyn Gottes gerade durch bie Adıxla ber Joraeliten zur Darftellung gebradt werde, das Strafgericht Gottes über die adıria ungerecht, unbillig fein würde (V. 5), und diefe frage wieberholt er in V. 7 noch einmal, indem er nur ihren Wortlaut verändert: „denn wenn die AAmdeıa Gottes auf Grund meines Yevone Übergroß geworden ift zu feiner Ehre, was merde ih dann noch als Sünder gerichtet?“ Es ift einleuchend, daß in diefem Zufammenhange die Begriffe mlorıs und anıorlo, ardee und yerona, dixcuociyn und adırla von Paulus ganz gleichbe deutend gebraucht find. Er läßt zuerft für zlorıs und amımia den Gegenfag &in9n6 und edorng eintreten, und kann feine Be Hauptung, dag Gott troß aller Untreue der Menfchen immer A975 bleiben müffe, deshalb durch das vom duxauvosa: Gott redende Schriftwort begründen, weil nad) feinem WBermußtfeit Ölxoıog dasſelbe bedeutet, was er vorher unter aAn97s verfianden hatte; der Ausdrud des Schriftwortes veranlaßt ihn dann bei der Aufftelung der neuen Frage, zunächft das Wort dumoaivn u

Der Gebraud der Wörter @Andeıa ac. 588

brauchen und adırda dazu in Gegenſatz zu ftellen; daß es ihm dabei aber doch noch um den Gegenfaß derfelben Verhaltungsmeifen zu thun ift, von denen er vorher gefprochen hatte, beweiſt er da= durch, daß er ſich bei der Wiederholung der Frage in V. 7 auch im Wortlaute wieder zurückwendet zu der Gegenüberftellung der in B. 4 gebrauchten Begriffe. Man beachte übrigens, wie bier in Abhängigfeit von der Bedeutung ber Begriffe arnIns und &rFeu auch die entgegengefegten Begriffe wevorns und Yeraua offenbar einen im Vergleich zu ihrer fonftigen griechiſchen Bes deutung erweiterten Sinn erlangen; denn ficher meint Paulus in 8. 4 u. 7 nicht nur die Lügenhaftigfeit der Menfchen, in welcher fie die erfannte Wirklichkeit nicht vecht zum Ausdrud bringen oder fih der ihnen dargebotenen wahren Erkenntnis und Kundgebung verfchließen, fondern im Gegenfage zu der Treue Gottes die Un« treue der Menfchen; in welcher fie gewiſſenlos ihre Verpflichtungen Gott gegenüber verlegen. Die zweite Stelle ift Röm. 15, 8f., mo es heißt: „ich meine, daß Chrifius Diener der Beſchneidung geworden ift ömdg dAnIelas Ieov, damit er die Verheißungen der Väter befeftige, die Heiden aber oͤrdo 2Aovs Gott priefen.“ Hier find AA79ea und Neoc die Übertragung von mpg ober ng und pn; die letztere Verhaftungsmeife Gottes, feine die Sünde vergebende und ein Heilsverhältnis neu begründende Barmherzig⸗ feit bewährt ſich gegenüber den Heiden; feine Treue aber, in welcher er das beftehende Heilsverhältnis aufrecht erhält und die in dem⸗ felben gegebenen und ihn felbjt verpflichtenden Verheißungen durch entſprechende Erfüllung befeftigt, bewährt fich gegenüber dem Volke der Beichneidung. .

An einigen anderen Stellen finden wir Ana in direkten Gegenfag geftellt zu zovngts und adızla, und Können hier ans nehmen, daß Paulus mit dem Worte die Richtigkeit bes etHifhen Verhaltens, zu welcher die Wahrhaftigkeit in Wort und That nur als eine Seite gehört, hat bezeichnen wollen, und mar ohne daß von ihm dabei noch die Verfchiedenheit des Sinnes, »urch melde im Hebrätfchen npx und may von pjy und mpIy retrennt find, beobachtet ift. 1Kor. 5, 8 Heißt es: LoprdLwer er... dr idum xuxlag al novnolas, GAR 2v ükbuoıs elhınprelag

584 Wendi

al almdelas, 13, 6: od zalpsı Zn ri üdınla, ovyyalgeı di zjj Almdela, Rom. 2, 8: reis... Ansıdoücer ud ri AdnIeln, mudonbvors 62 z Adızla. Wenn Baulus ferner 2 Theff. 2, 10ff. mit Bezug auf die mupovoln des üvouos, des Ardewnog zis “pogsius ſchreibt, fie werbe gefchehen iv maoy anden adslas zog änorkvulvos, dvd’ dv vir Ayanıy Tg Almdelag oix 2dlkarıo eĩc 10 awsiva avrovg" xud dıa Tovro neun autos 6 Sec dvlgysay mAayrg, els To mıoredooı adroüg To werden, Tva zgudäo änayres ol um morebouyreg 77 ühmdela aAA” eudonnonsres lv z5 üdedg, fo beachte man, dag auch hier die aAndeıa nicht etwa im Gegenfag zur aͤräͤrn oder mAdın fteht, fo daß wir fie deshalb als Wahrheit der Erkenntnis oder Verkündigung auffallen müßten, fondern im Gegenfage zu der adızla, welche den Inhalt und die Art der Yrreleitung ausmadt. Der Sinn ift, def jene BPerfonififation der Unfittfichkeit, als melde‘ der Anticheift gedacht ift, die Ungfäubigen zur Unfittlichfeit verführen wird und daß in biefer Verführung und dem darauf folgenden göttlichen Gerichte die Strafe dafür liegen wird, daß fie dem, was ethiſch richtig iſt, nämlich dem criftlihen Evangellum, weldes fie über das richtige ethiſch⸗ religiöſe Verhaften belehren und zu demſelben antreiben und befähigen wollte, feine Liebe und fein Vertrauen gewidmet haben. Unter der ana iſt alfo freilich das chriftliche Evangelium vers ftanden, aber dasſelbe nicht im alfgemeinen, fondern ſpeziell in ber Beziehung, daß es jene ethifche Art umd Abzwedung hat. Wir müflen dann aber aud im dem folgenden ®. 12, wo Paulus feine Danf barkeit darüber außfpricht, daß Gott die Theſſalonicher, im Gegen ſatze zu den eben charafterifterten dmoAAyuevor, erwählt Habe zum Heile W you nyeinarog xal nlorer dAndelas, diefe legten Worte von dem Vertrauen auf das ethiſch Richtige verſtehen; nicht der chriſtliche Glaube im allgemeinen, fondern fpeziell die Hingabe des Gläubigen an ben ethifchen Yuhalt des Evangeliums ift gemeint, und deshalb erſcheint dieſe aloric aim9elas fo unmittelbar ver Inüpft mit dem dyınauös zveunaros, welcher ebenfalls eine im Atlichen Leben: ſich vollziehende Erfahrung bes Gläubigen durch hen Gottesgeift bedeutet.

In der Ausfage 2 Kor. 13, 8: ou yüp durdmds Tu zura

Der Gebraud der Wörter dAndeim ıc. 585

rs Andeluc, GM into vis aAndelas, iſt der angegebene ethiſche Sinn ded Wortes 0A’ zwar nicht durch ansdrückliche Gegen- überftellung von &dexelo, aber doch deutlich genug durch den Zus fammenhang angezeigt. Paulus Hat im Vorangehenden ausgeſpro⸗ den, daß er bei feinem bevorftegenden neuen Befuche in der for rinthiſchen Gemeinde ein ſchonungsloſes Strafgeriht über die agenuogrmöres werde ergehen lafjen (12,21 13,2), und bag er darin die Bewährung feiner apoftolifchen Autorität geben werde, welche die Korinther angezweifelt und herausgefordert Hatten (13, 3.4. 6). Aber er fügt Hinzu, fein eigentfiher Wunſch richte ſich doch darauf, dag die Korinther nichts Böfes, fondern nur Gutes thäten, umd ihm felbft dadurch jene Gelegenheit, feine apoſtoliſche Autorität ihnen gegemübes zu bewähren, entzogen würde (®. 7). Benn er diefen leizten Gedanken nun durch bie angeführten Worte in V. 8. begründet, fo kann der Sinn berfelben nur fein, daß es ihm nicht möglich wäre, im Sntereffe der Geltendmachung feiner Autorität Partei zu ergreifen gegen ein richtiges Verhalten, wie er es bei den Korinthern vorfinden würde, falls fein in V. 7 aus. geſprochener Wunſch ſich erfüllte, fondern daß er nur für das tihtige Verhalten Partei ergreifen könne.

Nur zweifelhaft möchte ich mid ausbrücden hinſichtlich der Stellen Phil. A, 8: dom Zorlv din, dom osurd, 800 Öl... Urs ügerr xl el nis Inowvog, Todra Aoylicote, Eph. 5, 9: 5 mognög Tod gards dv dom dyadwadı zul dirmoocrn med ünddlq, 6, 14: orits odv megılwodueron zrv dopiv dnav iv ühydelg xor Ivövadueroı rov Igaxıı Tis dinmuorvng, WO einere ſeits die enge Zufammenftellung mit anderen Begriffen, welche ftlihes, gutes Verhalten im allgemeinen bezeichnen, es nahe legt, auch And und KArFea von dem richtigen Verhalten im allge— Meinen zw verftehen, wo doc aber auch die Möglichkeit zugegeben werden muß, daß Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit im Gegenfage dur Lüge und Heuchelel gemeint felen.

Der fehe umfafjende Gebrauch, welcher in den johanneifhen Schriften, dem Evangelium und den drei Briefen, von den Ber griffen AyIeıa, Ang und AAnIwög gemacht iſt, zeigt die nächfte Verwandtfchaft mit dem Gebrauche biefer Begriffe in den pau-

586 Bendt

liniſchen Briefen, und zwar beruht diefe Verwandtſchaft auf dm gemeinfamen Anſchluſſe an den altteftamentlihen Sprachgebrauch Mir fcheint in dieſer Thatfache, welche ich im Folgenden darzulgm habe, ein Moment zu liegen, weldes auch für die Beurteilung des Urfprunges ber johanneifhen Schriften nicht ganz ummwejen- lich iſt.

Wir betrachten zuerſt den Gebrauch des Subftantivum au⸗

Io im Evangelium. An einigen Stellen ift mit dieſem

Worte die Wahrheit bezeichnet, in welcher das Wirkliche

richtig zur Darftellung kommt. So einerfeits 5, 33: [Muw- |

vns] Memagrögrper zj ähneln, und 16, 7: Yo zer ülr- Yeoy Ayo üuiv, anderſeits 4, 24: Todg moog«uvoürs aörov dv myeiparı zul dlmdela dei moogxuveir. An dit Iegteren Stelle bebeutet das artitellofe dAndela, ebenfo wie npyz an den oben ©. 516 angeführten Stellen, ‚in Aufrichtig- teit“, d. h. fo, daß die äußere Handlung des Anbetens nicht eine

bloß äußere Handlung ift, fondern ein richtiger Ausdruck der af |

die Gottesverehrung gerichteten inneren Gefinnung.

An anderen Stellen aber find wir ebenfo beftimmt genötigt, die Bedeutung „Wahrheit“ aufzugeben und dArIeu als Treue des pflihtmäßigen Verhaltens oder noch allgemeiner alt Nichtigkeit des Verhaltens zu verftehen. So zuerft in Prolog Kap. 1, 14: 2Ienodueda ziv dökar auron, dökar ) Aovoytvoug map nurgög, rAmeng xüpıros zo ühmdelag. Ber die Bedeutung der altteftamentlichen Wortverbindung nom mi oder yon, 'n erfannt Hat und berüdjichtigt, wie die Geptuaginte den Begriff mpg ober pro in dieſer Verbindung wiedergeheben haben, wird an unferer Stelle ohne weiteres überfegen „voll Ende

und Treue“ und der Erklärung Ritſchls und anderer zuftimmen, |

der Evangelift meine, daß ſich die volle Offenbarungsperrlidkit |

Gottes in der gefehichtlicheirdifchen Erfcheinung Jeſu den Güngen |

infofern dargeftelft Habe, als fie an ir dieſelbe Verhaltungeweit wahrgenommen haben, welde nad Ex. 34, 6 und vielen andere aftteftamentlichen Ausfprüchen (vgl. oben &. 520) die darafte- riſtiſchen Merkmale des fich offenbarenden Heilsgottes find. Lem wir das Begriffspaar im dieſer Weiſe auffaffen, wird es um

Der Gebrauch der Wörter dAndein ıc. 587

auch nicht als auffallend, fondern als befondere Probe der Fein- heit der Empfindung und des Ausdruckes des Evangeliſten er feinen, dag.er in V. 16, wo er den in V. 14 gegebenen Hin- wels auf das, was die Jünger in dem Kreatur gewordenen Logos angefhaut haben, noch verftärten und beftätigen will durch den Hinweis auf das, was fie von ihm empfangen haben, nur von einem Anufdvev ydpı ürrl xagırog redet, während er doc; hinter« ber, in V. 17 wieder fagt, daß in Jeſu Ehrifto die zapıs und bie Ar Ieıa verwirklicht worden fei. Alle Erweifungen und Leiftungen, welche die Jünger für ſich felbft von Jeſu erfuhren und empfingen, mußten ihnen nur als zuvorkommende Huld erſcheinen, nur als eine fich immer ernenernde zapıs, nicht aber als ein Verhalten, du welchem im dem zwiſchen ihnen und Jeſu beftchenden Verhält niffe oder im vorangehenden von ihnen felbft Jeſu erwiefenen Leiſtungen ein verpflichtender Grund gelegen Hätte, und infofern nicht als AnIe. Und doch konnte für die Sünger das Urteil Beftand behalten, daß in anderen Beziehungen das Verhalten Jeſu ſich ihnen auch als vollfte Übung pflichtgemäßer Treue dargeſtellt habe.

Eine zweite Stelle finden wir am Schlufe der Nitodemusrede, Rap. 3, 21. Der in®. 19 ansgefprodene Sag, daß der Grund, weshalb die Menſchen das Licht, d. i. das durch den Sohn Gottes in der Welt offenbarte Heil nicht lieben, in ihren böfen Werken liegt, wird in V. 20f. begründet durch folgende Worte: „Denn jeder, weldyer das Böfe thut, haft das Licht und kommt nicht an das Licht, damit feine Werke nicht geftraft werden; wer aber bie rdaa thut, kommt an das Licht, damit feine Werke fund erden.” Das moriv vv Alrdear iſt Hier die Übertragung des hebraiſchen nyx Ipy, und fowohl durch die Gegenüberftellung jegen Yadıa zgaooew, als auch durch den übrigen Zufammen- ang der Stelle ift «8 Mar, daß wir unter ihm verftehen nüffen: „das ſittlich Rechte thun“, oder: „pflihtmäßig, gewiſſen⸗ raft handeln“.

Mehrfach wird das Wort arrIen gebraucht in der Rede tap. 8, 31ff., wo wir die gleiche Bedeutung anzunehmen haben, die 3, 21. Wenn Jeſus mit den Worten beginnt: „Wenn ihr

588 Bendt

in meiner Verkündigung bleibt, fo feid ifr wahrhaft meine Jimger und werdet die dAyIeıa erkennen, umd die «Area wird end) fri machen“ (B. 31f.), fo wird uns ber Zweifel, ob Hier nicht unter area die Wahrheit im Sinne eines richtigen Erkenntnieinhalici über Gott oder das göttliche Heil zu verftchen ſei, dadund ge⸗ nommen, daß Jefus gleich daruach auf die Einrede der Syaden, daß fie als Abrahamiden bereit® frei wären, die Antwort giebt: Wahrlich, ich fage euch, jeder, der die Sünde thut, iſt Luecht der Sünde“ (®. 34). Denn eine rechte begründende Beziehung dieſer zweiten Ausfage auf jene erfte liegt nur dann vor, went die Anden als der Gegenfag und die Aufhebung der Sunde ge dacht ift, fo daß die Befreiung non der Knechtſchaft, in welcher die Sünde den Menſchen hält, erft mit der Aufnahme der adydem durch den Menfchen eintreten fann, mit ihr aber auch eimtreten muß. Der Sinn von V. 32 ift alſo: „he werdet das richtige ethifch-religiöfe Verhalten erkennen und dieſes Verhalten wird end frei machen“. Jeſus Hält den Juden dann weiter vor, daß fit wie fie troß ihrer Außerlichen Freiheit doch Hinfichtlich ihres eigent lich in Betracht kommenden Zuftandes, nämlich des ethifchen, ww frei find, fo auch trotz ihren Außerlihen Abſtammung von Abre Ham doc Hinfichtli ihres eigentlichen Weſens von eimem anbera Vater abſtammen und daß fie diefe ihre Herkunft daran bewäßren, daß fie feine Verkündigung nicht aufnehmen wollen und ihn zu morden fuchen, trogdem er ihmen bie are verkünbigt hat, welche ihm feiten® Gottes, feines Waters, offenbart worden iſt (8. 40). Ihr Vater ift der Teufel, und deffen Begterden mödten fle ausüben; „der war Menfgenmörber von Anfang und feit wit in Andelo, und aArderm ift nicht in ihm; wenn er dab verdog ausfpriht, fo ſpricht er aus feinem eigenen Beſitt heraus,...; weil ich aber die aändeıa verkundige, glambt ihr wir nicht; wer von euch überführt mic in Betreff von Sünde? wenn ic) aber ArAIeın verkündige, weshalb glaubt ihr mir nidt?“ (8. 44—46). Wie wir hier einerfeits um ber deutlichen Bo siehung willen, im welcher diefe Erörterung zu dem fie weranlaflen den Anfangeworte Jeſu V. 81f. fteht, genötigt find, die AyIe welche der Inhalt der Verkündigung Jeſu ift, welche aber des

Der Gebraud) der Wörter dAugese ıc. 589

Weſen und der Berfündigung des Teufels ganz fremd ift und deshalb auch bei den Kindern des Teufels keine Anerkennung und Aufnahme findet, ebenfo wie dort am Anfange von dem richtigen ethifhen Verhalten im Gegenfage zur Sünde zu verfichen, fo wird uns anderfeits durch die Schlußworte der Erörterung, wo wieber “hc in direkten Gegenfag zur ünuprla geſtellt ift, die Richtigkeit dieſer Auffaſſung beftätigt. Denn nur bei dem durch diefe Aufe faſſung gegebenen Sinne kann Jeſus mit vollem Rechte die zur geftandene Thatfache, daß man ihm Sünde nicht vorwerfen kann (un dem Zuſammenhang tft dabei nicht an Sünde jeines Handelns, fendern an Sämde als Juhalt feiner Verkündigung gedacht), als Grundlage für den Vorwurf betrachten, dag man feiner Vers ündigung von 79a keinen Glauben ſchenkt. Man hat viel fach, um eine richtige, Logifch folgernde Berfnüpfung zwiſchen den beiden ragen ©. 46 herzuftellen, die Bedeutung der aungria auf dem Begriff der Unmahrheit oder des Irrtums einfchränfen zu müſſen gemeint; aber man muß vielmehr bie gewöhnfihe Ber deutung der ana auf den Begriff des ber ſittlichen Pflicht eutſprechenden richtigen Verhaltens erweitern, and zwar muß man diefe Erweiterung nicht als eine willkurlich vom Gvangeliften vor⸗ genommene Verſchiebung der Wortbedeutung betrachten, ſondern als eime ſolche, welche in dem Sprachgebrauche der Septuaginta, der feinerfeitS wieder deutlich durch den Hebrätfchen Sprachgebrauch bedingt ift, ihre geſchichtliche Begründung und in dem Sprachge⸗ brauche des Paulus ihre vollftändige Analogie Hat.

Das hohepriefterliche Gebet Jeſu bietet uns einen weiteren Beleg für diefe Bedeutung. Jefus bittet, daß jetzt, mo er ſelbſt aus der Welt geht, Gott feine in der Welt zurudbleibenden Zünger bewahren möge (17., 11ff.). Er bittet nicht, daß Gott fie aus ber Welt fortnegme, fondern daß er fie vor dem Böen (dx zo novnpoü) bewahre (B. 15). Auf diefe Bitte folgt zuerft in B. 16 bie Ausſage, daß die Jünger nicht aus der Welt feien, wie er felbft, Jeſus, nicht aus derfelben. fei, eine Ausſage, welche infofern zur Motivierung ber Bitte dient, als das den Yüngern Für bie Zukunft Erbetene ihrem gegenwärtigen Zuftande entfprechend ft. Dann aber fegt Jeſus feine Bitte mit folgenden Worten

546 Bendt

fort: „Weihe fie in der aA79ea ), beine Offenbarung ift är- Hera; wie du mic in die Welt entfendet haft, jo habe aud ih fie in die Welt entfendet, und zu ihren Gunften weihe ich mid, damit auch fie geweiht felen in Anden" (®. 17—19). Der Sinn diejer Worte und ihre enge Beziehung zum Vorangehenden teitt nur dann, dann aber auch mit voller Klarheit hervor, wenn wir in ihnen &An9eıa als direften Gegenfag zum mrorngo» 8. 15 auffafjen und das in V. 17 erbetene Wirken Gottes als die poſi⸗ tive Kehrjeite desfelben Verhaltens betrachten, welches nad jene negativen Seite in V. 15 bezeichnet ift. Gott bewahrt die Jünger vor der Welt, und zwar nicht in Außerlicher Beziehung durd äußerlihe Hinwegnahme aus der Welt, fondern in ethiſcher Be ziehung durch Bewahrung vor dem Böfen der Welt, indem er fie heilig, d. 5. ſich zugehörig macht, und zwar wiederum in ethiſcher Beziehung, nämlich indem er fie erhält und fördert in -dem rich⸗ tigen religiös-fittlihen Verhalten, welches feine Offenbarung fie lehrt. Mir fcheint e8 aber ſicher, daß wir dann in B. 19 das zu Aynoubvog gejegte &v üAnIela in demfelben Sinne verfichen müffen, wie da6 77 aAndeig V. 17: die Weihung, welche die Jünger erfahren, fol durch diefen adverbialen Zufag nicht aid eine wahrhafte, im Gegenſatze zu einer bloß ſcheinbar ſich vol ziehenden bezeichnet werden, fondern foll wieder nad) ihrer ethifcen Art charakterifiert werden. Dem das Fehlen des Artikels vor Andee in V. 19 kann man nit als entjcheibenden Gegengrund gegen diefe Zurücheziehung auf das dr ri aAndele V. 17 gelten laſſen, wenn man berüdfichtigt, wie auch 8, 4df. im offenbar gleigem Sinne zuerft gefagt wird: 1 Areas Alyo, und un mittelbar danach: Ar Yen» Adyw, oder wie 8 Joh. 3f. dem nıgı- nareiy iv dndela gleich, ein megınar. dv ri &An9. folgt.

Bon den bisher betrachteten Stellen fällt num aber wieder ein Licht auf den Gebrauch des Begriffes «Ar Hau an anderen Gtellen de8 Evangeliums, mo fi aus dem nächſten Zufammenhang fein ſicheres Urteil über die Bedeutung diefes Begriffes gewinnen laßt

2) Das oov der Rec. hinter dande(g ift mit Tifchendorf nach den beftr Handſchriften zu ſtreichen.

Der Gebrauch) der Wörter aArdaın x. 541

und wo deshalb unfere Kenntnis feines fonftigen Gebraudes in diefer Schrift die Entſcheidung geben muß. Es find zuerft zwei Stellen, wo Jeſus ſich felbft bie AAyeru, bzw. die Bezeugung berfelben beilegt. Wenn er 14, 6 fagt: „Ich bin der Weg, for wohl die AAnIeıu als aud die Cor; niemand kommt zum Vater, außer durch mich“, fo bürfen wir, glaube ich, unter der Arsen nicht die Wahrheit als den Inbegriff einer die Wirklichkeit Gottes oder der Welt darlegenden Erkenntnis verftehen, fondern nur die Richtigkeit des refigiös-füttlichen Verhaltens. AnFeıa bedeutet Hier weſentlich dasſelbe, was in den Reden Jeſu nad) den ſynop⸗ tiſthen Evangelien duxaadvn bedeutet. Die aAydaa in dieſem Sinne und die Lo bezeichnen zufammen das eigentliche Weſen des Reiches Gottes: das dem Willen Gottes entfpredhende richtige ethiſche Verhalten und das von Gott verliehene ewige Heilsleben. Sofern Jeſus fi bewußt ift, daß in feiner Perfon diefe beiden Weſensmerkmale des Gottesreiches ihre vollendete Verwirklichung gewonnen haben, weiß er ſich felbft auch als den rechten und Ainzigen Mittler, durch welden die übrigen Menſchen zu Gott 'ommen und Gott zu erkennen vermögen. Ebenſo werben wir Anfihtfih der Stelle 18, 37f. urteilen müffen, wo Jeſus dem Pilatus fagt: „Ich bin zu dem Zwecke geboren und zu dem Zwede in die Welt gekommen, daß ich für die &AIeıa zeuge; eder, welcher aus der dAn9ea iſt, vernimmt meine Stimme", voranf dann Pilatus fragt: „Was bedeutet IF Heu?“ Im diefer lusſage Jeſu ift das Wort dAnIeıo offenbar in demfelben Sinne raucht, wie in den Ausſagen 8, 40. 45. 46, und je nachdem nan unfere Deutung des Begriffes an jenen Stellen für beredh« igt halt oder nicht, wird man bie gleiche Deutung an dieſer Stelle illigen oder mißbilligen. Aus dem Evangelium bleiben dann nur och die Stellen übrig, wo der den Jungern verheißene napaxin- oc als zweuua vs aAmdelas bezeichnet wird, welder fie in bie ange Angeıa leiten foll (14, 17; 15, 26; 16, 13). Daß eſes nveögn als der Träger und Vermittler einer richtigen Er⸗ antnis gebacht ift, welcher für die Jünger und die Welt die bes htende Offenbarungsmwirffamteit Jeſu fortfegen fol, fteht außer weifel. Fraglich aber ift es, ob durch die Bezeichnung wein

2 Bent

zig aandelac der Geiſt arakterifiert werden fol, ſofern dide Erkenntnis, welde er befigt und mitteilt, einſchließlich natär« lich auch der ethiſchen Erlkenntnis, Nichtigkeit hat (mie wir der „Beift der Wahrheit“ zu verftchen uns gewöhnt haben), oder ob er durch fie in der Beziehung vhorakterifiert werden ſoll, dag des ethiſche Verhalten, weldes Gegenftand der von ihm mit. geteilten Erkenntnis ift, Richtigkeit Hat, oder enblih ob er dung fie als Inhaber und Vermittler des Richtigen ganz im allgemeinen bezeichnet werden foll, ohne daß dabei fpeziell am die Kictigtit der Erkenntnis ober an die des Verhaltens gedacht wäre. Eim Gatfeheidung für diefe letzte Möglichkeit möchte wohl am zutreffend ſten fein.

Ein gleicher Gebrauch wie im 4. Evangelium wird in ben johanneiſchen Briefen von unferem Worte gemadt. Yu der Ansjage I, 3, 18: „Laßt un Tieben nicht in Wort und mit der Zunge, fondern in Werk und Armen", bedeutet ir Adıpdeiz basjelbe wie Ev. 4, 24: „in Aufrictigleit”, im Gegenfage zu einem bloß äußeren, der Wirklihfeit der inneren Gefinnung nicht entfprecpenden Lieben. Wahrſcheinlich Hat das ayamar dv Amdıa im Unfongsgruße des zweiten und dritten Briefes ebenfalls dieſen Sinn. Bei den Ansfagen I, 4, 6: „Hieran erkennen wir dab myeöua vg ühmdelng und das mreiua zig aan", und 5, 6: „Das mveöne legt Zeugnis ab, denn das mveöpa iſt die aArSua", merden wir der Andea wohl denfelben allgemeinen Sinn der „Ricjtigfeit“ zuweiſen dürfen, wie an den Stellen Ev. 14, 17; 15, 26; 16, 13. Wenn es aber I, 1, 6 heißt: „Wem wir fagen, daß wir Gemeinſchaft mit ihm Haben und in der Finſternis wandeln, fo fügen wir xai od maojuer zip AAndean" ; 1, 8: „Wenn wir fagen, daß wir ine Sünde Haben, fo täufchen wir ung felbft, und die Arne iſt nicht in uns“; 2, 4: „Wer fa: ich Habe ihn erkannt, und doch feine Gebote nicht Hält, Ran Lügner, und in diefem Ift die aA’ Heın nicht“; 2, 21: „Ich ſchrith euch nicht, weil ihr die adden nicht kennt, ſondern weil iht fie fennt und wiſſet, daß feine Luge aus der aArFea iſt“, fo dürfen wir uns Hier durch die Verbindung, in welcher aArdes mit den Begriffen yerdeoIuı, wedorng, Peödoc und miaväy fteht, nick

Der Gebraud; der Wörter dAr den ıc.. 53

dazu verfeiten lajfen, unter der Anden bie Wahrheit des Er⸗ lennens und Ausſagens zu verftehen, in welcher die Wirklichkeit dr richtigen Darftellung gebracht wird, zumal dann diefe Ausfagen über die gen bie leerſte Tautologie enthielten. Sondern wir muſſen zoeiv 779 AAnIeav ebenfo berftehen wie Ev. 3, 21, ax iso # drndea dv aöc ebenfo wie Ev. 8, 44, dx zic AAndelag dv ebmfo wie Ev. 18, 37, und dann gewinnen wir den nicht mehr eine Tautologie enthaltenden Gedanken, die Lüge, welche man im betreffenden Falle ausfpricht, fei der Beweis dafür, daß man überfaupt fein richtiges ethiſches Verhalten habe. Zu der gleichen Destung der AdyIaa auf die Michtigfeit bes praftifchen Werhal- tens find wir unmittelbar aufgefordert an der Stelle I, 3, 19, 10 bie tätige und aufrichtige Liebe als der Beweis des eva dx tig aandeduc bezeichnet wird, und ferner in den Wortverbindungen: db ümdelg wui.üydnm IL, 3; negnareiv & dindelg IL, 4; II, 3f.; ovvegyor ylvaodas ri aAmdelg II, 8. Dann hat es aber wieder die größte Wahrſcheinlichkeit für fih, daß auch bei dem yubboxtiy erw üktduaw U, 1, bei der airdeın ulvovoa dv Zuiv I, 2 und bei dem pagrugeiodm Und adrns vis dAmdelas U, 12 jene Bedeutung anzunehmen ift.

Die Adjectiva aAnIng und dAnFwös find wie bei ben Sep uaginta fo auch im den johanneiſchen Schriften in ihrer Bedeu⸗ ang nicht ſcharf von einander unterſchieden; wir dürfen nur fagen, 35 eine gewiffe Bedeutung Überwiegend durch das erftere, eine adere überwiegend durch das zweite Wort ausgebrüdt wird. ufig find die Fälle, wo @An9ns von Ausfagen oder ausfagenden erfonen gebraucht wird, um zu bezeichnen, daß fie wahr find, 5. die Wirklichkeit richtig zum Ausdrud bringen (Ev. 3, 33; 18; 5, 31f.; 8, 13f. 17; 10, 41; 19, 35; 21, 24; III, ). 20mSıwög wird ebenfo an zwei Stellen gebraucht, Ev. 4, db yüp vobrp 6 Abyog doriv älmdıwös, d. h. „hierin bes hrheitei fich das Wort“, und 19, 35: dAnswr adroü Zoriv nagrvgla; denn nur fünftelnd Tann man an biefen beiden een eine andere Bedeutung annehmen. Borzugöweife aber d dAn$ıwög don Dingen oder von Trägern eines Berufes oder r Würde gebraudt, um zw bezeichnen, daß biefelben in Wirk

5 Wendt

lichteit das find, was fie zu fein feinen, oder was ber Til ihres Berufes und ihrer Würde von ihnen ausfagt, alfo „ihren Begriffe entſprechend“, „recht“, „et“. In biefem Sinne win gerebet von einem Pos aAndwos (Ev. 1, 9; I, 2, 8), von mr dAndırol ngosxurnrol (Eo. 4, 23), von einem apros GA (6, 32), von einem iuyas KAmSıvög (7, 28), von einer zum aoc Anden (15, 1), von dem Jeog aAnwös (17, 3; 1,5, 20) ?).

In demfelben Sinne ift aber nad den beften Zertesgugm einmal auch AArns gebraudt, Ev. 6, 55: 7) odgE nov almdız Zorıv Powoıs xal To olua mov aAmdns dorw möoı. Übrigens ift an diefer Stelle wie an den anderen, wo Jeſus fich als us rechte Brot, den rechten Weinſtock bezeichnet, oder mo der Logos das rechte Licht genannt wird, nicht gemeint, daß er nicht im bild- Tichen, fondern in eigentlihem Sinne Brot u. f. w. fei, oder gar, daß im ihm erſt diefe natürlichen Dinge ihre volle, begriffsmäßige Verwirklichung fänden, während die irdifche Speife, das irdiſche Licht u. ſ. w. ihrem Begriffe nicht recht entjprächen. Sondern die bifdfiche Bedeutung bleibt immer gewahrt, und es handelt fd nur um analoge Wirkungen und Funktionen, wie beim wirklichen Brot, Sicht u. f. w.; aber duch die Hinzufgung des aAndois ſoll hervorgehoben werden, daß eben dieſe analogen Wirkung and Funktionen wirklich vorhanden find.

Unfere befondere Beachtung verdient dann der Gebraud kt beiden Adjectiva an folgenden vereinzelten Stellen. In der Aus fage Ev. 8, 16: „Wenn id richte, fo ift mein Gericht &Andor‘, Hat dAndın die Bedeutung „gerecht“, „gebührend" (vgl. Tob. 3,2 u. 5), einfach fynonym mit da (5, 30; 7, 24). Die felbe Bedeutung müſſen wir aber, wie ih glaube, aud an kt ſchwierigen Stelle 8, 26 für Ans annehmen, wo es kit:

1) Wenn wir am ben beiden Stellen Ev. 4, 87 u. 19, 35 dire Bere tung von dAnsıwos annähmen, fo müßte ber Sinn fein, daf das Bart ste das Zeugnis, auf welches Bezug genommen wird, infofern eim wahrtz Ext Bzw. ein wahres Beugnis fei, als es dem Begriffe eines Wortes oder art | Zeugniſſes entſpreche.

Der Gebrauch der Wörter dAjdeıe ıc, 645

„Vieles habe ich über euch zu verkünden und zu richten; (dies werde ich auch nicht unterlaffen), fondern der, welcher mic gefandt hat, iſt Admins, und ich verfünde das in die Welt, mas ich von ihm gehört habe.“ Der Sinn diefer Worte Jeſu feheint mir zu fein, er habe noch. ein großes Strafgericht über feine Gegner aus⸗ sufprechen, und zwar müffe er diefe Gerichtsverfündigung deshalb ergehen Tafjen, weil Gott gerecht urteile und er felbft im Auftrage Gottes rede. Anders aber ift das aAndrg der Stelle 7, 18 zu faſſen: „Wer von ſich felbft aus redet, ſucht feine eigene Ehre; wer aber die Ehre deffen, der ihn gefandt Hat, fucht, der iſt arr- His, und Adel ift In dem nicht.“ Sowohl ber direlte Gegen« Tag zu adıxla als aud der übrige Zufammenhang (vgl. V. 16) xigt es deutlich, daß Hier A797 „treu“, „richtig im fittlichen Verhalten“ bedeutet. Wenn ein Beauftragter nicht feine eigenen Gedanken, jondern bie feines Auftraggebers anspricht und nicht fein eigenes Intereſſe, fondern das feines Auftraggebers im Auge bat, fo giebt er damit eine Probe nicht feiner Wahrheit, wohl aber feiner Gewiſſenhaftigkeit. Ebenſo möchte ich endlich im erften Driefe das Arnd deuten an den beiden Stellen 2, 8: „Wie derum ſchreibe ich euch als neues Gebot, was aA7IEs in ihm und in euch ift", und B. 27: „Wie feine (d. i. Chrifti) Geiftesfalbung euch über alles belehrt, und (wie) es aA79% iſt und nicht Lüge ift, und wie er (d. i. Chriſtus) es euch gelehrt hat, fo bfeibt in ihm.“ Die Entſcheidung über diefe letztere Stelle wird natürlich davon abhängen, ob unfere vorher gegebene Erklärung der Stellen 1,6. 8; 2, 4. 21ff. als richtig gelten kann.

Im Jakobusbriefe kommt das Wort Ana dreimal vor. Sollen wir an der erften Stelle 1, 18: „Nach feinem Willen hat er (Gott) uns gezeugt Abyp Ahrdelag“, unter der „Richtigkeits- offenbarung” das den Ehriften offenbarungsmäßig verlichene Prin- zip einer höchſten Erkenntnis oder aber eines höchſten ethifchen Verhaltens verftehen? Wenn wir die durch den Sprachgebrauch der Septuaginta begründete Möglichkeit der zweiten Auffafjung feſt halten und berüdjichtigen, wie Jakobus gleich nachher das den Epriften eingepflanzte Offenbarungswort, weldes fie aufnehmen und durch die That bewähren follen (8. 21f.), en einen »önog

Ziel. Stud. Sapız. 1888.

Ds Wendt

Oziog väg Iewdeplag charalleriſiert (B. 25), jo werden wir um unbedenklich fir jene zweite Auffafjung entjcheiden. Ebenſo werden wir die Anden an der Stelle 3, 14 deuten, wo wir mit Tiſche⸗ borf nach m zu lefen haben: ur zaraxmvzäcde v7s AAndelur mi yavdıcde. Nah der durch xurazuuzgächn ws AdmFelas, d.i. ſelbſibewußtes Sich · auflehnen gegen das, was ethiſch richtig if, bezeichneten Verletzung ber ethiſchen Pflicht im allgemeinen wird noch die fpezielle Verletzaug berfelben durch die Lüge gem, ebenfo wie wir 1Joh. 1, 6. 8 und 2, 4 jenem allgemeinm und dieſen befonderen Begriff, nur in umgelchrter Reihenfolge, wine einandergeftellt fanden. An ber dritten Jakobusſtelle endlich tritt die von und angenommene Bedeutung der aAydea vielleicht um Harften hesvor. Es heit 5, 19: „Wenn einer umter euch von der adden abirrt und einer ihn zurückführt, fo miffe er, daB, wer einen Sünder von feinem Irrwege zurückgeführt hat, feine Seele aus dem Tode retten wird.“ Das Abirren von der alndun bebeutet hier nicht das Verlieren der wahren Gotteserkenntnis oder des richtigen Gfaubens, fondern das Sich- abwenden von dem vechten chriſt⸗ lichen Verhalten und ift als gleichbedeutend mit Günbigen gedaft.

Die übrigen Schriften des Neuen Tefkamentes betreffeud möchte ich hervorheben, daß einerſeits noch im erfien Betrusbriefen der Ausfage 1, 22: „Nachdem ihr eure Seelen geweiht Habt im Gehorfam gegen die arzIaa u. ſ. w.“ die adden als Richtig feit des ethiſchen Berhaktens aufzufaffen fein möchte, und daß ander feits in der Apokalhpfe, wo die Worte Arten und did gar nicht vorfommen, das Wort AAyIwös in der gleichen Weile gebrancht IR, wie bei den Septunginta und an einigen Stellen des vierten Evangeliums. Zum Teil bedeutet das Wort „ahrkaft in der Ausſage“ (21, 5 und 22, 6: odzoı of Adyos zuozel zu ümSırol slow, wahrſcheinlich aud 19, 9: odro ol Adyıı er Hivol Too Feov slow, d. 5. „diefe Worte find wahre (ms Wirkliches witteilende) Gottesworte“; ferner 3, 7 und 6, 10: 5 äyıos, 5 @lndrds (3, 14, und 19, 11: 5 zuorös zul adndwk), zum Teil bedeutet es auch „gerecht im Urteil" (16, 7 und 19,2: dAmIwal xal dlrmmı ai xglosıs oov, und wahrſcheinlich auch 15,3: Ibamoı nal dimdwar ai Ödel vov).

Der Gebrauch ber Wörter dAndeım ıc. 547

Sonft wird das Wort A7Iea einige Male in den Gefchichte- büchern des Neuen Teftamentes gebraucht, um die Wahrheit der das Wirkliche richtig ausdrücenden Ausfage zu bezeichnen (Mark. 5, 33: dae⸗ aörh nass rw AArSe), und zwar an den Stellen Matth. 22, 16 (oldapıer örı Amin ed nal ziv ödlr 100 Heov dv ühmdelg Iudaoxes, vgl. Mark. 12, 4) und Apg. 26, 55 (dAyIelag xul owppoodens drnora dmopstyyouaı) ſpe- ziell die Wahrheit der das Wirkliche der inneren Gedanken richtig darftellenden Ausſage, d. i. die Anfrichtigfeit. Einen eigentümlich ausgeprägten Gebrauch des Wortes finden wir dann im Hebräer- briefe (10, 26), im zweiten Betrusbriefe (1, 12 und 2, 2) und in den Baftoralbriefen (1Xim. 2,4; 3, 15; 4,3; 6,5. 2Tim. 2, 15. 18. 25; 3, 7. 8; 4,4. Tit. 1, 1.14), Indem es bier die Wahrheit zur” dfox⸗- bezeichnet, d. i. den Inbegriff der richtigen Erkenntnis über Gott und das göttliche Heil, wie er im chriftlichen Evangelium vorliegt. Wir werben uns aber freilich vor der Annahme Hüten müſſen, daß das Wert in diefen Fällen für das Bewußtſein der Schriftftelier feine aliges meinere Bedeutung ganz verloren und direkt bie Bebentung des Sriftlihen Glaubens oder des criftlichen Evangeliums gemom- ven habe.

Das Wort aAnIng bedeutet 1 Petr. 5, 12 (Tadım eva And xagı roũ Heod) rechtꝰ, „erht“ im Gegenfage zur Falſch⸗ wit des Scheines, aber 2 Petr. 2, 22 (rd is akmoüg mapoı- das) „wahr“ im Gegenfage zur Falſchheit des Wortes. Ebenfo ch das Wort &AnIıvös an den Stellen Luk. 16, 11 (10 ary- wor tlg üpiv mıosevon); Hebt. 8, 2 (eis ommprc Tre ay- ws ) und 9, 24 (arstruna zör armIırav) ala „recht“, „echt“ am Scheinbaren oder blog Vorbilbfichen gegemüber, während man ı der Stelle Hebr. 10, 22 die xoupdia Amor ale „aufrichtige efamang“ wird erklären müffen.

36*

8 Bleibtreu

3. Der Abſchnitt Röm. 3, 21—26, unter namentlicher Berückfichtigung des Ausdrucks Auoırgur

erörtert von

Lie, Walther Bleibtren,

Blarrer zu Dilinn Bei Lennep In Rpeinpreufen.

„Nun ift aber ohne Geſetz Gottesgerechtigleit geoffenbaret worden, nur unter Bezeugung durd das Geſetz umd durd bie Propheten; eine Gerechtigfeit aber Gottes, vermittelt durch Glauben an Jeſum Chriſtum, zielend auf alle mb tommend über alle, die da nur glauben. Denn fein Unter ſchied befteht. Alle nämlich fündigten fie und ermangeln fie der Gottesherrlichkeit, bie Rechtfertigung erfahrend umfonft, derch feine Gnade, mittelft der Erlöfung, der in CHrifte Jein vorhandenen, welchen am die Öffentlichkeit herausſtellte Gott, einen Gnadenſtuhl durh Glauben, mit feinem eigenen Blute, auf daß er ermeife feine Gerechtigkeit wegen der Über fehung ber vorher vorgefallenen Sünden während ber Gr duldszeit Gottes, in Abfehung auf die Erweiſung feint

Gerechtigkeit in der jegigen Zeit; auf daß er felbft gerade ſei

und gerecht mache den, ber da nur des Jeſusglaubens it“

So lautet in beutfcher Wiedergabe der Abſchnitt, fir defien

Erörterung ich Aufmerffamfeit erbitte. Bevor ich jeboc die Aus legung der Stelle felbft in Angriff nehme, muß ich, damit der

Rahmen erfichtlich werde, in welden ſich mein Verftänduis der |

vorliegenden Worte einfügt, mit Burgen Strichen die Auflfieng bezeichnen, die ich von dem vorherigen Gedantengange dei Nömerbriefs gewonnen habe.

Ziemlich allgemein verfteht man dem Mpoftel dahin, Ib er aus der erfahrungsmäßtgen Unmöglichkeit einer natürlichen heideiſche: Gerechtigkeit (1, 18— 32), fowie einer geſetzlichen jüdiſchen Gr

Der Abſchnitt Röm. 8, 21-26. 549

techtigkeit (2,1 3,20) die Notwendigkeit der hriftlichen Glaubens⸗ gerechtigfeit folgern (3, 21ff). Sein Schlußverfahren fol diefes fein: Non operibus, ergo fide.

Neuerlich gefteht man e8 zu, daß der Apoftel anderwärts, nament- (ih im Galater⸗, aber auch in unferem Römerbriefe von deſſen 4. Kapitel an, fo nicht verfährt. Man räumt e8 ein: Sonft ift ihm die chriſtliche fides der abfolute, der durch ſich felbft fefte ftehende Ausgangspunkt feines Denkens und nicht das End⸗ ergebnis einer Argumentation von erfahrungsmäßigen Prämifien aus. Die Glaubensgerechtigkeit hat ihm prinzipiellen Wert und nicht denjenigen eines Auskunftsmittels, das in Wirkfamfeit geſetzt worden, weil es mit der fich felbft überlaffenen Natur, und mit dem altteftamentlichen Gefege nach Ausweis des vorliegenden Thatbeftandes nicht geht. Statt: Non operibus, ergo fide, ſchlleßt Paulus gerade umgekehrt: Fide, ergo non operibus.

Aber hier im Anfange des Römerbriefs, da foll er nad) eines Pfleiderer (Baulinismus, S. 35) Urteil ausnahmsweiſe doch von den Werken ausgehn und aus deren Mangelhaftigkeit die Note mendigkeit einer anderen Heilsbedingung, nämlich des Glaubens, herleiten. Und wäre es nicht in der That denkbar, daß der Apoftel einmal dialektifch auf den gegueriſchen Standpunkt einginge, um durch den Nachweis feiner Unhaktbarkeit die ihm prinzipiell feſt⸗ fießende Glaubensgerechtigleit aud als den erfahrungsmäßtg allein übrig bleibenden Heilsweg herauszuftellen?

In der That, fold ein Verfahren würde durchaus dem Ges fümade unferer modernen Apologetif entſprechen, denn biefe liebt 8, ihren Offenbarungsglauben durch die Mittel des Denkglaubens, du denen ja auch die empiriſche Beobachtung rechnet, einleuchtend zu machen und fo den Zeind, mie fie ſich wohl ausdrückt, „mit feinen eigenen Waffen zu fehlagen“. Indeſſen die zum Zeugnis aufgebotene Erfahrung lehrt: das Schlagen des Feindes geht auf diefem Wege fo leicht nicht ab. Es ift ein böfer Gelft, ben bie Apologetit beruft, und zu ihren großen Schaden wich fie ihn nicht bieder 106. Das Ehrijtentum kann mit feinen anderen als feinen öigenen Waffen fümpfen. In demfelben Maße, als es zu fremben greift, Hört es auf, es ſelbſt zu fein. Paulus aber Ift gewiß der

660 Bleibtreu

Tegte, der es vergiät: Der netürlige Menſch vernimmt nichts vom Reiche Gottes. Es Tann keine Säpe, Beobachtungen sder Er fahrungen geben, die für die chriſtlichen Überzeugungen des Apoftels erft den Ausgangspunkt bildeten. Die Iekteren ruhen rein auf ſich ſelbſt.

Doch geſetzt auch, dieſe allgemeinen Erwägumgen griffen zu weit, fo konnte der Apoſtel had; nicht vom gegueriichen Gtaxd- pantte aus fein Gfaubensevangefium entwickeln wollen, weil er an Epriften ſchreibt und fein Brief weder eine Dogmatik, mod ein Ratechiemus, ned) eine Predigt ift. Mit dem geguerifcien Stamdr pumkte Haben bie Briefempfänger eben gar nichts zu thun. Gie brauchen darüber, daB die Gexechtigleit aus dem Glauben Kommt, nicht erft- belehrt zu werden; wären fie davon nicht Jängft über zagt, würden fie gar Seine Chriften fein. Freilch eine dog⸗ matiſche Abhandlung trägt vor lauter Ehriften Tängit Anerfauntes ungeſchaut noch einmal von vorne vor, fie will es begrifflich utwideln. Der Katehiemus wiederholt für den Verſtand der Unmüubigen die Iandlänfige Wahrheit, er fucht fie in die ein⸗ fachfte Form zu bringen. Die Predigt endlich fpricht das Ale in redueriſchen Wendungen ſtets don neuem aus um es vollends einbrüdtih zu machen. Auders aber ein paulinifcher Brief. Der muß etwas inhaltlich Neues bringen, er muß die Erfenntuis feiner Leſer weiter führen über ige biaheriges Maß hinaus. Fide! Dieß Abe des Epriftentums ift den Mömern geläufig. Aber ab nicht neben dem Glauben doch auch das Gefet noch feine Stellung und Bedeutung habe, das ift eine Frage, die aud unter Chriſten noch verhandelt werden Tann. In diefe Verhandlung tritt der Upoftel mit feinem Schreiben an die römifchen Chriſten «in. Fidel Das ift feine Vorausſetzuug. Non fide et »„peribus! Das ift feine Behauptung. Ergo sola ide! Das ift feine Schlußfolgerung. Nicht der Glaube, ſondern die Alleinigkeht ders Glaubens bildet den Grundgedaulen in der Deilslehre des Nömerbriefed. Allem latholiſchen Schreien üker argſte Willkür zum Trotze war Luther im Recht, als x im 28. Verſe unferes dritten Kapitels das Sala hinzudachte. Er hatte damit den Grundgedanken diejes Verſes getroffen und,

Der Abſchuitt Röm. 8, 21—26. 861

was auch uns Proteſtanten och lange nicht bewußt genug iſt, er Hatte damit zugleich in erjchbpfender Weiſe den Grund⸗ gedanken des ganzen Römerbriefs, ſoweit derfelbe Ichrhaft ift, getroffen.

An dem Briefverlaufe von Rap. 1 bis 3, 20 dies nachzu⸗ weifen, würde hier viel zu weit führen. Ih Hoffe noch einmal Gelegenheit zu finden, es anberwärts zu thun. Ob die uns vor fiegenden Verſe 3, 21—26 das angegebene oder das herlömmliche Verftändnis erfordern, das möge durch ihre Erörterung entjdieden werden, zu der ich jegt übergehe.

Auf bie als belannt und anerkannt vorausgeſetzte Thatſache, daß die Wirkung allen Gefeges in Sundenerkenntnis beftehe, hatte der V. 20 die Behauptung gegründet, daß Gerechtigkeit auf gefeglichem Wege nicht erzielt werde, und durch diefe Ausſage ſollte wiederum biejenige de8 19. Verſes geftüigt werden, daB der Zweck des Geſetzes fei, die ganze Welt Gott gegenüber als ge- richtsverfallen Hinzuftellen. Nun ift aber, fo Heißt es jegt mit einem nicht zeitlich, fondern logiſch zu verftehenden ur) de weiter, aun ift aber unverworren mit allem laut B. 20 zum Seile fo undienlichen, ja ihm Hinderfichen Befege Gottesgerechtigkeit in ber Welt durh Offenbarung zuftande gelommen. Iloart- ewscı lefen wir, nit amoxexarnru. Rap. 1, 18 hatte ber Ausdrud änoxakonrer Verwendung gefunden, uber da handelte es fih audh um bas Evangelium. Was fich im Evangelium als in einer Botſchaft voltzicht, das iſt bloß Anoxaruyıs, bloß Wegnahme ber Hüllen, bie eine bereits vorhandene Gottes⸗ gerechtigfeit nur dem Blicke entgegen: bie verdefende Hulle der Unkenntnis wird abgehoben. Hier bagegen Handelt es füh um bie Gottesgerechtigfeit jelbft, nicht um bie Botſchaft von ihr, es Handelt ih um das Hineinftellen. der Gottesgerechtigleit in die finnenfällige Wirklichkeit, wicht bloß in ben Bereich der Erkenntnis, und dem eben eutſpricht det Begriff des @urepoor. Als ein fchöpferiiher Vorgang, als eine Stiftung durch göttliches Eingreifen iſt die in Rede ftehende Offenbarung gemeint. So will es verftanden fein, wenn der Apoftel das offenbarungsmäßige mit dem außergefeglichen Werden der Gottesgerechtigkrit zu ·

562 Bleibtren

fammenftellt. Sowohl neparigwrar als zwels »öpov ift fiat zu betonen. Mit beidem fol menfchliche Verurſachung ausgefchlofn werben.

Auf eine Erörterung des viel umftrittenen Begriffs duo Heoo Tann ich mich Hier nicht einlaffen. Es würde dieſe Ber handlung aus den Grenzen des mir zugemeffenen Raumes zu ehr heraustreten. Ich gebe daher nur kurz meine Auffafjung an. Die dimmoourn verftehe ih von menfhliher Gerechtigkeit, diefe aber nicht als Verhalten, fondern als Zuftend, richtiger als Gut betraditet. Das Gut, das Gluck, in ber Prüfung zu be ftehen, dies ift gemeint. Den Genetivus Heoo nehme ich nun als Genetivus auctoris. Der Apoftel denkt an einen von Gott ge wirkten Stand menſchlich er Gerechtigkeit.

Bon ſolcher Gottesgerechtigkeit hat der Apoftel erftlich gefagt, fie ſei ohne Gefeg, und zweitens, fie ſei offenbarungsmweife Berbeigeführt worden, er fagt jetzt drittens von ihr, es ſei dies unter bem Zeugniffe des Gefeges und der Propheten geihehen. Das thut er aber durchaus nicht, um dem vorhin fo arg beifeite gefchobenen Gefege jegt doch auch fein Recht anzuthan, nicht, um ihm doc) feinen Anteil an der Offenbarung der Goties⸗ gerechtigfeit zu wahren. Im Gegenteil, einfhränten wil w diefen Anteil auf fein nun einmal unleugbares Maß. Bor nag- Fvgoyadyn hat man ein „nur“ einzubenken, das ja im Griechiſchen und Lateinifhen ganz gewöhnlich nicht ausgedrüdt, ſondern bloj durch die Sagbezüge angedeutet wird. Nur die Thätigkeit des Zeugens beläßt Paulus dem Gefege, und aud fie nicht dem Geſetze ſchlechthin, fondern dem Geſetze, fofern es einheitlich zufammengehört mit ben nicht ohne Nachdruck hinzuerwähnten Bro» pheten, deren eigentümliches Geſchaft eben im Zeuguisablegen befteht. Jene dem Gefege einzig belaffene zeugende Thätigkeit ift je num aber als ſolche wiederum felbft von der Art, dag mit iht das Gejeg im Grunde von ſich weg und auf die neu e Gerchtige feit Hinweift. Sie erinnert darin an jenen Mann, der auch nur zuge follte vom Lichte, nicht es felbft war. Es ift, als fpräde da zeugende Gefeg: „Ich muß abnehmen, jene, die Hriftliche dume- oövn Feov, muß zunehmen.“ Go verftanden treten num die Wort

Der Abſchuitt Röm. 3, 21—26. 568

Huprugoyubyn Und Tod vönov xal zur moopzov als gleichartige Beftimmung zu Xwels vönov und negartguraı, das erftere näher erffärend und es vechtfertigend hinzu, und wir begreifen, weshalb uaprugouudvn fein „aber“ oder „freilich“ bei fi hat, das man bei der gewöhnlichen Auffaffung erwarten müßte. Nach diefer foll der Participlalfag ja einen Gegenfag zu xwols »onov bilden. Ganz anders, wenn er diefes vielmehr erflärt. Da darf kein de ober des etwas ftehen. Es liegt in der nämlichen Richtung, daß de Offenbarung der Gotteögerechtigkeit ohme Gefeg erfolgt und daß fie vom Gefege bloß bezeugt wird. Letzteres erflärt das erſtere.

Mit einem dreifachen Pradikate hat V. 21, wenn wir an⸗ ders mit Recht zwels vönov, meparigwras und agrupovulrn betont denken, die Gottesgerechtigkeit belegt. Ihre weitere Ber ſchreibung in V. 22 trägt num die Form, dag in dreifacher Weife 808 Subjekt jener Ansage noch genauer beftimmt wird. Was bie nicht geſetzlich bedingte Gerechtigkeit denn aber für eine fei, die follen wir jegt erfahren. Die Gottesgerechtigkeit, heißt es zu⸗ näcft, ift ebem eine Gottesgerehtigkeit; Gott ift es in vollem Ernfte und ausſchließlichem Sinne, der diefen menſchlichen Gerech-⸗ tigfeitsftand Hergeftellt hat. Zum zweiten wird uns gefagt, daß die Gottesgerechtigkeit durch den Glauben an Jeſum Ehri« ftum vermittelt fei, und endlich drittens, daß fie auf alle hin. ziele eis narrog und aud alle in Wirklichkeit über komme Zr} nürsag —, die nur die eine Bedingung des Glaubens Ieiften. Immer gilt e8 den Gegenſatz gegen die Vebingtheit des Heils durch menſchliche Gefegeserfüllung.

So weit des Apoftels Behauptung. Es folgt der Beweis ur diefelbe, der zunähft und zumeiſt den letztausgeſprochenen Borten eis nirras xol dm ndysog Todg mioredorrag gilt und iefe fomit als den wichtigften Punkt der Behauptung heraustreten äßt. Hierfür würden fie auch ſchon ohnehin gehalten fein wollen. Banz richtig hat man (Th. Schott) das xwels vöuov als eine let Überfchrift angefehen. Dem entſprechend muß dann aber in m fo inhaltöverwandten eis mayras xul dm ndvrag Todg zı- tevovrag das untenftehende Facit gefunden werben. In ihm kom-

554 B Bleibtren

wen die vorigen Beftimmungen als in ihrem Einheitopunkte zu- ſammen und zur Ruhe. Gine nicht geſetzlich bedingte (zwels »öuov) Gottesgerechtigkeit, welche bemgemäß Wirkung einer Tedige lich zu glanbenden Offenbarung (meparkpwra:) und bloß Gegen: fand eines einfach hinzunehmenden Zeugniſſes (uaprupowuen), welche eben eine Gotte s gerechtigkeit (duxmumourn dE Ieov) und wie es fobann gerade heraus heißt, eine Glaubens gerechtigkeit (did aloreng Inooũ Kgıoros) Üft, nun, was erheiſcht ſolch eine Gereditigteit mehr, als eben den Glauben. Wer immer diejen aufweift, muß zweifellos an ihr teil Haben. Das ift alles, was der Apoſtel hier gefagt haben will. Keinen ganz allgemeinen Unterricht von der Rechtfertigung aus dem Glauben, von ihrem Weſen und Zuftandelommen gedenft er zu bieten. Als auf etwas den Lefern Bewußtes nimmt er auf fie Bezug, nur das fi zur Aufgabe fegend, die völlige Genugfamkeit des Glaubens zum Hefe eindrüdtich zu machen.

Alle Glaubenden werden gerecht; der Glaube ift das ſchlechter⸗ dings hinreichende Heilsmittel. Schon aus den vorangegangenen Beftimmungen gewirmen wir, mie ſich gezeigt hat, dieſes Ergebnis, doch foll jegt vom Schluſſe des 22. Berfes an auch der Beweis feiner Wahrheit geführt werden. Ob yap dor dunoroin * narıy Yap Auagrov xal boregoüvrus rg dölng tod Icon, fo beginnt diefer Beweis. Da follte man nun billigerweife fein Wort dar- über zu verlieren branden, daß ber Apoftel als Subjekt dieſer Ausfage nicht alle Menſchen, fondern alle diejenigen, von welchen zuletzt die Rede war, nämlich alle Glaubenden denft (vgl. Hof⸗ mann). Wie fegen Bucher ganz richtig nicht überſetzte: „Alle find Sünder“, fendern: „Sie, d. h. do wohl diejenigen, von welchen bie Rede ift, die Glaubenden, find allzumal Sünder.” Der Apoftel will eigen, daß alle Glaubenden geredgt werden. Demgemäß fagt er, es beftehe zwiſchen denſelben kein Untetichied, welchem zufolge etliche Glaubenden, die innergeſetzlichen jüdijen etwa, auf Rechtfertigung eine Anwartihaft Hätten und ambere, die außergeſetzlichen Heidnifchen, nicht. Mein, wird nad) etwas der⸗ artigem gefragt, fo ftehen fie der Mechtfertigung alle gleich fern. Siealle fündigten, und fie alle ermangeln der Gottesgerechtigkeit, diejrd

Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. 585

gottgewirkten Standes menſchlicher Herrlichkeit, eines Abglanzes der Gott felbft eignenden, welcher den Seligfeitbefig der Sündlofen ausmacht. Wenn die Glaubenden dennoch eine Rechtfertigung er» fahren, fo geſchieht das bloß in einer- Weife, fiber die fich der Apoſtel B. 24 des näheren erklären wird. Iſt nun, wie voraus. giegt wird, der Glaube Mittel des Hells, und fteht es, abgejehen von ihm, mit den Glaubenden fo unterſchiedslos übel, dann ift der Glaube das Heilsmittel, welches er ift, jelbftändig als folder, ohne einer Ergänzung oder Beihilfe zu bedürfen. Dann aber läßt fich and nicht erkennen, weshalb es nicht fo fein follte, wie der Schluß von B. 22 gefagt Hat, daß nämlich, wo fi nur immer Glaube findet, da auch liberal Gottesgerechtigkeit in der That den Erfolg davon ausmacht. Die Unterſchiedsloſigkeit der Glau⸗ benden bewirkt für fie alle auch einen unterfdiebstofen, d. h. aber vollftändigen und vollgewiffen Anteil am Heile.

In welcher Art geht nun die Rechtfertigung der Glaubenden vor fih? Sie kommt dugeav, gejhentweife, mithin nicht als ihr Erwerb zuftande, fie ift durch) Gott denn wie zapızı, fo iſt auch das ungewöhnlich geftellte arrov betont und zwar durch feine Gnade, alfo nicht durch eigenes Thun von DBerdienft- lichem auffeiten der Glaubenden verurfacht, und endlich berußt fie auf der Erlöfung, nämlich derjenigen, welde an Chrifto Iefu Haftet, wonad die Glaubenden unterſchiedolos erlbſungs⸗ bedärftig, fündig fein müffen. “Sind fie aber alte fündig, dann ft, wie gejagt, Fein Unterſchied zwiſchen ihnen, und hieraus wieder folgt, daß die Gottesgerechtigkeit kammt eis. murras zei im züvrag vodg moresorrag. B. 24 iſt alſo wirklich das, wofür er ſich giebt, nur ein untergeordneter PBartieipialfag. Oft Hat man ihn als Hanptfag behandelt, werm nicht gerabezu dafür ausgegeben. Aber dies rührt, ebenfo wie die Ausdehnung der miwreg in B. 28 af alle Menſchen, bloß von der irrigen Meinung Her, daß der Apofiel Hier eigens und in gang allgemeiner Weiſe bie Lehre von »er Rechtfentigung des Menſchen aus dem GHanben entwideln volle. Wenn er dns wirtiih im Sinne hätte, dann mäfte in ver That DB. 24 als der wichtigſte Punkt in der gangen-Davtegug m Daupıfag fein. Uber der Mpoftel fegt alles in dem Berfe

556 Bleibtren

Gefagte vielmehr als befannt voraus und verwertet es bloß ald Beweismittel für einen vorher ausgeſprochenen Sat, als Beweis⸗ mittel für das sola fide. Dem entipricht genau der untergeord⸗ nete Wert de 24. Verſes.

Durd die an Chriſto Jeſu Haftende Erlöſung ift die Recht- fertigung der Glaubenden vermittelt. Diefe Ausfage aber wird in 8. 25ff. fofort näher beftimmt. Grlöfung gab es ja auch ſchon auf aftteftamentlihem Boden. Das LUnterfcheidende der Hriftlichen Erlöfung, dies werden wir im Bolgenden hervorge hoben finden, unb wiederum ift es nicht eine ganz allgemeine Erlöfungslehre, was un geboten wird.

Hier kommen wir nun zu dem Ausbrude iNuorijgor, der unfere jonderliche Aufmerkfamfeit in Anſpruch nimmt. Für feine Erklärung iſt dad richtige Verftändnis des Verbums mo0LFero maßgebend. Died Hat num fürzlih Godet aufs neue im Siune des „Sich- etwas -vorjegens", des „In-Ausfihtenehmens" gefaht, doch kann eine fo vereinzelte Stimme nicht auffommen gegen die übrigens faft einhellige und wohlbegründete Annahme der heutigen Ausleger, daß die urfprüngliche, finnliche Bedeutung des Sffents lien Ausftellens Hier Amwendung finde Daran haben wir aber in der That ſchon den ausreichenden Enticheid, wie iAuozrger zu nehmen fei. Gegen die unbeftimmte Wiedergabe mit „Sühne" ober „Sühnmittel” hat man richtig bemerkt, zu dem eine be ftimmte Öffentliche Erſcheinung anzeigenden mo0£Fero werde auf ein ebenfo beftimmtes, anſchauliches Objekt erfordert. Der gleiche Einwand trifft aber aud die maskuliniſche Faſſung, nach welder Baorigeov der Aceuſativ des Adjeltivs Muornguog und bie Be- deutung wäre: „ein Sühnender‘. „ALS einen Sühnenden bat Bott Ehriftum Jeſum ausgeftellt", in dieſem Sage ift wieder das Berbum ebenfo anſchaulich und beftimmt, wie das Objekt ım- beftimmt. Cine gänzliche Beziehungsloſigleit waltet aber auch zwiſchen dem Verbum und der meift angenommenen Bedeutung „Sühnopfer“ ob. Oder welde Beziehung follte beftehen zwiſchen der Thatigkeit eines Herausruckens ans Licht der Öffentlichkeit und zwifchen einem Sühnopfer? Der Verſuch, eine herzuſtellen, bringt wunderliche Ergebniſſe zutage. Entweder hat zoodFero befondern

Der Abſchuitt Rdm. 3, 21—26. 657

Ton, und dann kommt man auf bie falfche Vorftellung, der Regel noch finde ein Sühnopfer im Verborgenen ftatt; oder aber das Berbum ift unbetont, und dann wird der Anfchein erweckt, als ob Herausftellung der gemöhnliche, durch die Natur der Sache vorgeſchriebene Ausdruck für dasjenige fel, mas mit einem Sühn- opfer gefchieht. In Wirklichkeit verhält es fich ja fo, daß dem Suhnopfer Offentlichteit freilich als ftetiges, aber doch nur zus falliges, lediglich begleitendes Merkmal anhaftet. Man verzichtet denn auch auf jede innere Beziehung zwiſchen Verbum und Objekt und lann ſich hierzu deshalb ohne großen Entſchluß verſtehen, weil man es trotz des Verlangens nach Anſchaulichkeit aufgegeben hat, mit der ſinnlichen Bedeutung von zoo&Fero Ernſt zu machen. „Gott Hat Chriſtum Jeſum in der Weife zum Sühnopfer gemacht, daß derfelbe als ſolches vor aller Welt Augen da fteht“, dies etwa foll ber Tange Gedanke fein, der in die kurzen Worte: dv n0069ero IRnorngıov zufammengedrängt wäre, Aber worin foll denn jene Allerweltsfichtbarkeit Jeſu als des Suhnopfers beftehen? Man müßte an feine allgemeine Verkündigung durch das Evange- lium denfen, aber, wie fchon zu Anfang bemerkt, der Gedanke an das Evangelium Liegt unferem Abfchnitte durchaus fern. Mit der Bewirtung, nit mit der Verkündigung der Gottesgerechtige fit Hat er es zu tun. So biiebe alfo nur übrig, der an Jeſu dorgenommenen Opferhandlung feldft im Verhältniffe zu ander weitiger Opferung eine ungewöhnlihe Offenkundigkeit beizumeffen, was ja aber ganz unangänglich ift.

So kommen wir denn zu einer noch übrigen Deutung von Daorrgiov. Drigenes hat fie zuerft vorgetragen, Luther und Calvin, wenn fon Iegterer nit ohne Schwanfen, find ihr ge⸗ folgt, auch Bengel ift ihr noch zugethan; dann aber fehen wir bie Ungunft der Zeit fie zu Grabe tragen. „Valeat absurda expli- catiol“ ruft ihr Fritzſche verädtlich nad, und Ruckert fpricht ihr gar das Verdammungsurteil. Seitdem indefien Olshauſen md Tholnd die ſchon faft verfchollene von den Toten zurüd« yeholt Haben (vgl. auch Benecke, Funke in diefer Zeitfchrift, Jahrg. 1842, ©. 314f.; Delitzſch, Hebräerbrief, ©. 719; jerd. Weber, Bom Zorne Gottes, S. 273), ſeitdem überdies

8 Bleibtren

Bhilippi fie in tüchtiger Weife begründet und namentlich Ritfct (Recht. n. Verſ., Bb. II, ©. 169ff.) das Gewicht feines Namens für fie in die Wagſchale geworfen, darf fie als völlig wieder zu Ehren gebracht gelten.

Das ift die Deutung, mad welder iaorzaor hier ebenio wie Hebr. 9, 5 die griechiſche Üiberfegung des Kebräifcken Aushrude ajez, diefer Bezeichnung für bie Platte über der Bundeslade, vors fteitt. 2Mof. 25, 17 wird mp2 von den Septuaginta mit Au- ormeıor Imldeua und von ba ftehend mit dem fnbftantivierten he— orrgrov allein wiedergegeben. Schreibt nun der Apoftek an ſchrijt tundige Ehriften, fo ift es für dieſe ohne weiteres llar, wie er verftanden fein will, zumal nachdem mpofFero borandgegangen. Denn zwiſchen der Kapporethh und einer Herausftellung am die Offentlichteit findet allerdings eine innere Beziehung, nämlich eine gegenſätzliche, ftatt. Die Kapporeth Hatte ihre Stelle In ber Verborgenheit des Allerheiligften, Chrifius Jeſus aber ift als ihr nenteflamentliches Gegenbild vou Bott öffentlich ansgeftellt worden. Um biefen Gegenfag amzubeuten, fteht mpo&dero mit großem Nachdrude voran. In den drei erfien Evangelien leſen wir, nach Jeſu Tode fei der Vorhang des Tempels zerriffen. Wir find gewohnt, dieſes Begebnis als ein Sinnbild des Endes der altteftamentlichen Opferreligton zu verftehen. Run, Bier haben wir biefelbe Sache, nur ander gewandt. Nach ber dortigen Dar⸗ ftellung, ſowie auch nach Hebr. 4, 16 und 10, 19ff., kounen ale zur Kapporeth Hinein, nad; der hiefigen fommt die Kapporeth zu alten heraus. Beide Male handelt es fi) um das Aufhören des Gefeges und feiner Schranken.

Aber, wendet man (Hofmann) gegen die Bezeichnung Ctrifti als einer Kapporeth ein, dies altteftamentliche Wort Tennen wir je bloß als Eigennamen eines ganz beftimmten Einzeldinges und nicht als Appellativum. Mußte nicht menigftens rd iRuorngor juur zu leſen fliehen? Indeſſen wie, wenn bie verlangte Näherbeftim- mung in dia nloreng und dv 7@ adrov aluarı allerdings nachfelgte? Geſetzt aber auch, fie thue «8 nicht, bedarf es ihrer denn wirfih? Daß Eigennamen zu Appellatiuis von der Bebentung der bejeich⸗ nendften Eigenſchaft erfterer erweicht werden, zählt durchaus wicht

Der Abſchnitt Rom. 8, 21-26. 560:

zu den Geltenheiten. Ganz gewöhnlich nennt man jeden beliebigen glänzenden Redner einen Demoſthenes oder Cicero, jebe Fremden flätte ein EI Dorado, jede Prachtanlage ein Tivoli. Bei unferem großen Dichter erfcheint Leipzig als ein Klein Paris und um nur din Veifpiel aus unferer homiletifhen Sprache anzuführen, wie geläufig iſt im Anſchluſſe an 1 Sam. 7, 12 die Redensart ger

ren: „Laßt uns ein Ebens Eger errichten!“ Weshalb denn ſollte nicht auch das unbenommen fein, Chriftum Jeſum eine Kaps voreth zu beißen, wofern nur zwifchen diefem Geräte und ihm eine weſentliche Vergleichbarkeit obwaltet ?

Und eine ſolche ift thatſächlich vorhanden. Auf der Kapporeth throute Jehova in lichter Wolle. Dort war er mit feiner Herr» ligteit und Guadenmacht unter Israel gegenwärtig. Daß für bie Gemeinde des Neuen Teſtamentes Chriftus Jeſus der Drt fei, da in entfprechender Weiſe Gottes gnadenvolle Herrlichkeit ſtrahlt, ift gewiß nicht, wie man geurteilt hat, ein „unpaffender, kunftlicher und gezwungener“ (Röllner), fondern ein cbenfo wahrer als ein- facher Gedaule. Und wenn fir denſelben auf 2Kor. 4, 6 verwieſen wird (NRitſchl), wo es Paulus für apoftofifche Aufgabe erklärt, die yraaıs ig Sims Tor Heod dv nyoounp Xgozoo "Inoou tufleuchten zu laffen, fo dürfen wir die Vergleichung dieſer Stelle nit der und vorkiegenden fogar über den Ausdruck iRuorzguor hin- ms auch auf zg0&Fero ausdehnen. Auf dem Angefichte Chriſti

Jeſu ſtrahlt Gottes Herrlichkeit und zu dem Zwecke, daß fie er⸗ aunt werde. Diefe ihre Offentlichkeit, das iſt es gerade, rauf das Hauptgewicht der Audſage ruht.

Hiermit ſcheint denn jede Sühnebebentung aus dem Ausdrucke aosngıo» beſeitigt und erſt durch bie beigefügten Worte dv 7@ drod adgre mit ihm verbunden zu werden. In ber That ift

fo die Meeinung von Ritſchl. Chriſtus Jefus nis Kapporeth ft ihm fur den Vertreter Gottes ums Menſchen gegenäber und ar hierfür. Wie aber die Kapporeth des Alten Teſtamentes srael die guadenvolle Gottesgegenwart nur unter der Bedingung mittelte, daß fie mit Slut befprengt wurde, fo erlangt nach des tannten Theologen Uvtell auch die in Chriſto uns zugute vor⸗ dene Gottesgnade ihre Wirfjamteit erft durch die fühnhafte

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Vergießung feines Blutes, erft durch den Gehorfam, den er als Menſch Gott gegenüber leiftet (ogl. a. a. D. ©. 172f. 236f.). Dem zufolge würden fi Kapporeth und Sühne in ber nämlicen Art von einander unterfcheiden, aber gegenfeitig ergänzen, wie Ehrifti Gottheit und Menfchheit. Daß dies Mar gedacht fei, Täßt fih gewiß nicht beftreiten. Und daß Baorngıov ſchlechterdings etwas Gottgehöriges, alfo feinesfalis eine Sühne oder ein Sühn⸗ opfer, bezeichnen muß, mit anderen Worten, daß in dem Ausdrucke notwenbigerweife eine Vertretung Gottes uns gegenüber liegt, dafür beruft ſich Ritſchl ſehr vichtig auf die nachfolgende Bwedangabe eis rdakır Trs dixmmoaurng aörov. Gottes ift die zu erweiſende Gerechtigkeit, Gottes muß daher auch fein, wor burd er biefelbe als durch ihr Mittel bezweckt und erreicht. Es durfte aber dennoch eine zutreffende Bemerkung Hofmanns bfei- ben, wenn der Apoſtel das iAuorjgo» von der Kapporeth verftche, fo meine er letztere auch in der durch jenen griechiſchen Namen angezeigten Bedentung. Sofern es den Wert einer allgemeinen Regel beanfprudt, muß befagtes Urteil freilich Zurückweiſung er- fahren, und derjenige ift gewiß am wenigften zur Aufftellung diefer Regel befugt, welcher felbft behauptet, da8 iAuorzgıov ber Septus⸗ ginta fet eine verkehrte Überfegung, wie Hofmann es thut. So darf man unfere Deutung ber Stelle auf die Kapporeth dod wicht in Schwierigfeiten zu verwickeln ſuchen, daß, wenn die griedhifce Sprache keinen pafjenden Ausbrud für dies heilige Gerät darbiettt, man darum ben Apoftel zwingt, auch auf deffen wahren Sinn zu verzichten, oder aber ſich feiner Erwähnung überhaupt zu enthalten. Nur wenn es eine Mehrheit von überdies durchaus zutreffenden griechiſchen Bezeichnungen jenes Gerätes gäbe, was doch nicht der Fall ift, konnte aus der angewendeten etwas für die Richtung ge folgert werden, nad) welcher ber Gegenftand in Betracht kommt. Allein thatſächlich Tiegt es num an unferer Stelle doch fo, daß bie von dem griechifhen Ausdrucke iRuoriggeov erwedte Suhnevorſtellung nicht einfach aufgegeben, ſondern ihres uͤnzutreffenden nur durch Über» ſetzung aus der heidniſchen in bibliſche Denkweiſe entledigt werden will. Das nachfolgende 2v ri aurov aluarı verbietet denn doch ſchlechter dings, bei der Deutung des iAnorngıor gänzlich vom Bortfinıt

Der Abſchuitt Abm. 8, 21—26. d61

de Ansoruds abzufehen. Der Apoftel follte fich denfelben aus den Gedanken gefchlagen, dann aber gleich ſchon im nächften Augenblide wieder von der Süße gehandelt haben? Wie unwahrſcheinlich! Drot nun von biefer Erwägung der oben gewonnenen Ein⸗ ficht, daß unter aorngıor die Kapporeth verftanden jei, wirklich Gefahr? Man fagt, die Kapporeth fei nach dem Alten Teftamente Symbol der Nähe Gottes und nur dies, nicht zugleich auch Spmbol feiner vergebenden Gnade. Das fühmende Blut werde aur deshalb am fie gefprengt, weil «8 zu Jehova Hingelangen folle, Mer kann und muß fühnendes Blut Gott an feinem Thronfige erreichen, jo wird biefer ja eben Hierdurch zugleich eine Sühn⸗ und folglich auch eine Gnaden ſtütte. Cr ift eine wunderliche Behauptung, der Machtſpruch Fritzſches gegen Tholud (Ber dienfte D. Tholucks um die Schrifterflärung, S. 34), mit Gottes Gnade ſei die Kapporeih erft von den fpäteren Juden in Ver⸗ bindung gebracht worden, und als biutbefprengte Babe fie zur Gnade gar kein Verhältnis. Der Apoftel braucht ſich nicht erft duch die Septuaginte oder durch das fpätere Judentum irre führen Mm laſſen, um das Heilige Gerät als Sühnort zu verftchen. Iſt es ein folder aber als blutbeſprengter Gottesort, jo hat weiter die Frage ihr gutes Recht, ob fi Paulus das Verhältnis nicht vielmehr umgekehrt denke: Als Sühnort iſt die Kapporeth blut- befprengt und im des gleichen Eigenfchaft des Suͤhnortes wird fie dam weiter auch das, wozu fle won Gott in Ausficht genommen ift, nämlich die Stätte feiner Gegenwart. So fange wir nicht beftimmten Grund zu einer abweichenden Annahme haben, müffen wir vorausfegen, der Apoftel denke fo, wie das Alte Teftament; dieſes aber denkt, wie zuletzt angegeben. may verhäßt ſich zu Üaertgror nicht im mindeſten anders, als byrmpp zu ädoxe- oa. Beide Überfegungen find gleich richtig und gleich verkehrt. Weder „Fußſchemel“ (jo Ewald, Die Altertümer des Volles Jerael, 3. Ausg, ©. 165), noch „Dedel® (fo bie meiften; dgl. dagegen Riehm, Der Begriff der Suhne im Alten Teftament, S. 5 und defien Art. „Buubeslade* im Haubwörter⸗ buch ber bibliſchen Altertumer, auh Herm. Schulg, Alte teftamentliche Theologie, 2. Aufl., ©. 379), fonbern „Deder“, deol. Stud. Yafız. 1085.

562 Bleibtren

diefen Ausbrud in dem geprägten Sinne ber Opferfpradje vers ftanden, ift die Wortbedeutung von nye2, wie „Scheider“ diejenige von ning. Bermöge des am fie gefprengten Blutes deckt die Kapporeth die Seelen der Heilögemeinde von wegen ihrer Sünden dor dem Angefichte Jehovas, fo daß der Sünde ungeachtet bie Gottesgemeinſchaft fortbauern kann, und erft auf biefer deckenden Wirtung der Kapporeth beruht es, daß fie wird, was fie fein fol, bie Stätte der göttlichen Heilsanweſenheit, wie fie Hebr. 4, 16 genannt wird, der Ipövos Ts zXupırog, nad) Luthers and an unferer Römerbriefftelle befolgten Überfegung der „Gnadenſtuhl“. Die biutbeiprengte Kapporeth ift alfo nicht eine zuſammengeſetzte Vorftellung, fondern eine einfache; es gehört mit zu ihrem Be griffe, dedendes, fühnendes Blut am fich zu tragen. Mur bei dieſer Annahme erflärt fih der Name des Geräts. Die Ber- tretung Gottes den Menſchen und die Vertretung der Meufchen Gott gegenüber, beides ift in der altteftamentfichen mer, ift ebenfo in des Apoftels iRaozrgrov zugleich enthalten, in eins zus fammengefaßt. Diefer Reichtum des fich ergebenden Sinnes dient ebenfo wie deffen aufgezeigte genaue Angemefjenheit an das Vor⸗ bild des Alten Teſtamentes der origeniftifchen Erklärung unferer Stelle noch zu befonderer Empfehlung.

Die fühnhafte Gottesftätte des Alten Teftamentes war im Alterheifigften verborgen. Ihr neuteftamentliches Gegenbild Epriftus Zefus ift an die Öffentlichkeit Heransgeftellt worden. Jetzt macht uns die Beifügung > 7@ avrov alnarı mit einem weiteren Unterfchiede befannt. Chriſtus Jeſus ift ein mit feinem eigenen, nicht mit frembem, nicht mit Tierblut befprengte Kapporeth. Daß des Apoſtels Worte in diefer Gegenfäglichkeit verftanden fein wollen, erhellt aus der ungewöhnlichen Stellung des aurov (vgl. Weiß, 6. Aufl. von Meyers Komm.), der zufolge dasjelbe allen Ton auf fih zieht. Und um fo leichter Tann es ihn ganz auf fid ziehen, wenn mit dr 7& oiparı dem ÜAuszrgsor gegenüber nichts Neues mehr ausgefagt wird, wenn, anders ausgedrückt, in bem lehterra der Sühnebegriff ſchon mit enthalten war, ein ferner Be» weis für die Richtigleit defjen, was wir im Vorſtehenden gegen Ritſchl ausführen mußten.

Der Abſchnitt Röm. 3, 21—26. 568

Bas aber machen wir num mit der noch vor dv z@ adzov oiuorı ftehenden Beftimmung des zlorews? Bisher haben wir den Begriff der miorıg ſtets ſtark betont gefunden. So wird es hier wohl nicht anders fein. Im Gegenfage wozu aber wird dann dia nlorewg den Ton haben? Gewiß au im Gegenfage zu etwas Altteftamentlihem. Nun war auf altteftamentlichem Boden die Kapporeth, diefe fühnhafte Gnadenftätte, in die Anftalt des Gefeges mit feinem ganzen Apparate eingefchloffen, nur Mitgliedern des Judenvolkes kam die Kapporeth zugute. Ganz anders Chriftus. Er ift Sühn- und Gnabdenftätte nur mittelft Glaubens, ift es für jeden, der ihn nur dazn haben will. Legen wir alfo auf mgod9ero, auf dia mlorewg und auf avroo den Ton und laffen wir ben Ausdruck iRuor/gıov felbft ganz unbetont! Denken wir ferner nad) 6 eos und nad due aloreng ein Komma gefegt! So werden wir den Apoſtel richtig verftehen. „Gott hat Chriftum Jeſum Herausgeftellt, eine Kapporeth nur mittelft Glaubens, eine Kapporetö mit ihrem eigenen Blute.“ Will übrigens jemand nad üblicher Weiſe & 14 avrou aluarı lieber mit mgoFero verbinden, ftatt es als zweite Näherbeftimmung von iAaorngıov mit dia mloreug als ber erften parallel Laufen zu laffen, fo machen wir ihm, falle er ſich nur bei jener gewöhnlichen Verbindung etwas Klares benfen kann, kein Verbrechen daraus. Aber der Grund wenigftens, auf den man ſich beruft, ift für uns nicht mehr ſtichhaltig. Man fagt: Gehörte Zr r@ adrod alyarı zu iRaorrgıov, fo müßte es als das Opfetive doch wohl bem fubjeftiven dia zloremg voranftehen. Aber ift die aloric hier im Gegenfage zur Geſetzeszugehbrigkeit der altteftamentlichen Kapporeth gedacht, fo iſt keine andere Stellung der beiden Beftimmungen möglich, als die vorfindliche, und „obs jeftio" und „fubjeftiv“ bleiben ganz abfeits Legende Geſichtspunlte. Erſt auf einer Unordnung bes Geſetzes beruht es, daß bie Rapporeth, wie vorhanden fein, fo aud mit Blut befprengt werben mußte. Dem entjpredhend muß auf der neuteftamentlichen Gegen feite zuerſt die Nicht⸗Geſetzes⸗, fondern Lediglih Glaubens» iedingtgeit der Kapporeth ausgeſprochen werden. Dann erft wird

wc die Unabhängigkeit von der immerhin einzelnen, wiewohl 37

E71 Bteib treu

"wefentlichen, Geſetzesvorſchrift betont, nach welcher es des Opfer⸗ Blutes bedurfte. Chriſtus Jeſus iſt in fich ſelbſt ſchon dus Opfer. Auch nad dieſer Seite braucht er fick durch Geſetzliches nicht zu ergänzen.

Wenn wir von hier aus einen Ridblid werfen, fu haben wir eine dreifache Ausfage in B. 21 gefunden: weils vöuos, neparigwrcs und napsvgouuln war betont. Einer dreifachen Ausfage begegueten wir desgleichen in B. 22: Ion, dia nlovews 'Inoov Xgoros und ek rarrag xar dni nürtos Tedc oreðorac, jebes hatte feine jelbfändige Geltung. Eine dreifache Ausſage trafen wir ferner in B. 24 an: dugsar, zi adrod xagısı und dia Tic dmolusguaews zig dv Xoro "Inn waren mis gleichem Gewichte einander nebengeordne. Auf eine derifache Ansjage ſtießen wir ſchließlich auch in B. 25: noofdero, dia nloreus und dv. 70 avroo alkarı benwipruchte jedes beſonderen Nachdruck.

Am Ende des 25. Verſes hebt nunmehr eine Beftimmung an, |

die bis zum Schluſſe des 26. reihe. Daß auch Hier, nur in zum Teil anderer Weiſe·, Symmetrie herrſcht, ift leicht zu jeher. Dem Anfange eig deko 775 dixmmourng avron wer. lauſt offenbar der Abſchluß eis ro era aurov Ölxaıov xrr. als mit ihm inhaltsgleich parallel. Aber das erfte der parallelen Glieder ift num viel weiter ausgeführrt, als bas zweite. Gehen wir auf diefe weitere Ausführung ein, fo zieht zunächſt die Erwähnung der rgoyeyovbra änaprr’ use unfero Aufmerffemteit auf fi: Iſt es nicht verwunderlich, daß, foviel wir fehen, noch niemand dem Hin blick auf dem aftteftamentlichen großen Verfährungstag wahr genommen hat, welcher in der Anführung der mgoyeyorora auag- vruora ſichtlich enthalten ift, ja daß fogar damm, wenn wirklich das Alto Teſtament zur Aufhellung unferer- Stelle verwertet wurde, man eher noch die: entlegene batwı Maxf heranzog (RToftermann, Korrelturen zur bisherigen Erllavung des. Romerbriefes), als den naheliegenden oyaazı die? Alle Jahre einmal wurden am großen Verſohnungotage die vorher vorgefallenen Bergehungen geſſihat und fo Onttes Gerechtigkelt ins: Licht geſetzt. Hierzu bedurfte «6 alo deo wichtigſten Alktes der einzig am jenem großer Ber

Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. [3

ſchnungẽtage geſchehenden Beiprengung der Kapporeth mit Blut. Rein Zufall alfo ift es, daß wir die mooyeyonöra dpeap- riuara und des iuosrgıov fo nähe bei einander erwähnt finden. Und fo wird es fich denn auch Hinfihtlich des Tonwertes mit jenen ebenfo wie mit dieſem verhalten. Wie Auweriper allen Prädifatsnachdrud an feine Umgebung abtrat, fo werden es die. moyeyovöra önoprnnare gleichfalls thun.

Sofort zeigt ſich auch, daß dem wirklich fo ifl. Wir leſen nicht bloß, Gott habe feine Gerechtigkeit am großen Verfühnungss tage beweifen wollen hinfihtli der vorherigen Sünden, fondern das leſen wir, er habe es thun wollen wegen Borbet» loffung, wegen Überfehung bderfelben. Wiederum ift uns darin etwas die hriftliche Erlbſung von der judiſchen Unter» ſcheidendes angegeben. Denn auf altteftamentlichem Gebiete fund vor dem großen Verfühnungstage keineswegs eine Überfehung der Sünden ftatt. Im Gegenteil, auch vorher wurde alle Tage geopfert. War das Sähnopfer des nrapzn dr fon das hauptſüch lichſte, dennoch trat es aud wieder nur ergängend und nachheifend am fonftigen Opfer Hinzu. Anders das Opfer des neuteftament- lichen großen Verföhnungstage. Da thut diefes Opfer alles für fih felbft allein, und vorher findet Lediglich uaenıs ftatt. Das Opfer Chriſti iſt vollgenugfam. Vor denselben Hat nichts ſchon Blog gegriffen, was zur Sühne ber Sünden diente. Die alte teftomentlichen Opfer find fo gut wie bie heidniſchen, neuteſta⸗ mentlich angefehen, wie Hebr. 10, 1 «8 ausdrückt, bloße Schatten bilder gewefen, bie aud nur Schatten zum Erfolg haben konnten: vor Chriſto gab's in Wahrheit Iediglih mugsoıs. Was andern» falls Hätte der Fall fein müffen, nämlich dag Chriſtus mode and xuraßoAns »bonov gelitten (Gebr. 9, 26), es Hat nicht finttgefunden. Nach Maßgabe ber vor Chriſto geübten zägenıg Will denn auch ferner geradezu die vorchriftliche Zeit beurteilt werden. Es follte damals wirklich fo fein, wie es war. Die laufende Zeit war eben nicht fir Gerechtigkeitserweiſung, ſondern fir nügeons ba. Septere fand ſtatt dv 77 dvoxi zo Hol, d. h. zu einer Zeit, welche geradezu die Zeit der Geduld Gottes genannt werden muß, wobei 8e0ẽ in einem eigenſchaftlichen Sune

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fteht, der genugfam erflärt, weshalb dafür nicht vielmehr einfach aözon gejegt ift (fowohl gegen Ritſchl, als gegen Hofmann und Weiß). Auch anderwärts bezeichnet Paulus die vorchriſtliche Zeit ähnlich, wie hier. Apg. 17, 30 redet er von ihr als von xobyoic rĩc üyvolag, welche Gott überjehen habe. Aber freilich, eine Gebuldszeit Gottes hatte nur darin Möglichkeit und Wirklich- feit, daß eine nachherige Zeit der Gerechtigkeitserweiſung in Aus fit ftand. Und fo Hören wir denn den Apoftel in einer dem dr 75 üvoxi roõ Feou nebengeordneten Beftimmung ſich auch noch über jene fpätere Zeit äußern. Mit den Worten: zpos zrr Wdukır zn Ömoodyng ausov dv To vür xp erflärt er jene fpätere Zeit für die chriſtliche Jetzt zet. Die unter der Geduld Gottes in Ausfiht genommene Gerechtigkeitserweiſung, fo fagt er, fei, wie der Artikel zwifchen zpog und Zrdeiker anzeigt, eben dies jenige gewefen, zu deren Herbeiführung nad) dem vorher Geſagten Chriſtus Zeus in feiner Eigenfhaft ald iRaorrgor dient, aljo die jegige, die Hriftliche. Die Geredtigkeitserweifung follte erfolgen wegen dus ber vormaligen zupeoıg, und diefe wies derum hatte Raum gewonnen eben in Abfehung eis anf jene jegige Gerechtigkeitserweiſung. So kehrt das Ente der von V. 25 bis in die Mitte von V. 26 reihenden Beftimmung in ihren Anfang zurüd. Der auf die Verwendung Ehrifti Jeſu als Baorrgrov gefolgte wir xwgös, die Kriftliche Zeit, fie tritt als die einzige Heilszeit heraus. Auch Hier aljo wieder eine drei⸗ fache Tonftelle: Hua zrv mügeow, dv ci Wwoxn rou Ieov und 79 vor og. Vor Chriſto nur Geduld, nur Durch⸗die · Finget · fehen! Aller Gerechtigkeitserweis in die chriſtliche Jetztzeit zu fammengelegt! Dann folgt aber, was in der abſchließenden, jegt gleichfalls Über ihre Prädifatsftelfe keinen Zweifel mehr Laffenden Beſtimmung fteht: Gott ift gerecht, und gerechtmachend den jenigen, welcher nur de6 Glaubens an Jeſum ift. Gicht es einen Weg, auf dem Gott feine Gerechtigkeit wahren und bo auch den Menſchen als einen Gerechten zu ftehen kommen Laffen Tann, fo muß, wer nur jefusgläubig ift, an diefer meafd- lichen Gerechtigkeit teilpaben. Das Gefeg Hat nichts mit dabei zu thun. Sola fide.

Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26. 567

Und was Haben wir nun aus den Verſen 24—26 über das Befen und die Notwendigkeit von Sühne, fomie im Zur fammenhange hiermit über die Möglichkeit einer Mechtfertigung des Sunders gelernt? Gar nichts. Uber geht es uns Hierin nicht anders als allen übrigen Auslegern, die ja auch das in jener Beziehung Gewunſchte Hinter und zwiſchen den Zeilen leſen möffen, fo find wir anderfeits in dem entſchiedenen Vorteile, dag wir etwas Beſtimmtes anzugeben vermochten, was der Mpoftel ftatt defien fagt, was er nicht fagt. Über das die Hriftliche Sühne und Rechtfertigung von der jüdiſchen Unterfheidende find wir belehrt worden. Da war es num gar nit mehr mög. lich, daß uns die allgemeinen Wahrheiten von Sühne und Recht fetigung Hätten vorgeführt werden follen. Diefe Wahrheiten rechnen ja nit zu dem Unterfchiedlichen des Chriſtentums, fondern zu dem ihm mit dem Judentume, fowie überhaupt mit aller Religion Gemeinfamen. Nur einfah voransgefegt mußte es hier werden, daß Sühne notwendig, Rechtfertigung möglich fei und weshalb, und fo gefchieht «8 denn and. Demgemäß kommt war jenes Daß, nicht aber auch diefes Weshalb wenigftens in den mbetonten Stellen ber Verſe 24—26 zum Ausdruck. Die bes treffenden Stellen bilden den Zirkeleinfag, um welchen der Apoftel den Kreis der chriſtlichen Beftimmungen Herumlegt, fie find die Subjekte, die mit hriftlihen Prädikaten verfehen werden. So er- ſchen wir bein: Es bedarf eines "noengiov, es "bedarf einer &- dubıs Tag Ixaodvng Tod Heov, es bedarf, was mit dem Zweit» genannten dasfelbe ift, eines Ausgleichs zwifchen dem duxaov zivar Gottes und feinem dixaouv (rOv doeßn, vgl. 4, 5). Denn offen« bar im Sinne der Ausgleichung treten biefe beiden Begriffe neben einander, zur ficheren Widerlegung ber Unficht von ihrer völligen Gleichbedeutung (gegen Ritfchl, Rechtf. u. Verſ., Bd. II, S. 216f.). Aber all jenes, was freilich zur Ansprache kam, hat im vorliegenden Zufammenhange doch nur untergeorbneten Bert. Bon dem Weshalb erfahren wir nichte.

Wir faſſen unfere Auslegung des Abſchnitts zufammen. Eic nüyrag xol Em) movsag Tods mioredovrag, das iſt fein Haupte und Höhepunkt, das Facit aus dem Vorherigen und das durch

D68 Bleibtren, Der Abſchnitt Röm. 8, 21—26.

das Nachherige zu Beweiſende. Der Beweis Liegt darin, di alle Glanbenden unterſchiedelos Sünder find und die Rechtferi⸗ gung als eine folde erfahren, die alle Mitwirkung des Gefept aueſchließt und fid demnach einzig eben auf den Glanben grüne, Zunãachſt fließt die chriftliche Rechtfertigung bie Werte bt Geſetzes von fich ans: Die Rechtfertigung geſchieht umfonf, durch Gnade, durch Erlöfung. Sodann aber ſchließt dire chriftliche Rechtfertigung die Erlöfung bes Geſetzes von ſich ans: Iſt fie Erlöfungsrechtfertigung, fo doc feine geſetzliche. Nein, als Kapporeth ift Chriftus Jeſus ans dem Bereiche bes Gefeket Heransgeftellt, mittelft Glaubens wirkſam, das Opferblut mit dem bie Kapporeth zu befprengen iſt, an ſich ſelbſt bo figend. So ift die Erfheinung ber neuteſtamentlichen Kappe reth durchans allem Gefetlichen fremd. Und wie ihre Erfceinung, fo auf ihr Zwed. Die Gerechtigkeitserweiſung, auf welche «6 mit der Wirkſamkeit diefer Kappoteth abgefehen ift, will Hinter fi nur Durch⸗ die-Finger-ſehen, nur Geduld Haben, ſelbſt will fie ganz der chriſtlichen Gegenwart angehören. Wie vor Hin durch mooßsero hinſichtlich des Raumes, fo wird jegt derch % 76 vor sage Hinfichtlich der Zeit das chriſtliche Heil den judiſchen Grenzen entrüdt, Dann aber gilt es wirklich nur ein Kind der neuen chriftlichen Zeit, es gilt mur bes Glaubens as Jefum zu fein. Die Gotteßgerechtigfeit fommt wirklich, mas p beweifen war, eis navrag wol ini nüstag Tous muorevorrug. Dab Ergebnis Tautet mit einem Wort: Sole.

Gedanlen una Bemerkungen.

1. Zur Evangelieufrage.

Bon Dr. Sernfard Weiß.

Mit befonderer Beziehung auf den Auffah von D. W. Bey— ſchlag: „Die apofolifche Spruchſammlung und unfere vier Evan- gelien“ (Cheol. Stud. u. Krit. 1881, Heft 4, 3. 565ff.).

Ehen hatte ich in der „Theologifchen Litteraturzeitung“ (1881, ©. 182) die Erflärung Holgmanns gelefen, wonach derfelbe feine Urmarkus · Hypotheſe im weſentlichen zurüdnimmt und nicht zu bes merken unterläßt, daß meine „dagegen ins Feld geführten Inſtanzen gegenſtandslos“ geworden feien, ala mir das Heft der „Studien und Kritifen“ zur Hand kam, in welchem Beyſchlag biefelbe in neuer Geftalt vertritt und eingehend gegen meine Ausführungen verteidigt. Allerdings gewinnt diefelbe nunmehr ein fehr anderes Befiht. In dem Mae, in welchem fih fein Bild von der ‚apoftolifchen Spruchfammlung“ dem Bilde der „apoftolifchen Duelle“, wie ich es gezeichnet, nähert, indem er eine Fülle von Stoffen, die Holgmann derfelben einft abſprach, ir wieder vin⸗ igiert, wird fein „Urevangelium“ unferem Markus verwandter nd die Differenz der angeblich in Iegterem vorliegenden Bearbei⸗ ing des erfteren von dieſem felbft für die Eritifche Trage uner⸗ eblicher. Immerhin bleibt noch ein fehr wefentlicher Unterſchied oiſchen unferen Auffafjungen zurüd, indem ein nicht geringer

572 Bei

Zeil von Rede⸗- und Erzäflungsftüden bei Markus ihm im m ſentlichen als originale Konceptionen erſcheinen, die ich nur für fetundäre Bildungen Halten kann und in ihrer urfprünglidften Or ftalt in unferem Matthäusevangelium aus der älteſten Qule nod treuer erhalten finde.

Es Tag mir wohl das Bedenken nahe, ob ich es wagen dürft, die Leſer diefer Blätter nochmals mit der Diskuffion bier Meinungsverfchiedenheit zu behelligen. Ich Habe im meinen Eu: gelienfommentaren fo vollftändig alles gejagt, was ich für mein Anfiht anzuführen weiß und wovon der Natur der Safe mh, mein verehrter Mitarbeiter auf diefem Gebiete doch nur einzeln berühren tonnte, daß die Lefer fürdten müffen, nur cramben bis terque recoctam zu empfangen. Ich habe in meinem „Leben Jeſu“ verſucht, vom hiſtoriſch-kritiſchen Gefichtöpunfte aus den Beweis zu liefern, daß meine exegetifch-fritifchen Rejultate ſich auch bewähren, wenn man verſucht, das aus umferen Quellen fh ergebende gefdichtlihe Bild des Lebens Jeſu wit dem Bilie zu vergleichen, das die Einzelheiten deöfelben im jedem unſeret vier

* Evangelien gewinnen, und die Entftehung des legteren zu erfim. Ich kounte hiernach meine Arbeit auf diefem Gebiete ald abge ſchloſſen betrachten und es ihr felbft überlaſſen, ſich abweichenden Anſchauungen gegenüber geltend zu machen und Überzengungefrift zu gewinnen. Wenn ich trotzdem, an bie Urbeit Beyſchlags um tnupfend, noch einmal das Wort nehme, fo geſchieht es, weil ih glaube, dabei einige allgemeinere Geſichtspunkte zur Sprache bring za Mnnen, welche für die Beurteilung der einzelnen kritiſcen Differenzen von entfeeidender Bedeutung find.

Es ift mir ja nicht felten vorgeworfen worden, daß weit Anfhauung von dem Verhältnis der drei erften Evangelien md ihren Quellen von vornherein im Vergleich mit der Urmartak hypotheſe (wie ich fie einmal nennen will, weit an die Unterfce dung des zweiten Evangeliums von der allen drei Synoptiten zugrunde llegenden erzähfenden Sqhrift fich doch nun einmal ale Differenen anknüpfen, welche meine Anficht von dem Verhaltais der beiden erften Evangelien unter einander umb zu der fe. Spruchſammlung von der Holgmanns, Weizfäters, Ber

Zur Evangelienfrage. 578

ſchlage u. a. unterſcheiden) als eine viel kunftlichere und kom⸗ pliziertere erſcheie. Ob dies wirklich der Fall ſei, möchte ich, nachdem ich nunmehr eine zuſammenhängende Darſtellung meiner Auffoffung von der Geneſis der Evangelienlitteratur in dem Quelleubuch meines Lebens FJeſu gegeben habe, erneuter Prüfung anheimftellen. Wenn dieſelbe von keinen anderen Schwierigkeiten gedruckt wird, ais von den drei „großen Unwahrfſchelmichtelten“, welche Behſchlag von vornherein gegen fie Ind Feld fühet (S. 670f.) fo möchte ich dem Reſultate dieſer Prüfung mit einiger Zuverſicht entgegenſchen. Am werigften ſchredt mich der Vorwurf, daß id) „den einfach großen Durchdlic Holtzmanns, nach melden das redearme zweite Evangelium lediglich aus ber erzahlenden Hanpte quelle, die beiden anderen mit ihren Meberhaffen aus jener Haupt⸗ quelle und der Spruchſammlung fich erllären“, wieder aufgegeben habe. Erkennt doch gelegentlich Beyſchlag ſelbſt, daß mar zuwenen das ſcheinbar Einfachere aufopfern muſſſe, weil es eben den vorliegen⸗ den Thatſachen nicht entſpricht (vgl. ©. 602); und wenn Beyſchlag ſelbſt die Vorſtellung Holtzmanns bekämpft, als Habe ein Evangeliſt irgend wahrſcheinlicherweife Die Abſicht Haben konnen, einer Schrift mit auoſchließlichem Lehrgehalt eine mit ebenſo uberwiegendom Ge⸗ ſchichteſtoff gegenüberguftellen (S. 598), wenn thatfächlich das alteſte Papiaszeugnis ger nicht den Aöyın des Matthäus etwa myaxHrro, die Markus gefhrieberr Habe, fondern Ada A na Ferro gegemüberftellt, alfo der VWorftellung vor einer urfpringe lichen Duplichät evangelifcher Quellen, die fid; nach diefem Ger ſichtspuukt uuterſcheiben, jede geſchichtliche Gewähr fehlt, fo frag ſich doch ſicher, ob jener „einfach große Durchblick“ wirtlich den Rern der Sache getroffen hat oder ob man nicht auf anderem Bege zum Ziele zu kommen verfuchen dürfte,

Das. führt aber diveft auf den erften: Haupteiawand Bey qhlags. „Eine Queltenfhsift, welche uns einfach uud glanbwichig 18 eine Zufammenſtellung von Aueſprüchen bezeichnet ift, foll dar «ben nicht Bloß geidichtliche Anläffe folder Ausſpruche enttaiten aben, fondern eine Menge von Mitteilungen, deren Schwerpunft icht ins Lehrthafte, ſondern ins: Thatſachtiche fällt.“ Ich braude tee nicht zus wiederholen, was oft genug der die Moglichleit ge⸗

574 Bes

fagt ift, daß jene alte Notiz über die Matthäusſchrift keineswegt notwendig die Abfidht Hatte, ihren vollen Inhalt zu befchreiben, oder daß fie lediglich auf die Haupttendenz der Schrift fich bezog. Ich muß Hier einfach, behaupten, bag Beyſchlags eigene Vorftellung von ber „apoftolifchen Sprudfammlung“ mit jener faljchen Deutung ber Papiasnotiz, welche er mir hier entgegenhäft, bereits gründfid genug gebroden hat. Eine Schrift, welche mit einer kurzen Notiz über den Täufer, mit der Tauf- und Verfuchungsgefchichte begann, welche mit einer Notiz über die Vollswirkſamkeit und Jünger berufung zur Bergpredigt überleitete, welde den Hauptmann von Kapernaum und wahrſcheinlich auch das kanandiſche Weib, welche eine Dämonenaustreibung umd zwei Sabbatheilungen Jeſu, welde den Beſuch der Verwandten Jeſu umd die Erzählung von Maria und Martha enthielt, das ift doch ſchon Tängft Feine reine Sprud- fammlung mehr. Wo ift hier die Grenze zwifchen den Erzählungs« ftüden, welche Beyſchlag der Quelle zugefteht und welche er als ihr völlig fremdartig aufs entfchiedenfte abwehrt? Wenn er insbe⸗ fondere die Dämonenaustreibung in der Defapolis, die Jeirus⸗ tochter und den Epileptifchen am Fuß des Verklärungsberges als folche nennt, "deren ganzes Intereſſe ins Thatſächliche fällt, fo fürchte ih, daß ihm hier überall die farbenreihe Marfusdarftellung vorſchwebt, nicht aber die Darftellung der Quelle, wie ich fie mir nach Abzug deſſen, was ber erfte Evangelift zu ihrer Bereicherung aus Markus aufgenommen hat, denke. Auch habe ich wiederholt gezeigt, wie auch diefe Erzählungen fi um ein denkwürdiges Wort Zefu drehen. Dies gilt aber von allen Erzählungsftüdten, bie ich der äfteften Duelle zuteifen zu müffen glaube; und daß ich irgendwo einfache geſchichtliche „Mitteilungen“ ihr zugeſchricben Habe, wüßte ich nicht.

Die zweite „große Unmwahrfceinlickeit" formuliert Behſchlag alfo: „Ein Evangelift, wie unfer zweiter, der unleugbar ein Gefamt« bild des Öffentlichen Lebens Jeſu beabfichtigte, fol diefe authentiſche Sammlung von Reden Jeſu vor fi gehabt und fie Hinfihlid ihres felunbären, erzählenden Gehalts möglichft ansgebeutet, abet von bem Beften darin, den Reden Jeſu, nur einen fo kümmrr lichen Gebrauch gemacht haben, dag er Berge von Schägen un⸗

Zur Evangelienfrage. 575

berührt gelafjen Hätte.“ Bei diefem Einwande hat doch mein vers ehrter Gegner ſichtlich nicht ermogen, wie ich mir die Entftehung unfered zweiten Evangeliums denke. Da ich dasfelbe für bie von Papias bezeugte Markusfchrift Halte, fo verſteht fich ganz von ſelbſt, daß ich den Evangeliften nicht als einen Schriftfteller dente, der aus ſchriftlichen Quellen arbeitet, alfo darüber reflektiert, wie weit er diefelben ausfaufen will oder nicht. Markus erzählt, wie ber Presbyter fagte, nach feinen Erinnerungen an die Mitteilungen des Petrus, ober vielmehr er fucht, wie Beyſchlag von dem Ver⸗ faffer der fogen. Grundſchrift ganz richtig bemerkt, aus ihnen ein Gefamtbild des öffentlichen Lebens Jeſu zufammenzuftelfen. Gerade daranf führe ich ja überall feine farbenreichen Detail» erzählungen, feine lebensvollen Schilderungen zurüd. Wenn ich an⸗ nehmen zu miffen glaube, daß er die ültefte Apoftelfchrift gekannt hat und darum vielfach unwillkürlich an die klaſſiſche Darftellungs« weife derſelben ſich anlehnt, fo ift das doch feine Ausbeutung ihres rzäblenden Inhalts. Diefe Gefchichten Hatte er alle auch vom Petrus erzählen gehört, wie eben feine Detailausführungen uns iegeugen; und wenn ich fir jene Anlehnungen „auf die relative Barheit der Gieſelerſchen Traditionshypotheſe von einem münd⸗ ichen Erzählungstypus zurücgreife“, fo gefchieht es gerade, weil & in jener älteften Apoſtelſchrift nur die erfte Aufzeichnung des mählungstypus finde, wie er fi im Kreife der Urapoftel zu jerufalem gebildet Hatte und eben infolge dieſer Fixierung bie sangeliftifche Erzählungsweife beherrſchte. Vielfach wird derſelbe eilich auch die Erzählungsweife des Petrus beeinflußt haben, obs ohl derfelbe daneben, wie jeder andere, ihren Rahmen mit den ytails feiner eigenen Erinnerungen ausfülte. Aber wenn ich ogbem meine nachweiſen zu Tönnen, daß dem Evangeliften bie tefte Aufzeichnung dieſer Erzählungen befannt war, fo gefchieht es, eil ich überall in feinen Darftellungen derſelben neben Bes iherungen aus dem Schatze feiner Erinnerungen an bie Petrus- itteilungen auch rein ſchriftftelleriſche Umgeftaltungen der im erften vangefium vorliegenden älteften Erzählungsform und nicht felten ıe noch fpürbare Verflechtung feiner Zufäge mit einem gegebenen xte wahrzunehmen glaubte, welche die Annahme einer einheit-

bes 5 Beik

tigen felbftändigen Darftellung unmdglid macht. Auf diefe Desit | in chen Beyſchlag nicht eingegangen, umb‘ doch Tiegt in im gerade der Nero meiner Beweisführung. Wenn ic) wirklich md Bagſchiag ©. 589 etwa die Hälfte des CErzählumgaftoffe bi Markt der Gpruchfemumlung vindiziert Hätte ich Habe mt wie fol mich das „bedenklich machen“, da «8 m die Annahme auffällig Beftätigt, daß die älteſte Quelle mr die Aufzeiheung der im Apoſteltreiſe, alſo auch von Petra, au Hanfigften erzählten Werten und Thaten Jeſa war?

Nah meiner Borfiellung von ber GEntftehung bes pin Evangeliums tonute Markus gar nicht barumf reflektieren, ob m

den Nedeſchaden jener äfteften Quelle Gebtauch machen wollt. iſt ja nur ein altes Vorurteil, daß dieſes Eoamgelium arm ın ſei. Dasfelbe Hat, abgefehen vom ber Parufierebe, derum notwendig aus einer ſchriftlichen Quelle ent⸗ nf, feine langeren Reden, weil eben Petrus fider recitierte, wenn er vom Jeſu erzäglte, ſondern berichtete, die durch irgendein mterkiwitrbiges ort Gedächtnis eingeprägt Hatten, oder merkwürdig Gr größten Teil ja gerade Markus auf Grund feint Mittelangen in bie evangelifche Überlieferung eingeführt hat. Fi feinen Zweck, ein Gefamtbild des dffentlichen Lebens Seh: za gehe, genügte das chen völlig, ohne dah er deshalbb ein „ejnsrin

|

jepaıgıı HH

Quelle zu entfehuen, da Petrus wohl erzählt haben Eormte, wei Kndentungen Zejus über die Beziehung feiner MWicbertusit der ledten Trübfelegeit, die über Judta fommen follte, anf dm Obberge anf Anlaß des Geſprache über den Untergung des Tan

Zur Evangelienfrage: 577

pels gegebene, aber diefelbe ficher nicht in der Form einer großen Rede feinen Hörern eingeprägt Hatte, fo war ihm damit noch fange nicht die Frage nahe gelegt, ob er etwa auch andere Reden aus jener Quelle entlehnen follte. Oder wenn bier und da in feiner Wiedergabe von Ausfprüchen Jeſu, dur die er einzelne Momente feines Lebens illuftrierte, ihm nicht eine beftimmte Mit teilung des Petrus vorſchwebte, fondern die Form, in welcher er fie aus den großen Redeſtücken der äfteften Apofteljchrift kannte, fo war das noch lange nicht eine fehriftftellerifche Benugung diefer Quelle, die man ob ihres „Aimmerlichen Gebrauches“ der Rede⸗ ftüde derſelben ſcheel anfehen dürfte. Damit foll über die Haupt« differenz, die uns trennt, felbftverftändlich noch nichts entichieden fein; nur daß Hier eine große Unwahrſcheinlichkeit vorliege, die meine Auffafjung von vornherein unannehmbar macht, muß ih befteeiten.

Der dritte Bunkt, an welchem Beyſchlag fo befonderen Anftoß nimmt, ift, daß der erfte und dritte Evangelift, „welche die apo« ſtoliſche Quelle und deren wählerifchen Bearbeiter neben einander vor fich Liegen hatten“, auch in denjenigen Fällen den Markus mit ber rückſichtigt Haben follen, wo diefer nur aus jener jhöpfte. Das erſcheint Beyſchlag, als ob „unfer Matthäus und Lukas, um reines Waſſer zu erhalten, die klar fliegende Quelle, an der fie ftanden, und den abgeleiteten, mannigfach getrübten Bad), der ſich vor ihren Augen zum Teil aus ihr Herleitete, mit einander gemifcht hätten, anftatt fich für die Redemitteilungen an jene unmittelbares Apoftel- zeugniß bietende Quelle allein zu Halten!“ Man Hat meift bei der BViderlegung der Griesbachſchen Hypotheſe fo viel gefpöttelt über den Evangeliften, den man ſich nad} ihr, modernen Gelehrten gleich, vor zwei Buchrollen figend benfen foll und mühſam beide folla- tionierend, um fie mit einander zu kombinieren und durch einander zu reftifizieren. Aber ift denn die Vorftellung, von der aus hier mein verehrte Gegner mich bekämpft, eine weſentlich andere oder nicht vielmehr eine noch ungeſchichtlichere? Werden hier nicht die beiden Evangeliften zu gut geſchulten modernen Hiftoriographen ge macht, welche nichts Wichtigeres zu thun haben, als fauber zwiſchen primären und feundären Quellen zu fcheiden und mit „Deiettegung

beol. Gtnd. Dahrz. 1838.

vs Weiß

der letzteren ganz methodiſch ſich rein am die erſteren zu halten? So habe ih mir die Evangeliften allerdings nicht gedacht. Da der erſte beabfichtigt, bie äftefte Quelle mit Hilfe des Markus zo einer vollftänbigen Gefchichte Jeſu zu ermeiteen, brachte es ja frei⸗ &d mit fih, daß er oft von dieſem gefliffentlich auf jene feine Harpiquelle zurückging; aber dabei war ſicher der Geſichtspunlt einer quellenkritifchen Scheidung wicht maßgebend. Wenn Beyfhliag geltend. macht, daß die alte Kirche doch das apoftelifche Wort für fchlechthin maßgebend Hielt (vgl. S. 606 Anm.), fo vermeäelt er den Standpunkt einer viel fpäteren Zeit mit dem unferer Eva geliften und bie apoftolifche Heilsverfündigung mit der Erzähfung von den Thaten und Worten Jeſu. Diefe hatten Hunderte und Zaufende fo gut gefehen und gehört, wie die Apoftel; und umfere Evangeliſten, bie noch mitten im Fluß der mündlichen Überlieferung mit ihren freien Variationen in der Wiedergabe beider ftanden, waren ficher ganz frei von ber bogmatiftifchen Vorftellung, Wnne tegendeine Wiedergabe berfefben, auch bie apoftalifche nicht amöger fehkoffen, auf abſolute Genauigkeit Anſpruch machen. Daqju fam, daß ja auch Markus nad dem Mitteilungen eines Apoftels erh hatte; und wenn wir heute zu ſcheiden verſuchen, was er aus diejen überlommen und was er nad) eigener fchriftjtelierijcher Kombination modiſtziert oder hinzugefügt Hat, fo hat jene Zeit au ſolche krittihe Operationen doch wahrlich nicht gedacht. Oder, wer fagt Bei: flag, daß ber erfte Evangelift, aud) wenn er bei Mark. LO, 29f. erkannte, daß diefe Sprüche nichts andeves als die Wiedergabe einer Stelle aus den apoftolifchen Quelle waren, bie Zufäge des Mar- Rs, den er aboptiert, für felhftgemachte Zufäge und nicht für Nach- träge aus‘ petriniſcher Überlieferung, daß er Mark. 10, 31 für eimen ſekundären Ausdrud von Matth. 20,. 16 und nicht für eimm | ähnlichen Ausfpruc anderen: Ginnes hielt? (&. 583.) Aber hat denn überhaupt auch nur irgendeiner unferer Ebangeliften eine be ftoriographifcde Tendenz, wie fie zu folchen Reflexionen führe Könnte? Erbauen, belchren wollen fie. Wo ihnen ein Zug Kr Erzählung, ben fie im eimer ihrer Quellen gelefen hatten, bie Sache amfchauliher, bebeutungsvoller zu. machen feiern, wo eine neue- Wendung. des Wortes Jeſu dasfelke: Harer, eindrücklicher, bes

Zur Evangelienfrage. brs

zichungsreicher machte, da haben fie denſelben aufgenemmen unb wahrlich nicht gefragt, ob er aus der primären oder ſekundären Quelle herſtammie. Gewiß thut Beyſchlag fehr wohl daran, bie Kritik zu warnen, daß fie nice ſolle das Gras wachſen hören, d. h. alles: erflären wollen (S. 598), alſo au warum der Evangeliſt ehmmal ein Reber oder Erzaͤhlungsſtuck einfach aus diefer Quelle entnommen Habe, and einmal durch einen Zug ober eine neue Wendung aus ber anderen bereichert. Aber mit diefer einfachen Betrachtung fullt ja die ganze Schwierigkeit, die er gegen meine Quellenanſchauung erhebt, in nichts zuſammen.

Dieſe Betrachtung hat freilich noch eine andere, ſehr viel wich⸗ tigere Seite, auf die ih in einem anderen Zuſammenhange zu kommen Hoffe. Es fei mir aber zunächſt erlaubt, noch einmak die umer ung ftreitige Hauptdifferenz unter den Geſichtspunkt der wichtigſten allgemeinen Gntfcheißungsgriinde zu ftellen‘, die ſich hinter der Berhandlung über die Einzelfälle, die ung Beyſchlag bietet, oft doch etwas verbergen. Daß der erfte und dritte Evan» zeliſt zwel Hauptquellen haben, nehmen wir beide an; ebenfo daß es beſonders da Kervortritt, wo dieſelben weſentlich denſelben Aus⸗ pruch einmal im Zuſammenhannge des Markus bringen ud ein⸗ nal in einem anderen Zuſammenhange, der darum mutmaßlich der Zufommenhang der anderen Quellen fein: wird: Ich verſtehe nicht, rum Beyſchlag ſchließlich immer wieder anf diefe Thatſache rumpft, die ja von beiden Seiten anerkannt if. Die Frage: ift ur die, ob die Faffung bei Markus eine originale, in der Über» eferumg felbftändig gebildete oder eine durch bie Faſſung der älteren wielle bedingte, nach ſchriftſtelleriſchen Motiven aus ihr abgewandelte t. Auch hier verſteht ſich von ſelbſt, daß die Evangeliſten auf eſe Frage nicht refleltiert Haben. Bringen fie einen ſolchen Ausſpruch etwas modifizierter Faſſung nach ihrer zweiten Quelle zum zweiten» ale, fo werden fie, vorbehaltlich einzelmer Ausnahmefalle, wo ihnen tganıgen fein. dürfte, daß fie den Spruch bereits gebracht haben, genommen haben, Buß: died ehr anderer Ausſpruch über diefelbe: ache fei. Gelegentlich nimmt Bas ja Behſchlag ſelbft an, und die e Harmoniſtit Hat diefe Annahme bis zur Außerfteh Unnaturlichteir

sgebeutet. NE die igſtoriſche Kritik Tann die abſtrette Mögliche 38°

580 Beiß

keit, dag Jeſus einmal fi in diefer Weife wieberhoft Haben Könnte, nicht in Betracht kommen; mir ift kein Fall bekannt, wo man mit irgendeinem zwingenden Grunde zu folder Annahme genötigt wäre, felbftverftändlich eine Mahnung ausgenommen, wie die Jeſu jo geläufige: „Wer Ohren bat, höre!“ Aber unfere Evangeliften übten folge Kritit nun einmal nicht, und die Frage Beyſchlags, ob es wahrſcheinlich fei, daß Matthäus denfelben Spruch einmal aus den Logia direft und einmal aus dem die Logia verändernden Mar tus entnommen habe (S. 573), ift einfach zu bejahen, weil der Evangeliſt nun einmal in ber veränderten Faſſung einen neuen Spruch ſah.

Gewiß iſt nun jene Hauptfrage fo leicht nicht zu entſcheiden. Aber damit ift doch auch gar wenig gefagt, wenn Beyſchlag fi darauf beruft, daß, wenn zwei Schriftfteller dasſelbe deutſche Sprichwort benutzen, daraus noch feine fchriftftellerifche Abhängigkeit des einen vom anderen folge (vgl. ©. 578). Denn um überall gangbare Sprichwörter Handelt es fi Hier nicht, fondern um geſchichtliche Ausſprüche Jeſu, auch wenn diefelben ſich etwa hier oder da an proverbielle Wendungen anlehnen follten. An fich tft ja gewiß die Möglicgkeit zuzugeben, daß derſelbe Ausſpruch Jeſu auch verſchie⸗ denen Schriftſtellern ſelbſtändig im gleichen Wortlaut zugekommen fein könnte, zumal auch für mic die petriniſche Überlieferung zu⸗ letzt auf denſelben Traditionstypus zurückgeht, der ſich im jeruſa⸗ lemiſchen Apoſtelkreiſe gebildet hatte. Aber mit ſolchen Möglid feiten kann man nur rechnen, wenn anderweitig die Unabhängigfeit jener beiden Schriftfteller über alle Zweifel erhaben if. Das Ge mwöhnliche ift doch gerade, daß die Faſſung bei Markus erhebfih von derjenigen abweicht, welche wir ber anderen Quelle vindizieren müffen, und baß eben darum bie felundären Evangeliften fich ein mal mehr an die eine, das andere Mal mehr an die andere ans ſchließen. Hier pocht nun gerade Beyſchlag auf die Verſchiedenheit der Faſſung für feine Annahme zweier verſchiedener Überlieferungs- quellen und will ſchlechterdings nicht begreifen künnen, wie die der neben ſich findenden Übereinftimmungen auf Titterarifche Bezichun« gen hinweiſen follten, wenn es doch einmal derfelbe Ausſpruch fei, den beide wiedergeben. Gewiß wäre e8 auch jehr verkehrt, aus

Zur Cvangelienfrage. 581

jeder ſolchen Übereinftimmung auf die Abhängigkeit eines Schrifte fteller8 von dem anderen zu fchliegen. Allein wo diefelbe ſich in ſprachlichen Wendungen oder Ausdrücken zeigt, die ohne jede Alte tation des Sinnes von verjchiedenen Perfonen auch verſchieden ger wahlt werden würden, weil ſich verſchiedene gleich leicht darbieten, da wird doch ein zufällige Zufammentreffen ſchon recht unwahr⸗ ſcheinlich. Wenn nun eine diefer Wendungen oder Ausdrüde einem der beiden Schriftfteller befonders geläufig ift, bei dem andern ſich nur vereinzelt in einer ſolchen Parallele findet, da ift doch die An⸗ nahme einer fchriftftellerifchen Beziehung ficher die nächftliegende, und wenn Beyſchlag die Bemerkung, dag das 5 narne Univ ° dv orgavois nur Mark. 11, 25 anffingt, damit entkäften will, daß dem Evangeliften zum Anbringen biefer Wendung faum ander⸗ weitige Gelegenheit gegeben war, obwohl er doch überall Gott fo nennen konnte, fo weiß man faum, ob man diefe Entgegnung (S. 574) ernft nehmen fol. Die legte Entſcheidung aber Tiegt darin, wenn die Abweichungen von der gemeinfamen Grundlage fi bei einem der beiden nicht als zufällige Variationen des Ausdruds nehmen, fondern nur als abfichtsvolle und darum fehriftftellerifche Movdififationen der Faſſung verftehen laſſen. Nach diefen Gefichte- punften Habe ich im einzelnen nachzuweiſen gefucht, daß die Faffuns gen bei Markus nicht als felbftändige Überlieferungsformen, fon« dern als Modifikationen der ihm bekannten Ausfprüche der älteften Quelle zu nehmen find; und da Beyſchlag auf die Details dieſer Nachmweifungen nicht eingegangen ift, fo kann ich auch feine Ablch- nung der von mir angenommenen fitterarifchen Beziehungen nicht gerechtfertigt finden.

Aber es handelt ſich hier gar nicht um vereinzelte Ausſprüche, die Markus aufbehalten hat. Wo Markus felbft erzählt, wo die Ausſpruche Jeſu fih an beftimmte Vorfälle anfnüpfen oder in Gefpräche verflochten find, da ift auch die Faſſung derfelben ori» ginal und die feiner Bearbeiter fo ſichtlich fefundär, dag in ihnen feine ältere Geftalt derfelben gefucht werden Tann. Wo irgend aber die Ausfprüce loſer angeknüpft find, wo fih Sprud an Sprud reiht und Spruchketten oder redeartige Gefüge entftehen, da laſſen fi überall, wenn wir von verſchwindenden Ausnahmen abfehen,

582 Weis

die Materialien entweder in ben enſprechenden voliftäudigeren Reden oder in anderen Zufammenhäugey ber älteſten Quelle nachweiſen. | Daß aber in zwei felbftändigen Überlieferungsfreifen ausſchließlich dasfelbe Material von Ausiprücen und Redefragmenten erhalten fein ſollte, ift doch äußerft unwaheſcheinlich; wir durch die ſchrift⸗ liche Fixierung der ätteften, in dem jerufofemifchen Ereiſe gefam- melten Überlieferung yon Spruchketten und Heben Jeſu it st wedglid) geworden, daß ein fo eng geſchloſſener Kreis ſolcher Lehr⸗ elemente dur unfere Evangelien hindurchgeht. Ich muß darauf zurüdtommen, daß ich mir von müundlicher Überliefernug längerer Soruchletten ader Reden Jeſu Leine DWorftellung macher fan. Dort im Mpoftelreife zu Jeruſalem konnte man verfuchen, uud gemeinſamer Erinnerung zuſammenzuſtellen, was Jeſus über einm beſtinunten Gegenftand ober bei einem bejtimmten Anlaß geingt hatte; dort konnten jene Spruchletten und Meden ſich biden, wie fie in der ülteften Quelle ſchriftlich firiert find; aber daß man irgendwo, daB ſelbſt ein Petrus ſolche Spruchketten und Reben recifierte, vermag ich mir nicht vorzuftellen. Er fonnte, auch mo ihm nicht der fpezielle Anlaß eines Ausſpruches Jeſu gegemahrig war, denfelben in feiner Verkündigung gelegentlich anführen, and mit anderen ähnlichen frei verknüpfen, weil er moös Tas zosias moito zug dıdaozahlas, AAA” aux wong ovrrafv Tüv zugu- wir mowüpevog Adyav, wie Papias mit offenbarer Beziehung auf bie von Matthäus verſuchte ovyrafıg jagt, Aber daraus entftand then Teine konſtante Überlieferung von Spruchketten und Heben. Gerade weil Markus ans dem Vorgange des Petrus an jolche Verwendung und Verknüpfung der Herrenfpräce gewöhnt war, hat er kein Bedenken getragen, gelegentluh ein gleiches zu thun. Liegt denn wixklich bie mindeſte Wahrfeheinfichfeit vor, daß eim Spfruqhtetie, mie Mork. 4, 21-25 oder 11, 23—26 von Peru Yprgetragen oder nicht vielmehr won dem Evangeliſten felbft gebildet fein foßfte?

Gewiß ift es an fih möglich, daß and dis Verbindung zweier Ausſpruche duch Jeſum ſelbſt fih der Erinnerung einprigen konnte (S. 575) und fo in zwei fsfbftändigen Überlieferungstreiite auftauchen kann; aber wenn nun neben einer ſolchen Kombination,

Zur Evangelienfrage. 588

wie Mark. 8,34 f. (ogl. Matth. 10, 38f.), eine Verbindung völlig heterogener Ausſpruche, wie einer fachlichen Reminifoenz an Matth. 10, 33 und 25, 31 auftritt (Mark. 8, 38), oder werm mit Mark. 9,42. 43 ff., welche ſchon in der älteften Quelle fo verbunden geweſen fein mößfen (wie ber ganz fonforme Ausdruck Matth. 18, 6; 5,29f. zeigt), Ansfprüche, wie Mark. 9, 41. 50, beren völlig anderer Zufammengang durch Matt. 10, 42. Quf. 14, 34 ausreichend Tonftatiert ift, verbunden werden, fo fpricht doch alle Wahtſcheinlichleit dafite, daß jene wie diefe nur durch fihriftftellerifche Reminiſcenz an bes ſtimmte NMedeftüce der älteften Quelle und nicht durch felbftänbige Erinnerung an Ausfprühe Jeſu, wie fie Petrus mitteilte, dort ihre Stelle gefunden haben. Unfer verehrter Gegner möchte das freilich gern abwehren und Marl. 9, 41 als einen von Matth. 10, 42 ganz verſchiedenen Spruch nehmen; allein da bicht davor Dart. 9, 37 eine Reminiſcenz an Matth. 10, 40 ſich findet, aus einem geſchloſſenen Zufammenhange der Alteften Quelle ent aommen und in- ganz felundärer Weiſe verwandt, die mit Marl, 9, 41 nur einen fchriftftellerifchen Zuſammenhaug hat, jo it augenfällig Eonftatiert, daß hier dem Gvangeliften der Zufammens Bang der Ausfendungsrebe vorſchwebt. Und wenn Beyſchlag fragt, wer denn dafür bürgt, daß Luk. 14, 34 der urjprüngliche Text ber Logia vorliege (S. 573), fo habe ich eben nachzuweiſen ver- ſucht, dag dort die wefentlih urfprüngliche Form und der einzig wahrſcheinliche Ort des Spruches vom Salz erhalten fei. Einen Schritt weiter fehen wir Markus gehen, wenn er von der Ber» teibigungörede gegen die MBerlzebubverleumdung (8, 23—30) und von der Ausſendungsrede (6, S—11) erhebliche Bragmente auf behalten hat. Behyſchlag findet hier eine felbftändige Überlieferung diefer Reden; aber es ift mir in der That nicht Mar gemorden, wie er fich die Verteidigungsrede der Logia denkt, wenn Matth. 12, 25f. 29. 31 aus dem Urebangelium herrügren fol. Nur durch ein willkürliches Zerreigen des Zufammengehörigen fann man body) Matth. 12, 27f. 30 aus feinem Zufammenhange heraus- fen und barin eine felbftändige Verfion jener Rede finden. Daß Matth. 12, B1f. bie Faſſung des Spruches von der Geiftes⸗ äfterung in den Logia (But. 12, 10) mit ihrer Erweiterung durch

584 Weiß

Markus verſchmolzen iſt, meine ich ja auch; aber woher entrüftet Bh denn Beyſchlag in anderen Fällen darüber, daß ich derartige Kombinationen im erften Evangelium annehme und redet ſpöttiſch von einem „Zufammenfiltrieren“ ber Logia mit ihrer angeblichen Bearbeitung im Markus? Denn dag die Mark. 3, 28f. vor liegende Erweiterung und Verallgemeinerung des Spruches Lul. 12, 10 ganz eine der fohriftftellerifchen Weife des Markus ent ſprechende Umbildung und nicht eine Variante der Überlieferung ift, liegt Hier doch auf der Hand. Bon der Ausfendungsree tönnte man es ja an fi glaublic finden, daß in der petriniſchen Überlieferung nur die Hauptanweifungen an die Jünger trabiert wurden; aber aud Hier gerade Habe ich zu zeigen verfucht, wie immer noch zu viel Übereinftimmung in der fhriftftellerifchen For⸗ mung biefer Anweifungen vorliegt, um an eine jelbjtändige Über lieferung derfelben zu glauben.

Die letzte Entfheidung liegt natürlich in der Parufierede. Diefe Rede kann nur entweder ganz freie fchriftftellerifche Bildung fein, wofür in ben Evangelien feine Analogie vorliegt, oder fie muß einer fchriftlichen Quelle entnommen fein, da eine mündliche Überlieferung folder Reden undenkbar ift. Der Beweis dafür Tiegt aber noch Mar vor in den Einfcaltungen, die Markus in ihr gemacht hat und die fi) noch aufs deutlichfte vom der gegebenen Grundlage loslöfen, vor allem, von kleineren Erweiterungen abge fehen, in Mark. 13, 9—13; 13, 21—23 und der Schlußparänrie 13, 33—37. Beyſchlag will freilich nicht zugeben, daß wir in | dem erften Stüd eine freie Wiedergabe von Matth. 10, 17—22 haben; aber Hier ift die Urſprünglichteit diefer Spruchreihe dur | alle kritiſchen Indicien und ihre Zugehörigkeit zu einem felf- | ftändigen Redeſtuck der Logia durch den Zufammenhang von Luk. 12, 11f. jo gefichert, daß e8 nur eine fümmerliche Ausflucht ge nannt werden kann, wenn Beyſchlag den erften Evangeliften in | Matth. 10 ein Stüd der urevangeliftifchen Parufierede anticipieren und bann diefelde Stelle in feiner Parufierede deſto fürzer und freier geftalten Täßt. Mark. 13, 21 ſcheint ihm von Luk. 17,23 fo verfchieben, wie es bei der Wiedergabe desfelben Wortes in zwei Quellen erwartet werden Tann, was ich allerdings nicht zugeben

Zur Evangelienfrage. 585

fan; aber der Zufammenhang von Luk. 17 zeigt uns eben, daß dies Fein vereinzelt umlaufendes Wort Jeſu war, fondern in einen ganz beftimmten Zufammenhang gehörte, der ihm übrigens ur» fprünglich doch eine andere Bedeutung gab, als es durch feine Anwendung bei Markus erhält. In Mark. 13, 34 aber Liegt die ſchriftſtelleriſche Reminiscenz an den Eingang des Gfeichniffes von den Talenten in feiner ſprachlichen Faffung fo ar zutage, daß hier an eine Variante der Überlieferung nicht gedacht werden kann, Gar nicht berührt Habe ich bisher die Markusparabeln. Daß die Weinbergsparabel aus der älteften Duelle herftammt, habe ich, abgejehen von der zweifello® urfprünglicheren Faſſung der erften Hälfte beim erften Evangeliften, worüber ſich Beyichlag gar nicht ausläßt, daraus erwieſen, daß derſelbe 21, 43 noch die urfprüng« Üihe Deutung derjelben aufbewahrt hat, während er fie in feinem Kontezt mit Markus auf die Hierarchen bezieht, weil er aus diefem den alfegorifierenden, fichtlich auf diefe gemünzten Schluß derfelben acceptiert Hat. Woher weiß denn Behfchlag, daß, wenn meine Vermutung über den Sachverhalt richtig, der Evangelift die Dar⸗ ftellung des Markus für eine Umdeutung des Älteren Berichts und nit vielmehr filr eine Berichtigung und Vervollſtändigung des⸗ felben gehalten hat (S. 584)? Daß er fich, etwa wie Beyſchlag, den Spruch 21, 43 im Zufammenhange mit dieſer Darftellung des Markus zurechtgelegt Hat, will ich gar nicht leugnen; aber dies ift nun einmal der Sinn des Spruches offenbar nicht. Daß da8 Gleichnis vom Senfforn nit von Markus Toncipiert iſt, fondern aus den Logia ſtammt, beweift Luk. 13, 18f. unwider⸗ leglich. Ich brauche mich nicht darauf zu berufen, daß die Ber mutung Beyſchlags, Lukas habe mit dem Gleichnis der Logia 13, 20f. in einem Zufammenhange, wo er fonft ganz diefen folgt, 78 Senflorngleichnis des Urevangeliums verbunden, bei der kon⸗ 'ormen Geftaltung beider und angefichts der Thatſache, daß der⸗ leihen Gleichnispaare vielfältig in unferer Überlieferung gegeben ind, das Allerunwahrſcheinlichſte if. Daß Luk. 18, 18f. die infachere Grundform von Mark. 4, 30-32 ift, erhellt aus der Irt, wie Matth. 18, 31f. beide zu fombinteren verfucht, augenfällig. Im fo flegesgeiiffer meint Beyſchlag in dem Gleichnis vom

386 Weiß

wachſenden Samen (4, 26—29) eine originale Überlieferung de Mertus nachweiſen zu können, während id) diefeibe für eine Um— geitaltung der Unfrautsparabef Halte. Seine Erklärung des Gleich⸗ niffes beweift nur, was ic) brhauptet habe, daß das Gleichnis, wie es vorliegt, feine einheitliche Pointe bat; und meinem Haupt⸗ grunde, den id dafür anfhre, entzieht Benfchlag fich nur, indem er anf die Möglichkeit hinweiſt, dag Jeſus ſelbſt Parabelmotix variiert habe, die ich wieder in abstracto nicht leugnen will, für deren Annahme ich aber in nuferer Überlieferung Seinerlei zwingen den Anlaß finde. Dann aber weicht feine fanft fo gehalten Polemik plöglih einer mir völlig unverftändlichen Leibenfchaftlig feit, indem er mich al8 einen halben Nachfolger von Strauß und den Evangeliften, wie ic) ihn mir denke, als einen freden Moder nifierer darſtellt (S. 579f.). Und warum? Weil id aunchme,

daß der zweite Evaugelift aus dem ihm aus der Duelle befannten | Untrautgleihnis den Zug vom Unkraut entfernt Habe, um, dem Ichrhaften Gefichtspunft feiner Gleichnistrilogie entjprechend, den Gedanken von ber Allmählichkeit des Wachstums des Gottesreiches, ber ja ohne Zweifel auch im Unkrantgleichnis liegt, ausjhleiih auszuführen, und daß der erfte den das ganze Weſen der Parabel

aufpebeuden allegorifierenden Zug vom Feinde eingefügt bat, um den ebenfo wahren als erbaulicyen, aber freilich in das Gleichnis nicht gehörigen Gedanken einzuflechten, daß das Böfe, das fich ins Gottesreich einfchleicht, eine Wirkung bes Teufels ſei. Beyichleg nennt das ein Umfpringen mit den in der apoftolifchen Quelle beurfundet vorliegenden Heilandsworten, wie er es feinem ein fältigen, treuen Ghriften zutraut; ich fehe darin nur einen Beweis von dem, was id oben fagte, daß bie Evangeliften nicht den Maßſtab Hiftorifcher Kritit an ihre Quellen legten und ikberhanpt nicht die Abficht Hatten, die Worte Jefu, am wenigften feine Bilder reden, urkundlich zu reproduzieren, fonbern fie jo rei, fo er baulich wie möglich wiederzugeben. Aber wie kommt mein verehrier Gegner überhaupt zu diefer Expektoration, die doch nur auf dem Standpunkt ber ftrifteften Inſpirationslehre einen Sinn hat, wenn doch er jelbft nad ©. 620 Anm. in dem Gleihnis vom koniglichet Hoch zeitsmahle Matth. 22 „eine der fortgefchrittenen Situation

Zur Evangelienfcage. 587

entſprechende, fteigernde und erweiternde Umbilbung ber Lukas⸗ pargbel“ fit. Hat dann Hier nicht der Evangelift noch ungleich mehr Hinzugefügt und modifiziert, als Matth. 137 Wo ich aber den ſicher ganz verfeßlten Gebanfen ausgeſprochen haben foll, daß das Gleichnis vom verlorenen Gohne eine traditionelle Fortbildung don Matth. 21, 28—31 fei (S. 620), erinnere ich mich ſchlechter⸗ dinge nicht.

Gerade weil Beyſchlag durch ſolche Äußerungen landläufige Einreden einer ihm völlig heterogenen Nichtung ermatigt, die aller Epangelienkritit den Lebensnerv abſchneiden, muß id auf diefen Punkt noch etwas näher eingehen. Weil ich annchme, daß ber erſte Evangeliſt einen Ausſpruch feiner Quelle (18, 18) in modi⸗ füiester Deutung auf die dem Petrus von Chrifto verliehene Primatsftellung angewandt (16, 19), redet er von anticipierender Erfindung des Evangeliften, von einem leichtfertigen Umfpringen mit Worten Jeſu, bei dem nichts mehr feftitände (S. 580f. Anm.). Aber auch nach ihm iſt doch Matth. 6, 5 eine folge „anticipierende Erfindung“ im Verhöftnis zu Matth. 18, 36 (S. 613 Anm.); und wenu der erfte Evangelift das Gleichnis vom verlorenen Schaf 18, 12—14 „iur Motivierung des Wertes, den auch des Ge— tingften Seele vor Gott habe, in einer feiner Redekowpoſitlonen verwendet hat" (S. 621), fo hat Beyſchlag doch auch ſelbſt ihm zugetraut, daß er ein Bildwoxt Jeſu in anderem Ginne verwendet, als diefer es nad) feiner apoſtoliſchen Duelle geipraden. Ebenſo entruſtet ſich Beyſchlag ©. 592f. aufs Heftigfte über die Ber- mutung, daß Rufas in 14, 2f. dem Handlahmen einen Waſſer⸗ fügtigen fubftitwiert habe (die ich übrigens, wie Beyſchlag aus neinem Metthäusfommentar wiſſen konnte, felbft Tängft aufgegeben jabe), obwohl bier unter allen Umftänden trog der Beurkundung iner Geſchichte in der dem erften Evangeliſten befanntes apofto- ühen Dpelle eine Vermiſchung diefer Geſchichte mit der des daudlahmen vorliegt. Dagegen erkennt er felbft S. 612f. ganz ınbefangen an, daß der Epangelift die Dümonenaustreibung, welche n den Zogin die Verteidigungsrede einleitete, zweimal gebracht hat: Natth. 9 ud Matth. 12. Er fogt freilich nicht, daß er den Jämonifchen, der in der Quelle nur ftanım mar, zu einem bfinden

588 Weiß

und ſtummen macht, alſo ſich feine Blindheit genau fo „aus den Fingern gefogen hat“, wie ich dergleichen nad) S. 593 dem Lulas zutrauen fol. Gewiß fann man darüber ftreiten, ob die dm Seligpreifungen parallelen Weherufe bei Lukas von dem eriten Evangeliften ausgelaffen oder von dem dritten Hinzugefügt find. Aber wenn Beyſchlag S. 608 Anm. pathetifch erflärt, er glaube an letzteres nicht, weil er überhaupt nicht an eine Erdichtung von Zefusworten durch Lukas glaube, oder ſich darüber ereifert, daß ih Matth. 18, 4 durch den Evangeliften „entftanden, d. h. erfunden! fein laſſe, was foll aus unferer Evangelienkritit werden, wen man mit dieſem Grundfag Ernjt mat? Wenn in der Geſchichte des biutflüffigen Weibes Lukas Jeſu die Reflexion des Markus (5, 30) wirklich in den Mund Iegt (8, 46), wenn der erfte Evan gelift beim Beginn der Leidensgeſchichte Jeſum das Bevorftehen feines Todes am Paſſafeſt meisfagen läßt, ohne daß eine Quelle denkbar wäre, aus der er dies Jeſuswort gefhöpft haben Tönnte (26, 2), wenn beide Jeſum mit ganz verſchiedenen Worten den Schwertſtreich des Petrus zurücdweifen laſſen (Matt. 26, 52-54. Luf. 22, 51), wenn Markus das Wort von der Wiederverheiratung auf die römischen Verhältniffe anwendet (Mark. 12), find dies und taufend AÄhnliches, vor allem unzählige Erweiterungen der urfprüng: lichen Ausfprüde Jeſu, nicht lauter „Erdictungen von Jeſus⸗ worten“ nad diefem Kanon? Und was foll aus den Epriftusreden bei Johannes werden, wenn man biefen Kanon konſequent hand | Habt? Ohne die Annahme, daß unjere Evangeliften fein Arg darin gefehen haben, die überlieferten Jeſusworte ihrem Sinn md nicht ihrem Wortlaut nach mitzuteilen und daher zu modifizieren und zu amplifizieren man denfe an die Eintragung fpezieller Prädiktionen, die doch Beyſchlag unmöglich wird beftreiten wollen —, | bleibt uns eben nichts übrig, als zu allen Thorheiten der altm | Harmoniftit zurückzulehren und jeden Verſuch zur Loſung der | fogenannten Evangelienfrage oder gar zur Darftellung eines Lebens Jeſu einfach aufzugeben. Doc ich Habe mich über diefe Dinge fo eingehend und prinzipiell in meinem Leben Jeſu ausgefprocen, daß es mir nur darauf anfam, zu zeigen, wie felbft ein Mit forfcher wie Beyfhlag im Eifer der Polemik in Behauptungen

Zur Evangelienfrage. 589

verfallen fann, die man nur von fehr anderer Seite zu hören ges wohnt ift. J

Was nun die Erzählungsftüde des Markus anlangte, die ich meinte der älteſten Quelle vindizieren zu müfjen, fo fann man ja über manches ftreiten. Charakteriftifch ift, daß Beyſchlag feine Einzefpolemit mit der Gefchichte des reichen Jünglings beginnt, die ih, wie er wieder aus meinem Matthäusfommentar willen Tonnte, jegt dem Markus zuſpreche. Wenn er aber gegen bie dolgerung, die ich aus dem Stilharakter diefer Stucke gegen ihre Auffaffung als Verkürzung der Markusdarftellung ziehe, die zweifellofe Verkürzung der Erzählung vom Tode des Täufers an« führt, fo Hätte er wohl feinen Leſern fagen können, daß ich gerade aus der durchgängigen Verſchiedenartigkeit diefes Falles von den anderen von Anfang an einen Beweis für meine Annahme in betreff der anderen abgeleitet habe. Er konnte diejen Beweis zu wider legen verfuchen; aber er durfte nicht glauben machen, als ob ih diefe angebliche Gegeninftanz Üüberfehen Habe. Doc, ftatt hier auf einen Bunft näher einzugehen, den ich in meiner Kontroverfe mit Holg« mann an einem der wichtigften Bälle, der Yairusperifope, bis in alle Details erörtert Habe, fei es mir erlaubt, noch ein Beiſpiel ju erwähnen, an dem fich unfere prinzipielle Verſchiedenheit in ber Auffafjung des Verfahrens der Evangeliften auch bei erzählendem Momente recht deutlich zeigt. Mark. 8, 1f. ift zweifellos eine Sarhparaliele zu Matth. 12, 38. Ob Markus von dem Streit iber die Zeichenforderung aus den Mitteilungen des Petrus ges oußt oder aus der apoftolifchen Quelfe, ift in der Sache natürlich chr gleichgültig; mir fcheint beides zugleich angenommen werden u können, ja zu müſſen. Nur läßt ſich letzteres nicht mit ber zrage beftreiten, worum Markus einen Beftandteil der Duelle hne erkennbaren Grund in einen völlig anderen Zeitpunkt ver» iefen Habe (5. 576). Diefe Quelle hatte ja aud nad) Bey- hlag keinerlei feftes chronologiſches Gerüfte; von einer Differeuz es Zeitpunftes fann alfo hier gar nicht die Rede fein. Wenn ber der erfte Evangelift, der Matth. 12, 38 die Zeichenforderung ach der apoftolifcden Quelle erzählt Hatte, bei Mark. 8, 1 auf eine af, die nicht mit einer längeren Rebe, fondern mit einer kurzen

590 Beiß

Abweifung begleitet war, fo hat er diefelbe eben fiir eine zmeite gehalten und ift keinesfalls „gedantenlos“ verfahren. Denn wenn wir Grund haben anzunehmen, daß Markus die Zeichenforderung aus Matth. 12, 88 entnommen hatte, fo felgt darans natürlid nicht, daß der erfte Evangeliſt dieje Reflexion anfteffte. Und do kommt Beyſchlag, der gar keinen Anſtoß daran nimmt, daß ber Evangeliſt diefelben Sprüche aus den Logia und bem Uredangelium

zweimal aufgenommen bat, immer wieber darauf zurlick, mie un denkbar es fei, ihm einmal die Logia und einmal den dieſelben der⸗ ändernden Markus benuhen zu laſſen. Als ob derfelbe, mie wir, die ihm vorliegenden Evangelienterte kritiſch analyfiert Hat!

Mit den Gegengründen, welche ich gegen bie Urmarfashupe thefe geltend gemacht ımd melde er felbft ©. 596 zufammenge faßt, hat es mein verehrter Gegner doch etwas zu Leicht genommen. Diefelden find. mir aber um fo bedeutfamer, als ich ftets von vornherein zugegeben Habe, daß jene Hypotheſe in mander Be ziehung etwas DVerlodendes hat, ja daß fie manche Erſcheinungen leichter zu erflären fcheint, 3. B. die durch Markus wicht ver mittelten Berührungen zwifchen dem erften umb beiten Evangelium in der Leidensgefchichte. Es ift merkwürdig, daß diefe Erſchei⸗ nungen von Beyichlag nur flüchtig erwähnt (S. 590), vom Holt mann jet fogar ganz anders erflärt werben. Ich würde fie neh heute am liebften aus einer Bearbeitung der erzählenden Grund ſchrift in unferem zweiten Evangelium erflären, wenn fich eine ſolche wahrſcheinlich, ja denkbar machen ließe. Aber die ver | ſchiedenen Formen, in welchen dieſelbe bei Holtzmann, bet Weiz | ſäcker und num bei Beyſchlag zu konſtruieren verſucht ift, Haben | mich nur immer aufs neue überzeugt, daß diefer Urmarkus en unfaßbares, geftaltlofes Ding ift. Bei der Würdigung der in | meinem Markusevangelium aufgezäßften und von Behyſchlag repro- duzierten Gegengründe ift freifich nicht zu vergeffen, daß dabei die | Hanptdifferenz zwiſchen mir und den Vertretern jener Hypotheſe noch unberührt bfeibt. Cinig find wir je: darin, daß in unſeren erften Evangelium neben den Partien, wo es durchaus ven Markus abhängig ift, auch ſolche vorfommen, in denen es ihm gegeriber original erſcheint. Diefe Erfcheinung erffäre ich daraus,

Zur Evangelienfrage. 591

daß es in ihnen den Text der älteften Quelle treuer reproduziert hat, als die freie Bearbeitung berfefben bei Markus, während die Ber- treter ber Urmarkushpotheſe Hier nur den Terxt der erzählenden Grundſchrift treuer erhalten finden. Daraus folgt dann von felbft, daß ich birfe Stücke der apoftofifchen Quelle zuteile, fie ihr abfprehen und fo Umfang und Charakter der leßteren ein fehr verichiebemer wird. Allerdings ftümmen. nun jene drei Vertreter der Urmarkushypotheſe keineswegs darin überein, in welchen Pate tern das erfte Evangelium dem Markns gegemüber original ift, und darum auch weder in ihrer Vorſtellung von Umfang und Charakter der fogen. Spruchſammlung nod von dem Verhältnis der fgmoptifchen Grundſchrift zu ihrer Bearbeitung im zweiten Evangelium. Trotzdem bleibt bei allen noch eine Reihe von Er⸗ hlungen übrig, in denen fle die Darftellung des erften Evan- geliums für eine Verkürzung der Markusbarftellung haften, während ch fie für die relativ unfprüngliche anfehe, und auch eine Reihe von Ausfprücen, Redeſtlicken, beſonders Parabeln, wo id den Text des erften Evangeliums für urfprüngliher Halte. Diefe Differenz muß zuerſt ausgeglichen. werden, und ich hoffe, daß die darlegungen in meinem „Leben Jeſu“, die nicht vom litterariſch⸗ ‚tischen Gefichtspuntt, ſondern vom geſchichtlichen aus biefelbe an« fen, zu ihrer Loſung etwas beitragen werden, Aber die Möge chteit, das fynoptifche Problem. wefentlih auf dem: Wege der rmarfushypothefe zu Löfen, bleibt an ſich aud dann noch übrig, enn fi Hier die Entſcheidung in erhöhten Maße auf meine ieite neigt.

An Teichteften meint mein verehrter Gegner damit fertig werden. können, daß dieſe Hypotheſe von vielen Redeſtücken eine ſelb⸗ indige Aufzeichnung in der Grundſchrift und in ber Spruch⸗ mmfung voraueſetzt, die mir viel zu viel ſchriftſtelleriſche Über- iſtimmung · zeigen, um unabhängig von. einander entftanden zu n. Daß id aber Hier nicht eine fachliche Apnlichkeit, die fich 8 der. Hiftorifcgen Treue mündlicher Übenfieferung volfauf erflärt, reilig zu litteraviſcher Verwandtſchaft zu ſtempeln mar allzu. ger ge bin (S. 597), Haben meine obigen Auseinanderfegungen HU gezeigt. Hier muß ich nur noch daran erinnern, daß die

592 Weiß

ältefte mündliche Überlieferung der aramäifchen Worte Jeſu oh unzweifelhaft eine aramäifche geweſen ift, daß ihre ältefte Auf⸗ zeichnung nach ficherer Kunde eine aramäifche war, daß aber die Petrusüberlieferungen, auf welche das zweite Evangelium dad irgendwie jedenfall® zurüdgeht, wahrſcheinlicherweiſe urfprünglid in griehifche Sprache gefaßt waren. Dana wird dann zu bee urteilen fein, ob meine „kritiſche Verirrung“ Hier wirklich cin „fo auffallende* genannt werben fann. Mit der Annahme jmer felbftändigen Aufzeichnungen ber Nedeftüce in der Spruchjammiug und im Urevangelium hängt dann aber vielfach das dadurch not wendig werdende Hin» und Herſchwanken des erften umd brittm Evangeliften in der Benugung diefer beiden Schriften zufammen. Beyſchlag verfichert zwar, daß er bei zehnfältiger Durcherklärung der ſynoptiſchen Evangelien feine Stelle gefunden habe, wo fih das kombinierende Verfahren der Evangeliften nicht ausreichend Hätte motivieren laſſen (S. 597f.). Ich geftehe aber, daß mir feine Ausführungen nur die ganze Größe diefes Bedenkens noch Harer vor Augen geführt haben.

Dies ift ſchon beim erften Evangeliften der Fall, der imm- hin bei feiner Neigung zu größeren Nebefompofitionen nod am eheften auf foldem Kombinieren betroffen werden könnte. Man fehe, wie derjelbe Kap. 10 die Ausfendungsrede der Grundicrift nicht nur aus ber gleichen Rede der Spruchſammlung, fondert noch durch lauter andere Materialien derfelben erweitert und nun auf einmal 10, 17—22 ein Stüd aus der urevangeliftifchen Ba rufierede anticipiert ( S. 586). Man Iefe feine Verteidigungsrek Jeſu Kap. 12, wo er V. 25f. aus der urevangeliftifchen Rejen⸗ fion entnimmt, V. 27f. aus der Spruchſammlung, V. 29 amt jener, ®. 30 aus bdiefer, V. 31 wieder aus jener, V. 32 wieder aus biefer, obwohl letzterer dort nicht einmal im formellen Zur fammenhange mit der Berteidigungsrede ftand (S. 577. 613). Kann man fi von folder Schriftftellerei wirklich eine Vorftellung machen? Ebenſo beginnt er Kap. 18, 3f. mit der Sprucjame Lang, geht B. 5f. zum Urevangelium über, um dann mit dm Spruch aus den Logia (B. 7) einen Übergang zu den weiten | Sprüden des Urevangeliums (B. 8f.) zu bilden, die fi doh

Zur Evangelienfrage. 593

formell und materiell viel enger ohne ihn an V. 6 anſchließen. Biel fhlimmer aber wird die Sache bei Lukas, der doch fo fanber feine Einfhaltungen aus der apoſtoliſchen Quelle zwifchen die aus dem Urevangelium entlehnten Abfchnitte eingeſchoben hat, insbe⸗ fondere, wie auch Beyſchlag erkennt, in dem fogen. Reifebericht im großen und ganzen der Spruhfammlung folgt. Dennoch vers arbeitet er fon den Eingang der Perikope vom größten Gebot 10, 25—28 mit der urevangeliftifchen Erzählung des Markus 12, 285. (S. 162) und folgt Rap. 11 zunächſt dem kürzeren, urevangeliftifchen Bericht von der Verteidigungsrede, um dann erft zu den Logia überzugehen, obwohl er die Einleitung bereits aus ihnen entlehnt hat (S. 577). Im Kap. 13 Tombiniert er das Senflorngleihnis des Markus mit dem Sauerteigsgleihnis der Logia und zwar merkwurdigerweiſe ganz wie der erfte Evangelift es felbftändig auch gethan. Daß Luk. 17, 1f. ein Sprud der Logia mit einem urevangeliftifchen verknüpft wird, fagt uns Beyſchlag zwar nicht, es folgt aber notwendig aus feiner Angabe auf S. 582, und zwar Handelt Lukas hier wieder ganz in Über« einftimmung mit dem felbftändig fehreibenden erſten Evangeliften. Daß Luk. 17, 31 mitten in einer Rede der apoftolifchen Quelle aus feinem Urevangelium (Mark. 13, 15f.) entlehnt ift, möchte Beyſchlag (S. 587) zwar gern abwehren, aber der Mare Augen- fein ſpricht dagegen.

Gern geftehe ich, daß Beyſchlag nad dem Vorgange Weiz« ſackers die Urmarkushhpothefe einer großen Schwierigkeit entlaftet bat, indem er die angeblichen Auslafjungen des zweiten Evan- geliften, die Holgmann annahm, aufgegeben Hat, und num nicht mehr eine Reihe von Stüden in der ſynoptiſchen Grundſchrift ger ftanden Haben follen, die do von ihrem fo ausgeprägten Sprach- charakter nichts zeigen. Auch verändert fi bei ihm in dem Maße, In welchem das zweite Evangelium der Grundfchrift ähnlicher wird, vie bei Weizfäder noch gefteigerte Schwierigkeit, die Zufäge des Evangeliften in ihrer ſprachlichen Cigentümfidteit von ber ber Brundſchrift zu unterfcheiden. Uber er überfieht, daß in demfelben Maße fich die Schwierigkeit vergrößert, den möglichen Zwed einer olchen durchaus unerheblichen Bearbeitung nahgumeien, von ber

Zpeol. Gtab. Yang. 1888.

594 Beyihlag

doch zuletzt die Wahrfcheinlichkeit der ganzen Hypotheſe abhängt. Beyſchlag Hat ja num freilich verfudt, unter Abmweifung der gan ungenügenden und unwahrſcheinlichen Motivierung einer folhen, die Holgmann einft gegeben hatte, eine newe aufzuftellen. Inden er jene Grundfchrift für eine paläftinenfifche Bearbeitung der ur fprünglien Martusaufzeihnungen erflärt, läßt er die neue Br arbeitung derfelben nad der Zerftörung Jeruſalems für bie Be dürfniffe römifcher Leſer gemacht fein. Das Hört fich ja an fih ganz glaublih an; aber Beyſchlag Hat nicht nachgewiefen, dag dir tritiſch nachweisbaren Modififationen der Grundfchrift durd den Evangeliften in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl mit dieiem Zwede zufammenhängen, und davon hüngt doch die ganze Evidenz, einer ſolchen Hypotheſe ab. So lange nicht eine im weſentlichen fefte Vorftellung von der Art der Bearbeitung der Grundſchrift im zweiten Evangelium, welde ſich mit zwingender Notwendigkeit aus den Verwandtſchaftsverhältniſſen unferer fynoptifchen Evan. gelien ergiebt, erreicht und diefe Art aus dem Zwecke derjelben begründet ift, muß ich dabei bfeiben, daß die ganze Urmarkushypo thefe in der Luft ſchwebt und deffen entbehrt, was einer Hypotheſe erft wiſſenſchaftlichen Wert giebt.

Zu dem vorftchenden Aufſatz von D. B. Weiß: „Zur Evangelienfrage“.

Bon

D. W. Benfhlag.

Die Redaktion der „Studien und Kritifen“ hat die Güte ger Habt, mir den gegen meine Abhandlung im Jahrgang 1881, Heit 4, gerichteten Auffog von D. Weiß vor defjen Abdrud zur Einfiht mitzuteilen, allerdings nicht in der Meinung, damit eine Duplil

Zu dem vorftehenden Auffag von D. 8. Weiß ıc. 58

von meiner Seite zu veranlaſſen. Wohin follte es auch führen, wenn jede Beſtreitung vorgetragener Unfichten wieder eine Beſtrei⸗ tung diefer Beftreitung nach fich ziehen follte? Nachdem mein Verfuh, in der ſynoptiſchen Frage zwiſchen Holgmann und Weiß zu ſchlichten, von erfterem in dem Punjerſchen Theologijchen Jahresbericht eine fo auszeichnende und weithin zuftimmende Bes urteilung gefunden hat, fann id) ihn famt den vorftehenden ges wiß ſehr beachtenswerten Gegenbemerkungen von D. Weiß ruhig den Alten einer Unterfuhung einreihen Laffen, die nicht von geftern Ger ift und auch mit diefem Pro und Contra nicht gefchloffen fein wird. Nur weil einige Ausführungen ber vorſtehenden Replik auf die Ruhe und Überlegung, mit benen ich jenen nicht gerade aufs regenden Gegenftand behandelt habe, einen falſchen Schein werfen fönnten, bitte ih um Raum für wenige Gegenbemerfungen. Zunächft beſchwert ſich mein verehrter Gegner darüber, daß ich einige fpätere Modifilationen feiner Anficht und feine exceptionelfe Behandlung der Parallele von Markus und Matthäus über den Tod des Zäufers unerwähnt gelaffen. Ich muß bekennen, dag mir diefe Einzelheiten, fei es beim Gxcerpieren oder beim Aus⸗ ırbeiten, entgangen find. Wer den Umfang der Verhandlungen wiſchen Holgmann und Weiß inkl. der Monographie des erfteren md des Markus- und Matthäusfommentars des letzteren kennt nd die taufend Einzelheiten, melde hierbei zur Sprache kommen, berfchlägt, wird das verzeihlih finden. Cin andermal meint . Weiß, daß man meine Entgegnung gegen ihn faum ernft nehmen inne. Ich habe feiner kritiſchen Wertlegung auf die Thatſache, bei Markus die Wendung „euer Vater im Himmel“ nur 11, 25 rlommt, entgegnet, Markus habe zum Anbringen berfelben auch um anderweitige Gelegenheit gehabt, und er repliziert, Martus be ja überall wo „Gott“ vorfomme, fo fehreiben Können. Kann m diefen Ausſpruch ernfthaft nehmen? Man verfuche einmal, Markusevangelium überall wo „Gott“ fteht, „euer Vater im mmel“ zu fegen, alſo fogleih 1, 11 Nur auf die Ausdrucks⸗ fe in den Jeſusworten fann es antommen. Nun aber findet von allen Jeſusworten bei Matthäus, in denen „euer Vater

Himmel“ vortommt, außer Matth. 6, 14 Mark. 11, 25 39*

596 Beyſchlag

kein einziges bei Markus wieder, und fo weit ich ſehe, auch font kein Jeſuswort, wo jener Ausdrud ftatt des einfachen „Gott“ oder „der Vater“ natürlich erſchiene.

Doc das find Kleinigkeiten. Ernſter ift mir, dag D. Wii mir in einigen Fällen eine Polemik von ganz unverftändficher Leiden ſchaftlichteit vorwirft, eine Polemik, die nur vom Standpunkt ber ftrif: teften Juſpirationslehre einen Sinn habe und aller Evangelienfritit den Nerv abſchueide. Die Fälle find diefe: nah D. Weiß fl Markus aus einer Unkrautsparabel Jeſu das Unkraut Heraus gethan und fo die Parabel von der Wachstümlichkeit des Reicht Gottes, Mark. 4, 26f., gefhaffen, Matthäus dagegen zu dem Un kraut auch noch ben dasfelbe ſäenden Feind erdichtet haben; ebenſt fol Lukas die den Seligpreifungen feiner Bergpredigt entſprechenden Weherufe erfunden, auch (mas Weiß jet indes aufgegeben hat) 14, 2 den von der Quelle dargebotenen Handlahmen in einen von Jeſu zu Heilenden Wafferfüchtigen verwandelt Haben; endlich meint Weiß noch heute, das „Binden und Loſen“, Matth. 16, 19, dem Petrus von Jeſu nicht wirklich zugeſprochen, fondern mur vom Evangeliften auf Grund von Matth. 18, 18, wo es der gangu Züngergemeinde zuerfannt wird, hierher Lonjekturiert worden. Dieje

Hppothefen habe ich gemißbilligt als Annahmen, die ich mit in | Gewifjenhaftigkeit der Evangeliften nicht zu vereinigen wiſſe, und |

muß aud dabei bleiben. Ich ftehe damit nichts weniger ld

auf dem Boden der alten Inſpirationslehre, ſchneide auch, wie |

mein ganzer Auffag zeigt, der Evangelienkritit nicht den Nero durch, fondern wahre mir nur ein mir weſentliches Fundament derjelben, die Vorausfegung, daß die urfprünglichen Überlieferer aus Ehrfurcht vor Jeſu Worten und Thaten außerftande waren, fo mit denfelben umzufpringen und damit die ganze Überlieferung unzuverläffig zu machen. D. Weiß beruft fih auf Analogie, bie ich felbft einräumte oder einräumen müſſe. Hinfichtlich det

Verhältniffes der zwei Gaftmahlöparabeln, Luk. 14 und Math

22 mißverfteht er mich; ich ſchreibe auch Legtere Erweiterung Jeir ſelbſt zu; andere Jeſusworte, die er als rein fchriftftellerifche Fre dukte betrachtet, ſehe ih, wenn fie nicht pure eingeflochtene Ber deutlihungen find, anders an als er, und Tann feine Analogie

Zu dem vorfehenden Aufſatz von D. B. Weiß ıc. 597

nicht als ſolche erkennen. Wenn der greife Johannes zwifchen den urfprüngfichen Jeſusworten und feiner Auslegung derfelben nicht mehr ſcheiden kann, wenn die Synoptifer Worte und Thaten Jeſu zweimal anführen, entweder weil fie fie für verfcieden Halten oder ihr Mittellungsfaden fie zweimal auf diefelben führt, wiederum wenn fie traditionellen Vermiſchungen verſchiedener Dinge unterliegen, fo verfahren fie bei aller Fritifch « diplomatifchen Unvollfommenheit durchaus unſchuldig. Uber wenn Lukas jene Weherufe ohne allen Grund der Tradition frei erfunden, wenn er den Handlahmen aus freier Hand in einen Wafferfüchtigen verwandelt und fo ein nie geſchehenes Jeſuswunder produziert hätte; wenn Markus ein Uns trautsgleichnis Jeſu, lediglich weil es ihm unverändert in feine „Gleichnistrilogie“ nicht gepaßt, feines Grundgedanfens, der Mir ſchung von Kraut und Unkraut im Reiche Gottes, beraubt und aus einem Nebengedanfen heraus zu etwas ganz anderem umge» formt Hätte; endlich wenn Matthäus, weltgeſchichtliche Verwirrungen anrihtend, das der ganzen Jüngergemeinde zugefprochene Binden und Löfen aus fich zur Auszeichnung des Petrus verwendet hätte, fo fann ich da8 ich kann mir nicht helfen nicht unſchuldig und mit ber den Erftlingszeugen des Evangeliums zuzutrauenden heiligen Scheu nicht vereinbar finden, komme auch in meiner Evans gelienkritit und Konftrultion des Lebens Jeſu aus den Quellen ganz ohne ſolche bedenkliche Annahmen aus. ch betrachte diefelben auch in der Weißſchen Kritit als fremde Blutstropfen, die ſich derfelben aus gewiffen DVerirrungen der Tendenzkritik beigemifcht haben, und hielt e8, gerade bei der fonftigen Verwandtſchaft unferer theologifchen Standpuntte, für erlaubt, einen verehrten Mitarbeiter auf dieſe heterogenen Elemente freundſchaftlich aufmerkſam zu machen 1).

Was unſere allgemeine Differenz über die ſynoptiſche Frage angeht, fo will ich nur zwei bedingende Punfte derfelben berühren,

1) Die Ableitung des Gleichniſſes vom verlorenen Sohn aus Matth. 21, 28—30, über die W. fich ebenfalls beflagt, Habe ich ihm gar nicht Zuger ſchrieben; erinnere id) mid) recht, fo if fie eine Konjetur Holgmanns, bie ih ablehnen wollte.

508 Beyſchlag

unſere verſchiedene Vorſtellung von der mundlichen Überlieferung der Reden Jeſu, und von dem ſchriftſtelleriſchen Verfahren der Evangeliften. D. Weiß erklart: „Ich kann mir von mundlicher Überlieferung längerer Spruchketten oder Reben Jeſu feine Bor: ftellung machen; die mündliche Überlieferung einer folden Rebe wie die Parufierede ift undenkbar.“ Erft ein Menfchenatter nad, Jeſu Tode die Logia find nah Weiß kurz vorm jüdifchen Kriege aufgezeichnet Hätten bie Mpoftel bie bis dahin lediglich vereinzelt und gelegentlih, in aramäifcer Sprache, wiederholten Sprüche Jeſu fo geordnet und zufammengefügt, wie dann Matthäus fie auffchrieb. Daher, wo Sprüde Jeſu in zweierlei Relation doch im griechiſchen Ausdruck fi ähneln, oder zu Gruppen und Neden verbunden erjcheinen, fie nur aus biefer Logiaquelle folfen hergeleitet werden können, aud bei Markus. Ich kann dieſe Anficht für feine Hiftorifch richtige und natürliche Halten. Jeſus hat nicht bloß Voltsreden gehalten, aus welden einzelne Sentenzen in Umlauf famen: er bat feinen Jungern „infonderheit‘ einen darüber Hinausgehenden fürmlichen Unterricht gegeben, ihnen feine Lehren in behaltbarfter Form eingeprägt, und dann ihnen geboten, das, was er ihnen fo „ins Ohr gefagt, von ben Dächern zu pres digen“. Ich zweifle nicht, daß fie das treulich gethan haben, daß fle nicht bloß allgemeine Miffionspredigten gehalten haben, wie fie Apg. 2—10 ſtizziert find, fondern daß fie innerhalb der fo gewonnenen Kreife die Schäge ihrer Erinnerungen aufgethan und die nachgelommenen Jünger alles halten gelehrt haben, was ihnen Jeſus geboten, und zwar mit deſſen eigenen Worten. So werden diefe Worte auch in ihren urfprünglihen Zufammenhängen in den Gemeinden fortgepflanzt worden fein, nicht buchſtäblich, aber doch im wefentlichen treu, aud nicht bloß aramälfch, fondern bei dem ſchon ‚frühe aud in der Urgemeinde vorhandenen helleniſtiſchen Elemente bald auch griehifh, und werden nachher, als man be gann, Evangelien zu verfafen, nicht bloß aus einer fchriftlichen Duelle, fondern aus ber mündlichen Überlieferung zur Verfügung geftanden haben, in einer ausgeprägten Verwandtichaft des Ausdrude ohne Uniformität, in Reihen oder größeren Zufammenhängen, wie fie im zweiten Evangelium erſcheinen. Oder warum jollten die |

Zu dem vorſtehenden Aufſatz von D. B. Weiß :c. boo

Apoſtel nicht mehr denn einmal, unvergeßlicher Tage vom See Genezareth gedenkend, mit dem erſten Gleichnis ſich auch die Regeln zurüdgerufen haben, welche Jeſus über rechtes Lernen und In⸗ der» Erkenntnis »wachfen demfelben angefügt (Marl. 4, 21 25); warum follten fie das alles nicht ebenfo wieder ihren Jüngern ein« geprägt haben? Zumal aber die Parufterede, Mark. 13, auf welche Weiß ganz beſonders provociert, als fei fie nur als littera⸗ riſches Produft begreiflih, mas ift natürlicher bei der Sehn- fucht der Jünger nad den letzten Erfüllungen, bei der ganzen es chatologiſchen Spannung der äfteften Chriftenheit, als daß bie Apoftel fie nicht erft nach 30—40 Yahren, fondern fehr bald aus dem Gebächtnis möglichft reproduziert, und fie nach ihrem Ber- ftändnis der Gemeinde zu Troft und Mahnung mehr denn einmal wiederholt Haben, ja auf deren Bitten haben wiederhofen müffen! Was andrerjeits die evangeliftifche Schriftftelferei angeht, jo Hätte Weiß mid nicht auf die Lächerlickeit der Griesbachſchen Hypotheſe anreden ſollen. Diefe Lächerlichkeit beftand nicht in der Vorftellung eines Evangeliften, der zwei Buchrollen auf feinem Tiſch liegen hat und diefelben vergleicht ich wüßte nicht, wie man fich einen nach zwei Quefffchriften arbeitenden Schriftfteller, alfo auch den erften und dritten Evangeliften nad Weiß, anders vorftellen follte —, fondern fie beftand in der Vorftellung eines Soangeliften, der aus zwei reihen Evangelien ein armes macht und jedesmal, wenn er in dem einen auf eine längere Rede Jeſu trifft, vor derfelben zurückſcheut und zum anderen überfpringt. Mit dieſer Vorſtellung habe ich doc ganz und gar nichts zu fchaffen. Daß umfere Evangeliften nicht nad Art moderner gefchulter Ge- ſchichtſchreiber zu denken find, habe aud ic mir gegenwärtig ge« halten, und glaube, daß es fich hiermit recht wohl vereint, fie nicht ohne alles kritiſche Urteil zu denken. Wenn ein Lukas feine Bor- gänger kennt und von ihnen nicht befriedigt ift, wenn er fih auf bie Überlieferung der Ar” dexis aördmron beruft und feinem Lefer über die in Umlauf befindfichen Erzählungen zıv aoparıar, bie fihere Wahrhelt mitteilen will, fo fee id, daß er mit Umſicht und Unterfcheidung zuwerke gegangen iſt. Es wird demnach feine ungefchichtlihe Phantafie fein, wenn ich annehme, daß er ſowohl

60o Beyſchlag

wie der Verfaſſer des Matthäusevaugeliums die Schrift eins wöronsng, eines Mpoftels, anderen Schriften vorgezogen haben wird; daß, wenn ihnen meben jener apoftolifchen Duelle eine zweite nicht apoftofifche Darftellung vorlag, fie diefelbe darauf an- gefehen Haben werden, ob fie zuverläffig fei und wie fie fih zu jener verhafte, daß fie alfo einigermaßen davor behütet geweſen fein werben, „um reines Waſſer zu erhalten, den Quell und dem daraus abgeleiteten Bach zu vermifhen“. Wenn fie aber, wie ih gegen Weiß annehme, zwei felbftändige und ebenbürtige Quellen hatten, dann wird es wieberum nicht unwahrſcheinlich fein, doß fit bei deren Zufammenarbeitung aud da, wo fie im ganzen der einem Quelle folgten, doch in der Erinnerung, daß die andere Hierzu eine Parallele biete —, diefelbe mit zurate gezogen und ihre Darftellung mitunter Vers um Vers aus beiden kombiniert haben werden. Haben fie doch nad Weiß die nicht ebenbürtigen und von einander nicht unabhängigen Quellen zuweilen nicht bloß versweiſe, fondern in noch Meineren Partikeln zufammengefchweißt.

Am wenigften fann ih das von Weiß dem Markus zuge ſchriebene jchriftftellerifche Verfahren natürlih und wahrjcheinfid finden. Er foll einen fehr erheblichen Teil feines Materials wie feiner Darftellung nicht den Erinnerungen des Petrus, fondern der Matthãusſchrift entnommen haben, und doch foll man nicht fragen dürfen, warum er Berge von Schägen, die in derfelben vorlagen, unberührt gelaffen. Er ſoll fi nur bei der Aufzeichnung feiner Petruserinnerungen unwillkuürlich an die ihm befannte Matthäus fhrift angelehnt haben. Dann muß er biejelbe geradezu auswendig gefonnt Haben; und felbft dann, ift es noch ein ‚unwillkürliches Anlehnen“, oder dod ein „Arbeiten nad Quellen“, wenn er neben der ihm von Petrus erzählten Speifungegefehichte eine zweite aus den Logia entnommen haben foll, weil er fie für ein won jemer verfchiedenes Faltum Hielt? Hat er aber, wie dieſes Beiſpiel zeigt, nit nur Ordnung, fondern aud Vervollftändigung der Petru& materialien angeftrebt, fo lehrt die Frage wieder, warum er doch fo viele wertvolle Materialien der Logia verjhmäht Haben foll, auch folge, melde wie 3. B. die Gefdichte vom Hauptmann zu Kapernaum fich fehr Teicht in feinen Gang Hätten einreihen Lajjen.

Zu dem vorftehenden Aufſatz von D. B. Weiß ac. 601

Es kommt Hinzu, daß unſer Markusevangelium auch Stoffe ent⸗ halt, die ihrer Natur nach weder in der ovvrakıg Aoylav xugroxüv, noch in den von Petrus vorgetragenen Uno Too xuplov Aydrro 7 ngaxdbvro enthalten gewefen fein konnen, wie das Apoftelver- zeichnis und die Erzählung vom Tode des Täufers. Endlich, wie weit fommt die Weißſche Hypotheſe von den Papiaszeugniffen ab, dem einzigen hiſtoriſchen Anhaltspunkt! Während feine Matthäus⸗ fhrift mit fo vielem Erzählſtoff belaftet wird, daß Papias fie anftatt eine ovvrakıg Aoylav vielmehr eine Sammlung von oͤnd od xvplov 7 AexdHvra 7 ngaydevra hätte nennen müffen, fo ſoll die Markusſchrift nit nur erheblich noch aus anderer Quelle ges floffen fein als den Petruserinnerungen, fondern fie ſoll auch trog des 00 zes des Papias wiederzuerfennen fein in einem Evans gelium, das die Matthäusfhrift an Wohlordnung weit übertrifft. Wenn Weiß dieſen Widerſpruch dadurch zu befeitigen fucht, daß er dem einfachen ovveraaro des Papiad den Sinn aufdrängt „in der urſprünglichen Ordnung zuſammengeſtellt“, und dann den guten Papias unkritifh und hyperkritiſch zugleich die ihm bes Iannten aramätfchen Logia mit unferem griechiſchen Matthäus ver⸗ wechfeln, im Markus aber Hin und wieder die Ordnung dieſes Matthaus evangeliums vermiffen Täßt (vgl. „Leben Jeſu“ I, 43), fo wird kein befonnener Forſcher ihm in dieſe Deutung des 00 rise folgen. Ja, wenn Papias die Markusſchrift eine ovvrokes genannt, und die Logia als od rufe geſchrieben ber zeichnet Hättel

Herr Dr. Weiß bat auf eine, wie ich glaube, verfehlte Hypo⸗ Ihefe eine Fülle von Scharffinn und Fleiß verwendet, die in ihren Einzelheiten für die ſynoptiſche Trage gewiß nicht verloren fein verden: daß die Hypotheſe felbft feinen nennenswerten Anklang indet, ift ſchon jegt, gerade den höchſt vefpektabeln Mitteln gegen- iber, die ber Urheber auf fie verwendet hat, offenbar. Weil ih iefe Thatſache famt ihren Gründen wahrnahm und doch auf der nderen Seite Weiß gegenüber der weit natürlicheren Holzmannfchen »ypotheſe in vielem vet geben mußte, Habe ich geglaubt, der Biffenfchaft einen Heinen Dienft zu thun, wenn id die im Streit vifchen Holgmann und Weiß wie feftgerannte ſynoptiſche Frage

2 Kolbe

wieder in Fluß bräcdte und meine eigenen Beobachtungen über die felbe als einen Schlichtungsverſuch zwifchen beiden verdffentlichte. Weder habe ich mir dabei eingebifbet, die leiten Mätfel dieſer Frage zu Töfen, noch Hat mich irgendeine Neigung zur Polemik gegen einen hochverehrten Mitarbeiter treiben können, mit dem ich mid viel lieber begegne und zufammenfinde und von dem ich fort: während gern und bankbar ferne.

Die erfte Nürnberger ebangeliſche Gotteszienft- ordnung.

Mitgeteilt von D. 3. Kolde An Erlangen.

Es ift befannt und mehrfach gewürdigt worden, daß man in Nürnberg verhältnismäßig früh und, fieht mar von den allgemeinen Grundjägen ab, in einer gewiſſen Unabhängigkeit von Wittenberg | evangelifhen Gottesdienft eingeführt hat. Man Hat fich hier von vornherein, als man überhaupt zu reformieren anfing, nicht darauf befchränft, dem einzelnen Geiftlichen es anheimzuftellen, nad) Belieben Unevangelifhes fortzulaffen ?), ſondern das wird dab | weiter unten Mitzuteilende mit Sicherheit ergeben eine beftimmte evangelifche Gottesdienftordnung aufgeftellt, die in einzelnen Zeilen für viele Kirchen vorbildlich geworden ift. Ihren Juhalt im | großen und ganzen, fo wie den Umſtand, daß fie im Laufe des Jahres 1524 in Gebrauch gefommen, konnte man bisher zumaßt

2) Gegen Möller, Oftander, S. 164 ff. j

Die erfte Nürnberger evangeliſche Gottesbienftorbnung. WB

aus zwei Schriften ), der DVerteidigungsfchrift der beiden Pröbfte von St. Sebald und St. Lorenz, Georg Peßler und Hector Böhmer: „Grundt vnd vrſach auf der heiligen fchrifft, wie und warumb die Cerwirdigen herren baider Pfarkirchen S. Sebalt vnd fant Laurengen Pröbft zu Nurmberg bie mißpreuch beh der heyligen Meſſz, Jartäg, Gewehcht Saltz, und Waſſer, fampt ettlihen andern Ceremonien abgeſtelt vndterlaſſen vnd geendert haben: Nürnberg“ (die Vorrede iſt datiert vom 21. Tag des Wein⸗ monat® Imm Jar MDXXiüij) und der durch Riederer (in feiner Abhandlung von Einführung des deutſchen Gefanges in die evangeliſch⸗ lutheriſche Kirche ac. Nürnberg 1759) wieder abgedrudten feltenen Schrift des Andreas Döber: „Uon ber Euangeliſchen Meß, wie fie zu Nürmberg im Neuen Spital, durd Andream Döber ge⸗ halten wirdt, Caplan dofelbft 1525*. Sehr inſtruktiv iſt ganz beſonders die letztere Schrift, die aber Lediglich den Meßgottesdienft im Ange Hat und ſchon um ihres Titels willen zu der Annahme verleitet hat, daß wir es hier eben nur mit dem Gottesdienſte, wie er in der Spitallirche üblich, zu thun Hätten, während ſchon !ine Vergleihung mit dem, was in der Schrift „Grund und Ur- ah“ über den Gottesdienft mitgeteilt wurde, auf einen gemein« amen Grundftod Hätte führen müfen, zu bem ſich das, was Döber berichtet, nur als eine weitere Ausführung ermeift *). Bor urzem Hat fih nun in Münden in der Kgl. Hof» und Staate- ibliothek die meines Wiffens ihrem Wortlaut und ihrer Datierung ach bisher unbelannte, weiter unten mitzuteilende erfte Gottesdienft- nung Nürnbergs gefunden ®), aus ber ſich ergiebt, daß man n zweiten Sonntag nad) Trinitatis den 5. Juni 1524 in Nürn rg mit dem neuen evangelifchen Gottesdienft begonnen hat, und wie ı Vergleich mit Döber erkennen läßt, nicht nur in den Parochial⸗

1) Bgl. Medicus, Gedichte der enangelifchen Kirche in Bayern (Er- gen 1868), ©. 60fj. Möller, Ofiander, ©. 21.

2) Es iſt daher nurichtig, wie Löhe (Erinnerungen aus ber Reformationd- thichte in Fronten, Nürnberg 1847, S. 126) thut, von zwei Gottebienft» nungen zu ſprechen. J

8) Here Setreiär Dr. Wilh. Meder, der fie daſelbſt fand, Hat fie mir iebe nswurdigſter Weife zur Veröffentlichung überlaffen.

604 Kolbe

tirchen, für welche die Gottesdienftordnung urfprünglich feftgefegt war, fondern auch in den anderen Kirchen dieſelbe alsbald mit ge⸗ ringen faum weſentlichen Veränderungen angenommen bat. Da das Schriftftüd das Datum vom 5. Juni trägt, fo wird man kaum fehlgehen mit der Annahme, daß es legtlich auf jener Ver⸗ fammlung von Geiſtlichen vereinbart wurde, melde am 1. Juni zur Abfaffung „der Artikel, der ſich der beiden Pröbſt vergliden haben, nechſt als fie beifammen waren primo Junii 1524, zur fammentrat.

Das fraglihe Manuffript, auf zwei Folioblättern, ift in felten ſchöner Schrift offenbar für den offiziellen agendariſchen Gebrauch gefchrieben. Die Eigenart diefer Gottesdienftordnung wie ber Um⸗ ftand, daß fie eine der ältejten der evangelifchen Kirche ift, wird ihre dipfomatifche genaue Wiedergabe, der ich nur wenige Noten beizufügen hatte, rechtfertigen.

DOMINICA SECVNDA POST TRINITATIS.

Nurnberge in ecclesijs parrochialibus inceptus est ordo subsequens. MDXXIIII.

Hora consueta dimidia sez. ante horam primä diei;pul- setur ad prima missam, Neque sal neque aqua conse- cretur. Sed confestim ad altare sese recipiunt celebrans & ministri. INTROITVS. Factus est dns protector meus: &e Deinde loco uersus Psalmus XVII. hoc modo.

rm

III

Sub hac melodia totus cantetur psalmus.

Die erfte Nürnberger evangelifche Gottesdienftordnung. 05

Finis psalmi Gloria patri concludatur, atque In- troitus repetatur.!) Et per quamlibet septimanam cantat CHORVS aliü Introitüa & Psalmü, ut de tempore cancionalia habent. Dein Kyrie eleyson domicale, CELEBRANS, Gloria in excelsis. CHORVS. Et in terra. Postea ce- lebrans Orationem dominicald cantat, Sancti tui nois: &c. Oroe finita ineipit minister canere caput primü. dein ad subsgques offitium aliud caput, ut ordo expostulat, ad Romanos lingua germana, & premittit hanc prefations. Ir aller liebsten uernemet das N: capitel, der epistel die der heilig S. Paulus schreibt zu den Romern, Paulus ein diener Jesu Chri &. GRADVALE, Ad dnm cum tribularer <lamaui: &c ALLELVIA. Deus iudex iustus: &c. Subin- de diaconus cantare orditur caput. N. Mathei germanice, hanc premittens prefations, Ir aller liebsten uernemet die wort des heiligen Euangelij, das uns schreibt der heilig euangelist S. Matheus am N. capitel, Das puch der gepurt Jesu Chri: &c & sic ex ordine. Euangelio lecto, CELEBRANS canit Credo. CHORVS Patrem dominicale. Symbulo ®) finito. Offertorio ac Canone minore omissis, ineipit

1) Grundt und Urſach 2c.: „Dieweil man nun fonft feyret, bisſ ſich der priefter ruſtet, den Altar bereytet, vnnd hynein tritt, hatt man pilich diweil ain gaiftfichen pſalm gefungen. Welcher auch barumb, der Eintritt, oder Ein- gang genennt ift, vnd Belt ſich aljo. Man nimpt ausf ainem pfalm ain Hüb- fen merdfichen vnd tröſtlichen Spruch, macht ain gefang daransf, darnadı fingt man den ganen pfalmen, von wort zu wort und befchleuft in zuletzt mit dem Gloria patri ond finget damit widerumb das erft gefang. Aiſo iſt es auch von anfang geweft, vnd zu vunfern gezeiten ausf faulhait allain ber erfte versſ gefungen. Darumb haben wir das auch wider angericht, und ben Pfalm gang lasſen fingen. ... Darnach volgt das Kriechiſch gefang, Kyrie eleiſon ymas. Das iſt zu teutſch. Herr erbarm dich vnſer. Bub dann das Gloria in excelsis unnd das Et in terra ıc.” Einige Abweichungen bei Döber, der feinen Meß-Gottesbienft mit dem Confiteor und ber Abfolution beginnt und erft hierauf den Jutroitus folgen läßt (bei Riederer a. a. O., ©. 318f.), alſo ganz fo wie bie fpätere Brandenburg-Nürnbergije Kirchenorduung von 1583 8 vorſchreibt. Bol. Richter, Kirchenordnungen I, 204.

2) Dazu am Rande von gleichzeitiger Hand: auupoAor öro (?) dieitur signum signa militaria.

os Kolbe

CELEBRANS Dos uobiscum. Sursum corda. Gras agamus. dno deo nostro, Vere dignu & iustum est gquü & salutare, nos tibi semper & ubique gras agere, dne sancte pater omnipotös gterne deus per Chrm domind nostrü, hie finitur prefatio. CHORVS. Sanctus, sanctus!), CELEBRANS aut subiügit legendo.

Qui pridie quam pateretur, accepit panem in sanctas ac uenerabiles manus suas, & eleuatis oculis in celü ad te deum patrem omnipotents, tibi gras agens benedixit, fregit dedit discipulis suis dicens, Accipite & manducate ex hoc omnes. Hoc est eni corpus meum.

ELEVATVR PANIS.

Simili modo postquam cenatü est, accipiens & hunc pre- clarü calicem in sanctas ac uenerabiles manus suas, Item tibi gras agens, benedixit, dedit discipulis suis dicens, Acci- pite, & bibite ex eo omnes, Hic est enI calix sanguinis mei, noui & eterni testamenti misterium fidei, qui pro nobis & pro multis effundetur in remissionem peceatoru.

ELEVATVR CALIX.

Finito Osanna in excelsis, celebrans incipit, Oremus preceptis salutarib: moniti, &c. Pater noster qui est in: &e.

Posthac admonetur populus sacramentü sumpturus his uerbis ).

1) Bei Döber fprict der Priefter, und zwar erft nad Glevation des Kelches, das sanctus (a. a. D., ©. 320).

- 2) Hier wilden’ wir alfo die erfte Erwähnung diefer berühmten Exhor- tatio haben, welche die beiden oben genannten Schriften ſchon dem Wortlaut nach mitteilen, bie beiden Pröpfte mit der Borbemerkung: „Dieweyl die orden- lich predig nicht allmal von tod Chriſti Iauttet, haben wir ain kurtze verma- nung an das vold verorbnet, darinnen begriffen, wie, und warumb Chriſtus geftorben fey, was wir dadurch erlangt Haben, und was wir hernach zu thun ſchuldig fein, dann das Wort Chriſti und Pauli tringt Hart, man musf fein gebenden, fein tobt verfhünbigen, fo offt man das thut ꝛc.“ Gin Jahr fpäter bei Döber (S. 821) Heißt fie ſchon ſchlecht weg „die Exhortation“. Wer ber Berfoffer, ob Wolfgang Bolprecht, wie nad) älterem Vorgang Löhe ©. 126 mit Beftimmtheit behauptet, oder Ofiander, wie andere meinen, läßt fih wohl

Die erſte Nürnberger evangelifche Gotiesdienſtorduung. 7

Mein ?) aller liebsten in got, die weil wir ietzo das abent essen unsers lieben herren Jesu Chri wollen bedencken und halten, dar in uns sein flaisch und plut, zur speisz und zu eim*) tranck, nicht des leibs sonder der selen gegeben wurdt°). Sollen wir pillich mit grossem fleisz, ein itlicher *) sich selbs prüfen, wie Paulussagt, und °) uon diesem brotessen, und uon dem) kelch trinken. Dan es sol nicht, dan nur ein hungerige seel, die ir sund erkent, gottes zorn, und den tod furcht, und nach der gerechtigkeit hungerig und durstig ist, dis heilig sacrament empfahenn. So wir aber uns selbs prufen, finden wir nichts in uns, dan sundt und tod, kunnen auch uns selbs nit ?) darausz helfen. Darumb hat unser lieber herr Jesus Chrus sich uber uns erbarmet, ist umb unsert willen mensch worden, das®) er fur uns das gesetz erfullet, und lide was wir mit unsern sundern uerschuldigt ?) hetten, und das wir das ye festiglich glauben, und uns frolich darauff uerlassen mogen !°), Nam er nach dem abent essen das brot, saget dank, prachs und sprach, Nembt hin und esset, das ist mein leib, der fur euch dar- geben 4) wirt. Als wolt er sagen, das ich mensch pin worden, und alles was ich thue und leid, das ist alles euer aygen fur euch und euch zu gut geschehen, des zu eim !?) wartzeichen gib ich euch mein leib zur speisz. Des gleichen

mit Sicherheit nicht mehr darthun. Ich gebe die Varianten, abgefehen von ber verſchiedenen Orthographie.

1) Grundt u. Urſach: „Ic“; dagegen wie hier bei Döber.

2) „um“. Döber: einem getranf.

3) „mirt®,

4) „yedlicher“. Döber: yglicher.

5) „Und alsdann“. Ebenſo Döber.

6) „bijlem,

7) ‚in kaynen weg“. Ebenſo Döber.

®) „auff bafa“.

9) „verſchuldet“. Döber: verſchuldt.

10) „mödjten”. Ebenſo Döber.

2) „dargegeben“.

18) „ainem gewißen“. Döber: def zu wortzeychen.

608 Kolde

auch den kelch und sprach. Nembt hin und trinckt ausz disem all, das ist der kelch des neuen testaments, mit meinem plut, der fur euch und fur uil uergossen wirdt zu !) uergebung der sundt, so?) offt ir das thut solt ir mein darpei gedenckenn. Als wolt er sprechen, die weil ich mich euer angenomen, und euer sundt auf mich geladen hab, wil ich mich selbs fur die sundt opfern, mein plut uergiessen, gnad und uergebung der sund erwerben, und also ein neu testament aufrichten, darin der sund ewig nicht gedacht soll werden, des zum °®) wartzeichen gib ich euch mein leib zu essen) und mein plut zu trincken. Wer nun also uon disem brot isset, und uon disem kelch trincket, das ist, wer disen worten die er hort, und disen zeichen die er empfahet festiglich glaubet, der pleibt in Christo, und Chrus in im, und lebt 5) ewiglich. Darpei sollen wir nun auch ©) seins tods gedencken, und ?) im danck sagen, ein ytlichen ®) sein kreutz auf sich nemen, und in ®) nach- uolgen. Vnd zuuor einer den andern lieb haben !%), wie er!) uns geliebt hat, dan wir uil, sein ein brot und ein leib, die wir all eins brots tailhaftig sein 2),

Subiungit deinde CELEBRANS pax dni sit semper uo- bisca, CHORVS respondet. Incipiatur dein populus comu-

4) „zur“. Döber: zur verzeyhung.

3) Döber: als offt je das tHut, fo thuts zu meiner gedechtnus.

®) „zu atnem gewiſen“. Döber: zu wortzeichen.

4) „mein leib zu eſſen und“ fehlt in Grundt m. Urſach und bei Döber.

8) „Abet aljo“.

6) „au“. Ebenſo bei Döher.

?) „und“ fehlt.

8) „geblicher.” Döber: yeglicher.

9) Döber: dem Herren.

10) „lieben“.

1) „er au“. Döber: aud) er.

18) Hier folgt in Grundt u. Urſach und bei Döber noch: vnd auß ainem kelch trinden.

Die erfte Nürnberger evamgelifche Gottesbienftorbnung. 600

nicari, Officiante panem prebente, & ministro calicem. Sub comunione Chorus canit Agnus dei: & comunions, tardius aut uelocius iuxta holm comunicantid numera. Administrato seeramento, siquid superest a Celebrante & ministrantibus sumitur. Demu Offitii cum oratione, quam Complenda uocant, concludatur.

Finita prima missa ineipiuntur tres Psalmi, qui quotti- die ex ordine, ut Psalteriü habet, psallentur Dominieis & feriatis diebus Offitin immediate següntur psalmi, sed alijs diebus publicum precedüt offitium. Incipit eni regens. Deus in adiutoriü meü: &c Antiphona intonatur de historia, sub cuius tono cantentur psalmi, Btus uir: Quare fremuerüt: Dne quid multiplicati: Dein Antiphona repetatur. Finita Antiphona, recipist sese regens ad aram Joannis legens in Geneseos libro caput, & premittens prefations simils eius, que epistolis Paulinis premissa est, capite finito idem regens in Choro cantat. Dns uobiscum, & subiungit Orations do- minicale, deinde Benedicamus.

His completis presbyter ascendit contions, populo Oroem dominicä, Salutations angelica, Symbolü, & decem precepta predicens, item & festa Sanctorü in septimana futuram in- cidentia. "

Subinde !) ecclesiastes sermon facit, post sermons pu- blicum peragatur officium, per hunc, ut supra notatü est, modü.

AD VESPERAS. . Deus in adiutorin meum: &c Antiphona de historia, ut supra, intonatur, sub eius tono cantötur psalmi quinque ex ordine, ut in psalterio següntur, Dein Antiphona repetatur,

1) Nach den Zuſammenhang Heißt das Hier wohl foniel als „wieberhofent- NG, öfters, von Zeit zu Zeit”. Wo in biefem Fall die Predigt zu Reben dam, ergiebt eine Stelle aus „Grundt und Urſach“ (Bogen H), wo es nad) ber Er- wähnung des Symbolums Heißt: „Als dann fahet fich erſt recht die Mei an“, fo das Officium. Die Predigt mwürde bemmach dieſelbe Stelle eingenommen ‚Haben, welche ihr die Kirchenordnung von 1533 zuweiſt, Hinter dent (1.) Credo.

Deol. Stud. dabrs. 1882. 40

610 uſteri

qua sequatur subsqquens in Genesi caput, capite lecto sg- quitur Responsoriü de historia, post quod. uersiculus. Diri- gatur: aut Vespertina oro: &c deinde Magnificat, cu anti- phona de historia, his finitis, subiungit regens, omisso Completorio. Dns uobiscum & Orations. demü Bene- dicamus. -

4. Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tanflehre der reformierten Kirche, Bon

Joh. Martin Ufer,

Pfarrer in Hinweil,

(&gt. Jahrg. 1882, 9. 2, und Jahrg. 1883, 8. 1.)

L Joh. Bader, ein weniger bekannter Verteidiger der Aindertaufe.

Joh. Bader, der erfte evangelifche Prädifant und Reformator von Landau in der bayerischen Pfalz, wird von Gelbert bei Herzog, Real⸗Enc. XIX, 160 (wo über ihn das Nähere nachzulefen) einer der Sterne zweiten Nanges genannt, die im 16. Jahrhundert ihr Licht leuchten ließen. Er ſchrieb, von Zwingli angeregt, ein Büch⸗ fein über die Tauffrage ?). In der Vorrede befennt er, wie fehr ihm Hubmehers „vom hriftlichen Tauf der Gläubigen“ eingeleuchtet, To daß auch Zwinglis Taufbüchlein feine Bedenken nicht ganz ger Hoben, Bis er mit einem Wiedertäufer perſönliche Bekanntſchaft

1) „Brüberliche Warnung für dem newen abgbttiſchen Orden ber Wider» täuffer“. 1827.

Weitere Beiträge zur Geſchichte der Tauflehre 2c. 6

gemacht und deffen Anmagung und über die Schrift ſich erhebende Geifteswillfür mit eigenen Augen gefehen. Da Habe ihn Gott erleuchtet, und einer forgfältigen Prüfung der Schriftftellen vers danke er die Einfiht in deren natürlichen, von den Wiedertäufern verdrehten Sinn. Seine Abfiht fei nun für die Unerfahrenen zu ſchreiben *).

Um die Frage über die Kindertaufe zu entfcheiden, betont Bader, mit Zwingfi darin übereinftimmend, Habe man einfach zu unter ſuchen, ob bdiefelbe dem Wefen der Taufe überhaupt nicht wider ſpreche; wie die Mpoftel ſich verhalten, komme nicht in erfter Linie in Betracht. Nun ſpreche Matt. 28 und Marl. 16 weder fpeziell für nod; gegen bie Sindertaufe, fondern es werde dort einfach den Apofteln Anweifung über ihr Lehren und Taufen ums faffendes Amt gegeben, aber nichts darüber entfchieden, unter was für Umftänden bei einzelnen Individuen das Lehren oder das Taufen vorauszugehen habe. Der allgemeine Begriff der Taufe aber, infofern fie Chrifto zum Eigentum weihe und zu Dienft, Ges horfam und Vertrauen verpflichte, ftreite nicht mit der Kinder⸗ taufe.

ee Taufe des Johannes und die hriftliche Taufe find auch nach Bader identifh. Wer die Taufe vor der Himmelfahrt degrabiere, thue es, weil es damals noch am Verſtändnis fir dieſes Zeichen des Neuen Bundes gefehlt. Allein diefer Mangel, der ja nicht nur das Sakrament, fondern aud vielfach das Wort Chriſti betroffen, habe nichts zu fagen; die vorläufig noch unvers

1) Er will nichts anderes fein als „ein armer, ungelehrter Bader“ und doch ſchmeichelt es ihm, fo zu heißen, und er meint ala „Yohannes Bader“ (. i. als ein zweiter Johannes der Täufer) gleichſam zu einer folden Schrift inneren Beruf zu Haben. Wie diefes Wortipiel, das er fehr liebt und zur Genüge wiederholt, iſt noch manches in feinem Büchlein etwas ſchwach; auch von einer rohen Denkungsart enthält dasſelbe Proben, z. B. die Gtelle: „Wenn ich den Glauben hätte, wovor Gott mic behüte, daß der Teufel und alle Verdammten endlich felig würden, fo follt mir fein Bosheit zu viel fein, fondern e8 wäre mir nur eine Luft, daß ich die ganze Welt und den Teufel jelbſt in der Bosheit übertreffen ſollt. Wie möcht ich größer Ehe und beſſer Leben auf Erden erlangen?”

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02 uſteri

ftandene Weihe fel doch gultig geweſen, fo gut mie mem heute ummündige Kinder getauft werden. Wenn nun aber aus letzterem zugunſten der Fohannestaufe ein Schluß gezogen wird, fo ift das Intongruente nur das, daß es dert ebem nicht Sinder anging, umd daß das Verſtandnis ganz umd ger, d. h. auch Bei den das Saframent Erteilenden fehlte). Nur als opus operatum aufs gefaßt, laßt fich jene frühere vorbereitende Taufe. (des Johannes und der Jünger Jeſu dor der Himmelfahrt) mit der fpäteren ganz auf eine Linie ftellen %). Gar wunderlich iſt es, wenn Baber zugunſten der Taufe des Johannes, den er natürlich zum Neuen Bunde rechnet, auch das geltend macht, daß dabei der heilige Geift fogar in fihtbarer Geftalt gegenwärtig gewefen. Eher läßt ſich hören, daß er, nebſt der Bußforderung, nad) Joh. 3 (am Schluß) und Apg. 19 auch eine Glaubensanweiſung beim Täufer nit ver⸗ mißt.

Weittäufig Täßt fi fodann Bader darüber aus, daß die Taufe fein Geſetz und feine conditio sine qua non ber Seligkelt fet, fondern ganz und gar ber chriſtlichen Freiheit anheimgegeben. Man habe fie weder jemals einem Menfchen aufgebrängt, noch fie verweigert. Man habe ſich fogar bisweilen taufen luffen, damit es ungläubigen Verftorbenen zugute komme ®); nun fei es doch un⸗ glei natürlicher und bei weitem nicht fo Kühn, Kinder, die noch zum Glauben gelangen könnten, zu tanfen 4). Im Intereſſe der Wahrung KHriftlicher Freiheit gegenüber folgen, die fie in Feſſeln ſchlagen wollen, müßte man mit der Kindertaufe Heute anfangen, wenn fie noch nicht in Übung wäre. Das Dringen auf Wieber»

1) Außerdem if e8 matikelich ein Zirkel, wet die Mindertaufe durch die —— und die Johanuestaufe wieber durch die Kindertaufe geftütt

Ein anderes iſt es mit der Kindertaufe, Die als dektaratoriſcher Akt der Senteinde aufzufaſſen iſt, von deffen Bedeutung und innerer Begraundung wenig · ſtens diefe ſamt Eltern und Paten das volle Bewußtſein Kat.

®) Nach der wohl richtigen Deutung ven 1’Ror. 15, 29.

4) Hter konntt man allerdings Baber mit feinem eigenen Arlome ſchlagen, daß exempla, zumal von dergleichen firpesfiitiöfen Mißbräuchen hergenommen, gar nichts beweifen.

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taufe aber fei dem jubaiftifchen Aufnötigen der Beſchneidung zu vergleichen. Dieſe allerdings Habe die Geltung eines Gebotes im Alten Bunde befeffen.

Bader erfcheint e8 ferner gar nicht als unwahrſcheinlich, daß Gott in ben prädeftinierten Kindern eine Erkenntnis feiner felbft wirle, man brauche davon nicht gerade etwas zu fehen; auch bei Aindifch gewordenen Alten bemerfe man nichts mehr vom Glauben, fo wenig derfelbe ihnen abzufprechen feil Man Habe übrigens bei der Taufe gar nicht nach dem innerlihen Glauben zu fragen, fondern mäffe es eben [bei alten und jungen in guter Hoffnung wagen. Das Neue Teftament enthielte gewiß eine Warnung vor der Kindertauft wie vor anderen Irrlehren, wenn biejelbe un. erlaubt wäre, Nur offenbares Widerftreben berechtige zur Taufverweigerung, und von ſolchen fei ja bei Kindern Feine Rebe, deren Uufpuld jedenfalls alle Heuchelei ausſchließe *).

Was die Wiedertaufe betreffe, fo begünftige fie nur ein ger ſetzliches, werlgerechtes Weſen und verdunkle die allein wieder» gebürende Kraft des geiftlihen Waſſers, davon Jeſus Joh. 3 rede; unter den Exempeln mache Apg. 19 am meiften Schwierige keiten, wo auch Origenes eine zweite Taufe angenommen. Bader befennt, daß, „wenn ihn nicht der treue Hirt Jeſus Chriftus ges halten, er unbefonnen in den abgöttifchen Wiedertauf hineinge⸗ plumpft wäre”. Gr zieht aber nun der Zwingliſchen Anſchauung die andere vor, Johannes Habe die Männer mit Waffer getauft, Paulus aber fie bloß im Chriſtentum unterrichtet. Übrigens märbe eine einmal ftattgehabte Wiedertaufe 2) für alle anderen Fälle noch nichts beweiſen; dies geltend zu machen, ift Bader uns befangen genug, während Zwingli durch Apg. 19 arg ins @e-

2) Bgl. die Stelle bei Zwingli im Brief an Haller VIII, 380: „De in- fantium baptismo, qui ex Christianis nati et eoclesine ad baptizandum pblati, certi, oertil quod peccare et dissimulare non possunt (peccare i e. contra legem facere, nam quod originalem morbum tenent non ipsi ‚Peccaverunt), non possunt ergo infantes ecclesiam fallere.“ .

2) Wie bei Timotheus, dem ſchon Getauften, für die Beſchneidung, hätte dann Paulus Hier für die Wiederholung der Taufe feine ganz beſonderen Grunde gehabt.

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dränge kam. Schon das richtet nach Bader den Wiedertauf, „daß er wie ein Raub gehalten und heimlich vollzogen wird“. Die einzig ſchriftmäßige Wiedertaufe fei nah Lul. 12, 50 das Martyrium.

Namentlich drei Schriftzeugniffe führt Bader für die Kinder- taufe ins Feld: 1) Die Beſchneidung. 2) Das unfchuldige, über dem Glauben ftehende Leiden der betlehemitiſchen Kinder um Ehrifti willen. 3) Wie Jeſus die Kinder fegnet. Dies Exempel zeige, daß man mit den Kindern glei nad) der Geburt „etwas Ehriftliches“ vornehmen folle. Und hier fei nun eben das von ben Heiden Unterfcheidende die Taufe.

Über die Bedeutung der Taufe fagt Bader: fie fei ein Bundes⸗ zeichen, dadurch man ſich Gott ergebe zu einem Heiligen Leben (das er freilich bezeichnet ald „ein ewiges Labyrinth, darin nie= mands zum End fummen kann, Gott geb ihm denn Urlaub und nehm ihn aus dieſem irdiſchen fterblichen Leben in fein ewiges Reich, da kein Summer oder Winter, auch kein Hunger oder Durft mehr ift, funder ein ganz ungebrechlich Leben, wie die Engel im Himmel haben“) und dadurch man fi namentlich verpflichte, dem teuren Taufherrn und Hauptmann nachzufolgen im Kreuz, im geiftlihen Abfterben und Auferftehen.

Bader ift nicht blind gegen die Mißbräuche, die mit der Kins dertanfe ſich eingeſchlichen. Dazu rechnet er: 1) Vernachläffigung ber chriſtlichen Erziehungspflicht. 2) Weltliche Intereſſen bei der Auswahl ber Paten. Zur Abhilfe ſchlagt er vor: Wo fich feine Hriftlihen Zuchtſchulen mit bewährten Lehrmeiftern errichten ließen, da follten treue Prädifanten „eiman mehr dann eineft im Jahr“ das jung getaufte Volt zufammenberufen und unterrichten. Ohne das könne man um der Treulofigkeit der Eltern und Paten willen nicht mit gutem Gewiſſen die Kinder taufen. Entweder muſſe der Täufer felbft fi zur Kinderlehre bequemen (denn fonft werde ans dem Kindertauf ein „Gefpött“, und daran trage er ebenfo ſehr Schuld als bie ungetreuen Eltern und Zeugen), ober

" „er muß des Heiligen Kindertaufs gar müßig gon“. Indem bie NReformatoren die Kindertaufe acceptierten, erhoben fie doch durd die beftimmte Forderung nahfolgenden

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Unterrihts gegen das Opus operatum unzwei— deutigen Proteft, fo ſchon Zwingfi (Opp. I, 239sqgq.), fo auch Bucer (bei Baum, Capito und Bucer in der Sammlung „Bät. u. Begründer ꝛc.“, ©. 285).

Baber berichtet auch am Schluß über eine Disputation mit bem fprachgelehrten Zoh. Denk, der nach Landau gefommen. In Matth. 28 habe er trog Denks Deuteleien auch den Buchſtaben für fi gehabt, indem nad Zwingli zu überfegen fei: „Nehmet in die Züngerfchaft auf alle Völker. Alſo aber machet mir die Leute zu Züngern, indem ihr fie zuerft taufet und dann lehret.“ Übrigens fei auch dann Feine Waffe gegen die Kindertaufe aus der Stelle zu gewinnen, wenn man pasmtevoore mit docete überjege, denn bei Erwachſenen folge natürlich die Taufe ber Predigt nad.

Dent unterſcheidet zwifchen Befchneibung und Taufe und will letztere bloß dem geiftlihen Samen Chrifti zuerfennen; aber Baber frägt, woraus man wifjen fönne, wer mit Sicherheit dazu gehöre. Denk entgegnet nicht ungeſchidt, auch die Unterſcheidung des Herrnleibes im Nachtmahl fei nicht zu kontrollieren. Wenn Denk das bloße „nicht Widerfprechen zur Stunde des Taufe“ ?) zu dürftig findet, fo Hält ihm Bader entgegen, zum mündlichen Bekennen, wenn's nur darauf ankomme, fönne man am Ende auch einen Papagei äbrichten. Und fo gehts im ftichelnder Rede und Gegenrede fort. Bedeutſam ift nur, wie nachdrücklich Bader auch hier die pädagogiſche Bebeutung der Sindertaufe hervorhebt: fie fei „ein fonderliher Ermahner und Wächter, der täglich ermahne, um fo ernftlicher in der Kinderzucht anzuhalten“; Mißbrauch hebe den rechten Gebrauch nicht auf. Auf der SKindertaufe ruhe ein Segen, mit ihr pflanze ſich der chriftliche Name und der Buch» ftabe des Evangeliums von Gefchlecht zu Geſchlecht fort, und es fei alfo aud die Möglichkeit einer Belebung des Buchſtabens zur Erkenntnis des Geiftes gegeben. So hange u. a. ber Segen ber

1) Bader bemerkt am Schluß, er Habe bieje® „Minimum“ feines Wiſſens zuerſt firiert, er Kaffe fi) aber belehren. Schriftgemäß jet jedenfalls, daß offenbares Widerfireben mit Worten oder Werfen (Laftern) von ber Taufe aus- ſchließe; das mindefte alfo, was man verlangen könne, fei ein Nicht ˖ wider- ſtreben.

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Neformationszeit mit der Kindertaufe zuſammen. Die Forderung, daß die Lehre vorausgehe, Habe nur dann Sinn, wenu man darunter’ die Einbürgerung des Evangeliums und des chriſtlichen Namens bei der Gefamtheit verftehe. In diefem Siun aufgefaßt fei ja allerdings Lehre und Glaube das prius, die Taufe aber das posterius.

I.

Zwinglis Korrefpondenz mit den Berner Reformatoren Haller, Kolb ıc. über die Taufftage.

Wie an allen Hauptherden her Reformation, fo erhob aud in Bern der Unabaptismus fein Haupt. Auch dort war es belichte Taktik, die Prediger des Evangeliums zu verdächtigen, als ob fie im geheimen wenigftens einverftanden wären. Haller glaubte fih da⸗ ber Zwingli gegenüber verteidigen zu müflen. In einem Brief vom 29. Nov. 1525. (Zw. Opp. VII, 441), worin er fih für Überfendung des Taufbuchleins bei Zwingli bedanft, ſchreibt er zu feiner Mechtfertigung: „Utcunque et Thomas et ego delatä simus apud te, eo tamen insaniae nunquam devenimus, ut puerorum baptismum negaremus. Collocuti sumus saepe de hac re, sed illius animi nunquam fuimus, ut catabaptis- mum affırmaremus. Seducit multos scripturarum plana alle- gatio (wohl oberflählicher Schriftbeweis) Balthasari. At ubi ex te imposturam (Verdrefung Verfälſchung) et praeter eam Testamenti rationem (geht woßl auf ben „vom ewigen Bunb“ hergenommenen Beweis fiir die Sindertaufe) viderint, procul dubio aliter sentient. Mentem meam nunc habes de tota Catabaptismi causa, ut potius emorier quam vel rebaptisem vel rebaptismo consentiam.“

Immerhin Scheinen die Prediger einer Anleitung zu erfolge reichem Kampf fehr bebürftig gemefen zu fein; fie hatten nämlich entgegen der zu Gemwaltmaßregeln meigenden Regierung die Über» zeugung, „ihre Sache fei es, alles mit dem Schwert des Geiftes entweder auf der Kanzel oder in öffentlichem Geſpräch zu wider- legen“, und fo wendeten fie fich denn wiederholt an Ziwingli, der

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fie nicht Teicht zufrieden ftellen konnte i). Bei einer Hausburdr ſuchung in der Morgenfrühe war man auch wiedertäuferifcher Schriften Habhaft geworden; „articuli eorum‘ ?) nennt fie Haller und überſendet fie Zwingli zur ſchriftlichen Widerlegung. Namentlich fegten die Wiedertänfer den Prebigern duch Eifern gegen die mit ber SKindertaufe noch verbundenen römiſchen Miß- bräuche zu und brachten fie dadurch wirklich in peinliche Verlegen heit. Zwingli riet unterm 22, Mai 1527 (Opp. VI, 71), wohl zu unterſcheiden zwifchen den frommen und unſchuldigen und zwifchen den thörichten Zuthaten; betonte aber, daß auch das Aller- abgefchmadttefte die Gultigkeit der Taufe nicht aufzuheben vermöge. Dean könne und folle den Wiedertäufern gegenüber das Verwerfe liche zugeben, gleichwohl aber in praxi nicht radikal verfahren, fondern „pleraque ferre ad tempus“?). Man könne fogar ihr Drängen auf Abſchaffung diefer Mißbräuche benügen zu einem ge

3) Auf einen Tangen Brief Hin dod) wieder (Zw. Opp. VIIL, 66): „At ut rem dilueidius nobis aperias precamur.“ Cf. VII, 50.

2) Ein Schriftſtuck diefes Titels widerlegt Zwingli noch im Herbſt dee Sahres 1627 im feinem Elenchus öffentlih (Zw. Opp. III, 388); vgl. das über die litterariſche Beranlafjung des Elenchus in der Abhandlung über Zwinglis Tauflehre Gefagte. Zwar bemerkt Zwingli III, 862, daß er die anabaptiftifchen Schriftftüce, die ev fi zu widerlegen vorgenommen, von Baſel durch Öfolampab, vir vigilantissimus, erhalten, aber zugleich auch p. 388, daß diefe articuli, im vielen fchriftfichen Exemplaren vorhanden, in ihrer aller Händen feien, und Haller jagt ja in feinem Brief an Zwingli vom 25. April 15627 (Zw. Opp. VII, 49) ausbrüdiih, die Wiebertäufer, deren Käufer durchſucht und bei denen die fraglichen Schriftfüde gefunden worden, feier von Bafel Hergelommen. Es miüfjen folder Dokumente verichiedene geweſen fein (copiam factionis eorum eorum arma et fundamina). Ob «6 biefelben find, die Zwingli im Elenchus widerlegt und ob wir aljo aus biefem ihren Inhalt kennen lernen, in freifich nicht gewiß, aber wahrſcheinlich. Allerdings ſtimmt zu dem im Elenchus Abgedruckten nicht, was Haller in feinem Brief am Schluß über die Behauptungen ber Gegner jagt: „Admiserunt etc.“ Doch kdunen fie diefe Aufichten auch in der p. 49 erwähnten Unterrtdung were fodzten haben.

8) Freilich über alles Maß hinaus ging das bei einem Marienbilde im Rauton Bern übliche Taufen von Aborten und toten Kindern, welches einträge Hehe Geſchäft mehr als 80000 Pfund abgeworfen, bis ihm emblich durch Wer» bremumg des Idols ein Ende gemacht wurde (Zw. Opp. VII, 147).

618 uſteri

wiſſen Druck auf die Obrigkeit, „freier einher zu gehen auf dem Wege bes Herrn“. So müßten durch Gottes Gnade felbft die Gegner der guten Sache noch vorwärts helfen.

Auch über bie Frage, inwiefern Glaube zur Taufe erforder- lich, feheinen die Berner nicht Har geweſen zu fein, wenigftens in⸗ formiert fie Zwingli unterm 9. Dezember 1529 (Opp. VII, 380) mit nichts zu wünfchen übrig Taffender Deutlichkeit. Die Stelle, die zu den bündigften in feinen Schriften gehört, ift in der Ab- Handlung über feine Tauflehre ſchon im Auszug mitgeteilt worden.

II.

Leo Indae über die h. Taufe.

Diefem Freund und Mitarbeiter Zwinglis gebührt zwar nicht das DVerdienft, die Tauflehre mehr oder weniger felbftändig ent= widelt, wohl aber fie in feinem größeren Katechismus durd Zus fammenftellung von Auszügen aus Zwinglis früheren und päteren Schriften in anfprechender Abrundung dargeftellt zu Haben ). Et« was Neues, Originelles ift wenigftens in diefem Lehrftüc nicht zu finden; Hingegen gewährt e8 Befriedigung, die disjecta membra Zwinglifcher Lehrauffaffung zu einem einheitlichen Ganzen zufammen- gearbeitet zu fehen. Leo Judaes Katechismus fand ungeteilten Beifall, wurde die Grundlage des katechetiſchen Unterrichtes in der zurcheriſchen Kirche und ſtellt jedenfalls den fpezifiich Zwinglifchen Lehrtypus, wie er bis zu der Einigung mit Calvin, mas bie Satramentslehre anlangt, unangetaftet blieb, authentifch dar.

Das göttliche Motiv zur Gewährung von äußerlichen Zeichen und religiöfen Zeremonien wird genau wie am Anfang der Schrift vom Kindertauf erläutert: „Was alle Völker hatten, wollte Gott aud) den Seinen nachlaſſen, daß ihnen an ihrem Gott nichts ger

3) Bullinger in der Vorrebe: „Denn er (eo Judae) fih auch nicht ſchamt, aus anderer gelehrter Diener Arbeit das Kommlichſte abzufchreiben und in das Seine zu feßgen, dieweil gleiches nicht nur von den Allerhochgelehrteſten der uralten Lehrer, fondern and von ben h. Propheten felbft geichehen if.“ Mit dem gegenwärtigen Begriffen vom litterariſchen Eigentum fteht es allerdings nicht im Einklang, daf dieſe Auszüge nicht jeweilen ale Eitate bezeichnet find. Es thut fich darin eine gewiſſe, das „alles ift euer” geltend machende dmAdrns kund.

Weitere Beiträge zur Gedichte der Tauflehre zc. 69

bräche und fie vor ber Verſuchung die Heiden nachzuahmen bewahrt blieben.“ Bon innerlichen Wirkungen eines Äußerlichen als ſolchen Tann freilich im Neuen Bund noch weniger als im Alten die Rede fein. Bei der Definition von sacramentum bereinigt Leo, nad Erwähnung des Wortfinnes „Eid“, die jpätere Darftellung Zwinglis mit der früheren und ftellt folgende zwei Bedeutungen auf: 1) Zeichen eines Heiligen Dings, dadurch dasjelbe und vor⸗ getragen umd angebildet wird. 2) Pflichtzeihen, dadurch wir und zu biefem Beifigen Ding verbinden und verpflichten,

Fürs erfte foll nämlich das „dur den Gebrauch und die Bedeutung geheiligte Waſſer“ Hindeuten und Hinführen anf das innere wefentlihe Ding, d. 5. auf die Wiedergeburt und Reinigung im heiligen Geift. Dem äußeren Menſchen ift das äußerliche Zeichen gegeben, daß es ihn aufs Innere führe. Es vermittelt dabei der Glaube. Diefer befommt nun auch vom äußeren Menfchen her einen Antrieb, Chriftum mit feinem ganzen Verdienft, Sünden« vergebung und Wiebergeburtögnade, Rechtfertigung und Heiligung (beides wird durch die Taufe bezeichnet ?)) anzuziehen. Sold ein Hinweis auf den Heiland war auch die Taufe des Johannes. Zur Veranſchaulichung deſſen, daß das „Bezeichnen und Bedeuten“ zugleich ein „vor die Sinne tragen“ im konkreteſten Sinn ſei, werden bie früher *) mitgeteilten Stellen aus ber Expositio Zwinglis und aus der Schrift gegen Ed wörtlich angeführt.

4) Dies ins Licht geftellt zu Haben, bezeichnet Schweizer, Reform. Glaubensiehre II, 622 oben, als einen Vorzug des reformierten Syſtems, während Schenkel, Weſen des Proteflantismus I, 466 darin, freilich mit Unrecht, eine Abweihung von einer „objektiv theologiſchen Auffaſſung ber Taufe” erbfidt. Es Handelt fi ja nad; veformierten Grunbfägen bei den Saframenten allerdings um eine objektive Gnadenmitteilung, wiewohl nur unter Borausfegung ber ordnungsmäßigen pſychologiſchen Vermittelung. Das Taufſakrament ift zunächft Darftellungsmittel und bringt durch feine Symbolik ſowohl die objektive Sündenvergebung als auch die allerdings ſubjektiv zu ver - wirklichende Wiedergeburt zur Anſchauung. Es ift nun nicht abzufehen, warum wicht, wo fubjeftive Bedingungen geftellt und erfüllt find, auch bie beides wir« ende Gnade duch Bermittelung bes Gaframentögenuffes ordnungsgemäß Lönnte dargereicht werben. Bei der Rindertaufe kann natürlich bezüglich ber Wiedergeburt nur von einer Weihe zum Chriftenftand die Rebe fein.

2) Im der Abholg. über Zwinglis Tauflehre.

“2 Begel

Es Lägt fich zum voraus benfen, baß Hingegen Leo feine Eitate zur Erläuterung des Pflichtzeichenbegriffs aus Zwinglis Taufbüch⸗ lein entnahm. Er geht von der Analogie der Geſchneidung ans nud vechtfertigt daran auſchließend die Kinbertaufe, beftätigt alfe nur bie oben ausgeſprochene Anficht, daß das Intereſſe, bie Kinder⸗ taufe zu rechtfertigen, auf jene Analogie und dieſe hiuwiederum anf den Pflichtzeichenbegriff geführt. Die dem Kind auferlegte Ver- pflichtung zum Chriftenwandel als die eine Seite des heiligen Dinge, das durch die Kaufe bezeichnet und vor die Gimme getragen wird, fommt bier nicht mehr zur Sprache, fondern nur, genau nach dem Taufbüclein, die den Eltern anferlegte nnd von ihnen übernommene Verpflichtung mit Bezug auf das äußere Sehren, auf die chriſtliche Erziehung. Und am Schluß heißt es noch unter beutlicher Anfpielung auf die Wiedertaufe ebenfalls nah Zwingfi, die Taufe fei nicht ein neues, durch Zwang aufzurichtendes ?), zur Barteiung dienendes Gefeg, fondern ſchlicht und recht die Äußerliche Kundgebung einer Pflicht.

*

Alphäns und Klopas. Bon

Wextzel

Baßor in Vandeliew.

Bor elf Zahren hat der Unterzeichnete in einem Auffage über „Die Brüder des Herrn“, ber in der „Monatsfchrift für die evangelifh + lutheriſche Kirche Preußens“ (1871, ©. 205ff.) ger druckt erſchienen ift, bie Unfiht vertreten, daß diefe Männer Jeſu

3) Wie dazu bie obrigkeitlichen Mandate paßten, welde die Kindertaufe ‚erzwangen, ift freilich ſchwer abzufehen.

Alphaus und Klopas. ea

Hafbbrüder von ber Maria geweſen feien, und fam bei der Wider» legung ber entgegenftehenden Anſicht auch auf die Behauptungen, die von den Gegnern ans einigen Stellen in den Erzählungen ber. Evangeliften von dem Leiben und der Auferftehung bes Herrn abs geleitet. worden, nämlich:

1) daß Apuios und Kionüs nur verfdiebene griechiſche Bor» men bes Hebräifchen Namens won feien, und einen und denfelben Mann bezeichnen,

2) daß feine Frau Maria geheißen, und die Schweſter der Mutter Jeſu gemefen fei.

Inbetreff des erfteren Satzes nun Habe ic; anerfannt, daß Arpaiog die regelrechte griechiſche Form für den aramälfchen Namen bie) fet, aber entſchieden beftritten, daß aus diefen Namen im Griechiſchen aud) Kiwnag geworden ſei; fondern dies, fagte ich, fet ein von 4poiog völlig verfchtedener Name, und Habe einen von Alphäus ganz verſchiedenen Mann bezeichnet. So viel ich weiß, Hat ſeltdem feiner unferer Gelehrten die von mir geltend gemachten Gründe wiberlegt, oder au nur von meinem Einfpruche gegen die allgemein Herrfchende 1) Annahme ber Identität beider Namen Kenntnis genommen. Sondern wie man ſich auch, inbetreff der Frage wegen der Brüder des Herrn für die eine oder andere der einander beftreltenden Anfichten entfchled, auf beiden Seiten ſcheint es für eine ausgemachte Sache zu gelten, dag Alphäus und Mopas berfelbe Name fein und denfelben Mann bezeichnen. Daß man meinen Einſpruch nicht beachtet hat, wundert mich eben nicht, da jene Monatsſchrift nur in einem mäßigen Kreife von Amts brudern gelefen wurde, und unferen Meiftern auf dem Gebiete der Schriftausfegung wohl gar nicht befannt geworden ift. Aber das befremdet mich, daß ſeit Winer von fo vielen gelehrten Männern teiner e8 der Mühe wert gehalten Hat, jene unhaltbare Meinung

1) gt. jedoch Ewald, der (Geſch. des Woltes Israel V, 253; VI, 189; VI, 241) Alphans und Klopas beftimmt unterfheibet, indem er wahrfchein- lich findet, dag Alphäus, der Vater Levis (Marf. 2, 14), auch der Vater des Jatobus war, wogegen ber mit dem Emmausjünger Kleopas (Luk. 24, 18) identiſche Klopas in Joh. 19, 25 nicht der Mann, fonbern ber Sohn der an zweiter Stelle genannten Maria fen foll. €. Richn.

62 Wetzel

einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen, deren fie, um ber itris gen Folgerungen willen, die man daraus ableiten zu dürfen wähnt, gar ſehr bedarf. Unbeſehens, wie es fheint, wird fie auch von folgen Männern, welche wegen ihrer wiſſenſchaftlichen Akribie be» ſonders gefhägt find, mie eine feftftehende Wahrheit weiter ge= geben. Darum erlaube ich mir im Intereſſe der Wahrheit und einer vorurteilsfreien Wiffenfchaft meinem Einſpruch an diefem Orte zu wieberhofen, und behaupte:

Aus won konnte nicht Krwmäg werden, und ift nicht daraus geworden. Alphäus und Klopas find ganz verſchiedene Namen unb benennen zwei ganz verſchiedene Männer.

Zur Rechtfertigung meiner Behauptung möge mir verftattet fein, das, was ich einft darüber gefhrieben, mit einigen geringen Änderungen zu wiederholen.

Was die Namen Alphäus und Klopas betrifft, fo werden wir es bem fleißigen, genauen und gewifjenhaften Winer wohl glauben dürfen, daß es einen Hebräifchen oder aramäifchen Namen won ge⸗ geben habe, wenn wir auch nicht in der Lage ſein ſollten, Lightfoot zu Matth. 10, 3 und Apg. 1, 13 ſelber nachzultſen; und 42- poios ift davon die regelrechte Verwandlung in griechiſche Form. Aber dag daraus auch KAwzas geworben fei, muß ich ganz ente ſchieden beftreiten, obgleich der genannte, unbedingt als fachverftändig anzuerfennende Gelehrte (in feinem Neal» Wörferbuch unter dem Artitel „Alphäus“) darüber fchreibt: „Die doppelte griechiſche Schreib» art geht von der doppelten Pronunciation des m aus, bie wir in der LXX finden; und wenn au aus LXX kein fiheres Bei- fpiel angeführt werden kann, dag n aud im Anfange der Wörter dur x wiedergegeben wurde, fo ift doch diefe Verhärtung des m im Griechifchen fonft nicht ohne Beifpiel.“ Durch feine Bemerkungen wird nicht mehr bewiefen, als daß der Übergang des r von sehr in das x von Kawräs nicht ſchlechthin außer dem Bereiche aller Möglichkeit überhaupt Tiege. Dagegen beweift der Thatbefund, daß diefer Übergang im allerhöchften Maße unwahrſcheinlich ift. Leider ift die Feftftellung und Vorlegung dieſes Befundes eine mühfame und undankbare Sache, mühfam, denn die Feſtſtellung fordert nichts Geringeres als eine Mufterung fämtlicher

Alphäus und Klopas. 63

hierher gehörigen Eigennamen in ber Beiligen Schrift und weit darüber Hinaus, im Joſephus u. f. w.; undanfbar, weil das Ver⸗ zeichnis derfelben in diefen Blättern wegen des Raumes, den es Einnehmen würde, unzuläffig fein dürfte, dem Druder viel Not machen, und am Ende von den geehrten Leſern überfchlagen werden würde. Deswegen habe ic) felber, wie ich offen befennen will, auch nur etwa ein halbes Taufend Hier einfchlagender Namen in verſchiedenen Teilen der heiligen Schrift verglichen und muß alfo die Möglichkeit zugeben, daß ein anderer Nachfucher Erſcheinungen entdecken möge, die von meinen Wahrnehmungen abweichen. Es find diefe.

Das geht in den allermeiften Fullen überhaupt in den grie- chiſchen Spiritus lenis über, daher Aryaios in der Ordnung ift, viel feltener in x, noch feltener in den Spiritus asper. In der Mitte der Wörter verfchwindet es daher fehr oft gänzlih. Die einzigen Ausnahmen, die ich gefunden habe, wo aus ein x wird, find außer den beiden. von Winer angeführten Beifpielen: Toßde flür hebraiſches may in der Stelle 1Mof. 22, 24 und Yaod« für hebräifhes mop durch das ganze 30. und 35. Kapitel des 2. Buches der Chronifa, nur noch der Name opp, der Neh. 3, 6 von den LXX durch @aoex wiedergegeben wird. Diefer legte wird aber Esra 2, 49 Pac, 1 Chron. 4, 12 und bei Nehemia felber 7, 51 Oeooq̃ gef hrieben, fo daß id) in 3, 6 einen Schreibfehler anneh⸗ men würde, wie von folchen bie Namenverzeichniffe in den Büchern Nehemia und der Chronika wimmeln, wenn nidt bie Wahrnehmung, daß im 30. und 35. Kapitel des 2. Buches der Chronifa der befannte Name des Ofterfeftes immer wieder paod«, nur im 30. Kapitel in einigen Handſchriften guoéx ftatt, wie fonft in der ganzen Heiligen Schrift, maoxa gefchrieben wird, diefe Vermutung befeitigte. Man darf aber nur diefe Ausnahmen anfehen, und mit den vielen Hunderten von Namen vergleichen, in denen das m in der Mitte oder am Ende der Wörter durch x wiedergegeben wird ober ganz verſchwindet, um zu fehen, wie wenig fie die Ber hauptung zu ftügen vermag, daß in Kiwräs das x aus einem im Anfange des Wortes entjtanden fei. Winer gefteht felber und über diefe Thatſache ſollte man nicht leichten Fußes hin⸗

a Begel

wegfchlüpfen daß man bis jegt feinen Namen gefuns den hat, in dem das n im Anfange eines Wortes in x verwandelt worden wäre; und wenn er fid) in diefer Hin- ficht Hinter phöniziihe Inſchriften flüchtet, die ich nicht habe ein- ſehen fönnen, fo wird, wie ich vermute, das Leſen der Monum. phoenic. von Gefenius, ©. 345, 6 wohl mur dem in feiner Meinung beftärten, daß aus mon habe Kiwnäs werden können, der gern darin beftärkt fein will 1).

Wer nicht die Geduld hat, die ganze Unterſuchung diefer Frage aufzunehmen, und ſich doch gern ein ungefähre® Urteil bilden möchte, darf nur einige Kapitel im Anfange des 1. Chronika- Buches in der Stierſchen Polygotte durchgehen, oder Namen wie ’Towrıg, "Iodyva, Avavlas, Avvuc, Avavos mit Yypiv und mh, und in den Geſchlechtsregiſtern die griechifche und hebräifche Geſtalt folder Romen wie ’Eveiy (Fun), MaIovonrd (nbyinp), Nee (1), Zald (may), Noxco (AM), Oag& (mM), ’Toacx (pr731), "Bopau (myn), Nauoocᷣ/ (ter), “Poßoge (Dyar)- Aral (OR), "Elenias PM) u. ſ. w. vergfeihen, um den Übergang des m von wor in das x von Kiwnäs höchſt unwahrſcheinlich, dagegen. die Forde⸗ rung geredjt zu finden, daß der, welcher die Identität von AAgeios und Kiwnäg behauptet, erft bewelfe, daß aus won Monãc wir · den konnte und wirklich geworben ift.

Dazu genügt aber auch noch nicht ein einzelnes Beifpiel, we m im Anfange des Worted zu x geworden ift; denn der Name Konräs giebt noch zu anderen Bedenken Anlaß, die ich hier nur turz berühren will. Dahin gehört die Zufammenziehung der Eile dr in xa, das m im Kiomag, ſtatt deffen man in Übereinftimmurg mit verwandten Erjheinungen ein Y erwarten follte, vielleicht auf das äg ftatt acoc für ’-, gewiß aber, daß zu der Einfchiebung det @ die aramäifche Form des Namens nicht die geringfte Beran laffung fehen laßt. Kurz, das Wort Kiwnüs, fofern es aux or) entftanden fein fol, iſt faft in jedem Laute mit Bedenle befaftet, und wer die Identität der beiden Namen behauptet, dar

1) Das Citat bei Winer foll wohl heihen Gesen. Momum. phoen: 8 Handelt fi um Yon = affyr. Hi-lak-ku == griet. Kıksscter,

Alphäus und Klopas. 6%

ſich der Aufgabe nicht entziehen, für die Möglichkeit und Wirklich⸗ feit den erfhöpfenden Beweis zu führen. So lange er diefen Be- weis ſchuldig bleibt, behaupte ih, daß aus br Kdmmäz nicht geworden ift, weil es nicht daraus werden fonnte 9).

Wendet mir jemand ein, daß ich dies legte eigentlich nicht ge⸗ nügend bewieſen Habe, ich Hätte nur bie Unwahrſcheinlichkeit nach⸗ gewiefen, Hätte aber die Möglichkeit frei laffen müffen, daß noch Beifpiele gefunden werden könnten, die gegen mic) fpräden, fo er- widere ich: daß vor allem denen, die die Identität der beiden Namen behaupten, die Beweisführung für ihre Behauptung obliegt, und daß es für fie micht genug iſt zu jagen: Ich glaube das. Diefe meine Forderung ift nicht allein einfach gerecht, fondern auch billig, weil jene Beweisführung mit mäßigen Mitteln gergeftellt werben Tann, während ber Beweis für die Unmöglichkeit der Iden⸗ tität beider Namen maßlos ift, und niemals bis zum abjchließenden Ende geführt werden kann. Daß fie durchaus unwahrſcheinlich ift, glaube ich bewiefen zu haben, und mein Einfprud wird fo lange ftehen bfeiben, als die Behauptung meiner Gegner nicht durch ſchlagende Beifpiele gefichert wird.

Über den Einfluß, den mein Einſpruch auf die Entſcheidung der Frage wegen der Brüder des Herrn hat, und über die Ber deutung diefer Frage für die Würdigung der Ehe Habe ih mich in meinem anfangs erwähnten Auffage ausführlich ausgeſprochen; die die Verhandlungen bdiefer Frage kennen, wiflen es ohnehin. Man wird alfo nicht fagen dürfen, daß der Streit über die Iden tität oder Verfchiedenheit ber beiden Namen Alphäus und Klopas ganz bedeutungslos fei. Wir die wiſſenſchaftliche Berechtigung meines Einſpruchs aber ift e8 mir angenehm, mich aud auf das Wort eines Mannes berufen zu dürfen, dem wegen feiner aner« fannten , ausgebreiteten und gründlichen Gelehrfamfeit niemand die Berechtigung abſprechen wird, gerade in diefem Streite eine beach⸗

1) Übrigens ſcheint Lightfoot feine lautliche Umwandlung von EIN in Meophas anzunehmen, fondern eine Umformung des hebrälſchen Namens in einen Agılich Mingenden griechiſchen; denn zu Apg. 1, 18 führt er als analog die Umformung des Namens Saulus in Paulus an. €. Kichn.

Theol. Stud. Yahıg. 1888. 4

6% Wetzel, Alphäus und Klopas.

tenswerte Meinung auszuſprechen. Herr Prof. Dr. Delitzſch in Leipzig ſchreibt mir in einem Briefe, mit der Erlaubnis, auch Öffentlih davon Gebrauch zu machen, Folgendes:

„Es ift durchaus unzuläffig, auf vermeintliche Identität der Namen Aryaiog und Kiwras die Anfiht zu gründen, daß die Brüder Jeſu Söhne der Schwefter feiner Mutter, einer zweiten Maria, geweſen feien.

„Der Name Arpatos iſt hebraiſch. Er gehört der Gruppe abrı an, und lautet hebräifch won. Dagegen ift ber Name Kiw- ns, Joh. 19, 25, oder Kisonds (fo ift Luk. 24, 18 zu accen- tuieren) die Verkürzung des Namens Ksönargog, alfo ein grie- chiſcher Name.

„Es kommt vereingelt vor, daß Hebräifches m griechiſchem x ent- fpricht, obwohl mir außer wÄnopbn xAsyidon (Waſſeruhr) fein Beifpiel gegenwärtig iſt ). Aber in dem vorliegenden Falle hans delt es fih um zwei Namen, die fo wenig identifch find, als He- bräif und Griechiſch.

„Demgemäß lautet der Name Aryaros (Name der Väter des Apoftels Jakobus und des Apoftels Matthäus) in meiner Über» ſetzung ®) porn (mit afpiriertem D von wegen der nur loſe geſchloſſe nen erften Silbe), und der Name des Emmaus-Füngers (Luk. 24, 18) bonbp >).

„Nach der Tradition bei Hegefipp war Klopas ein Bruder des Joſeph und Vater des auf Jakobus den Gerechten gefolgten zweiten jerufalemifhen Biſchofs Simeon. Die Kombination von Klopas und Alphäus Tonnte feinem der Alten einfallen. Die Namen Liegen zu weit von einander.“

So weit die Worte des Herrn Dr. Delitzſch, in denen ic, was er, meine Worte berichtigend, jagt (über dad D und daß der

1) In dieſem Nomen appellativum entfpricht hebräiſches M griedjtfchem =, nicht griechiſches x Hebräifchem N.

2) Nämlich des Neuen Teftamentes ins Hebräiiche.

3) Auch die frühere Ausgabe des hebräiſchen Teſtamentes hat da nicht DT), fondern SERÖp- eh füge bei, daß in ber Pefdhito AApezos dur halphaj, dagegen fowohl Käwmäs in Joh. 19, 25 ale Käconäs in Zul. 24, 18 ducc) Mejöpha wiedergegeben if. €. Riem,

Nele, Vemerkung zu: Uperi, Das Original der Marb. Artt. 627

Name wor hebräiſch, nicht aramaiſch fei), ebenfo mit Dank an nehme wie das, womit er meine Anficht unterftügt. Daß übrigens Klopas und Alphäus nicht diefelbe Perfon geweſen find, wird auch aus den in der heiligen Schrift vorliegenden Bemerkungen um nicht mehr zu fagen höchſt wahrſcheinlich. Doc ich will Hier nit den Streit über die Brüder des Herrn noch einmal verhan- dein; ich will nur bezeugen, daß die Behauptung der Identitut der beiden Namen Apeios und Kiozäs nit, wofür man es ger wöhnlich nimmt, eine ausgemachte Wahrheit, fondern ein offenbarer Irrtum fei, und die Forderung hinſtellen, daß man entweder die Hoentität der beiden Namen mit ftandfeften Gründen beweife oder, wenn man das nicht kann, die fo oft daraus abgeleiteten Folge» rungen bei ben wifjenfchaftfichen Verhandlungen über die Brüder des Heren aus dem Spiele laſſe.

6. Bemerkung zu: Niteri, Das Original der Mar⸗ burger Artilel, S. 405. Bon

Dr. $. Ueftle, Diatonns in Münfingen (Witrttemberg).

Herr Ufteri nimmt an, die Artitef fein mehreren Schreibern in die Feder diktiert worden; dadurch erflären ſich am Teichteften die wenigen unbebeutenden Abweihungen der beiden zu Kaſſel und Zürich noch erhaltenen Dokumente. ebenfalls aber wurden fie nicht gleichzeitig diftiert. Das beweift die Korrektur im 8. Artikel des Zuricher Eremplars, die es im Gegenteil wahrſcheinlich macht, daß diefes durch Abſchrift entftanden fei. Die ausgeſtrichenen, im

Raffeler Eremplar fehlenden Worte „ober Euangelion Eprifti“ 41*

623 Refle, Bemerkung zu: Uſteri, Das Original der Mach. Artt.

find eine irrtümfiche Wiederholung der zwei Zeilen vorangekenimn Worte, was befonders dadurch dentlih wird, daß der Schrei ſchon aud das nächte dort auf „Ehrifti" folgende Wort „fonden" zu ſchreiben angefangen hatte, ehe der Irrtum bemerkt murk. (Im Abdrud war deswegen kein Grund, dies & mit lateiniſcer oder, wie in den Anmerkungen, mit Schwabacher Schrift wirkr zugeben, als ob diefer Buchſtabe etwas Befonderes bedeutet.) Würk die fehlerhafte Wiederholung bei gemeinfamen Diktieren geſchehen fein, müßte fi auch im Kaffeler Exemplar eine Spur derſelben finden, was nicht der Fall ift. Am leichteften geſchieht aber ir tauntlich ſolch Abfpringen des Auges bei einfachem Abjchreiben, wie jeder weiß, der ſchon viel mit Abfchreiben von Codices zu tun hatte,

Rezenſionen.

1.

Eduard bon Hartmann, „Das religiöfe Bewnßtfein der Menfchheit im Stufengang feiner Eutwickelung“ und „Die Religion des Geiſtes“. Berlin 1882.

Die genannten Arbeiten des Verfaſſers gehören entſchieden zu den Hervorragenden Leiftungen auf dem Gebiete der Religions⸗ philoſophie. Der Verfaffer, welcher befanntlih dem Immanenz⸗ prinzip huldigt, fucht in der erften die refigiöfe Entwickelung der Menſchheit als den immanenten Prozeß bes Weltgeiftes zu erfaffen. Diefe Tendenz muß notwendig da8 Auge für die allmähliche Ent- widelung des religiöfen Bewußtſeins ſchärfen, welche als eine immanent teleologiſche angefehen wird, fo daß jede Stufe des teligiöfen Bewußtſeins als notwendiger Durchgangspunft zu der höchſten Stufe begriffen werden fol. Es Tiegt in der Art diefer Methode, daß fie eine Verbindung des empirifchen und apriorifchen Elements fucht und die religiöfe Vernunft in der Entwidelung, die fie empiriſch durchläuft, darftellen wil. Das treibende Prinzip ür den Fortſchritt ift da notwendig einmal die logiſche Kons equenz. Allein hierin unterfcheidet fi Hartmann von Hegel, daß r fich nicht mit dem formalen Logifchen Prinzip begnügt. Vielmehr oird ikberall auch die natürlich bedingte ethifche Seite mit Hinzugezogen, veiche nicht bloß aus der logischen Idee abgeleitet wird. Das zweite zrinzip Hartmanns, der Wille, ergänzt das erfte; daher er überall ie religiöfe Entwidelung im Zufammenbang mit der ethifchen bes achtet. Wir wollen in aller Kürze den Prozeß an und vorüber» ehen laffen, wie er von Hartmann zum Zeil originell vorgeftellt

682 Hartmann

wird, wenn er auch öfters eine tiefer gehende Kenntnis des empi- rifchen Stoffes vermiffen läßt.

In etwas uuflarer Weife beginnt er damit zu zeigen, daB and die Tiere Religion Haben, nämlich im Verhältnis zum Menfchen, wo: bei aber eben gerade das fehlt, was nad) ihm felbft bie Religion ermög- licht die makrokosmiſche Bedeutung der Objekte, die der Menſch beobachtet und als göttlich verehrt, welche eben für die urfprüngfice Form der Religion die Conditio sine qua non ift, für dem Heno⸗ theismus. Weshalb er audin „der Religion des Geiftes“ wieder rund- weg abfeugnet, daß bie Tiere Religion haben. Die Ausführung über die Entftehung der Religion aus dem eudämoniſtiſchen Triebe ift Feuerbach entlehnt, nur dag Hartmann freilich ohne zu zeigen, wie beides zufammen geht die Fähigkeit unintereffierter Be obachtung und äfthetifcher Eindrüde zur Erklärung der Religion mit Hinzuzieht. Letztere ſollen es möglich machen, daß der Menſch fih auf den Makrokosmus richtet, den Himmel und feine Erſchei⸗ nungen beobachtet und dann fie in fein endämoniftiiches Intereſſe sieht, fie als die Erfüller feiner Wunſche betrachtet und fo zu ihnen in ein religiöfes Verhältnis tritt. Jubezug auf den Henotheismus, den er als bie Grundform der Religion anfieht, fchliegt er fid im wefentlichen an die bekannten Anfichten von Mar Müller an; es find Hauptfächlich drei Kreife von Naturerfcheinungen, welde als göttlich, aktiv angefehen werden, Himmel und Erde, Sonne und Mond, Gewitter. Aber immer ift es ein und dasfelbe Gött⸗ liche, das in biefen Weſen aktiv ift; fie alle find verfchiedene Er- ſcheinungsformen des Göttlichen. Um fich die Gottheit finnlic näher zu bringen, wird fie zu beftimmten einzelnen Objekten in ein ber fonderes Verhältnis geſetzt. Zuerft bleibt es bei einer bildloſen Berehrung hochſtens ein von Himmel gefallener Stein x. ift das Zeichen des Gottes —; fpäter aber wird die Gottheit zon- morphiſch, dann anthropomorphiſch vorgeftellt. Der der hens⸗ theiſtiſchen Stufe entfprechende moralifche Inhalt ift durchaus eudämoniftifher Natur. Wie die Gottheit eine Art praktiſche Ab⸗ folutheit Hat, um die Wünfche der Menfchen zu erfüllen, fo haben Opfer, Gottesfurcht, Neue, Schulobewußtfein eudämoniftiihe Ber deutung und die fich im eubämoniftifchen Intereſſe bildende ſoziale

Das religiöje Bewußtſein der Menichheit ac. 688

Ordnung wird den Göttern unterftellt und wird zu einer Art fitte licher Weltordnung; fo entfteht eine heteronom⸗ eudämoniftifche Moral, welche als der Wille der Götter aufgefaßt wird. Der Henotheismus bietet zwei Möglichkeiten weiterer Entwidelung; er pflegt entweder die Seite der Einheit unter Vernachläſſigung des Konkreten Hieraus wird abftrafter Moniemus, der aber, da das abftrafte Eine feine Naturerfcheinung mehr ift, über ben Naturalismus Hinausführt —, oder das Intereſſe am Konfreten macht fich geltend, und der Henotheismus geht in Polytheismus über. Von dem Polytheismus aus ift eine auffteigende und eine abfteigende Linie möglich. Verzettelt fi das religiöfe Bewußt fein, fo treten immer mehr alle zufällige einzelne Naturdinge in den Vordergrund, und es tritt Animismus, Zauberei, ſchließlich Fetiſchismus ein, mit dem die Religion aufhört. Fetiſchismus ift ihm mit M. Müller u. a. der Verfall der Religion. Der Poly- thelsmus Täßt aber auch eine andere Möglichkeit zu. Wird näme lich die Einheit nicht völlig aufgegeben, fondern im Bewußtſein, wenn auch in abgejchwächter Form feftgehalten und der fittfiche Gehalt vertieft, fo kann der Polytheismus ein Durchgangspunkt für den Fortſchritt werden und auch das in doppelter Weife, ent» weder fo, daß die einzelnen Götter menfchenähnlich gebildet und mit teilweife geiftigem Inhalt erfüllt werden und hierdurch gewinnt das teligiöfe Bewußtſein an konkretem Inhalt, was es an Einheit ver-. liert, ohne daß deshalb die Einheit völlig verloren ginge, oder fo, daß die Götter ſyſtematiſiert und zu einer Einheit zufammengefaßt werden in theologifcher Spekulation. Beide Formen ?) führen freilich nicht über den Naturalismus völlig hinaus, weil die polytheiſtiſchen Gottheiten ihre Naturbafis nicht verlieren. Der Unterfchied zwiſchen beiden Richtungen iſt wefentlih nur der, daß die erfte Richtung mehr dem Konkreten zuneigt, und dur das, wenn auch teifweife noch naturaliftifch und eudämoniſtiſch bedingte Sittliche bie Böttergeftalten vergeiftigt und daß die andere mehr der Einheit zuftrebt, ‚auf Koften der Vergeiftigung und perfünlichen Beftimmtheit der Bötter, während fie das ebenfalls noch nicht von Naturalismus befreite

1) „Anthropoide Vergeiſtigung“ und „theologiihe Syſtematiſierung bes denoiheismusꝰ.

634 Hartmann

Sittliche theokratiſch beftimmt und den Menfchen in den Dienft des noch teilweife in den Naturprogeß verwidelten Gottesreiches ftelit. Immerhin aber bringen beide Richtungen als Nefultat ihres Prozeſſes die Notwendigkeit zutage über die natwraliftiiche Baſis zu der fupra- naturalen aufzufteigen. Von dem Henotheismus geht alfo ein doppelter Weg: der eine führt wie bemerkt zur Negation des Nas turaliftifchen durch Negation alles Konkreten abftrafter Monis⸗ mus; der andere führt durch die angedeutete Fortbildung des Heno- theismus zu fnpranaturalem Monotheismus; die Sittlichleit des Monis⸗ mus ift negativ, aber neigt zur Autonomie, die des Monotheismus iſt pofitio, aber Heteronom. So bedarf es einer Synthefe, in welcher die fupranaturale Gottheit dem SKonfreten nicht fremd iſt und doch auch nicht, mie im Theismus, der Welt ferne bfeibt, fondern ihr immanent ift, in welder die Ethik nicht negativ ift, aber auch nicht wie im Theismus heteronom, fondern autonom. Und das ift der Ball im konkreten Monismus des Geiftes. Wir Haben alfo im großen zwei Entwidelungsftufen zu verzeichnen, welche dem urfprünglichen naturaliſtiſchen Henotheismns entwachfen; eine die naturafiftifche Baſis nicht völlig überwindende Form mit zwei Zweigen, einem anthropoiden, mehr der Vielheit Rechnung tragenden, und einem füftematiflerenden, mehr die Einheit fefthaftenden, und eine jupranaturafiftifche Stufe, welche wiederum zwei Zweige Hat: einen, der völlig abftrafte Einheit erftrebt, und einem fonfreten, ber monotheiftifch beſchaffen ift. Überall ift es das fitte liche Element, welches den Inhalt diefer Stufen näher beftimmt, zunäcft der Eudämoniemus, fodann feine Vergeiftigung in indivi⸗ dueller und foziafer Form, fowie feine Beſchränkung durch eine noch naturaliftifch bafierte Theofratie, endlich feine Überwindung in einer autonomsnegativen und einer heteronom=pofitiven Ethit. Das Ziel ift Tonfreter Monismus mit autonomspofitiver Ethik (die freilich im letzten Hintergrund das negative Teßte Biel des Peſſimismus aud in diefem Werfe nicht ausfchlteßt, obgleich hiervon wenig gefagt wird). Fragt man, wie Hartmann fi den Fortſchritt als immanenten bedingt vorftelit, fo iſt es micht bloß die logiſche Notwendigkeit, die ein neues Gebilde hervortreibt, fondern ebenfo aud bie ethifche Notwendigkeit, die den Prozeß fördert und bedingt; möglich wird der»

Dos refigiöfe Bewußtſein der Menſchheit ıc. 65

ſelbe durch die providentiell angelegte Naturbegabung ber verfchier denen Völker oder Individuen, welche eine bejtimmte Entwicelungs« ftufe zu vertreten berufen find und die ihre Anlage mit immanenter Notwendigkeit entfalten, wobei ihnen die ebenfalls providentiell ber beftimmte Umgebung, Natureinflüffe und gefchichtliche Konftellationen zuhilfe kommen.

Ich will es nicht völlig unterlafen, mit ein paar Zügen die Entwicelung im einzelnen näher anzudeuten. Auf der Stufe der anthropoiden Vergeiftigung des Henotheismus fteht die in ihrem Prinzip vortrefflich erfaßte griechifche Religion als Religion der Schönheit und des Maßes mit einer Afthetifchen Ethik der Phantafte, welche nicht über verfeinerten Genuß hinaus fommt, wie überhaupt das Griechentum den Naturalismus, auf dem es aufgebaut ſei, nicht überwinde, Mit den Griechen werden die Ehinefen auf eine Stufe geftelft, fofern Maß und Ordnung das Zentrum ihrer Religion und Ethit fei. Eine andere Entwidelung nimmt bie römifche Reli⸗ gion, die er als bie utifitarifche bezeichnet; es ift die Moral des nüchternen praftifchen Verftandes, welche Hier den Inhalt ber Religion näher beftimmt, hier tritt da8 Staatswohl in den Mittel- punkt; fte ift fozialseudämoniftifch, wie die griechifche noch in» dividual-eudämoniftifch blieb. Die Religion wird Hier utilitariſch fätularifiert, und fobald das Römerreich feine Höhe erreicht Hat, tritt das Staatsintereffe wieder gegen das eudämontftifche Indivi— dualintereffe zurüd, Die dritte Form ift das Germanentum, in welcher ebenfalls auf naturaliftifcher Baſis eine gefühlemäßig tragisch beftimmte Moral zum Inhalt der Religion wird, womit ein Anfag zur Automonie gegeben ift, der fi in der Treue, dem tragiſchen Mitgefühl, der opferwilligen Hingabe offenbart; das Schuldbewußtſein tritt befonders Hervor, die Götter felbft find in diefen Prozeß verflochten aber doc wieder zu naturartig gedacht, um den Gedanken einer fittlihen Weltordnung in der Form einer univerfellen Sühne durchzuführen. Auch Hier trete der Individual⸗ eudämonismus wieder hervor, indem der Germane mit feinen Göttern dem drohenden Untergange nach Kräften entgegenarbeite, um das elende, durch Schuld verwirkte Daſein feiner felbft und feiner Götter noch ein wenig zu friften. Die anthropotde Vergei⸗

686 Hartmann

ftigung des Henotheismus vollzieht ſich alfo in der Religion der Schönfeit, der Nüglicfeit, der Tragik; ihr Inhalt ift eine phan⸗ tafte«, verftandes«, gefühlsmäßige Moral, welche wie die Religion die naturaliſtiſche Baſis, den Eudämoniemus, nicht überwindet.

Diefer Richtung ftehen die Vertreter der theologifchen Syſie⸗ matifierung des Henotheismus gegenüber. Diefe Syftematifierung kann aber nur ausgehen von jolchen, bei denen religiöſes und ſpelulatives Interefje Hand in Hand geht. Diefe Religionen tönnen alfo nicht Überlieferungerefigionen fein, find fein populäre Erzeugnis, fondern Probuft der Weisheit der Priefter, melde m ihrer Legitimation fi auf Offenbarung berufen müfjen, die auf Ju fpiration geftügt wird. Hier alfo ift der Ort für Offenbarungsreligionn, welche natürlich auch die religiöfe Ethik als Teil des theologiicen Syſtems als geoffenbarte behandeln. Die Offenbarung muß über den Zwed, den Anfang, das Ende der Welt Auffchluß geben; der Weltprozeß erſcheint hier als die teleologifche Entfaltung und Wirk: ſamkeit göttlicher Kräfte, die Menſchheit in Verbindung mit dem Geifterreich als Reich göttlicher Herrfchaftsbethätigung als The tratie. Hiermit ift die Aufgabe geftelit, alles in den Dienft vr Gottheit zu ftellen, und der Einzelne ift Hier Glied des Gottesreihet, und dadurch allein hat er Wert. Hier muß eine univerfelle mar krotosmiſche, eschatologifche Tendenz hervortreten.

Die erfte auf Offenbarung ruhende Theokratie ift die äghp tiſche, welche die Erde als Purgatorium betrachtet, um zu einer transcendenten Endämonie zu gelangen, zu welcher ber Menſch u der XTheofratie erzogen wird, ohne deshalb im Diesfeits al Eubämonie praftifch zu entfagen. Diefe Theokratie ruht auf den Yundamente einer abfoluten, in ſich mannigfaltigen Urgottheit, weit fih) in der Welt entfaltet, aber von der naturaliftiichen Baſis nid Tosgeföft ift, fondern zwifchen dem Weltäther und Geift in unklare Mitte ſchwebt. Alles ift Glied des Ganzen, des All-Einen, m bat in diefem Ganzen feine Stellung; alles hat feine beftimmt Bezogenheit zu dem Al-CEinen, ift in diefem Sinne Glied det Gottesreiches. Die zweite Stufe theologiſcher Spftematifierung it Henotheismus, ſtellt das Parfentum dar. Hier ift die Bermiſch von Boſem, Übel einerfeits und Gutem, Wohl anderfeits vr |

Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit zc. 637

fommen aufgehoben, indem beides auf vollfommene Weiſe geſchieden und an verfchiedene Götter verteilt ift, jedoch fo, daß das Boſe und Übel im Kampfe ſchließlich unterliegt, fo daß am Ende der gute Lichtgott fliegt. Der Menſch tritt in feinen Dienft, dient der Ausbreitung feines Reiches im Kampf gegen die Feinde (die Öremden) und in pofttivem Schaffen. Er ift dazu inftand ger fegt durch das geoffenbarte Geſetz diefer Theokratie; es ijt bier eine ethische Heteronomie mit der auftauchenden abfoluten fupra« natural» monotheiftifhen Spige erreicht. Der Grundbegriff iſt, weil die Sonderung von Bös und Gut vollzogen ift, der Begriff der Reinheit. Allein eine reine Durchführung der Geiftigfeit Gottes zeigt ſich nicht; der gute Gott ift mit dem phufiichen Licht zu⸗ fammengeworfen und dadurch wieder den naturaliftifchen Göttern gleihgeftellt,, dem entiprechend auch die Neinheit ?) ebenfo phyſiſch wie ethiſch beftimmt, und die Heteronomie endet in einem läftigen Zeremoniell, auch die eudämoniſtiſche Tendenz ift nicht überwunden, »a Übel und Böfes, Gutes und Wohl nicht geſchieden find.

So ergiebt der bisherige Prozeß zwar das Nefultat, daß der Begriff der Gottheit vergeiftigt ift; aber fo lange nicht die natura» iſtiſche Baſis überwunden ift, ſchwankt er zwiſchen Natürlihem nd Geiftigem widerſpruchsvoll Hin und her. Die ungeiftige Raturmacht foll zugleich geiftig fein, ein Widerſpruch, der durch le bisher befprochenen Religionsformen hindurch geht und um fo nerträglicher wird, je mehr geiftige Beftimmungen dem Gottes* griff zugefchrieben werden. Ebenſo ift der ethifhe Inhalt zwar bes eutend vertieft; der naturaliftifche Individunl-Eudämoniemus zwar ift üctgedrängt durch die Schönheit, die | ozial-eubämoniftifche Rich ng, die gefühlsmäßige Moral der Treue, Opferwilligkeit, Sühne dürftigfeit, durch die Idee des Gottesreiches, welches den trans⸗ ndenten Gudämonismus an die Stelle des irdifhen fegt, oder a Menjchen in den Heteronomen Dienft des guten Geſetzes ftelt, » die emdämoniftifhe Motivation zurüctritt; aber er ift nicht erwunden, fondern macht fi der naturaliftifhen Grundlage ent»

1) Bei dieſer Gelegenheit giebt Hartmann eine beachtenswerte Auseinander- ang fiber ben veliglöfen Begriff der Reinheit (&. 2487.).

688 Hartmann

fprechend überall bemerflih. So ift der Fortfchritt zum Sup: naturalismus notwendig.

Diefer zeigt ſich zunächft in der Form des abftraften Meonit- mus, welder nur das fchlechthin eine Sein kennt umd als Konkrete für Illuſion, Täufhung der Maja erflärt, dem Bra manismus. In diefer Form ift er Alosmismus, welchem cin Ethit zur Seite geht, die in Quietismus, myſtiſcher Kontempla— tion und Askefe gipfelt, aber einen durchaus efoterifhen Charaftır trägt und nur für die bevorzugte Klaſſe Wert Hat, während das Bolt fi mit einer exoteriſchen Moral begnügen muß. Die un verjale Erweiterung hat der Buddhismus zuftande gebracht, der zugleich, die Beſtimmungsloſigkeit des abjoluten Seins weiter vr folgt, dasjelbe für nichts erklärt und fo, da weder ein konkrete, nod ein abjtraftes Sein egiftiert, den abfoluten Illuſionismut vertritt, der freilich mit dem abfoluten Aufgeben alles Handelns und Erfennen® enden müßte. Allein das ift nach Hartmann nur die eine Seite des Buddhismus: als pofitive Ergänzung ftehe dem Illuſionismus die fittlihe Weltordnung zur Seite, welde eine autonome Sittlichfeit ermögliche, da ein heteronom befehlendes Ab folute nicht da fei; Hier fei es die Menjchheit, in welcher fid die fittliche Weltordnung in immanenter Weife offenbare, wenn auch auf der gegebenen Grundlage nur negative Tugenden, nicht eine produftive Ethit erwachſen könne. Diefer Standpunkt feheint Hartmann zwar au widerſpruchsvoll, aber doch Hält er die Hier erreichte Stufe für fo be deutend, daß er ausmalt, wie eine etwaige Reform des Bubbhiemus beichaffen fein müßte. Es müßte der Glaube an die fittliche WWeltord- nung von dem metaphufifchen Yllufionismus befreit werben. Das brahminifche abjolute Sein müßte infofern zur Geltung kommen, als da8 Streben nach der Einheit mit der fittlichen Weltordnung zur Ein: heitmitdem Sein führte, das mit dem geiftigen Inhalt der Weltordnung erfüllt fei. Berner müßte auch den Individuen eine wenigftens phäne

menale Realität zugefchrieben werden, dem entfprechend eine diejelben -

hervorbringende Naturorbnung als die Vorausfegung der fittlichen Weltordnung anerkannt werden; das Abfolute müßte zugleich Welt grund fein, aber von dem Einzelſein unterjchiedenes Sein, potentiel

unendlicher Grund des Geſchehens, der alles wirkliche Sein über

Das religiöfe Bewußtſein der Menfhheit ıc. 89

tagt und injofern transcendent if. Der Illuſionismus aljo muß befeitigt werden, dann kann der teleologijche Prozeß der fittlichen Weltordnung ein realer werden, der Einzelne wirklich mit an dem Erföfungsprogeß arbeiten, da eine reale Erlöfung notwendig, nicht bloß eine Illuſion zu überwinden ift. Dadurch wird der indifferen« tiftifhe Quietismus befeitigt; an feine Stelle tritt rüftige Mit» arbeit am realen Weltprozeß, der Erlöfungsprozeß ift. Im übrie gen brauchte wohlbemerft der Buddhismus nicht die peffimiftifche Bafis und das negative Endziel preiszugeben. Mit einem Worte, Hartmann will den Buddhismus Torrigieren, indem er für den Weltprozeß felbft einer, pofitiven ethifchen Bethätigung Raum ſchaffen vill, ohne den peffimiftifchen ſchlechthin negativen Schlußftein aufe geben. Wenn freilich nichts anderes als ein negatives Refultat jrausfommen foll, fo fragt man fi: Wozu die ganze pofitive Dittelwelt vor dem negativen Ende? Hartmann giebt hier der mpirifchen Wirklichkeit und der poſitiv ethiſchen Tendenz der hriftlichen Völker, die befonders auch in der neueren Philofophie zit Kant vertreten ift, Raum. Prinzipiell tft der Buddhismus fon« :quenter, wenn er dem, das in letter Inſtanz doch nur zugrunde then fol, auch die metaphyfifche Bedeutung abfpricht und der end» ültigen Wertlofigkeit der Welt einen metaphufifchen Illuſionismus ir Seite ftellt. Hartmann fieht daher ehr fcharf, wenn er felbft hauptet, daß diefe Reform dem Buddhismus nicht aus eigener raft möglich fei, daß vielmehr die fittliche Weltordnung und das -@ine mit Tonfretem Inhalte zu erfüllen nur gelingen könne, an man Religionen zuziehe, welche die Realität der Welt anerkennen, o auch einen pofitiv fittlichen Inhalt Haben, ohne deshalb im Ipineiftifch und naturaliſtiſch gefärbten Henotheismus fteden zu iben, d. h. die teiftiichen Religionen.

Der Monotheismus durchläuft eine Reihe von Stufen. Er ent- kelt fich bei den Juden aus dem naturaliftifchen Henotheismus zuerft Hilfe der Phantafiearmut, nationalen Gehäffigkeit und partikulari« hen Beſchränktheit, welhe es ermöglichen, daB Jaho zu dem ionalen Haupt und Bundesgott erhoben wird. Die Propheten ihärfen den Monotheismus, indem fie ihn univerfalifieren, der ihen Theokratie eine nationale Weltherrſchaft in Ausſicht

640 Hartmann

ftellen. Der Rationalgott wird zugleich immer mehr über die finnfihen Schranken Hinausgerüct und vergeiftigt, ohne abfolıt zu fein. Das Problem, wie ſich Abfofutheit und Geiftigkeit, Per ſonlichteit reime, ift noch nicht zum Bewußtſein gelommen. Di Zranscendenz Gottes ift noch nicht durchgeführt, er ift als Geiſ den Israeliten immanent, ohne völlig denaturiert zu fein. Die wefentlichen Eigenfchaften Gottes find die Bertragstreue, welche nd auf den naturaliftifchen Bundesftandpunft zurückweiſt, die Gerechti teit und Langmut, welche er in der Geſchichte des Volkes durch pro videntielle Erziehung des Volles und eben damit auch der Menſchheit bethätigt. Das Verhältnis zur Sünde weift bei der national Theofratie auf die Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen, Kollektivfünde und ⸗ſchuld, daher auch die Idee der Stellen tretung, nach welcher ein Unſchuldiger als Glied des Ganzen mit leidet, auch fr die anderen leidet, welche in der Idee des leibenden Sotteöfnechtes ihren Gipfel erreicht, defjen Tragik übrigens am Ende in äußere Eudämonie aufgelöft wird. Kurz der Standpunft der Bropheten ift der des primitiven Monotheismus, daher ihre Haupt: aufgabe ift, die bildlofe Verehrung des Nationalgottes und die Befeitigung der Verehrung anderer Götter durchzuführen. Nah Löfung diefer Aufgabe treten die Briefter an ihrer Stelle in im Vordergrund und begründen den Mofaismus. Die vollkomment Ausbildung des Monotheismus fordert die volllommen durchge führte Heteronomie des Gefegeaftandpunftes, welcher im Mojait: mus, dem Judentum und dem Judenchriſtentum zur Darftelung kommt. Je mehr die geiftige Perfönlichkeit Gottes Hervortritt, um jo mehr wird die Sittlichfeit heteronomes Gebot, auf Offen barung geftägt. Die Biftorifche Bedeutung des Mofaismus lg | darin, dag das Prinzip der Heteronomie zum alleinherrſchenden religiöfen Prinzip auf Grund des Monotheismus gemacht wit, wodurch das Sittliche vollftändig von dem naturaliftifchen Bode Tosgelöft und der Eudämonismus prinzipiell und pofitiv überwunte wird, wenn auch Lohn und Strafe als Nebenmotive noch beräd fihtigt werden. Freilich muß auch der gefamte Kultus mit fein Zeremoniendienft in Kauf genommen werden und gilt ebenfo u: das Sittliche als geoffenbart, was übrigens eine Verinnerlichra

Das vefigiöfe Bewußtſein der Menſchheit 2c. 6

des Geſetzes wenigftend inſoweit nicht ausſchließt, als die Liebe zu Gott als die Wurzel aller Gefegeserfüllung angefehen, auch die innere Gefinmung betont, aber natürlich felbft heteronom, als ein von Gott befohlenes Werk aufgefaßt wird. Der weitere Fort⸗ ſchritt, der durch das Judentum teilweife unter perfljchen, ügyp« tiſchen und griechiſchen Einflüffen gemacht wird, befteht in der volle ftändigen Vergeiftigung des Monotheismus, in dem Hervortreten des Schriftſtudiums und der praftifchen Nächſtenliebe (Wohlthätigkeit) gegenüber dem Opferkult, in der Judividualiſierung des religiöfen Berhäftnifjes mit Hilfe der Auferſtehungslehre und in der Ber- jenfeitigung der Zukunft des Gottesreiches. Gott wird der alle liebende Vater, und der Einzelne tritt im Gotteskindſchaft duch perfönliche Gerechtigkeit, pofitive Geſetzeserfüllung 1). Wehr habe das Judenchriſtentum aud nicht geleiftet. „ES ſetzt ſich aus allgemein judiſchen, hiltelitifchen, adfetifch-pgarifäifchen und effätfchen Beſtandteilen zuſammen.“ Das Eigentümliche (findet Hartmann in ber Mobififation, daß das Judenchriſtentum für Arme fein will und daß Jeſus als der Meifias betrachtet wird, der in nächſter Rähe das Gottesreich vollenden wird. „Es ift die Ge—⸗ fegesreligion mit der Hoffnung, die bisher verfehlte Gerechtigkeit mit Hilfe des Evangeliums d. 5. durch die verftärkte Motivationd- kraft der nahe gerücten Belohnung umd Beftrafung zu erlangen.“ Was fonft über die Perfon Yen Hinzugefegt werde, feien per- ſonelle Zutgaten, welche den religiöfen Inhalt, das Dogma nicht berühren; die Sünden, welde im Gottesreich begangen werden, follen dur die Fürbitte des auferftandenen und zum Himmel gefahrenen Propheten von Nazaret, fein unverjchuldetes Leiden und freiwilliges Martyrium, das ftellvertretend ift, wie durch feine Ge⸗ techtigfeit gefühnt fein, womit bie prophetifche Idee des leidenden Gottesknechtes anfgefrifcht fei; außerdem fei er Weltrichter. Allein alles das gehe nicht Über den Gedanfenfreis des Judentums hinaus, da nur innerhalb des jübifhen Volks, oder durch Prro-

1) Die weitere Ausführung über bie Entwidelung des Judentums, den ihm entwachſenden Islam, ſowie die beachtenswerten Bemerkungen über das neuere Iudentum (S. 535f.) übergehe ich hier.

veol. Gtab. Yafız. 1888. 42

“2 Hartmann

feldtentum eine Teilnahme an der Wirkung der Fürbitte Chriſi möglich fei umb überhaupt diefe perſonellen Zuthaten lediglich vom Zubendriftentum binzugefügt fein, um eine ergänzende Nad Yiüfe für den Mangel an Gefegeögereihtigkeit zu haben.

Die letzte Stufe des Monotheismus Hat Paulus erftiegen, ber dee Gettesreich völlig univerfal auffaßt, eben deshalb das national: Teriide Gefeg ale das Hindernis feines Kommens betrachtet un Desjelbe darch dem Tod des Meijias völlig abrogiert denkt, fo da on die Selle der Gejeheögerechtigfeit der Glaube am die objektiv Bedeutung der Grlöfung von dem Gejege duch den Tod Jeſa trete. Hier iſt dieſer Tod nicht mehr Ergänzung der Geſetzes⸗ geredhtigkeit, fendern er ift der Zentralpunft, durch welchen dad Geſetz ehregiert if, und der allen Menfchen die Verſöhnung ge weht het. Se tritt Hier Chriſtus als der alleinige Mittler in den Mittelpunft, die Chriftwsliche wird die Wurzel der Gottes⸗ und Nücdfienficbe. Die innere Freiheit, bie hier möglich if, wir aber dech wieder darch die Heteronomie des Glaubens an die objektive Zyatjeche der Crföjung in Epriftus geftört. Damit ferner Ehriftus wirffich alle vertreten lauu, muß er eine übermenfchliche Kraft haben, uud jo wird er im der Schule des Panlus und im Johannes teangelium vergettet, was Paulus felbft nicht gewollt Hatte. Hartmann zeigt hier am weiſten Berftändnis für die „Chrifius tragit“ ; indem der Gott, der zugleich Menſch ift, freiwillig alles Niden der Menfchheit durchleftet, beifätigt er in dem Leiden bie |

Hide Leiden der Menjchheit auf ſich mimmt. Allen Hier zeigt fih i de Wertes dieſes Leidens; es leidet nur eine Einzefgeftalt, ftatt dag alle Menſchen leiden, und es folgt dem | Weiden die Auferfichung. ie hierin noch der Eubämonismms ent | beiten if, jo if der Chriftwöglanden noch heteronom, indem ein | darwehehalten äuferer rt gefordert wirb, da ja der Verſuch der wyſtijchen Einheit wit Chrifto, bie allerdings Autonomie zulice, an der Unmöglichkeit der Immanenz zweier Perfonen in einander ſchtitert, zumal wicht vorzuftellen it, wie eine Perſon zugleid vielen anderen Perfonen immanet fein folle, da die Perfönficfeit beichräntt it. Zwar wird der Geift als Prinzip der Fmamanen;

Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit zc. 643

zugezogen ; aber aud das Hilft nichts, da, wenn er auch perfonis ftert wird, diefelbe Schwierigfeit ſich ergiebt, wenn er aber nicht perfonifiziert wird, er nicht völlig denaturiert zu fein fcheint, jeden« falls aber dann Ehrifti Immanenz verdrängt. Die theiftifche Heteronomie kann nur überwunden werden; eine wirffiche Einheit Gottes und des Menſchen ift nur möglich, wenn nicht ein perfüns licher Gott in dem perfönlichen Menſchen ift, wie e8 die Trinitäts⸗ lehre in ihrem bdreiperfönlichen Gott verfucht, Indem fie zuerft den Sohn, dann den Geift als Mittler braucht, weil die Perfönlichkeit Gottes die direkte Immanenz verhindert und Gott in einfeitige Transcendenz kommt, fondern wenn der göttliche Geift als über⸗ natürlicher aber unperfönlicher eine jede Perfönfichkeit befeelt, über jede aber zugleich vermöge feiner Unperfönlichkeit übergreift. Da⸗ durch wird aber das Mittlertum Chrifti 1) und der Vater über fläffig; die Heteronomie Hört auf; wir find bei dem konkreten Monismus des Geiftes angelangt, wo jeder autonom fittlich ift, weil der Geift zugleich als fein eigenſtes Wefen aufgefaßt werden muß und feine Wejensverfchiedenheit zwifchen dem gebietenden Gott und dem gehorchenden Menfchen übrig bleibt. In diefer Autonomie ift auch die Tragif vollendet, da alle leiden, wie der Gottmenſch Jeſus gelitten hat und ohne Ausficht auf jenfeitige Eubämonte, „ohne Auferftehungsjubel”, was übrigens nicht ausſchließt, fondern einfchließt, daß fie für die Zeit des irbifchen Lebens pofitio fitte lich thätig find. Eben hiermit aber find wir an demfelben Punkte angelangt, ben er als die notwendige Reform des Buddhismus bes zeichnete. Durch den Theismus ift der konkrete Inhalt gewonnen, den Hartmann für die Mittelzeit bedarf, fo dag nun beide Richtungen, abftrafter Monismus und Theismus, im fonfreten Monismus aufgehoben werden. Diefen konkreten Moniemus als Religion des Geiftes zu »ofitiver Darftelfung zu bringen, ift die Aufgabe, welche er in der weiten Schrift zu erfüllen ſucht. Wir tönnen uns bier kurz

1) And) die Bedeutung Chriſti ale des Borbifdes fei unmöglich, weil es n völlig abftcaftes Ideal fei, das nicht nachgeahmt werben könne, ba es nicht

m Weg amm Ziele der Gottmenfchheit zeige. 42*

Hartmanz

faflen, da feine leitenden Grumbgedanfen bekannt find 2), bie Ans führung aber teifweife breit umb nicht oue Wiederholungen ift. Weil die alic6 Seherridende Ider die des Tonfreten Monismus ift, ber ämpft er fewohl dem abftraften Menisnms als and den Theis mus auf alien Bantıcn. Die Bekämpfung des Theismus Kat für ig befondere Bedeutung, de er das Chriftentum als bie reiffte Sorm des Theiemus auffaßt. Cr ficht in ihm die Borftufe zum Tontreten Moniemus, weiche überall an die Stelle der Sbentität der Begenfäge eine äußerfihe Bereinigung derſelben ftelle, die auf alten Buntten nit bloß im diniektifcgen, ſondern auch im religiöfen Zutereffe über fi Hinansweife. Der Gang, den Hartmann wimmt, iſt der von der Religions pfyHologie zur Religionsmetaphyſſil und Religiensethil. Gemäß ber metaphyfiicen Grundanfepaunng iſt ihm die Religionspfy hologie nicht bloß einfeitig Beſchreibung der religiöfen Funktion der Worftellung, des Gefühls und Willens, ſendern fie behandelt das Werhättwis boppelfeitig; Gott ift in bem Frommen, daher die religiöfe Grundfunktion Glaube, der mit der Gnade identiſch iſt; im einzefnen ergiebt ſich ihm bie Identitüt von Dffenbarungsgnade und intefleftuellem Glauben, Crlöfungt guade und Gemütöglauben, Heiligungsgnade und praktiſchem Glan ben. Wie ihm die veligiöfen Borftellungen nım als Motive und die religiöjen Gefühle nur als Bewußtſeinsreſonanzen, die für den Willen Impuls geben, von Wert find, fo hat der intellektuelle und Gemütögleube fein Ziel darin, Mittel fir den prattiſchen Glauben zu fein. Die Offenbarungs⸗ und Erlöjungegnade emdigt in der Heifigungegnabe. Es ift alfo die eine Gnabe, melde dem Menfchen immmanent ift, fofern er glaubt, und welche wie ber Glaube den drei Kräften ber Seele entſprechend nach den drei genannten Seiten ſich darftellt, jedoch fo, daß bie beiden erften lediglich Mittel fur Die lehte find. Die Idemifikatien der Religien mit Ethik, weihe tm deitten Kapitel fich vödig zeigt, ift Hiemit vorbereitet. Wir muſſen es uns verfagen, näßer auf feine Grörterungen inbezug asi das Verhältnis von Philofophie und Dogmatik, die in die Phile

2) Bol. meine Wöhembfung: „Bartmanne pejfimiftifche Pstlsfopir” (IBEN, ©. 17f. 975. 875. 44f. 71f. 777.

Das religiöfe Bermußtfein der Menfchheit ꝛtc. [713

fophie aufgehen foll, von religids-äfthetifchen und myſtiſchen Ger

fühlen 1), weiche er gefchieden wiſſen will, u. a. einzugehen. Die

Metaphyſik der Religion hat zwei Teile, die Gotteslehre und die

Metaphyſik des religiöfenSubjekts, die ihm inreligiöfe An»

thropologie und Kosmologie zerfällt. Beachtenswert ift die Vers

bältnisbeftimmung von religidfer und theoretifcher Metaphyſit. Exftere

hat Lediglich darauf auszugehen, das religidfe Verhältnis meta-

phyfiſch zu begründen, während die Tegtere eine weit breitere Baſis

bat, nämlich die gefamte Erfahrung, für welche die metaphyſiſche Begründung zu ſuchen ift. Die erftere ift ein unerläßliches prak⸗ tifches Poftulat, da ohne diefelbe die Religion als Illuſion er⸗ ſcheint, letztere ift der Schlußftein der theoretifchen Weltanfchauung. Beide können inhaltlich einander voll entfprehen, nur daß die theoretiſche ficherer, weil umfangreicher, baftert ift, obgleich auch fie nicht über Wahrſcheinlichteit fich erhebt ?). Demgemäß führt Hartmann in der Gotteslehre den Grundfag durch, für jede Ausfage das religiöfe Intereſſe aufzuzeigen, worin ſich ein Heil famer Einfluß Schleiermachers fundgiebt. Er unterfceidet hier Bott als „das die Abhängigkeit von der Welt überwindende“ und als „das die abſolute Abhängigkeit begründende Moment“, dem er noch Gott „als das bie Freiheit begründende Moment“ binzufügt. Das erſte Moment führt auf Gottes Abfolutheit, welche fich ebenfo in feiner Subftanzialität und Identität mit ſich zeigt, im welch legterer die Erhabenheit über Raum, Zeit, Mates rialität enthalten iſt (omtologifches Argument), wie in feiner Geiſtigkeit, dynamiſchen Allgegenwart, Aktualität, welche als Allmacht und Allweisheit (Allwiſſenheit) Hervortritt (kosmologiſcher und teleologifcher Beweis). Gott als das die abfolute Abhängigkeit begründende Moment ift ſowohl Begründer der objektiven Welt als des Subjelts, woraus ſich der erfenntnistheoretifhe und der pſichologiſche Beweis ergiebt, dem der ibentitätäphifofophiiche zuzur fügen ift, der Gott gleichmäßig als Begründer der Welt und bes

2) Über die ſinnlich befiimmten veligiöfen Gefühle indbefondere fagt er Beachtenswertes (©. 35f.). 2) Bol. meine Abhandfung, ©. 181.

646 Hartmann

Subjiekts darftellt. Das Facit biefer Beweiſe ift, daß Gott er⸗ faßt wird als Idee und Wille, da er ald Einheit von Wille und Idee die Welt hervorbringt, was ber Metaphufit Hartmanns ent- ſpricht. Schließlich befpricht Hartmann noch Gott als das die Freiheit begründende Moment. Hier ergeben ſich bie moralifchen Beweile, welche Gott als objektive, fubjektive und abſolute fittliche Weltorduung darftellen 1). Gott wird beftimmt durch die Eigenfchaften der Ge rechtigkeit, Heiligkeit, Gnade, welche eine objeftive und fubjeftive Geite haben: „objektive Gerechtigkeit ift die Allmacht der abfoluten Vernunft zu ihrer Selbſtverwirklichung“, Heiligkeit „die Bernünftigfeit des von der Allmacht realifierten Weltzuftandes“, Gnade „die objektive ſittliche Weltordnung als Heilsordnung“ ; die fubjeltive Gerechtigkeit if „die in der religiöfen Selbftbeurteilung des Menfchen ſich durch-⸗ fegende abfolute Bernünftigfeit“, die fubjektive Heiligkeit „Erhebung der fittlichen Weltordnung zum autonomen Geſetz“, fubjeftive Gnade „die im Glauben zum praftijch religiöfen Bewußtjein ihrer felbft tommende abfolute Idee“. Sofern die objektive und fubjeftive Seite zufammenfallen, ift Gott die abſolut fittliche Weltordnung. Bir können kurz fagen: Diefe Gottesichre läuft zurüd auf feine Metaphyfit, nach der Gott Idee und Wille ift, welche durch die Subftanz formal geeeint find. Als Subftanz ift Gott identiſch mit fi, aktuell ift er Wille und Idee, welche fih auf immanente unbewuhte Weiſe in der Welt als Allmacht und Weisheit entfalten und in der fittlihen Weltorbuung als gerechter, Heiliger und gmädiger gipfeln *).

Die religiöfe Anthropologie entipricht diefer Auffafjung. Es wird der Menfch als erlöfungsbebürftig und erlöfungsfähig bes

2) Bel. weine Whandlung, ©. 721. 2) Eakei Aigen dr Oetene cefale feachatn wid, daß der une

H N h F

Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit 2c. 647

ſchrieben, ohne daß Hartmann bei feiner Lehre vom Böfen, von der Berantwortlichkeit, von der Einheit von Gott und Menſch das in feiner Phänomenologie des fittlihen Bewußtſeins erreichte Niveau überfchritte, wenn er auch hie und da genauer in das Einzelne eingeht *).

1) Bl. über das Böſe meine Abhdlg. a. a. D., S. 75—77. Der Eudämonis- mus, ber dem Menſchen natürlich ift, wird durch das Hervortreten des fittlichen Bewußtſeins böfe, fofern diefes dem Menſchen ben Zwieſpalt zwiſchen der na- türfichen fubjeftiven egoiftifchen Tendenz und zwiſchen der Aufgabe der objel- tiven fittlichen Weltorbnung zum Bewußtſein bringt. Der Begriff der Ber- antwortung und der Schuld Hat nicht fowohl Beziehung auf bie böfe Natur als auf den Mangel an Energie und Aufmerkfamkeit im einzelnen Fall, durch die der Menſch es verfäumt, die egoiftifche Natur zu bekämpfen, nachdem ihm bie Hingabe am die fittliche Weltordnung al Aufgabe bewußt geworden if. Der Menſch iſt erlöfungsbebürftig, fofen er von Übel und Schuld befreit werden fol. Er ift erlöfungsfähig, ſofern feine fittliche Anlage, die als Erbgnade in ihm iſt, ihm zum Bewußtſein kommen, er ſich in dem Dienft der ſittlichen Weltordnung ftellen und auf alle Eubämonie verzichten Tann, eben damit aber von Schuld und von Übel, von Ieterem idealiter durch den Verzicht auf Eu« dämonie befreit werden kann (Glaube als Heiligungswille). Religiös ausge- drüdt: der Menſch ift erlöfungsbebürftig, ſofern er nur in ber ontologiſchen Einheit mit Gott ſteht, erföfungsfähig, ſofern ex auch in bie teleologiſche Einheit mit Gott kommen, die Gnade aktuell in ihm fein fann. Der Menſch ift immer eine nBunktionengeuppe Gottes“ (vgl. meine Abhdig, ©. 26. 29). Gott ift in dem Imbividunm immer aktuell, aber auf verſchiedene Weiſe; entweder ift er im dem Menfchen, als natürlichem, wirkt jo and den natürlichen Eudämonismns, oder er iſt in dem Menſchen, fofern in ihm das Sittliche aber auch bamit das Böle erwacht, wirft den Zwieſpalt im Menfchen, oder endlich wirft er, daß der Menfch ſich zum Mittel für die fittliche Weltorbuung macht, als Gnade. Im diefem Sinne vedet Hartmann, vom fittli-teleologifhen Ge- fihtspuntt aus gefehen von einer „untergöttlichen, relativ widergätt« licheun, pofitiv gottgemäßen Sphäre“ im Menfchen. Gott wirkt im Menſchen, und der Menſch wirkt, ift ihm identiſch. Denn Gott wirft im Menſcheu ala ein „eingeſchränktes Subjekt“, während er in ber Welt als abfolutes Subiekt wirkt, als das ihr zugrunde liegende Weſen, das als Weſen aber über die Welt übergreift und fid nicht in der Welt erfhöpft. Als wir tendes Subjekt faßt Gott eine Fülle von Einzelfubjekten in fi}, welde einer- eits realiter Funktionen Gottes ſind, aber als ſolche noch natürliche Subiekte, ann aber auch ſich als Funktionen Gottes wiſſen und dies Bewußtſein als Motiv für ihr Handeln verwenden, oder in denen Gott ſich fo weiß, daß er gleich Motiv für ihr ſittliches Handeln wird, womit zugleich das Naticliche

“us Hartmann

Yu der religiöfen Kosmologie werben zumächft bie Begrifft der Schöpfung, Erhaltung, Regierung durch den Sat erſetzt. daß bie Welt die ftetige Erſcheinung des göttlichen Weſens fei, weiches ſich in der Naturorbnung und fittlihen Weltorduung offenbart, die für einander beftimmt find, jedoch fo, daß die fittliche Welterbuung zugleich in Gegenfag zu der natürlichen tritt, eben dadurch aber als fittfiche fich fund that. Der in der natürfihen Weltordnung begründete Eubämoniemns, ber in allem Wollen enthalten ift, foll durch dem fittlichen Weltprozeß überwunden werden, um all Wollen zu quiescieren und fo Gott von feinem unfjeligen Wollen zu befreien. Hier rebet er äftetiih von der abjoluten Zrogit der Gotteserlöfung.

In der Religions ethit wird der fubjeftive und der objeftive Heilsprozeß unterfieden. Der fubjektive Heifeprozeß verläuft natürlich in dem Schema von Identität von Gnade und Glauben, zumädft als Erleuchtung, dann im Gefühl als Friede, endlid als Heiligungswillen, welder Beſſerung dur Selbftzucht hervorbringt. Bon einer prinzipiellen Umfchr ift Hier nicht die Rede, wenn au auf die Sefianung hingewieſen wird). Da Egoität und Egois

i

I at Böfe eis, age 6 vi nee aihwlhich Begacti, Sitiliche aur durch den Gegenſatz gegen das Natürliche zum Bersuft- Toumen few. Gott als „eingefhränttes Subjekt” durdläuft alſo die liche und fittfiche Stufe, ofme deehatb im biefer Partialfunttion anfzu- welche der Maxi ik. Hartmann fan hier zwar betonen, daß der wit Gott identifizieren Bönne, da er aur eine Partinlfanktios j eb unbe muß = end ben wikeben Got fi urabligen die Bielheit und Endlichkeit, in alle Gegenfäge eim, und wenn er auch über jede Bartia i wirtender doch in eine Fülle won Partial-

funttionen werenblicht. So if Gott abjolut und endlich zugleich Das ik cin Widerjpruach, der natärfuch aur zu Ungunfen der Eudlichteit gehoben wirt. Die CEedlichteit Gottes iR in letter Hinficht wach ihm nur eine Folge feines Bollens, das er alt Abfall Gottes den fid) betrechttt, das quietciert ierben

& 14

HH Kehl at

1) Bl. „Das refigidfe Bewußtjein ber Menſchheit·, ©. 624: „Auf ker Starr iR das Immenenzprinzip des religiößefitilichen Lebens in irgendweihern Gate

Das veligiöfe Bewußtfein der Menſchheit zc. 6409

mus nicht auseinandergehalten werden, könnte eine ſolche prin⸗ ‚Nipiele Umkehr auch nur im Untergang des ch gefunden werden. Er betont daher die Allmählichteit des Prozeſſes. Die Umwandlung ift, wie die Perſönlichkeit überhaupt, bloß Mittel fir den objektiven Brogeß, was von einer „Wunftionengruppe des Abſoluten“ fich nicht anders erwarten läßt; ihre Aufgabe ift die Realifierung der teleo- logiſchen Weltordnung, d. 5. zunächſt des Kulturprozefſes. In dem Abſchnitte von dem objektiven Heilsprozeſſe wird daran erinnert, wie Steigerung bes Bewußtſeins das providentielle Ziel fei (natürs lich, um durch dasſelbe das Abfolute zum Quiescieren zu bringen 1)). Dies ift durch den Kulturprozeß zu erreichen, dem die Kirche fo Tange dient, als fte nicht durch Wiſſenſchaft, Kunft, fittliches Handeln erfegt werden fan. Die fchließfiche Überflüffigkeit der Kirche ver» ſucht er darzuthun, fofern ihre drei Funktionen Kirchenzucht, Kultus, Dienft am Wort überflüffig werden follen. Die Kirchenzucht ift durch die Autonomie ansgefchloffen, die Üfthetit im Kultus geht in die Kunft über, da fie der Reinheit des religiöfen Kult fchade, im religiöfen Kult wird Gebet und Opfer überflüfftg, letzteres als ber enbämoniftifchen Stufe zugehörig, erfteres durch das Immanenze Prinzip, weldes ebenfo die fymbolifchen Handfungen als äußere Onadenmittel abrogiert. So bleibt ber Dienft am Wort, der, fomeit es fih um veligiöfe Erziehung Handelt, durd die Schule zu beſorgen ift, ſoweit es fih um Bearbeitung Erwachſener handelt, In dem Maß den geiftlichen Stand überflüffig macht, als bie Er⸗ wachfenen felbft befähigt werden, religidß zu reden. Genug, da der jubjettive Heilsprozeß (ſ. 0. S. 644) im praftifchen Glauben gipfelt,

Benn an anderen Stellen vielleiht mehr von Umkehr der Gefinnung die Rebe ſt, ſofern der Wille, feiner Grundrichtung mach, nicht feine egoiſtiſchen Zwecke aben, fondern der fittlichen Weltordnung dienen will, fo ift das doch dem anzen Syſtem nad nuc relativ gemeint. Diefe Ordnung ift felbft im Werben nd fetst auch wieder den Eubämonismus ale zu überwindenden voraus (vgl. eine Abhdlg., S. 72—77); auch er, d. h. das Boſe gehört zur Weltorbuung 3. 75).

1) al. meine Abhdlg.,, S. 30. Übrigens ſcheint Hartmann zu ſchwanken, dem wir bald hören, daß Gott im Menſchen bewußt wird, bald, daß Gott un- mußt bleibt (3. ©. „Religion des Geiftes“, S. 807f.; „Das religidfe Ber aßtfein ber Menſchheit“, S. 625).

[0] Hartmaun

diefer felbft aber Lediglich Mittel für den objektiven Heilsprozeß, bie Realifierung der fittlihen Weltorduung in dem Kulturprozeß ift, der die Steigerung des Bewußtfeins hervorruft, fo ift für bie Kire feine Stelle; die fuhjektive Religion ift identiſch mit der ſittlichen Gefinnung, welche ſelbſt Mittel ift für den Kultur Brogeß, den Prozeß der Steigerung des Bewußtſeins, die wieder nur Mittel ift, um dem Weltprozeß überhaupt zu fiftieren und das Abfolute von feinem unfeligen Wollen zn erldfen.

Man hat gelegentfic) behauptet, daß man es fich zu Leicht mad, wenn man hauptſächlich Hartmanns Peſſimismus zu widerlegen fuck, da dieſer für ihm feine weſentliche Rolle fpiele. Wer einigermaßen den Zufammenhang feines Denkens verfteht, Tann aus „der Re ligion des Geiftes“ deutlich erkennen, daß der Pelfimismus und feine Metaphyſik eng zufammengehören, wie ich früher dargethan habe. ber foviel ift richtig, daß Hartmann fo fehr von der Bhilofophie feit Kant und von dem Chriſtentum beeinflußt ift, daß er für den jegigen Weltäon nach pofitiven Werten fucht, die aber nur relativ find. Cr verfucht das auf dem Wege der Evolutionstheorie zu erreichen, ohne freilich ben Klippen, an melden jede Evofutionstheorie ſcheitern muß, zu entgehen. Ich will mich bier darauf befhränfen, Hartmanns Neligionsphilofophie aus dem | evolutioniftifchen Geſichtspunlt zu betrachten und in diefer Be» ziehung einige kritiſche *) Bemerkungen beizufügen.

Was den gefchichtlichen Prozeß der Religion angeht, fo verſucht Hartmann hierin mit einer mächtigen Richtung der Zeit im Einklang denfelben auf rein immanentem Wege zu erklären. | Der Fortſchritt vollzieht ſich dadurch, daß in einem beftimmten Entwidelungemomente providentiell beanlagte Männer oder Bölfer Bervortreten, um ben Prozeß weiter zu führen; und zwar ift Hart | mann nicht der Meinung, daß diefe Völker befonders auf höheren | Stufen ſchon gleich im Anfang ihrer Entwidelung das neue rel gidfe Entwidelungsmoment entfaltet haben; vielmehr beginnen alle j

1) Im übrigen verweiſe ich auf meine Abhdig. a. a. O, ©. 37[. ik | 651. 77f., wo id die Prinplpien der Gartmannfihen Philofophie ausfägetih Beurteit Habe.

Das veligiöfe Bewußtfein der Menſchheit 2c. 61

mit dem Henotheismus; nur ermöglicht ihnen ihre verjchiedene Anlage im Verein mit ben verfchiedenen äußeren Einflüffen von dieſer Stufe aus eine eigentümliche Entwidelung durchzumachen, die in dem Charalteriſtiſchen gipfelt, das fie für den Fortgang des Brogefjes Teiften, und wenn fie hier angelangt find, greifen fie in den Prozeß ein?). Diefe Methode differiert von der Hegels, welcher die jedesmal höhere Stufe in dem beftimmten Wolle durch den Prozeß der Idee fofort erfcheinen läßt, ohne fih darum zu kümmern, wie biefes Volt zu diefer Stufe gefommen ift. Wenn bier gewiß auffeiten Hartmann der Fortſchritt liegt, fo ift dar mit doch zugleich gegeben, daß der immanente Fortgang des Pro- veffes nicht in derfelben ftriften Weiſe feftgehalten werden Tann. Die Mannigfaltigkeit der Völker tritt zu ungunften der Einheit 8 Prozeſſes hervor. Wir finden ftatt eines fortlaufenden Pros jeſſes eine Reihe von Entwidelungen, welche felbftändig neben ein inder herlaufen und höchſtens providentiell zufammengeordnet find. Das zeigt fich befonders, wenn Hartmann nach Beſprechung des Buddhismus fagt, daß wir „umkehren“ müßten, um von einem ndern, dem theiftifchen Ausgangspunkt zum Ziele zu gelangen, der über alle Religionen, welde Offenbarung haben, bemerkt, fie in ihre Grenzen eingefchloffen feien, und insbeſondere ver- chert, daß weder Buddhismus noch Ehriftentum von ſich aus zu em konkreten Monismus kommen könnten. (S. 625. 364.) Wenn er Übergang zu einer höheren Religionsſtufe nicht auf allmähs dem Wege aus dem bisher Gegebenen erflärbar ift, warum vers hmäht es dann Hartmann, anzuerkennen, daß das Abfolute jedes⸗ al eine Höhere Stufe dur eine neue Offenbarung, durch einen men geiftigen Alt im Menfchen Hervorrufe, wenn es dod über fen muß? In feiner Naturphilofophie erkennt er an, daß das bſolute eingreife und für eine höhere Entwidelung einen neuen ypus fege. Hier foll in der providentiellen Naturanlage für die (igiöfe Entwidelung ein neues Moment enthalten fein. Dadurch ixd aber der veligiöfe Prozeß bedenklich naturalifiert. Das hängt des damit zufammen, daß er den Charakter und die Eigentüm«

1) Am Harfien wird das Prinzip bei dem israelitiſchen Monotheismus chgeführt, aud) bei ben AÄgyptern.

62 Hartmann

lichteit „pfychologifch determiniert* fein laſſen will auf Grund ihrer natürlichen Entftehung ?).

Es ift der Immanenztheorie eigentümlich, daß fie aus den in der Belt vorhandenen Urſachen alles zu erflären verfucht; daher wird fe als Evolutionsfehre dazu neigen, alle Unterfciede als quantitative aufe zufaſſen. Denn in dem Maße, ald man das Neue als etwas von allem Bisherigen qualitativ Verſchiedenes auffate, kann man es aus den vor⸗ handenen Urfachen nicht erflären, muß das Abfolute direkt aus fein Fülle Heraus ein Neues fegen Laffen und macht e8 dadurch zu einem Tranfeendenten, das über die der Welt immanenten Urſachen al eine befondere Kaufalität übergreift. Die ftrifte Immanenztheorie lann feine feften Begriffe Haben; die Allmähfichkeit der Übergänge Hindert fie daran. Natur und Geift können bier nicht rein unter fihieden werden. Bei Hartmann ift der Wille des Abfoluten niht von bfindem Naturtrieb und feine Intelligenz nicht von natürlichen Inſtinkt Har unterfchieden. Ebenfo wenig ift im Weltprozep eine ſcharfe Grenze zwifchen Natur und Geift gezogen. Daher fein Schwanken, ob Tiere Religion haben (ſ. o. ©. 632). Daher feine Unflarheit über die Entftehung der Religion. Sie ſel im Eudämonismus ihre Wurzel Haben und zugleich im der Fählg keit unintereffierter Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung. Nah der erften Seite wäre fie reines Naturproduft. Allein es würde für den Naturmenſchen völlig genügen, wenn er bei feinen ver einzelten Wünfchen jedesmal den einzelnen Objekten eine Art von Borftehern andichtete, um auf diefem Ummege durch Beeinfluffung diefer das Objekt beherrſchenden Cinzelmäcte feinen Zwed a erreichen. Henotheismus als Urform der Religion ift fo mi begreiflich. Wenn Hartmann nun die Fägigkeit uminterefftertr Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung zur Erflärung des Ha theismus zuzieht, fo genügt auch das nicht. Vielmehr ift es, werm and nur in Form der Ahnung die Vernunft, welche ihr Streben nad gr fammenfaffender Einheit bethätigt, indem fie alles, was im ihm Geſichtskreis tommt, einer wenn auch noch naturartig vorgeftelften Gott heit unterordnet. Es ift ein übernatürliches Prinzip, das fich Hier zeigt,

2) Dgl. meine Abholg, S. 37—40.

Das religiöfe Bewußtfein der Menſchheit zc. 658

das Hartmann mit dem Namen ber unintereffierten Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung bezeichnet, ohne in beftimmter Weiſe auf bie Übernatitrfichteit der Vernunft Hinzumeifen. Wenn aber gleich im Anfang der Religion bie Einheit fordernde Bernunft fi fo deutte lich anfimdigt, fo kann andy nicht der Egoismus als ihr wefentlicher Entftehungsgrumd angefehen werben. Wenn ferner Hartmann den Fetiſchismus für Verfall erklärt und nit an ben Anfang ftellt, fo ift das zwar richtig, aber in dem Immanenzprinzip des alle mählichen Fortſchritts nicht begrümdet.

Die Allmähfichkeit des Immanenzprinzipes fordert ferner eine allmahliche Überwindung bes Eubämonismus; nicht eine Umlehr ſoll nötig fen, die das Chriftentum fälſchlich fordert *). Diejes Zurückſinken auch Hinter Kant, der eine intelligible Umkehr fordert, hat aber wieder feinen Grund darin, dag natürliche Egoität und Attlicher Egoismus nicht ſcharf unterfcgieden werden. Da verfteht fih ganz von felbft, daß der Egoismus nur „approgimativ“ tberwunden werden Tan, fo lange das Ich noch da iſt. Daher auch der „konkret e Monismus“, ja gerade er, nicht leiftet, was er ol, da, jo lange konkrete Welt da ift, auch Eudämonismus da ift. Er ift ein Notbehelf für dieſen Weltäon und ift durd den ab» traften Monismus ſchließlich zu erfegen, der mit allem Konkreten ch allen Eudämonismus vernichtet.

Der Evolntioniemus betrachtet alled nur als Moment im Brogeffe; alles ift aur Durchgangepumft, nur Mittel für den Fort⸗ chritt, Hat feinen Wert an fih, fondern hat nur relativen Wert 18 Moment des Prozefied. Wenn daher auch die Perfonen dazu iemen, daß das Abfolute in denfelben zum Bewußtſein kommt ?), » ift doch anf der andern Seite das Bewußtfein nur etwas End des, das dem Abſoluien nicht eiguet. Die Perſonen haben feinen ‚eibenden Wert, find Mittel für den objektiven Prozeß, daher auch

1) „Das vefigiöfe Bewußtſein 3c.”, S. 628 f. Dem entfpridt ber Ber iff des Boſen, das aud nur relativ gefaßt wird, und das fi im Prozeß ı als etwas relativ Gutes erweiſt. Bol. meine Abh., S. 63. 73.

2) Bgl. „Das vefigiöfe Bewußtſein der Menfchheit”, S. 625. Der vefi« fe Prozeß fei ber Prozeß des allmählichen Zusfih-felber-fommens bes eiftes.

654 Hartmann

Hartmann die Perfönlichkeit Chriſti nicht entfernt zu mürdign weiß. Überhaupt entfteht die Perfönfidjkeit und das Bermuftfen mur dur einen Naturprogeß und das menfchliche Bemuftjein wird lediglich quantitativ vom Bewußtſein ber Tiere ꝛc. unter: ſchieden ). Es ift ferner durchaus natürlich, daß KHartmam bei dem beften Willen nicht imftande ift, von bem (Evolution ftandpunft aus das religiöfe Phänomen in feiner Selbftändig teit zu begreifen. Iſt e8 Gott, der in allem fich ſelbſt mil. viert, fo ift gar kein Grund vorhanden der Religion eine be fondere Stelle zu laffen. Alles ift Gottes Evolution, das Biffn, das fittliche Handeln, die Kunft. Der Religion kann Keine befonder Stelle bleiben. Man könnte es verſuchen, die Immanenz Gott in der Perfon als Religion zu bezeichnen. Allein dann wäh man nit auf feine Immanenz im Wiſſen oder Wolfen das Gr wicht legen, weil bei erfterer Annahme bie Religion im Ville, bei legterer im Handeln unterginge, fondern im Gemüt als dem Zentrum der Perfon; daran aber ift der Evolutioniſt wieber gr hindert, weil er die Perfon nur als Durchgangspunft und Mittl für den objektiven Prozeß auffagt, fo daß der Gefühls- oder Gr mütsreligion nur die Stellung eines vorübergehenden Mittels blick, wie es auch bei Hartmann ber Fall ift.

Schließlich fei nod auf einen bedeutfamen, fehr folgenreider Mangel eines jeden Evolutionsftandpunftes hingewieſen, der bi Hartmann befonders ſcharf Hervortritt. Das Abfolute foll KA evolvieren. Wenn dies das Abfolute will, was hindert dasiek, fofort feinen gefamten Inhalt zu offenbaren? Die Annahme cn Progeffes ſetzt ein retardierendes Element vorans, das der reine Begrifi des Abfoluten ausſchließen würde. Hier ift ein dualiſtiſcher Reĩ nicht überwunden. Das Mbjolute ift durch die „ımbegreiflict Schranke“ gehemmt (Fichte) oder es wird die Negation zugeogn. um ben Prozeß zu erffären (Kegel), welde nicht aus dem Arie | Inten ftammen fann, oder e8 wird ein „Abfall“ des Abſoluten vu ſich felbft angenommen (Schelling). Die letztere Modifikation in etwas veränderter Form aud Hartmann angenommen, joitr:

2) Bgl. meine Abh., ©. 26f. 29f.

Das religiöfe Bewußtſein ber Menfchheit ac. 665

er zur Erklärung des Weltprozefies aus ber abfoluten Subftanz den Willen Hervortreten Täßt, dem das Logifche, nachdem der Wille einmal will, Inhalt giebt. Diefes Hervortreten des Willens aber ift ein Abfall des Abfoluten von fich felbft. Eben in diefem, für den Prozeß notwendigen, dem Abſoluten aber fremden Elemente ift der Schwache Punkt der Evolntionstheorie. In allem, was aus der Evolution Hervorgeht, ift ein unaufgelöfter Widerſpruch: es tft alles nur Produkt des gehemmten, von ſich abgefalfenen Abfo« Inten; es ift mit Endlichkeit behaftet und Bat an dem Abſoluten felbft gemeffen nur relativen Wert; es ift aus ihm Bervorgegangen, aber verſchlechtertes, verendlichtes Abſolutes. Das aber ift der Standpunkt der Emanation, in ben die Evofutionstheorie umfchlägt. Allem Endlichen Haftet das Nichtſein, die Schranke, der Abfall des Abfolnten von felbft an. Eben daher muß auch der evolutios niſtiſche Optimismus in Peſſimismus umſchlagen.

Betrachtet man Hartmanns Philoſophie als Evolutionsſyſtem, fo kann man ihm das Lob nicht verſagen, daß er die Evolutiond- theorie prinzipiell zu Ende gedacht hat. Nachdem einmal das Ab» folute mit feinem Willen den Abfall vollzogen hat, wird eine reiche Evolution anerkannt, indem er die Naturordnung und fittliche Welt» wbnung auf einander folgen läßt (freilich ohne beide ſcharf genug zu interfcheiden), und fo weit möglich eine Harmonifierung beider ver» ucht, indem er ferner nichtirgendein geiftiges Gut einfeitig geltend macht, ondern alle in ihrem relativen Wert anzuerkennen fucht, Kunſt, Biffenfchaft, fittliches Leben, felbft, fo weit es geht, Religion, wenn uch nur als notwendiges Mittel zum Handeln. Befonders aber er» nnt er die Konfequenz der Evolutionstheorie, welche allem Guten nur lichen Wert zuſchreiben kann, weil fie Produkte eines gehemmten er nach ihm von ſich abgefallenen Abfoluten find, und behandelt mnady den Optimismus als Durchgangspunkt zu dem Peſſi—⸗ ismus des Endes. Indem er konkreten Monismus will, ird er bem Theiemus nur in dem Maße gerecht, in welchem er nfrete Werte anerkennen kann, die, wie er fehr wohl fieht, unter a höheren Religionen allein der Theismus, insbefondere das Ehriften« n ſchutzt. Der Theismus foll nad) ihm dazu dienen, den Wert des mereten zum Bewußtſein zu bringen. Allein der Theismus kennt

646 Hertmann

Subjetts darftellt. Das Facit diefer Beweife ift, daß Gott er⸗ faßt wird als Idee und Wille, da er ald Einheit von Wille und dee die Welt hervorbringt, was der Metaphyfit Hartmann ent ſpricht. Schließlich befpricht Hartmann noch Gott als das die Freiheit begründende Moment. Hier ergeben ſich die moralifchen Beweiſe, welche Bott als objektive, jubjektive und abfolute fittliche Weltordnung darftelfen ). Gott wird beftimmt durch die Eigenfchaften der Gr rechtigkeit, Heiligfeit, Gnade, welche eine objektive und fubjektive Seite haben: „objektive Gerechtigkeit ift die Allmacht der abfoluten Vernunft zu ihrer Selbftverwirtlihung“, Heiligkeit „die Bernünftigfeit des von der Allmacht realifierten Weltzuftandes“, Gnade „die objektive fittliche Weltordnung als Heilsordnung“ ; bie fubjeftive Gerechtigkeit ift „die in ber religidfen Selbftbeurteilung des Menfchen ſich durd« ſetzende abfolute Vernünftigfeit“, die fubjektive Heiligkeit „Erhebung der fittlichen Weltordnung zum autonomen Geſetz“, ſubjektive Gnade „die im Glauben zum praftijch religiöfen Bewußtjein ihrer felbft tommende abfolute dee“. Sofern die objektive umd fubjeftioe Seite zufammenfallen, ift Gott bie abfolut fittliche Weltordnung. Wir können kurz fagen: Diefe Gotteslchre läuft zurüc auf feine Metaphyfit, nach der Gott Idee und Wille ift, welche durch die Subftanz formal geeeint find. Als Subftanz ift Gott identiſch mit ſich, altuell ift er Wille und Idee, welche fih auf immanente unbewußte Weife in der Welt als Allmacht und Weisheit entfalten und in der fittlihen Weltordnung als gerechter, Heiliger und gnadiger gipfeln ?).

Die religiöfe Anthropologie entipricht diefer Auffaffung. Es wird der Menſch als erlöfungsbebürftig und erlöfungsfähig ber

3) Bgl. meine Abhandlung, &. 72.

3) Wobei übrigens der Gedanke ebenfalls feftgehalten wird, baf ber un- endliche Wille aus der Subfanz zu unendlichem Wollensdrang hervorgetreire das von ber logiſchen Idee Gegebene realiſiere, ohne damit befriebigt zw fein, daß in Gott felbft alfo, auch fofern er nicht im der Welt aktuell iſt, ein Überfguß von Untuft fei, fo Tange er wolle. Bgl. meine Abhandlung, S. 19. Im diefer Hinficht thut er den Ausſpruch: „Alles if in Gottes Macht, zur nicht feine Macht ſelbſt“, Gott iſt nicht Herr über ſich ſelbſt; indem er will, iſt er aus der Subftang bervorgetreten, ſomit von fich abgefallen.

Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit 2c. 47

fgrieben, ohne daß Hartmann bei feiner Lehre vom Böfen, von der Verantwortlichfeit, von ber Einheit von Gott und Menſch das in feiner Phänomenologie des fittlichen Bewußtſeins erreichte Niveau überfchritte, wenn er aud Hie und da genauer in das Einzefne eingeht *).

2) Bol. über das Böſe meine Abhblg. a. a. D., S. 75—77. Der Eudämonis- aus, der dem Menfchen natürlich ift, wird durch das Hervortveten des fittlichen Bewußtſeins böfe, foferm diefes dem Menſchen den Zwieſpalt zwiſchen der na- türfichen fubjeftiven egoiftifchen Tendenz und zwilchen der Aufgabe der objel- tiven fittlichen Weltorbnung zum Berwußtfein bringt. Der Begriff der Ber- antwortung und der Schuld hat nicht ſowohl Beziehung auf die böfe Natur als auf den Mangel an Energie und Aufmerkfamkeit im einzelnen Fall, durch die der Menſch es verfäumt, die egoiflifche Natur zu bekämpfen, nachdem ihm die Hingabe an die fittlie Weltordnung als Aufgabe bewußt geworben if. Der Menſch if erlöfungsbebürftig, fofern er von Übel und Schuld befreit werden fol. Er ift erlöfungsfähig, fofern feine fittliche Anlage, die als Erbgnade in ihm if, ihm zum Bewußtſein Tommen, er ſich in dem Dienft der fittlichen Weltordnung ftellen und auf alle Eubämonie verzichten Tann, eben damit aber von Schuld und von Übel, von letzterem ibenliter durch den Werzicht auf Eu- damonie befreit werden Tann (Glaube als Heiligungsmwille). Religiss ausge» drüdt: der Menfch ift erlöfungsbedürftig, fofern er nur im der ontologifchen Einheit mit Gott fteht, erlöfungsfähig, fofern er auch in bie teleologifche Einheit mit. Gott kommen, die Gnade aktwell in ihm fein fanın. Der Menſch ift immer eine Gunktionengeuppe Gottes“ (vgl. meine Abhdlg,, ©. 26. 29). Gott if in dem Individuum immer aftısell, aber auf verfchiedene Weife; entweder ift er in dem Menfchen, als natürlichem, wirkt fo auch den natürlichen Eubämonismus, oder er ift in bem Menfchen, fofern in ihm das Sittliche aber auch bamit das Böfe erwacht, wirkt den Zwieſpalt im Menſchen, oder endlich wirkt er, daß der Menſch fid) zum Mittel für die fittliche Weltordunung macht, ale Gnade. Im biefem Sinne vedet Hartmann, vom fittli-teleologifhen Ge— fihtspunktt aus gefehen von einer „untergöttlichen, velatio wibergött- fichen, pofitiv gottgemäßen Sphäre” im Menſchen. Gott wirkt im Menfchen, und der Menſch wirkt, iR ihm identiſch. Denn Gott wirkt im Menfchen als ein „eingeſchränktes Subjekt“, während er in ber Welt als abfolutes Subjeft wirkt, als das ihr zugrunde Tiegende Weſen, das als Weſen aber über bie Welt übergreift und ſich nicht im ber Welt erfhöpft. Als wir- tendes Subjekt faßt Gott eine Fülle von Eingelfubjelten in fich, welche einer- feits veafiter Funktionen Gottes find, aber als ſolche noch natürliche Subjelte, dann aber auch fi als Funktionen Gottes wiſſen und dies Bewußtſein als Motiv für ihr Handeln verwenden, oder in denen Gott fi fo weiß, daß er zugleich Motiv für ihe fittliches Handeln wird, womit zugleich das Natürliche

“s Hartmann

In der religiöfen Kosmologie werben zumächft die Begriffe dee Schöpfung, Erhaltung, Regierung durch den Sag erfegt, daß die Welt die ftetige Erfcheinung des göttlichen Weſens fei, welches fih in der Naturordnung und fittlichen Weltorduung offenbart, die für einander beftimmt find, jedoch fo, daß bie fittliche Weltorduung zugleich in Gegenfag zu der natürlichen tritt, eben dadurch aber als ſittliche ſich kund thut. Der in der natürlichen Weltordnung begründete Eubämonismns, der in allem Wollen enthalten iſt, ſoll dur den fittlichen Weltprogeß überwunden werden, um alle Wollen zu quiescieren und fo Gott von feinem unfeligen Wollen zu befreien. Hier rebet er äfthetifch von der abfoluten Tragil der Gotteserlöfung.

In der Religions et hik wird der fubjeftioe und der objeftide Heilsprozeß unterſchieden. Der fubjektive Heilsprozeß verläuft natürlich in dem Schema von Identität von Gnade und Glauben, zunächſt als Erleuchtung, dann im Gefühl als Friede, endlich als Heiligungswillen, welcher Beſſerung durch Selbſtzucht Herverbringt. Bon einer prinzipiellen Umkehr ift Hier nicht die Rede, wenn auf auf die Gefinnung hingewiefen wird). Da Egoität und Egoi®

relativ als Vöfe erſcheint, obgleich es Jugleich inſofern teleologiſch begelinbet iR, als das Sittliche nur durch ben Gegenſatz gegen das Natürliche zum Bewußt⸗ fein kommen kann. Gott als „eingeſchränktes Subjekt“ durchläuft alfo die natürliche und fittfiche Stufe, ohne deshalb im dieſer Partialfunktion aufzu- gehen, welche ber Menſch iſt. Hartmann kamn hier zwar betonen, daß der Menſch ſich mie mit Gott identifizieren könne, da er mm eine Partialfunktien Gottes fei; aber anderſeits muß ev auch dem wirkenden Gott ſich verendliden laffen; Gott als wirkender geht in die Vielheit und Enbfichkeit, in alle Gegenfäe des Weltprozefies, ja in das Böfe ein, und wenn er aucd über jede Part | funktion übergreift, fo iR er als wirfender doch in eine Fülle won Partial- funktionen verendficht. So ift Gott abſolut und endlich zugleich. Das ft ein Widerfprudi, der natürlich nur zu Ungunfen der Eublichfeit gehoben wir. Die Endlicjteit Gottes if in letzter Hinficht nad ihm nur eine Folge feine Wolleus, das er als Abfall Gottes von ſich betrachtet, das quieseiert werden muß. 1) Bal. „Das religiöſe Bewußtſein der Menſchheit“, ©. 624: „Auf jeder Stat | iR das Immanenzprimip des religiös- fittlichen Lebens in irgendwelchen Geeie thätig, auf jeber findet es aber auch noch Störungen ber vollendeten Gottinenkte Seit zu befeitigen, d. h. Gelegenheit, ſich als Exlöfungsprinzip zu betpätigen“

Das veligiöfe Bewußtfein der Menfchheit 2c. 649

mus nicht auseinandergehalten werden, könnte eine ſolche prins ipielle Umkehr auch nur im Untergang des Ich gefunden werden. Er betont daher die Allmählichteit des Prozeſſes. Die Umwandlung ft, wie die Perſönlichkeit überhaupt, bloß Mittel fiir dem objektiven Prozeß, was von einer „Zunktionengruppe des Abſoluten“ ſich nicht anders erwarten läßt; ihre Aufgabe ift die Realiſierung der teleor logischen Weltordnung, d. h. zunächſt des Kulturprogefies. In dem Abſchnitte von dem objektiven Heilsprozeſſe wird daran erinnert, wie Steigerung des Bewußtſeins das providentielle Ziel ſei (natürs lich, um durch dasſelbe das Abfolute zum Quiescieren zu bringen 1)). Dies ift durch den Kulturprozeß zu erreichen, dem die Kirche jo fange dient, als fie nicht durch Wiffenfchaft, Kunft, fittliches Handeln erfegt werden fann. Die fchließliche Überflüffigkeit der Kirche ver⸗ fucht er darzuthun, fofern ihre drei Funktionen Kirchenzucht, Kultus, Dienft am Wort überflüffig werden follen. Die Kirchenzucht ift durch die Autonomie ausgeſchloſſen, die Äſthetik im Kultus geht in die Kunft über, da fie der Reinheit des religiöfen Kult ſchade, im refigiöfen Kult wird Gebet und Opfer überflüffig, letzteres ale ber eudämoniftifchen Stufe zugehörig, erfteres durch da8 Immanenze prinzip, welches ebenfo die ſymboliſchen Handfungen als äußere Gnadenmittel abrogiert. So bleibt der Dienft am Wort, ber, ſoweit es fi um refigiöfe Erziehung Handelt, durch die Schufe zu bejorgen ift, foweit es fi um Bearbeitung Erwachſener handelt, in dem Maß den geiftlihen Stand überflüffig macht, als die Er⸗ wachfenen felbft befähigt werden, religiös zu reden. Genug, ba der fubjeftine Heilsprozeß (f. 0. ©. 644) im praftifchen Glauben gipfelt,

Bern an anderen Steffen vielleiht mehr von Umkehr der Gefinnung die Rede iſt, ſofern ber Wille, feiner Grundrichtung nach, nicht feine egoiftiichen Zwecke Haben, ſondern der fittfichen Weltordnung dienen will, fo ift das doch dem ganzen Syſtem nach nur relativ gemeint. Diefe Ordnung ift felbft im Werben und fett auch twieder den Eubämonismus als zu überwindenden voraus (vgl. meine Abhdlg., S. 72—77); auch er, d. 5. das Boſe gehört zur Weltorduung S. 75).

' 1) at. meine Abhblg., S. 30. Übrigens feheint Hartmann zu ſchwanken, indem wir bald hören, daß Gott im Menſchen beruft wird, bald, daß Bott un- bewußt bleibt (3. B. „Religion des Geiſtes“, S. 307f.; „Das religidſe Ber vuhijein bee Menſchheit“, &. 628).

660 Hartmann

biefer felbft aber lediglich Mittel fir den objektiven Keilsprog, die Realifierung der fittlihen Weltordnung in dem Kufturprogg ift, der die Steigerung des Bewußtſeins hervorruft, fo ift für die Kirche keine Stelle; die fubjeftive Religion ift identifch mit der fittlihen Gefinnung, welche ſelbſt Mittel ift für den Kultur Prozeß, den Prozeß ber Steigerung des Bewußtſeins, die wieder aur Mittel ift, um den Weltprogeß überhaupt zu fiftieren und das Abfolute von feinem unfeligen Wollen zu erlöfen.

Man hat gelegentlich behauptet, daß man es fich zu Leicht made, wenn man hauptfädlic Hartmauns Peſſimismus zu widerlegen fuck, da diefer für ihm feine mwefentliche Rolle fpiele. Wer einigermaßen den Zufammenhang feines Denkens verfteht, kann aus „der Re Tigion des Geiftes“ deutlich erkennen, baß ber Belfimismus und feine Metappyfit eng zufammengehören, wie ich früher dargethan habe. Aber foviel ift richtig, daß Hartmann fo fehr von der Philoſophie feit Kant und von dem Chriſtentum beeinflußt ift, daß er für ben jegigen Weltäon nach pofitiven Werten fucht, die aber nur relativ find. Er verfucdt das auf dem Wege ber Evolutionstheorie zu erreichen, ohne freilich den Klippen, an melden jede Evofutionstheorie ſcheitern muß, zu entgehen. Ich will mid bier darauf beſchränken, Hartmanns Religionsphiloſophie aus dem evolutioniftifchen Geſichtspunkt zu betrachten und in diefer Ber ziehung einige Fritifche 1) Bemerkungen beizufügen.

Was den gefcichtlichen Prozeß der Religion angeht, fo verfugt Hartmann hierin mit einer mächtigen Richtung ber Zeit im Einklang benfelben auf rein immanentem Wege zu erklären. Der Fortſchritt vollzieht ſich dadurch, daß in einem beftimmten Entwickelungsmomente providentiell beanlagte Männer oder Völker

Hervortreten, um ben Prozeß weiter zu führen; und zwar ift Hart

mann nicht der Meinung, daß diefe Völker befonders auf Höheren Stufen fon gleich im Anfang ihrer Entwidelung das neue reis giöfe Entwidelungsmoment entfaltet Haben; vielmehr beginnen alle

3) Im übrigen veriveife ich auf meine Abhdig. a. a. D., S. 37f. Hi. 65f. 77f., wo id die Prinzipien der Hartmannfgen Philoſophie ausführt beurteilt Habe.

Das religiöfe Bewußtſein der Menſchheit 2c. 61

mit dem Henotheismus; nur ermöglicht ihnen ihre verfchiebene Anlage im Verein mit ben verfchiedenen äußeren Einflüffen von diefer Stufe aus eine eigentümlihe Entwidelung durchzumachen, die in dem Charalteriſtiſchen gipfelt, das fie für den Fortgang bes Brogeffes leiften, und wenn fie hier angelangt find, greifen fie in den Prozeß ein‘). Diefe Methode differiert von der Hegels, welcher die jedesmal Höhere Stufe in dem beftimmten Volke durch den Prozeß ber Idee fofort erſcheinen läßt, ohne fh darum zu ftümmern, wie dieſes Volt zu diefer Stufe gefommen ift. Wenn bier gewiß auffeiten Hartmanns der Fortfehritt liegt, fo iſt das mit doch zugleich gegeben, daß der immanente Fortgang des Pro⸗ zeſſes nicht in bderfelben ftriften Weife feftgehalten werden kann. Die Mannigfaltigleit der Völker tritt zu ungunften ber Einheit de8 Progefjes hervor. Wir finden ftatt eines fortlaufenden Pros zeſſes eine Reihe von Entwicelungen, welche felbftändig neben ein ander herlaufen und höchſtens providentiell zufammengeordnet find. Das zeigt fich befonders, wenn Hartmann nad Befprehung bes Buddhismus fagt, daß wir „umkehren“ müßten, um von einem andern, dem theiftifchen Ausgangspunkt zum Ziele zu gelangen, der über alle Religionen, welche Offenbarung haben, bemerkt, daß fie in ihre Grenzen eingeſchloſſen fein, und insbefonbere ver» idert, daß weder Buddhismus noch Chriftentum von fih aus zu em Eonkreten Monismus kommen Könnten. (©. 625. 364.) Wenn ver Übergang zu einer Höheren Religionsſtufe nicht auf allmäh- ihem Wege aus dem bisher Gegebenen erflärbar ift, warum ver⸗ chmäht es dann Hartmann, anzuerkennen, daß das Abfolute jedes- aal eine höhere Stufe durch eine neue Offenbarung, durch einen euen geiftigen Akt im Menſchen Hervorrufe, wenn es doch über reifen muß? Im feiner Naturphilofophte erfennt er an, daß das lbſolute eingreife und für eine Höhere Entwidelung einen neuen ypus fee. Hier foll in der providentiellen Naturanlage für die ligiöfe Entiwicelung ein neues Moment enthalten fein. Dadurch ird aber der religiöſe Prozeß bedenklich naturalifiert. Das hängt des damit zufammen, daß er den Charakter und bie Eigentüm⸗

2) Am Harften wird das Prinzip bei dem israefitifhen Monotheismus wchgefüßet, auch bei den Ägyptern.

2 Hartmann

lichteit „pigchofogifch determiniert“ fein laſſen will auf Grund ihrer natürlichen Entftehung *).

Es ift der Jmmanenztheorie eigentlich, daß fie aus den in ber Belt vorhandenen Urfachen alles zu erklären verfucht; daher wird fie als Evolutionslehre dazu neigen, alle Unterſchiede als quantitative aufe zufaſſen. Denn in dem Maße, als man daB Reue als etwas von allım Bisherigen qualitativ Verſchiedenes auffaßte, kann man es aus den vor handenen Urfachen nicht erflären, muß das Abfofute direkt aus feiner Fülle heraus ein Neues fegen laſſen und macht e8 dadurch zu einem Zranfcendenten, das über die der Welt immanenten Urſachen did eine befondere Kanfalität übergreift. Die ſtrikte Immanenztheorie tann keine feften Begriffe haben; die Allmahlichkeit der Übergänge Hindert fie daran. Natur und Geift können hier nicht rein unter ſchieden werden. Bei Hartmann ift der Wille des Abfoluten nicht von blindem Naturtrieb und feine Intelligenz nicht von natürlichen Inſtinkt klar unterfchteden. Ebenſo wenig ift im Weltprozeß cine ſcharfe Grenze zwifchen Natur und Geift gezogen. Daher fein Schwanken, ob Tiere Religion haben (f. 0. ©. 632). Daher feine Unflarheit über die Entſtehung der Religion. Sie fol im Eudamonismus ihre Wurzel Haben und zugleich in der Fähig keit unintereffierter Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung. Nah der erften Seite wäre fie reines Naturproduft. Allein es mürk für den Naturmenſchen völlig genügen, wenn er bei feinen ver einzelten Wünfchen jedesmal den einzelnen Objekten eine Art von Borftehern andichtete, um auf diefem Umwege dur Beeinfluſſung diefer das Objekt beherrſchenden Ginzelmächte feinen Zwed u | erreichen. Henotheismus als Urform der Religion ift fo mid begreiflih. Wenn Hartmann nun die Fähigkeit umintereſſiernt Beobachtung und äfthetifcher Beurteilung zur Erklärung des Hen® theismus zuzieht, fo genügt aud) das nicht. Vielmehr iſt es, wem and nur in Form der Ahnung die Vernunft, weiche ihr Streben nach | fammenfafjender Einheit beihätigt, indem fie alles, was in ik Geſichtskreis kommt, einer wenn auch noch naturartig vorgeftelkten Got heit unterordnet. Es ift ein übernatürliches Prinzip, das fich Hier zeigt, |

4) Vgl. meine Abhdlg., S. 37—40.

Das religibſe Bewußtſein der Menfchheit ac. 658

das Hartmann mit dem Namen der unintereffierten Beobachtung und äfthetifher Beurteilung bezeichnet, ohne in beftimmter Weiſe auf die Übernatitrfichkeit ber Vernunft Hinzumeifen. Wenn aber gleich im Anfang der Religion die Einheit fordernde Vernunft fich fo deut lich ankundigt, fo kann andy nicht der Egoismus als ihr wefentlicher Entftehungsgrumb amgefehen werden. Wenn ferner Hartmann den Fetiſchismus für Verfall erklärt und nit an ben Anfang ftelt, fo ift das zwar richtig, aber in dem Immanenzprinzip des alle mahlichen Fortſchritts nicht begrimbet.

Die Allmäpfichleit des Immanenzprinzipes fordert ferner eine allmahliche Überwindung des Eubämonismus; nicht eine Umkehr ſoll nötig fein, die das Ehriftentum fälſchlich fordert *). Diefes Zurückſinken auch hinter Kant, der eine intelligibfe Umkehr fordert, bat aber wieher feinen Grund darin, dag natürliche Egoität und ſittlicher Egoismus nicht ſcharf unterfhieden werden. Da verfteht &8 ſich ganz von felbft, daß der Egoismus nur „approgimativ“ überwunden werben Tann, fo lange das Ich noch ba ift. Daher aud) der „Eontrete Monismus“, ja gerade er, nicht leiftet, was er oll, da, fo lange konkrete Welt da ift, auch Eudämonismus da iſt. Er ift ein Notbchelf für diefen Weltäon und ift durd den ab» traften Monismus ſchließlich zu erjegen, der mit allem Konkreten iuch allen Eudämonismus vernichtet.

Der Evolntioniemns betrachtet alles nur als Moment im Progeffe; alles ift nur Durchgangspunkt, nur Mittel für den Fort⸗ chritt, Hat feinen Wert an fih, fondern hat nur relativen Wert 18 Moment des Prozefied. Wenn daher auch die Perfonen dazu ienen, daß das Abſolute in denfelben zum Bemußtfein kommt ?), » ift doc anf der andern Seite das Bewußtfein nur etwas End» iches, das dem Abjolnten nicht eignet. Die Perfonen haben feinen (eibenden Wert, find Mittel für den objektiven Prozeß, daher auch

3) „Das veligiöfe Bewußtſein 3c.“, S. 623f. Dem entfpridt der Ber Aff des Böfen, das auch nur relativ gefaßt wird, und das fi im Prozeß ich als etwas relativ Gutes erweiſt. Bol. meine Abh., ©. 63. 73f.

2) Bgl. „Das religiöfe Bewußtſein der Menſchheit“, S. 625. Der veli- öfe Prozeß fei der Prozeß des allmählichen Zu-fich-felbertommens des eiſtes.

654 Hartmann

Hartmann die Perfönlichkeit Eprifti nicht entfernt zu wirdigen weiß. Überhaupt entftcht die Perfönlichkeit und das Bewuftfein nur dur einen Naturprogeß und das menfchliche Bewußtſein wird Tedigfich quantitativ vom Bewußtſein ber Tiere zc. unter ſchieden Y. Es ift ferner durchaus natürlich, daß KHartman bei dem beften Willen nicht imftande ift, von dem Evolution ftandpunft ans das religiöfe Phänomen im feiner Selbftändig teit zu begreifen. Iſt e8 Gott, der im allem fich ſelbſt mol: viert, fo ift gar kein Grund vorhanden der Religion eine be fondere Stelle zu laſſen. Alles ift Gottes Evolution, das Wille, das fittliche Handeln, die Kunft. Der Religion kann Teine bejondere Stelle bleiben. Man könnte es verfuchen, die Immanenz Gott in der Perfon ale Religion zu bezeichnen. Allein dann müßt man nicht auf feine Immanenz im Wien oder Wolfen das Ge wicht fegen, weil bei erfterer Annahme die Religion im Biffe, bei letzterer im Handeln unterginge, fondern im Gemüt als dm Zentrum der Perſon; daran aber ift ber Evofutionift wieber ger hindert, weil er die Perfon nur als Durchgangspunkt und Mittel für den objektiven Prozeß auffaßt, fo daß der Gefühls- oder Ger mütsrefigion nur die Stellung eines vorübergehenden Mittels blick, wie es aud bei Hartmann der Fall ift.

Schließlich fei noch auf einen bedeutfamen, fehr folgenreiden

Mangel eines jeden Evolutionsftandpunftes hingewieſen, der hi |

Hartmann befonders ſcharf Hervortritt. Das Abfolnte fol fih evolvieren. Wenn dies das Abſolute will, was hindert basjele, fofort feinen gefamten Inhalt zu offenbaren? Die Annahme ein Prozeſſes ſetzt ein retardierendes Element vorans, das der reine Begrifl des Abfoluten ausfchliegen würde. Hier ift ein dualiftifcher Rt nicht überwunden. Das Abſolute ift durch die „unbegreifliche Schranke“ gehemmt (Fichte) oder es wird bie Negation zugezogen, um den Prozeß zu erflären (Kegel), welche nicht aus dem Abe Tuten ftammen kann, ober e8 wird ein „Abfall“ des Abfoluten vw ſich jelbft angenommen (Schelling). Die letztere Mobifikation ke in etwas veränderter Form aud Hartmann angenommen, foter:

3) Bgl. meine Abh., ©. 26f. 29f.

Das refigiöfe Bewußtſein der Menſchheit ꝛtc. 665

er zur Erflärung des Weltprogefjes aus der abſoluten Subftanz den Willen Hervortreten läßt, dem das Logifche, nachdem der Wille einmal will, Inhalt giebt. Diefes Hervortreten des Willens aber ift ein Abfall des Abfoluten von ſich felbft. Eben in diefem, für den Prozeß notwendigen, dem Abfoluten aber fremden Elemente ift der Schwache Punkt der Evolntionstheorie. In allem, was aus der Evolution Hervorgeht, ift ein unaufgelöfter Widerſpruch: es ift alles nur Probuft des gehemmten, von fich abgefalfenen Abfos Inten; es ift mit Endlichkeit behaftet und Bat an dem Abfoluten ſelbſt gemeſſen nur relativen Wert; es ift aus ihm hervorgegangen, aber verſchlechtertes, verendlichtes Abfolutes. Das aber ift der Standpunkt der Emanation, in den bie Evolutionstheorie umfchlägt. Allem Endlichen Haftet das Nichtfein, die Schrante, ber Abfall des Abfoluten von felbft an. Eben daher muß auch der evolutios niſtiſche Optimismus in Peſſimismus umfchlagen.

Betrachtet man Hartmanns Philofophie als Evolutionsfyftem, o fann man ihm das Lob nicht verfagen, daß er die Evolutions⸗ heorie prinzipiell zu Ende gedacht hat. Nachdem einmal das Ab- olute mit feinem Willen den Abfall vollzogen Hat, wird eine reiche ĩvolution anerkannt, indem er bie Naturordnung und fittliche Welt rduung auf einander folgen läßt (freilich ohne beide fharf genug zu nterfcheiden), und fo weit möglich eine Harmonifierung beider ver« icht, indem er ferner nichtirgendein geiftiges Gut einfeitig geltend macht, dern alle in ihrem relativen Wert anzuerkennen fucht, Kunft, diffenfchaft, fittliches Leben, felbft, fo weit es geht, Religion, wenn ich nur als notwendiges Mittel zum Handeln. Beſonders aber er⸗ ant er die Konfequenz der Evofutionstheorie, welche allem Guten nur lichen Wert zufchreiben Tann, weil fie Produkte eines gehemmten er nach ihm von fich abgefalfenen Abfoluten find, und behandelt nnady den Optimismus als Durchgangspunkt zu dem Peſſi—⸗ smus bes Endes. Indem er konkreten Monismus will, rd er dem Theiemus nur in dem Mae gerecht, in welchem er trete Werte anerkennen ann, die, wie er ſehr wohl fieht, unter Höheren Religionen allein der Theismus, inabefonbere das Chriſten ı fügt. Der Theismus foll nad) ihm dazu dienen, den Wert des atreten zum Bewußtſein zu bringen. Allein ber Theismus kennt

666 Hartmann, Das religidſe Bewußtſein zc.

abfolute Werte. Das ift dem konſequenten Evolutionismus nicht möglih. Daher Hartmann den Theismus als Durchgangäftufe zum Monismus behandelt, der eben die negative Schlußperfpektive off Hält. Hartmanns Lontreter Moniemus ift, fo weit er konfretif, zu demfelben Schickſal von ihm verurteilt, wie der Theismus: Durd- | gengäftufe zum reinen Monismus zu fein. Als Fonkreter ermög licht er ein pofitives Verhalten in der Gegenwart, als Monismt ftellt er die ſchließliche Aufgebung aller „phänomenalen® Eriftenn in Ausfiht. Der Evolutionismus, aud in der Form, bie im Hartmann gegeben, ift ein großer Widerſpruch; das Abſolute wol viert fi) vermittels eines Abfalles, und muß die Evofution wie aufheben 1). in ſolches Abſolute ift aber nicht abfolut nud cm ſolche Welt hat kein wahres Sein. Der Standpunkt der Evolution weift über fi) Hinans; es ift ein Verdienſt von Hartmann, dar felben fo fonfequent ausgebildet zu haben, daß dies unzmeideutig er | hellt. Ein Werben mit blog negativem Ziel kann die Vernunft niät | befriedigen, fo wenig als ein Werden ohne allen Zweck, fondern um ein Werden, welches zugleich; ein wahres Sein in ſich dat, d.6 | eine Welt, in welcher ſchlechthin wertvoller, wahrhaft feiender Je halt ift, der fi in verſchiedenen Formen entfaltet. Cine folk Welt aber garantiert nur der chriftliche, ethifche Theismus ?).

1) Auf ben Dualismus bei Hartmann Habe ich hingewieſen (f. min Abhandlung, ©. 99).

3) Der Raum geſtattet nidit, bie Bedenken, welche Hattınann dem Their mus entgegenhäft, Hier ausführlich zu beſprechen. Sie Ianfen zum greice Zeil darauf Hinaus, daß Perfönfickeit und Abſolutheit fi nicht reimen Ife Wenn die Perſonlichteit nur duch eine Schranke entfliehen Tann, Kat Hartmar vet. Men Loge hat („Wikcolosmes“ IIL, BE5F.; „Grundzüge der IE gronephilofopfie*, $ 2985) dieſen Sertwm ſqhon tieffimsig bekämpft. And anf theiſtiſchem Staudpuult ift eine nicht Beteronome Bereinigung von Gott m Menſch denfbar, die den Vorzug hat, zugleich dem Menſchen feine bereiz Autonomie weit grünblicher zu garantieren, als es Hartmann mit kirz Begriff des Menſchen als einer „Funktionengruppe Gottes” vermag. S meine Abh. a. a. O., &. Y1f. (60f.). Über das Wefen ber Religion in der Zeitſchrift 1883, Heft 2, ©. 262f.

Wittenberg. Dewa.

Theologiſche Studien und Kritiken.

Fine Zeitſchrift für das geſamte Gebiet der Theologie, begründet von D. €. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit und in Verbindung mit D. 6. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner und D. 3. Wagenmann

herausgegeben

D. 3. Köftlin - D. €. Riehm.

Bahrgang 1883, viertes Heft.

<OREIS) ER

Gotha. Triedrih Andreas Perthes. 1883.

Abhandlungen.

1. Die Liebesthätigleit der deutſchen Reformation.

Bon Brofeffor H. Hering In Halle.

L Dorgefchichte. Don den Arenzügen bis zum Ausgange des Mittelalters.

Die Reformation gilt mit Recht zunächft als eine That des Hriftlich-religiöfen Geiftes, die aus dem Innenleben einer mäch⸗ gen Perfönlickeit in ein ganzes Zeitalter mit den Lebenskräften »es urfprünglichen Evangeliums als umbildende Macht eintritt und ine neue geſchichtliche Epoche begründet. Die Fruchtbarkeit diefer Beiftesthat erſchöpft ſich nicht in Lehrbildung und Gemeindegrün« ung. In Sauerteigswirtung auf das Volfsleben bewährt fie ſich ielmehr als ein Gotteswerk nad jenem Wort des Herrn: „Setzet inen guten Baum, fo wird die Frucht gut." Die neuere For Yung bat diefer Seite mehr Aufmerkſamkeit zugewandt ala bie (tere Geſchichtſchreibung, und doc bleibt noch zu thun. Beſon⸗ ers bedarf ein Punkt forgfältiger Erforfhung: die Liebes» Jätigkeit der Reformation). Wenn der berühmte Maler,

2) Menerdings Hat B. Riggenbach im feiner Borlefung über „das eımeumwefen der Reformation“ (Bafel 1883, Berlag von Schneider) ı Bild der Beſtrebungen ber Reformation aus ben Kirchenorbnungen ent wfer, eigentlich bie erfte Arbeit von Belang über den Gegenfland ale arızee. Und doch hat Am. L. Richter ſchon 1845 bie Hauptquellen fur eine

62 Hering

der uns das Zeitalter der Reformation bdargeftelit Hat, unferen Luther in hoch emporgehaltener Bibel den Zeitgenoffen den Spruh predigen läßt: „Du follft deinen Nädjften Tieben wie dich felbft!’ fo ift Hierin trog der Einfeitigfeit ein Wink enthalten, welde mahnt, ein Bild der Reformation zu zeichnen, auf dem das Glau⸗ benswert auch als Liebeswerk erkannt wird.

Eine ſolche Arbeit ift in Hervorragendem Maße die Abtragung einer Schwd der Dankbarkeit und Pietät gegen bie Väter unfert evangelifchen Kirche und ein Werk des Friedens. Und doc ift fie nicht möglich, ohme auf die Schäden und Verfchuldungen ber romiſchen Kirche des Mittelalters Hinzuweifen; denn Reform wird in ihrem Recht und ihrer Bedeutung auch auf diefem Gebiete nur erfannt, wenn die Zuftände, die der Reform bedurften, hervor: treten. Die Pflicht, hieran nicht in falſcher Schonung vorüber zugehen, wird durch die DVerfuche römischer Federn, die Refor mation durch eine miebrige werzerrende Darftellung zu verunglim⸗ pfen, noch dringlicher. Unbillig wäre es allerdings, wollte die Betrachtung nur bei diefen Zuftänden verweilen und bie groß artigen Leiftungen des Mittelalters ignorieren. Möge fie vielmeht in jener Blütezeit des Mittelalters anheben, in welcher die fird- lichen Ideale noch vom Schwung der Begeifterung getragen wer den, die Kirche als eine Geiftesmacht auf allen Gebieten ſich an meift, die Möfter Träger chriftlicher Kultur find und zugleich unter der Pflege der Hohenftaufen das deutſche Bürgertum über feine Anfänge Hinansgelangt ift und zur Selbftändigfeit mit glän- zenden Erfolgen fi durchkämpft.

1.

Schon aus den Anfangszeiten der chriftlichen Kirche wird eine große Anzahl von Pflegeftätten auf die fpäteren Jahrhunderte vers erbt. Beſonders der alte hriftliche Kulturboden des Oberrhein ift mit ihnen befegt. Die Möfter Hatten dort ihre erften Kranken

foldhe Darſtellung im feiner Ausgabe der „Eoangelifchen Kirdpenorimngen de⸗ 16. Jahrhunderts“ veröffentlicht! Zahlreiche und wertvolle Eingelbeiträge em · Halten die Biographien der Reformatoren und reformatoriſchen Mässer.

Die Liebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. 668

häufer und Pilgerherbergen gegründet 1), wie es die Chrodegangſche Regel den Benediktinern vorfchrieb. Später wachſen dieſe An« ftaften nicht nur aus dem Organismus des Klofterlebens hervor, and Bifchöfe und Kanonifer rufen fie durch Stiftungen ins Beben, und die ſachſiſchen Kalfer Halten darauf, daß die Zehnten von allem Freigut, die Saal- ober GSeelzehnten, den Zwecken ber chriſtlichen Liebesthätigkeit erhalten bleiben ). Dann aber beginnt in der Epoche ber Kreuzzüge eine neue Zeit des Stiftens und Grändens für die Anftalten der Charitas. Die Bewegung, in welcher die Völker des Abendlandes durch Jahrhunderte erhalten werben, mit ihren Antrieben zu Werken und Leiftungen, mit dem gefteigerten VBebürfnis der Fürforge und Pflege und mit den Ger legenheiten zur Bereiherung für die Kirchen der Heimatländer hat gewiß auch in Deutſchland manches Hofpital entftehen laſſen. Be— fonder8 aber ift das 13. Jahrhundert von Bedeutung. Die deut⸗ hen Städte blühen auf, das Bürgertum kommt zu Wohlftand und fogialer Geltung, mit eigener züher Kraft vorwärts dringend, nachdem die Gunft der Staufen ihm emporgeholfen hatte. Die alten Geſchlechter, die Geiſtlichen, auch die Kaifer felbft find alle in edlem Wetteifer an den Liebeswerfen, wie man fie zu jener Zeit auffaßte, beteiligt. Die zweite Fundation des Ulmer Hofpi» tal8 geſchah fo 1240 dur Bürger der Stadt unter Beihilfe bes Kaiſers Friedrich ?). Und alle diefe Stiftungen, wen fie immer ihren Urfprung verdanfen, ermachfen auf dem @eiftesboden ber Hriftlichen Srömmigfeit des Mittelalters. Schon der Name ber Mehrzahl: Geifthofpital, hospitale St. Spiritus, verkündet diefen

1) Kettberg, Kirchengeſch. Deutfhlande II, 683f. Mone, Zeitſchr. U, 268.

2) Bobmann, Rheingauifche Altertümer (Mainz 1819) II, 871. Hein- ich befichft der Abtei S. Marimin: „de ecclesiis vero et de omnibus per otam abbatiam salicis decimationibus nulli omnino beneficium aliquod :oncedi permittimus, sed in usus hospitum, pauperum et peregrinorum ‚erpetualiter constituimus et saneimus“. ũhulich Heinrich IN. gl. Bait, Deutſche Berfaffungsgeic. VII, 349 ff.

3) Jäger, Schwählides Städteweſen im Mittelalter, ©. 464. Bol. innen, Geld. von Köln III, 807.

664 Hering

Zufammenhang, mie ihn ber Lombarde in dem Say von der Hoentität der Siebe und des h. Geiftes ausgeprägt hatte‘). Ein Zeugnis für die Macht diefes Geiftes ift die Zahl der Hofpitäter. Stetig wachſend mit immer neuem Zuflug an Stiftungen erreicht dieſelbe eine erſtaunliche Höhe. Im 14. Jahrhnndert ift kaum eine Stadt ohne Hofpitel; größere Städte befigen ihrer eine An zahl. In Köln, dem deutfchen Rom, gab es ihrer acht 2); am Oberrhein waren viele Dörfer mit noch nit 200 Einwohnern mit dem Haus der riftlichen Barmherzigkeit ausgeftattet ®). Und viele der ftäbtifcgen Hofpitäfer find fehe reich, gleich den SM öftern im Befig von Wiefen und Weiden, Gärten und Weinbergen, Gütern und Mühlen. Hofhörige Leute bearbeiten die Grund ftüde; Erträge des Feldbaus, Naturallieferungen als Pächte und Zehnten machen jene ftattliche Pflege möglich, von der die Küden- zettel der Hofpitäfer Zeugnis geben. Schwerlich genoß der Hörige Mann, der den Ader des Hoſpitals pflegte, gleiche Koft, wie fie die chriſtliche Liebespflege dem Kraufen und Armen darreichte, des Bratens und Weins an Fefttagen nicht vergefjend 4).

Nicht minder eifrig wird im Mittelalter für eine andere Kate: gorie von Pflegebedürftigen geforgt, für die Pilger; und auch für diefen Zweig der chriftlichen Liebesthättgkeit bedeuten die Kreuz⸗ züge eine neue Epoche. Denn fon feit Konftantins Zeiten

1) Petrus Lombard., lib. I, dist. 17 u. 10. Zunächft zwar meint der Lombarde das innertrinitarifche Verhältnis, wenn er die charitas die Subftan; im Bater, Sohn und Geift nennt (I, 10). Damm aber iſt der 5. Geift aut charitas, qua diligimus Deum et proximum. Die brüberlide Liebe iR daher felbft Gott (dev Lombarde verweift auf Röm. 5, 5), und durch die cha- ritas wohnt die Trinität in uns (I, 17). Bon diefer Auſchauung aus if der Rome „Geiſthoſpital“ zu erfläcen, nicht aus dem Ramen der Brüderfchaft vom h. Geiſt. Bielmehr geht auch diefer Name auf jene Lehrbetrachtung Zuräd.

2) Ennen, Seh. von Köln III, 807 ff.

3) Mome, Zeitſchrift II, 265.

4) Über die Wohlhabenheit der Hofpitäler vgl. Jäger, ©. 467. Kür im SHafberfläbter Urkundenbuch, beraußgeg. von Schmidt II, Wr. 40. 45. 50 u. 0. Die ausführficeren bentfchen Gtäbtegefchichten überhaupt find je vergleichen. Zur Hofpitalbewirtung iſt zu vergleichen Jäger, ©. 479.

Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 665

bewegt immer fteigend ein Wanbertrieb die Welt bes Mittelalters, der die Heiligen Stätten zum Ziele und im Glauben an die Ver- dienftlichfeit des Beſuches derjelben feine Wurzeln hat. Er erfaßt aud die germanifchen Völker, denen die Luft am Wandern im Blute Ing. Wie früh fittlihe Schäden und Mißftände hierbei zu- tage traten *), die Pilgerfahrt behielt im kirchlichen Bewußtſein doch ihre Geltung. Sie biieb Bußübung und nicht bloß den Bilgern ſelbſt verdienftlih. Lohnmürdiges Werk war es, ihnen zu⸗ hilfe zu kommen. Wer auch nur eine Fähre über den Fluß ein tigtete, eine Brüde baute, eine Wegſtrecke befjerte, hatte Verdienſt. Die Könige der Langobarden, dann die Merovinger Hatten dieſe Liebespflicht geſchärft, ich der Pilger eifrig angenommen, fie von Zoff und Brüuckengeld befreit, der Gaftfreiheit aller, befonders der öfter, empfohlen propter amorem Dei et propter salutem animae. Die Klöſter Hatten ſchon damals befondere Räume oder Häufer, für die Pilger. Beſonders an den Päffen, auch in denen der Alpen, baute man Hofpize; das auf dem Mont Cenis ift zu Ludwigs des Frommen Zeit entftanden. Auch die größeren Städte bergaßen nicht, dem Pilger folche Gaftfreiheit zu bieten.

Die Kreuzzüge fteigerten noch die Vorftellungen von der Ber» dienftlichkeit der Betfahrt. Die eigentliche Begeifterung warb von diefen Vorftellungen überdauert. Pilger zogen ins Heilige Land, als fich Fein Heer mehr rüftete. Auch als nicht mehr die Scharen derer, die das Kreuz genommen hatten, zu den Sammelplägen ziehen, ift der Pilger eine ftehende Erfcheinung der Heerftraße, weithin kenntlich an feiner Tracht, dem breitfrämpigen Hut mit der Bilgermufchel, dem Stab und der Flaſche, mie fie noch heute der Pferdehirt auf ber Pußta führt. Tauſende machen die Roms fahrt zu den Gräbern der Apoftel Petrus und Paulus; wieder andere zieht die berühmte Reliquie eines kleineren Wallfahrtsortes an, und alle diefe Scharen, die zu Fuß das Land durchwandern, erft in Wochen und Monaten ans Ziel gelangen, ftellen an bie chriſtliche Gaftlichkeit Anforderungen, machen Leiftungen nötig, wie fie der Chriftenheit nicht wieder zugemutet find.

1) Rettberg II, 741.

066 Hering

„Glienden-Herbergen“ nannte man bie Pilgerhäufer, denn das fhöne, vom Heimweh eingegebene Wort „Elend“ bezeichnet den Bremden. Auch die Jakobshoſpitäler weifen darauf zurüd, daß fie aus der Pilgerpflege entftanden. In Norbdeutfchland ift dies augenſcheinlich ber Ball, denn nach ben nördlichen Hafenftäbten hin finden fie fih in dihterer Gruppierung. Dort fchiffte man fich nah San Compoſtella ein, der Stadt, die von San Giacomo poftolo den Namen trug. „Die größten Zeichen, bie kein Heiliger tun mag, die thut diefer Heilige“, fagt trenherzig Hermann von Fritzlar Y. Ihn pries man als den „wahren Jakob“ °). Wer die Meerfahrt antrat, dem leuchtete am Nachthimmel wegweiſend der „Satobsftab“. Und wie groß die Zahl derer war, die bie weite Reife unternahmen, bezeugt derfelbe Hermann: „Ihn fucht man in aller Epriftenheit, und Frauen und Männer wagen Leib und Leben, daß fie kommen zu feinem Münfter.“

Aber am Pilgerwefen hafteten ſchon in jener Zeit „fittliche Schäden; und der Eifer, der Eritiflos den Pilgern Weg und Steg ebnete, fie beherbergte und fpeifte, half ohne fein Wiſſen dazu, jene Schäden mit groß zu ziehen. Einem Prediger wie Berthold von Regensburg, der bei verbienftlichen Werken zugleich nach der Zucht und Sitte fragte, und dem der Gottesdienst nicht im Heiligen. Kult aufging, war es Gewiffensfahe, gegen das Abergläubifche und fittlich Bedenkliche der Pilgerfahrt zw zeugen. Von dem toten Schädel, den feine Zuhörer in Compoſtell fuchen möchten, verweiſt er fie auf den Herrn felbft, der in der Mefje gegenwärtig fei. Und was die Frauen betrifft, fo Hält er ihre Romfahrt für fo viel nüge wie einer Henne Flug über den Zaun ®). Den fitt- lichen Gefahren aber gingen auch foziale zur Seite. Wie viele, die fi ihrem Beruf auf lange Zeit entzogen, ganz oder teilweife ihres Eigentums ſich entäußerten! Die natüirlich-fittlichen Gottes⸗ ordnungen mußten von der felbjtermählten Geiftlichfeit beeinträch«

3) Ausgabe von F. Pfeiffer, ©. 169.

2) Bgl. den Aufſatz von Kohl in der Zeitſchr. für deutſche Kulturgeſch. II, 103ff. zu dem Abſchnitt über die Pilger.

3) Berthold von Megensburg, Predigten, Ausgabe von F. Pfeiffer, ©. 356. Dort aud) die Erläuterung durch einen befonderen Fall.

Die Mebesthätigfeit der deutſchen Reformation. “@

tigt werden. Und leicht verloren die, welche in Beruf und Arbeit nicht mehr fittlihen Boden Hatten, auch Sitte und Zucht, pil⸗ gerten, ohne je an das Ziel zu kommen umb Tiefen bie Betfahrt in Bettelwege enben. Andere lohnten der Einfalt, welche ihnen den Weg geebnet, indem fie zurückkehrend neue Reliquien mit⸗ bradjten, wie fie feit den Kreuzzugen das Land überſchwemmten. Zugleich mit den frommen Pilgern werden alle diefe zweifelhaften und bebenklichen Gefellen mitgehegt und -gepflegt. Sie dürfen die Thüren der Fremdenherbergen belagern, ſich aus den Klofterküchen füttern faffen. Hier tritt einer der Schäden, an denen die Liebes⸗ thätigfeit des Mittelalters tief Trank ift, an einer feiner größten Leiftungen zutage. Wenn au in der Pilgerherberge die Hause ordnung allzu zügellofem Treiben vorbengte, indem man Männer und Frauen in befondere Räume fonderte, bie Ans und Eingänge überwachte, an eine Beauffichtigung, Leitung diefer Maſſenwan⸗ derungen, an eine erziehliche Einwirkung auf die Einzelnen hat bie Kirche nicht gedacht. Und doch traten ſchon fehr widrige Erſchei⸗ nungen hervor. Die Landfrieden des 13. Jahrhunderts erklären außer dem Fried die Lotterpfaffen mit langem Haar, welde ſich in Gemeinfhaft mit Spiellenten und Weibsperfonen umhertreiben. Bettelhaftigkeit, Unfittlichkeit und Gaunertum beginnen alfo ſchon damals fih an das Pilgerwefen anzuhängen, die parafitiichen Er⸗ fcheinungen, die zum Ausgang des Mittelalters wie ein Krebs am Leibe des deutfchen Volkes zehren und zu einer Krifis drängen.

Neben dem Pilger erfeheint aber noch ein anderer Pflegling der chriſtlichen Barmherzigkeit, in deffen großer Not ebenfalls eine Frucht der Pilgerfahrten ſich darftellt: der Ausſätzige. Den Aus- ſatz, dieſe furdtbare Krankheit, die unferem heutigen Geſchlecht nur aus der evangelischen Gefchichte bekannt ift, kannte das Mittel» alter aus reichlicher, ſchmerzlicher Erfahrung. Schon im 4. Jahr⸗ hundert fand er fih bei den Kelten, früh auch bei den Deutſchen, teils durch Unreinfichfeit unter den niederen Volksklaſſen erzeugt und verbreitet, teils duch Pilger aus Afien eingefchleppt. Früh mar aud bie hriftliche Barmherzigkeit der Pflicht eingedenk, diefe Nachfolger des Hiob und Lazarus zu tröften und zu erquiden ?). 9 Die Ausfaghäufer Italiens hießen „lazaretti “.

668 Hering

Schon im Jahre 549 beftimmte das Konzil von Orleans, daß man Ausfägigen vor der Kirche Kleidung und Speife reiche ?); ja, mit jelbftverleugnender Hingebung ward ihnen gedient; fo wuſch in St. Gallen ihnen Abt Othmar felbft die Füße und wartete ihrer Wunden). Die Kreuzzüge, indem fie den Verkehr mit dem Orient zu Flutwellen fteigerten, Haben fpäter die Anſteckungskeime durch ganz Europa, den Süden und Weften zumeiſt, ausgeftreut. Denn feit der Mitte des 12. Jahrhunderts erfcheint die erotifche Pflanze üppig wuchernd an allen Orten; der Ausfag wurde zu einer, fir einige Jahrhunderte ftehenden furchtbaren Plage. Zur gleich aber wuchfen die Anftalten, welche den Angeſteckten wenig« ftens eine Zuflucht boten; Frankreich) Hatte im 12. Jahrhundert zweitauſend Seprofenhäufer; in der Chriftenheit ſoll fich ihre Zahl auf neunzehntaufend belaufen Kaben®). Und vor den Anftalten des Orients und denen Süd ⸗Europas erwarben ſich bie germa⸗ nifchen den Ruhm, daß Hier ein höheres Maß chriſtlicher Barm⸗ herzigkeit walte. Denn in jene war die aftteftamentliche Praxis, den Kranken aus der Gemeinſchaft auszufchließen, übergegangen; ber Ausfägige galt fir Tebendig tot (Num. 12, 12). Auf freiem Felde war ein Altar gebaut; dort hörte der Unglücliche feine Totenmeffe, vernahm die legten Ermahnungen, fein Leiden recht zu tragen. Dann legte er das Mleid an, welches ihn fofort als Aus- fägigen und aus aller Gemeinfchaft mit Gefunden Berbannten kennzeichnete und ward in das Beprofenhaus, wo er Leidensgenoſſen fand, oder in eine einfame Hütte im Felde geführt. Im Deutfchland anders. Zwar verfäumt man nicht die Vorkehr gegen Auſteckung. Der Ausfägige war aud hier „ausgezählt“ ; er durfte nicht in der Stadt um Gaben bitten, aber draußen vor dem Thor, auf der Brüce oder am Wege war ihm eine Stätte angemiefen, wo er im langen Kleid, das Haupt mit einem Tuch umwunden, einen langen Stab mit einem Säcklein hinreichte und um eine Spende anſprach“). Auch traf man Hier und da die Einrichtung,

1) Rettberg II, 668.

2) Rettberg II, 786.

3) Nah) Benete, Hamburgiſche Geſchichten, ©. 11.

4) Bol. den lehrreichen Artikel Kamphanfens über den Ausſatz in

Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 669

daß an beftimmten Tagen der Woche ein Einfammler milder Gaben mit Korb und Glocke dur die Straßen ging‘). Der Ertrag der Sammlung war für die „armen Siehen", die „guten Rente” fo nannte man bie Ausfägigen Hier und da und andere Kranke in dem Hofpital beftimmt. Auch das Siechenhaus, das Hofpital für die Ausfägigen, dürfen wir uns nicht ohne Leitung und Pflege criftlicher Barmherzigkeit denken, mochte fie auch nicht immer fo wohlorganifiert fein, wie im Kamburger Siechenhaus, das Adolf IV. von Schauenburg zu Holftein ums Jahr 1195 nad) der Rückkehr vom Kreuzzuge gegründet und dem heiligen Georg geweiht Hatte”). In der Stille gethan, find diefe Werke fpäteren Geſchlechtern nicht fund geworden. Aber ein

€. Riehms Handworterbuch des bibl. Altertums, &. 120ff. und die an- ſprechende Schilderung in Benete, Hamb. Geſch. u. Denkw., ©. 8ff. Über einzelne deutſche Städte bietet H. Häfer Notizen in der „Geſch. der dheifll. Kranfenpflege (1857), &. 30ff. Über die Kranfheit, ihre Verbreitung und Behandlung vgl. H. Häfer, Lehrb. der Medizin (3. Bearbeitung), III. Bd. Geſchichte), S. 70ff. Ratzinger, Geh. der kirchl. Armenpflege (1868), S. 273ff. Hier wie bei Häfer und Riehm ältere Litteratur.

4) Diefen „Glodenkorb* finden wir dann in der Weformationszelt in einigen Städten wieder. Noch jegt befteht im mauchen kleinen Städten Chir ringens ein lehter Reſt ber alten Gitte, indem ber Gemeindehirt ſich an Feſt- tagen fein Kuchendeputat auf biefe Weile einfordert. So z. B. in Weißenfee,

%) Beneke, ©. 8.17. Das Siechenhaus hat feinen Namen nicht, wie es nad) dem heutigen Sprachgebrauch; anzunehmen nahe liegt, von „ſiech“, im Sinne von „ſchwaͤchlich, kränklich“, fondern von der beftinumten Seuche des Ausfages. Der Name wurde fpäter für Armen- und Krantenhäufer beibe- Halten, als der Ausſatz felten ward und ganz verſchwand. Auf die Abfon- derung weift noch das Kompofitum „Sonderſiechenhaus“ Hin. Andere Namen find: Leprofenhaus, Melaten-, Malazhaus (maladie ebenfalls im prägnanten Sinne für Ausfag), Miſelhaus, da der Ausſatz, wie andere Hautausſchläge auch „Mifelfucht” hieß; Gutlenthaus, nicht von ben Pflegern, dieſen „wahrhaft guten Leuten“ (Benete, ©. 17), fondern von den Ausjägigen, die man aud) „gute Leute, boni homines“ nannte. Lateinifde Bezeichnungen: domus le- progorum, infirmaria, aud) infirmitoria. Bgl. Mone, Zeitſchr. für Geſch. des Oberrheins II, 258. Ennen II, 814. Häfer, S. 82. Gegen das Ende des Mittelalters hat der Ausfag an Ausbreitung wie an Heftigfeit und Anfesungefähigkeit verloren; übrigens if die Bezeichnung „Ansjag“ niemals eine egafte geweſen; fie ſchloß im Mittelalter auch andere Hautkrankheiten ein,

670 Hering

Gedicht, wie „der. arme Heinrich“ Hartmanns von ber Une Konnte nicht entftehen, wenn jene innige felbftvergeffene Hingebung, mit der das Mügdlein des krauken Mitters fich annimmt und au fein Blut der Genefung besfelben zu opfern bereit ift, in der Wirklichkeit nicht zu finden gewefen wäre.

2.

Die Anfänge der Hofpitäler wieſen auf die Klöſter zurück; denn dieſe beſonders waren die Mutterhäufer jener in ber Zeit der Pflanzung des Ehriftentums in Deutſchland. Aber auch in der Blütezeit des Mittelalters, als die Anftalten fi vervielfacht Hatten, die Stifter und Helfer aus allen Ständen erftanden, trieb das Möncdtum neue, tragfähige Zweige. Seit dem 12. Jahrhundert entfalteten die Cifterzienfer eine großartige foziale Wirkfamteit. Sie waren zu einer folden vor anderen Drden durch die Ber ftimmung ihres Statuts ausgerüftet, da die Brüder ihren Lebens⸗ unterhalt mit der Arbeit ihrer Hände gewinnen folften. Schon duch ihre von Intelligenz geleitete und von der Hingebung des Gehorſams und feiner Zucht getragene Arbeit waren dieſe Wälder rodenden, Sümpfe troden Legenden Mönche, diefe geſchulten Waſſer⸗ baumeifter und feinen Obfttenner als bie rationellen Landwirte jener Zeit ein Segen fürs Sand; fie wurden auf ihren Grangien, den zahlreichen Höfen, die zu jedem Kloſter gehörten, die Vor- arbeiter im Landbau, bie Erzieher eines tüchtigen Bauernftandes in den norddeutſchen Gebieten mit ihrer gegen den Süben und Weften Deutfchlands fo viel fpäteren chriſtlichen Kultur. Aber ihre Arbeit befühigte fie auch zu befonderen Leiftungen für das im eigentlichen Sinne arme Voll. Der dee der Statuten gemäß ſollte ja dod der Ertrag dieſer Arbeit, die in mander Hinficht gegen die des Bürgers begünftigender Umftände genoß, nicht für Wohlleben, fondern für Wohlthun da fein. Und in der That, eine ſchrankenloſe Gaftlicgkeit ward gegen Hunderte gebt. Die Armen, die vorübergingen, erhielten beim Pförtner ein Stüd Brot, man fpendete ihnen die Überbleibfel der Mahlzeit, verteilte an fie Schuhe und Tuch) zum Gewand. Das Eifterzienferflofter Gunthers⸗ thal gab an der Pforte täglich fünfzehn Brote, ein Maß Wein,

Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. Lri8

drei Schüffeln mit Muß. Die Befte des Kloſters feierten Arme mit. Wenn eine Nonne eingeffeidvet ward, erhielten drei arme Leute Gefottenes, Gebratenes, Kuchen und drei Kaunen Wein. Für alle feine Spenden brauchte das Klofter jägrlih 1095 Maßt). In Hungersnöten warb biefe freigebige Milde zu umfafjender Fürforge. Dann thaten die reichen Cifterzienferklöfter ihre Vor⸗ väte auf. Ein rheiniſches Kloſter fchlachtete im Teuerungsjahre 1197 täglich ein Rind, um das Fleifh mit Gemüfe an die Armen zu verteilen. In Morimund rief, als es an Brot fon gebrach, der Abt den Brüdern zu: „Wehe mir, wenn ein Armer an ums ferer Pforte ftürbe, fo Lange wir noch das kleinſte Stüd Brot befigen!“ Der Abt des Kloſters Sichem wußte ſich in gleicher Bedrängnis des Herrn zu tröften, der mit fünf roten fünf. taufend Menſchen fpeifte. „So lange wir leben“, ſprach er, „ſollen die Armen auch leben, wenn fie fterben, wollen wir auch sterben in dem Heren.“ ®)

Anfänglich war die Anſtalt, welche fih bei jedem Kloſter findet, das Hoſpiz; Hoſpitäler waren nur mit einigen Klöftern verbunden. Im 12. Zahrhundert indes wurden biefelben zahl reicher von ben Cifterzienfern gegründet; und die Wirtfchaft in denfelben war eine fo amsgezeichnete, daß fogar Städte die Ver⸗ waltung ihrer Hofpitäter in die Hände der bewährten Brüder legten. Das Eifterzienferklofter Pforta 3. B. erhielt fo die Ver⸗ waltung des Georgen-Hofpitals in Erfurt °). Vorleuchtend in den Werken der riftlichen Gaftlichfeit und Barmherzigfeit wie in dko⸗ nomifcher Tüchtigkeit ftand der Orden in hoher Gunft bei den dentſchen Furſten

Und doch zeigen fich im eben dieſem Jahrhundert ſchon hier und da Spuren des Verfalles. Den Statuten von Citeaur zu⸗ wider treten jetzt die erften Symptome einer Veränderung im wirt« ſchaftlichen Verhalten auf, indem der Eifer, fi) von Zehntpflichten zu befreien, immer größer wird, mährend jene vorbildliche Trieb-

I) Mone, Zeitfhrift I, 147f.

2) Winter, Die Cifterzienfer des nordöſtl. Deutſchlands II, 142.

8) Winter II, 144. Hier noch andere Fälle. Bl. für das Kloſter Eberbach Mone, Zeitfä. IL, 282.

672 Hering

traft des Fleißes nachläßt )Y. Es wird fich fpäter zeigen, welche Tragweite über die wirtfchaftliche Lage hinaus diefes Zurüdbleiben hinter der urfprünglichen Aufgabe gewann. Schon jet wird es dazu mit beigetragen Haben, daß die Bettelorden wie ein glän- zendes Geſtirn fo ſchnell auffteigen, fo bald in der öffentlichen Geltung die arbeitenden Mönche überholen konnten. In den reich werdenden ifterzienfern ſah das Bürgertum Konkurrenten auf dem Gebiet des Erwerbs, in den Bettelorden Ideale des after tifchen Lebens. Mit Ehrfurcht blickte es auf diefe Nachahmer der Armut Chrifti, denen e8 auch zugute fam, daß fie über Zehnten und Ungeld nicht mit dem Bürger in Streit geraten, mit ihrem Befi und ihrer Hantierung dem Gewerbe nicht unbequem werden tonnten. Die Erfolge, bie fie auf einem anderen Arbeitögebiet, in Predigt, Seelforge, Gelehrfamfeit errangen, fegten die Parochial⸗ geiftlichkeit, nicht das Bürgertum in Verlegenheit. So befreundete ſich merkwüurdigerweiſe die foziale Macht, welche damals mit leiden- ſchaftlicher Spannung der Kraft für Erwerb und Eigenbefig thätig war, mit der neuen kirchlichen Erſcheinung, welche Erwerb und Beſitz verſchmähte. Die Franziskaner hinwiederum befegten ihrer- ſeits mit Vorliebe die großen Städte; dorthin wies ſie ihr Beruf, die Vollspredigt und die ſeelſorgeriſche Einwirkung auf die Maſſen. Was fie hier leifteten, erinnert in den guten Tagen des Ordens an die Beitrebungen der Gegenwart für „innere Miffton“ und bat in der Reihe der Liebeswerle des Mittelalters eine Ehrenftelle.

Doch Hatten die neuen Orden kraft ihres Prinzips die Bedeutung, eine foziale Gefahr, an der das Mittelalter Leidet, zu fteigern, fie noch dazu mit dem Schimmer ber Vollkom⸗ menheit zu umgeben. Denn die Vollkommenheit des Lebene durch freiwillige Armut Tieß auch den Bettler ohne Ordenskleid weniger häßlich erfcheinen. Noch gründlicer, als es ſchon ohne hin und wie reichlih! geſchehen, ward das Urteil der Chriftenmenfchen über bettelnde Armut irre geleitet; die Schmach und fittliche Gefahr derfelben hat das Mittelalter nie erkannt; aber jegt fing die Schmach an fih in Ehre zu verwandeln, und

1) Mone, Quellen zur badiſchen Sandestunde III, Bd,

Die Aebesthatigkeit ber deutfchen Reformation. 678

der terminierende Monch, der auf die Dörfer ging, um Brot und Käfe zufammenzuholen, war für das Gefühl der anderen, die auf Bettel ausgingen, faft eine ermutigende Geftalt.

Aber auch abgefehen von diefer Ruckwirkung erftand mit dem Anwachſen ber Bettelorden ein wucherndes Gebilde, das am Ganzen des Volkslebens zehrte. Je beliebter und je zahlreicher jene wurden, defto größere Opfer machten fie, bie nicht arbeiteten und doch afen, nötig. Wenn die Berechnung richtig ift, daß der ſchwarze Tod in Deutſchland 124400 Bettelmönche weggerafft '), und wenn biefe Zahl als ein Drittel der Geſamtſumme angenom- men wird, fo erhalten wir einen Eindrud von dem Gewicht dieſes fozialen Faltors. Was immer Gutes die Mönde am armen Bolt geſchafft haben, fie haben die Armut felbft nicht gemindert. Sie bifdeten eine Körperfchaft, die aus himmliſchen Beweggrunden die irdifche Arbeit verfhmähte und mit Anfpruch auf chriſtliche Voll⸗ Tommenheit die Hand nad dem Almofen. der nicht Bolltommenen ausftredte. Es war wohl nicht Zufall, daß gleichzeitig mit den Bettelorden die Beghinen emporfamen. Die Gunft gleicher An« ſchauung von verdienftlicher Armut hob fie. Aus den Nieder- landen nach Deutſchland verpflanzt, finden fie fi bald *) als Affiliterte der Bettelorden an vielen Orten. Sie lebten nad ber dritten Regel des h. Franciscus, durch die dem Bettelorden eine „breite, vollstümliche Grundlage“ gegeben war?). In Köln er ſchienen fie im Jahre 1247, und 1261 waren ihrer ſchon zwei⸗ taufend. Am Rhein und in Oberbeutfchland begegnet man ihnen überall; aber auch bis in die Mark Brandenburg finden ſich ihre Spuren. Noch jetzt ftehen „Beghinenhäuſer“ unter den Ruinen des Kloſters Lindow. Die an Irrungen und Scidjalen reiche Geſchichte der Beghinen9) ift doch auch mit der der chriftlichen

2) Häfer, Geſch. d. Med. III, 180.

2) Anfanglich Iebten fie in Genoffenfhaften unter Meifterinnen, die mit disziplinarer Befugnis ausgeſtattet waren.

8) Über die Tertiarier dgl. Haſe, Franz von Aſſiſi, ©. eff.

4) Durch ihre Beteiligung an der Härefie der freien Geifter verfielen fie befanntlid der Erfommunilation. Vgl. bie Bulle Klemens’ V. im Corp. jur. can. lib. IH, tit. XI, cap. 1 und die Johannes XXI. in der Extrav, Joann. XXI. tit. VII

Abeol. Etub. Dahrg. 1888, 44

624 Hering

Vehesübung verflochten. Sie dienten den Kranken in den Hofpis tälern, Halfen beim Begräbnis, lagen pflichtmäßiger Gebetsübung ob, die jemand ſich bei einer Stiftung ausbedungen hatte So als betende Gehilfinnen des Seelenheild anderer Haben fie auch den Nomen „Seelfrauen“ getragen. Meiſt waren fie arm; doch bereiteten ‚ihr Dienft und der Eifer des Stifters ihnen zuweilen andy eine behagliche Lage, fo daß der Stadtrat, um ſich die Steuer von igrem Güterbefig nicht entgehen zu laſſen, ihnen das Bürger» recht verlieh; anderſeits reichten oft die Almoſen nicht für fie zu. Sie nährten fi dann don Handarbeit, namentlich Nähen, Weben und feiner Stiderei, oder vom Bette‘). Wie bedeutend ihre Bflegetpätigkeit in verſchiedenen Zeitabfchnitten geweſen fei, wird ſich nicht völlig deutlich ermitteln laſſen?). Aber auch abgefehen von den Schäden, die fie durch die „freien Geifter“ dann durch Freitzeit des Fleiſches erlitten, find auch fie ein Symptom für die ungefunde Seite mittelglterlicher fozialer Zuftände. Sie bilden mit all den Jungfrauen, welche, das Gelübbe binhet, eine „Frauenfrage des Mittelalters", welche mande fehlunme Frucht getragen hat. As die Orden, an bie fie ſich angeſchloſſen Hatten, fittlicher Fäufr nis verfielen, find fie yon derſelben mitergriffen worden.

Tür dag 13. Zahrhundent, aber ift die Reihe der imponierenden und für die: priftliche Lisbesthätigkeit fruchtbaren Erfcheinungen des

2) Ennen II, 819f. 826. €. Bücher, Die Frauenfrage des Mittel- alters (1882), S. 28ff. Frank, Geſch. von Oppenheim, &. 113. Jäger, Schwãbiſches Städterwefen des Mittelalters, ©. 489. Vgl. auch in Herzog, Neal-Enc, den Art. „Begharden, Beghinen“.

2) Es muß auffallen, daß die Bulle Johanns XXIL, melde fie einiger maßen veftitwiert (vgl. oben die Exrfommunifationsbullen), gerade die Kranken pflege nicht erwähnt, während fie Übrigens mit Anerkennung nicht fpart: „Ve- rum quia in multis mundi partibus plurimae sunt mulieres, quae simi- liter vulgo Beguinge vocatae, segregatae quandoque in parentum aut suis, interdum vero in aliis aut conductis sibi communibus domibus in- simul habitantes, vitas deducunt honestas, ecclesias de nocte frequen- tant, dioecesanis locorum et parochialium ecelesiarum rectoribus reve- renter obediunt, curiositatem disputandi, aut auctoritatem, seu temeri- tatem potiys prapdicandi nullo modo sibi usurpant, nec se vel alias seu alios quog libet praemissis opinionibus erroribusque invalvunt ...“ (Extrav. comm. lib. III, tit. IX).

Die Liebesthätigfeit ber dentfchen Reformation. 6

Mönhtums noch nicht erſchöpft. Eine der bedeutendften ſtellt ſich in den Orden dar, welche unter dem Anhauch der Begeifterung durch die Kreuzzüge recht eigentlich aus dem Trieb der chriftlichen Fürſorge für Pilger umd Kranke hervorgewachſen find. Mag es fein, daß die Johanniter als Pflegeorden in Deutfchland, auf das fich unfere Betrachtung befchränft, weniger hervortraten 9), fo ift doch der Deutfchorden neben feiner befonderen Miffions- und Kultur aufgabe im Often der Pflicht der Armen» und Krankenpflege nach⸗ gelommen. Den alten Preußen brachte er das Evangelium zwar auf der Spige des Schwertes, aber der Unterdrüder baute ‚nicht blog Burgen, ſondern auch Heimftätten der Liebe. Das bedeutete etwas für das Preugenvolf, das zwar feine Verarmten unterftüßte, aber feine ArbeitSunfähigen und Krüppel totſchlug oder verbrannte %). Marienburg erhielt drei Hofpitäler: das Serufalem-, Georg und Heiligengeift-Hofpital, welche aus reichen: Zändereien ihre Einkünfte zogen. Rein Ordenshaus war ohne Spital; der Komtur ſelbſt hatte die Pflege der Kranken zu beauffichtigen®), ein Oberſt⸗ Spittler in Elbing, wo eine ber bedeutendften Anftalten. fi bes fand, Hatte das Hofpitalwefen von ganz Preußen unter ſich. Er folgte im Range dem Marſchall“), ein Umftand, der auf die Geltung der ihm zugewiefenen Aufgabe ein Licht zurückwirft. Dem. entfprac das Wirken des Ordens in Deutfchlend. In 12 Balfeien durch das ganze deutfche Gebiet verzweigt, von Boten bis Utrecht und von der Mofel bis an die Weichſel Hat er überall mit den Orbdenshäufern Spitäler verbunden, in denen ein Spittel- oder Siechmeifter die Pflege leitete und überwacht; denn die Hausordnung gebot, die Kranken follten nach Notburft ehrlich ge— halten werden, der alten Gewohnheit de8 Ordens gemäß ®). Halle a/S. war der erfte Ort, wo der Orden im Jahre 1200 Fuß faßte und, unterftägt durch die Schenkung des Magdeburger

1) Bal. Ratzinger ©. 264 gegen Häfer, Geſch. der Krankenpflege, 2) Ederdt, Geſch. des Kreifes Marienburg, ©. 57. 3) Boigt, Geh. Marienburgs, S. 52. 4) Ederdt a. a. O. Boigt, Geſch. Marienburgs, S. 84. Eine auf das Heifigegeift-Hofpital fid) beziehende Urkunde, S. 5205. 5) Boigt, Geſch. des deutſchen Ritterordens I, 2597. 44*

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Biſchofs Ludolf von Kroppenftädt, zu Ehren ber 5. Kunigunde ein Hofpital für Armen» und Sranfenpflege erbaute *). Dann folgten raſch weitere Gründungen, die Ausbreitung des Ordens begleitend 2); auch ſchon beftehende Anftalten wurden ihm zuge wiefen 3). Wie in Preußen Efbing, fo gewann in Deutfchland Nürnberg durch das Elifabeth-Spital die Bedeutung eines Vor⸗ ortes 4). Und Gunft und Gnade wurden über den Orden jo aus⸗ geſchuttet, daß er zu Hervorragenden Leiftungen ausgerüftet war. Bapft und Kaifer waren Hierin wenigftens eins. Jener belohnte in ihm den legten kräftigen, verdienftvollen Träger des Kreuzzugs⸗ gedankens durch Freifprehung vom Zehnten, durch die Erlaubnis, überall, von niemand beunruhigt, Almofen fammeln zu können, durch Betätigung der zahlreichen Schenkungen; Friedrich aber, dem Hermann von Salze ein Freund war, vergalt nit nur die Verdienfte um die Chriftenheit, ſondern aud die Treue gegen den Kaifer und fein Haus, wenn er den Orden in feinen Schug und Schirm nahm und ihm außerordentliche Freiheiten ges wahrte 5). Unter Fürften, Grafen und Herren, geiftlichen und weltlichen, erwachte ein Eifer des Stiftens und Schentens, durch den der Orden ſchnell zu einem umfangreichen Orundbefig gelangte ; es iſt der Adel deutfcher Nation, der aus Chriftenpflicht und Standesbemußtfein fich gerade dieſes Ordens annimmt, und wie würdig diefer folcher Hingebung war, dafür zeugt das Ber- trauen, das ihm die 5. Clifabeth bewies, indem fie die DVer- waltung ihrer Marburger Stiftung in feine Hände legte. Aber auch Nict-Ritterbürtige wurden als Halbbrüder aufgenommen. Schweftern und Halbſchweſtern, Frauen aus dem Adel wie aus dem Bürgerftande Haben in den Orbensfpitälern Dienfte

3) Voigt, Geſch. des Deutſchen Ritterordens I, 2.

2) Im Jahre 1208 in Frieſach und Mäcnthen; 1210 in Regensburg; 1212 in Nürnberg; 1216 in Koblenz; 1220 in Speier; 1221 in Frankfurt. Bol. Voigt, Bd. I.

8) So das Hofpital in Altenburg (Boigt, ©. 4); das vom ber 5. Eli⸗ ſabeth in Marburg gefiftete (Voigt, ©. 22f.).

4) Boigt, Geſch. des Deutſchen Ritterordens I, 84.

5) Boigt, Geſch. Preußens II, 98ff. 118ff. (Dort auch Anszüge aus den Tatferlichen Urkunden und den Bullen Honorius' III.)

Die Liebesthatigkeit der deutſchen Reformation. 6

geleiftet. In fpäterer Zeit entftanden in manden Balleien fürm- liche „Schwefterkonvente” ; das Frankfurter Frauenkloſter, beffen Bau 1344 begonnen ward, war mit einem Hofpital für zwanzig arme Frauen verbunden, und bie Pflege derfelben war den Ordensſchweſtern, Jungfrauen aus altbürgerlichen Geſchlechtern, übertragen). Auch den Priefterbrüdern, zu deren Aufnahme abelige Geburt nicht erfordert ward, wurden die Werke der chriſt⸗ lichen Liebe durch befondere Amtsverpflichtung befohlen. Sie hatten die Seelforge zu üben, die Armen und Kranken zu bes fuden, an ihrer Pflege fi mitzubeteiligen. Sie follten die „Ölänzfterne” fein, melde in Zucht, Sitte und Pflichttreue den Nitterbrübern voranlenchteten ).

Nur in Umriffen ift im Vorftehenden ein Bild der kirchlichen Pflegeanftalten gegeben. Aber die Liebesthätigkeit iſt nicht bloß Anftaltspflege. Die Kirchen, Möfter, Hofpitäler hatten vielmehr auf Grund zahllofer Einzelftiftungen Almofen und Spenden ver» ſchiedener Art auszutellen. An dem Todestage der Stifter im Anſchluß an die Seelmefje erhielten Arme Brot, Tuch zur Klei⸗ dung und Schuhe; Naturaljpenden (largae) überwogen; doch teilte man aud wohl Feine Geldfpenden (eleemosyna) aus; oder man gewährte den Armen an jenem Tage den Beſuch der Badeſtube, die fich in jeder Stadt des Mittelalters findet, weil das warme Bad ein allgemeines Vollsbebürfnts bildete, deffen Befriedigung man nur den asketifch Lebenden entzog. Auch ward für gewiſſe Telertage den Armen im Spital der „Tiſch gebefjert“, ftatt der gewöhnlichen „Pitanz“ (Kompetenz) eine Extrafpende in Weißbrot, Fleifch und Wein gewährt. Plan, Ordnung ift in dieſen Spenden nicht; es find, um einen treffenden Ausbrud Bugenhagens zu brauchen, „verftreute Gaben“; aber fie fallen doch, wie ein erquidender Regen im zahllofen erfriſchenden Tropfen auf das Elend der Armen; fie erinnern uns, unter der Zahl jener ftatt- lichen Anftalten die „Scherflein“, die Größe des Kleinen nicht zu überfehen; und wenn wir daran denken, baß es Barmherzigkeit,

V Boigt, Gef. des Deutſchen Nitterordens I, 880ff. 844. Geld.

Preußens II, 114ff. 2) Boigt, Gef. des Deutſchen Kitterordene I, 200 ff.

8 Hering

chriſtliche Milde ift, welche den Beweggrund aller dieſer Anftalten, Werke und Gaben bildet, fo befommen wir einen Eindrud von der fozialen Macht jener mittelalterlichen Kirche, dem wir uns auch bei einer kritiſchen Betrachtung nicht entziehen dürfen, wollen wir nicht ungerecht fein. 3

Zur Kritit allerdings drängt ſchon in der äußeren Erſcheinung jener Liebespflege manches. Diefe in ihrem hierarchiſchen Aufbau fo kunſtvoll gegliederte Kirche Hat, eben weil fie auf hierarchiſcher Baſis fi erbaut hat, das Hauptftüc wirklicher Organifation, die gemeindliche, Tängft vernachläffigt, und ihre Erneuerung follte, wie wir fehen werben, von einer ganz anderen Seite angeregt werben. So Hat au alle von der Kirche und von den Klöftern ausgehende Thätigfeit nur an jenen Anftalten feine Mittelpunkte, und um fie ift ein aus aller Welt zufammengelaufenes Heer Elender gelagert. Jene Anftalten gleichen Reſervoiren, die fih aus taufend Zur flüffen füllen, um fi nad) taufend Seiten zu ergießen; aber Zur fluß wie Abfluß Haben mit der lokalen Kirchengemeinde keinen ane deren als zufälligen Zufammenhang. Werner fehlt in der Liebes- thätigkeit der Kirche im ganzen das pädagogifche Moment. Gene Maſſen Armer bejchließen ohne Zweifel in fih Böſe und Gute, wirklich Hilflofe und Faule: die Barmherzigkeit der Kirche öffnet allen ihre Hand ohne Unterſchied. Daß es eine Aufgabe der Volkserziehung giebt, die gerade für rechte Armenpflege im Auge behalten werden muß, dafür ſcheint der Kirche des Mittelalters die Erfenntnis völlig zu fehlen, während doch ihr anftaltlicher Charakter fie gerade auf diefe Aufgabe Hinwies. Es muß dem⸗ nad die fo auffallende Verſäumnis in ihren fittlichen Prinzipien einen Grund Haben, ben es aufzudecken gilt *).

ij uhlh orn geht in feinem verbienftvollen Aufſatz „Vorſtudien zu einer Geſchichte der Liebesthätigkeit im Mittelalter” (Zeitſchrift für Kirchengeſchichte, 3b. IV, Heft 1) jenen Zufammenhängen nad. Mit der Thefis Uhlhorus (S. 52), die Anſchauung von der Verdienflichteit des Almoſens wurzele in einem falſchen Eigentumsbegriff, bin ich indes nicht einverfianden, Halte viel- mehr die asketiſche Richtung der mittelalterlichen Ethit für die Wurzel jenes Eigentumsbegriffes.

Die Liebesthätigfeit ber deutfchen Reformation. 079

Der Eindrud von ber Großartigkeit jener Leiftungen wird ja zunächft dadurch noch gefteigert, daß diefelben fämtlich den von der Kirche ins Volkstum eingepflanzten und alle Schichten des⸗ felben beherrfchenden Beweggründen entftammen. Was irgend gegeben wird, wird „durch Gott“, nm Gottes Willen gegeben. In der Prebdigtlitteratur ift uns noch fpredender als in den Summen der Kirchenlehrer ein Zeugnis davon bewahrt, wie bie Kirche jenes Motiv pflanzte und pflegte. Hier wo fie auf Herz und Gewiffen des Volkes einwirkt, fehen wir ihrer Liebesthätigfeit ins Herz, umd die inmerliche Seite derfelben, die ſich uns da erſchließt, bietet Züge des Gemeindhrifilichen genug. Es iſt doch chriftlicher Bruderfinn, wie er die Gegenfäge von arm und reich innerlich ausgleiht, wenn eine Predigt das Gebot, fi über den Nächſten zu erbarmen fo auslegt: „Du follft gedenken: o weh, Herr vom Himmel, wie ift der arme Menſch fo wohl ein Menſch als id; o weh, Herr, num haft du ihn ſowohl gefchaffen wie mich; o weh Herr, nun Haft du mir Ehre und Gut gegeben, fo Haft du ihm alle Armut und alles Unglück gegeben. Ach Herr vom Himmel, fo magft du mir’s allesfamt nehmen und magft mid fo arm oder ärmer machen als ihn.“ 2) „Die Geneigtheit, ſich fo innerlich dem Armen gleichzuftellen, nicht aus dem Unglüd, fondern aus dem Beſitzſtand Heraus die Anfrage an Gott zu richten: ‚Warum mir das?‘ ift fie nicht eine Frucht des hriftlichen Geiftes, demitiger Dankbarkeit? Aber noch ausdrücklicher beruft fih die Ermahnung zur Gutthat auf die Pflicht der Dankbarkeit gegen den Exlöfer: Dan fol die armen Dürftigen gern fehen an dem Wege, und ihr ſollt fie Haben am dem Tifche um bdeswillen, daß mir Gott fünnen danfen, darum daß er uns von derfelben Armut und von der Krantheit ſchön und reich und alfo ſtark hat gemacht.“ 2) Über diefe Betrachtung überwiegt allerdings eine andere. War doch feit länger als einem halben Jahrtauſend das Almofengeben den Mit- ten, da8 Hell zu gewinnen, angereiht. Längft auch Hatte die

2) Deutfche Predigten des XI. Jahrhunderts, Herausgeg. von Gries⸗ haber, Abtlg. I, ©. 58. 3) Leyfer, Deutſche Predigten, ©. 45.

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Scholaſtik dies lehrhaft ausgebildet, Längft war die Praxis im deutfchen Volke 'eingelebt. Doc ift neben ber Betrachtung des Almofengebens als eines Bußwerkes oder einer verdienſtlichen Leiftung der fittlihe Ernſt Iebendig genug, um die Gefahr ftolzer Selbftgerechtigkeit zu erfennen. „Hochmut“, Heißt es in einer Predigt, „kommt von guten Dingen, jo daß einem das Gemüt fteigt, da man Almofen giebt; auch wird trog mander Trübung des ethiſchen Blickes, welche durch das Intereſſe an kirchlicher Übung bedingt iſt, gegen jene Moral Verwahrung eingelegt, die ſich vom ſittlich Verbindlichen durch Verdienſtliches loslaufen und ſich mit beflecktem Opfer Gott nahen möchte: Du ſollſt opfern dich ſelbſt mit allen guten Werfen. Giebſt du Gott dein Gut und dich ſelbſt dem Teufel mit fündlichen Werfen, das ift ungleich geteilt. Gott der hat beide geſchaffen, dich und das Gut; darum fo will er beide Haben. Opfere dich ſelbſt allererft und danach dein Gut, das feien deine Almofen.“ ) „Hätteft bu einem Manne fein Kind zu Tode gefchlagen, fagt ein anderer Prediger, fo willlommen du dem wäreft, wenn du es ihm brächteft, fo willlommen bit du Gott mit dem Opfer ungerechtfertigten Gutes“ 2).

Verwahrungen wie biefe Hindern indes die Anfchauung, daß das Almofen Verforgung der eigenen Seele fei, nicht, die chrift« lie Nächſtenliebe zu beeinträchtigen und zuweilen auch die fittliche Erkenntnis zu trüben. Welche rohe Vorftellungen von der Kraft de8 Almofens an der kirchlichen Lehre emporwuchern konnten, zeigt eine Wundermär, welche ein Prediger unter Berufung auf Papft Gregor den Großen feinen Zuhörern treuherzig erzählt. Ein Menſch, der den Armen gern gab und dabei unfeufch lebte, ftarb. Da ward einem guten Manne in Rom ein Gefiht, wie e8 um jenen ftand. Ihm deuchte, wie jener über eine hängende Brüde geführt ward, unter der ein geundlofer See von Schwefel und Beh wallte, in dem die Teufel ſchwammen wie die Fröſche in einem fchmugigen Pfuhl. Da auf diefer Brücke den Unkeufchen beftimmt war auszugleiten, fo ftel auch jener; aber zwei Engel

2) Leyſer, ©. 57. 2) Grieshaber, ©. 89.

Die Liebesthätigfeit der dentſchen Reformation. 68

sogen ihn aufwärts mit den Armen und mit den Händen, damit die Almofen gegeben waren, während die Teufel abwärts zogen. Diefer Streit währte lange, wer da fiegte, fagt das Buch nicht. ')

Bar das Almoſen ein Bußwerk, fo fleigerte ſich feine Bedeu⸗ tumg noch durch das Hineinreichen der Buße in das Fegefener und dur die Verknüpfung der Bußleiftungen diefes Lebens mit der Bein des Jenſeits. Im Sinne einer rechneriſch gedachten Kom⸗ penfation ward es Grundfag: Je mehr Buße, defto weniger Fege⸗ fener; je weniger Buße, defto Tängeres Tegefener *). Die Phan- tafie der Prediger und der grübleriſche Sinn der Scholaftifer waren gleich geichäftig, diefen Gefichtspunkt recht wirkfam zu machen, jene, indem fie die Bein des Fegefeuers mit brennenden Farben aus⸗ malten, biefe, indem fie biftinguterend die Frage: „Wem und in welhen Maß nügen die kirchlichen Hilfen?“ flir die Heiligen die Mittelguten, die Mittelböfen und die ganz Boſen unterfuchten ®). Für die Mittelllaffe waren die Ausfihten am günftigften, und bie Mehrzahl wird geneigt gewefen fein, ſich und die Angehörigen jener zuzuzähfen. So entftand eine Liebesthätigleit befonberer Art: den armen Seelen im Fegefeuer zuhilfe zu kommen. Wer wäre nicht willig geweſen zu ſolchem Liebesbienft, wenn er bie Hitze jener Glut erwog, zu welcher die des irdifchen Feuers ſich verhielt wie die des gemalten zum irbifchen, wenn er die Länge jener Strafzeit in Anfchlag brachte, in der nach vielen Jahren gezählt werben fonntel Was wollten hier Opfer an zeitlihem Gut bes deuten! Hatte doch Bruder Berthold gefagt: „Unfer Herr rechnet es ihren alles ab an ihrer Buße, die fie da am Fegfeuer brennen folten; und man möchte einer Seele mit ſolchem Frommen helfen,

3) Leyfer, ©. 64f.

%) Berthold von Regensburg.

8) Petrus Lomb. IV, dist. 45b: „Mediocriter malis suffragantur ad poenae mitigationem: mediocriter bonis ad plenam absolutionem“. Der Lombarde braucht den Ausdrud absolutio für die Befreiung von ber Fegefeuerſtrafe, was zu beachten ift, da die katholiſche Polemik fi in dem Streit über die Bedeutung des Ablaffes fo gern auf bie Schulterminologie ver - fteift.

2 Hering

da fie zehn Jahre brennen folte, daß man fie in fechs Wochen erlöftte." *)

Ein ungeheure®, aber fehr wirlſames Motiv entftand fo aus dem Irrtum der Tatholifden Heilslehre, und die Liebe warb bes droht, von der Furcht ausgetrieben zu werden; aber wo das Ge— wiſſen die Furcht fchärfte, Hat diefe gewiß auch des Geizes Sprö- digfeit oft gefchmeidig gemacht. Das Iebendige Bedurfnis, fo furchtbarem Schrecknis gegenüber fih mit Barmherzigkeit zu ver binden, wirkte zufammen mit dem fteigenden Reliquienunweſen auch dahin, den Kultus der Heiligen immer volfstümlicher zu machen. Das Vertrauen auf ihre Fürbitte und auf bie Kraft des Almo- ſens drängen ſich feit den Kreuzzügen immer mehr vor; immer neue Altäre werden gegründet, fhon beim Bau der Kirchen nimmt die Anlage des Chores auf das Bedurfnis Nücfiht, indem ein Kranz von Apfiden die Oftfeite umgiebt; am bie Pfeiler des Schiffes lehnen fich Altäre; Kapelle auf Kapelle wird gebaut, Meffe auf Meffe geftiftet und mit ihnen zugleich die Zahl der Spenden vervielfacht. Es wird zum Ausgang des Mittelalters in vielen Kirchen großer Städte, fo wie in St. Jakobi in Hamburg faft jeder Tag feine Seelmeſſe, mander fogar eine ganze Anzahl gehabt Haben ?).

Diefe geiftliche Liebesthätigkeit, welche aus martervolfem Kerker die Gefangenen Toszufaufen fuchte, konnte fi auch ohne den Sinn wirklicher Näcjftenliebe behaupten. Und wie oft wird die Liebes⸗ thätigfeit an den Armen nur Mittel für jene feheinbar höhere ger weſen fein! ener rechnende Geift nämlich macht fi in Fragen geltend, welche den Egoismus der Heilsſicherung allzu deutlich er» kennen laſſen ®), umd den Almofenempfängern eine eigentümliche Stellung zumeifen, bie zwifchen der Herrlichkeit eines Patrons und der Niebrigkeit eines bezahlten Fürbitters ſchwankt. Denn

1) Berthold von Regensburg, S. 332.

2) Staphorft, Hamb. Kirchengefih. III, 878Ff., hier ein Verzeichnis ſamtlicher Meffen. Hierdurch war es bedingt, daß die Zahl der Geiftfichen fich immer mehr fleigerte. Hannover Hatte ihrer damals 69. Uhlhorn, Zwei Bilder aus dem kirchlichen Leben der Stadt Hannover (1867), ©. 11f.

3) Petrus Lomb. IV, dist. 45d.

Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 688

diefe nahmen freilich nach jenem Wort des Herrn auf in bie einigen Hütten; fie vermitteln es duch ihre Fürbitte, daß der Herr ſpreche: „Ih bin Hungrig geweſen und ihr Habt mich gefpeift“; aber es ward auch dafür geforgt, daß fie ihres Furbitteramtes warteten zu rechter Zeit und in rechtem Maße. Sie mußten mit zur Meſſe erfcheinen; der Verfäumende ging leer aus, wenn als⸗ bald nach derfelben die Spende verteilt ward auf dem Kirchhof, am Grabmal des Stifters oder im Kreuzgang. Wie ein Bertrag lautet es nicht zum Vorteil des Liebesfinnes, ber nit das Seine fucht, wenn die Stiftungsurkinden jene Pflicht allzu pünktlich firieren. Gegen das Ende des Mittelalters nimmt diefe juridifche Bergröberung der Liebe immer mehr zu. Adelheide v. Fulmen⸗ fingen, welde 1393 für die Beginen ein Haus mit Hof und Hof- raite in Ulm ftiftet, beftimmt, daß an gewiſſen Tagen vier der» felben an ifrem Grabe und dem ihres Gemahles beten’). Und die Wohlthäter des Lubecker Hofpitals fihern fich noch forgfältiger: die Kranken follen die vorgefchriebenen Gebete für ihre Wohlthäter ſprechen, fo lange ihr Zuftand ihnen erlaubt, die Lippen zu ber wegen 2). So moaterialifiert ſich Frömmigkeit und Liebe zugleich. Was drüct Herrlicher die Dankbarkeit ans, als das Gebet im Verborgenen, mit welchem der Arme feinen Wohlthäter fegnet! Die ftatutarifche Forderung verlegt die Liebe in ihrer ſittlichen Schönheit, der Einfalt, und in ihrem Abel, der Freiheit.

In diefem Herabfinten zum Gefeglihen und Außerlichen, in ber -Abzielung auf Straferlaß, in der Vermifhung mit einem Triebe der Selbfterhaltung, wenn auch höherer Art, waren die Wege für eine weitere Wendung nad abwärts ſchon angebahnt, welche ſich, eine verhängnisvofle Frucht der Kreuzzüge, eben jetzt vollzog. Längſt ſchon Hatte die altkirchliche Bußpraxis, die anfangs nur don Milderungen der auferlegten Bußübung wußte, auch eine Umwandlung in andere „verdienftliche Werke“, unter anderem auch in Almofen, verftattet. Das Liebeswerk Hat fo der Ablaßtheorie ihre Genefis ermöglichen Helfen, die Ablaßpraxis auf bie Liebes⸗

1) Jäger, Schwäbiſches Städteweien, S. 496. 2) Michelſen, Scähleswigfde Kircheugeſch. IT, 143.

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gefinnung zuruickgewirkt. Beide bleiben fortan in verhängnisvollem Bunde.

Die Krenzglüge, welche den Eifer durch Plenarindulgenzen, wie fie die Kirche vorher nie gewährt Hatte, anfenerten, verlangten zunächft große perfönliche Opfer; fpäter MHeinere: Geldopfer. Die Materialifierung des Sittlihen war hiermit nod völliger geworden, der Wechslertiſch in den Tempel gefeht, das Gelb als Äquivalent für fittliche Werte zugelaffen mit der allzu nahe Legenden Gefahr, dag Gott Mammon feine dämonifche Macht entfalten werde; und in der That, fo erfchredend war die Wirkung der neuen Praxis alsbald nach ihrer Einführung, daß ſchon das Laterans konzil 1215 Vorkehr zu treffen Hatte. Der Bußernft des Bruder Berthold fträubte ſich noch vier Jahrzehnte fpäter, die vollendete Thatſache als kirchlich güftig anzuerkennen. Er erinnerte ſich nicht, biefe Pfenningprebiger in feiner Jugend gefehen zu haben, es wollte ihm nicht in den Sinn, daß fie vom Bapfte die Gewalt Haben follten, einem Menſchen die Sünde abzunehmen um einen Heller. Lügner fah er im ihnen, welche den Teufel krönten mit viel taufend Seelen, Mörder der wahren Buße !)! Der treue Warner behielt Recht. Nicht nur Mörder der Buße wurden bie Ablaßprediger 2), fondern auch Mörder der wahren Liebe. Nach der fcholaftifchen Formel follte zwar Liebe (charitas) den Chriſten zu einem Gliede des myſtiſchen Leibes Chrifti machen, und fo ſchien der Anteil an dem Schag der Verdienfte Epriftt und der Heiligen auf einer innerlichen Borausfegung zu beruhen. Allein mit dürren Worten wird es auch vom Doktor Angelilus ausgeſprochen, dag bie inner liche Richtung des Herzens und Willens nicht hinreicht, um aus jenem Schage Ablaß zu empfangen. Geld tft nun einmal ftipuliert, fo ift denn die Geldzahlung für den Beilfamen Erfolg unerläg- lich ®). So leicht wohnten im ſcholaſtiſchen Syſtem tieffinnige und rohe Betrachtung bei einander. Die vergröbernde Macht der Praris

3) Berthold, Predigten, ©. 208. 117. 182. 251.

2) Die Bußordnungen gehen feit dem 11. Jahrh. ihrem Ende entgegen. In bie fpätere Zeit fallen nur noch einige Kompilationen. Waſſerſchleben, Die Bußordnungen der abendländiſchen Kirche, S. ob ff.

5) Thomae Aquinatis Summa theol. IV, qu. 26.

Die Liehesthätigkeit der dentfchen Reformation. 685

bewährte fich auch hier: nicht das Unfichtbare, die Herzensgefiunung, fondern das Sichtbare, die Leiftung, die Geldzahlung Hat im weiteren Berlauf dem Ablaßtreiben das Gepräge aufgedrüdt. So ift die Liebesthätigfeit tief dadurch geſchädigt worden.

Gleichzeitig mit diefem Umſchwung und che derfelbe feine ver» derblichen Wirkungen ganz entfalten konnte, machte ſich indes eine vertiefte und verinmerlichte Askeſe in einer Weiſe geltend, welde der Liebesübung zugute fam. Der Geift der Myſtik, welche ſchon zu Ende des 12. Jahrhunderts Frauen zu Propketinnen machte, durch ihren Mund Kirchenfürſten ftrafte, gegen den Reichtum und die Verweltlichung der Kirche, gegen die Üppigfeit und Zügellofige feit des Klerus Zeugnis ablegte, Hat damals namentlich in ber Frauenwelt zugleich mit dem Ernft der Buße den Eifer und bie Innigkeit der Liebe angefacht. Es war St. Bernhard, der auch auf deutfche Frömmigkeit Einfluß gewann‘), Er gab ihr die unmittelbare Bezogenheit auf die Perfon des Erlöfere. Seine Betrachtung des Verhältniffes der Seele zu Chriſto als eines bräutfichen war zwar einfeitig und konnte der religibſen Phantafie Anftog geben, in ſinnlich geartete Vorftellungen auszuſchweifen; aber der gefährlicheren Ausartung des Heiligenkultus geſchah durch fie einiger Abbruch, und nichts Geringe® war es, daß in jener Zeit, werm auch in unvolltommenem Ausdrud, die Herzen in ein unmittelbares Verhältnis zu Chriftus eingewößnt wurden. Wie oft Hat doc gerade aus dieſem bie chriftliche Liebesthätigfeit ihre ftächten Antriebe empfangen! Die aus der Geiftesart des Bern- hard entfprungene ältere Myſtil ſchloß dann leicht einen Bund mit der Aslefe, welche durch die gewaltige Perfünlichfeit des Franciscus von Aſfiſi ſchnell und weithin mächtig wurde. Denn auch hier war die Askefe liebreich und die Liebe asketiſch. Allerdings tritt die Trübung durch Aokeſe in den Geiftesgenoflen des Franciscus ftärfer hervor; die Liebe zu den Elendeften ift im Begriff, in eine Leidenschaft für das Efelhafte auszuarten, die Selbftverleugnung, diefe Begleiterin der Liebe, ſich zur Selbftmarterung und Selbft-

3) Bgl. Breger, Geſch. d. deutſchen Myftif I, 82; er berichtet dies fpeziell mit Berug anf Hildegard von Bingen,

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vernichtung zu verzerren; und auch diefe Trübungen haben fich auf jene myftifch angeregten Kreiſe übertragen. Immer war auch jo der Liebe nicht nur ein Vorbild ber Selbſtverlengnung in Ehrifto gezeigt, fondern ein Gegenftand gegeben, in ben ſie fi mit Innig⸗ keit verfenkte, um aus ihm Kraft und Imigkeit zu fchöpfen. Chriſtus ward in ben Elenden geſehen unb geliebt, ihm ward in den Niedrigen gedient, aus ihm der Lohn innerlich empfangen, während andere Belohnung verſchmäht ward. Beide Seiten diejer Sinnesart fpiegeln ſich in dem Leben der Landgräfin Elifabeth ab, die eine Diafoniffin von Gottes Gnaden gemefen ift. Bon An- fang ift in ihrer Frömmigkeit und demütigen Liebe ein Zug von Weltverachtung, doch zerftört derfelbe das lichte Bild des Menjd- lichen in ihr nit. Wir werden beffen gewahrt, wenn fie im ſchlichten wollenen Kleid barfug den Beljenftieg von der Burg zur Kirche Hinabfchreitet, um. mit ihrem Kinblein den Kirchgaug zu Halten, und wenn fie dann, nachhauſe zurückgelehrt, das Kleid den Armen ſchenlt. Befremdlicher ſchon, wenn fie einen Ausfägigen, den fie felbft gereinigt, in das Bett ihres Gemahls Ing. Dann teübt: ſich die Harmonie ihres inneren Lebens, feitdem, von der Zürforge Gregors IX. beftellt, Konrad von Marburg ihr Seel forger oder. vielmehr der Beherrfcher ihres Seeleulebens und der Vernichter ihres perfünlien Willens wird). Es war gottver- ordnete Nachfolge Ehrifti, als die Künigstochter im frifchen Schmerz um ben Tod ihres geliebten Mannes mit ihren beiden Kindern im Winter aus der Wartburg hinausgeftoßen ward, vom Spott berer erfolgt, welde fie mit Wohlthun gefegnet hatte. Aber Härteres noch war ihr in der asfetifchen Schule jenes Menſchen aufbehalten, deu ihren Rucken geißelte und ihr Backenſtreiche gab, damit fie zun völigen Abtötung des Willens: gelange. Dort Iernte fie von der Mutterliebe loglommen und nur noch Nächſtenliebe für ihre Kinder Haben ?).

3) Bol. die Auffäge von Wegele (in Sybels Hifl. Zeitſche. V, 351) und E. Ranke (im der Allgem. deutſchen Biographie). Gegen die Wegeleſche Schägung der Quellen ift zu beachten €. Wend, Die Entftehung ber Rein- hardtsbrunner Geidichtebilcher (1878). Imbetreff ber veligiöfen Eindrücke, welche Elifabeth in ihrer Jugend empfing, wird der Hinweis auf die Mutter»

Die Liebestätigfeit der deuiſchen Reformation. 687

So lagert fi. Über einen der Tiehreichften Menſchen, welche über diefe Erde gegangen find, der tiefe Schatten der katholiſch⸗ möndijgen Ethik, fo ift Eliſabeth typifch für ihre Zeit, Tofern die möndifhe Anfhauung vom vallfommenen Leben in ihr ſich durch- feßt. Auch Hier verliert die Liebe zulett von ihrem Weſen: ftatt das Menſchliche zu vollenden, läßt fie die natürlichrfittlihe Seite des Menſchen untergehn. Die Bewältigung der Sinnlichkeit durch den Geift in dieſem Sinne verſtanden, führt zur Austilgung der Perfönlicpkeit, zum Bruch urfpränglicher Gottesorbnungen.

Diefer astetifche Zug ift der Liebesthätigkeit alfer Frauen diefer Richtung eigen. Hedwig, die, Gemahlin Heinrich, des Bärtigen, hat al8 Herzogin von Liegnig den Druck der Slaven erleishtert, das Los den Gefangenen gemildert, auf eine menfchlichere Hand⸗ habung der Juſtiz duch ihren Einfluß hingewirkt und ihren Ge— mahl beſtimmt, ein Eiftercienferinnenflofter reich zu dotieren, damit es eine Erziehungsanftalt für arme Mädchen werde, Ebendieſelbe hat in 40 Jahren nyz einmal, als fie frank war, Fleiſch ge- geſſen; fie hat die Geſchwüre der Ausfägigen, die fie pflegte, ger tügt! Jutta, aus dem Haufe der Herren von Sangerhaufen, 30g, nachdem fie eine Zeit lang den Armen gedient und Ausſätzige gepflegt, 1260 zu den Preußen, um bort als Einfiedlerin für den Ehriftenglauben zu miffionieren. Ihre Kinder Hatte fie vorher ihr Mann war auf einer Kreuzfahrt nach dem Beifigen Lande geftorben ins Klofter gebracht. Befremdet uns an ſolchem Thun die felbfterwählte Asleſe, ehrwürdig bleibt, jener Richtung ent» ſtammt, die Freudigkeit, welche fich auch in dem van Gott auferlegten Kreuz behauptet, dem Peſſimismus wie der Selbſtſucht wehrt und den Liebesfinn fteigert. Die Heilige Elifath Hat nie, auch nicht während der Zeit der Härteften asketiſchen Übungen, jene Heiterkeit fi trüben laffen. Gleichen Sinnes Hat Hebwig, eine Kriftliche

ſchweſter, Hedwig, welchen Ranke giebt, zu beherzigen fein; nimmt man hierzu die Notiz Pregers (I, 188), daß Hildegard von Bingen auf einer Reife nach Oſtfranken auch nad Kitingen gefommen fei, wo unmittelbar darauf Hedivig erzogen wurde, fo erſcheint es wahrjcheinlic, daß es die Sinuesart der Myfit war, welche durch Ermahnung und Vorbild diefer älteren Bermandten auf Elifabeth zuerſt einwirkte.

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Spartanerin, die Nachricht vom Tode ihres Sohnes, der über die Tataren fiegend fiel, mit der Danffagung empfangen, daß Gott ihr einen folchen Sohn gegeben. Was bedeutete es doc, wenn die Erziehung der Töchter des Adels htiffinnen anvertraut war, mie jener Gertrud v. Hadeborn, welche Bildung und praftifche Tüchtig- keit mit Liebe und Sanftmut verband, von der uns erzählt wird, daß fie, zuletzt gelähmt, ſich zu den Franken Schweftern tragen Tieß, um fie durch ihr Wort zu tröften, und, als auch die Sprade verfagte, durch den Blick des Auges, die Liebkofung der Hand ihre Liebe ausdrüctel Die Leidenswilligkeit und Leidensfreudigkeit, wenn fie in ſolcher Schule gelernt wurden, wie viel haben fie der Liebe an ihrem Werk geholfen ?)!

Der Blick auf diefe wolhthuenden Erfcheinungen fordert aber doch zu einer anderen Betrachtung auf. Diefelbe Kirche, welche bier zur Verleugnung des Natürlichen anleitet, welche in der Los⸗ fagung von Mutter» und Gattenliebe ein Ideal der Vollfommen- heit zeigt, predigt Ablaß, fie ift nicht unintereffiert für irdifchen Befig, während fie den Gläubigen aus dem Boden natürlicher Gottesgabe und Ordnung bis zur Nichtachtung entwurzelt. Hierin zeigt fich ein tiefer fittlicher Widerſpruch, den die römifche Kirche niemals prinzipiell überwunden hat. Die asketifche Betrachtung bat zunächft zu einer Verkennung jener natürlichen Gottesorbnungen geführt, welche auch auf Eigentum und Beſitz ſich ausdehnt und ſchon in der patriftifchen Zeit kommuniſtiſche Gedanken ftreift *). Aus der Fiktion eines Urzuftandes Heraus, in welcher die Erde alfen gemeinfam gegeben worden fei, ermahnt Ambrofins, daß nie mand fein eigen nenne, was über das Bedürfnis Hinaus aus dem gemeinfamen Gut genommen fei; und Auguftin behauptet, daß die Ehriften den für fie zureichenden Privatbefig nicht als Eigentümer

1) Breger I, 114 und die betr. Artikel in Herzogs Real-Enc. und der „Allgem. deutſchen Biographie“.

2) Eine Sammlung patriftifcher Ausiprüche bei Brentano, Die Arbeiter- verſicherung gemäß ber Heutigen Wirtfhaftsordnung (1879), ©. 250f. Über die Ausführung und Weiterbildung diefer Gedanken bet Thomas von Aquino, Paraldus, Antoninus Florentinus und in ber Summa Astexana ift der Auf- fag Uhlhorns zu vergleichen,

Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 689

fondern als Armenverforger befigen. Scholaftiter wie Thomas und ©. Biel, auch die ethifchen Summen zu Ende des Mittelalters haben diefe Säge noch überboten.

Man wird freilich wit urteilen dürfen, daß diefelben eine grundlegende Bedeutung hätten. Sie find nicht Grundlinien, fondern Hiffelinien am Syftem der asfetifchen Ethil. Würde mit ihnen voller Ernft gemadt, fo öffneten fie einem Kommunismus aus chriſtlicher Pflicht das Thor. In Wirklichkeit iſt nur dem Volle tommenen bie volle Befigentäußerung als evangelifcher Mat zuge mutet, während das Gebot der Liebe mit dem beſcheidenen Pflichte teil abgefunden wird, in der Außerften Not vom Überfluß dem Nãchſten beizuftehen *). Aber auch das Motiv der Verdienftlichkeit war ftark genug, um weithin zur Losſagung vom Beſitz bis zur völligen Enteignung zu beftimmen, und je reicher die Kirche wurde, defto jchroffer mußte, da der Sag: der vierte Teil des Kirchen vermögens fei Armengut, Tängft nicht mehr in Kraft war, jener Widerſpruch fich fühlbar machen. Wie tief er von ernfteren Geiftern empfunden warb, zeigen die Protefte, die Mahnungen, bie pros phetifchen Warnreden, die apofalyptifchen Weisfagungen, bie in der Kirche felbft Tant werden. Wie gefährlich ſolche Protefte waren zeigt die Geſchichte des Arnold von Brescia. Die Kirche des Mittelalters hat jenen ethiſchen Widerfpruch nicht überwunden; dieſer aber Hat fie felbft im den fchweren Verfall ziehen Helfen, welcher die kirchliche Liebesthätigkeit aufs tieffte mitbetroffen hat. Wir werden zu zeigen haben, wie fich in dieſem Widerfpruch, der durch die zunehmende Sntereffiertgeit der Kirche für das zeitliche Gut immer ſchroffer und unerträglicher wird, nicht einmal das asketiſche Motiv der Liebesübung in feiner Lauterfeit behauptet; dann aber tritt im Verlauf der abwärts führenden Entwickelung auch ber Schaden zutage, ber fih in jenen fommuniftifchen Sägen als Symptomen anfündigt, und deſſen Gefahr ſich durch die Glori⸗ fizierung der freiwilligen Armut noch mehr fteigert: die Kirche verfennt, daß die irdiſche Berufsarbeit eine gottgeordnete Form fittlicher Bethätigung ift, daß fie im Reich Gottes ihre Geltung,

3) Bal. Uhlhorn a. a. O., ©. 60ff. Weol. Etub. Sahrg. 1885. 45

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fürs Selig und Vollklommenwerden ihre Bedeutung behält; fo fieht fie nicht, daß der Befig zeitlichen Gutes für Diefe ſitiliche Aufgabe eine Vorausfegung und eben dadurch einen fittlichen Wert bildet; fo faßt fie eudlich die Liebespflicht nicht fo auf, wie fie mit der Berufspflicht in det Einheit bes Gehorſams gegen den Willen Gottes verbunden iſt. Jener Widerſpruch, welcher an der Kirche haftet, überträgt fi auch auf die Liebesübung, verwirrt jet durch juridiſche, jetzt durch adletiſche Auſchauung, kommt ihr Weſen nicht Mar und voll zur Geltung. Die Welt des Mittel- alters ift num zwar in der lirchlichen Auffaffung fo befangen, daß eine bewußte, prinzipieffe Auflehnung gegen biefelbe ſich nirgend durchſetzt. Erft die Reformation, welche eine evangeliſche Liebes⸗ lehre ftatt der einfeitig aoletifchen gab, welche die Kirche aus jenem fittlicgen Widerſpruch von Weltherrlichkeit und Weltverachtung be⸗ freite, Hat auch jenen natürlichen Gottesorbnungen, dem fittlichen Recht der Verufsarbeit und des Eigentums zu feiner Geltung im Neiche Gottes verholfen und fon dadurch in der Gefchichte ber chriſtlichen Liebesthatigkeit eine weus Epoche begründet. Doch aber Hat unbewußt der Lebemötrieb ber am Berufvarbeit und Erwerb fih fammelnden Gemeinſchaften eine Gegenwirkung gegen die Ge⸗ fahren, mit welden fte ſich durch bie Kirche bebroht ſahen, aus- gehen Laffen. Träger diefer Gegenwirkung ift das Bürgertum. Die Erfofge desfelben find von großer Bedeutung für bie An» gänge des Mittelalters wie für bie Reformation geworden; fo mag fih, da die Enwwicelung einen Langen Weg durdläuft, ein Zuruck⸗ gehen in die ältere Zeit rechtfertigen.

4.

Schr früh Haben auch in Deutſchland Laien, die eine Kirche fundierten, Rechte und dadurch Einfluß auf das kirchliche Leben erhatten. Schon im fiebenten Jahrhundert hatten fie es zu einer Aufficht Über die Verwaltung ihrer Stiftungen, je, zum Teil zu einem Nutzungsrechte gebracht ?). Eine Synode von Toledo 633

1) Bol. Uhltorn, ©. baff. 3) Blanc, Gefechte der Heiff. Geſellſchaftsverf. IT, 622. Rettberg u, e16fl.

Die Fiebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. LU}

erlannie es fogar als billig, daß die Kirche einen verarmten Patron von ihren Gütern unterhalte 1), und im neunten Zahrhundert konnten Patrone ſchon begehrliche Hände nad dem Kirchengut und foger mach den Hirchlichen Opfern ausftreden ®). Dies fo früh bis zar Möglichkeit des Mißbrauchs erftarkende Recht war es ohne Zweifel, das auch Gemeinden, wenn fie irchen und kirchliche Ans ſtalten ftiften, zugute kam. Die Gefchichte der alten kölniſchen Pfarreien ift Hierfür um fo lehrreicher, als es eine kirchliche Mer tropole war, im der fi), unter den Augen der Erzbiſchöfe, von ihuen felbft ermöglicht, bie Bildung eines Gemeinderechts vollzog. Dort Hatten fchon im Jahre 641 die an ber Sudmauer der Alte ſtadt anfäffigen Ackerleute, Weingärtner, Schiffer und andere Ges werbtreibende die Kirche zum Beil. Jakob famt einem Pfarrhaus erbaut. Auf Grund dieſer Leiftung find die Leute dieſes Kirch⸗ ſpiels und die der anderen ähnlich eutſtandenen Parochieen im Bes fis faft aller Rechte, wie fie umfere neueren evangelifchen Kirchen» verfafjungen den Gemeinden erteilt haben, und ſchon damals werden diefe Rechte von gewählten Vertretern ber Gemeinden wahrges nommen, den Kirchgeſchworenen (jurati ecclesiae) die an anderen Orten auch Proviforen, Heiligenpfleger oder Heiligenmeifter heißen, und welche Hier und da ein weiterer Kreis von Bevollmachtigten umgiebt. Sie wählen und präfentieren den Pfarrer, verwahren die Heifigen Geräte und verwalteten das Kirchenvermögen wie fümt- liche kirchlichen Inſtitute. Das Armenvermögen gehörte in Köln zur Pfarrei ®). So erſcheint hier ein Gemeindereht, nicht auf Srund eines Prinzips, fondern als Weiterbildung eines Rechts, das bie moderne Betrachtung gern im Gegenfag gegen das Recht der Gemeinde auffaßt, des Patronats. Leiftungen find die Grundlage dieſes hiſtoriſch gewachſenen Rechts; biefe Gemeinde organe, die den Pfarrer wählen, haben Kirche und Pfarre auch

2) Bland II, 626. 2) Pland II, 781. 8) Ennen I, 147. 641. 704ff. 714. Maurer, Geſch. der Städteverf. II, 876ff. Ein durch Umfidht ausgezeichneter Modus der Pfarrwahl, der allen Konflikten zwiſchen der Gemeinde und dem Domfapitel vorzubeugen ſucht, vom Jahre 1212, bei Ennen III, 799f. . 46*

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gebaut und dotiert, fie erhalten die Gebäude im Stand umd er⸗ heben auch eine Kirchenftener, den Fahrdenar.

Diefe intereffante Erfcheinung ift nicht vereinzelt; wie alle rechtlich⸗ ſozialen Gebilde des Mittelalters mit einer überraſchenden Beharrlichkeit fi weiter durchfegen, fo findet auch diefe ſich weiter⸗ bin in vielen deutſchen Städten 1). Mit ihr war ein erfter keim⸗ artiger Anfang einer Organifation der Liebesthätigkeit auf der Grundlage der Gemeinde gegeben, die der Kirche gänzlich verloren gegangen war. Träger eines Amts in der Ortsgemeinde waren doch mit der Austellung der Spenden und der Armenpflege beauf⸗ tragt ?). Für das Ganze des chriftlichen Lebens bedeutete aller- dings diefer Keim pfarrgemeindlicher Organifation nicht viel, und überdies ift er von einer anderen Entwidelung, von der der Städte, überholt worden. Wie oft ift es dem kirchlichen Gemeinderecht, diefer zarten Pflanze, begegnet, daß es unter dem Aufſtreben hand⸗ greiflicherer, die Welt mehr intereffierender Mächte oder im Kampf der Intereſſen, verfümmert if. So ift in der Blütezeit des Mittelalters, von der wir reden, das parochiale Gemeinderecht im Tommunalen faft aufgegangen, eine Entwicelung, welde für die Reformation fehr folgenreich geworden iſt.

Denn die Kommune, das bürgerliche Gemeinwefen, wird im zwölften Jahrhundert eine lebensfriſche, aufftrebende Macht; das Streben nach Mehrung der Gerechtſame und freiheiten ift die Seele aller Verhandlungen und Kämpfe zwiſchen Bürgern und Stadtherren. Eben die Kreuzzuge, melde die Macht Firchlicher Gedanken in weltgeſchichtlichen Ereigniffen offenbarten und die Kirche Tide Leiftungskraft durch Zufluß von Schenkungen und Stiftungen erhöhten, öffneten auch dem Weltverkehr neue Bahnen und trugen dem Auge des abendländifchen Kunftfleißes neue Anfchauungen als Vorbilder zu. Namentlich Süddeutſchland und die Rheingegenden, welche der neuen über die Alpen führenden Handelsſtraße am nädhften waren, blühten auf; die Städte legten die Geftalt unbe» deutender Heiner Ortfchaften ab, der Naturalienaustaufch wich einem

1) ®gl. Maurer I, 876. 3) Mone, Zeitſchrift I, 188f.

Die Liebesthätigkeit ber deutſchen Reformation. 6

gefteigerten Geldverkehr; bie Verfaffung der Städte, welche Lange der eines großen Fronhofs ähnlich geweſen, nahm jet immer mehr Beftimmungen bürgerlicher Selbftverwaltung in fi auf; und die Bürgerfcaften felbft mußten im Gefühl ihrer Kraft fich der Abhängigkeit von den Stadiherren, auch den Bifchöfen, zu ent ledigen. Vergleih und Kampf nah Umftänden brauchend, zieht fich diefer Prozeß durch das ganze dreizehnte Jahrhundert, um in einer Biſchofsſtadt wie Straßburg um 1300 mit der Abftreifung aller Rechte der alten Stadtherren und dem Übergang in eine freie faiferliche Reichsſtadt zu enden 1).

Eben Hier, in Straßburg, tritt die Folge, welche diefer Um⸗ ſchwung für das Armenweſen gewinnen follte, lehrreich hervor. Schon im Jahre 1263 erlangte die Stadt nad; breijährigem Kampfe mit dem Bifchof Walter v. Geroldseck unter anderen wichtigen Rechten der Selbftverwaltung auch die Abtretung der Hofpitalverwaltung an die bürgerlihe Gemeinde®),

1) Bgl. Schmoller, Strafburgs Blüte und die volfswirtfhaftliche Re volution im 13. Jahrh. (Strafburg 1875).

3) gl. die allgem. Einleitung Hegels zu Bd. VIII der Ehronifen ber deutſchen Städte, S. 32. Hiernach wird die Erklärung zu beanftanden fein, welde v. Maurer in feiner Geſchichte ber deutſchen Gtäbteverfaffung für die Thatfache giebt, daß „längft vor der Reformation bie Armen- und Kranken- pflege (richtiger: die Verwaltung der Hofpitäfer in ben Städten) aus ben Händen der Geiftlihen und öfter in bie ber Stadträte gelommen if”. Maurer giebt als Grund Hiervon die Steigerung des Verkehrs an, der viele umbemittelte Leute in die Stadt gezogen und fo eine Vermehrung der Mittel der Armen- und Krankenpflege veranlagt habe. So feien denn in allen heran- firebendeu Städten von der Geiſtlichkeit unabhängige Armen- und Kranfen- Häufer, Findel und MWoifenhäufer errichtet worden (Wb. III, ©. 102; vgl. auch Bd. IH, ©. 46f.; Bd. IV, &.101). Hiergegen iſt zu fagen, daß ohne vorhergegangene Ünderung ber rechtlichen Kompetenz die bürgerfic;e Gemeinde nicht einmal die Selfverwaltung ihrer eigenen Gründungen hätte beanfpruchen Tonnen, höchftens das Patronat. Noch weniger aber if aus ihren Leiftungen die Erlangung des Rechtes auf Verwaltung eines ſchon Tänger beftandenen, vorher der biſchöflichen Verwaltung unterftellten Hofpitals zu erklären. Und doch Hebt, wie der Strafiburger Fall zeigt, den v. Maurer unter anderen ar« führt, ohne ihm als Schläffel für die Erklärung ber folgenreichen Veränderung zu benugen, biefe mit einer Kompetenzänderung an.

1.73 Hering

Eine Reihe analoger Erſcheinungen ſchon in ber nächften Zeit zeigt, daß wir es nicht mit einer vereinzelten Begebenheit, fondern mit dem Reſultat einer in allen Städten ſich regenden Beftrebung zu thun Haben. Köln ift 1275 nad) Kämpfen, die fich faft durch das ganze Jahrhundert Hindurchziehen, dahin gelangt, den Erzbiſchof, den bifhöflichen Offtzial, auch den Kaiſer umd defien Beamte, von der Teilnahme an der ftädtifchen Verwaltung auszuſchließen. In Fraulfurt gewinnt die ftädtifche Verwaltung vom Jahre 1278 bis 1293 völlig die Oberhand; und die mittel- und norddeutfchen Städte laſſen den gleichen Zug mit gleichem Erfolge erfenmen. Über die Erfurter Bürger hat fi ber Erzbiſchof Bitter zu beklagen, daß fie alle feine Rechte an ſich geriffen, md in Magde- burg ift 1285 der Innungsmeifter Stockviſch als erfter Profurater des Geiſthofs genannt ?).

Was das Bürgertum veranlaßte, die Hände nad ber Ber- waltung der milden Anftalten auszuftreden, war nicht Einſicht in die Mängel, mit denen die kirchliche Armenpflege behaftet war, fondern das Jutereſſe an der öfonomifchen und finanziellen Seite derjelben. Dies Intereſſe war in den durch Wohlftand zu Blüte und Freiheit gelangenden Städten ungemein lebendig. Wir erleben es gegenwärtig wieder, daß Befteuerungsfragen durch ihren Zu fammenhang mit großen volfswirtfchaftlichen Reformgedaulen weit über die Wedentung bloß öfonomifdjer Maßregeln Hinansgehoben

1) Ennen II, 214f. 408. 41df.; vgl. fürs 14. Jahrh. ©. 4975. Kriegk, Deutfces Bürgertum, ©. 82. Bod, Das Armenweſen zu Magbe- burg, ©. 227. Maurer, Städteverf. I, 645. BgL ferner für Münnberg Fräntiihe Chroniken, Bd. I, S. XXIX; für Ungeburg, wo ſich üfnliche Kämpfe unter Dazwiſchenkunft des Kaifecs ſchon im 11. Jahrhundert finden, dv. Stetten, Geil. von Augsburg I, 49. Die obige Darlegung berichtigt auch die Uhlhorns („Borfindien“ in Briegers Zeitiehrift, S. 49%.), nad) welcher die ſtädtiſche Reaktion als durch ſchlechte Spitalverwaltung ber Kirche hervorgerufen erſcheint. Die Oppoſition geht vielmehr gegen daB kirchliche Guterweſen; und erſt fpäter bringt ber Verfall ber kirchlichen Inftitationen noch ein anderes kritiſches Moment im jenen Gegenſatz. Ratziuger geht auf die fogialen Urſachen jener Änderung in der Berwaltang der Hofpitäler nicht ein; den umfihtigen guten Hanshalt der Bürgergemeinden erlennt er an (&. 280).

Die Liebesthätigkeit der dentſchen Reformation. 605

werden. Ein gleiges wird man im Mittelalter bemerken. Die deutſchen Könige Hatten Urfac genug, alle Geldangelegenheiten mit dem größten Nachdruck zu behandeln *); für das deutjehe Bürger tum war es in gleicher Weiſe Lebensfrage, alle Schädigung, Ber einträctigung, Minderung ber Einkünfte abzuwehren und nad neuen Einnahmequellen zu forfchen. In diefem Beftreben Hatte es fi zu wehren gegen die mit Grumdbefig und mit Rechten veich ansgeftattete und den Befitz fietig erweiternde Kirche; und die chriſtliche Liebesthätigfeit hing fo eng mit ber mittelalterlichen Wirte ſchaftsordnung und ducch diefe mit dem kirchlichen Gütermefen zu⸗ fammen, daß fie in die fozialen Kämpfe zwifchen Bürgertum und Kirche mit verfloten ward. Denn wenn auch nicht in fo unge heuerem Umfange wie bie Klöſter, Hatten doch auch die Kirchen und Hofpitäler Grund und Boden zueigen, und biefer Grund befig war in beftändigem Wachſen, vermehrte fich durch jede Stife tung. Da nämlich das kanoniſche Recht unter hauptſüchlicher Bes rufung auf Luk. 6, 34. 35 das Zinsnehmen als Wucher verbot, fo legte man jede Geldfumme, um einen Ertrag zu erhalten, in Grundftücen an. Man Taufte das Obereigentum und empfing don dem Untereigentümer die vorher ausgemachte „Gült“, eine Jährliche Rente ). Wer die Schenkung eines Kapitals beabfichtigte, deffen Zinfen Armen zugute kommen follten, Tegte dasſelbe in bie Hände einer Kirche, eines Hoſpitals oder eines Kloſters, und diefe Tonnten den übernommenen Verpflichtungen nur nachlommen, indem fie das Obereigentum eines Grundftücks, eines Haufes, oder eines Feldes erwarben und den Untereigentümer zu der Lieferung ber Naturalien verpflichteten, welde die Spende erforderte. Es mar fon überhaupt für die bürgerliche Gemeinde mißlich, wenn in der

1) Waitz, Deutſche Verf.Geſch. VIII, 216ff.; VII, 180 ff.

2) Über die verſchiedenen Arten dieſer Anlage von Kapital vgl. Arnold, Geſchichte des Eigentums (1861), ©. 6Off. Mach Arnold if ber „Seel zius“ eine Übergangafufe vom Grundzins zur Rente (S. 95). Eine po— pulare Überficht giebt Benfen in der Meinen lehrreichen, aber zu kritiklos die mittelalterliche Urmenpflege lobenden Schrift: „Ein Hofpital im Mittel- alter” (Megeneburg 1853). Bol. auch Kriegt, Burgerzwifte, S. 91 ff.

6% Hering

Stadtmark die Kirche, diefe Großgrundeigentümerin, ſich Immer mehr ausbreitete. Die Grundſtücke wurden durch die Leiftungen befaftet; wirtfchaftete die Anftalt felbft, fo beengte fie den bürgerlichen Ge⸗ werbfleig, der über feinen Marktgerechtigfeiten mit Eiferſucht wadhte, mit ihrer Konkurrenz. Oft genug verzapften Mlöfter und Hofpitäler den Wein, der in ihren Vefigungen gewachſen war, felbft, und brachten ihr Korn molterfrei frei von Mahlgeld zur Mühe. Gaben fie aber ihre Güter in Erbpacht oder legte fie als „ewige Gulte“ an, jo konnte e8 etwa in ſchweren Zeitläuften gefchehen, daß die Häufer und Güter verfielen, weil weder Eigentümer noch Pächter fie in gutem Zuftand erhalten mochten !).

Bon befonderer Wichtigkeit aber war es für die ftädtifchen Gemeinden, die Abgabenfreiheit der Geiftlihen nicht ſchraukenlos fi erweitern zu laſſen. Daß die Kirche für die Bedürfnife des Gemeinwefens und für das allgemeine Beſte Beiträge zu geben nicht vermeigere, hatte Innocenz III. vorausgefeßt, als er auf dem vierten Sateran-Konzil betonte, daß die Laien ſolche Hilfe als eine freiwilfig gewährte mit Dank aufzunehmen hätten ?); aber in der Folgezeit wurden diefe Defrete als Anhalt für Anfprüche auf völlige Steuerfreiheit von ben Geiftlihen benugt. Die Gegenwehr ließ nicht auf fih warten ®). In Deutſchland trifft 1266 Erzbiſchof Engelbrecht von Köln die Beftimmung, daß alle Kirchengüter, ja auch das Eigentum kirchlicher Perfonen in der Stadt und der Diderfe Köln von allen Zöllen und Laften frei fein ſollte %): wenige Jahre darauf ift die Stadt Herrin aller Berwaltungsangelegen- heiten. Fortan fehen wir beutfche Stadträte gegen bie Ermeiter rung des Grundbefiges der Geiftlichen und der geiftlihen Juſtitute innerhalb der Stadtmarf Beftimmungen treffen. Sie behalten ſich bei Kauf und Schenkung die Genehmigung vor und=jegen einen Termin feft, bis zu dem die Geiftlihen ein an fie gegebenes

1) Kriegk, Frankf. Bürgerzwifte.

2) Conc. Later. IV, can. 26 bei Pland, Gef. der Griff. kirchlichen Geſellſchaftsverf, Bd. IV, Abſchn. 2, ©. 200.

8) Bland IV, 218ff.

4) Bland IV, 209.

Die Liebesthätigkeit ber deutfchen Reformation. 6

Grundftüd wieder zu veräußern haben !). Ein Gegenzug, den bie politiſche Klugheit der Italiener erfonnen hatte, wurde fo auch in Deutfhland zur allgemeinen Magime ?).

Das neue Berwaltungsreht war von gleicher Bedeutung für die chriſtmilden Anftalten, wie für die bürgerlichen Gemeinden. Für jene ſchloß es Schug gegen willfürliche Entfremdung ihrer Guter, für diefe die Möglichkeit ein, einer allzu großen Aufftanung von Grumdbefig der Anftalten zu begegnen. Wir werden fehen, daß in der Periode des Verfalls des kirchlichen Lebens dieſe bürger⸗ liche Verwaltung eine noch weitere Tragweite gewinnt. Schon jet reicht diefelbe über den Punkt hinaus, gegen den ber Stoß ſich richtet. Nicht bloß die Biſchöfe werben ihres Einfluſſes ledig, auch die Rechte der Kirchfpiele werden herabgemindert. Nachdem Finanz und Steuerfragen einmal zu Ausichlag gebenden geworben waren, mußten auch jene „Kirchgeſchworenen“, der Aufficht bes Stadtrats unterftellt werden. Und oft blieb es micht bei der Aufe fiht. In jenem Zeitraum war es berechtigt, alle Lebensintereſſen der bürgerlichen Gemeinfchaft au von ber Inſtanz vertreten zu laſſen, welche die Macht Hatte. Ein zentralifierender Zug geht daher durch die erftarfenden ftädtifchen Kommunen. Wie die Vor⸗ fteher der Orte, die ſich an eine Altftadt anſchließen, ſich in fie einverleiben lafjen, die Burrichter, zu ausführenden Beamten des Stadtrats Herabfinten ®), fo werden auch die Vertreter ber Kirch⸗ gemeinden oft zu bloßen Organen ber Stadträte. Diefe werben immer ausgeprägter zu einer Obrigfeit mit kirchlichen Befugniſſen für Sittenzucht, wie für die Aufſicht und Verwaltung aller Güter und Anftalten der Barmherzigkeit. Im Jahre 1510 ließ ber

ı) Hällmann, Städteweſen des Mittelalters (1829) IV, 128ff. So in Regensburg 1308, in Münden 1345. In Köln warb 1885 beichloffen, daß Vermãchtniſſe an Geiſtliche nicht mehr flattfinden follten, diefe wären dann dem Stifter verwandt. Ähnliche Beſtimmungen in übel. Kür Halberftabt dgl. Urtundenbuch, Heransgeg. von Schmidt, Bb. IL

2) Die Florentiner waren nad Pland IV, 219 die erfien, die ein ber. artiges Geſetz erließen, nämlich ſchon tm Jahre 1218.

8) v. Maurer, Stäbteverf. I, 550.

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Rat von Köln an fänntlichen SHofpktälern das Stadtwappen an- bringen *).

Denn nun Hinfort der Rat die Spitalpfleger ernennt, die Hausordnung erläßt, die Hoſpitalbeamten beauffichtigt und die Seh. nungen präft?), fo ift man doch nicht berechtigt zu fügen, ſchon im Mittelalter fei die Armenpflege aus einer kirchlichen eine burger⸗ Ude geworden. Das Mittelalter weiß von eimer folden im wor dermen Berftande nichts. Hier iſt kein Gefek, das den Kommunen auferlegte, fir ihre Armen zu forgen, ober das den Armen bes rechtigte, für fich Unterftügung zu verlangen. Wohl treffen die Städte aus den gemeinen Mitteln Vorkehr in Zeiten allgemeiner Not; fo dffnet Nürnberg im Jahre 1437 die Kornböden und Tauft, als ber bort aufgefpeicherte Vorrat nicht zureicht, noch für 14 000 Gulden (gegen 300 000° Mark nad) heutigem Geldwerte) Getreide nach 2); aud empfangen wohl bie Hofpitkfer von der Stadtgemeinde Holz und Weibegerechtigkeit auf ber Almende, der Gemeinmweibe; und beim Ratswechſel wird den Yufaffen Her Ho- fpitäter, M öfter und ben armen Beghinen ein Geſchenk aus der Stadtkaſſe verehrt; aber alle diefe auferorbentlichen Teiftungen, mag ihnen altes Geſetz ober nur Brauch und Gitte zugrunde liegen, begründen nicht den bürgerlichen Charakter der Armenpflege über- Haupt). Bielmehr ift es, wenn wir an die Summen, welche

1) Ennen III, 818.

2) In Magdeburg ernannte der Rat zivei Bürger als Kuratoren, welche alle zwei Jahre im Beifein des Vredigers ber St. Gertraudentapelle dem Rat Beſcheid uud Meinung über bie Bermaltimg obpulegen hatten. Bond, &. 264.

8) Fränk. Chroniken I (Nürnberg), ©. 455. Ebenſo verfährt Augsburg. Karl der Große hatte ſchon die geiſtlichen und weltlichen Großen zu einer fol« hen Fürjorge im Zeiten der Teuerung verpflichtet (Nitzſch, Miniſterialität ud Bürgertum, ©. 93). Bon Kaifer Heinrich IV. wich berichtet, daß er in Hungerjahren viele Tauſende gefpeift (Wait, Verf.Geſch. VIII, 236f.).

4) Am meiften erinnert es an eine Armenſteuer, wenn 1256 der rheiniſche Stäbtetag beſchließt, daß jeder Einwohner einer Bundesftadt, der mindeſtens 5 Mark befigt, jährlich an einem beſtimmten Sonntag 1 Pfennig als Almofen an bie beftellten Gamer (Geſchworene) abliefeen fol (Kriegt, Deutſches Bürgertum, ©. 162). Wer eben dieſer Beſchluß macht das veligiäfe Motiv aufs flärkfte geltend, .

Die Giebestfätigfeit der beutfchen Reformation. ce⸗

unfere heutige burgerliche Arwenpflege braucht, an den Titel „Armenpflege“ in den Haushalts⸗Etats der Städte denlen, für das ganze Mittelalter charalteriſtiſch, daß die Stadtrechnungen des reichen Nurnberg, deſſen Hoſpitäler noch Heute von der Fürſorge der Vergangenheit zeugen, außer den Koſten jener außerordentlichen Maßregeln nicht eine einzige Ausgabe für die Armen oder für die Bflegeanftalten aufweiſen ). Nur bie Verwaltung ift bürgerlich, der Geift der Armenpflege bleibt der kirchliche.

Und au die Formen der Berwaltung befunden noch den Ein« flug der Kirche. Das moderne Bewußtſein hegt von bürgerlichen Inſtitutionen, fo wie fie der Abgrenzung gegen Firchliche Befugnis dienen, Berftellungen, welche da8 Bürgertum des Mittelalters nicht tennt. Auch jene aufftrebenden Städte, welche Selbftgefühl genug haben, um mit Biſchbfen Krieg zu führen, denen nicht daran, tirchliche Lebensthätigkeiten zu hemmen. So ordnen fie aud das Hoſpitalweſen mit Sreilaffung für den Einfluß der Kirche. Wenn der Rat einem bürgerlichen Spitafmeifter die Leitung bes Hauſes überträgt, fo läßt er doch die Pflege der Kranten in den Händen der geiftlichen Brüder» und Schwefterfchaften; ober er überträgt fie den Beghinen, fo lange dieſe kirchlich und ſittlich unbefcholten find. Es bfeibt dafür geforgt, daß ein Geiftliher an der Ka⸗ pelfe des Hofpitals angeftelft fei, welder die Meffe lieſt, Beichte hört, bie. Abſolution erteilt, Bußen auflegt und die Sakramente verwaltet. Die Pfleglinge felbft werden nicht nur zu unanftößigem Wandel and zum Gehorfam gegen den Meifter, fondern zu chriſt⸗ lichem Shane in ber Hoſpitalordnung ermahnt: Sie follen ger demittigten Sinnes fein, ſich der erfahrenen Barmherzigkeit nicht überheben, amdädtig allezeit Gott Dank fagen. Man fchärft ihnen die in ſolchem Zufammenfeben fo Ieicht gefährdete Fried⸗ fertigkeit ein, „daß fie nicht täglich Kriegen miteinander vor Klaffen, vor Murmelung und vor gehäffigen Wirken‘. Auch dem Kaplan wird, wie es nur eine Kirchenordnung zu thun vermag, feine Pflicht

1) Bal. Fränk. Ehronifen, Nürnberg, I, 392. Im Miürnberger Geift- Hofpital werden noch gegenwärtig 180 alte Leute unterhalten (perſönliche Mit - teilung des evang. Hofpitafgeiffihen).

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dorgehalten. Er foll keuſch, mäßig, gütig, demittig fein, von volle tommenen Sitten, vor allem erwärmt vom euer der göttlichen Liebe, daß er die Krankheit ber Elenden mittrage in gütigem Mit leiden und als ein guter Hirte und Vater auf das geiftliche wie auch für das leibliche Wohl ber Armen ein Auffehen habe. Aus der Bedeutung des Wohlthuns für das Seelenheil der Wohlthäter erklärt fich die ſtatutariſch erteilte Mahnung, im Gebet ein fleifiges Gedächtnis der Wohlthäter zu üben. Es foll da fein Heißt es in der Hofpitalorduung, die diefer Darftellung zugrunde liegt „eine volltommene Wandelung und eine Möfterliche Zucht“ 1). Wahrſcheinlich alfo waren für die ſtädtiſchen Ord⸗ nungen Formen vorbildlich, welche die Kirche ſchon vorher ge⸗ ſchaffen hatte.

Noch bemerkenswerter iſt dies Zuſammengehen von Kirche und Bürgertum in den Gemeinſchaftsbildungen, welche in die Ent⸗ twidelung ber Städte tief eingegeiffen haben, den Gilden und Innungen?). Die Bürger, welde zu Befig, zu Rechten und Freiheiten gelangen, fehen wir einem Zuge zur Vergeſellſchaftung folgen, der ſchon im ſechſten Jahrhundert -anhebt ®), jet aber mächtig ward und die Keime einer Ummälzung der Stadtregierung in fi trug. Die Körperfchaften, die er entftehen ließ, waren Ge⸗ werksgenoſſenſchaften, die zugleich gegenfeitiger Hilfsleiftung wie freier Gefelligfeit dienten. Diefe Gilden und Zünfte erſcheinen wie ein bürgerliches Nachbild der kirchlichen Orden. Wie in biefe die Beſchaulichkeit einging, fo verfaßte ſich im jeme die Arbeit. Zugleich verbanden fie die durch das Bewußtſein gemeinfamen Berufs und durch Bruderfinn Verbundenen zu einem in fich ge- ſchloſſenen gefelligen Verkehr; endlich aber hingen fie mit der Kirche

1) Benfen a. a. O., ©. 64 u. 80fj. Dort bie Statuten des Hofpitals zu Rotenburg a. T. Die Spitalorbnungen anderer Orte werben oft ähnlich verfaßt fein. Hierauf führt 3. B. die kürzere Ordnung des Spitals auf ber Rheinbrüce bei Konſtarz. Mone, Zeitſchrift I, 148. Bol. auch Fechter in den „Basler Beiträgen zur vaterl. Geſchichte“ IV, 386.

%) Bol. Wilde, Das Gildenwefen des Mittelalters.

3) Über die Anfänge vgl. Hartwigs Unterfugungen in d. „Forſchungen zur deutſchen Geſchichte“ I, 133 ff.

Die Lichesthätigkeit ber deutſchen Steformation. 701

und dem kirchlichen Kultus aufs engfte zufammen. Jede Zunft hatte ihren Schugpatron und in der Kirche ihren Altar; bie Mit- glieder feierten ben Tag der Heiligen gemeinfam; fie geleiteten ihre Berftorbenen zu Grabe, wohnten ber Totenmeffe bei und kamen den Abgefchievenen im Fegefeuer mit Gebet und Almoſen zuhilfe. Schon dieſe Feier ward Anlaß zu Spenden, zu Armenfpeifungen, zu Austellungen von Tuch zu Kleidern und Schuhen, wie fie die Feier des Anniverfarius mit ſich brachte. Aber von größerer Bes deutung waren die Hilfsleiftungen, welche die Lebenden einander erwiefen. Denn „zu brüberlicher Lieb’ und Treu's, zum gemein famen Tragen von „Lieb und Leib“ verpflichtete man ſich. Die Junung forgte für bie Verpflegung Kranker, für die fie etwa im Hofpital befondere Betten unterhielt; fie nahm ſich befonders in der fpäteren Zeit der Walfen ihrer Mitglieder an; fie nahm die Witwe und ihre Nahrung in Schug und ſchaffte ihr Unterftügung. Nun ift chrifiliche Näcjftenliebe zwar als Brüderlichkeit in Chriſio ebler Art, „frei und gemein gegen alle Ehriften“, wie Luther fpäter erinnert; aber daß eine ſoziale Erſcheinung, wie jene Gilden, ſich fo vom Sinn Hilfreiher Furſorge durchdringen ließ, war doch eine Frucht des chriſtlichen Geiſtes. Der Erziehung zu chriſtlicher Liebe hinwiederum war es fürderlid, wenn die Einzelnen in einem Ver⸗ bande ftanden, der fie vor egoiftifcher Weyfafgung der „materiellen Intereſſen“ bewahrte. Wieviel behamiekıss. doch, daß hier der Wetteifer vorwärts ftrebender Kräftezanuher Gemeinſchaft eine fitt- liche Schranke Hattel Auch das gewerblichn Leben blieb davor ger fügt, die Einzelnen nur im Kampf vwädchtslofer Konkurrenz fi) bewähren zu laſſen. Und bie freie Arbeit felbft, die damals gegenüber dem Anfcwellen der Orbensgemeigähaften die fozial- ethiſche Bedeutung einer rettenben That Hattezsifie hätte ihre Aufe gabe nicht gelöft, wäre fie nicht Ehrenſache einer von Selbſtgefühl befeelten Gemeinschaft geworden. Won hier aus ergab fi von felbft, nicht auf theoretifchem Wege, fondern durch die Macht des wirklichen Lebens ber Anfang einer Umbilbung der fittlihen Vor⸗ ftellungen. Hier, bei der Arbeit, Ternte der deutfche Bürger eine Selbftfhägung nach der Tüchtigkeit, die gegen die einfeitig asketiſche Lebensſchatzung ein Gegengewicht bildete. Erwerb und Eigentumg«

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befig esfchlenen nun nicht mehr als etwas, das nun einmal im dem Zuftend, den die Glinde in bie Welt gebracht, notwendig fei, defjen fich aber der Volllommene zu entlebigen habe; fie gaben igren Wert von felbft zu erkennen. Armut und Vollkommenheit, welche die Kirche auf einander bezogen hatte, loſten dieſe Ver⸗ bindung; der Blick für die Armut als ein Übel erſchloß fi, und fo nahm denn auch die Hilfsleiſtung jenes vorbeugende Moment in fi anf, das die Kirche nicht kaunte. Es galt, den Gilde⸗ bruder, die Gildefchwefter nit verarmen zu laffen. Dieſen Fort» Schritt förderte jenes Ehrgefühl, das fi auch damals am Bes wußtfein bes korporativen Bandes ftärkte; und eine ftraffe Die ziplin, die jeden Verſtoß gegen das Gtatut mit Bußen belegte, gewann auch für das fittliche Leben einige Bedeutung, um fo höhere, je mehr die Kirche ihre Zucht verfänmte und felbft zuchte loſes Wefen in fi aufnahm. Das Wert: „Zünftler müflen fo rein fein, als ob fie von den Tauben gelefen wären!“ fprac das fittliche Selbftgefühl jener Kreiſe aus. Underfelts barg dieſe torporative Zufammenfaffung auch bie Gefahr der Vereinsfelbftfucht und Borntertheit in fih, die am Verfall des Bunftwefens ihren Anteil hat; wir werden Luthers Tadel über den Mangel an criſt⸗ licher Nachſtenliebe, ber Hitrans entjprang, vernehmen; aber wenn ſich an den gefhichtlidptertvachfenen Formen des Voltslebens Ver⸗ bildungen zeigten, fo&erduißeten fie doch eine padagogiſche Bedeu⸗ tung; waren fie and) miht utellorte, fo blieben fie dod Sam melorte für ſittliche? Mühe, in denen fih auf lange Tuchtig- keit, Ehrbarteit, EHBEREBL und der Sinn brüderlicher Dienſtwillig keit erhielt. 1 Aisd“

Die robuften did" regfamen Kerufte, welche ft in dieſem Auf wartsſtreben ber “Ühittferen und unteren ſozialen Schichten offenbaren, begten num zwar fittliche Momente in ſich, die der Zucht⸗ wie der Liebesübung zugute kamen und zu den von ber Kirche verſäumten natürlichen Gottesordnungen zurüchzulenken antrieben; aber fie reichten doch bei weitem nicht hin, um bie Gefahren und Schäden abzuwenden, deren tiefe Schatten auf dem ganzen Zeitalter Liegen. Nachdem das Stanfengefcplecht überwunden war, blieb das Rei nicht mehr Träger hoher idealer Aufgaben; der Saftzug der leben⸗

Die Aebesthauigkeit det dentſchen Neformation. 208

digen Kräfte ergoß fich in die Heineren im Werden begriffenen Gebilde des politiſchen und ſozialen Lebens; bie kleineren Staaten, die Nationalitäten, die Städte. Aber ber Lebenstrieb, der an ber Auftöfung der alten fo fange alles tragenden und. zufanmmengalten« den Macht fich ftärkte, hatte etwas Gelbftfüchtiges, Rückſichtslofes; jeder Fortſchritt wurde durch Kumpfe gewonnen, welche Härte und Rohheit keunzeichnete. Fanerhulb der nen ſich bildenden Gemein⸗ ſchaften waltete ein Bruberfian, aber eng waten bie Grenzen, welche Gilde und Imuugt zug gegen die Handwerke, bie nicht für gleich ehrlich galten; innerhalb jener Gemeinſchaften war bie Kon⸗ turrenz gezugelt durch die Über ben einzelnen übergreifende Macht, aber das hinderte nicht, daß arm und reich, vornehm und gering in einem Wettfampf rangen, dei dem chrijtlichen Liebesfiun, ja, den dotderungen der Gerechtigkeit, ber Mäßigung ben Einfluß auf die fezialen Strebungen wehtte und damals wie heute dafür Zeugnis ablegte, da die berechtigtſten, jugendfeifcheften Fortſchritie des Volfstume zu ethiſchen Hücfchritten werden ohne Vertiefung im Chriſteuum. Daß die Kirche jener Zeit, des vierzehuten und fünfzeguten Jahrhunderts zw diefer Vertiefung richt auregte, das war ihre Schald und ward ihr Gericht. So entſtanden die harten Zeiten, welche die Reformation heiſchten.

Schon in den Jahren des Juterregnum melden fig ihte Bore zeichen an. In den Predigten des Berthold von Regeneburg, die gerade damals gehalten wurden, ſehen wir wie im einem Spiegel das Bild bes Bollslebens uns entgegentreten; ein gewiß unteigliches, denn der berühmte Frauzislaner Hat in feinen Strafe reden offenbar aus der fpeziellften Vertrautheit mit ben Zuftänben und in ber fchneidigften Abzielung auf feinen Hürerfreis gejprerhen. Es ift ein buntes, farbenreiches Bild, aber mit vielen dunkelen Bügen! Geiz iſt ſeht gemein in allen Stünden. Da giebt jener Waſſer für Wein; ein anderer verkauft Luft für Brot und macht es mit Hefen, daß es innen Hohl wird. So Hat der unrechtes Gewicht in ſeinem Kram oder unrechte Elle. Der Mantelmacher giebt mit Stärke einem alten Lumpen das Ausfehen eines neuen und verkauft ihn an einen armen Kuecht, der vielleicht ein halbes Jahr darum gedient hat. Hohe Herren unterbräden den Armen,

Dienftboten veruntreuen das Gut ihrer Herrſchaften. Schon treten auch die fogialen Gegenfäge ſchroffer auseinander: üppiger Genuß und Lupus und bittere Armut; rauen, welche bie Schreine und Stangen voll henken, che fie einem nadenden Dürftigen einen alten Qumpen geben, ben böfeften, den fie Haben, und ann wieder foldhe, die Hundert Pfund von ifrer Arbeit befigen follten und fich wicht deo Froftes erwehren Können; denn Bruder Berthold weiß, dag mander zu feiner Predigt Hergelaufen ift in diefem Talten Reif barfuß in binner Meldung ).

Das Bild, von dem wir nur einige Striche bier geben kön⸗ men ?), wird durch anderweitige Nachrichten aus jener Zeit beftär tigt. Die Schatzung der fittlihen Werte Hielt mit dem ſteigenden Erwerbsfinn nicht Schritt; die regierenden Herren aus ben alten Geſchlechtern in Straßburg gründeten zwar zu Anfang des vier- zehnten Jahrhunderts Kirchen und Spitäler, bewieſen fih auch fonft als fähig und tdhtig, aber daß die fittlichen Kräfte im Ab- nehmen waren; das belamen bie niederen Stände in parteiiſcher Handhabung des Regiments, in Überbitrdung mit Laften, ja in mancherlei Willkür und Gewaltthat zu fühlen. Es kam Hinzu, dag mit dem Emporlommen ber Geldwirtſchaft das Kapital fein Übergewicht ohne Rüdficht geltend machte. Zuweilen war fogar Net für den Armen nur zu erlangen, wenn er fi entſchloß, eines Patriziers Mundmann zu werden. Vollends Jahre der Teuerung ftießen ihn in Verſchuldung oder in Abhängigkeit, damit er nur mit den Seinen das Leben frifte. Und babei hatte doch der Stand der Handwerker ein Kraftgefuhl gewonnen, das ihn

1) Berth. von Regeneburg, ©. 16f. 150f. 89ff. 116. 218. 58. 84. b8 f.

9) Seiner Bervölftändigung mögen folgende Verweiſe dienen. Üppigfeit wird geſchildert und geftraft: ©. 25. 59. 88. 178ff. 207. 224. 256. 261; Hoffahet in Meiderprait: S. 54. 118. 819; Geiz und Wucher: ©. 28. 40ff. 55. 59. 60. 107. 185. 245. 819,

befäßigte, ben alten Gefchleiktern ihre Alleinherrſchaft zu entreißen. Die Zunftrevolutionen gehen aus der ſozialen Spannung herver ; aber mit der neuen Ara für das Bürgertum, die hiermit anhob, war jener fittliche Durchſchnittscharalter des Zeitalters nicht ver- ändert. Es bleibt burd Die Triebe ruckfichtsloſer Selbſtſucht ber herrſcht ).

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So ging man den Nöten entgegen, die alsbald auf einander folgten. Mißwachs, Teuerungsjahre bildeten die Borboten der Heimfuhung, melde die Zeitgenojien „das große Sterben, den großen Tod“ nannten *). Beftepidemieen hatten Europa ſchon feit Zuftinians Zeiten bis zu den Kreuzzügen heimgefucht. Set aber 30g eine Seuche aus dem Orient heran, die dem Geflecht, des vor ihr dahinfant, wie eine Offenbarung des göttlichen Zornes zur Anstilgung der Menfchen erſchien. Es war eine Peſtilenz mit Blutſpeien, welche oft den Tod brachte, che nur die Anfangs ftadien der Krankheit durchlaufen waren; die Länder, durch die fie 30g, wurden entvölfert. Zu Ende des Jahres 1346 und Anfang 1347 drang fie aus Afien über die Krim zu den Seeftäbten Staliens vor, um fi) 1348 und 1349, teils durch Alpenpäffe, teils über Frankreich nad der Schweiz und Dentfchland zu ver- breiten und im Jahre 1350 am furdtbarften zu haufen. War auch in Deutſchland die Sterblichkeit nicht fo entfeglich, wie in Italien, das die Hälfte feiner Bewohner verlor, fo bezeugen doch die Verluftziffern für eine Anzahl von Städten den mörderifchen Charakter der Krankgeit®). Baſel hatte 14000, Straßburg 16000, Wien 40000 Tote, und bie Bedeutung biefer Zahlen wächſt, wenn man ben Unterjdied der Bevblkerungsmengen von Heute und damals in Anfag bringt. Unter den deutſchen Lande ſchaften Kitten Württemberg and Thüringen am ſchwerſten. In Württeniberg 'blieb kein Gehöft, kein Schloß, fein Kloſter ver⸗

i) Sähmoller, Straßburg zur Zeit der Zunftlämpfe, ©. 18ff.

3) Lechner weiſt nach, daß biefe Benennung allein von den Beitgenoffen gebraucht ward, uad bie Bezeichnung „Ihwarzer Tod“ ein Jahrhundert fpäter noch nicht belaunt war (©. 11f.).

3) Eine Berluftabelle giebt Häfer, ©. 180.

heol. Gtnb. Yapız. 1888. 46

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font; Ulm war von Flüchtlingen überfüllt, die das Verderben um fo fiherer ereifte, während Stuttgart weniger ftarfe Verlufte erlitt. Ähnlich waren bie Verheerungen in Thüringen. Im Weimar ftarben 6000 Menſchen, in Erfurt 12000, die man, nachdem die Gottesäcer angefüllt waren, in große Gruben beer- digte. Dann drang die Epidemie 1350 bis zur Oftfeefüfte vor, um bier in ähnlicher Weife zu wüten. Denn ihre Heftigkeit gab in nördlichen Gegenden der des Südens nicht nad. In Holftein erlagen ihr zwei Drittel, in Schleswig vier Fünftel der Bevöl- kerung ?).

Die ſittlichen Erſcheinungen, welche der Schreden diefer Heim⸗ ſuchung Hervorrief, waren ſehr ungleih. Die einen trieb bie Todesfurcht zur Buße; andere gaben ſich den Lüften hin. Die Lubecker Kaufleute brachten ihr Gold zu den Klöſtern, und als die Monche die Spende als tobbringend verfhmähten, warfen jene das Geld über die Mauern, um fo ihre Seele zu verfihern. In anderen Städten hielt man Gelage, Tänze und Faſchingzüge ab. Die Monche einiger ſchwäbiſchen Klöſter zogen nad Ulm, um dort zu ſchwelgen. Zugleich vertiefen ſich jene dunkelen Geiten des Vollslebens, von denen die Rede war. Das Gefeg verliert an Geltung und Achtung, und es zeigt ſich eine erfchredende Zunahme der Verbregen. Der Haß gegen die Juden, durch den Wucher berfelben gefteigert, Hatte bei den gefunfenen fittlichen Zuftänden ſchon vor dem Auftreten des großen Todes Maffenmorde er- zeugt. Jet aber kommen diefe Judenverbrennungen durch bie Mahr von der Brunnenvergiftung, die auch bei den Beſſeren

1) Kür die Skizze über das „große Sterben“ find außer der älteren Dar- Rellung von F. Heder, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters (neue Ausgabe von Hirſch, Berlin 1865) befonders benugt: Käfer, Lehrbuch der Geſchichte der Medizin (8. Aufl. 1876) III, 97ff. (Hier finden ſich auch die älteren Ouellen in einer Zufammenftellung abgedbrudt); Höniger, Der fGmwarge Tod in Deutfejland (Berfin 1882) (fritifc gegen die älteren Vor⸗ flellungen vom Urfprung der Seuche, verbreitet biefe Arbeit auch über bie for Slafen Verhäftniffe neues Licht); Lechner, Das große Sterben in Dentfchland in den Jahren 1848—1851 (Gymnaf.-Programm, Mitterburg 1882; Fort» ſetzung zu erwarten [bietet für die geogr. Verbreitung der Krankheit neue Re-

fuftate)).

Die Liebesthätigfeit ber deutſchen Reformation. 707

Glauben fand, noch mehr in Aufnahme. Sie find Symptome einer entjeglichen Verrohung des Volkslebens. Ebenſo charak⸗ teriſtiſch iſt die düſtere Glut der religiöfen Erregung, welche ſich in den Geißlerfahrten zur Schau ſtellte. Hier ein Bußeifer, der ſich bis aufs Blut kaſteite und doch fo plöglich in Fleiſchesfreiheit umſchlugl Hier ein bis zur Gewaltthat getriebener Gegenſatz gegen die Geiſtlichleit und Kirche, und zugleich eine Macht der An- ziehung auf das Volksgemüt! Wie krankhaft und vorübergehend dieſe Erſcheinung war, eine Fieberzudung bes durch das Schrednis der Zeit tief erregten religiöfen Volksgeiſtes, fie läßt doch erkennen, daß Kirche und Volkstum nicht mehr fo wie ein Jahrhundert zu« vor in Einheit find.

Und eben das tritt da hervor, wo immer der Zug zur Gott« innigfeit Gemeinſchaften ftiftete. Denn bie Weltentfremdung, welche die Myſtik des 14. Jahrhunderts in fich Hegt, bedingt auch der Kirche gegenüber eine veränderte Stellung. Das Auge jener Frömmigkeit, die auf Innerlichkeit, wahre Andacht im Geift, Hin gabe des Herzens an Gott, Einfalt und Lauterfeit, drang, war für die Verweltlichung der Kirche, für das Äußerliche und Media» nifterte ihrer Andacht, wie ihrer Askeſe, für alle „pharifäliche Weiſe und geiftlichen Schein“ gejhärft. Und wie weltflüctig, je weltfremd dieſe Srömmigfeit ift, fo trägt fie doch nicht den fta« tutarifchen Charakter der mönchiſchen. Sie ruht auf dem Sinn für das Göttliche. Obſchon fie durch manches, dem Chriften- tum fremde Element getrübt, dazu neigt, die Selbftverleugnung in eine praftifche Abftraktion umzuwandeln, behält fie eine freund« lichere Stellung zu den fittlichen Gottesordnungen als zu den kirche lichen Menſchenſatzungen. Von einer Volltommenheit der äußeren Armut weiß Tauler nichts; vielmehr befennt er, daß es ihm ſchwer fei, Almofen zu nehmen, und hätte ex gewußt, was er jegt wiffe, jo wäre er viel Lieber ein Arbeiter geworden !). Mon Pfaffen und Nonnen redet er wohl einmal geringſchätzig als ver- dingten Knechten %), und er felbft will nicht durch feine Kappe und

2) Zaulers Sermone (Ausg. von 1498), BI. 191c. 2) BI. 146c. 46*

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Platte Heilig fein ?); beifer als ein Geiſtlicher, der auf fih nicht acht hat, Können Ernte, melde Schuhe machen und anf einem Dorfe Dünger ftreuen, dem Rufe Gottes folgen ?). Gegen die anſpruchs⸗ volle Astefe und des Vertrauen auf fie macht er den beſchränkten Bert derfelben geltend; Dagegen find Werle gut, die im ber Furgt umd Liebe Gottes und zu feiner Ehre gefchehen). Es if auffallend, daß gerade in der Zeit, in welcher die Nichtachtung des Ratürlichen, die Berkennung der fittlichen Gottesorbnungen ſich bis zur Krifis fleigert, die Denfmweife jener innerlichen Kreife fich trotz der Neigung zu einer abftraften Geiftigfeit des fittlichen Medytes ünd Wertes jener Ordnungen annimint. Dem entfpricht auch ihre Predigt von der Nücjftenliebe. Nicht Leiftungen gelten ihr, ſon⸗ dern Geſinnung. Nicht Erwerb von Lohn oder Abwendung von Strafen wirkt als Motiv, fondern von innen heraus dringt das⸗ felbe glei, einem Licht: wo das göttliche Leben in die Seele ein⸗ gegangen ift, da fließt es auch aus mit einer Liebe, die „gemein iſt· und wirt allen Menfchen vereint 4). Wie leidentlich die myſtiſche Srömmigeit, ivie Einfeitiges, Schwärmerifches in ihrer Gottinnig- teit, wie Übertriebenes in ührer Gelbftlofigkeit ift, ihre Zünger find doch nicht als Träumer dahingegangen. Kein befchaufiches Keben gift für fi, es ſoll in wirkliches Leben, in Liebesübung übergehen 5), Ehrifti Nachfolge das praftifche Maß für alle bilden, and der, welcher eben Gottes Einwirkungen in feiner Seele erfährt, fi gern von einem kranken Siechen rufen Laffen. Es ift befannt, daß der Mann, von dem diefe Grundfäge ftammen, fie perfünlic im freiwilligen Dienft an Peſttranken bewührt at. Wie ein Lichter

1) Tauler, Bf. 2831c.

2) Bl. 150cd.

®) 81. 65f. 149 u. a. 1512.

4) 81. 181. 161. 232. 159. .

%) Tauler, BI. 105. 192. Diefelben Grundfäge finden fich auch bei Meifter EdHart, bei dem, wenn man ihn abſtrakt betrachtet, der überſpaunte moniſtiſche Foealiemus das Sittliche imbifferenziieren müßte. Thatſachlich ift dies nicht der Fall. Ich vermeife auf ben betr. Abfchnitt in A. Laffons Monographie und Pregers Geſch. der deutfchen Myſtit I, 451. Hier nur das Urteil (Werke, Ansg. vom Pfeiffer, ©. 350), daß beſſer fei, einem Hungeigen zu effen zu geben, als fid zu üben an innerlicher Schauumg.

Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 709

Streifen zieht ſich diefe myſtiſche Denkweiſe durch die folgende Zeit. Es ift fein Lebensgebiet da, auf dem ſich ihr erfriſchender Einfluß nicht geltend machte. Der Liebesthätigfeit bemahrte fie die Liebe,

Aber es fehlte ihr die Kraft eines umbildenden Prinzips. Die Annäherung an evangelifhe Gedanken, die ihre Bedeutung aus— macht, entipringt einem feinfühligen veligiöfen Inſtinkt; aber der» felbe ift nicht von Elarer evangelifcher Erkenntnis geleitet. Der abosmiftische Zug, welcher der Myſtik anhaftet, bekundet, daß fie troß aller Hohen Anläufe auf dem Geiftesboden des Mittelalters erwachſen ift. So legt fie immer noch Zeugnis für die Lebens⸗ kraft desfelben ab. ALS die theofratifchen Gewalten und Formen fich ablebten, das Kirchentum nicht mehr Träger des deals der asketifch gedachten Volltommenheit war, blieb der Geijt desfelben doc noch mächtig genug, um, wenn auch nur in Heiner Ausbreis, tung, eine innige, ernfte Lebensrichtung zu erzeugen und Gemeins, fchaftskreife um fie zu fammeln. Aber diefer fpäte Tebensvolle Trieb gleicht den Wurzelfgößlingen eines Baumes. Sie find ein Lebenszeichen der Wurzel, aber fie vermögen das Abfterben des Ganzen nicht aufzuhalten.

6

Denn unaufbaltfam vollzog ſich der Verfall der Kirche, der in der Zeit ihrer äußeren Macht ſchon angehoben Hatte. Es förderte ihn, daß das Ablaßprinzip, befonders feit dem Beginn, des 14. Jahrhunderts, feine Konfequenzen z0g, und dieſe follten für die fittliche Seite des Lebens, für die Liebesthätigfeit ins. befondere, nicht mindere Gefahren mit fih führen, als für die religiöfe. Die Päpfte felbft verhalfen ihm zu einer ungeheuren Ausdehnung. Über den römiſchen Weltverftand, defjen Bonte fo; VIII. und mander feiner Nachfolger noch immer mächtig war, fehlen es indes verhängt, zugleich mit feinen Erfolgen Wirkungen, ganz entgegengefegter Art zu erzielen. Siegreich über das deutſche Kalſertum nach blutiger Austilgung des Staufengefchlechtes, gerät das Papfttum alsbald durch gefteigerte Machtbeftrebungen in big demütigende Abhängigkeit von feinem glten Bundesgenofjen. Auch fo noch vermag es den deutſchen Kaiferftreit zu verbittern, in

210 gering

Bann und Interdilt feine Hand ſchwer fühlen zu laffen, bie Burgerſchaften der Städte zu entzweien!) und den Zwiefpalt in die innigften Gemeinfchaften, auch die myſtiſcher Frömmigkeit zu tragen ?): aber eben damit regt es einen Geiſt der Renitenz und ber DVerbitterung an, der die Entwurzelung feiner ungeheuren Macht im deutfchen Volke vorbereitet. Endlich gelingt e8 ihm mit der SFindigkeit eines Bergmannes, das Nationalvermögen aller europäifchen Voller anzufchürfen und ſich zu einer Finanzmacht erften Ranges zu erheben: aber gerade dies Beſtreben und jein Erfolg teifft den empfindlichen Punkt des damaligen Zeitalters; es veizt zur Gegenwehr, Hilft das Papfttum feines Nimbus ent» Heiden, ſchlägt au dem Wohlftand der kirchlichen Inſtitute tiefe Wunden, beeinträchtigt ihre Leiſtungsfähigkeit und zieht endlich die Liebesthätigkeit immer mehr auf das tiefe Niveau äußerlicher Leiftungen herab.

An der Schwelle des 14. Jahrhunderts wurde die Thür der Ablaßgnade durch das Jubildum des Bonifaz fo weit aufgethan, wie nie zuvor. Allen wahrhaft Reuenden und Beichtenden, welche an beftimmten Tagen die Bafilifen des Petrus und Paulus in Rom befuchen würden,. ward der vollfommenfte Ablag aller Sün«- den verheißen ?). Der Erfolg bewies die Kraft dieſes Motives. So viel Volks lief aus allen Ländern zu, daß die Zahl während des Zubeljahres fortdauernd etwa 200000, zu Weihnachten das Zehn- fache betrug. Am Altar von St. Paul Hatten zwei Kleriler Tag und Naht das Geld mit Rechen zufammenzufharrent). Hatte der Erfinder der Yubilden fo außerordentliche Gnadenfpende nur der Wende der Jahrhunderte vorbehalten, fo bedachte doch ſchon

3) Ein lehrreiches Beiſpiel bieten die Straßb. Verhältnifſe. €. Schmidt, Joh. Tauler, S. 9ff.

2) Bol. Phil. Strand, Margarete Ebner und Heinrich von Nörd- lingen (1882). Margarete betet für Ludwig den Baier, Heinvich iſt deſſen entfdjiebener Gegner. S. XXXVIII. LXX. 158,

®) „Non solum plenam et largiorem immo plenissimam omnium suorum concedemus et concedimus veniam peccatorum.“ Corp. jur. can. Extravag. commun. lib. V, tit. IX, cap. I

4) Woker, Das Fichliche Finanzweſen ber Papſte (1878), S. 116, nad dem Chroniſten von Afti.

Die Liebesthätigkeit der deutichen Reformation. a

1350 Klemens VI., daß es bei der Kürze des menfchlichen Lebens, welche nur wenige zum hundertſten Jahre gelangen laſſe, für die Kirche ſich nicht gezieme, den Schag des Erbarmens im Schweiß tuche zu vergraben. Er glaubte daher der Bitte des römiſchen Bolkes: „Herr, öffne ihnen deinen Schag, den Quell lebendigen Waffers!“ nicht widerftehen zu dürfen. So proffamierte er das weite Jubeljahr für das Jahr 1350 als neuteftamentliche Erfül⸗ lung bes altteftamentfichen Gebotes, und er wagte es, Hierbei mit feierlichen Worten auf den Hinzumweifen, „der und von Gott ger macht ift zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Grlöfung, der uns nicht mit vergänglihem Gold oder Silber, fondern mit feinem Heiligen, teueren Blute als dem eines unbefledten Yammes erlöfet Hat!“ 1) Dahin war die Theorie vom Scha der verdient. lichen Werke gediehen. Das Jubeljahr, welches mit der Zeit der Heimſuchung durch „das große Sterben“ zufammenfiel, ift übrie gens für die Pilger in Rom verhängnisvolf geworden; wenige von ihnen haben die Heimat wiedergefehen.

In fpäterer Zeit, als päpftliche Bullen dafür forgten, daß man auch daheim in Deutjchland ben Yubiläumsablaß erlangen Tonnte®), und als die Herolde diefer Gnade von Ort zu Ort zogen, drängte da8 Intereſſe, die Kraft, die Gültigkeit und Wur⸗ digkeit dieſes Ablaſſes Heranszuftreichen, die Sorge um da8 innere Heiligtum der Gefinnung, um den Ernft der Buße und die Rein heit der Liebe immer mehr zurüd. Die Predigten des Johann Palg, auf der Grenze zwifhen dem 15. und 16. Jahrhundert ger halten ®), lafjen den großen Umſchwung, der ſich feit den Zeiten des Berthold in der Betrachtung vollzogen Hatte, erfennen. Überall zeigt ſich das Beſtreben, dem Jubildumsablaß bie größten Wirkungen für das Seelenheil nachzuruhmen. Palg polemiftert

ı) Das über Klemens VI. Gefagte ſchließt ſich an bie Ausdrüce ber Bulle Unigenitus Dei filius an. Corp. jur. can. Extrav. comm. lib. V, tit. IX, cap. I.

2) Wie teuer diefe Privilegien waren, vgl. Woker, S. 117.

8) Die Coelifodina coelestis und das Supplementum eoelifodinae. Über dieſelben ift zu dgl. Kolde, Joh. Staupig. Ich bemugte bie Erfurter Aus- gabe vom Jahre 1502, gebruct durch Wolfgang Schend.

112 Hering

fogar gegen die, welde dieſen Ablaß nur auf Erfah der Strafe beziehen wollen i). Er billigt ausbrüdtic die gemeine Rede, daß mon im Jubiläus von Strafe und Schuld abjolviert wird, indem er die Belehrung hinzufügt, daß der Papft in ihm die Vollmacht mit erteile, von allen Suünden zu abjolvieren?). Aus diefer Voraus- fegung ift es dann begreiflih, wenn Paltz wie ein Herold der göttlichen Barmherzigkeit auftritt, gleichſam mit Poſaunenſtößen die größten Sünder zur Belehrung zu rufen.

Aber eben diefe Predigten find auch Zeugnifje dafür, daß bei den Fürften wie beim Volke Widerſpruch und Widerftand gegen dem Ablaß fi regte, daß man in ihm eine Schädigung der Wohl- fagrt, wenn auch noch nit der hriftlichen Srömmigkeit erkannte. Schon fprah man von Betrügereien ber Kleriler, zweifelte, ob das für den Türkenkrieg Gefammelte fr diefen Zwed verwendet würde, klagte, daß durd die Indulgenzen die Länder von Gelb entblößt würden; ja man unterftand fi, auf gewiffe Sünden der Papſte jener Zeit hinzudeuten. Der rüftige Ablaßkämpe, der nicht zweifelte, daß alle diefe Bedenken aus dämonifchen Einwirkungen herrührten, hat, eines Artilferiften Sohn, die väterliche Kunſt geift- lich gebt und jene Einwendungen aus vielen Fenftern feines „Dar vidiſchen Turmes“ niedergedonnert ?).

1) Balg antwortete denen, melde den Ablaß nur von der remissio poenae verftehen wollen: „Indulgentia dupliciter aceipitur, uno modo stricte ac proprie, et sic solum extendit se ad pene remissionem. Alio modo aceipitur large pro jubileo sive pro litera indulgentiali, et tune non solum extendit se ad pene sed etiam ad culpe remissionem, quia in jubileo vel confessionali certis temporibus remittitur tam culpa quam pena.“ Suppl. celif., Bog. A, Bl. 4.

2) Zum klareren Verſtäudnis macht Pal biefelbe Unterfdeibung wie oben, und fagt dann mit Bezug auf den Jubiläumsablaß: „Alio modo (sc. indulgentia aceipitur) large pro jubileo vel pro litera indulgentiali in- eludente jubileum, et tunc extendit se ad culpe et pene remissionem, quia comrauniter, quando papa dat jubileum non dat nudam indulgen- tiam, sed dat etiam auctoritatem confitendi et absolvendi ab (forrig. für ad) omuibus peccatis etiam quo ad culpam. Et sic culpa remittitur ratione sacramenti penitentie, quod ibi introducitur, et pena ratione in- Aulgentie, que ibi exercetur.“ Celif., Bog. O, Bl. 3b.

®) Der Holyihnitt, auf dem Titelblatt des Supplementum celifodine,

Die Viebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 718

Und doch lieferten die Thatfachen Gegenbeweife genug gegen ſolches Spiel des Monchswitzes. Nicht alles, was durch Ablaß für die Armen einging, kam biefen zugute. Die Nitnberger Bürger 3. B. erhielten im Jahre 1489 einen Ablaß für das Hofpital bewilligt; 4500 Gulden famen ein: diefe find ſämilich ua Nom gefloffen trog der Bitten der Bürgerfchaft, ihr wenig« ftens 1000 Gulden für den milden Zweck, für den fie gefammelt waren, zu überlaffen ®).

Die Methode der Einfammlung verurfachte freilich viel Koften, die vom Ertrag in Abzug kamen. Cine Flugſchrift vom Jahre 1522, deren Verfaſſer ſchon durch die evangelifchen Grundfäge von Nächftenliebe und Liebesübung beeinflußt ift, führt uns den ganzen Apparat vor, der in Bewegung gejegt werden mußte, um die päpftfichen Gnaden zu erhalten und auszunugen®). Schon

zeigt einen aus Quadern gefügten Turm mit zahlreichen Schießſcharten. Teufel umringen ihn angreifend. Aus den Scharten blitzen die Gefüge, von Engeln bedient. Dem Geſchmad der Homifeten jener Zeit entſprechend difponiert fich die Rechtfertigungsſchrift zugunſten des Ablaß im Anſchluß an das Bild: Aus dem erflen, zweiten, dritten u, f. w. Fenſter gegen das erſte, zweite u. |. w. ‚Heer. Unter deu teufliſchen Angriffen gegen den Wblaf findet fich aud dev Borwurf, daß die Untertanen durch ihn verarmen. Aus dem vierten Fenſter erfolgt Hierauf der Kernichuß, daß fe „vielmehr reich gemacht werben an der Seele”. An einer anderen Stelle begegnet Paltz bem Verdacht, der fich gegen das Leben der Päpfte richtet, mit dem Appell an die Ghriftenpflicht, von ihnen das Gute anzunehmen. Es war die Zeit Aleganders VI. Die Klagen, daß die Länder durch den Jubelablaß von Geld entblößt wilden, waren berechtigt; das laßt fi aus den Erträgen der Abläffe erfennen. Im Hannover am ber Kirche St. Georg brachte der von Alexander VI. ausgeſchriebene Jubelablaß im Jahre 1508 die damals fehr große Summe von 8018 Gulden ein. Uhl» born, Zwei Bilder, ©. 17.

4) Briem, Geſchichte von Nürnberg (1875), ©. 124.

3) Der Titel: „Ermahnung zu den Oueftionieren abzuſtellen überfläffige Koften“. Die Aufihrift: „Den wirdigen andächtigen Herrn, fo von wegen der Armen und Spitale Gunft halten oder Almuſen ſammeln wunſcht Johanna Schweblin, Diener der Armen, Gnad und Frieden Gottes“. Zum Schluß: „Geben zu Pforgen am erſten Tag des Chriſtmonats 1522”, Unterzeichnet: „Ram Epifcopus“. Auf dem Titelblatt ein Holzſchnitt, welcher die Aus - bietung des Ablafjes darſtellt. Geiſtliche ziehen mit dem Allerheiligen vor-

714 Hering

um die Ablaßbulle zu erlangen, muß man mit ſchwerer Zehrung nach Rom reiten; den Kopiften, Notarien, Sefretären, Profurae toren und anderen viele Dufaten ſchenken; dann bligen, falls jemand der Bulle widerfpricht, die Ungewitter des Interdikts; da find Konfervatoren und Profuratoren nötig, um bie erlangten Freiheiten zu befhirmen, was fie freilich wieder nur für 40 ober 30 Dufaten thun, und dann bedarf es doch, wenn der Papft mit Tode abgeht, neuer Beftätigung, will man nicht Revolation fürchten. Iſt aber die Bulle ausgeftellt, dann muß fie bei den Bifchöfen transfumiert und vidimiert werden, was ſich ungefähre auf 30 Gulden beläuft; Hierauf folgen Summarien und Konfeffionalien, da8 Volk über den Ablaß zu berichten und Mandate von den Bifhöfen, daß die Pfarrer den Sammler zulaffen, wofür alle Zahre 40 Gulden gegeben werden. Nach erlangtem Mandat er⸗ halten Pfarrer, Kaplan, Meßner, Kolleltoren auf Grund befon- derer Jura die Hände auf; dann ift wieder große Zurüftung er⸗ forderlih, um den Sammler mit Stiefel und Sporn auszurüften; die in den Wirtshäufern aufgewandte Zehrung will beftritten, der Schreiberlohn für die kaiſerliche Freiheit bezahlt fein, obſchon Fürften und weltliche Stände den Spitälern geneigt find. So bringt der Brief des Papftes mehr Koften als Gewinn. Der Verfaſſer der Slugfchrift meint, daß von 1000 Gulden, die für die Armen gefammelt find, nicht 10, wollte Gott 5, ihnen wirklich zunuge fümen. „Wenn ein Tyrann“, fagt er, „in unerhörter Wüterel die Armen beraubt, wird jedermann über Mord fhreien; und niemand will betrachten, was großer Abbruch den Armen durch dies Verfahren gefchieht!*

Der Ablag war aber nur eine Wurzel an der Wucherpflanze diefer Finanzerei, die mit dichtem Geflecht ausfaugend in die Na— tionaldermögen eindrang. Auch die für die Kreuzzüge gefammelten Gelber Haben das Schiefal gehabt, in eine päpftlihe Einnahme»

über; ein Menſch, in jeder Hand eine Schelle, läutet vor ihnen her. Ein tnieender Mann bietet ala Gabe ein Huhn und ein Schwein dar. Bor ihm ſteht ein gefüllter Sad mit der Aufichrift: „Umb gelt ein fad vol ablaß“; daneben ein mit Gelb gefüllter Kaften. Auf die pofitiven Reformvorſchläge ber Schrift wird der folgende Aufſatz zurlickommen.

Becig Ur er Sem must mr Fumı mr m Begfreie zu „cr Trieim- pr mim Bus

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werze ande BAU Behl Kız dr Serrr, mr fahr A ie Tan Hört were, Emm zr ne Ruin Str za aaa; doch Hat ber den Scrzien ma geisen Sagen at on er geſprocher. Die Türferitner nun an Kriegt der Papfte erhob, mid ifen 1248 ſind Dear far in amt mitgegehutet, dem Pırite gegen Kaiſer Friedrich IL detzudeden N Noch auf lange baden dann die Saladindzeduten ein vom ledten Schimmer der längit vergejfenen großen Aufgabe vernoldetes Motio hergegeben, um Gelder zu jammeln, vom denen auch nicht einee Mannes Ausrüftung bejorgt ward t).

Einer Steuer famen, um vom Peterepfennig zu ſchwelgen, der als einzutreibender Tribut überwiegend auf England und une dinavien laftete ®), die Gelder gleich, welche fir papfttiipe Onaden

1) Nr. 116 der Ausgabe von Pfeiffer. Die glelche Veſhrchiung ſpelcht fich in dem Gedicht über den „welschen schrin“ aus (Mr. 110).

3) Bol. die Anm. im der Pfeifferſchen Ausg. zu Mr. 110,”

3) Heyne, Denkw. a. der ſchleſiſchen Kirchengeſch. bel Woktr, & 47,

4) €. Wend, Klemens V. und Heinrich VII, ©. 89,

5) Wolter, ©. 82ff., bei. S. 41ff. Doc) wurde 1200 dleſer Trldut durch den Legaten auch aus deutſchen Kirchen, Klbſtern und Hoſpltälern elite gegogen: Woler, ©. 44.

7 Hering

gesohlt wurden. Denn da das päpitfiche Recht ein Reh vom Sagımgen über alle menſchlichen Handlungen anögebreitet Hatte, in weldem gõitlich Erlaubtes menid;lih verboten, Berbotenes erfanbt ward”, fo war die Zahl der Diſpenſe, Privilegien, Abjolutionen region‘). Johaun XXI., der den Detailhandel mit dieſen Gnuaden mit Meifterjhaft und glänzendem Erfolge zu organifieren gewußt hatte, verdanfte die päpftliche Kaffe einen ftrommeifen Zu- flug von Millionen Tropfen. Johann Hinterlieg 25 Millionen Goldgulden. Beſonders einträgfih waren die Disipenfe von Ehe Hinderniffen, und wo fie feinen Ertrag verſprachen, wurden fie nicht gewährt ?).

Welche fittlihe Schädigung aber folgte jenen päpftfihen Abfo- Tutionen, welche den unfittlichen Geiftlihen mit 7 Groſchen, das gegen Geiftlihe, welche einen Erfommunizierten beerbigt hatten, mit 8 Groſchen büßen ließen! Wog die Sünde gegen kirchliches Gebot nicht ſchwerer als Gottes Gebot, wenn ein Blutſchänder 5 Groſchen, der Fälſcher einer päpftlihen Bulle 17 oder 18 Gr. bezahlte! Sittlich widerwärtig war auch jene Finanzprogedur der fogen. Kompofition. Sixtus IV. ermädtigte durch die Bulle Domini et salvatoris nostri feinen Legaten, über geftohlenes, zweifelhaftes oder durch Wucher erworbenes Gut in der Art zu „vergleichen“ (componere), daß die Schuldigen nad) Abgabe eines Teiles von der Wiedererftattung des übrigen geftehlenen oder durch Wucher erworbenen Gutes abfolviert und auch fernergin nicht zur Erftattung verpflichtet feien 9).

1) Ste wurden nad) feften Sägen bewilligt, welche tm „Buch der Taxen apoſtoliſcher Pönitentiarie und Kanzlei” verzeichnet waren. Johann XXI. (1816—1324) hat zuerft ein ſolches Berzeihnis zufammenftellen lafſen. Das Tarbuch ift wiederholt unter dem Augen der Päpfte in Rom gebrudt, Über feine Echtheit ift zu vgl. Wolter ©. 6öff.

2) Die Begründung ift eyniſch. Bol. Woker.

3) Woker, S. 102f. 106f. Man vgl. hiermit das Eifern Bertholds von Regensburg um Miebererflattung (Pred. ©. 55 u. 8). Worer teilt S. 11f. die Preife nach der in Döllingers Beiträgen zur Kulturgeſchichte, 8b. II abgedrudten Tarrolle für eine große Zahl von Bistümern mit. Mainz wurde im 15. Jahrh. auf 27000 Gulden gefteigert (S. 12), Es Bat in

Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. ar

Einer ſchonungsloſen Ausbeutung waren die firchlichen Inſtitute amd Inter felbft ausgefegt. Die Erzbiſchöfe Hatten für ihr Pal⸗ lium, die Bifhöfe und Äste für ihre Konfirmation hohe Summen am die päpftliche Kaffe zu zahlen, feit dem Anfang des 14. Jahre hunderts nad) einer beftimmten Taxe. Salzburg und Mainz 3. B. zahlten je 10000 Goldgulden, mindeftens 200000 Mark nad unferem Gelbel Die Romreiſe, welde der Empfang des Valliums nötig machte, fteigerte diefe Opfer. Die Biihöfe der alten Kirche Hatten durch Verkauf Föftbarer Gewänder ges fangene Brüder losgekauft; bei dieſen Biſchöfen gegen Ende des Mittelalters Tam es dor, daß fie die Heiligen Geräte verpfändeten ober gar Armengut einzogen, um fich aus der Verfchuldung zu befreien, welche die püpftlihen Forderungen veranlaßt hatten; Überdies fiel die Laſt derfelben auch als Steuerdruck auf die Raten; Ein Mainzer Erzbifchof weinte auf feinem Totenbett im Gedanken an bie Anfprüche, welche fein Nachfolger an das arme Volk werde Machen müflen, um die Kurie zu bezahlen ?).

Was aus den Stellen des niederen Klerus an Annaten eins ging, mag wieder das Beiſpiel der Erzdiöcefe Mainz zeigen. Ans ihr floffen einmal in einem Jahre 175000 Gulden in die päpftliche Kaffe”). Seit aber vollends Innocenz III. das „götte Eiche Recht“, über jedes Beneficium der ganzen Welt zu verfügen, entdeckt und ſich und feinen Nachfolgern die Belegung dei geiſt⸗ lichen Stellen nach Belieben vorbehalten hatte, that ſich eime neue Einnahmequelle auf. Wer eine Stelle erhielt, Hatte eine Provi⸗ ſionsbulle, wer eine Zuſicherung für die nächfte Erledigung erhielt, eine Erpectanzbulle zu bezahlen. Da die päpftlichen Provifions- bullen über den Kopf der Patrone hinweg über Stellen verfügten, fo vermochten dieſe fich ihr Mecht, aber wiederum nur gnaden⸗ welſe, dadurch zu ſichern, daß fie vom Papft einen Indult nach⸗ ſuchten. Solchen Indult zu widerrufen, ftand dem Papſte frei⸗

deimelben Jahrhundert die Summe von 25000 Gulden während eines Men- ſchenalters fieben mal zu Bezahlen gehabt (©. 17). 2) Wolter, S. 2, fi Georgi, Gravanılna advers. Rontam (1725). 2) Wolter, ©. 27.

718 Hering

lich jederzeit frei. Ein Stellenmarkt war fo in Rom etabliert, auf dem die Einfünfte der Ämter Unwurdigen in den Schoß fielen und von ihnen verpraßt wurden, während die, welde, ſchlecht bes zahlt, den Dienft verfahen, in eine Armut gerieten, die um fo- bitterer war, da man fehr gut wußte, wie bie päpftlichen „Kurs tifanen“ es ſich wohl fein ließen *). Zur Verarmung der Köfter haben dieſe päpftlihen Anfprüche ebenfalls ihr Teil mit beige» tragen. Die dem Deutſchorden zugemuteten Opfer an "Gefchenten- waren im 15. Sahrhundert jo groß, daß die Briefe der Ger fandten des Ordens, die in Rom verfaßt find, von Klagen über» floffen. Sie ſprachen die Überzeugung ganz unverhoßlen aus, dag man in Rom nur Geld Haben müffe, um etwas durchzuſetzen, vollends päpftliche Ungnade in „Süßigkeit“ zu verwandeln. Es tam vor, daß die Gefandten fo ausgepfündert waren, daß auch Wucherer kein Darlehen mehr gaben, Gläubiger ihre Wohnung, mit Beichlag belegten und einer aus der Geſandtſchaft im Efel und Unmut über dies Treiben Worte voll Zorn und Verachtung. über „biefen irdifchen Gott“ nachhauſe ſchrieb 2).

Der Drud diefer Finanzwirtfhaft ward von den Nationen ſchwer empfunden. Die Klagen der Deutſchen verftummten im 15. Jahrhundert nicht; immer wieder fehrten die Beſchwerden wieder; die Konzilien aber brachten feine Abhilfe °); erſt als die Reformation eine Macht wurde, haben die gravamina der deutſchen Nation Nahdrud befommen.

2) Wolter, ©. 29. Eberlin von Günzburg jagt in dem Traktat „Rlag und Antwort von futherifchen und bebſtiſchen Pfaffen vom Jahre 1524: „Wer hat die Pfründ mit Zinfen überlegt und beſchwert, denn ihr Päpfle und Biſchöfe und die ſchnden römiſchen Eurtifon! Wir armen Pfaffen haben Wein gen Hof tragen und Waſſer trinken müflen. Ihr habt den Kern genommen und ung bie Spreu gelaſſen. Was fagt ihr von Auskommen, da ihr doch felbft die Pfründe ringert und beſchwert mit Zinfen uud Reſervaten, daß fein ge= ſchicier Mann daranf bleiben Tann.“ (Originalbrud, Bl. 7b.)

%) Woler ©. 54ff. nad) Auszügen aus dem Briefen, welche die Ger fandten von Kom aus am die Hochmeifter geſchrieben (veröffentlicht durch dem Hiftorifer des Ordens, Voigt, in Raumers Hiftor. Taſchenbuch, Jahrg. 4).

3) Bland V, 447. 463. 472. 475. 4B4ff.

Die Viebesthätigfeit der deutſchen Reformation. as

7.

Noch ſchädigender als der gefchilderte Mißftand war es für die Wirkfamfeit der Kirche, daß fie in den Klöſtern weder öfonos mifch noch fittlich leiftungsfähige Organe behielt.

Hätten fih nur die Orden in ifrer inneren Kraft erhalten: fie hätten dann dennoch vermocht, äußere Schädigung zu überftehen; aber fie felbft waren von Entgeiftung, zum Teil von Entfittlihung infiziert, und jener Finanzgeiſt, deſſen verhängnisvolle Erfolge chen dargeftellt find, Hatte aud fie ergriffen, um fie immer tiefer hinab» zuziehen. Die Eifterzienfer waren feit Anfang des 13. Jahrhun⸗ derts in dem Wendenlande, wo fie Kirchen und Schulen errichtet hatten, in ben Befig zahlreicher Patronate gelangt: jegt mußten fie dies Recht ſich felbft nugbar zu machen, indem fie die Ein- fünfte der Patronatskirchen ſich überweifen ließen und das Pfarr amt durch Targ befoldete Kaplane verfahen. Auch der Arbeitstrieh, der fich eben im Bürgertum jest fo mächtig entfaltet, wellte in dem Orden ab, der ihm einft fo bahnbrechend gefolgt war. Ein Chronift des 15. Jahrhunderts findet es auffallend, daß vor 100 Jahren der Konvent zur Arbeit aufs Feld gezogen fit). So fremd war ſchon die ruhmreide Vergangenheit ge» worden. Bon jest an werben bie Ländereien verpachtet oder als Zehen vergeben, ober es werben induftrielfe Unternefmungen, Ans Tage von Mühlen u. dergl. angefangen, die mehr Gewinn als bie einfache Landarbeit bringen, aber zugleich bie Anläffe zum Streit mit den bürgerlichen Gemeinfchaften vermehren. Wbläffe ohne Zahl werben zuhilfe genommen, um die Einfünfte der Kloſter auf⸗ zubeffern; es wird ben Wohlthätern des Kloſters Anteil an ben guten Werten des Ordens und ein feierliches Begräbnis verheißen; ja, e8 fommt vor, daß die Namen derer, welde eine Tonne Bier ſchenken, ins Kloſterbuch mit dem Wunfche eingetragen werben: Seine Seele ruhe in Frieden! Aber alle Finanzlünfte, alle Prat- titen, alle Abläffe und Gefchenke Halten ben Vermögensverfall nicht auf. Diefer äußere Verfall Hängt, dies ift nun das Charal- teriftifche, ftetS mit dem inneren zufammen und befteht mit Ges

1) Mone, Quellen zur badiſchen Landeskunde III, 85.

Kr.) Hering

nußſucht. Man pflegt des Leibes und klagt über ſchlechte Zeiten. Der Bermögensverfall des Kloſters erweicht die Mönche keines⸗ wegs, auf die Extrafpenden bei Tiſch zu verzichten, und der Abt von Volkerode ficht fich genötigt, für „die im Weinberge des Herrn ſchwitzenden Brüder“ einen erheblichen Trunt als Erquidung feft- aufegen. In manden rheiniſchen Kloſtern wird Weinſchank etabliert; der Becher Freift unter dem Rollen der Würfel, und es werden Lieder gefungen, die fi nicht ziemen. Ja, es kommt vor, daß von Übten Frauenbedienung gehaften wird. Um ſo ſchlimmer dies alles, da in Tracht und Gebaren der Anfprud eines um Gottes willen von der Welt abgefonderten Lebens aufrecht erhalten wurde 3),

Zu ber Üppigfeit am die Habfucht, um von einer anderen Seite her die Hauptftüge des Monchtums zu erſchuttern: die per⸗ ſönliche Eigentumslofigkeit. Eigenbefig, diefe Grundlage einer in den natürlichen Gottesorduungen ſich bethätigenden Sittlichkeit, mußte eine zerftörende Macht fein für ein Leben, das in der Verleugnung jener Ordnungen den Weg zur Vollkommenheit bes ſchritt. Als die Gemeinfamleit des Lebens zerfiel, die Mönde ſich aus dem Kloſter Privatbefig zulegten, waren fie nicht mehr Asfeten, wurden aber auch nicht Glieder der arbeitenden Gefell- ſchaft. Der asketiſche Idealismus verblich, mit ihm erlaftete die Liebe, und die Klöſter Hörten auf, Stätten der Gaftlichteit, der Krankenpflege und der Barmherzigkeit zu fein. Als 1443 die Bauern in der Nähe von Klofter Sponheim infolge eines harten Winters ihr Vieh ſchlachten oder in die Wälder treiben mußten, war das Klofter jo verarmt, daß es nicht einmal den Dörfern in nädjfter Nähe etwas beiftehen konnte 2).

Dan könnte gegen dies Bild einwenden, daß es aus einzelnen dunkelen Zügen zufammengefegt jei. Darum fei ausdrücklich auf bie Monographien über einzelne Orden hingewieſen. Fur den Deutſchorden ſtellt Boigt den Beginn des üfonomifchen Verfalls feit dem 13. Jahrhundert feft, der fon 1420—1425 fümtliche

4) Winter III, 114. Ennen IM, 756. Schnergans, Joh. Tri

themius und Kloſtet Sponheim (1882), ©. 36—58. - 9) Säneegans, ©. 87.

Die Liebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 72l

12 Balletien mit ſchweren Schulden belaftet. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts ift die Lage de8 Ordens völlig rettungslos. Dei Umftand allein, daß eine ſo außerordentlich Teiftungsfähige Kraft ausnahmslos im jene Krifen Hineingezogen wird, erweckt für die Berſuche eines Jauſſen, das kirchliche und Hlöfterliche Leben der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts ins Helle zu malen, große Bedenken 1).

Nichts iſt vollends verfehlter, als wenn neuerdings Janſſen uns glauben machen will, dieſen Zuftänden ſei durch die Reform⸗ verſuche, die ſich an den Namen des Nikolaus aus Cues knupfen, ein Enbe gemacht und eine Zeit nener Blüte voll Hingebung an das alte Ideal bes Monchtums und noch dazu voll Eifers für die Wiſſenſchaften augebrochen. In Wirklichkeit find jene Reform. gedanken, von wie wohlmeinenden und perfönfich frommen Männern auch unter den Biſchöfen fie getragen wurden, überwiegend ges ſcheitert. In Koln fuchte Erzbifchof Ruprecht die Dominikaner zu reformieren; . 1469 leiſteten ſamtliche Brüder den Eid und fieferten ihren Privatbefig aus, aber die Reform emtbehrte aller nachhaltigen... Kraft ). In Ulm Hätte der Nat, dem die völlig verwilderte Geiftlichkeit Samt den Münden große Not machte, die Barfußer gern reformiert, wie denn die Stadträte in jener Zeit der Sittenzucht fich öfter gegen Geiftliche annehmen müffen; alles, was er erreichte, war, daß feine fittenpofizeilichen Anordnungen mit Einwiligung des Bifhofs für bie Geiftlichen verbindlich ge⸗ macht wurden ?). Durch das ganze 15. Jahrhundert wird Reform an den Ciftercienferklöftern verfucht, aber ohne durchzugreifen *). Dem gelehrten und frommen Abt Zritheim trugen feine Des mühungen, die Bursfelder Reformen im Kloſter Sponheim durch⸗ zuführen, fo viel Feindſchaft und Widerwärtigkeit vonfelten der Monche ein, dag er fich nicht entfchliegen konnte, in basfelbe zur rüdzufehren. Und eben biefer Tritheim, der an die Wieberbelebung

1) Boigt, Geſchichte des Deutſchordens I, 580ff.

3) Ennen.IH, 771f.

3) Jäger, ©. 501. boaf.

4) Winter III, 181.

Theol. Stud. dabrs. 1883. 47

722 Hering

deso Monchtums in jener Zeit glaubte, dafür arbeitete umb duldete, ſpricht fein Urteil über den Grfolg der Reformbeitrehungen in der Mage ans: „Wo ift jewe Reformation, welde Nikolaus von Cuſa wit unglaublichen Eifer begonnen Hat; wo find jeue ſchrecklichen Eide, mit welchen alle Äste uuferer Provinz ſich zur teguläcen Obſervanz in bie. Hände des Cardinals vor bem Altar des heil. Stephanus in Würzburg verpflichtet Haben! Siehe, 127 Abteien habt ihr in eurem Kapitel, von welchen kaum 70 unter der Res formation verblieben find. Es giebt ohne Zweifel ſolche darunter, welche meinen, fie wären beften® reformiert, aber das Verhalten ftimmt damit nicht überein. Sehet das Leben ber AÄbte und Monche, wie es ohne Ehrbarkeit ringsum raucht. Was ich daven weiß, fehene ich mich auszuſprechen.“ Auch der Bursfeler Res formation meisfagt er gleiches Schickfal: „Sie tft erſt 80 Jahre alt und ſchon find verſchiedene Klöſter in ber Obfervanz nach⸗ füffig geworden; diejenigen aber, mit welchen es noch gut fteht, werben, wie id) fürchte, innerhalb weniger Jahre ebenfalls finten.“ 1) Mit bejonderer Renitenz murden die Reformverſuche im den Frauen« Höfteen abgewiefen, eine Erſcheinung, bie in der Reformation wieberfehrt. Und doch haben fie zu der Verderbnis reichlich bei geftenert. Bifitetionen hatten das Widerwärtigſte zu berichten 2). Auch die Beghinen, die ſich befondere der Krankenpflege gewidmet hatten, wurden am vielen Orten im 15. Jahrhundert zuſchanden und zum Geipött des Volles. Yu Ulm dagegen waren fie nach 1518 verpflichtet, zu Armen und Kranken zu gehen, und erhielten dafür eine Bezahlung, welche der Rat feitfegte?). Im Norde dentichland bewahrte fie der Einfluß der Brüder des gemeinfamen Lebens vor dem Verfall 4). . Daß es dahin kam, dag die Organismen, durch welche die Kirche Armen» und Krankenpflege geübt, untüchtig wurden und blichen, war nicht nur in dem Verfall begründet, fordern and

1) Schneegans, S. 188-166.

2) Bgl. Winter II, 32f. 118. Jäger, S. 498. boa. ®) Jäger, ©. 497.

4) Uhlhorn, Zwei Bilder aus dem Firchl. Lehen, ©. 22.

Die Fichesthätigfeit der Dewtichen Feformatien.

durch das Lnfräftige und Umgenägende der Verfudhe, fienern, verſchuldet. Diefelben verbienen mitt den Reformation, kaum einer Weform. Wenn dieſe Mafnafenen,

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macht, wurde damit mit erwect 1). Es if Temizeidmenb, dag fromme und gefehrte Männer wie Zritheis: fich hierkber fo vbllig tüufdhen, daß fie der wieder im Kraft gefehten Mümderege die Mat der Ernenerung zutrauen Toumten. Allerdings war dies Zutranen nicht fo unbedingt, daß nicht Tritheim eine große Revo lutien voransgeahnt Hätte ?).

Dem aufbänmernden Tage ging zwar bis in bie verberbte

ver

um die Wiſſenſchaften, der mit den Zuftänden feltfam Tontraftierte, Aber es ift aus diefen Regungen des Humanismus durchans nicht mit Sanffen auf eine Wlütezeit des kichlich chriſtlichen Lebens za fließen. Dem diefe Mönde, die fih zum Studium drängen, Haben am den geſchilderten Zuftänden nichts geändert. Eher ift zu vermuten, daß das Univerfitätsleben den Verfall des Kloſterlcbens hat beſchleunigen helfen. ine innige Verbindung zwiſchen dem Erienntnisteieb, der damals erwachte, und dem chriftlichen Glanben hat fich nicht einmal im jenen edlen philofophierenden Monchen wie Tritheim, noch weniger in Cicero citierenden Ablaßpredigern wie Bag, fondern erft durch die Meformation vollzogen, welde den neuen Moſt nicht in die alten Schläuche faßte.

So allganeinem Verfall gegenüber hat die Muftit noch einmal einen Iebensträftigen Spättrieb entwidelt, an dem mene wichtige Gefchtspunfte für die Liebesthütigkeit zum erftenmale hervortveten. In den Brüderſchaften des gemeinfamen Lebens, welche in den Niederlanden aus Anregungen Gerhard Groots durch das Drgas mfationstalent feines Nachfolgers Florentius hervorgehen, ſcheim

ij Uhlhorn, Zwei Bilder ans dem kirchl. Leben, ©. 22. 2) Schneegans, ©. 182f. 47°

724 B Hering

ſich zumächft zwar die Askeſe zu verjüngen, die in ben fich ableben⸗ den Orden „keine rechte Stätte mehr hatte. Aber wenn auch die Regeln diefer neuen Gemeinſchaften Klofterregeln nachgebildet waren, fo haben fie mehr pädagogifche Bedeutung ; hervorgegangen aus einem tiefen Bußernft, wollen fe den Brüdern ein Mittel für die astetifche Sefbfterziehung zur myſtiſchen Gottesgemeinfchaft fein, nicht ein Gelübde, das für das Leben bindet. Trotz aller Strenge gegen das eigene Ich -ift deshalb dennoh in jenen Ge» meinſchaften weniger Gefeglichkeit, mehr Milde, Weitherzigleit und Breifeit; und wenn das kontemplative Leben aud das eigentliche Ziel der asketifchen Beftrebungen ift und einfeitig gefhägt, ja überfhägt wird, fo. fehlt doch jener ethiſche Zug uicht, welcher der Myftit eigentümlich ift und der jet die-Michtung auf Seolenpflege nimmt. Die Übung der Barmherzigkeit bleibt fo vor jenem Da- terialismus bewahrt, der im Armen ein Mittel zur Ausrichtung verdienſtlicher Werke fieht, fie will vielmehr im Wohlthun auch er⸗

* bauen, beffern, belehren. So tritt Bier jenes Moment der Liebess thätigkeit zum erftenmale träftig auf, das die mittelafterliche Liebes» thätigfeit vermiffen ließ. An den Wendepunften der Entwickelung macht es ſich fortan geltend, an welchen der chriſtliche Kiebesfinn Rh auf feine Gtleichartigkeit mit dem Sinne Chriſti befinnt und ſich dadurch mit dem Eifer um Seelenrettung durchdringt.

Ein zweiter Zug, welder die Brüder des gemeinfamen Lebens anszeichnete, war die Abwehr des Bettels und der Grundfag, erar- beitetes Brod zu effen. Indem fie zugleich im Rückblick auf die erfte Gemeinde in Serufalem alle Güter gemeinfam beſaßen, lenkten fie zu Prinzipien zurüc, welche 3. B. die Eifterzienfer zu ihrem großen Schaden aufgegeben Hatten. Allerdings blieb ber Geſichtspunkt, unter welchen die Arbeit aufgefaßt ward, der aske⸗ tiſche. Den alten Drganifationen der Kirche ähnlich waren hier⸗ mit neue, für die Liebesthätigkeit tüchtige Organtfationen gefchaffen. Die Stifter felbft glängten als Vorbilder, root blieb dem alten myſtiſchen Grundfa getreu, der Kontempfation fi gern zu entziehen, wenn es gelte, dem Nächſten zu dienen. Arme, die er zu Tiſche lub, bewirtete er dann aud mit geiftlicher Koft; beſon⸗ ders ift die Furſorge für die armen Studigrenden, die Meriker,

De Serküruer vr verider Wrrcmenn. L- 3

weiche im ten Edles seit were hitca weiten, wer m und feinen Geißrfgeassre Ichisr Im Yun: det Read hat Themes nen Sirmmwer geweint zu Weikhur zensen Wh in der Srunfeupflege trat der isferge-ihe oz Äerrer. imen von ber Peit ergriinen freun> trier, bi: 5 Gruee ver die tadliche Sramfpeit zugegen. Anh urer Na Brörxee berriite der Sinn ber zuusrfomumerren Tibe, fe men Kuh Fk abitcht: ama neseiri wer Grunbiag ").

Die Winbesfeimer Kerirer:iem, welde wen dicken Peine bungen emtging, hat ſich mir dem Gein derielden darcdrur geu und als ein Gaweririg reinigen» anf viele Kloner in den Mirder - landen, Sranfreih web Deatisland gewirkt. Die Beſttebungen für Bolls· und Zugenbbildung aber hat fie ſich wicht angeeignet ). Die Bruder- und Schwefterhäuier find Träger diefer Aufgabe ge blieben bis zur Zeit der Reformation. Schen im Beginn dere felben zeigte es ſich, daß bie Ichendigen Quellen, aus denen jene Berbrüderungen ihre Kraft genommen, im Berfiegen waren ?).

8.

Für die Thatigkeit der Städte bietet das 16. Jahrhundert eine Reihe neuer Erfceinungen. Der Trieb zu genofjenfchaftlichem Verband, an dem wir eine verjüngende Ginwirkung auf die adke tiſchen Kreiſe beobachteten, war ja in den Städten längft zum Bebenstrieb neuer fozialer Bildungen geworden. Die Zünfte, mit zur Teilnahme an der Regierung gelangt, haben im 15. Jahr⸗ hundert ihre Blütezeit. Hilfsleiſtung wird auch ferner von ihnen geübt. Zu den älteren Spitälern und Siechenhäufern treten auch jetzt immer voch neue Anftalten Hinzu, und allen kommt die Spare famfeit, wenn man. fi ihrer im Stadthaushalt befleißigt, die zus nehmende Ordnung durch Rechnunglegung zugute %). Und wie ſehr die geiftigen Mächte in der Kirche durch eine mechanifierte und

1) Das Obige nad; dem inhaltreichen Auffag Hirfche® Aber die Brüder des gemelnfamen Lebens in Herzogs Neal-Enc., Vd. II,

3) Hirſche a. a. D., ©. 697. J

8) Bgl. den Traktat „Summa ber h. Schrift”, heramegeg. von Benrath.

% Schmoller, Straßburg zur Zeit der Zunftkämpfe, S. 68. 79.

Hering

abergläubige Andacht beeinträchtigt wurden: aud fo noch behielt die Kirche einen breiten, wenn auch nicht tiefen Elufluß anf das Vollsleben. Wie die Zünfte, fo ſtehen auch bie Bruderſchaften, deren Zahl fi im 15. Jahrhundert außerordentlich ſteigert, in engfter Verbindung mit dem Heiligenkult und ber Meſſe. Neben der Teiblicgen Hilfe, die die Mitglieder einander oder den Armen gewähren, Hat der Veiſtand, den man ſich durch Gebet und gute Werke zur Erlöfung aus dem Fegefeuer leiſtet, eine Hauptſtelle ?), Es ift aber qharalteriſtiſch, daß gerade bie Bruderſchaft, welche überwiegend aus Geiftlichen beftand und das Gebet für bie Serien tm Fegefeuer zu ihrer befonderen Aufgabe machte, wor anderen in Verfall geraten und vielfach am Woßlleben zugrunde gegangen iſt. Der Vollewitz Hat das Andenken am died Leben des Kalaud biß heute bewahrt ®).

An den gefteigerten Notftänden, welche Epidemieen die Beft lehrt feit 1349 in nicht zu großen Zeiträumen immer wieder und fittliche Schaden, die letzteren von großer Schwere, verur ſachten, bewährte der Samariterfinn jenes Vorrecht der Liebe, an alfem einen Anlaß zum Wachstum zu haben. In einigen Städten werden Waifenhäufer gegründet, und feit dem Ende bes 14. Jahr⸗ handerts wird ein urſprunglich romaniſches Inſtitut im die Kin⸗ derpflege mit hlulbergenommtu, das Findelhaus. Gewöhnlich hatte man verwaiſte ober verlaſſene Kinder in Albftern ober GSpitälern, befonders auch bei ſogen. Müttern untergebracht; jeigt aber werden in verſchiedenen beutfchen Stübten Finbeihkufer gebaut, in Ulm (1386), Freiburg, Ehlingen. Der Gründung folder Hänfer begegnen wir dann auch km 15. Jahrhundert. Sie werfen zuweilen ein grelles Licht auf die Sittlichleit ber Zeit. In Hugs« burg wurde 1471 ein Haus für die Findellinder erfauft; das war gerade in jenen Jahreu, tm melden mit dem Reichtum bie

4) Näheres über die Bruberfchaften bei Wilde; Maurer, Gtäbtenerf. II, Sf; Arieat, Deutiches Bürgertum, S. 169; Enmen IN, 792; Migelfen II, 149; Rakinger, ©. 286; Uhlhorn, Zwei Yiher aus dem kirchl. Leben, ©. 28. 70.

2) Die erfe Kelaudegilde Deutſchlauds iſt bie in Aſchereleben (Hartwig, ©. 160). Bal. and Wilde, Michelſen, Uhlhoxn, Hällmann (Bb. IV).

Die Liebesthätigkeit der bentjchen Sieformatise. ma

Üppigteit und Siätenfofigfeit berhend meh. Des Ulmer Gofpitel echielt viele Pfleglinge, als tiefe Verfhulbung manchen Bürger trieb, fein Heimweſen, auch Weib umb Kinder zu verlafin. Zu Anfang des 16. Yahrkumderts befanden fi 200 Findlinge in der Pflege des Ulmer Haufe ); wir vernehmen das Aullepfen der ſozialen Sünden und Nöte, am deren Ausbrachen die Reformation zu tragen belam.

Far Gefalieue Hatte es wohl vereinzelt ſchen fruher Büßerinnen- hauſer gegeben, fo in 2a); jeht werben Biefelben häufiger ge»

durch Berheicatung zu weiten ®). "Für munde Ret, für weiße gegenwärtig im Namen der Barmherzigkeit wie durch Mnorbnung de9 Staates viel geichleht, If dem Mitteleiter der DE nad; nicht aufgegangen. Über dem Zanbfimumen war das „Hephata“ no

gewiß

meiſt in den Gpitälern ımter, wahrend es in Paris fon im 13. Jahrhundert eine befondere Muftalt für

und Speife gefammelt, die Wehlthat der Seelſorge ward ihnen nicht. Dem Miffethäter, der hinausgeführt ward, zeigte man von einem beftimmten Orte aus etwa das Bild des Gefreuzigten. Dagegen fängt der Bürgerfinn an, Ruckſicht auf die Armen der bürgerlichen Gemeinde zu nehmen. Es wurde wieder an die Hausarmen gedacht *); die Präbendare, Pfründner in den Hoſpi⸗

3) Jäger, ©. 487.

%) Ennen II, 880.

ij Hälfmann, Bd. IE giebt mehrfadie Beifpiele.

4 Raginger, ©. 297. J

6) Griefinget, Bathof. und Therapie der pſych. Krankheiten (2. Aufl.), ©. 520.

©) „Veri pauperes, in quibus manifesta signa paupertatis et inopiae apparent et mendicare erubescunt hostiatim.“ Ennen nad Kal. apost. fol. 78,

78 Hering

tüfern beftanden zum Zeil aus den alten Bürgern der Kommune; der Stadtrat verpflichtete Hier und da ben Stadtarzt zur Behand» lung der Kranken des Hoſpitals. Unfänge der Armenpflege auf der Bafis ber Gemeinde werden wir hierin erbliden dürfen, die der Reformation eine Antnüpfung darboten; die Bedeutung einer Neform Haben fie nicht. Zu ihr fehlten dem Bürgertum weſent liche Vorausſetzungen. Es war natürlich unfähig, die fittlichen Motive. ber Liebesthätigkeit zu reinigen, und auch die vollswirt⸗ ſchaftlichen Grundfäge, welde vom Recht der Kirche aus das Mittelalter beherrfchen, behielten ihre Geltung für die einſchlagen⸗ den fozialen Gefihtspunfte. Der Bettlernot mit dem Unfug, der ſich an fie anhängte, ſuchten mande Städte diefer. Periode durch Bettelordnungen zu ftenern ): man verfah die Berechtigten mit einem Abzeichen, wies die Fremden durch den Bettelvogt aus der Stadt; aud das Neih ſchlug fih mit einer Polizeiordnung ins Mittel, aber die ſtets wachfende Flut der Voganten war dur nichts zu vermindern. Der Bafeler Bürger Bamphilus Gengen- bach Hat ihrer 20 Arten aufgezählt und geſchildert ?), alle erfahren in den Künften der Täuſchung. Und doch war die Bettlernot nur eine Erſcheinung kranker fozialer Zuftände. Die Spannung von Arm und Reich wuchs, Unruhen in den Städten, zum Teil mit bfutigem Ausgang, wie in dem Kölner Aufftand von 1513, deuten anf eine Gärung in den niederen Ständen). Schlimmer noch

1) Die Nürnberger Bettelordnung (um 1478 entworfen) verbietet, daß Kinder über 8 Jahren auf ben Bettel mitgenommen werben. Diefe follen vielmehr in einen Dienft gebracht werden. Den verjhämten Bettlern wird es als Gunft gervährt, in dem erften Abendſtunden Betten zu dürfen; doch follen fie Licht und ein Zeichen mit fi führen. Kriegk, Deutſches Bürgertum, ©. 146.

3) Bol. den Aufſatz von Pfaff über bie Lanbftreicher und Bettler in Schwaben (Zeitfeir. für Kulturgeſch 1857, ©. 481). Die Schrift Gengen- bachs, ein Gedicht mit dem Titel „liber vagatorum erſchien im Jahre 1509. Sie ift in den folgenden zwei Sahrzehnten fünfmal abgebrudt; zwei biefer Ausgaben find von Luther bevorwortet (Kiggenbach, Das Armenmwelen der Reformation, ©. 1). .

®) Ennen I, 669. Kür Augsburg vgl. Roth, Augsburgs Refar-

Die Sehesthätigfeit der beuchlen Serecausien. k:-

als um das Profetariat der großen Erädte war es damals, anders als heute, um die ärmere ländliche Bevölterung beftelit. Jenes tanonifche Recht, das uns Jannſen als jo beglüdend jdhildert, hat an der, Unfreiheit des Iandbebauenden Arbeiserd nichts geändert. Die Härte, mit welcher die Kirche selbft ihre Rechte beitrieb, die Ausdehnung diefer Rechte über allen Grundbefig, die Berarmung der Möfter, die Finanzerei der Päpfte, dies alles ift mit dazu ausgefchlagen, das Los des armen Bauern ſchwer zu machen. Andere Urſachen haben nach derjelben Seite gewirkt: Preisftei- gerungen, Großhandel, die innerdentſchen Wirren, die Kriege und Fehden, der Drud der Grundherren, es ficht dahin, ob auch das tömifde Recht; Die Löfung dieſer Frage iſt feine theologiſche Auf gabe. Das aber geht aus ber Darſtellnug der Leiftungen der Kirche hervor, daß fie and in foziafer Hinfiht ein Doppelgeficht dat. Indem fie Gegen brachte, hat fie and Elend gebraßt; in- dem fie die Armen pflegte, Hat fie die Armut groß gezogen. Wie ungerecht es wäre, der Kirche das hereinbrecdhende Verhängnis der ſozialen Revolution allein ſchuld zu geben, fo hat fie do, obs fon unbewußt, in simplieitate, zu dem Braude diefer Revo⸗ Intion ihr Scheit mit Hinzugetragen.

Das Ergebnis des Überblis über die letzte Periode der mittelr alterlihen Armenpflege läßt fi in biefelben Worte fafjen, mit welchen Eruel in feinem trefflihen Buch die Predigt desfelben Zeitraumes Tennzeihnet: Materiole Blüte, idealer Verfall. Um des Tegteren willen wartet and) dieſe ZThätigfeit der Kirche, wie ide andere, auf die Reformation.

mationsgeſch., &. 18ff.: die von den Webern veranlaßten Unruhen; S. BOff.: Über die Spannung zwif—en den Biihöfen und Bürgern.

70 uſte ri

2. Vertiefnng der Zwingliſchen Salraments⸗ und Taufiehre bei Bullinger. Bon

Hof. Katlin Zſteri

Blarrer in Dinweil.

Joh. Jakob Sinmler Kat in feiner Sammlung alter und neuer Urkunden zur Belenchtung der Kirchengeſchichte (Züri 1767)2) ein Erſtlingsſchriftchen H. Bullingers veröffentlicht, ein Send ſchreiben an Heiunrich Simmler, Bürger zu Bern, „vom Tauf“. Dasielbe entgält die originellen Gedanken Zwinglis aus der Streit» periode in fo ausgeprägter Geftalt, dad, wenn das Schriftchen wirklich ſchon Ende 1524 oder Anfang 1525 gefchrieben wäre, wie Sinmnnler aus der Paginierung des das Driginal enthaltenden Eobeg glaubt ſchließen zu müffen, die Priorität in der ſchriftlichen Bro duttion jener Gedanlen Bullinger und nicht Zwingli zuläme, Dies ft nun fon an und fir fi nuwahrſcheinlich, und der Inhalt des Sendſchr eibens felbft bemweift daB Gegenteil. Nicht aur Kat die Disputation mit den Wiedertäufern vom Sanur 1525, welcher Bullinger beimohnte, ſchon ftattgefunden (a. a. D., ©. 108), fon bern Hubmeyers Schrift vom Chriftlichen Tauf der Gläubigen, im Sommer 1525 abgefaßt, ift ebenfalls ſchon weit verbreitet und allgemein bekaunt. Bullinger citiert ja ben Mann im Send ſchreiben (S. 107) als „Dr. Filzhut v. Waldshut“. Run wiffen wir, daß wenigftens Zwingli dies Buch erft im Oftober zu Ger ficht befam, und daß er dann noch im Spätjahr feine Widerlegung ſchrieb, im der er das gute Recht ber Kindertaufe namentlich auf

1) @gl. Jahrg. 1882, 9. 2, ©. 206ff.; 1888, 9.1, ©. 1856; und 9.8, 6. s1ofl. 9) 8. II, 1. A, 6. voff.

Vertiefung ber Zwingliſchen Gaframente- und Tauflehre ꝛc. TBL

die wefentliche Einheit des fogen. Alten und Neuen Bundes ftüßgte, hierdurch dem von der Beſchneidung bergenommenen Wnalogier beweis einen feften Halt gab und fih fo den Weg bahate, von der bleß Hifteriichen Frage, ob ſchon die Apoftel Kinder getauft, als von einer nicht durch den ausdrücklichen Buchſtaben der Schrift mit abjeluter Sicherheit zu entfheidenden eher abfehen zu dürfen, ein Beweisverfahren, werin ihm Bullinger in dem genannten Send» ſchreiben getreulich folgt. Dieſes Tann alfo, da deſſen Möhängige feit von ben Zwingliſchen Schriften kaum in Abrede zu ftellen ift, unmðglich vor dem Sputjahr 1525 verfaßt fein, und bies war (nah Beftalozzi, B. Haller, ©. 25f.) gerade ber Zeitpunft, wo bie Wiedertäufer, vor denen Bullinger Simmiern warnen möchte, auch in Bern zu rumoren anfingen.

Genan nach dem Zwingliſchen Vorgang fegt Bullinger die Taufe in gar feine Beziehung zum indivibuellen Glaubensleben, als Hätte fie anf pſychologiſchen Wege Erbauung zu bewirken, Gnade zu vermitteln, zu tröften, zu verfihern, gegen Anfechtung zu ſtärken. Sie iſt ihm vielmehr Zeichen der anererbten Bundeb« gemeinfchaft von weſentlich verpflichtender Natur, Kokarde bes Bundesgliebes, dem eibgenäffiichen Kreuz vergleichbar. Der Bund iſt der einige, mit Abraham gefchloffene und auch auf feinen Samen, zunãchſt deu leiblichen, in der Folge aber aud den geiftlichen, ſich erſtrelende. Auf der Grenzicheibe der beiden Hauptperioden, des fogen. Wten und Neuen Bundes, fteht Johannes, den Bundes⸗ wütler Chriſtus, deſſen Buudesblut („jedes Gemädt tritt buch Todesfall in Kraft!“) ſchon durch die Beſchneidung angedeutet war, bertündigend; nun biejer jelbft in die Welt kommen folite, hörte die blutige Beſchneidung, dies Schattenbild des Zufünftigen auf, md an ihre Stelle kam mit gleicher Bedeutung die Taufe. „Das Blut Chriſti gftelt alles Bit“, ftatt deſſen haben wir nun „ein fründfich Zeichen“ 1). Die Kontinuität des Werkes Chrifti und

2) Bol. im Rommenter zu Rol. 2: Die einflige Beſchneidung Bebemtete: - die Gläubigen werden durch das Verdienſt des Blates des werkeifienen Samens in die Guade aufgenommen, gerechtfertigt und ſodann amd zu einem neuen Leben werpflichtet, und bie Webentung ber Taufe ift bie nämliche; und zwar

182 uſteri

Johannes iſt dadurch erwieſen, daß Jeſus fich ſelbſt von Johannes taufen ließ „uns zu einem Vorbild und zu einer Einigkeit des Chriſtenvolkes“ (Eph. 4), ferner dadurch, daß er wie Johannes lehrte und durch feine Junger auch taufen ließ. Der Auferftan« dene und ſeine Apoſtel haben die Einheit des Bundes, trotz deſſen nunmehriger Ausdehnung auf die Heiden, dennoch des beſtimm⸗ teſten feſtgehalten, Gott ſelbſt hat die Berechtigung der Heiden durch zuvorkommende Geiſtesausgießung z. B. bei den Haus— genoſſen des Cornelius erwieſen; ſo kam denn nach Chriſti Willen und nach übereinftimmender Lehre der Apoſtel folgerichtig an die Stelle der Beihneidung für den ganzen Umfang der Kirche als Bundeszeichen die Taufe. Die Kontinuität mit der Beſchneidung ift durch Paulus (Kol. 2, 10) und diejenige mit der Johannes⸗ taufe Apg. 19 (am Anf.) bezeugt ?). Das Recht der Kinder, zur Taufe zu gelangen, fteht demjenigen der Erbberechtigung -unmün« diger Kinder völlig gleich; wie eine Enterbung erft bei unwürdigen Ermwachfenen denkbar, fo kann auch erft bei foldhen von einem Aus« der-Onaderfallen die Nede fein. So lange der Bund nicht gröb- lich verlegt wird, bleibt er in Gültigkeit.

Auch noch in der berühmten Schrift vom Jahre 1530 „Bon dem unverfchambten Frävel und unmwahrbaften Lehren der Wieders täufer, 4 Gefprächbücher 2), geht Bullinger ganz mit dem urs fprünglicden Zwingli einig. Bei Johannes, Chriftus und den Apofteln findet er nur eine Lehre, alfo auch nur eine Taufe. Er nennt die Zohannestaufe eine Taufe auf Chriſtum, den Volle ender. Die göttliche Natur Chriſti ſei e8 vornehmlich gewefen, auf die Johannes getauft, und von dieſer fei die Trinität unge» ſchieden. Übrigens beweife feine Vertrautheit mit dem Dreieinige

Gemerkt Bullinger zu Apg. 19) fon der Iohannestaufe, indem biefe fchon in remissionem peccatorum, nicht etwa im Unterfhied von der fpäteren chriſtlichen bloß in poenitentiam vollzogen ward (Mark. 1, 4).

1) Bei dem zu letzterer Stelle Bemerkten iſt nicht recht erfichtlich, ob Bullinger eine einmalige Taufe oder nur einerlei Taufe annimmt, wahrfcheine Kid doch mit Zwingli erftere.

%) Sie erlebte mehrere Auflagen und Erweiterungen umd erſchien endlich anno 1560 gänzlich umgearbeitet unter verändertem Titel in 6 Büchern.

Vertiefung der Zwingliſchen Sakraments- und Tauflehre zc. 788

teitömpfterium das Geſicht bei der Taufe Jeſu und Joh. 3 am Schluß.

Den pharifäifchen Sauerteig des Anabaptismus Tegt er richtig bloß, indem er auf den Einwurf, Kinder müßten nichts von ihrer Taufe, Erwachſene aber könnten Gott bei der 5. Handlung Reinige feit und ein Leben ohne Sünde geloben, antwortet: „Dazu braucht man das Waffer nicht, es fei denn, daß man das Heil an ein Element binde und dann folgerichtig dazu komme, ſich um des äußeren Werkes willen für rein und Heilig zu halten. Das eben ſei das Gift. Eine ſolche Kirche ohne Sünde, die nicht mehr im Fleiſch fei, wollten die Täufer fein; wo dann aber der verlorene Sohn bleibe und das verlorene Schaf, und der Ader, der Korn und Unkraut trage, und das Ne, das allerlei Fiſche aufnehme, und die Hochzeit darin männiglich fige?“

Gegen Mifdentung der Befchneidungsanalogie verwahrt ſich Bullinger mit dem Sag: „Nicht die leibliche Geburt macht Ehriften« finder zu Gotteslindern, fondern Gottes Verheißung. Drum iſt auch altfällige Unwurdigkeit der Eltern kein Hindernis der Taufe 1). Anderfeits ift ein Mbfterben vor der Taufe Fein Hindernis der Seligkeit, denn die Reinigung Ehrifti durch den Geift, die in Kraft der Verheißung unabhängig vom äußeren Zeichen erfolgt, iſt das Prius. Das Außerliche ift am Ende doch nur ein Teil der Sache, darin ihre Kraft nicht beruht; Die hervorragende Hauptſache ift ein großes Geheimnis, und diefes macht das Ganze zu einem hoch⸗ würdigen Saframent der Sündenvergebung und der Wiedergeburt.“

Ausgehend von der Borausfegung, daß die Taufe an die Stelle der Befchneidung getreten, und diefelbe, einerfeits durch die be« hauptete Parallelifierung in den apoftolifchen Schriften, anderfeits

1) ift freifich fonderbar, wie nicht bie leibliche Geburt, ſondern bie göttliche Verheißung den Ausſchlag geben foll, und wie biefe ſich thatſächlich zu wiederholten Malen vom der phyſiſchen Abſtammung emamzipiert, fo fon bei Sau und dann twieder beim Übergang des Reiches Gottes. an die Heiden; wie fie dann aber doch wieder auch bei ben Heidenvölfern ihren Bundesſegen an die Abſtammung Inüpft und die Taufe aller innerhalb der Chriftenheit Gebor tenen legitimiert, gleichviel, ob fie im partifularen Ratſchluß zu den Exwählten gehören ober nicht, alfo ganz tie bei Israel.

784 Uferi

durch die mit beiden Gebrämcher verbundene Ramengebung ftitgend, findet es Bullinger, abgejehen von den gewöhnlichen Argumenten, auch daram wahrſcheinlich, daß ſchon bie Apoftel Kinder getauft, weil fie ſich ſtets ſehr and Alte Teſtament angelehnt umd „ihre Händel gericht't auf den Anlaß, Grund und Vorbild des Alten Teftemented“. ö Waren die bisherigen Erörterungen Bullingers, wie diejenigen Zwinglis in der Streitperiode, hauptſachtich von dem Beftreben, die Kindertaufe zu rechtfertigen, beeinflußt, fo wendete füh fpäter fein Interefſe der Sakramentslchre Überhaupt in umfaffenderer und tleferer Weiſe zu, und bie fruchtbaren Keime, welche diesfalle in Zwinglis legten Schriften niedergelegt waren ?), fielen bei ihm auf empfänglichen Boden. Noch einen Schritt weiter führten ihn endlich die Verhandlungen mit Calvin, deren Frucht der Consen- sus Tigurinus war, und deren Einfluß bei der legten volfendeten Lehrdarftellung in den Defaden ſchon mitgewirkt hat. Es iſt von Imtereffe, zu fehen, welche Ansbildung bie Grundlinien fpäterer Zwingliſcher Anffaffung bei Bullinger, noch ganz abgefeen von Calvinſchen @efihtspunften, erhalten Haben. Im Jahrr 1545 verfaßte er zu näherer Begründung ber „wahrhaften Bekanntuuß der Diensren der Kirchen Zürich, mas fie gloubend amd leerend, infonderheit aber vom Nachtmahl“ in Oppofttion gegen Luther eine Tateinifche Schrift de sacramentis, die den Zwingliſchen Stand- punkt noch entſchieden vertrat, und an ber Calvin, den Bullinger fie zuerft überfandte, allerlei auszufegen fand. Die Korrefpondenz, die fi darüber emtfpann und die endlich zum Consensus führte (1549), ift noch vorhanden und giebt einen deutlichen Einblick in die Differenzpunfte, Die Schrift felbft Tieg Bullinger nicht druden, fte ift auch in Zürich in Abfchrift nicht vorhanden; hin⸗ gegen gab fie Joh. a Lasco, der das Manuffript von Bullinger erhielt, zu London Anno 1551 doch noch Heraus auf anodrückliches Verlangen de8 Erzbtfhofs Eramner, ohne Bullingers Vorwiſſen, unter dem Titel: „Absoluta de Christi domini sacramentis

3) Bot. meine Abhandlung er Broimgis Tauflehre in biefer Beitfcheift 1883, Seft 2, ©. 208fJ.

Bertiefung der Zwingliſchen Gakvaments- und Tauflehre c. 78h

et ecolesia ejus tractatie“ (Peftalozzi, Bullinger, ©. 638). Das Bad, war mir nicht zuganglich; es ift micht zu derwechſeln mit einer 15532 erfchienenen Schrift von Lasco feibft, ähnlichen Titels und Inhalts. Bullinger bemerkt zwar in einem Verzeichnis feiner Schriften): „quae mecessaria mihi videbantur, in Decades transtuli‘; allein ein Einblick in die Schrift felber wäre eben darum Ändereffant, weil ſie, wirwohl ohne Zweifel haupte Fügtih anf die Abendmahlelehre ſich beziehend, Bullingers genuiz Zwingliſchen Standpunkt nod zum Ausdrud brachte und Galvins Widerſpruch deshalb hervorrief. Es blieb mir nun nichts anderes übrig, als das Material für eine zuſammenhängende Darftellung der Bullingerjgen Tauflehre in ihrer früheren Phaſe aus den zahlreichen, aus biefer früßeren Zeit fiammenden Kommentaren zu ſammenguſuchen.

Was zunächft bie Eyegefe der in Frage kommenden Schrift ſtellen anbetrifft, fo ftimmt fie mit derjenigen Zwinglis in der Negel überein. Auch Bullinger denkt nicht überall, wo im Grand» tert Aansıone fickt, an das Taufſakrament, fondern verſteht 3 B. 1 Petr. 3, 21 ganz allgemein den spiritus vivificas Christi, die vis fidei, spiritus et virtus Christi, Christus ipse, oder auch die aqua vitae qua nos lavit a peccatis, mithin überhaupt das neue Lebensprinzip. Vergleicht man damit die Definition, die Bullinger zu Mpg. 19 dem 5. Geift giebt, fidei maxima vis quae ex spiritu eat, conscientiae securitas, fo fommt «8 alfo in der That auf dasſelbe Hinaus, wie mern Ziingli 1 Petr. 8 unter Parersope den innerlichen Herzensglauben verſteht. Apg. 19 denkt Bullinger ebenfalls mit Zwingli an den haptismus doc- trinae, dem die Johanneöfünger empfangen, aber nicht recht ber griffen, und auf ben allein num, nicht auf das elementum aquae Pauli nähere Erläuterung fi beziehe. Er legt, wie fein Vor⸗ gänger, ein großes Gewicht darauf, daß es B. 3 nicht Heißt: dv 16 I. Banslanarı, ſoudern: els so I. Bansıoua und bemerkt mit Bezug auf Zwinglis Anfhanung von der erft durch Paulus

1) Bei J. H. Hottinger, Schola Tigurina, im 1. Anh. Biblioth. Tigurina unter „Bullinger “,

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vollzogenen, nicht etwa wiederholten Waſſertaufe: „Hunc vere nodum ad hunc fere modum primus solvit felicis memoriae darissimus vir Zwinglius“. Noch weniger trägt Bullinger Bedenken, in Joh. 3, 5. 1905. 5, 6. Hebr. 10, 23 aqua alles goriſch zu deuten, ſei's von der coelestis doctrina, die mit Recht fo heißen könne ob puritatem et quod reficiat ac fluat, fei’s vom Geift wegen feiner Reinigungs und Belebungskraft, wie er denn das „am Leibe gewaſchen niit ‚reinem Waffer“ (Hebr. 10) als eine figurliche Redeweiſe ‚bezeichnet, wobei Paulus ‘doch nichts. anderes meine, als die immerliche ‚Reinigung durch den einen Glauben, aljo ganz dasfelbe, was auch mit dem „gereinigt im Herzen vom böfen Gewiſſen“. Ganz übereinftimmend fagt auch Zwingli, unter Anfpielung auf die äußeren nuglofen Luftrationen rede Paulus von der Reinigung des Gewiſſens oder der Unſchuld des Lebens, während ‘er Hingegen bei 190h. 5, 6 origineller an die Hiftorifihe Taufe Jeſu im Jordan und an alles, was babei vorfiel, denkt.” Man fieht, auch Bullingern beherrfcht bet feiner Exegeſe die Scheu, dem Waffer zuzufchreiben, was nur dem Geifte zukommt, daneben Läßt fich aber dody das Beſtreben erkennen, neben ‚dem „douygirws“ gleihfam dem „Adsmigssus“ fein Net wiberfahren zu laffen; das zeigt die Bemerkung zu Apg. 2: „Wenn man nicht nur vom bloßen Waffer, fordern de toto Dei instituto rede, fo feien die Ausdrüde „lavacrum regeneratio- nis“ md „aqua mundificans et peccata abluens‘‘ wohl zus Rffig”, und zu Tit. 2: „Vere renovat, abluit, purgat, rege- norat vivificat et sanctificat gratia Spiritus sancti, renovat autem, abluit, purgat, regenerat, vivificat et sanetificat etiam baptismus, quod illius ministerio Deus in‘ dispen- sandis donis suis propter infirmitatem nostram utatur“, Ein Übergang zur Würdigung des ſakramentlichen Altes in feiner, Innerlichteit und Außerlichteit zufammenfaffenden, Totalität 1) macht ſich auch darin bemerkbar, dag Bullinger durchaus nicht alles Waffertaufen ohne Unterſchied vermengt und darum Hebr. 6, 2 gar nicht die h. Taufe (als welche nur eine Eph. 4,-5), fondern-

2) Bol. meine Abhandlung über Zwinglis Tauflehre, ©. 281. i

Vertiefung der Zwingliſchen Sakcamente- und Tauflehre ꝛc. 787

die Quftrationen der Juden verftanden wiſſen will, während Zwingli hier allgemein von dem baptismus aquae redet, dem die Hebräer zu viel beimaßen, ohne ausbrüdfich zu fagen: die hriftliche Taufe iſt hier nicht gemeint, auch nicht als Waffertaufe *).

Was nun die Bedeutung des Saframentes anbetrifft, fo an« erfennt Bullinger eine ſolche für die fichtbare und für die unſicht⸗ bare Kirche. Durch die communicatio sacramentorum wird allerdings zumächft die ecclesia als visibilis konſtituiert. Weil die Aufnahme in diefe ein äußerlicher, menſchlicher Initlative an⸗ heimgegebener At ift, dabei die Taufe als Tegitimer Ritus gilt (communis solemnis mos seu inscriptio), ift dies Saframent Amächft Symbol der äußerlichen Kircheneinheit, weshalb, wer diefe zerftört, oder den kirchlichen Frieden gefährdet, gegen die h. Taufe fündigt *). Allein fo fehr bei der Adminiſtration derfelben nur äuferliche Merkmale der Zugehörigkeit zur Kirche entfcheiden können Bullinger nennt die Blindeit derjenigen groß, welche „nescio quibus rebus invisibilibus et coelestibus ecclesiam moliuntur eolligere“* —, fo hat in feinen Augen das Saframent doch nicht mir eine Beziehung zur fichtbaren Kirche, fondern es ift zugleich das Symbol der Glaubensgemeinfhaft mit Ehriftus und der par- tieipatio omnium bonorum ejus. Diefer Geſichtspunkt der in- eorporatio in Christum wird namentlih im Kommentar zu Matth. 3 anläßlich der Taufe Jeſu fehr ſchön Hervorgehoben und gegenüber dem Zwinglifchen Pflichtzeichenbegriff, der auch Hier nicht fehlt, aber im letzte Linie geftellt wird, in den Vordergrund gerückt: „Christus ideo baptisatus est nobiscum in eodem baptismo, ut declararet se esse fratrem nostrum et ut nos credere- mus nos cohaeredes fore Christi (als jet ſchon omnium bo- noram consortes)“ ®). Auch zu Apg. 8 wird in gleicher Reigen»

1) Opp. Zw. VI, 2. p. 301: „Baptismatum. Hoc est, ut doceamus quid sit baptismus ac rursum disputemus contentiose cur baptizemur, numne salutem praestet aquae baptismus necne? Plurimum enim He- braei externis tribuebant, haud dubie etiam tincti baptismo.“*

N) Zu 1Ror. 10 u. 12, 18.

3) AÄhnlich freilich auch Zwingli, nicht fowohl im Komm. zu Matth. 8, ale viefmehr zu Luk. 3: „Si Johannis baptismus alius esset a baptismo

Deol. Stud. Yahıg. 1888. 48

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folge der Taufe die doppelte Bedentung vindiziert: a) hoe sacra- mento initiari ac conglutinari fideles in unum corpus, b) con- stringi sub fidem unius Christi ac vitae sanctimoniam. Na- türlich vollzieht fi) die wirkliche incorporatio in Christum et in corpus ejus mysticum nur im Glauben durch den h. Geiſt, aber die Taufe ift das Symbol, weil fi Epriftus durch fie mit uns verbrüdert bat. Durchweg definiert num Bullinger das Gar trament in erfter Linie übereinftimmend mit den alten Kirchen- fchriftftellern als sacrae rei signum, aljo ald Symbol des Gna- denheils, fo 3. B. zu Röm. 4: „Baptismus est signum populi Dei quod sanguine Christi lustratur. Significat enim visi- bilis aqua gratiam invisibilem.‘‘ Als foldhes kann das Sakra- ment feinerlei innere Vorgänge zu des Glaubens Stärkung ver- fiegeln, oder die Gnade dem Glauben irgendwie zueignen helfen. Bullinger legt großes Gewicht darauf, dag Paulus Röm. 4 das signum circumcisionis „signaculum justitiae fidei“ nenne, nicht signaculum fidei, als ob des Glaubens Vorhandenfein dadurch verfiegelt würde, aud nicht signaculum justitiae, als ob das Sakrament ſelbſt rechtfertigte, fondern signaculum justitiae fidei, „quod fidei et nullius alterius rei sit justificatio“. Bann die Redtfertigung in jedem einzelnen Fall wirklich erfolgt, kommt dabei nicht in Betracht; bei Abraham war fie in volftäudiger Weiſe ſchon vorausgegangen, und die nachfolgende Beſchneidung konnte nichts dazu thun, fondern nur nach außen Bin ein testimo- aium fein. Sie fönnte indes ebenfo gut nachfolgen; darum bliebe das Sakrament doch ein signaculum „quod fidei et nullius alterius rei sit justificatio“.

Beiteht nun aber auch feine direfte Beziehung des Sakramentes zum Gnadenempfang, fo läßt ſich Hingegen eine indirefte wohl aufrecht Halten. Das Saframent kann freilich die Gnade nicht zur

Christi, caput totius corporis mystici alio baptismo esset baptizatum quam membra. Acoessit ergo ad Johannis baptisma ut videremus eum totum nostrum esse. Unum ergo bnptisma, ung fides.‘ Inmerhiu tritt diefer fchöne und fruchtbare Gefichtspunkt bei Zwingli wenigſtens in der frür heren Zeit mehr zurüd.

Bertiefung der Zwinglifen Sakraments · und Tauflehre zc. 789

eignen, wohl aber als Veranſchaulichungsmittel auf fie. hinweiſen und als Heilige Weihe auf fie verpflichten; infofern erfcheint dann die Übernahme dieſes Siegels (sigillum, signacnlum, aygeyis) als ein jusjurandum, und es kommt bie Bedeutung von sacra- mentum nach altrömiſchem Sprachgebrauch zu ihrer Geltung, Nach Zwinglis Vorgang vekurriert auch Bullinger noch, wiewohl nicht mehr fo ausfchließlich, auf das Haffiihe sacramentum mi- litare und muß fi deshalb fpäter den Tadel Calvins gefallen laſſen. Das ift mın das zweite Moment, das für die Bedeu⸗ tung der Satramente in Betracht kommt: es verpflichten ſich da- durch die Empfänger: „quod in nulla alia re quam in Deo per fidem justitiam quaerere velint“. So mit Bezug auf die Beigueidung zu Xöm. 4, und ebendafelbft mit Bezug auf die Taufe: „Obstringit baptizatos ut pactis stent, uni Deo fidant, cui per immertionem, consecrati sunt, denique et maculas animi indies eluant pietate et sinceritate vitae.“ Die Taufe ift hiernach nichts anderes denn ein. Pflichtzeihen, aber im um⸗ faffendften Sinne. Sie verpflichtet nicht nur zu einer chrifte lichen Lebensführung (ad innocentiam zu Röm. 6), fendern au) sub cultum religionemque unius Dei patris et filii et ‚piritus sancti; Äberhaupt macht fie auf die ganze chriſt⸗ ie Heilsordnung verbindfih. Wenn nun a) der religidfen Beſinnung durch da8 Sakrament als durch ein Dentzeihen und 3timulans die rechte Richtung gegeben wird, und dieſelbe b) durch en heiligen Akt an Eidesſtatt ſich verpflichtet, die Gnade am ahren Ort zu fuchen und ihren Forderungen im Leben Folge zu eben, jo läßt fi immerhin von einer die Rechtfertigung ver- uttelnden. Bedeutung des Saframentes reden. Direltes Gnaden⸗ nittel iſt dasſelbe nicht, aber Anregungsmittel, Heilige Loſung, dmonitorium interni, wie es fon Zwingli (Opp. VI, 1. . 551) nannte?). Darum fpielen eine Hauptrolle die „argu- enta a sacramentis petita“, d. h. die Belehrungen über waus vefultierende Verbindlichteiten. Die Bezeichnung des Heils⸗

ı) „Deus qui cordis puritatem requirit externum quogue signum ıat et requirit, quod admonitorium interni est.“ 46*

740 uſteri

gutes durch das Sakrament iſt nur Mittel zum Zweck. Der Zweck iſt die Aneignung des Heils und die chriſtliche Bethätigung, und dieſe führen beide über das Sakrament hinaus, nicht abermals zum Saframent hin. Zu Hebr. 6 bemerkt Bullinger fehr bezeich⸗ nend: „Christus ecclesiam regit verbo, conservat spiritu, constringit baptismo et excitat sancto eucharistiae monu- mento.“

Hiernach müffen nun auch unbeftimmtere Ausfagen, bie eine Auffaffung, wie fie Bullinger urfprünglich fern lag, zuließen, ver» ftanden werden, und man darf aus ihnen feine zu weit gehenden Folgerungen ziehen. So wird z. B. zu Matth. 3 betont, die Taufe fei für Glaubensaugen „non inane et humanum sed di- vinum spectaculum, in quo non tantum minister ceremo- niam externe ceu ludens exercet, sed ipse quoque Deus in- terne pro gratia sua et promissione operatur salutem suo- zum evidentissime“. Dies operari fann nichts anderes als eben jenes Hineinmweifen in die Heilsordnung fein, und das Saframent ift und bfeibt der Vorhof zum Heiligtum. Dies gilt von dem des Alten und von dem des Neuen Bundes gleicherweife, wie denn auch 1 Kor. 10 die Namen reciprof gebraucht werden (Taufe auf Mofes, Bouue und rroue rrvevuerızdv, dgl. Beſchneidung Eprifti Kol. 2, 11 und unfer Paſſa 1Kor. 5, 7). Klar ift nun, daß diefe allgemeine Bezeugung des Gnadenheils, wie fie im Safras ment gegeben ift, ihre Güftigfeit als eine durchaus objektive nie verliert, und daß daher die Erinnerung daran durchs ganze Leben in jeder Anfechtung troftbringend ift !). Werner ift Mar, daß bie Taufe zwar nicht die conditio sine qua non des Seligwerdens fein kann, daß aber, diefen Troſt, den Gott der elterlichen Sorge um das Seeleneil der Kinder gönnt, zu verachten und über ben Befehl und die Einfegung Eprifti fih hinwegzuſetzen, von einem ungeiftlichen, feiner unſichtbaren Segnungen jedenfalls unwürdigen Sinne zeugt 2). Endlich läßt fich von Bullingers echt reformiertem

1) Zu Matti. 3: „Valet baptismus in omni vita et refertur ad om- nia peccata universae vitae hominum. Unde baptismi mysterium to- tiens revocandum est in animum quoties peccaverimus in vita nostra.“

2) Zu Apg. 19: „Apud quos nomen Christi semel auditum est,

Bertiefung ber Zwingliſchen Sakraments · und Tauflchre ꝛc. 741

Standpunkt aus auch folgender Ausſpruch zu 1Kor. 1, 17 wohl verfiehen: „Major est docendi functio, ut baptismi gloria evangelicae praedicationis gloriae collata subobscurior esse videatur.“

In Vorftehendem dürfte eine Zufammenftellung der in Bul⸗ linger8 Kommentaren zerftreut ſich vorfindenden Bemerkungen über die Saframente im allgemeinen und über die Taufe im befonderen in erfchöpfender Weife geboten fein. Veranlaſſung zu neuer Durch⸗ arbeitung ber Lehre erhielt Bullinger, wie ſchon Demerkt, durch Galvin. Und während er bisher, wie ſich ergeben hat, nur Zwinglifche Gefihtspunkte namentlich der fpäteren Zeit verwertet und durch weitere Ausführung fruchtbar gemacht Hatte, ward er durch Calvin genötigt, fi mit neuen, der Zwingliſchen Anfhauung fern Tiegenden Ideen auseinanderzufegen. Was er fi affimilieren Tonnte, nahm ber zugleich entſchiedene und friedliebende Mann auf, jedoch nur zögernd und mit vorfictiger Zurüchaltung. Es läßt fi, wenn man bie fpätere zufammenfafjende Darftellung in den Decaden vergleicht, eigentlich nicht nachweiſen, dag er einen ein» sigen feiner früheren Säge zurüdgenommen habe. Der Consen- sus Tig. aber geht, wiewohl von Bullinger acceptiert, redaktionell eben doch auf Ealvin zurüd.

Bullinger hat das Sakrament bisher weſentlich als religibſes Veranſchaulichungs und Anregungsmittel ganz im Sinne des fpü- teren Zwingli t) gewürdigt, nicht aber als direktes Gnadenmittel, d. 5. als Kanal der Önadenmitteilung (natitrlich nicht im Sinne der katholiſchen Kirche, fondern unter Vorausjegung gehöriger Ver⸗ mittefung durch Geift und Glauben). Er hat die Alte der Sa⸗ framentsdarreihung und der innerlichen Verwirklihung des Gnaden- heils als getrennte und gefchiedene behandelt, und ein Miteinander

nemo negare potest, parentes de liberorum salute anxios hosce ad sa- crum offerre baptismum, quod audiant Deum etiam infantium esse Deum.* Zu Apg. 8: „Non potest fidelis mens contemnere institutionem Domini.‘ Der ſchon gläubige Kämmerer „sponte ergo poscit baptismum sentiens hoc initiari et conglutinari fideles in unum corpus et constringi sub fidem unius Christi ac vitae sanctimoniam “,

4) Nameutlich ber Expositio fidei Christi.

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und Sneinander berfelben nicht einmal als Ideal angeftrebt. = foweit bfieb er alfo doch im ganzen dem Zwinglifchen Dualismus treu, mochte er immerhin in einzelnen Bemerkungen über demfelben Binauszugehen feinen. Demzufolge Hatte er denn auch nur em Intereſſe, eine zwiſchen dem signum und der res sacramenti beftehende analogia hervorzuheben, wie ſchon Zwingli, wenn auch weniger eingehend, gethan. Hierin wollte nun aber Calvin um einen Schritt weiter gehen; ihm genügte ſolche analogia nicht, fein chriſtliches Bewußtſein verlangte eine unio. „Gottes Wahrhaftig- feit erfordert, daß auch wirklich praestatur quod figuratur.“ 2) Bullinger wollte weder ein praestare, noch ein exhibere gelten Taffen, Calvin billigte beide termini. Nach ihm ſoll das signum zur gleich pignus fein, und zwar nicht nur im allgemeinen (Pfand eines objeftin beftehenden Sachverhaltes, etwa deffen, daß der Glaube rechtfertigt), nein: Pfand der Gnadenmitteilung durch das Safra- ment im einzelnen Fall, den gläubigen Genuß natürlich voraus⸗ gefegt. Dominus quod signo repraesentat simul efficit impletque in nobis Spiritus sui virtute. Demgemäß mußte Calvin der Geſichtspunkt der Veranſchaulichung und Vergegenwärtigung, ben Zwingli in den Vordergrund geſtellt, al8 ein, wenn auch nicht verwerflicher, fo doch höchſt bürftiger er feinen; er mißbilfige darum die Vergleihung der ſakramentlichen Zeichen mit profanen Bildniffen: wo denn 3. B., fo fragt er, der Geiſt fei, der des Caſars Bildnis belebe? *) Hier beachtet freilich Ealsin nit, dag auch nad) Zwingliſcher Anſchauung die Sache bei den Saframenten fi) ganz anders ftellt, eimerfeitS wegen des

ı) Calvin ſchreibt an Bullinger unterm 15. Febr. 1547: „Analogiam proponis unionis loco. Atqui longe plus est: nempe veritas et comple- mentum analogiaee. Quemadmodum in baptismo analogia est purgatio- nis inter Christi sanguinem et aquam, mortificationia rursum et novi- tatis vitae inter mortem ae resurrectionem Christi et extemporalem sub- mersionem. Unio est rei figuratae complementum, quo fit ne signum sit inane.“

8%) „Scio multos bonos viros abhorruisse a Zwinglii doctrina, quod toties occurreret ista comparatio absque correctione. In his etiam est Philippus“ (bezieht ſich übrigens fpeziell anf das Abendmahl).

Veriefung der Zwinzkiäen cz TEE

abgebildeten Gegeuflmrdet, der zum wufet erbabener iR, weil götte lich und wit menfchlih, ambericrt wegen det Etiftere Arien Denkmäler und jener eirsise Sjairiten, mern Calvin der Zwingli-Bullimgerfdpen Mxjrswauz wirst gar; geredet wire, je iſt doch widt zu Iemgerm, Dei er im eimem weienelihen Fuafte über biefelbe Ginaußgcht mub won der Hejen Berarihaziihung water Mitwirkung des des Beraufenihee mann, we und wir er will imerlich beichenben Gritie werwärth fdhreitet Zar cigent- lichen Guabenmitteilung und Heilswerfirgelrng, wie fir erinungt- gemäß erfolgt durch die Gaframenie. Die von Bullinger ſchroff jurüdigeisiefene Ansjege: sacramenta cenferre gratam fei dech zuläffig, weil fie nichts anderes bedeute als administrare Dei gratias. Zuaädkt jeien die Geframente zujelge ührer fimen- fälligen Natur allerdings adjumenta ad percipiendam Dei gra- tiam, scalae quibus fides promovetur; aber damit jei nur ihre Außerlichteit gefenmzeichuet, ihr Leib gleichſam, durch den fie and wiederum vermittelft unferer Zeiblichfeit auf uns zu wirken beftimmt fein. Ihre Seele hingegen, der fie belebende Hauch ſei der Geift: Spiritus anima sacramentorum. Und diejer vermittele den Empfang der Gnade felbft. Dura locutio (sacr. gratiam con- ferre) sana interpretatione mollitar. Gott gehe dadurch nichts an feiner Ehre ab, wenn er ſich der Saframente als feiner Dr» game bedtene; fonft dürfte die Sonne nicht mehr Iendten, das Brot nicht mehr nähren. Die Saframente halten ung ja nicht bet fich felbft feft, fondern weifen auf Ehriftum. Es fei daher ein ungereihtfertigter Einwurf, der auf Mißverftand beruhe: Deus ad se vocat, non ablegat nos ad sacramenta. Bullinger bes forgte offenbar, e8 möchte den Sakramenten zugefehrieben werden, was nur dem Geift zulomme; allein «8 leuchtet ein, daB Calvin diefen „Organen“ wirklich feine Kraft, vom Geiſte getrennt, zur geftand. Seine diesfälligen Erklärungen laſſen an Deutlichkeit nichts zu wunſchen übrig. Die innerliche Wirkſamkeit des Geiſtes durch die Sakramente ift das Maß der glaubenfördernden Kraft

"der Tegteren und alfo auch das Maß ihrer Heifbringenden Kraft,

Nur infofern ‚der Geift durch fie wirkt, find fie fidei exercitia und ftehen ſomit im Dienft ber Rechtfertigung durch den Glanben,

744 uſteri

Indem fie nämlich vermöge des durch fie wirkenden Geiſtes den Glauben weſentlich fördern, bringen fie auch zur Rechtfertigung nod; etwas Wefentliches herbei. Man kann die Gnade vor dem Saframentsgenuß ſchon empfangen, doch kommt durch dieſen noch ein Plus Hinzu, Calvin nennt e8 die plenitudo gratiae; fo beim Kämmerer 3. B. Bullinger hielt den vor ber Befchneidung ſchon gerechtfertigten Abraham entgegen; und Calvin erflärte fi genauer dahin: Allerdings kam durch das opus circumeisionis nichts zur Subftanz des Gnadenheils Hinzu, defjen objektive Realität zu er⸗ höhen; aber doch Läßt ſich infofern von einem Plus reden, als die Beſchneidung die justitia fidei befiegelte und mithin dem Glauben etwas bot, indem fie volleren Genuß der Glaubensgerech⸗ tigfeit vermittelte „nempe pro fidei suse modo“. Nicht die causa justificationis wird vollfommener per signa, es han- delt fid nur um die exhibitio „quae fit piis conscientiis verbo et sacramentis“ ').

Man wird fih nad dem Bisherigen nicht verwundern, wenn Ealoin, fo wenig er das Innewohnen des Geiftes in den Sakra⸗ menten als eine naturhafte oder mechaniſche Immanenz verftanden wiffen will, dennoch mit einer organifchen Immanenz, die durch das Walten des Geiftes im Gnadenhaushalt und innerhalb der Ordnungen desſelben bedingt ift, fo vollen Ernft macht, daß er fogar „quoad dispensationem“ den Sag zuläßt: sacramenta Christum in se continere, wie man auch fagen könne: Christum in evangelio contineri. So weit konnte ihm allerdings Bul⸗ finger in den Deladen nicht folgen, wie fi nachher zeigen wird ?).

1) Diefen Gedanken hat Bnllinger fpäter in die Dekaden aufgenommen, f. unten ©. 752.

3) Im Consens. Tig. hat Calvin den Gebanfen fo verffaufuliert, daß Bullinger zuftimmen konnte. Bol. dafelbft Art. 12: „Durch fi felbft wirken die Saframente nichts. Gott gießt ihnen feine Kraft nicht ein sed pro ruditatis nostrae captu ea tanguam adminicula sic adhibet ut tota agendi facultas maneat apud ipsum solum. Spiritus fidei inchoator et per- feotor.“ Ihm kommt auch das Attribut sigillum vor den Sakramenten in erfter Linie zu (Met. 18). Bol. noch rt. 16, der ber Bullingerſchen An- ſchauung Rechnung trägt, indem er betont, daß Glaube zuftande kommen könne

Bertiefung ter Zuinlider Eafrımrers- um Emule es 2 TE

Calvin ging aber med; weiter und rebete wen eimer exhibitio gra- tiae per sacramenta jelb in jeldım Fülle, we tie Gmaten- wirkung zeitlich mit dem Seframenttempjang nicht zujammenjicl: „ÜUt renovatio vitze, quam Deus exhibet in baptismo non sistitur illic ad manum quasi sub aqua sit inclusa, sed gra- datim proficiseitur a Deo.‘ Mon fickt, da die Rindertaufe ihn zu diefer Bemerkung veranlaft het. Der Gedanfe einer auf das ganze Leben fi eritredenden Bedeutung der Taufe war Bul« finger nicht fremd, umb er hätte ſich aljo mit dem Sag, daß ihr Segen fich nachträglich noch elhmählidh entjalte, an und für fid fehr wohl befreunden fönnen, nur des „exhiberi gratiam in baptismo“ mußte ihm anſtößig fein.

Nach Zwinglis Vorgang erblickte auch Bullinger in einer Er⸗ hebung der Sakramente zu Guadenmitteln nach Calvins Sinn eine Gefahr der Werlgerechtigkeit; doch treffend entgegnete der Genfer Reformator, die Sakramente feien ja leineswegs unfere opera; da® in ihnen dargereichte Heil fomme alfo ganz und gar von Gott.

Die Hanptbedenfen Bullingers find niedergelegt in feinem Briefe vom November 1548. Daß Calvin eben doch ein simul des gläubigen Sakramentsgenuſſes und des Gnadenempfanges ber ftimmt behauptet, ift und bleibt ihm anftößig: dadurch werde die Gnade an die Saframente gebunden, und fie werde „beneficio sacramentorum“ zuteil. Bullinger urgiert die Alleinwirkſamkeit Gottes und feines Geiftes im Inneren des Menſchen, will ftatt ber exhibitio gratiae per sacramenta nur ein Hinweiſen der Zeichen auf Ehriftum gelten Lafjen, eine Bezeugung und Verfieger lung des Heils durch die Saframente aber bloß in dem mehrfach erwähnten allgemeinen Sinne, ober dann erft eine nachträgliche (nad) fon vollendeter justificatio), alſo nicht mehr zum Gna⸗ bdenempfang zu rechnende: „Sanguine Christi abluuntur credentes in Spiritu per fidem. Eam vero emundationem attestatur

ohne das Sakrament, wenn auch beffen Empfang ſelbſt dann nicht über flüffig, fonbern zur continustio und reparatio ber Gemeinſchaft mit Chriſto dienlich fei (Art. 9), Nur in Motfällen (Erläuterung Calvin zu Art. 16) Lönne das Sakrament ohne Schaden wegbleiben.

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significat et obsignat Deus in electis suis per baptismum.“ Bullinger läßt nicht gelten, daß die Saframente instrumenta gratiae fein, per quae exhibentur dona Spiritus. Bielmehr faßt er feine Anfhannng dahin zufammen: „Deus confert, exhi- bet infanditque gratiam non per signa (quae rerum spiri- tualium non sunt capacia, cum sint inanima neque affıza aut alligata dona Spiritus teneant cum sint Hbera et nulli rei visibili alligata, sed per Spiritum S. ac fidem. Spiritus est, per quem illabitur animis nostris Deus; fides id Dei donum est, per quod recipit homo alia Dei dona. Saera- menta illa non conferunt aut exhibent ceu exhibendi et conferendi instrumenta, sed significant, testificantur et ob- signant.“ Deffenungeadhtet aber find die Saframente testimonia veritatis (niht fallax spectaculum), ejus veritatis, quod per Christum in fide redempti et haeredes regni Dei effecti sumus. Bei biefen Süßen ift denn auch Ballinger im ganzen geblieben, und es ift troß zutage tretenden reblihen Beftrebens, Calvin gerecht zu werben, eine gewiffe vorfichtige Zurückhaltung nicht zu verfennen, wenn man in den Defaden fpäter lieft, Zeichen und bezeichnete Sache feien verbunden institutione divina, con- templatione et usu fideli; die Ausbrüde find unbeftimmt und elaſtiſch.

Schließlich bleibt nur noch zu erwähnen übrig, daß Calvin in feiner Antwort vom 21. Januar 1549 Bullinger fo weit entgegen⸗ fam, daß er zugab, das Maß des entgegengebrachten Glaubens fei auch das Maß der durch die Saframente wirkfamen Gnade, dieſe fei alfo an fi weder lolal noch temporal mit den Saframenten verbunden *).

Den Eindruc, den diefer intereffante, den Consens. Tig. vor- bereitende Briefwechſel zwifchen Bullinger und Calvin Hinterlägt, kurz zufammenfaflend, muß man zwar zugeben, daß eime völkige Verftändigung bis auf die Ausdrucksweiſe hinaus nicht ftattfand,

1) „Conjunctam Dei gratiam sacramentis esse fateor non tempore non loco sed quatenus vas fidei quisque affert ut quod illie figuratur obtineat,“*

Vertiefung der Zwingliſchen Safcaments- und Tauflehre zc. 747

und daß auf beiden Seiten ein felbftverleugnendes Entgegenfommen notwendig wurde man Tann nad) wie vor zum mindeften von einer verfchiebenartigen individuellen Färbung Bullingericher und Calvinſcher Lehrweiſe reden —, daß aber doch mande ſcheinbare Differenz ſich als Migverftändnts herausſtellte, und daß Bullinger, allzu ängftlih im Ausdrud, nicht genugfam würdigte, wie fehr Calvin trog größerer Freiheit in ber Darftellung feinen eigent- lichen und innerften Tendenzen gerecht wurbe 1). Immerhin leuchtet bei der Leltüre der fpäter in Bullingers Dekaden niebergelegten luciden Ausführungen Über die Saframente ein, daß die Aus— inanderfegung mit Calvin befreiend und befruchtend gewirkt, und daß in der Vertiefung der Zwinglifchen Lehre ein Fortſchritt ftatt- gefunden Hat. Wusbrüde wie gratiam conferri per sacramenta oder contineri in sacramentis fonnte Bullinger fi zwar nim⸗ mermehr aneignen; auch als Kanäle, durch welche die Gnade fich mitteile, wollte er die Sakramente nicht gelten lafjen; allein bie Entſchiedenheit, mit der er ſolche Definitionen in den Defaden bes kämpft, kehrt ſich doch unverkennbar gegen den römifchen Aber» glauben und gegen das opus operatum, nicht aber zugleich gegen diejenige Anfchauungsweife, vom welcher ausgehend Calvin jene nämlichen Definitionen als zuläffig erachtet hatte. Won einer, ob au verhüllten Polemik gegen den Calvinſchen Lehrtypus findet fih im ben Defaden feine Spur ). Freilich Hatte des großen

1) Sehr befonnen if das Gutachten des Joh. a Lasco über biefe Aus- einanderfegungen zwiſchen Bullinger und Calvin (1550, in der Simlerſchen Sammlung): Erfreuliche Einigkeit herrſche im ber Betonung deſſen, baf ber 5. Geiſt diefen Juſtitutionen Ehrifti (des Sakramenten) ſtets gegenwärtig fein (adesse) müffe. In uau illorum legitimo per Spir. sanet. nostro assisten- tem ministerio animi nostri in fide obsignantur. Es beficht alfo eine unio sacramentalis symbolorum cum mysteriis. &o feien die Sakramente nicht nur externa symbola (mie Zwingli dualiſtiſch gelehrt), fondern interna etiam in nostris animis justitiae fidei obsignacula. Die Außbrüde offerri, conferri, exhiberi felen ihrer Vißverſtändlichteit wegen lieber zu vermeiden. Die Mitteilung fei ja eine fortwährende und ſchon vorher gefhehende audy von Calvin qzugeftanden). Lasco betont fer, man werbe durch bie Sakramente mit erft etwas, fie fein vielmehr Zeugniffe von einem ſchon Beienben.

2) Es ift vielmehr das Gegenteil dee Fall: Als Bullinger Calvin bie

18 Ufßeri

Dogmatiters Scharffinn und Gewandtheit es auch verftanden, dur die im Consensus gegebene, beiden Zeilen gerecht werdende, meifterhaft umfichtige Lehrfafiung Bullingern das Mißtrauen zu benehmen.

Die Darftellung in der fünften Dekade *) (Sermo 6, 7 u. 8) verdient es, zum Abſchluß noch im ihren wefentlihen Momenten ſtizziert zu werden *). Predigten der Benennung nad) (sermones), find diefe Auffäge vielmehr bogmatifhe, immerhin von religiöfer Wärme durhdrungene Abhandlungen. Bulfinger handelt ausführ⸗ lid) zuerft de sacramentis und dann nod in befonderen Ab» fnitten de baptismo und de coena Domini unter beftändiger Fühlung mit dem Tieffinn der alten Kirche, mit entſchledener Pos lemit gegen bie fpätere römifhe Superftition und mit Häufiger, durchweg pietätvoller Berufung auf Zwingli, mit dem den Zu⸗ ſammenhang aufrecht zu erhalten und den verehrten Meifter gegen Berfennung in Schug zu nehmen Bullinger fih aufs höchſte an- gelegen fein ließ. Namentlih werden die legten Schriften des Reformators gehörig verwertet.

Schon die Alten, beginnt B., nannten die Saframente sym- bola, und zwar a) als alfegorifhe Darftellungen der größten Möfterten Gottes, und b) als Pflihtzeihen, wodurd ſich Gott uns und wir uns ihm verpflichten, und wodurch wir zu brüder« Ticher Siebe uns verbinden. Die Saframente kann nur Gott ſelbſt eingefegt haben, denn fie gehören zum Kultus und follen zugleich ein Pfand und Zeichen der Liebe Gottes fein; aljo muß er fie gegeben haben, fonft hieße ſich ihrer bedienen fremdes Feuer auf den Altar bringen. Wie das Wort Gottes, obgleich von Menſchen abminiftriert, dennoch anzunehmen ift al8 von Gott, fo gilt das

5. Detade überfandte, ſchrieb ec dazu, er habe genau dafür geforgt, daß alles darin völig mit dem Consensus übereinftimmend fei, ev habe ſich gegen das Ende Hin felbft der Worte Calvins aus feinem Lehrbuch bedient.

3) Sermonum decas V, Tig. 1551.

%) Bullinger ſchrieb darüber an Vadian: „Ich denke namentlich im ben 4 Reden über die Sakramente etwas ber Mühe Wertes getfan zu haben und ‚glaube, diejenigen werben ihre Sünde erkennen, welche uns als Keger und Sa- kramentierer verbammen“ (Peſtalozzi, Bullinger, ©. 886).

Bertiefung der Zwingliſchen Sakraments · und Tauflehre 2c. 749

Nämlihe auch von den Saframenten; die fichtbaren Zeichen find eine Herablaſſung der göttlichen Güte zu unferer Schwachheit.

Schrift und ältere Kirchenlehrer kennen nur zwei Saframente

(es fet denn, fie nehmen das Wort in einer allgemeineren Bes deutung). Die Siebenzahl findet ſich erft bei den Scholaſtikern. Die menſchliche Spigfindigfeit Hat feine Vollmacht, Saframente zu

erfinden.

Den Worten darf nicht eine magiſche, das Heil bewirkende Kraft beigelegt werben, als Hätten fie diefe, indem und dadurch daß fie gejproden würden. So konnte man Heute zu einem Ans- fägigen hundertmal jagen: „Sei gereinigt!“ das hilfe ihm nichts. Der Wille Gottes thut's allein, nicht diefes oder jenes Wort. Bas man nah Gottes Geheiß thut, das ift dadurch geheiligt; fo ift es auch die Sakramentshandlung, nicht aber liegt in ben Worten als folden eine umwandelnde Kraft. Naeman wird durch das Jordanbad, das er auf des Propheten, d. h. Gottes Geheiß bin nimmt, gereinigt, nicht durch eine Zanberformel. Auch Auguftin dachte fo, denn er bemerkt zu der Stelle Tit. 3: „und Bat uns gereinigt durch das Wafferbad im Wort“, „nicht weil es geſprochen, fondern weil es geglaubt wird“. Durd das Glaubenswort wird bie Taufe geweiht was Heißt das anders als: das Geſchäft des Glaubens macht fie wirffam? Der Herr hat einfach Hand⸗ tungen eingefegt, und wir vollziehen fie genau nach Borbild und Vorſchrift. Er Hat aber nicht gefagt: In dem Augenblicke, da ihr diefe Worte fprechet, gefchieht der und der geheimnisvolle Vor⸗ gang. Das Wort kann nur andeuten, ferner moralisch und pfy« chologiſch, aber nicht magiſch wirken, reſp. Gott wirkt durch das⸗ felbe. Der Menſch braucht das Saframent nicht erft durch Sprechen der Worte zu weihen; «8 ift ſchon von Gott durch fein Einfegungswort, diefen Ausbrud feines unmandelbaren Wollens, für einen Heiligen Gebrauch geweiht. Zum Einfegungswort kommt yann nur nod) die precatio; nicht imprecatio und praecantatio, ondern fidelis gratiarum actio, d. 5. Danffagung für das dem Blauben fehon Gebotene, nicht Ummandelung in ein Neues duch inen Segens- oder Zauberfprug. Die Subftanz ber Elemente ıleibt natürlich diefelbe wie vorher, „accedit autem nunc alius

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usus et finis; habent nunc notam verbi Dei impressam et praeceptum Dei, sunt itaque consecrata. Constat ergo sanctificatio et consecratio sacramentorum voluntate et in- stitutione Dei, fine certo et usu sancto, quae nobis expli- cantur verbo.‘

Es kennzeichnet den Praktiker, daß das Gefagte durch ein paar Gleichniſſe veranfhaulicht wird: 1) das geprägte Gold oder Silber, die Geldmünze, ift zwar noch dasſelbe Matall, aber nun reprä« fentiert es einen beftimmten, geſetzlich normierten Verkehrswert; 2) das Wade, wenn ihm das Siegel eines Königs aufgedrückt worden, iſt zwar noch Wachs, aber es nun verlegen’ oder miß⸗ achten ift ein crimen laesae majestatis.

Einfache Konfequenz ift, daß man das Zeichen befommen kann, ohne an der Sache felber Anteil zu haben *).

Die Zrage wegen der Unio sacramentalis ift durch Spitz findigkeit eine ſchwierige geworden. Die Schrift kennt die Prü- dilate personalis, realis und rationalis, zwifchen welchen man ſchwankt, gar nicht. Vielmehr ift Zeichen und bezeichnete Sache ganz einfach verbunden institutione divina ®), contemplatione et usu fideli °), significatione denique rerumque similitudine. Die Verbindung ift von Gott gefegt, wird im glänbigen Subjeft zur Wirklichkeit und beruht auf Analogie zwifchen dem Zeichen und der bezeichneten Sache.

Sehr einläglih redet Bullinger von ber Wirkungsweife der Sakramente: dem katholiſchen Aberglauben Liege vielfach ein Mike

1) Hübſches Wortfpiel von Indas Iſcharioth: „Edit quidem panem Domini at panem Dominum non edit.“

3) Swed diefer institutio: „ut redemptionis et gratiae suae denique salutis nostrae mysteria nobis commendaret signis visibilibus eaque re- praesentando renovaret obsignandoque confirmaret.*

3) „Contemplatione fideli, quia religiose participantes sacramentis oculos suos non in sensibilia tantum sed magis in res insensibiles, in significatas et coelestes defigunt: ut in seipsis quidem duo illa conjuncta habeant, quae in signo aut cum signo alioqui nullo connectuntur vin- culo. Corporaliter enim et sensibiliter signa percipiunt: spiritualiter vero res possident, versant, renovant atque exercent significatas.‘“

Bertiefung der Zwingliſchen Saframents- und Tauflehre ac. Tl

verftändniß zugrunde. Es fei nämlich von der Schrift und von den alten Kirchenlehrern oft das Zeihen mit dem Namen der Sache ſelbſt bezeichnet und ihm zugefchrieben worden, was eigent- fi nur von jener gelte. Urfprünglih Habe man Verftändnis gehabt für ſolche ſymboliſche Ausdrudsweife, wie fie namentlich auch Auguftin liebte; fpäter Hingegen habe ein Eraffer, maſſiver und geiftlofer Realismus um fich geriffen, und weil man der Taufe mn eine die Wiedergeburt mit ſich führende Kraft vindizieren wollte, habe man einer himmliſchen Materie, eines gefegueten und dadurch zu einer neuen Kreatur umgewandelten Taufwaſſers be- durft ). Man habe zwiſchen dem altteſtamentlichen und neuteftas mentlihen Sakramenten unterfchieden, jene allerdings nur „Zeichen“, diefe Hingegen „wirkende Urſachen“ genannt, während doc der Unterfhied nicht in den Symbolen, fondern in den Sachen liege, indem es fi im Alten Bund um noch zu Erfüllendes, im Neuen Bund aber um ſchon Erfülltes haudele *).

Allen die Gnade könne in den Saframenten als in fichtbaren md umgrenzten Dingen nicht enthalten fein, auch nicht durch ſolche als durch Kanäle auf uns fich Übertragen. Denn die Gnade fei die Gütigkeit und das Wohlwollen Gottes, womit er ſich in eigener Machtvollkommenheit zu uns hermiederneige. Diefer geiftige Vor⸗ gang aber fei lediglich im Glauben zu erfaſſen. Ein receptacu- lum der Gnade, ein domicilium der Geiftesgaben, könne nur das glänbige Gemüt fein ®).

2) Anlaßlich der Taufe des Kammeres Apg. 8 betont Bulliuger im Rommentar zu der betreffenden Stelle, daß wie dort Flußwaſſer gewöhnliches Baffer genüge „significatione et mysterio congecrata et jam non pura tantum sed sacramentalis et mysterio sancta, quam minister cum pre- bus et summa oblatis affundat reverentia “.

2) „Promissiones rerum complendarum indicia rerum comple- tarım.“

) In diefem Punlt wollte Bullinger fogar den Schein der Zweibeutigkeit Wefeitigt wiffen. Ex führt eine Stelle aus Bonaventura an, die er ſich wohl Hätte gefallen lafſen Tonnen, fie lautet: „Non est aliquo modo dicendum quod gratia contineatur in sacramentis essentialiter tanguam aqua in vage vel medieina in pyxide, imo hoc intelligere est erroneum. Sed di- euntur continere gratiam, quia ipsam significant, et quia nisi ibi sit

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Die Apoſtel hätten die wiedergebärende Kraft weder an ein Element gebunden fonft hätten fie nicht in ungeweihtem Waſſer getauft —, noch überhaupt fie der Taufe zugeſchrieben fonft hatten ſie nicht ſchon Glaubiggewordene getauft. Offenbar habe in ihren Augen das Sakrament den Glauben und die Gnade nicht mit ſich gebracht, es ſei ihnen vielmehr erſchienen als eine Ver⸗ fiegelung der ſchon empfangenen Gnade, als testimonium veri- tatis, al8 obsignatio justitiae fidei und fo als donorum con- tinuatio et incrementum !).

Wäre das Saframent ein Kanal der Gnade felbft, fo hätte die Kindertaufe feine Berechtigung. Denn biefe, bemerkt Bulfinger, Hat fie nur, weil der Herr befohlen, die Kinder ihm zuzuführen,

defectus ex parte suscipientis, in ipsis gratia semper confertur, ita in- telligendo quod gratia sit in anima non in signis visibilibus. Possunt etiam dici vasa alia ratione. Quia sicut quod est in vase non est de ipso nec ex ipso, sed tamen ab ipso hauritur: sic gratia non est a sa- cramentis nec de sacramentis, sed oritur a fonte aeterno, et ab illo hauritur ab ipsa anima in ipsis sacramentis. Et sicut quis recurrit ad vas cum requirit liquorem, sic quaerenti liquorem gratiae et non ha- benti recurrendum est ad ipsa sacraimenta.“ Dazu bemerkt Bullinger: „Torsit se in hac re mirum in modum Bonaventura“,

1) Hier feheint fich doch Calvins Einfluß in etwas bemerkbar zu machen, Er redet von einem folden Plus, das durch ben Sakramentsempfang dem Gläubigen zuteil werde. Die charakteriſtiſche Stelle bei Bullinger lautet: „Promisit Deus se nostrum futurum et in Christo se nobis cum omni- bus donis suis communicaturum. Talem ergo se nobis certo praestat et communicat, licet id faciat non nunc primum cum sacramentis par- tieipamus, veluti se nobis per illa ut canales et in his ut vasis inclu- sum effundat. Statim enim a mundi exordio suam nobis gratiam pro- misit: statim atque credere coepimus, talem ille se nobis praestare coepit et praestat magis magisque per omnem vitam nostram: nos fide ac spiritualiter ipsum recipimus atque haurimus. Ergo cum participa- mus sacramentis, pergit is se nobis singulari modo, id est sacra- mentis proprio communicare, adeoque nos, qui dudum participes facti sumus Christi, communionem illam in sacramentorum celebratione fide ac spiritualiter continuamus atque reparamus, eandem nobis obsignantibus signis sensibiliter. Quis autem posthac dixerit sic sentientes de sacramentis et hac fide his participantes inania habere spectacula et in his nihil percipere?«

Bertiefung der Zwingliſchen Sakraments - und Zauflchre c. 7ER

weil er verheißen, unfer und unferes Samens Gott zu fein, und weil, nicht die Kinder, fondern wir glauben, daß Gott in feiner freien Gnade und Erbarmung im Blute Epeifti fie gereinigt und m Rindern und Erben des ewigen Lebens angenommen. Beruht fie auf diefen Erwägungen, fo ift fie alſo nicht Gnadenmitteilung, fondern Bezeugung und Verfiegelung eine ſchon vorhandenen Heils.

Wie über die Wirkungsweife, fo ſpricht ſich Bullinger aud über die Sraft und den Wert der Saframente fehr gründlich aus. Er acceptiert gern daS Anguftinfche visibilia verba. Die Taufe ift wie bie Beſchneidung ein dem Körper felbft mitgeteiltes Siegel, daß der Olaube unſere Gerechtigkeit fei, und daß alle Güter Chriſti gute fommen den Gläubigen. Gpäterer Unglaube und gottlojes Leben entfremden der Gnade, in die man im unſchuldigen Alter aufgenommen worden; Reue führt zuräd. Ein Siegel, an eine Urkunde gehängt, ift immer noch Außerlicher als ein foldes Zeichen, dem Körper aufgeprägt. Zwinglis Sag: „testimonium rei gestae praebent‘“ verkleinert die Saframente nicht, fondern will fie auch als Siegel und VBergegenwärtigungen betrachtet wiſſen. Aerdinge iſt es nach der Schrift eigentlich der Geift, der bes fisgelt, aber wie das „confirmare‘“ (durch Lehren) auch den Dienern des Wortes zugefchrieben wird, fo a8 „obsignare‘“ den Sakramenten. Zu einem spectaculum divinum werden fie freie lich nur für Augen, die der h. Geift erlenditet Hat, während fie den Ungläubigen nichts nügen.

Die Taufe insbefondere foll beftänbig erinnern an bie ger ſchehene Übergabe und an ben Empfang des neuen Namens, welche beiden Akte bei ihrer Adminiftration ideell ftattgefunden. So ver- anſchaulicht vermöge ber zutreffendften Analogie das Zeichen felber die dadurch bezeichnete Sache. Mortificatio und vivificatio, re- missio, renovatio und refrigeratio, alle diefe Momente des Pro⸗ zeſſes der Wiedergeburt finden im Ritus ihre Veranſchaulichung. Dem Glauben bringen die Saframente wefentlihe Anregung und Unterftägung (exeitant et adjuvant), weil fie mithelfen, daß der ganze Menſch ergriffen wird, nicht nur der Geift, der allerdings {don zuvor ein Verftändnis haben muß. Die Sakramente haben auch die Bedeutung einer eidlichen Verpflichtung geaenlber der

Wesl. Stad. Jahrg. 1888.

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Kirche Eprifti, und endlich liegt in ihnen ein mächtiger Antrieb zur Heiligung und zum neuen Leben.

Obgleich die Saframente ohne entgegenfommenden Glauben diefe ihre Kraft nicht entfalten Tönnen (mas mit Stellen aus Auguftin belegt wird), darf man doch nicht fagen, daß fie ihre Würde von der inneren Verfafjung des Menfchen her befommen. Diefelbe beruft vielmehr auf ihrer göttlichen Einfegung, und fofern man auf diefe und auf die göttliche Güte, die fie darreicht, ficht, haben fie immer die gleiche Würde und den gleichen Wert, und Gottes Schuld iſt's nit und entwürdigt das Saframent an fi nicht, wenn der Menſch es nit nügt. Bei ſolchem Mißbrauch reagiert feine Würde dadurch, daß der Menſch es zum Gerichte empfängt). Am unglüdlichften im ganzen Abſchnitt von den Saframenten ift wohl ber Verſuch, nachzuweiſen, daß es auch bei der Kindertaufe in mehrfacher Hinſicht am Glauben nit fehle. Da ift 3. B. die Rede von einem zugerechneten Glauben: die Kindertaufe beruht auf der zuvorkommenden Barmherzigfeit Gottes, welche die Kinder für Gläubige rechnet (imputat), und als Be weiß foll der Spruch dienen: „Wer einen dieſer Keinen, die an mid glauben, veradtet ꝛc.“ Sodann wird erinnert an den Glauben der Eltern und der Kirde, dag auch die Kinder zum Volke Gottes gehören, ferner an ihren glieblihen Zufammenhang mit dem einen myſtiſchen Kirchenleib und an den daraus reſul⸗ tierenden Anteil am alfgemeinen Kirchenglauben. Und endlich wagt Bullinger fogar die Frage aufzuwerfen: Wer will fagen,

1) Bol. dazu Calvin zu Gal. 3, 27: „Non fallacem pompam ostentat Deus in sacramentis, sed quae externa ceremonia figurat, exhibet simul re ipsa. Hine fit ut veritas secundum Dei institutum conjuncta sit cum signis. Siquis hie quaerat: Ergone fieri potest hominum vitio ut sa- eramentum non sit quod figurat? Responsio est facilis: nihil sacra- mentis derogari per impios, quin suam naturam et virtutem retineant, quamvis ipsi nullum sentiant effectum. Sacramenta enim bonis perinde ac malis Dei gratiam offerunt nec fallaciter promittunt Spiritus sancti gratiam: fideles quod oblatum est recipiunt; impii respuendo faciunt quidem, ut sibi nihil prosit quod erat oblatum; quin Deus sit fidelis et verax sacramenti significatio, facere nequeunt.* Ebeuſo zu Tit. 8, 5.

Vertiefung ber Zwingliſchen Sakraments · und Tauſlehre ıc. 766

was für „motus spiritus Sancti“ die Kinder außerdem noch haben? Sie müffen ſolche Haben, denn die Gottes find, haben den Geift Gottes 1).

Inwiefern der Saframentsgebraud für die Verwirklichung des Heils conditio sine qua non fei und nicht ſei, macht kurz und bündig folgender Doppeljag deutlich: Die innerliche Heiligung fann erfolgen ohne fichtbare Sakramente; aber die Sakraments⸗ verachtung ſchließt die innerliche Heiligung aus.

Und am Schluß wird noch betont, daß die Unwürdigkeit des Spenders fo wenig als bie des Empfängers den Charakter des Saframentes an ſich alteriere. Hierin findet fih Bullinger im Widerſpruch mit Eyprian, der das Gegenteil behauptet, Hingegen in Übereinftimmung mit Auguftin.

In einem befonderen Abfchnitt über die Taufe erweiſt Bul⸗ linger zunächft in fon oben angedeuteter Weife die Identität der Taufe des Johannes und der Apoftel, indem er namentlich auch die Weihe betont, die die Johannestaufe dadurch empfangen, daß Chriſtus felbft fich ihr unterzog. Alſo: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe!

Sodann definiert er die Taufe auf den Namen Gottes ale ein „Eingefchriebenwerden in die Familie Gottes, aljo daß ber Getaufte nun den Namen Gottes empfängt und ein Sohn Gottes genannt wird“.

Für d08 AÄußerliche, chriſtlicher Freiheit Anheimgegebene, in der Art, das Sakrament zu gebrauchen, giebt Bullinger nur wenige Normen; als richtigen Ort bezeichnet er, Notfälle ausgenommen (doch nicht, da die Not bloßer Vorwand jei!), die Kirche, als richtigen Modus die Öffentlichkeit; jedenfalls foll alles „decenter et secundum ordinem“ vor ſich gehen. Die Zeit ift frei, doch darf nicht gezögert werden. Die Taufe ift an Stelle der Be fneidung getreten, und auf der Verfäumnis Teßterer Taftete ein ſchwerer Fluch. Ein vorheriger Tod des Kindes kann allerdings

1) Bgl. dazu die Bemerkung im Kommentar zu Apg. 2: Sie können den h. Geift fo gut haben wie die Vernunft ale scintilla sopita excitanda aeta- tis accessu. 49*

756 uſteri

ſeinem Heile keinen Eintrag thun, noch das Beſtreben, ihn zu ver⸗ hüten, die Uſurpation einer an das Amt gefnüpften kirchlichen Handlung durch Hebammen rechtfertigen ). Bullinger iſt ſich ber mußt, darin von Auguftin abzumelden, nichtsdeſtoweniger aber mit Pelagius, der die Erbfünde leugnete und die Kindertaufe für un. nötig hielt, nichts gemein zu Haben. Nach feiner Anfchauung bes ruht eben ber erfte Anfang des Heils nicht auf dem Sakramenis empfang, fondern auf ber Verheißung.

In Joh. 3 betrachtet Bullinger Luft und Waffer als Sym⸗ bole des die innerlihe Ummandelung Bewirkenden; er hält aber auch die beliebte Beziehung auf die Taufe nicht gerade für ver⸗ kehrt; denn fagt er die Taufe ift wirklich zum Heil note wendig, Notfälle ausgenommen. Weil Auguftin diefe Ausnahme nicht gelten Taffen will, kommt er nad Joh. 6 konſequent dazu, auch die Mitteilung des Abendmahles an Kinder für notwendig zu erflären. Übrigens ift felbft Auguftin nicht ganz folgerichtig, da er beim Schächer fi mit der Geiftestaufe zufrieden giebt. Jedenfalls, meint Bullinger, feien für Kinder die „pia parentum vota“ ein ebenfo genügender Erfag in Notfällen, als für Er- wachſene das ernftliche „desiderium baptismi “.

Die Frage, wer zu taufen fei, beantwortet Bullinger in dop⸗ pelter Weife: 1) Alle, welche den Glauben recht bekennen, und wären fie unentdedte Heuchler, wie Simon Magus; 2) die von Zeus fo Hoc gehaltenen Kinder ?), nit um ihter natürlichen Unſchuld willen, fondern weil Gott fie unter die Gläubigen rechnet,

2) Zu Apg. 8 bemerft Bullinger, daß die Weiber- und Hebammentaufe als ein mit dem Waſſer getriebener Aberglaube zu verwerfen ſei. Calvin ber tonte dies auch nachdrücklich, doc; findet fi das ganz in ber Konfequenz der reformierten Doktrin liegende Urteil bei Bullinger ſchon früher, anfangs ber 30er Jahre. Betr. Zwingli vgl. meine Abhandlung a. a. D., ©. 241. In der zweiten helvetiſchen Konfeffion flellt Bullinger die Taufe einfach unter bie Kategorie der officia ecclesiastica, von benen nad Paulus bie rauen aus - geichloffen feien.

3) Da warfen freifich die Gegner ein: Warum hat fie denn Jeſus nicht gleich getauft? Und Bullinger erwidert: Weil gefchrieben ſteht: „Jeſus aber taufte nicht ſelbſt, ſondern feine Fünger.” Siclt

Vertiefung der Zwingfifhen Gakrements- und Tauflehre zc. 757

und weil die Gläubigen zu taufen find (wie oben). ine Blas⸗ phemie nennt es Bullinger, daß die Wiedertäufer die Kinder mit „tranei“ vergleichen, die von einem Symbol nichts verfichen. Auch die Beſchneidung hatte ihre Myſterien, und Gott bat doch gewiß nicht etwas Widervernünftiges angeordnet. Auf die Taufe folgt ja fpäter der Unterricht.

Am Schluß redet Bullinger noch erbaufih vom Wert ber Taufe: So oft wir gefündigt haben, wollen wir uns ins Ge dächtnis rufen das Myſterium ber 5. Taufe. Einmal find wir getauft worden, damit wir nie verzweifeln an der Vergebung uns ferer Sünden durd den Gott, dem wir durch die Taufe einmal einverleibt worden, damit er immer in uns das Heil wirke, bie wir aufgenommen werden aus bem Elend im die Herrlichkeit. Die Taufe verbindet uns mit Ehriftus, der fih mit unferer Taufe taufen ließ, um zu zeigen, daß er unfer Bruder und mir feine Miterben fein. Die Zaufe verbindet uns aber auch mit allen Glaͤubigen hier und drüben. Sie ift ein Bekenntnis von Sunde und Gnade und ein Antrieb zum chriſtlichen Reben.

Die begeifterte Aufnahme, die Bullingers Dekaden in der res formierten Kirche überall fanden ), entfprah nur ihrem inneren Wert. Noch heute kann ſich ein Lefer am dieſen fchönen, geifte reichen, tiefen Gehalt und lichtvolle Darftellung in ſich vereinigen» den Abhandlungen erfreuen und erbauen. Was fpeziell die ein. gehend behandelte Sakramentslehre anbetrifft, fo wird man es Bullinger zugeftehen müffen, daß das Enge, Steife und Pedan⸗ tiſche der Zwinglifchen Lehrweife verſchwunden und an deſſen Stelle eine der myſtiſchen Tiefe des Gegenftandes angemeffene größere Gejchmeidigkeit und farbenreichere Lebendigkeit im Ausdruc getreten ift, und daß mithin Calvins Mahnung anläßlich jenes Briefwech- ſels nicht unbeachtet geblieben: „Videndum est semper, ne simus in repudiandis loquendi formis nimium morosi, quae nihil falsum nihil absonum continent.“ Der Genfer Refors mator Hat fi denn auch hoch erfreut über diefe Partie der Des taden geäußert. Als endlich Bullinger bei Abfaffung der zweiten

1) Peſtalozzi, Bullinger, ©. 386 u. 4691.

758 Ufteri, Vertiefung der Zwingliſchen Sakraments - zc. Lehre,

hefvetifchen Konfefftion nochmals Gelegenheit befam, die Safra- mentslehre auf Grund der im Consensus getroffenen Verſtän⸗ digung kürzer, aber um fo fernhafter darzuftellen, wurde ihm in der ganzen reformierten Kirche durch alfgemeine freudige Zuftims mung die verdiente Anerkennung zuteil.

Gedanlen una Bemerkungen.

1. Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Eiu⸗ flüſſe anzuerlennen? Bon Prof. Dr. $, Kleinert

in Berlin.

Die Frage, ob nicht die ftarke Eigentümlichkeit, durch welche fich das Predigerbuch von der übrigen Litteratur des Alten Teſta- mentes abhebt, durch die Annahme eines weſentlichen Einfluffes außerhebräifcher Faktoren zu erklären fei, ift neuerdings namentlich dur die Arbeiten von Tyler!) und Plumptre?) angeregt worden. Beiden ift gemeinfam, daß fie darauf Verzicht leiften, das Buch als ein Produkt innerhebräifcher Geiſtesentwickelung zu begreifen, vielmehr feine Entftehung von der Mifhung hebräifcher Denkart mit den helleniſchen Philoſophieen bedingt fein laſſen, welche ben legten vordriftlichen Jahrhunderten eignen. Die Eigenart des Buches wäre alfo nicht die Originalität eines her bräifchen Denkers, fondern bie eines Litterarifchen Eflektifers, ber, in herföimmfichen Überzeugungen unbefriedigt, aus den vorhandenen Mitteln der ftoifchen und epifuräif—hen Schuftheorieen eine Popu⸗ larphiloſophie hergeftellt.

ı) Th’ Tyler, Ecelesiastes, a contribution to the interpretation. London 1874.

3) E. H. Plumptre, Ecelesiastes or the preacher, with notes and introduction. Cambridge 1882.

762 aleinert

Mit gelehrter Grundlichkeit, aber etwas mechaniſch iſt dieſe Theſis bei Tyler durchgeführt. Nach gewiſſen äußerlichen U rüßrungen weiſt er gewiſſen Abſchnitten des Buches (namentlich 1, 2—11; 3, 1—15, c. 7 und mehreren einzelnen Stellen) ftoifche, anderen, wie 8, 18—22; 5, 18—20 epifuräifche Her tunft zu (vgl. namentlih S. 13ff. 67ff.). In 3, 1ff. findet er die ftoifche Lehre von den Welteyklen; in 1, 17; 2, 12; 7,25 das ftoifche Ariom, daß avrss ol äppovss yalvorsa; in 12, 7 die ftoifche Lehre von der Reabſorption ˖ der einzelnen Ser in die göttliche Weltfeele u. &. m.; epifuräifch fei die Gleichſetzung der Menſchenſeele mit der Tierfeele u. a. Plumptre hat dieſe Poſition in geiftvoller Weife weiter ausgebaut. Sie bietet ihm nit bloß die Möglichkeit, feinen Kommentar, den er für bie Lektüre des Buches in oberen Studienklaſſen beftimmt, durch Heran ziehung zahlreicher Paralfefftellen aus den Haffifchen Litteraturen für diefen Zweck in vorzüglicher Weife zu adaptieren, fondern auch den Anlaß, mit plaftifher, allerdings auch phantafiereicher Bere wertung zahlreicher Stellen des Buches ein innerlich mohlverftänd liches Lebensbild des geheimnisvollen PHilofophen aufzurollen, der im Koheleth den Ertrag feiner Studien und feiner Lebenserfahrung niedergelegt. Er führt ihn vor, wie er aufgewachſen im engen Kreife frommen Judentums, zu einer Zeit, wo bie Gottſeligkeit zur tonventionellen Routine erftarrt war, frühzeitig durch bie Wahrnehmung frommer Heuchelei angewidert, zunädft das Ger werbe des Landmannes ergreift; dann, vom inneren Drang in bie Weite ergriffen, fih zu der blühenden Judenkolonie Alexandriens begiebt. Dort lernt er das Mißregiment des Ptolemäos Phil pator kennen und haſſen; gerät aber zugleich mit den Hetürem der Refidenz in verhängnisvolfe Berührung und macht eine finnliche Sturm- und Drangperiode durch, die mit feinem moraliſchen Ruin endigt. Des geiftigen Strebens bei alledem nicht verfuftig gegangen, ein eifriger Befucher der ptolemätjchen Bibliothek, flüchtet er in einem Inſtinkt der Selbftrettung zu den Hörfälen der Phil fopgen; von den Stoifern zu den Epifuräern, deren Phyſik ihn anzieht und deren Lebenslehre ihn einer freundlicheren Auffaflung des Lebens wiedergiebt. Aber das philofophifche Treiben kann iha

Sind im Bude Koheleth außerhebräifce Einflüffe anzuerfennen? 768

nicht davor bewahren, fdließlih der Leerheiten und Illuſionen beöfelben müde zu werden und dem „wer weiß?“ des Skepticis⸗ mus in die Arme zu fallen. Da kommt das Elend und die Ver⸗ einfamung des Alters, und mühfam rettet fi das umhergeworfene Leben an den Erinnerungen und Reſten religiöfer Ynftinkte, die ihm aus der Jugend geblieben, und melde der zum Tode Reis fende, frei und felbftändig genug, mit dem Nieberfchlag feiner philofophifchen Studien zu den VBelenntniffen unferes Buches verfnüpft hat.

Diefe „ideale. Biographie“, welde Plumptre (S. 35—55) dem Berfaffer des Koheleth widmet, tft eine interefjante Leftüre; ſchon um der feinen Kunft willen, mit welder jeder wefentliche Zug des reich ausgeftatteten Gemäldes durch irgendeine Ausſage des Buches, und zwar ohne exegetifche Gewaltſamkeit begründet wird. Womit freilich nicht gefagt fein foll, daß das nämliche Material nicht auch für mande fehr andersartige Schilderung und Auffaffung die geeigneten Baufteine liefern würde. Ein Beweis dafür wird uns weiter unten bei Renan entgegentreten. Zunächſt handelt es ſich für uns um eine Prüfung der Baſis, ob die angenom- mene Beeinfluffung des Verfaſſers durch die griechiſchen Schul philofophieen wirklich vorliegt. Worab muß da anerfannt werden, daß die geiftige Gefamtatmofphäre, welcher die großen Spätlings- fofteme der griechiſchen Philofophte ihre Entftehung verdanken, ſich auch in umferem Buche wieberfpiegelt. Es fehlt faum einer von den harakteriftifchen Grundzügen derfelben, wie fie Zeller in der ſchönen Einleitung zum dritten Bande feiner Gedichte ber grie- chiſchen Philoſophie zufammengeftelit. Die eigentümlihe Stellung des Koheleth zur älteren Chokhmalitteratur des Alten Teftamentes bietet gerade unter diefem Geſichtspunkte eine merkwürdige Pa- rallele zu der Eigenart, mit der ſich die Philoſophenſchulen der Tegten Jahrhunderte vor Chriſto von den älteren großen Geftalten der griechiſchen Philoſophie abheben. Hier wie dort die Ablöfung des Denfens von der nationalen Grundlage, der kosmopolitiſche Charakter nicht bloß in der Stellung, fondern aud in der Bes bandfung der Probfeme. Hier wie dort da® Zurüdtreten der Trage nad) dem Seienden, der reinen Erkenntnisfragen. Das

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heiße Ringen um das Erkennen der Wahrheit als folder, wie es im Buch Hiob mit leidenſchaftlichem Ungeftüm in die abgrindige Tiefe hineinarbeitet, ift Hier erfaltet: „Weitab ift das Seiende und tief, tief, wer mag's ergründen?“ (7, 24.) „Sei's Liebe, ſei's Haß, nichts weiß der Menſch von alledem, das vor ihm liegt, gar nichts“ (9, 1).

Das Intereſſe, an welches die Spekulation ſich fnüpft, ift mie bei jenen Philoſophleen des fintenden Griechentums ausſchließlich das praftifhe: es muſſen Grundfäge fürs Han deln gefunden werden; der Menſch bedarf einer Orientierung fürs Leben. Hier wie dort wird zu dieſem Behuf der Weg ein geſchlagen, mit Verzicht auf die Wirkung ins Ganze den Einzelnen ganz unabhängig vom Äußeren auf ſich felbft zu ftellen; die großen Probleme des Gemeinjcaftslebens außer Sicht zu rüden und unter der. allgemeinen Mifere dem Weifen ein ruhendes Äquilibrium im eigenen Gemüt zu fchaffen, darin er Frieden habe. Es wird das Berdienft der beiden englifchen Ausleger bleiben, gegenüber einer bloß kanoniſchen oder bloß philologifchen Behandlung des Koheleth jedem tommenden Exegeten die Anseinanderfegung mit ben Ger fichtspunften einer fulturgefchichtlichen Betrachtung des Buches zur Pflicht gemacht zu haben.

Und auch einem fpeziellen Punkt ihrer Auffefjung, der freilich nicht erft von ihnen betont worden ift, kommt Wahrheit zu. Es ift unleugbar, daß nit bloß das allgemeine Gepräge der Diadochenzeit, fondern daß auch ſpezifiſche Einflüffe griechiſchen Weſens auf den Hebräifchen Geift in unferem Buch anerkannt werden müffen. Die lange überfehenen Bemerkungen Zirkels, der im Jahre 1792 auf Gräcismen in der Sprache des Koheleth Hin- wies, find durch die neuefte Phafe der Betrachtung des Buches zu ihrem Recht gelommen. Hat Zirkel im Eifer des erften Ent- deckers zu viel gejehen: anderes hat er Überfehen. Wenn Plumptre nach Gräg’ Vorgange die Wendung „unter der Sonne“, welche in unferem Buch 29 mal, fonft im Alten Teſtamente nirgends bes gegnet, als einen Gräcismus urgiert, fo mag die Einrebe ſich ber haupten, daß dies nicht gerade die exotifche Lieblingswendung eines grächfierenden Autors fein müffe, fondern auch Die perfünliche eines

Sind im Bude Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuertennen? 766

hehräifchen fein fönne. ber wenn die hebräifche Wendung 172 m, die nad; äfterem Sprachgebraug nur „Gutesthun“ bebeuten tan, hier. anf einmal die Bedentung des behaglichen Zuftandes, „fh gutlich thun“, „ſich's wohl fein laſſen“ aufmeift (3, 12), fo ift das ohne ein dazwifchenfiegendes ed) ouoceıw doch ſchwer⸗- lich zu verftehen; ebenfo ift der Zufammenflang des main om 7, 14 mit sönnegla evident. Und die Formierung von Kunfte ausbräden der Spekulation wie am (1, 13; 2, 3; 7, 25) und a (9, 1) für das Geſchäft des Philoſophierens felbft, wie mw no =0 vl dor, das Wefen der Dinge (7, 24) n. a. ift ebenfalls auf hebrätfher Wurzel nicht gewachſen. Ber terminus a quo der Abfaffung des Buches kann, wie fih ans dieſen Zeichen griehifch kolorierter Sprache ergiebt, über das Jahr 300 nicht wohl hinaufverlegt werben.

Aber mit den beiden Momenten, die hier anzuerkennen waren, iſt doch eben nur jene allgemeine Einwirkung des griechiſchen Gelftes auf das Werden unferes Buches konſtatiert, welche feit Aegander dem Großen den ganzen vorderen Orient überrollt hat, und von der das jüdifche Stillfeben ausgefchloffen zu denken auch aus anderen Gründen nicht angeht; keineswegs aber eine konſtitu⸗ tive Beteiligung griechiſcher Schulphiloſophie am Inhalt desſelben. Soll dieſe erhärtet werden, ſo würde vorab von der äußeren Beweisführung zu fordern fein, daß fie die behaupteten Entlch- nungen an unferer Kenntnis über die erften Phafen der bezüglichen Schulſyſteme erwiefe, von denen namentlich das ftoifche eine ſtarke Innere Entwickelung aufweiſt. Denn bie Entftehung unferes Buches fällt in das Jahrhundert des erften Aufblühens jener nadjariftote- liſchen Philofophieen und kann über das Jahr 200 v. Ehr. nicht wohl Hinabverlegt werden. Das ergiebt ſich aus feinem Verhältnis zum Buch der Weisheit, fowie aus dem fehlen der ſcharf mar» Herten Signatur der makkabaiſchen und nachmakkabaiſchen Litteratur- woche; und es wird beftätigt durch die talmudifchen Forſchungen, welhe aus Anlaß der Aufftellungen von Gräg (Koheleth 1871) namentlich von jübifchen Gelehrten über dies Problem Titterarifcher Chronologie angeftellt worden find, und deren Refultate eingehend und überfichtlich zufammengeftellt zu Haben das Verdienſt des

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foeben erjchienenen Kommentars von Ch. Wright !) if. Um fo mehr muß es Bedenken erregen, wenn die von Tyler und Plumptre angezogenen Parallelen, foweit fie fubftantielle Bedeutung Haben, faft ausjchließlich auf fehr junge Autoritäten der Stoa und des Epikuräismns Bezug nehmen; einerfeit8 auf Mark Aurel, anders feitö auf Lueretius. Tyler fcheint diefen Mangel empfunden zu haben. Er nimmt ©. 11f. einen Anlauf, wenigftens für jenen Sag, welcher der Zeit und Bedeutung nach als Grundaziom der ftoifchen Ethik gelten kann, und deffen Fehlen allerdings ein übelftes Manko des Beweiſes darftellen würde, das Vorkommen aud im Koheleth nachzuweiſen: für den Sag vom naturgemäßen Leben; ömoAoyovusvus 7 yvosı Liv. Er will in dem Abe ſchnitt Koh. 3, 1ff. neben anderem aud eine Explikation diefes Sages erblickt wiffen. Uber der Verſuch ift doch wohl mißgkädt. Zn der Stoa hat der Sag die Bedeutung, daß es gelte, unter Beobadtung der Empirie (zar’ dunsiglav zöv yıca ovußai- vovrov Chrysipp) eine Lebensregel zu finden, welde dem Ver⸗ nunftgefeg entſpricht, das in der allgemeinen Natur der Dinge und in der des Menfchen ibentifh iſt. Wan vergleiche bie Er— Härung, welche Diogenes Laërtius VII, 88 dem Satze giebt: 6 xovög vönos, Ögneg Eorıv 6 0gF0g Adyog dia navımv dg- xousvog 6 avsös @v zo Ai. Einem völlig anderen Zweck dient jene Ausführung im Koheleth. Anknüpfend an die erfah- rungsmäßige Induktion 1, 12 2, 23, daß das gefamte vielfache und unter der bewußten Direktive des Weisheitsſtrebens (2, 9)

1) Ch.H.H. Wright, Ecclesiastes (London 1883), p.3sqq. Bol. auch Herzog, R.-Enc. (2. Aufl.) XII, 171. Geringeren Wert möchte ic} auf die von Tyler (S. 6ff.) wie von Plumptre (©. 56ff.) ausführkc, erörterte Abhangig⸗ feit des Siraciden vom Koheleth legen; bie Argumentation führt meines Erachtens über fubjeftive Evidenz nicht hinaus. Dagegen verdient Beachtung die Er- ſcheinung, mit welcher Unbefangenheit gewiffe Grundanfchanungen im Koheleth tombiniert erſcheiuen, welche weiterhin im Pharifäismus, Sadbucäismus, Effenis- mus zu ſcharfer Sonderung auseinandergetreten find. Die weitere Unterſuchung dieſes Punktes, auf welchen ſchon Ewald (Dichter des Alten Bundes U, 271) beifäufig bingeriefen, würde, wenn unter umfafjenden Gefihtspunkten unter- nommen, nicht ohne Ertrag fein. Tylers Behandlung desſelben (S. 84ff.) iſt, namentlich inbezug auf ben Efienismus, zu dürftig.

Sind im Buche Koheleth auferhebräifche Einflüffe anzuerkennen? 767

verfolgte Suden und Ringen Koheleths ohne Befriedigung ges blieben, zeigt er in diefer zweiten großen Ausführung 2, 24 bis 3, 22, warum das fo habe fein müfen. Deswegen nämlich, weil der Lauf der Dinge ein- für allemal unabänderlich von Gott feſt⸗ geftellt und jedem Dinge feine Zeit zugewiefen fei (3, 1—8. 14; vgl. 7, 13). Diefer Plan Gottes ift unerforfhlih (3, 11b), und vergeblich müht fi der Menſch, auch der Weife, ab, ihn zu er- fennen (3, 18—22). Aber an diefer alles bindenden Gottesver⸗ anftaltung liegt es, daß das Streben des Menſchen von fi auß, wenn auch noch fo eifrig und vernünftig verfolgt, reſultatlos und unbefriedigend verläuft (3, 9f.). Der Menſch hat fi eben an dem Zugewiefenen in Arbeit und Genuß genügen zu laſſen, das die Zeit bringt (2, 24f.; 3, 12f.; dgl. 9, 11). Nicht das qual« volle Suden nad) dem, was Gott nun einmal, fei es verhüllt, fei es verfagt hat, fondern die Einficht, welche den gewiefenen Zeit- punkt wahrnimmt, um das Richtige zu thun, ift das wahre Gut und bewährt den wahren Weifen (3, 9f.; vgl. 8, 6). Geht alfo die Rebensregel der Stoa darauf hinaus, daß der Logos, der zur Natur des Menſchen gehört, fi durchſchauend wiebererfenne in der Vernunft des Weltganzen, und darnach von fih aus das Leben geftalte, fo fummiert fie fich beim Koheleth in der Beugung vor dem unerforfchten Gotteswert in der Welt, im Verzicht auf die durchſchauende Erkenntnis und auf die felbftwollende Initiative. Biel näher als das ſtoiſche Axiom fteht ihm das andere: xaugov 17631, welches die Griechen auch haben, aber nicht von der Stoa, fondern von den alten Weifen herleiten (Diog. Laert. I, 79). Schon diefe Erörterung führte uns auf die innere Geite der Sade, auf welche ja freilich bei der Beſchaffenheit unferes Pro- blems der Hauptnachdruck fallen muß. Iſt bie inhaltliche Ver⸗ wandtjchaft des Koheleth mit den nachariſtoteliſchen Schulphilo- fophieen derartig, daß Abhängigkeit oder gar Entlehnung ange nommen werden muß? Zunähft die Stoa anlangend, ift es ja richtig: ſtoiſch ift der oben vorgeführte Determinismus des Buchs, der für Willensfreigeit leinen Raum läßt, dem siuagusvn und ngövoa in einander aufgehende Begriffe find, und der namentlich in Rap. 3 fo mädtigen Ausdruck findet. Wenn nun aber doch

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gefagt werden muß, daß diefer Determinismus dem femitifchen Geifte fo wenig wurzelfremd ift, daß er vielmehr recht eigentlich das Gepräge derjenigen religtöfen Weltanficht ausmacht, welche der vom alten Prophetengeift verlafjene Semitismus ſchließlich als fein eigenftes Gut und Abbild erzeugt hat, der mohammedanifchen: wo⸗ her die Nötigung, ihn im Koheleth aus der Stoa Berzufeiten? Ste würde nur unter zwei Bedingungen anzuerkennen fein, fei es, daß in der älteren hebräifchen Sitteratur die Anknüpfungspunkte für diefen Determinismus fehlten; fei es, daß er in Tonfretem einzelnen Gedanfenbildern ſich ausprägte, deren ftoifche Herkunft und Priorität eriiejen ift. Jene Anknüpfung aber ift vorhanden in der altteftamentlihen Grundlehre von der göttlichen Allwirk- famteit; diefe Gedankenbilder, in denen ſich auf beiden Seiten der Determinismus gleichartig ausfpräde, fehlen. Nicht einmal für Hanptbegriffe, wie elnagusyn, meovoa u. a., hat Koheleth entfprechende Worte. Ferner, wie Koheleth Hat auch die Stoa jene Grundunterfcheidung, welche eigentlih nur zwei Klaſſen von Menſchen kennt, Weife und Thoren. Uber diefe Unterfheidung ift in der altteftamentlichen Chothma von Anfang ab wurzelhaft anger legt, und beherrfcht bereits ihr älteſtes Produkt, die falomonifchen Sprüche in den älteften Schichten des Spruchbuchs durchgehende. Man würde vielleicht fragen können, ob nicht der Gegenfag des Weiſen und Thoren zu den orientalifhen Fermenten der Ston ges höre die äfteften Schulhäupter derfelben find ja faft ohne Aus- nahme geborene Aftaten; aber man kann nicht fragen, ob Koheleth diefe Unterſcheidung aus der Stoa habe entlehnen müflen. Dies nun behauptet auch Tyler nicht; wohl aber meint er aus ber mehrmaligen Nebeneinanderftellung der beiden Worte mbzp und nam (1, 175 2, 12) den ſpezifiſch ftoifchen Sag herausleſen zu follen, daß alle Thoren wahnftunig find, navsag Todg aggovag nalveodas Diog. Laert. VO, 124. Aber auch biefe Inſtanz von ſekundärer Bedeutung, welde von Siegfried 1) ale die glücklichſte unter den Tylerfchen Entdeckungen bezeichnet worden iſt, ficht auf ſchwachen Fügen. Als Prädikativſatz ift die Senten

3) In Hilgenfelds Zeitſchrift 1876, S. 288. 470.

Sub m Dar Sıhereht sujehricanne Eukiie onen: ο

an feiner ber beireikrier Exrler aminsmeher, ms deb dar firengen Beweit wrmmgirz-h ;2 imien wire Zicmce farm ih in jener BWerwwerkirtzrz vor ce hr ;chreichen Campaien durch Berbeppelung des Anttr-36 Tür dericlien Begiit orten, wie fie für die ee gehrä he Rpererif zeieree Besos daraheriitüd find. In der kurzen Strede 1, 14—17 fizden fh acen der im Rebe fichenben medh trei io her Berzoppeluzgen: om rum I V. 14, mern ern E16, van B. 16, in melde ariomatijden Sun bimeinzulegen niemand gcweizt jein wird. So wird denn auch 2, 13 jofort die Gruppe rög rm aus 2, 12 durd) das bloße m>20 wieder aufgenommen. Kodhelerth ge» braucht die Worte als Synonyme Mag immerhin eine leiſe Nüance im Begriff ihm vorjchweben: daß jie die Überpflanzung des Begriffe Narr vom ethiſchen Gebiet des Gegenſatzes zum Weiſen (m5>0) auf das phyñiſche Gebiet des Gegenjages gegen den geiftig Gefunden (mbbir) enthalte, wird ſchon dadurch widerlegt, daß 9, 3 mbbn and für fi allein die ethiſche Thorheit aus« drüdt, umd das entſprechende Berbum bbtn 7, 7 ſich direlt in Gegenfaß nicht zu gefunden Sinnen, fondern zur ethiſchen Weis heit ftellt. Nicht eimmal eine wefentlihe Steigerung wird man von D zu /n annehmen dürfen, fonft würde das letztere 1, 17; 2, 12 nicht voran-, fondern nmachgeftellt fein. In 10, 18, wo Geſenius (Thes.) die Steigerung mit Recht findet, liegt fie nicht in mbbin, fondern in dem Beifag myy. Und fo wird auch in 7, 25, welche Stelle bei richtiger Überfegung ) noch am eheften für die Tylerfche Theſis geltend gemacht werden koönnte, der Sinn nicht der fein, daß Koheleth die Thorheit Habe als Geifteögeftörtheit erfennen wollen, fondern als das, mas fie ift, ald Thorheit, Uns finn. Es wäre an allen diefen Stellen ſchwer zu begreifen, warum Koheleth, um die Thorheit nad ſtoiſchem Vorgang als einen Zus ftand der Geiftesfrankheit zu bezeichnen, ftatt gangbarer und une

3) Gerade biefe Stelle überfegen Tyler und Plumptre: „to know the depravity of obduracy and folly, madness“, während grammatiſch es näher Tiegt zu überjeen: „zu erfennen bie Gottloſigkeit als Cinnlofigkelt, und die Thorheit als Unfinn“.

Theol. Gtub. Dahrg. 1888. 50

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mißverftändlicher Hebräifcher Ausdrücke für diefen Zuftand gerade das Wort mbbın gewählt Haben follte, deſſen Verknüpfungen im älteren Sprachgebrauh (Pf. 5, 6; 73, 3; 75, 5) und deſſen nachheriger tafmudifcher Gebrauch (vgl. Levys Wörterbud I, 473) gerade auf das ethische Moment im unfinnigen Gebaren den Nach— drud Tegen heißen.

Neben diefen halben und nicht beweifenden Berührungen treten nun aber um fo evidenter die Gegenfäge hervor, welche zwifchen den Grundanfchauungen des Koheleth und der Stoa eine tiefe Kluft befeftigen. So ſchon in Anfehung des Verhäftniffes von Gott und Welt. Der Gedanke der Immanenz Gottes in der Welt ift in feinem philofophifchen Syſtem des Haffifhen Altertums mit folcher Energie durchgeführt, wie im ftoifchen: dem Koheleth ift er fremd. Diefem fteht Gott ſchlechthin über der Welt, in erhabener Ferne; und unter allen Möglichkeiten ihn zu denken, ift die VBor- ftellung einer Weltfeele für Koheleth die fremdartigfte. Und das muß um fo nahbrüdficher betont werden, als in der älteren Chothmalitteratur Antnüpfungspunfte für die ftoifche Immanenzlehre teineswegs fehlen wenn etwa in chofhmatifchen Pfalmen von Gottes Atem die Erde grünt (Pf. 104, 30), im Hiob von feinem Hauch der Himmel fi aufheitert (Hiob 26, 13). Hat Koheleth diefe Anknüpfungspunfte einfach fallen Laffen, um feine Anſchauung zur ftarrften Tranfcendenz fortzubilden, die nur ein Bewirken und Geben ?) Gottes, aber. nicht ein Leben Gottes in der Welt fennt, fo ift es unthunlich, ihn unter ftoifchen Einflüffen entftanden zu denten. Mit Unrecht urgiert Tyler die Lehre von der Gleichartig⸗ feit und Wiederkehr der Erfcheinungen (Rap. 1 u. 3) als eine Reproduktion des ftoifchen Phllofophumenons von den Weltchklen. Die Eyflen der Stoa, zumal der älteren, münden in Weltbrände,

2) Auch der Menſchengeiſt ift in der Stelle 12, 7 ausbrüdlich ale Gabe Gottes bezeichnet; daher die Meinung Tylers (S. 65), daß in diefer Stelle eine Reabſorption besjelben in die Gottheit gelehrt werde, welde dann freilich auf die Weltfeelentheorie führen wärde, kaum ernflich gu diskutieren. Wie die erfte Vershälfte von 12, 7 (vgl. Gen. 8, 19), fo iſt auch die zweite gut alt- hebraiſch (vgl. 1Kdn. 19, 4).

Sind im Buche Koheleth außerhebräifce Einfläffe anzuerkennen? 77L

bie alles Seiende außer ber Gottheit felbft vernichten: Koheleth lehrt 1, 4 den bfeibenden Beſtand der ‚Erde, und der Weltlauf ift ihm nicht ein ziellofes Eilen zu wiederholten Vernichtungen, fondern Hat fein Ziel im Gericht Gottes über die Welt (8, 17; 58,7; 8, 6—8. 13; 11, 9). Die Betonung der Gfeihmäßig- feit in den Erfheinungen ift ihm, wie namentlich der Zufammen- hang in 3, 14. 15 zeigt, nicht eine Illuſtration phantaſtiſch ange» nommener Weltperioden, fondern der gleichförmigen Geſetzlichteit des göttlichen Wirkens, welche die ftolze Meinung menſchlicher Eintagsgedanfen, als erlebten gerade fie ein Neues oder könnten gar ein Neues fchaffen, ausſchließt. Endlih, was wir als den marfanteften Zug im Stoicismus fennen und hochachten, jenen fittlichen Idealismus, der die Mittelftraße verwirft und Glüd- feligleit nur im ftrengen, ja ftarren Feſthalten der erkannten und gewollten Tugend erkennen kann: dieſen fittlichen Idealismus lehnt Koheleth ab. „Sei nicht gar gerecht, und mad) dich nicht allzu weife, warum willſt du did) in Verlegenheit bringen?“ (7, 16). Will man fehen, wie fih eine hebräiſche Denkart ausnimmt, welche durch und durch mit ftoifchen und platonifchen Elementen durch⸗ tränft iſt, aber eben deshalb auch das nicht mehr zureichende Dar⸗ ſtellungsmittel der Hebräifhen Sprache beifeite Tegt und griechiſch redet, fo lefe man das Bud) der Weisheit. Der Gegenfag nicht bloß der Sprache, aud nicht bloß einzelner polemifcher Aus⸗ führungen, fondern der ganzen Gedankenatmofphäre zum Koheleth ift eim durdgreifender und für das vorftehend erörterte Problem höchſt inftruftio.

Wenn Stellen, wie die legtangeführte (7, 16), die Annahme epiturätfher Elemente im Koheleth offen laſſen, fo müchte überhaupt gefagt werden fönnen, dag die in diefer Richtung von Tyler und Plumptre beigebrachten Berührungspunfte der Vermeh⸗ rung fähig find. Die Empfehlung nicht bloß der Gemütsruße als der Höchften Tugend, fondern auch der Einfiht als des höchſten Gutes, der Preis der Freundſchaft u. ä. find Elemente, welche Rohelet, wennſchon nicht mit epiluräifchen Formeln ausgedrüct, fo doch mit diefer Philofophte gemeinfam Hat. Und merkwürdig

ſtimmt zu ber formalen Charakteriftif dieſes Syftems, daß es von 50*

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feinem Stifter her unter allen Philofophieen des klaſſiſchen Alter- tums am meiften dogmatifchen Charakter aufzeigt, bie Eigenheit unferes Autors, feine Lieblingsſentenzen unermüdlih nnd mit ge- ringem Wandel der Formulierung immer wieder einzufchärfen. Und doc, ein Einfluß des Epifurätsmus als philoſophiſcher Schule auf unfer Buch wird ebenfalls nicht anzuerkennen fein. Die ſpezifiſchen Schullehren, die ja gerade bei Epikur in recht fcharfen Umtriffen entgegentreten, fehlen famt und fonbers; ſowohl der Atomismus, als aud) die Leugnung des Geiftes, ald aud die Lehre von der Vielheit der Welten, nicht zu reben von den polye theiftifchen Arabesfen des Syſtems. Iſt beim Epikur alles darauf angelegt, ein Hereinmwirken jenfeitiger Mächte ins Weltleben aus- zufchliegen und dadurch, wie er meint, jeglichen Grund der Furcht vom Menfchengemüt hinwegzunehmen, fo geht Koheleth überall dar- auf Hinaus, alles in der Welt als Werk Gottes aufzuweifen; und zwar ein Werk, das auch da, wo es am unverftänblichften und rätfelhafteften erfcheint, gerade mit dieſer Nätfelhaftigfeit den Zwed verfolgt, Furcht vor Gott zu pflanzen. Jeder aufmerkſame Lefer des Buche wird dem Urteil zuftimmen, daß, abgefehen etwa dom Evangelium Johannis, fein Buch in ber ganzen heiligen Schrift die abfolute Abhängigkeit des Menſchen von Gott fo ener- gif allenthafben zum Eindruck bringt, als Koheleth; und für das Gefühl diefer Abhängigkeit Hat er feinen andern Namen, als ben dom Alten Teftament überall gebrauchten, von Epikur aufs äußerfte perhorrescierten der Furcht (3, 14; 5, 6; 7, 18). Zieht der Epituräismus ous dem Mangel der Wahrnehmung einer gerechten Ordnung im Weltergehn den Schluß, dag überhaupt fein Walten ſolch Höherer Ordnung vorhanden fei, fo Koheleth bei gleichem Ausgangspunkt den entgegengefeiten, daß zwar alles, was Gott thut, ſchön gethan fei zu feiner Zeit, daß aber Gott dem Menſchen die Erfenntnis feiner Wege fchlechthin verhüllt Habe (3, 11; 8,7. 17), freifih nicht, ohne ihm durch die ins Herz gelegte Ewigkeit die rätfelhafte Mühe des Suchens nad) jener Erkenntnis mit in die Welt gegeben zu haben (3, 10. 11a; 1, 13). Ich übergehe Einzelmomente, wie dieſes, daß zu der bedeutenden Rolle, welche den Frauen als Weisheitsfüngerinnen gerade in den erften

Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? 77B

Stadien des Epikuräismns zugefallen iſt i), der Effenismus in 7, 28 übel harmoniert. Nur auf eine weſentliche Discrepanz der ethiſchen Mazimen fei noch Hingemwiefen. Wie hoch unfer Autor das Glüc der Gemütsruhe fchäge, fo fteht doch, was er im Auge hat, fehr weit ab von dem quietiftifchen Begriff diefer Gemitsruhe bei Epikur. Überall ift das Zugewiefene, daran ber Menſch ſich genügen laſſen ſoll, nicht bloß Genuß, fondern auch Arbeit (3, 22; 5, 17f.; 8, 15; 10, 18). Unter den marfigften Betonungen der Atioitätspflicht im Alten Teſtament wird man die des Koheleth nicht mifjen mögen: „Alles, was dir vor die Hand kommt, thue mit deiner Kraft!" „Säe deine Saat des Morgens, und laß des Abends deine Hand nicht raften!“ (9, 10; 11, 6.) Wenn aber Blumptre (©. 46) meint, in Kap. 12 den Beweis einer ana⸗ tomiſchen Gelehrſamkeit zu finden, die der Verfafjer nur bei jenen Seftionen gefammelt haben könne, welche die Epikuräer bei ihren mediziniſch⸗ naturwifjenfchaftlihen Studien in Alexandrien vor⸗ nahmen, fo ift doch wohl einerfeits auf die Thatſache hinzumeifen, daß die griechiſche Medizin in Ägypten überhaupt nichts Neues ger ſchaffen Hat, fondern lediglih in ein uraltes Erbe eingetreten ift; anderfeit8 darauf, daß der, Inhalt von Kap. 12 überall nicht auf anatomifche Gelehrfamteit, fondern auf die ſcharfe Naturbeobachtung begründet ift, welche dem Altertum, auch dem hebrätfchen, auch fonft nicht fremd ift. Man vergleihe die Opfergefege im Pentateuch und Stellen wie Hiob 10, 10f.; Gen. 32, 26. 33 u. a.

Nicht als Ausflug einer Schulphilofophie, fondern als ein Bud) praltifcher Lebensweisheit will da8 Predigerbuch begriffen fein. Es tritt aus dem Grundcharalter der hebräifhen Chokhmalitteratur nicht Heraus. Mag man diefe mit dem Namen einer altgebräifchen Philoſophie dem kulturgeſchichtlichen Verſtändnis nahe zu bringen fuchen, fo wird man fi) doc immer vergegenwärtigen müffen, da der altgebräifche Geift durch feine vefigidfe Grundpofition von ger wiffen Gebieten der Philoſophie im ftrengen und umfaffenden Sinn des Wortes fo gut wie abgejchnitten ift. Die Probleme der Er» tenntnistheorie wie der Metaphyſik find für ihn faum vorhanden;

1) Bol. Zeller, Philofophie der Griechen (8. Aufl.) II, 1. ©. 462.

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er hat eine erhabene Gotteslehre und vermöge derſelben eine Naturs anſchauung, der an Lebendigkeit, Einheitlichkeit und Tiefe feine andere des Altertumß gleich kommt: aber er Hat feine philoſophiſche Theo» logie und feine philofophifche Phyſil. Nur die Ethik ift ihm zum pofitiven Anbau übrig geblieben, und ihre Probleme, auch die letzten, die Frage um das Böfe und um das Übel, die Frage nach der Vereinbarkeit der menſchlichen Geſchicke mit der göttlichen Ger rechtigleit, Kurz die Probfeme der Theodicee find feine ſpezifiſche Domäne. Es iſt ein Zeichen nachlaſſender Kraft des eigentümlich hebräifchen Philofophierens, wenn die Frage der Theodicee, welche Hiob in ihre Abgründe verfolgt, im Koheleth zwar wieder und wieder angefaßt und umbhergewälzt wird, aber doch nur um als ein büftere® non liquet beifeite gelegt zu werben; aber ber Charakter der älteren Chofhmafchriften, nicht ſchulmäßige fondern Lebensphilo- fophie zu fein, tritt durch biefen Verzicht im Koheleth nur um fo ſchärfer hervor. Eben darum wird aud Plumptres Verfuh, den ſchulmäßigen Stepticismus des fpäteren Hellenentums an ber Entftehung des Buchs mitbeteiligt zu denken (S. 32. 49. 137), ebenfo wenig für durdführbar gehalten werden können, als die Löfung der Rätfel des Buchs durch ftoifche und epikuräiſche Philo- ſophumena. Die Schulfrage des Stepticismus, ob wir überhaupt erkennen können, egiftiert für Koheleth nicht; die Unterfcheidung, welche die moderne Erfenntnistheorie zwifchen dem Ding an fi und der Erſcheinung macht, ift ihm aud in der Geftalt fremd, mit welcher fie bereits bei dem Pyrrhoniker Timo entgegentritt. (TO El örı dor) yAvrd od lin, To d’ ön yalvsras önoAoya, Diog. Laert. IX, 105.) Daß die finnliche Wahrnehmung die indiefutable Quelle ficherer Erfahrung und Kenntnis, fteht ihm ebenfo feft wie dem Ariftoteles; und nur dies, daß wir den Zu- fammenhang der Dinge in der göttlichen Weltordnung durchfchauen können, leugnet er. Der Gegenftand feiner Skepſis ift nicht for wohl das menſchliche Grfenntnisvermögen als ſolches, als viel mehr da8 Ausreichen besjelben für überweltliche Dinge.

Wie Nenan ?) gegen Grüß recht hat, die von legterem im DE. Renan, L’eceltsiaste, traduit de P’höbreu arec une 6tude sur Page et le caractöre du livre. Paris 1882,

Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? 775

da8 Bud) Hineingetragenen Obfeönitäten als ein Unrecht gegen den Berfaffer abzulehnen (S. 72), fo wird man ihm gegenüber von den Engländern nicht unrecht geben können, wenn feine Behandlung des Buchs den Geſichtspunkt der Schulphilofophie einfach beifeite biegen Täßt. Uber dies anerfennend, erwächſt der Betrachtung des Buchs gerade auch im vorliegenden Zufammenhang um fo mehr die Frage, ob der Schlüffel zum Verftändnis, den Renan feiners ſeits gefunden zu Haben meint, die Thür zu einer richtigen Ges ſamtauffaſſung erſchließt. Ihm ift das Buch eine „delicibſe Bhantafie* ; das Selbftbefenntnis nicht eines Syſtematikers oder Eiektiters, fondern eines durchgebildeten praftifchen Skeptikers; durchgebildet in dem Grade, daß er darauf Verzicht leiſtet, irgend» etwas, was ihm Überzengungsfacge wäre, geltend zu machen. So fei denn das Buch das charmanteſte, ja das einzige liebenswürdige Bud) des Alten Teftaments, allein unter allen unbehelligt von dem Zufunftsbürftigen, Aftionsfrohen des prophetif—hen Geiftes, der überall fonft im Alten Teftaments den Leer beunruhigt. Diefer Geiſt des prophetifcden Optimismus, der immer noch an mögliche Weltverbefferung glaubt, immer noch auf ein Ganzes Binarbeitet und einen Wert des Einzelnen für das Ganze prätendiert, liegt dem Koheleth fern: er würde das behagliche Genußleben, das fih mit feinem Peffimismus aufs befte verträgt, empfindlich ftören. Nicht einmal Atheift ift der Verfaffer; um die Konfequenz des Atheis⸗ mus zu ziehen, würde eine gewiſſe Anfpannung intereffierten Denkens, ein Wille zum Kampf mit Vorurteilen aufzubieten fein (S. 19. 87), den aufzuwenden die Mühe nicht lohnt, Denn vorab ift alles Echauffierende abzulehnen; weil Erfahrung den Verfaſſer gelehrt Hat, daß nichts in der Welt des Echauffements wert ift. So ift er zu jenem feinften, für ihn felber und für die andern behaglichften Sfepticismus der peffimiftifchen, aber ges bildeten Blaſiertheit gelangt, welche fih im die Lage fegt, alle Freuden des Lebens mit völligftem Behagen auszuſchlürfen, indem fie alle für eitel erflärt (S. 92). Wolle man das Buch voll verftehen, den Verfaffer ſich richtig vorftellen, fo dürfe man den Typus desfelben nirgend ander ſuchen, als in den feingebildeten und Liebenswürdigen BVörfenfürften der gleichen Nationalität, wie

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fie ſeit fünfzig Jahren eine wohlbelannte Erſcheinumg im high-life der europäifchen Nefidenzen geworden find, ein Charaltertypus, mit deſſen plaftifcher Ausmalung Renan feine eleganten Aus- führungen elegant abſchließt.

Wird von der mnummunbenen Anerfenntnis Renans, daß Koheleth nicht Atheift ift (ogf. namentlih S. 20), Akt zu nehmen fein, fo wird diefelbe doc im Widerfprud mit ihm dahin ausge⸗ dehnt werden müffen, daß, was Koheleth vom Atheismus zurüd- Hält, nicht fatte Bequemlichkeit iſt es fehlt dem Buche keineswegs an fehr energifchen Uccenten fittliher Polemik (3, 16; 4, 1; 5, 3ff. u. ſ. f.) —, fondern ein kräftiger Thelsmus. Das Bud ift von den Pfeilern einer Überzeugung getragen, die an monotheiftifcher Präcifion den älteren Schriften des Alten Teftamentes nichts nach« giebt, und deren Stihmworte vom Verfafjer mit derfelben Dringlich- keit und Unermrüblichfeit eingefchärft werden, wie nur immer feine Säge von der Eitelkeit der Dinge und ber Vernunft in der Lebensfreude. Gewiß, dieſer Theismus entbehrt des prophetifchen Schwungs ; er entbehrt Überdem der Innigkeit einer religidfen Selbft- beziehung zu Gott in der Welt. Koheleth ftellt eine Ebbe des religiöfen Bemußtfeins dar, bei der fich dasfelbe im fein letztes Bett zurückgezogen Hat, und welde es wohl begreiflich macht, mit welcher Wucht im weiteren Verlauf erft die maccabäifchen Im⸗ pulfe, dann die platonifierende Weisheitslchre, ſchließlich das Ehriften- tum in die verlafjenen Watten einftrömte. Aber Ebbe ift noch nicht Verfiegen. Man kann nicht fagen, es fei eine Stepfis, bie mar aus genußfüchtiger Schen vor Echauffement das letzte Wort des Atheismus unausgefprochen Taffe, wenn doch unfer Buch allenthalben ſchlechthin alle wirkenden Urſachen in der Welt in das eine Agens der Gottheit zufammenfaßt; wenn es bie Freude und Mühfal des Lebens und jeglichen Erfolg in gleicher Weife' als Gabe Gottes bezeichnet; wenn e8, wie wir vorhin fahen, felbft die Nätfel und das Ungenügende des Lebens auf das Werk, ja auf Abficht Gottes zurücführt. Man kann Peſſimismus, d. i. eine Weltanficht, welche fi) auf der Grundpofition von der Wertlofig« teit bes Lebens aufbaut, nicht als den Charakter einer Schrift dee finieren, welche innerhalb des Lebens die Arbeit, die Freude an

Sind im Buche Koheleth auferhebrätfcge Einflüffe anzuertennen? 777

derfelben, die Einficht, die Freude am Genuß und an der Gemein- ſchaft, den Befig der Möglichkeit zum Wohlthun, die Staatsordnung als Güter, fei es immerhin als vergängliche Güter wertet; welche als fefte Bafis den Kanon hinftellt: alles, was Gott thut, ift fhön gethan zu feiner Zeit (3, 11); welde dem Gefomtinhalt des Lebens feine fpezififche Wertung dadurch verleiht, daß ein Gericht am Ende über diefen Wert entfcheibet.

Man fragt fih, wie kann diefen ftarfen und das ganze Bud durchziehenden Pofitionen gegenüber Renan feine Auffaffung bes haupten; ja wie ift er bazu gekommen? Der Schlüffel Tiegt in der merkwürdigen inneren Dialeltit des Buchs. Jene Bofitionen ſtehen dem Verfaſſer feft wie Granitfelfen; aber der brandende Zweifel der Empirie, dem er in der graufamen Aufrigtigfeit Hiobs das volle Wort giebt, nagt unterweilen fo tief hinein, daß durch optische Tauſchung fie felber als ſchwankend erfcheinen können, während doch nur die Luft um fie her zittert. Bisweilen trägt jene immanente Diafektit den Charakter eines ergögenden Gedanken⸗ fpiels, fo daß die mittlere Wahrheit, die der Verfafer will, von felöft aus den fich ergänzenden und bejchränfenden Gegenſätzen her⸗ austritt (vgl. 3. B. 4, 4—6); bisweilen aber, und gerade in Haupte punften ftogen die Gegenfäge mit harter und unvermittelter Schärfe aufeinander (8, 11—13), und auch wo fie auseinander gerückt find, werden fie durch die räumliche Diftanz nicht milder (vgl. 3. B. 12, 7 mit 3, 21; 4, 2 mit 9, 4). Es tft das Phänomen, um deſſentwillen von after&her wiederholt der undurdführbare Ver⸗ ſuch gemacht worden ift, das Bud nicht als die fei e8 im einem Zuge, ſei es zu verſchiedenen Zeiten fucceffive niedergefchriebene KRonception eines und desſelben Verfaſſers, fondern gleichſam als das Protokoll einer Disputation von mehreren aufzufaflen. Der Berfaffer ftelit ſich offen auf die Poſition des Zwieſpalts zwiſchen Glauben und Wiffen, aber nicht fo, daß ihm die Realität ſchlechter⸗ dings ins Wiffen, der Glaube dagegen in das Gebiet des Wahnes flele, fondern fo, dag ihm aus ber Unzulängfichfeit alles Wifſens die Notwendigfeit des Glaubens oder, wie er es nennt, der Gottes⸗ furcht als Grundlage nicht bloß fir eine Harmonische, fondern auch ſchon für eine erträgliche Geftaltung des Lebens folgt. So muß

778 Kleinert

denn Renan, um feine Pofition durchzuführen, ganze Partieen des Buche, zumal die, in denen der Lebensernft desfelben ſich ganz un⸗ mißverftändlich ausſpricht, als ſolche behandeln, die vom Verfaſſer nur ironisch eingeführt fein, um fie ad absurdum zu führen. Aber die deductio ad absurdum ift nicht vorhanden. Oder kann man es im Ernft für eine folche anfehen, wenn Renan, um der Ausführung 7, 2ff. den Stachel zu nehmen, zu V. 1 die Bemerkung macht: Kohelet beginne diefe Ausführung mit einem banalen Sprichwort, um ihr den Charakter der Lächerlichleit auf⸗ zubeften? Vorfichtiger und wenigftens mit mehr Bemühung gerecht zu fein verfährt da doch der deutfche Peſſimismus. Wie gern und eifrig die Schopenhauerſche Schule mit Koheleth exemplifiziert, fo Hat doch jene geſchickte Apologie diefes Peſſimismus, welche eine begeifterte Jungerin Hartmanns 1873 unter dem Pfendonym A. Taubert und unter dem Titel: „Der Beifimismus und feine Gegner" herausgegeben, ſich mit der limitierten Behauptung ber gnügt, das Stud Koh. 1,2 4, 4 könne als Peſſimiſtenkatechismus bezeichnet werden (S. 75). Allerdings auch dies nur vermittelft einer Exegefe, die fofort auch die Weisheit Salomonis, Sirach und da8 Neue Teftament für den Peſſimismus, und zwar für den Hartmannſchen, mit Beichlag belegt. Das Verfahren Renans aber, in der Hauptſache eine Nachbildung Grägihen Borgangs iſt im weſentlichen fein anderes, als die Umkehrung des von dem älteften Exegeten, Gregorins Thaumaturgus, geübten, wenn biefer nad feinem Gefühl allzu freie Stellen, wie 9, 7—9, als folde bezeichnet, wo Koheleth üble Ratſchläge eitler Menſchen einführe, um fie zu widerlegen. In beiden Fällen wird nicht Exegefe, fondern verftümmelnde Gewalt gegen den Schriftfteller geübt.

Haben wir Tyler und Plumptre gegenüber die Selbftändigkeit des Inhalts im Koheleth zu behaupten gefunden, fo wird Renan gegenüber diefer jelbftändige Inhalt als ein folder zu behaupten bleiben, der die Entwidelung der hebräiſchen Chofhma nicht auf das Gegenteil ihrer Bafis ftellt, fondern bderfelben, wennfchon in niebergehender Linie, jo doch in ftammeigener Folge ſich anfchliegt. Die Eigenart des Buchs ift, inhaltlich angefehen, nicht auf Konftituttve Einflüffe egotifcher oder Heterogener Art zurüdzuführen,

Sind im Buche Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuertennen? 779

fondern aus dem gefdichtlichen Gefamtcharakter feiner Entftehungs- zeit zu begreifen. Hat die neuefte Phafe der Exegefe des Buchs ein Necht, mit gefteigertem pſychiſchen Feingefühl den fremdartigen Hauch zu betonen, der ihr im Vergleich mit andern altteftament. lien Büchern aus dieſem entgegenwehe, fo wird dieſes Recht, foweit e8 nicht auf jene eigentümliche Zeitlage ſich gründet, viel- mehr in der befonderen Form zu fuchen fein, in welcher jener Inhalt geboten wird. Genauer in dem ganz eigenartigen Stims mungscharafter, der diefe Form bedingt, und der namentlich in den in ihrer Weife großartig dichterifhen Anfange- und Schlußabs ſchnitten des Buches, aber auch innerhalb desfelben *) immer wieder dem Lefer fich fühlbar macht. Man kann diefen Stimmungscharakter als eine Mifchung tief fhwermütiger, efegifcher Kontemplation und anafreontifcher Lebensluſt bezeichnen. Und inbetreff diefer äſthe—⸗ tiſchen Eigentümlichleit des Buchs möchte ih die Annahme einer direkten Einwirkung außerhebräifcher Impulſe und Bildungselemente auf das Werden des Buchs nicht mit gleicher Beftimmtheit ver neinen, wie bei den Lehrpofitionen de8 Bude. Nur dag dies von außen hereinwirkende Element ganz wo anders zu fuchen fein wird, als in dem philofophifchen Geiftesbewegungen der Diadochenzeit. Bereits in meinem Programm über den Prediger Salomo (1864) Habe ich zu 11, 1 beiläufig darauf Hingewiefen, daß dieſe Stelle nicht auf Serufalem als Entftehungsort hinweiſe, fondern ben Kornhandel einer Seeftadt, als ein dem Verfaffer und den erften Leſern, für welche das Buch beftimmt war, geläufiges Anfchaus ungsbild vorausfege. Deligfh (Komm., S. 223) Hat von dieſer Bemerkung Notiz genommen, ift aber bei der herfömmlichen und Herrfchenden Anfiht von der Abfaffung des Buches im 5. Sande ftehen geblieben. Aber jene Suftanz fteht nicht allein. Man wird die Entftehungsftätte des Buches doch wohl am natürlichften an dem Orte zu ſuchen haben, wo die früheften Spuren einer

3) Der Charakter ift ein durchgängiger, und baher bie Abſchneidung ein- zelner Stüde, wie fie}. ®. von €. Taylor (The dirge of Koheleth, 1874) inbezug auf Kap. 12 vorgenommen ift, dem Verſtändnis des Ganzen nicht forderlich.

70 Kleinert

eingreifenden Wirkung desfelben mit Sicherheit wahrzunehmen find. Diefer Ort ift Aerandrien, das ermeift das Buch der Weisheit (ogl. Deligfh, S. 219). Dahin weifen neben dem Obigen auch manche andere Zeichen im Innern des Buches. Zwar auf die litterarkritiſche Verwertung der geſchichtlichen Eremplifitationen, die der Verfaſſer liebt, wird niemand einzugehn geneigt fein, ber einerſeits den tppifchen Charakter diefer Erfahrungebeifpiele, ander» feits die verfchiedenartigen Beziehungen ins Auge gefaßt Hat, welche ihnen in der Geſchichte der Exegeſe gegeben worben find. Die redende Weisheit, nachdem fie mit Kap. 2, 23 aus ihrer erften Inkarnation in Salomo herausgetreten, nimmt ihren Illu⸗ ftrationsftoff aus den Yahrhunderten, wie fie ihn findet. Aber daß einer, der in ihrem Namen in Jeruſalem fchrieb, es nötig gefunden haben follte (1, 12), zu bemerken, daß der König über Israel „in Jeruſalem“ refidiert Habe, ift pfychofogifch wenig wahrſcheinlich. Um fo wahrſcheinlicher dagegen, daß die Exem⸗ plififation vom Meere (1, 7) nicht im Gebirgslande, fondern an der Seekuſte Toncipiert ift; dag die Medeweife 12, 5, das Grab als ein ewiges Haus zu bezeichnen, da gefehrieben ift, wo fie nationale Sitte war, in Äghpten. gl. Diodorus, Sic. I, 51. Und vom entſcheidendſten Gewicht erfcheint der Umftand, daß das Buch die unmittelbare Nähe eines Königshofes vorausfegt (8, 2—5; 10, 4—7. 16—20; 5, 8), der dod in der Periode feiner Ab— faffung in Jeruſalem nicht vrefidiert Hat. Diefen Inſtanzen gegenüber kann fi bie herfümmliche Anficht Über den Abfafjungs- ort ein bereits von Luther in Frage geftelltes Reſiduum der älteren Annahme falomonifher Abfafjung mur auf die eine Stelle 4, 17 berufen und thut es auch. Das dort genamte Gotteshaus, der dort erwähnte Opferkultus weiſe mit Notwendig- keit auf den Tempel und das Tempelritual zu Serufalem. Aber in diefem Argument läuft ein Zirkel mit unter. Denn eben erft unter ber Borausfegung, daß das Buch in Jeruſalem gefchrieben, ift eine überwiegende Wahrjcheinlichfeit vorhanden, dag in jener Stelle das Gotteshaus vom Tempel und das Opfer der Narren vom heiligen Ritual zu verftehen fei. An fih und unbefangen betrachtet, wird man fagen müffen, daß ein Haus, in welches man

Sind im Bude Koheleth außerhebräiſche Einflüffe anzuerkennen? TEL

geht, um zu hören, viel fiherer von einer Synagoge (vgl. Apg. 15, 21), al® vom Tempel zu verftehen fein wird; und daß bei den opfernden Thoren, welche „Unwifjende find zum Böfesthun“, d. 5. alfo folchen, denen ihre Unwiffenheit zum Sündigen Anlaß giebt, der Gedanke an bigotte Heiden (vgl. Jeſ. 45, 20; 44, 18) mindeftens ebenfo nahe liegt, wie der an fromme Israeliten. Unter der Annahme alerandrinifcher Abfaffung aber gewinnt ein eigentümliches Moment ber ügyptifchen Sittengeſchichte Ber deutung für die Würdigung des Buches. Herodot erzählt IL, 78 bon der ägyptifchen Sitte, bei Gaftmählern unter Herumreihung eines Totenbildes zum Genuß des vergänglichen Lebens aufzu« fordern. Es find neuerdings einige zum Teil mehrfach erhaftene, alfo ihrer Zeit vielverbreitete Lieder aufgefunden und aus den altägyptifchen Texten überfegt worden, welche diefe Sitte, fofern fie vorwiegend auf Gaftmähler bei Totenfeiern zu beziehen fein wird, anſchaulich illuſtrieren. In dem Harfnerlied aus dem Grabe des Nfr —htp zu “Abdelgurna Heißt e8 nad; der Überjegung von 8. Stern (Records of the past, vol. VI, p. 129, 3. 3—8. 10—16): „Menfchen gehn vorliber feit der Zeit der Sonne, und die Jüngeren treten an ihre Stelle. Gleichwie Ra jeden Morgen aufgeht und Tum (die Abendfonne) am Horizont niebergeht: fo * zeugen Männer, und Weiber gebären. Jede Nüfter atmet einmal das fanfte Wehen des Morgens; aber alles, was vom Weibe ge- boren, geht hinunter an feinen Ort. Laß Wohlgeruh und Salben vor dein Atmen ftellen, Gewinde von Lotus fein am Arm und Bruft deiner Schwefter, die in deinem Herzen wohnt, figend an deiner Seite. Laß Gefang und Saitenfpiel vor deinem An- geſicht fein und wirf Hinter dich alle böfen Sorgen. Laß dein Gemüt fröhlich fein, ehe denn der Tag der Wanderung kommt, da wir nahen zum Lande bes Schweigens.“ Ähnliche Klänge ver- binden fi zu dem Liebe, deſſen Urheberfchaft der Papyrus Harris, der es mitteilt, dem Könige Antef (XI. Dynaftie) zueignet; und deſſen Überfegung Goodwin in den „Records of the past“ IV, 117. publiziert Hat. Man kann, wenn man mit einer Tebhaften Zmpreffion von Stellen wie Koh. 1, 2—11; 5, 17—19; 7, 2—4; 9, 7—10; 11, 9—12, 6 zur Lefung dieſer Lieder

782 Schmidt

fchreitet, fi dem Eindrud ſchwerlich verſchließen, dag, wenn irgend woher der Verfaffer unferes Buchs einen Impuls zu der eigen artigen Darftellungsweife empfangen hat, im die er feine Lebens weisheit eingefaßt und feinen Zeitgenoffen dargeboten, diefer Impuls am eheften in jenen altägyptifchen Feſtmahlgeſüngen zu fuchen fein wird. Und ob unbewußt oder bewußt, ein merkwürdiger Nad- Hang diefer Entftehung de6 Buchs würde darin zu finden fein, daß die Synagoge es als Leſeſchrift grade der feftfichften unter ihren Feiern, dem Laubhüttenfeft, zugemiefen hat.

2.

Die Bedentung der Talente in Der Parabel Matth. 25, 14-30.

Bon

Dr. 8. Schmidt

in Cürtom.

Es Hat einen im Alten wie im Neuen Teftamente gleich wohl verbürgten Sinn, alles, was uns im Unterſchiede von amderen eigentümlich ift an Leiblichem und geiftigen Befig, unter den Be griff anvertrauten, von Gott dem Einzelnen eigens anvertrauten Gutes zu ftellen.

Nicht minder ſchriftgemäß ift der noch erweiterte Gedanke, alle Güter überhaupt, ob fie und mit anderen gemein oder im Linter- ſchiede von ihnen eigen find, generelle und individuelle, ala Gaben unſeres Gottes anzufehen, die wir in feinem Auftrag zu vermalten haben und worüber wir dem Geber zur Rechenſchaft verpflichtet find.

Wollte man die Talente Matth. 25, 15 in diefem allgemeinften Sinne faffen und mit Gran („Bibelwerk für die Gemeine‘, 1. 3b. [1877), ©. 140) den Gedanken in dem Gleichnis au% gefprochen finden, daß nach Gottes Anordnung alle göttfiden

Die Bedeutung ber Talente in der Parabel ıc. 788

Gaben in der Menfchheit zugleich Aufgaben find, und zwar gleich« viel Geld und Gut oder Kräfte des Geiſtes: fo würde dasfelbe weder der heilfamften Moral noch der wirkfamften fittlich-religiöfen Impulſe entraten; aber zu feinem urfprünglichen, tertgemäßen Rechte kame es nicht.

Man mag ſich darauf berufen, daB es nicht die Weiſe des Gleichniſſes fei, in allen einzelnen Zügen betont fein zu wollen und den parabolifchen Vergleich auf mehr als eine oder allenfalls einige Hauptmomente auszudehnen. Dennoch wird man dieſes Hauptmoment immer nur aus dem Ganzen analyfieren und ger wirmen können; und für diefen Prozeß des Auffindens find die einzelnen Züge unzweifelhaft von Wert und Bedeutung.

Die ganze generelle und individuelle, leibliche und geiftige Meitgift, mit welcher wir ins Leben treten, unter den Talenten zu verftehen, ift deshalb durch das Gleichnis felber ausgefchloffen, weil jene Knechte diefe allgemeine und befondere Ausrüftung be reits befaßen, ehe der vorübergehend ſcheidende ArFpwnos anodn- uov bie Talente ihnen anvertraute.

Die von B. Weiß vertretene und im feinem „Matthäus evangelium und feine Lukasparallelen“ (Halle 1876) durchgeführte Anfiht, dag das Matthäusevangelium aus Markus und der von diefem ſchon benugten älteſten apoftolifchen Quelle zufammengears beitet fei (Vorwort, ©. ıv), beftimmt auch feine Stellung zu unferer Parabel. Nach ihm Hat fie mit der Wachſamkeitspflicht urfprünglic nichts zu thun. Nur der Evangelift knupft fie ber gründend an ®. 13 an. Auch das Verreifen des Herrn im Gleichnis giebt nur die Situation für die Erprobung der Knechte her. Die Beziehung auf die Wiederfunft Jeſu Tag der Parabel urfprünglih fern. Ebenfo find V. 21b „eiseide ... oov“ und V. 23b, fowie V. 30 Zufäge, welche auf das Eonto des Evangeliften kommen. Dagegen gehört V. 29 fehon der Quelle an. Jeſus deutet die Parabel durch diefe Gnome, die Mark. 4, 25 ihre urfprüngliche Stelle hatte und dort gar nichts anderes befagt, als baß es ganz allgemein ?) von dem Ertrage, den man

1) Keil ©. 496 macht dagegen geltend, daf auch vor Mark. 4, 25 von

784 Schmidt

aus der Anwendung der verliehenen Gaben erzielt hat, abhängt, ob man mehr empfangen, oder auch die befeffene Gabe verlieren fol (S. 534). In der apoftolifchen Quelle folgte unfer Gleich⸗ nis auf dasjenige vom ungerechten Haushalter (Luk. 16, 1—9), und beide bildeten ein Parabelpaar, von welchem das erfte Glied die rechte Klugheit, das zweite die rechte Treue in der Anwendung des irdiſchen Gutes zeigt, „To daß auch Hierdurch fich beftätigt“, ſagt Weiß ©. 536, „wie unfer Gleichnis nicht auf geiftliche Güter und Gaben, fondern auf die anvertrauten irdifchen Güter [und Gaben] ſich bezieht“.

Zu demfelben exegetifhen Facit könnte man aud noch auf einem anderen Wege fommen, ohne die genannte kritiſche Texte analyfe zugleiy mit in den Kauf nehmen zu müſſen. Die zur Vergleidung gewählten Begriffe des Tularrov üpyugror, rganebi- Ta, Töxog und der aus demſelben Borftellungsfreife entnommenen Verba, nicht nur des xepdeiv V. 22, fondern auch des mgogpäges und felbft des nogadıdovra V. 20 legen den Gedanken nahe, daß es ſich um äußerlich greifbare Gaben handele, und diefer Umftand tönnte uns beftimmen, an irdifche Güter zu denfen. Das müßten entweder folde fein, die den betreffenden Knechten durch Geburt eigen, oder folhe, die ihnen fpäter irgendwie zugefallen wären. Zene können es nicht fein, denn fie würden mit in die Kategorie deffen gehören, was fie fehon Hatten, ehe ihr Herr von ihnen zog. Aber auch dieſe ſchließen fi von felbft von der Betrachtung aus, da es Güter von derfelben Gattung und demfelben Werte find, alfo bei diefer Annahme auch irdiſche Güter fein müßten, über deren Gewinn der erfte und ber zweite Knecht das lobende Zeugnis erhalten. Nun ift es zwar gewiß ein unberechtigter Vor⸗ wurf, der gelegentlich laut geworden, daß das Evangelium ben materiellen Erwerbsſinn ächte und dadurch lahm lege. Sondern diefer Sinn ift ohnehin fo verbreitet, daß er der Ermunterung

geiſtlichen Gaben und von ber Berufstätigkeit die Rede fei, uud allerdings Handelt es fi dort um die Lehrthätigkeit, fur bie die Wahrheit der Gnome in Anſpruch genommen wird; aber fie ſelbſt kommt gleihwohl in ſprichwört⸗ licher Allgemeinheit zum Ausdrud.

Die Bebeutung ber Talente in der Parabel zc. 7

nicht noch bedarf und das Neue Teftament alle Veranlaſſung hat, vor der Gefahr zu warnen, ihm über das zuläffige Maß hinaus nachzugeben und auch die idealen Intereſſen in feinen Dienft oder ihm nachzuftellen *).

Man Hat daher nicht am irdiſche, auch nicht ala „bienend bei gerechnete“, wie Stier („Die Reden des Herrn Jeſu“ [Barmen 1852] II, 526) will, fondern an geiftige &aben zu deuken. Darüber herrſcht unter den übrigen Auslegern fein Diffenfus, Aber die eigentliche Schwierigleit beginnt nun erft innerhalb diefer anerkannten Grenzen. Bon melden geiftigen Gaben fann die Rede fein?

Ob man mit Bengel („Gnomon n. t.“ [Berlin, Schla⸗ wig 1860], p. 95) den Begriff fo weit wie möglich nimmt und nit nur dona spiritualia, fondern auch die Gunſt des Augen- blicks und der Umftände zu ihrer Ausübung („facultates tem- porales, tempus ipsum et omnis denique generis occasio- nes“) als Gegesftand der Augteilung anfieht, ober mit Ols⸗ Haufen („Bibl. Kommentar“ I [1833], ©. 926) von „Geiſtes · gaben“, „Geiſteskräften Eprifti* ohne nähere Spezifizierung ſpricht; ob man mit Lange („Das Evangelium nach Matthäus“, Biele feld 1861, ©. 363) fagt: „Ehriftus vertraut den Chriſten dies⸗ feits den Schag feines Geifteslebene an“ und bei den Talenten an „individuelle Gnadengaben“, mit Godet („Kommentar zu dem Evangelium des Lukas“, deutih von Wunderlich, Hannover 1872) an xuplouora (&. 387) oder ſelbſt mit Meyer („Rritiichexeger tiſches Handbuch über das Evangelium des Matthäus“, Göttingen 1876, ©. 513) an „Dienftgaben* denkt: immer gerät man in Berlegenheit der Thatſache gegenüber, daß Gaben gleiher Gat- tung und gleihen Wertes damit gewonnen werben.

Geradezu tertwidrig iſt es, wenn Stier a. a. DO. behauptet, bie genannten „beim Hingang ben Seinigen erworbenen und zurüd«

3) Das Gleichnis vom ungerechten Haushalter zeigt nicht bie Klugheit in dee Anwendung bes irdiſchen Gutes überhaupt, fondern Handelt ausſchließlich vom ungerecht erworbenen Gut, und das ift die für gleiche Fälle empfohlene Augheit des Haushafters, daß er den Gefchäbigten noch eilends reflituiert, was er ihnen ungerecht entzogen hat, und dadurch ihre Herzen vetöhnt und gewinnt.

Theol. Stud. Sahrg. 1888.

186 Sämidt

gelaffenen Geiftesgaben und Gnadengüter“ feien noch nicht „nasre 76 Öndpporsa“, fondern „deren geringe Erftlinge“. Der Text enthält auch nicht den geringften Anhalt für biefe Befchränfung; der Wortlaut B. 14 „xul napkduxer avroig Ta Undgyorra av- ov“ ſchließt fie vielmehr augenfheinlih aus.

Allerdings giebt es Güter, die man auch mit auf die Reiſe nimmt, die und begleiten, aud wenn wir unfer Heimweſen verlaffen; es find diejenigen, welche uns durch innerliche Aneignung, fo zu fagen zu Momenten unferes eigenen Selbſts, unſeres So- feins geworden find. Sie, mit denen auch der ſcheidende Erlöfer zu feinem Vater zurüdtgefehrt ift, laſſen ſich nicht zurücklaſſen und anderen zur Obhut anvertrauen. Auf fie kann alfo nicht Bezug genommen werden, und hat aud Stier nit Bezug genommen, wenn er bie in Rede ftehende Hinterlaffenfchaft einſchränkt.

Dagegen ift e8 ganz richtig, wenn Goebel („Die Parabeln Jeſu methodifh ausgelegt“, III. Abtlg. [Gotha, Friedr. Andr. Verthes, 1880], ©. 164) fagt: „7& indpxorra aöros ift nicht notwendig das gefamte Vermögen, weldes der Hausherr irgend wo und irgendwie befaß, fondern beſchränkt fich hier durch den Kontext auf dasjenige Vermögen, weldes er an feinem bis— herigen Wohnort in feinem Befig und unter feiner perfün« lien Verwaltung gehabt hat.“

Es ift die Vorftellung eines Anweſens, das der arIgwmos änodmuv vorübergehend verläßt, eines Befiges, den er nicht mit. nehmen kann, den er für die Dauer feiner Abweſenheit der Obhut anderer, die zurückbleiben, anvertrauen muß, eines Befiges, deſſen Natur e8 mit fi bringt, daß er perſönlich gepflegt und überwacht werben muß. Das Befigtum „za Unupgorre adrou“, das ber Herr ſcheidend verläßt, charalteriſiert ſich danach 1) als ein dies⸗ feitiges, 2) als ein ſolches, welches, fo nahe es feinem Herzen fteht, was er durch feine Fürforge bekundet, fein eigenes von ihm unterfchiedenes Sein Hat und bewahrt und 3) als ein foldes, welches perfönficher Pflege und Überwachung bedarf. Diefes fo geartete Befigtum Binterläßt er feinen Knechten ganz, wie auch Godet a. a. O., ©. 387 ausdrüdlic anerkennt; den ganzen Be fig, den er auf Erden Hat und der bei aller Zugehörigkeit zu ihm

Die Bedentung der Talente in ber Parabel 2c. 7187

doch unterfchieden von ihm ift. Diefen verteilt er ganz, nicht in gleichen, fondern in verfchiebenen Raten unter feine Zünger. Will man nun mit den genannten Auslegern nur am allerlei Geiftes- und Gnadengaben denken, fo fteht dem, wenn man auch die In« tongruenz diefes Begriffes mit der DVorftellung eines Befigtums von relativ felbftändigem oder doch von bem Geber unterfchiedenen Sein überfehen wollte, ſchon der Umftand entgegen, daß das offenbar nicht fein ganzes Anmefen auf Erden ift, fondern daß dazu vor allem Menſchen, feine Gläubigen, gehören. Die Gemein ſchaft diefer ift das Neih, das ihm am Herzen liegt und doch feine unterfchiedene Sondereziftenz bewahrt, das Reich, das zwar nicht von der Welt ift, aber doch im der Welt wachſen und ges deihen muß, welches dazu der perfünlihen Überwahung bedarf, und weldes er darum unter die perſönliche Obhut anderer ftellen muß, wo er feinen Wandel auf Erben vorläufig abſchließt.

Was diefen Gedanken an Geiftes-Önadengaben aber noch ferner rückt, ift nicht fomwohl der von Goebel a. a. O., ©. 183 ber tonte Umftand, daß fie ja erft der erhöhete Jeſus mit der Aus» gießung des 5. Geiftes feiner Gemeinde verlichen Habe; war doch auch diefer ausdrücklich verheigen worden für die Tage, wo der Erlöfer nicht mehr wie bisher fichtbar den Seinen zur Seite ftand, fo daß die Charismen dur diefe, wenn man will verfpätete, Spende den Charakter von Gaben, bie der Gefchiedene den Jun⸗ gern für die Zeit feiner Abwefengeit anvertraut, nicht verlieren würden. Auch dem amderen Einwurf desfelben Verfaſſers, daß diefe Geiftesgaben nur etwa als eine fubjektive Ausrüftung gelten önnten, ließe ſich wohl entgegenhalten, daß ungeachtet der erfors derlichen fubjektiven Aneignung die Objektivität diefer ganz beftimmt begrenzten, gefonderten Gnadengaben nicht in Abrebe geftellt wer⸗ den Tann. Noch anfechtbarer iſt das dritte Bedenken Goebels, daß „das mit einem dunkeln Bilde erft auf Pfingften weisfagende Gleichnis den Züngern des Herrn damals noch unverſtändlich ges wefen fein wurde“, da dieſes Los ja nachweislich fo mande ans dere Äußerung, wenn nicht die meiften und die tiefften feiner Neben teilen, daß es dem Pfingftengeift noch überlaffen bleibt, ihx;

Berftändnis zu vermitteln. „„mlfiong *

788 Sämibt

Dagegen läßt fich deshalb nicht an die Charismata in unferer Barabel denen, weil es auch wieder Talente und zwar in gleicher Zahl wie die empfangenen find, die damit gewonnen werben, alfo bei diefer Annahme auch wieder Geiftes⸗Gnadengaben fein müßten, die dazu erworben wurden.

Man mag über die Natur biefer Geiftesgaben im einzelnen verfchiedener Meinung fein, aber darüber, daß es zu ihrer Natur gehört, empfangen und nicht erworben zu werben, ift ein dissen- sus ausgefchloffen. Der Begriff der nenteftamentlichen Charis⸗ mata duldet weder bie Annahme, daß fie objektiv, noch daß fie fubjettio erworben werben könnten. Es läßt ſich daher weder an⸗ nehmen, daß bie treuen Knechte die Zahl der Geiftesgaben über- Haupt vermehrten, noch daß fie fi aus ber im ganzen vorhan⸗ denen Geſamtzahl zu den ihnen etwa anvertrauten noch andere der⸗ felben durch eigene Arbeit dazu ameigneten.

Dazu kommt, daß biefe Geiftesgaben ihrer Natur nach Fähig- teiten find. Es Hatte aber jeder ber Knechte bereits feine ddl Sövamı. „Kara zw duvanır“ werben die Talente verteilt. Soll man das fo verftehen, daß die fo zu fagen natürlichen An⸗ lagen nun einen geiftfihen Inhalt, eine geiftliche Richtung er» hielten? oder, wie Meyer fi ausbrüdt S. 511: „Es ift die verfchiedene Naturanlage, welcher die verfchiedene charismatiſche Gabenverteilung entſpricht?“ Freilich ift die Begabung individua⸗ ffterend, und Bengel hat reht ©. 95: „Nemo urgetur ultra quam potest“. Aber es waren ja bereits id dovAor, die als 210: im eigenften und ausſchließlichen Dienfte des Herm bereits ftonden. Man wird danach annehmen müfien, daß ihre natitrlichen Anlagen bereits zu geiftlihen Tähigkeiten geworden waren, noch ehe fie die Undpxorso ihres Herrn erhielten. Daher fich dieſe auch nicht in weiterer Anwendung auf alle driftlihe Begabung ber ziehen Laffen, wie Meyer koncediert ©. 514.

Nimmt man endlich Hinzu, daß das Wild (mpogtveywer Ka nivıe rülayıa ide in’ avrois, ®. 20, 21) den Eindrud macht, als ob es fich auch bei den erworbenen um Güter handele, die ſich aufweiſen, gleichfam nachzählen Laffen, um Güter, melde gewiffermaßen äußerlich Tontrollierbar find; fo wird man fi des

Die Bedeutung der Talente in ber Parabel 2c. 789

Zugeftänbniffes nicht erwehren können, daß die Faſſung der Talente als Geiſtes⸗, Gnaden- oder felbft Dienftgaben nicht befriedigt. Kaum günftiger ftellen fi die Chancen, wenn Keil („Rome mentar über das Evangelium bes Matthäus“ [Leipzig, Dörffling und Sranke, 1877], S. 495) den Begriff erweitert und „die durch Gründung des Himmelreiches geftifteten Heilsgüter, nämlich die in dem Worte und den Saframenten und den feiner Gemeinde zu ihrer Erbauung verliehenen Geiftesgaben (Charismen, Eph. 4, 7. 1Ror. 12, 4—11 und Röm. 12, 6—8)“ unter den Tas Ienten verfteht, oder wenn Goebel a. a. O., ©. 184 der älteren und zulegt von Hofmann zu Luk. 19, 11 vertretenen Auslegung den Borzug giebt, wonach „das Vermögen, welches der Hausherr feinen Knechten übergiebt, einfach und ausſchließlich das Wort des Herrn ober da8 Evangelium fei, das Wort vom Reich, mit deſſen Verwaltung Jeſus, indem er felbft die Welt verläßt, feine Jünger beauftrage“. Zwar denkt Goebel den Akt der Übergabe im Gleich⸗ nis nicht als diejenige Thätigkeit, duch welche der Meifter den Glauben an das Wort in den Herzen der Sünger pflanze und fie bamit erft zu feinen Jungern mache, denn das waren fie ja ſchon (10: dowro:), fondern er hat nur „bie befondere Bevollmächtigung, durch welche er die, welche ſchon feine ihm und feinem Worte ans Bangenden Jünger waren, zu Verkundigern dieſes feines Wortes einſetzt gegenüber der Welt“, im Sinne und beruft ſich auf 1Tim. 6, 20, wo das Wort des Herrn aud in diefem Sinne 7 zaugu- Im heiße. Obwohl es nun an der angezogenen Stelle, unge achtet der für diefe Faſſung citierten Interpreten Wiefinger, van Ooſterzee und dv. Hofmann, immerhin Disputabel bleibt, ob die zagoxarasnen, die Timothens bewahren foll, das Wort des Herrn ift; obwohl es faft näher liegt, bier fomohl wie 2Xim. 1,12, wo Paulus bie Bewahrung feiner naar (uov) bis zur Barufte (dig dxeloyp zw Auegar) von dem Herrn vertrauensvoll erwartet, und er demnach das Wort desfelben Heren unmöglich damit meinen kaun, und 2Tim. 1, 14, wo Timotheus ermahnt wird, za» xalv napaxozadrem dia nveiunrog Aylov ou tvor- soörzog dr muiv zu bewahren, an dad Seelenheil, das ewige Leben zu denken: fo würde die Vorftellung des Wortes des Herrn als

790 Schmidt

einer nagadnen dennoch als eine bibliſche anſtandslos zuzugeben fein, und am allerwenigſten werden wir evangeliſche Chriſten Be» benfen tragen, in dem teuer-werten Wort, in dem feften gefchrie» benen Wort des Herrn, das da bleibet in Ewigkeit (1 Petr. 1, 25), ein uns zurückgelaſſenes unvergleichliches Gut anzuerkennen. Gleich⸗ wohl vermögen wir uns den Gedanken nicht anzueignen, dag den Züngern, welche die Kraft diefes Wortes an ihren Herzen bereits in dem Grade an ſich erfahren Hatten, daß fie dem Mittler folgten und feine !d4ı dovAo: geworden waren, eben dasſelbe Wort durch einen befonderen Akt zur Verkündigung an andere anvertraut wor« den wäre. Die Verkündigung ift nur begrifflich von der gläubigen Aneignung des Wortes Gottes zu ſcheiden; thatſächlich ift fie in irgendeiner Form die innerlich) notwendige Bethätigung diefer Ans eignung. Sie verhäft fich zu biefer nicht nur wie die Frucht zum Baume, auf dem und nur auf dem fie wächſt und wachſen Tann, fondern etwa wie das Leuchten zum Licht, von dem es ausgeht. Es ift danach eine ſchwer vollziehbare Annahme, im konkreten Leben neben und nad) ber erfahrenen Wirkſamkeit des Wortes des Herrn am eigenen Herzen nod eine gefonderte Inſtallation zur Verkün⸗ digung besfelben am andere zu ftatuieren. Oder man müßte unter ſcheiden zwiſchen dem Beruf im generelfen Sinn, wie er allen Chriſten eignet, zur Verkündigung des Wortes an andere in irgend» einer Form, und dem Beruf dazu im engeren Sinne, wie ihn der Prediger von heute ausübt. In diefem Iegteren Falle würde man allerdings die Berufung und Einfegung zur Verkündigung in ber ganz beftimmten öffentlichen Weife von ber gläubigen Aneignung des Wortes auch in concreto ſcheiden fünnen, womit aber das Gleichnis feine Adreffe auf eben dieſen ganz beftimmten einzelnen Lebensberuf befchränfen müßte: eine weitere Anwendung auf bie Epriften Überhaupt nicht zufieße; übrigens ein Ball, den der Exeget nit im Sinn zu haben ſcheint, da er von der allen Yüngern de8 Herrn befohlenen Verkündigung feines Wortes ſpricht (S. 192).

Auch will es doch nicht befriedigen, wenn Goebel die für feine Annahme erwachſende Schwierigkeit der BVerteilung und Anver- trauung dieſes Wortes in verfchtedenen Raten dadurch zu ‚heben verſucht, daß es, inſofern es ber Geſamtheit der Singer über

Die Bedeutung der Talente in der Parabel ıc. 791

tragen werde, das Wort in feiner ganzen Fülle und im feinem ganzen Reichtum fei, wie es Jeſus felbft verfündigt habe, dagegen infofern es den einzelnen Jüngern anvertraut werde, ſei es fehr verſchieden rückjichtlich feines Reichtums je nach der größeren ober geringeren Tähigkeit des Einzelnen, es im feinen Tiefen zu er⸗ faffen und in feiner Fülle zu verfünden. Es mag das Ber ftändnie und die Verkündigung verfchieden fein, je nad ber la Öüvaus; aber gottlob das von dem Herrn uns hinter laſſene Wort ift überall das gleiche, nicht nur fir die Gefamtheit, fondern für jeden einzelnen Gläubigen das volle, unverfürzte Gotteswort, deifen Eigentümlichkeit es allezeit geweſen ift, daß das Lamm darin waten und der Elefant ſchwimmen fann.

Mögen andere Güter verſchieden und zu ungleichen Teilen res partiert fein, das Wort Gottes ift voll und ganz für jeden zu haben, der es begehrt: in der Hütte wie im Palafte ift es ein und dasfelbe, ungefchmälert und unverfürzt, wo es ſich findet.

Die Faffung der Talente als das Wort des Herrn ift aber dadurch ganz unmöglich, weil ſich fein Sinn denken läßt, in dem die Erwerbung gleicher Werte feitens bes erften und des zweiten Knechtes verftanden werben Könnte. So gewiß das Wort Gottes ſchlechthin unvergleichlich ift, fo gewiß von einer Erwerbung des⸗ felben immer nur in dem Sinne einer innerlichen Aneignung des einen gegebenen geredet werden kann, fo gewiß ift diefe Jnter⸗ pretation durch den Text des Gleichniſſes felber definitiv aus⸗ geſchloſſen; ganz abgefehen davon, daß dasſelbe ebenfo unmöglich als das diesfeitige Gefamtvermögen des ſcheidenden Erlöfers be⸗ griffen werben Tann.

Wohl find die Talente Güter geiftiger Natur, aber nicht for wohl Fähigkeiten, Anlagen der Seele, fo zu fagen neuteftamentliche Talente in dem Sinne, in dem der Ausdrud in den Sprad- gebrauch übergegangen tft, Geiſtesgaben, mit denen wir wirken, ebenfo wenig das Wort Gottes, welches wir verfündigen, als viel» mehr Arbeitögebiete, in denen wir thätig fein folfen für unferen Herrn. Eipyaoaro ?v avrois B. 16, während das bei Der moftgenes und den Maffitern für Handels- und Wechſelgeſchäfte ſehr gebräuchliche Verbum gewöhnlich mit dem bloßen Dativ in-

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strum. tonſttuiert wird (vgl. Meyer a. a. O., ©. 511). Was der Mittler in einem andern Gleichnis feinen Weinberg nennt, den er an Arbeiter ausgiebt, das dürfte er Hier unter dem Bilde der Zalente meinen. Sein Weinberg ift fein Heim» und Anweſen hienieden, 7& öndeyovra adson im engeren Sinne. Ihn verteift er je nach den Wähigfeiten unter die, welche zurüdbleiben und feinem Dienft fi eigens widmen. Es ift bezeichnend, daß der Here die Parabel an feine Jünger adreffiert; was wir nicht fo verftehen, als ob fie fih etwa nur am die wende, welde es zu ihrem Sebensberuf im engeren Sinne erwählt haben, im „Wein⸗ berge“ zu arbeiten, fondern vielmehr jo, daß bamit allen Ehriften ein priefterliches Zebensziel gegeben wird (1 Petr. 2, 9). Es er» hält ein jeder Chriſt feinen größeren oder kleineren Zeil des Wein⸗ berges, d. 5. feinen Kreis an Seelen, die feiner priefterlichen Pflege überwiejen werden. Jeder Chriſt foll an feinem Plage Priefter fein, und wer es ift, wer den Meinberg feines Herru pflegt an ber Stelle, wo er ihn ihm angemwiefen; wer in dem gott gegebenen engeren oder weiteren Kreiß feines Wirkens treu dem Herrn an den Herzen dient: ber wird gerade damit und vermittelft ihrer neue Herzen ihm gewinnen und zwar naturgemäß je mehr, je größer die Zahl derer war, auf die fein Einflug möglich wurde.

Diefe Talente laſſen fi) erwerben. Diefe durch die priefter- liche Treue an ben durch unfere Lebensftellung uns überwieſenen Seelen für ben Herrn erworbenen neuen Herzen find von gleicher Gattung und von gleichem Werte, find diesjeitige Werte, find bei alter Zugehörigkeit zum Herrn doc in ihrem von ihm und an« deren unterfchiedenen Sein fo zu fagen äußerlich Eonteollierbar, und ihre Zahl wird bei übrigens gleicher Treue derjenigen ber und urſprünglich anvertrauten Seelen proportioniert fein.

Das gewählte Bild der Talente kann uns an dieſer Auffaffung um fo weniger irre machen, al® gerade dadurch der Wert, den eine Menfchenfeele vor dem Herrn Kat, zum beredteften Ausdrude kommt.

Mit diefer Faſſung ſtimmt ſchliehlich, wie alles andere im Gleichnis, and die Art der Vergeltung: nicht nur der allgemeine Sag, daß, wer fih an den wenigen ihm anvertrauten Seelen treu

Die Bedeutung bes Telente in ber Parabel zc. 788

erwiefen Hat, fich dadurch als qualifiziert zeigt, über eine größere Anzahl priefterlich zu wachen, fondern der beſtimmtere Zug in dem wenn auch nicht identiſchen, fo doch zweifelsohne analogen Gleich als Sul, 19, 12—27, daß je nad ihter Bewährung der eine über zehn, der andere über fünf Städte, affo über entſprechend größere Gemeinſchaften gefegt wird; und endlich auch die Vergeltung, die ber dritte erhält. Es wird ihm auch das eine Talent genommen, ber Heine Kreis, mit dem er Gottesfurdt in weiteren Kreifen hätte wirken follen umd auf ben er feine Mühe verwendet hat, ober vielleicht mur bie eine Seele, die ihm zur priefterlichen Pflege überwiefen war, feinem Einfluß entzogen. Ganz naturgemäß. Er hat das ihm gefchenkte Bertrauen nicht gerechtfertigt. Er Hat für feinen Heren nichts gethan. Das Ar beitsfeld muß er verlieren, wenn's nicht durch ihn zu dauernder Unfruchtbarkeit verurteilt werden fol. Die Seelen können feiner Obhut nicht ferner überlaffen bleiben, und indem er fie verliert, duch die er einen guten Einfluß hätte ausüben follen, ſchließt er fich ſelbſt aus der Gemeinſchaft derer aus, die Gottes Kuechte find und im dienen wollen. Gs bedarf dazu nicht eines eingrei⸗ fenden richterlichen Einzelaltes des Herrn, ſondern der Menſch richtet fi felbft durch die gleihfem maturnotwendige Folge feines Thuns. Was dir gegeben, ergreif es, um es gu befigen. Nor von du nie Beflg ergriffen, es ann dir mie zueigen werden. Des Menfchen Wine ift fein Gericht.

.Was Übrigens die zpamelires fein, darf man hier nicht fragen“, „die gehören ja zum Bilde des mpmyuaressodu wit Öpyigiov“, fagt Stier a. a. DO. ©. 533. Auch Godet ver- zichtet auf die Antwort. „Was verftcht Jeſus unter dem Wechsler?“ fragt er zu der Parabel bei Lukas (19, 15—27). „Etwa drifte liche Verbindungen, welchen jeder Gläubige die Mittel anvertrauen Tann, die er felbft nicht zu verwenden weiß? Es ift kaum mög« lich, einen folhen Gedanken damals ſchon voranszufegen. Es ſcheint uns, Jeſus wolle durch diefes Bild vielmehr die göttliche Allmacht barftellen, vermöge welcher wir durch das Gebet wirken Tonnen, ohne daß bie Sache des Herrn dadurch irgendeiner Gefahr ausgefeigt if. Den, der nicht gearbeitet hat, wird der Herr fragen:

79 Sämibt

„Haft du mwenigftens gebetet?“ (a. a. O., ©. 389). Dana wäre der allmächtige Gott felbft der Wechsler, dem der faule Knecht fein anvertrautes Gut wenigftens betend hätte empfehlen ſollen. Indeſſen diefe Vorftellung des Gebete vermögen wir uns weder anzueignen, noch für bibliſch anzuerfennen. Das Gebet ver- mag und hat die Verheißung, das Werk unferer Hände zu fördern und es in irgendeinem Sinn zu unferem Segen zu geftalten, aber nie es zu erfegen. Das Gebet vermag viel, wenn es ernſt⸗ lich ift; aber ernftlih kann es nicht fein, wenn es die Arbeit fliegt. Den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen; aber wer es aufrichtig meint und nimmt mit feinen Pflichten, der kann bie Anftrengung nicht ſcheuen. Der Müfftggänger wird niemals durch Gebet wieder einholen ober erfegen, was er duch Trägheit ver fäumte,

Auch Keil laßt fi nicht auf eine Deutung der Wechsler ein; fondern findet in dem ABareiv zois ronneLlraus nur das Mühelofe des Thuns ausgedrückt: „Ohne Mühe und Riſilo Hätteft du mein Gelb fo anlegen können, daß ich bei der Nüdkehr das meinige wieberbefommen konnte, adv zöxp" (a. a. O., ©. 494. 495).

Wir Lönnen nur Goebel beipflichten, wenn er (a. a. O., ©. 193) fagt: „Gewiß darf man nit, wie manche Ausleger thun, über diefe ganze Vorhaltung in ber Deutung ſtillſchweigend binweggehen; man müßte denn annehmen wollen, daß das ganze Geſpräch zwifchen dem dritten Knechte und dem Hausherrn in Wahrheit ebenfo nichtsfagend umd für bie Sache nichtsbedeutend wäre, als es ausführlich und eigentümlich ift, und das wird auch nicht beffer durch die Bemerkung, es folle dadurch nur überhaupt die Unentſchuldbarkeit der Unthätigkeit eines Dieners Chriſti au einem konkreten Beifpiele gezeigt werden“ (Meyer zu Luk. 19, 20—23).

Uber feine eigene Dentung beweift von neuem bie Unhaltbar- feit feiner Faſſung der Talente. Er meint die Schwierigkeit, welche diefe eigentümliche Vorhaltung des Hausherrn an den Kuecht der Auslegung bdarbiete, damit „dem Sinne der Worte im Zufammens hange ber Erzählung wirklich entfprechend gelöft“ zu haben, daß er darin die Verpflichtung des Kuechtes ausgefprochen findet, fich des

Die Bedeutung der Talente in der Parabel zc. 795

empfangenen Geldes, ftatt es zum Schaden des Beſitzers nutzlos zu vergraben, vielmehr überhaupt zu entledigen, und es ſolchen zu überlaffen, bie zur gewinnbringenden Verwaltung bdesfelben ſich willig finden Tiegen, fo daß dann doch der Befiger zu feinen Zinfen gelommen wäre. So entftehe auch einem Sünger, der fi zur thätigen Mitarbeit an der allen Jüngern des Gern befoh« Ienen Verkündigung “und Ausbreitung feines Wortes an feinem Teile nicht entfchliegen könne, hieraus die Verpflichtung, dann auch für feine Perfon überhaupt zurüdzutreten von dem Dienfte am Worte des Herrn, welches feinen Jüngern anvertraut ift, und dasfelbe, fofern es auch ihm anvertraut war, ſolchen zu überlaffen, welche bereit find, bamit zu arbeiten und dem Herrn bie Frucht zu ſchaffen, die er davon Haben wolle (a. a. O., ©. 192. 193). Wobei die Borausfegung zugrunde liegt, daß, wie auf dem Gebiete des irdiſch⸗ geſchaftlichen Lebens ſich allezeit Leute finden, welche willig und bereit find, eine Geldfumme, deren ſich der zuerſt ber ſtellte Verwalter entledigen wollte, an feiner Statt zu übernehmen und fie für den Befiger gewinnbringend zu verwerten, fo auch auf dem Gebiet der Arbeit im Reiche Gottes das Wort des Herrn, auch wenn fi einzelne Junger von ihm Losfagen und dem Herrn den Dienft an feinem Worte auffündigen wollten, doch alfezeit genug willige Herzen und Hände finden wird, die von ihnen vers weigerte Arbeit mit dem Worte zu thun (S. 193).

Indeſſen liegt die Inkongruenz deffen, was das Gleichnis Hat, und defien, was bier als Deutung ausgegeben wird, doch zu offen zutage, als daß man ſich bei ihr als einer „wirklich entſprechen⸗ den“ beruhigen könnte. Der allgemeine Gedanke zwar iſt ja uns zweifelhaft richtig, daß ein freimilliger Rücktritt von irgendeiner Thätigkeit, die wir auszuüben hätten, aber nicht ausüben, unter Umftänden noch mehr im allgemeinen Intereſſe tft, ober richtiger noch weniger der zu vertretenden Sache zum Schaden gereicht, als wenn wir den fraglichen Beruf nominell behalten und ihm doc nicht dienen. Man könnte danach auch zugeben, daß es ber Sache des Herrn förderlicher ober beffer weniger nachteilig fein möchte, wenn ein Diener am Worte lieber fein Amt aufgäbe, als es uns treu zu verwalten. Aber doch nur infofern, als ein ſolcher ent⸗

706 Sämibt

weder niederreißen ftatt banen oder den Poften einnehmen Könnte, ohne ign auszufüllen, auf den genug andere bereits warteten oder für den doch eine hinreichende Zahl Bewerber vorhanden wäre, deren Pfund ohne dieſen Poften brach liegen und unverwertet bleiben müßte für das Ganze. Daß jener Knecht dadurch feines Herrn Sache gefhädigt Hätte, daß er pofitiv (gegen ©. 192) und aggreffiv fich gegen fie vergangen Hätte, kann man nicht fagen. Er giebt das überfommene Talent unverlürzt und ungefchmälert wieder. Es war fogar feine augenfcheinliche Zürforge, dag davon nichts verloren gehe, daß fein Here wieberempfange das Seine. „ide, Eyes vb 06“ (B.25). Aber auch anderen kounte er das Talent nicht entziehen, wenn darunter mit Goebel das Wort des Herrn zu berſtehen ift, denn dieſes ift ja jedermann zugänglid, und jeder der Jünger hat an feinem Play Gelegenheit genug, damit zu operieren und zu wirken. Selbft die Verkündigung dieſes Wortes ließ ſich nicht hindern, fofern fie allen Jüngern befohlen und allen möglich war. Und fo gewiß fi allezeit genug willige Herzen und Hände finden werden, um die Arbeit mit dem Worte zu thun; fo gewiß bebürfen fie zu diefer ihrer Thätigkeit nicht erft, daß irgendein anderer e8 ihnen aus Trägheit überläßt und felbft von dem Dienfte zurädtritt. Es klingt faft wie ein Ana» Hronismus, faft als ob Vorftellungen, die der kirchlichen Gegen« wart entnommen find, auf bie Deutung der Parabel zurückdatiert Anwendung gefunden hätten, wenn Goebel ums dieſe Löfung em⸗ pflehlt und fih dadurch mit der Vorhaltung des Hausherrn an den Knecht auseinanderzufegen fucht.

Freilich find die TganeLtsas die anerkannten Diener des Herrn, die die geiftliche Pflege, die Seelſorge nicht notwendig ex pro- fesso, aber doch mit willigem Herzen ausüben und fie gerne jedem zuteil werben laffen, ber fich von ihnen erreichen Täßt; die fie oleichfam öffentlich feilgaften und umfonft darbieten, die ihren beften Lohn in der Erfahrung haben, daß ihr Wort nicht Teer zu⸗ rüdtehrt, fondern Seelen erhält und gewinnt, bewahrt und erwirbt fürs Reich ihres Herrn. Aber fo unverftändlich es fein würde, ihnen das Wort des Herrn zu überlaffen, womit fie ohnehin aus⸗ ſchließlich operieren, fo wohl Läßt es ſich verftehen, wenn ihnen

Die Bedeutung der Talente in der Parabel zc. 797

Seelen übergeben werden. Indeſſen das Gleichnis fordert mehr als diefen allgemeinen Gedanken. Wozu, zu welchem Zwecke wer den ihnen Seelen übergeben werden? Es iſt die Sache ber voo- nebiron, Zinfen zu gewinnen; und Zinfen fordert der Hausherr. Nicht als ein Harter Mann, der erntet, wo er nicht gefäct und fammelt, wo er nicht gemorfelt bat, fondern der zum Heile der Menſchheit in emiger Liebesabficht eine fortgehende Vermehrung der Seinigen, eine beftändige Erweiterung feines Weinberges, feines Reiches auf Erden verlangt und ein gutes Recht Hat zu erwarten. Diefe Ausbreitung der Grenzen feines Anweſens hienieden, d. h. die Zunahme der Zahl der ihm gehörigen Seelen kann aber nur dadurch vor fich gehen, daß die Seinen mit folden in Berührung tommen, die noch nicht zu ihm ftehen und an ihn glauben, nur dadurch, daR die Gläubigen ſich nicht tfolieren umd den Teil ber Menfchenwelt fliehen, welche die neuteſtamentliche Sprache mit xocaoc ſchlechtweg bezeichnet. Und gerade biefen Verkehr zu ver» mitteln und ihn zu einem gewinnbringenden, zinfentragenden zu geftalten, ift das Gefgäft der ronneltsa. Die Wechsler nehmen feinem Arbeitsfchenen die Arbeit ab und üben fie an feiner Statt: die Wechsler arbeiten überhaupt im eigentlichen Sinne diefes Wortes nicht, fondern fie bringen das Geld in den Öffentlichen Berkehr und ziehen es aus bemfelben mit Zinfen zurüd; fie über» fehen den Geldmarkt und die verſchiedenen Unternehmungen, zu denen fie Rapitalien leihen, fie forgen für fichere Anlage und für gewinmbringende Geichäfte, aber urſprunglich und ihr nächfter Zweck ift der Wechſel, das Eintauſchen der verfchiedenen fremden Münzen in landesübliches courantes Geld gegen ein Agio. Allen diefen mannigfahen Manipulationen ift gemeinfam, dag fie das Geld aus feiner Iſoliertheit dem Verkehr übergeben und dadurch gewinnen.

Wenn nun der Herr dem Kuechte, der fein Talent vergraben hat, ſagt, daß er es menigftens den Wechslern hätte übergeben ſollen, fo läßt dieſes Bild feine andere Deutung zu, als daß er es dadurch in den Verkehr gebracht Haben würde. Ohne Bild ift das da8 Unrecht des betreffenden Knechtes, daß er die ihm anvere trauten Seelen, die er zwar Ihrem Herrn intaft erhalten Hat, ber

108 Schmidt

Welt entzogen und dadurch durch ſie keine neuen Herzen dem Herrn gewonnen und ſein Reich auf Erden nicht gefördert hat. Es iſt danach irrelevant, ob man, was vielleicht am nächſten liegt, bei den Wechslern an die Gemeinde der Gläubigen in der Welt denken will oder an einzelne bevorzugte Chriſten, die einerſeits für die intakte Erhaltung der ihnen anvertrauten Seelen bürgen, aber nit minder auch für die erfolgreiche Wirkſamkeit anderen noch nicht Gläubigen gegenüber Sorge tragen. Die Pointe der frag« Tichen Vorhaltung bes Hausherren iſt, daß durch Weltflucht das Reich Gottes nicht gefördert wird. Damit entfpricht das Thun des Knechtes, das durch Vergraben dem Verkehr Entziehen des Talentes genau der Forderung des Hausherren, es dem Verkehr zu übergeben und es dadurch zu mehren, Anderfeits ftimmt dazu bie Nede des Knechtes, der aus Furdt, das anvertraute Talent zu verlieren, die größere Sicherheit, die das Vergraben gewährt, vor⸗ sicht (B. 25).

Man könnte fich fehlieglih noch für die vertretene Bedeutung der Talente auf den consensus interpretum berufen. Obwohl nämlih nur Braune unferes Wiſſens den Gedanken ausſpricht, die Talente feien nicht innere Gaben, fondern „Wirkungsfreife” verfchiedener Ausdehnung, fo lieft man fo zu fagen zwiſchen den Zeilen aller Eregefen, daß derſelbe mit berückſichtigt wird und ſich gleihfam zum Verftändnis des Gleihniffes als unentbehrlich er⸗ weift. Auch nah Goebel (S. 187) Tann „der Gewinn, da er der Ertrag einer Arbeit mit dem Worte des Herrn fein foll, nur darin beftehen, dag Seelen gewonnen werden für das Reich des Herrn“. Und es zeigt die ganze Schwierigkeit, bie andere Faſſung der Talente ald Wort des Herrn durdzuführen, wenn Hofmann zu Luk. 19, 11 ebenfo kunſtlich wie unbefriedigend argumentiert: „Wer mit dem Worte des Herrn Gefchäfte macht, ber mehrt es, indem es ſich in dem Maße vervielfältigt, als Herzen dafür ger wonnen werden, in welchen e8 eine Stätte at.“ Augenſcheinlich find e8 vielmehr und ausichließlih bie Herzen, die vom Worte ergriffenen Herzen, die vervielfältigt werden, aber nimmermehr das eine, unveränderliche, immer gleiche Wort.

Auch Stier erkennt an, der Wirkungsfreis gehöre wohl als

Die Bedentung ber Talente im der Parabel zc. 79

mitberüdfichtigt dazu, fei aber an fich feine Gabe, fein anvertrautes Gut. Aber wer wird diefes Bedenken teilen? Es mag wenige idealere und befviedigendere Gaben auf Erden geben als einen ſympathiſchen Wirkungskreis, und wer es aus Erfahrung weiß, wieviel dazu ges hört, daß er und wird, mie viele Momente, welche nicht in dem Bereiche unferes Wollens und Könnens Liegen, zu der genügenden, aber doch immer individuellen Ausrüftung hinzukommen müſſen, der wird an dem Begriff der Gabe in diefem Falle ſicherlich keinen Anftoß nehmen, fondern diefes Enfemble des „tempus ip- sum“ und „omnis generis occasiones“ mit ben „facultates temporales“ (Bengel) im ganzen Umfang als ein gottgegebenes empfinden, wo er's genießt. Und menn wir vollends das Ab- ftraetum ins Concretum überfegen und damit dem von uns ver⸗ teibigten Gebanfen noch adäquater reden, wer könnte Anftand nehmen, in den Seelen, die durch Geburt oder irgendwelche Ber ziehungen auf unferen Einfluß, unſere fittlichsreligiöfe Pflege an⸗ gewiefen find, amvertraute Güter unferes Gottes zu erkennen? Mit Vorliebe pflegen wir die die Unterpfänder der göttlichen Liebe zu nennen, welde es zugleich recht eigentlich find, die unferen nächſtſtehenden Wirkungsfreis in ben Grenzen der eigenen Familie bilden.

Barasn, Google

Rezenſionen.

Deol. Stud. Jahrg. 1883. 52

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Die altteftamentliche Weisfaguug bon der Voll⸗ endung des Gottesreiches in ihrer geſchicht⸗ lichen Entwidelung dargeftellt von C. v. Orelli, Dr. phil., Lie. u. o. Profeffor d. Theologie in Bafel. Bien bei ©. P. Faeſy, 1882. VI u. 538 ©. 8°,

Der Verfaſſer Hat es im vorftchendem Werke unternommen, den halt der altteftamentlichen Weisfagung von der Vollendung des Reiches Gottes fo zur Darftellung zu bringen, daß einerfeits ihre Offenbarungscharakter und ihre durchgängige Abzielung auf die neuteftamentlihe Erfüllung, anderſeits ihre menſchlich- gefchichtliche Entwidelung in das Licht treten follen. In manchen Beziehungen ift ihm das auch wohl gelungen. Daß man in den Grundans fhauungen über das Weſen und den Charakter der altteftament- lichen Weisfagung und Über ihr Verhältnis zu der neuteftamente lichen Erfüllung keinen wefentlich neuen Geſichtspunkten begegnet, ift fein Mangel des Werkes. Der Verfaſſer ſchließt fich darin an Fr. Deligfh und G. F. Ochler an. Bon der Anſchauung, welche Referent in feiner Schrift „Die meſſianiſche Weisfagung“ (Gotha 1875) über das Verhältnis der Weisfagung zur neutefta- mentlichen Erfüllung entwidelt hat, glaubt er allerdings abweichen zu müffen (vgl. S. 72). Allein diefe Abweichung ift wohl nur eine vermeintliche. Der Verfaffer fett nämlich irrtümlich voraus, daß ich „bloß das dem Berftande des Propheten wie der Zuhörer völlig Durchfichtige“, dagegen nicht das ben Keim kunftiger Ent» wickelung in fich ſchließende Ahnungsvolle zum Inhalt der Weis-

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804 Drelli

fagung gerechnet Habe. Er muß dabei die Anmerkung auf ©. 7f. meiner Schrift ganz überfehen Haben; dort heißt e8 unter anderem: „Zum Inhalt der Weisfagung gehört allerdings nicht bloß der Sinn, welchem der Prophet einen vollen klar bewußten Ausdruck giebt, fondern aud das Höhere umd Tiefere, was für ihn felbft noch im Helldunfel der Ahnung liegt. Aber es gehört eben nur dazu in der ganzen Unbeftimmtheit ber Ahnung, in welcher es im Geift des Propheten vorhanden ift und auch von feinen Zeitgenofjen je nach dem Maß ihrer Empfänglichkeit mehr oder weniger ahnend erfaßt werden fann. . . . . Das Objekt der Offenbarung und der Weisfagung felbft aber (dev Ratſchluß Jehovas) ift fo groß und hoch, daß es aud) über das noch hinausragt, was die Ahnung des Propheten erfaßt; und darum bleibt es auch in der Weiſe Objekt neuer künftiger Offenbarungen, dag der Inhalt diefer nicht äußer- ih zum Inhalt der früheren hinzukommt, fondern organifh aus diefem Heraus entwidelt wird. Aber was davon für ben ein« zelnen Propheten auch jenfeits des Bereichs feiner Ahnung Tiegt, das gehört nicht mehr bem Inhalt feiner Weisfagung an.“ Aus diefen Bemerkungen wird erhellen, daß der Verfaffer keinen Grund Hatte, meine Forderung einer reinlichen Unterſcheidung zwiſchen dem Inhalt der Weisfagung und ihrer durch Gottes Rat- ſchluß geordneten offenbarungsgefhichtlihen Abzielung auf die Er fülung durch Chriftum eine „dualiftifche Zerteilung“ zu nennen. Die grundfägliche Durchführung diefer Unterſcheldung in dem Sinne, in welchem ich biefelbe wirklich gemacht und gefordert habe, ift vielmehr die unerläßliche Vorausfegung für jede Hare wiffen« ſchaftliche Erkenntnis des zwiſchen der Weisfagung und der Er- füllung beftehenden DVerhältniffes; und wer nicht geneigt ift, ſich bezüglich diefer Erkenntnis felbft mit dem Helldunfel der bloßen Ahnung zufrieden zu geben, kann ſich ihrer gar nicht entfchlagen. Je mehr ich hiervon überzeugt bin, um fo lieber ift es mir, Ton» ftatieren zu dürfen, daß der Verfaffer in diefer Beziehung in der That feinen andern Weg geht, als den auch von mir einge ſchlagenen. Denn wenn er erflärt; „Den Standort müffen wir ganz in der Zeit der Entftehung biefer (Weisfagungs-) Sprüde nehmen“, und der Erfüllungsgefchichte einen „bloß regulativen“

Die altielementfihe Weisiagusg vea ber Bolleatung x. 805

Einfluß auf die Betrachtung der Prophetie eingeräumt wiſſen will, fo ift damit nur mit andern Worten wenn auch vielleicht weniger Mar und beftimmt diejelbe Forderung ausgeſprochen; und in feiner ganzen Darftellung des Inhalts der altteftamentlichen Weisfagung finde ih wohl vieles, wogegen ich Widerſpruch ein- legen muß, aber feine Meinungsverſchiedenheit, die ich auf eine abweichende Auffafjung des Berhältnifjes der Weisſagung zur Er⸗ füllung zurüdzuführen vermödte. Wo es ſich zwijchen und nicht bloß um .einzelme exegetiſche Differenzen handelt, fondern wo wir wirklich verfchiedene Wege gehen, da Tiegt wie fich zeigen wird der Scheidungsgrumd auf einem andern Gebiet.

Nicht in neuen die Grundanſchanungen betreffenden wifjen- ſchaftlichen Geſichtspunkten, fondern in der Durchführung diefer Grundanſchauungen im einzelnen, in der aus felbftändiger eregetifcher Forſchung und liebevoller Bertiefung in das prophetifche Wort erwachfenen, geift« und Iebensvollen und in frifcher, anfprechender Darftellung gefchriebenen Entfaltung des gefamten Inhaltes ber mefftanifchen Weisfagung (mir gebrauchen im Intereſſe der Kürze diefen Ausdruck) liegt der Hauptwert des Buches; und zu feinen Vorzügen gehört es, daß der Verfaffer von der Notwendigkeit auf die litteräriſch⸗kritiſche Forſchung einzugehen, um den geſchichtlichen Entwicelungsgang der Weisfagung bdarftellen zu können, überzeugt if. Mit diefem Vorzug hängen freilich anderfeits die ſchwächſten Seiten des Werkes zufammen, fofern bie Eritifche Forſchung des Berfaffers noch allzu fehr unter dem Banne Überlieferter An« ſchauungen fteht, oft den Eindruc der Unſicherheit und einer ger wiffen Angſtlichteit macht und durch Haltlofe Wermittelungen den Konfequenzen der angenommenen kritiſchen Ergebniſſe zu ent sehen fucht.

In den einleitenden Paragraphen (19), welche die Grund⸗ anſchauungen bed Verfaſſers entwickeln, fprechen die religionsge⸗ ſchichtlichen Vergleihungen der altteftamentlichen Prophetie mit den analogen Erfcheinungen auf dem Gebiete des Heidentums, durch welche die Einzigartigkeit jener in Helles Licht geftellt wird (8 2 und 6), beſonders an. Wenn der Verfaffer die pfychologifche BVermittelung der göttlichen Offenbarung an die Propheten mit

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Oehler u. a. durch den Ausbrud „unmittelbare Anſchaumg“ bezeichnen will, fo habe ich dagegen nichts einzuwenden; denn der Verfaffer irrt, wenn er zu meinen fcheint, daß ich den „intuitiven Charakter” der Prophetie verfenne (S. 84). Wenn ich auch aus den prophetiſchen Schriften die Überzeugung gewonnen habe, daß die gemöhnlichfte pſychiſche Funktion des Propheten bei dem Akt der Offenbarungsmitteilung zutveffender als „innerliches Vernehmen der Rede Gottes“ bezeichnet wird, jo bin ich doch weit davon entfernt, in Abrede zu ftellen, daß gerade bei der Mitteilung zu— kunftsgeſchichtlicher Erkenntniffe mehr das Imaginationsvermögen als der BVerftand und die Vernunft des Propheten in Thätigkeit gefegt wird, und daß ihm diefe daher vorwiegend in der Form der Anfhauung zum Bewußtſein kommen. Nur jollte man den Unter⸗ ſchied zwiſchen diefer „inneren Anfhauung* und der efftatifchen Viſion immer wohl im Auge behalten und ſich durch jenen Aus— druck nicht verleiten Taffen, bei landläufigen Vorftellungen ftehen zu bleiben, die aus der Vorausfegung, daß die Weisſagung weſent- lich Beſchreibung geſchauter Bifionen fei, erwachſen find und nur unter diefer Vorausfegung Berechtigung und Bedeutung haben. Es wäre zu winfchen, daß der Verfaſſer mehr daranf bedacht ge- weſen wäre, feine Lefer vor diefer Verirrung zu bewahren. Was er 5 B. ©. 39 über den fogen. „perfpeftivifchen Charakter“ der Weisſagung fagt (ein Ausdruck, der übrigens fehr unzutreffend erfcheint, wenn man ſich vergegenmärtigt, in welchem Sinne man fonft eine Zeichnung oder ein Bild perſpektiviſch zu nennen pflegt), kann die Leſer Leicht in verbreiteten Vorftellungen beftärfen, welche felbft Hengftenberg, nachdem er fie in ber erften Auflage feiner Ehriftofogie in Umlauf gefegt hatte, in der zweiten Auflage (II, 2. ©. 193) als „zu mechaniſch“ zurücdgenommen Hat. Im übrigen will ich zu diefer Einleitung nur noch bemerfen, daß, wenn der Verfaſſer in $ 9 auch nur einen Ruckblick auf die Behandlung de8 Gegenftandes in der hriftlichen Theologie werfen wollte, doch eine Hinweifung auf die Verdienfte der jüdifchen Eregefe um das gefchichtliche Verſtändnis der Weisfagung und auf den Einfluß, welchen fie auf die chriſtliche geübt Hat, nicht Hätte fehlen dürfen; denn fo entfteht der falfche Schein, als ob es die Mer

Die altteflanmentfiche Weisfegung von ber Vollendung ıc. 7

formation gewefen wäre, melde überhaupt zu ben erften Verſuchen geführt Hat, dem Biftorifchen Sinn der Weisfagung gerecht zu werden (vgl. ©. 79).

Am wenigften kann ih mid) mit dem erjten Hauptteil, welcher „das prophetifche Wort als Vorbote der Entftchung und Begleiter der Ausgeftaltung einer nationalen Gottesherrihaft auf Erden“ barftellen foll, einverftanden erklären. In den zwei erften Abſchnitien (8 10—18) werden hier in herfümmlicder Weiſe das fogen. Protevangelium, der Segen Noahs, die Verheißungen an die Patriarchen, der Segen Jakobs und die Sprüde Bileams behandelt. Stände ber Verfaffer auf dem einfeitig fupranatu- raliſtiſchen Standpunkt der Hengftenbergfchen Chriftologie, und hielte ‚er gegenüber der litteräriſch⸗kritiſchen Forſchung mit der Schule Hengftenberge weſentlich an den traditionellen Anfichten über den altteftamentlichen Kanon feft, jo hätte dies Verfahren nichts Bes fremdliches. Der Ausdrud „gefhichtlihe Entwidelung“ der Weisfagung, der auf dem Titel fteht, wurde dann freilich nicht das bedeuten, was man fonft unter demfelben verfteht, ſondern twäre richtiger durch „ftufenmägiger gefchichtlicher Fortfchritt der Offenbarung“ zu erfegen. Ganz unvereinbar mit den wiſſen⸗ ſchaftlichen Anforderungen an eine Darftellung ber „gefchichtlichen Entwickelung“ der Weisfagung erfcheint aber dieſes Verfahren auf dem Standpunkt de8 Verfaſſers, und die Art, wie er es zu recht fertigen fucht, wirb nur auf ſolche einen Eindruck machen, die von vornherein mit ihm die Neigung teilen, fih von den im Bibel» gläubigen Kreifen Herrfchenden Meinungen möglihft wenig zu ent fernen.

Zunãachſt kommen hier die ziemlich weitgehenden Zugeftänd« niffe in Betracht, welche der Verfaſſer der litteräriſch-kri— tiſchen Forſchung macht. Er ſcheut fich, bie Komfequenzen zu gießen, welche biefelben für die Beurteilung der bibliſchen Übers llefernngen haben; fie follen auf die unmittelbar aus biefen ent nommenen Anſchauungen von bem Verlauf ber Geſchichte Israels mb der Menfchheit keinen weientlichen Einfluß üben; die litteräriſche Keitit ſoll fo wenig als möglich zur kritiſchen Geſchichtsforſchung führen. Das ift eime Halbheit, die zur SHaltlofigkeit werden

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muß. Gewiß hat es im allgemeinen ſeine Wahrheit, daß die „verhältnismäßig jungen Schriftſteller“, welche die oben bezeichneten Weisfagungsfprüce im Pentateuch mitteilen, biefelben nicht er⸗ funden, fondern aus der Überlieferung geſchöpft haben (S. 89); aber womit will ber Verfaſſer beweifen oder auch nur wahrſchein⸗ lich machen, daß diefe Überlieferungen bis In die Zeiten der Patri« archen oder gar der Urväter zurüdreihen? Mag man auch wegen der Berührungen der Schöpfungserzählung Gen. 1 mit dem alte babyloniſchen Schöpfungsmptäus zugeben, daß Hier der Überliefe- rungsftoff älter ift, als das Hebräifche Vollstum felbft, ift denn damit bewiefen, daß derſelbe ein Denkmal deſſen ift, „was die frühefte Menſchheit, welche Gott und der Natur nod am nädften ftand, aus biefer über ihr Verhältnis zu jenem herausgelefen hat“ (S. 90)? Wenn vollends zu der Sunden⸗ fallsgeſchichte bisher Teine babylonifche Parallele aufzufinden war, fondern nur einzelne Elemente derfelben fich mit der babylonifchen Mythologie berühren, darf daraufhin angenommen werden, daß Israels Vorväter das fogen. Protevangelium ſchon aus Ur⸗Kasdim mitgebracht haben (S. 91)? Wenn ferner zugeftanden wird, daß auf den Segen Noahs nicht bloß die Hebrälfhe Sprache, „melde der Volkervater natürlich fo wenig geredet Hat, als Adam im Paradieſe“, einen ſtarken formalen Einfluß gebt Hat, fondern da derfelbe auch inhaltlich durch die feit Mofe dem Volke Israel ger wordene Offenbarung beftimmt ift, geben dann die Schwierigkeiten, welche die gefchichtliche Erflärung darin findet, ein Recht zu der Annahme, daß diefer Spruch feinem Kerne nach von einem „Pros phetifch tief und weit blickenden Seher“ (ob von Noah felbft oder von einem andern, bleibt unklar) herrühre, welcher der Zeit vor der Entftehung des hebraiſchen Volketums angehört hat (S. 117)? Und wenn Bileam weder die Berheißungen an Abraham und Juda gefannt, noch auch Hebräifch geredet hat, fo daß „jedenfalls eine umlleidung (feiner Sprüche) in hebraiſches Gewand ftattgefunden hat“, kann dann wirklich darin, daß in diefen Sprüden vor⸗ wiegend „die exoterifche Entwidelung des Gottesreihes“ gezeichnet und von Israel ein Lichtbild ohne Schatten entworfen wird, ein Beweis dafür gefunden werden, daß biefelben von dem alten Heid-

Die altteftamentliche Weisfogung von der Vollendung 2c. 809

niſchen Seher herrühren muſſen (S. 164f.)? Und ähnlich ſteht es mit den Patriarchenverheigungen und dem ſogen. Segen Jakobs, bei denen ber Verfaffer fogar den fpäteren Erzählen noch mehr Einfluß auf die formale Geftaltung zugefteht als bei dem Prot« evangelium und dem Noahſegen (S. 91). Mit Verficherungen, wie die: „Als heiliges Erbe wurden gewiß ſolche prophetiſche Sprüche mit großer Zäbigkeit von Geſchlecht zu Geſchlecht über liefert”, mit Berufungen auf den „Ernft der biblifchen Gejchicht- ſchreibung“ (S. 92) oder auf den „Geift des Altertums“ und den „fittlichen Ernft der biblifhen Autoren“ (S. 117), ober gar mit der Ausfpielung von Trümpfen wie: „Wer einmendet, daß man in hohem Alter und angeſichts des Todes nicht zu dichten pflege, ift zu bemitleiden, weil er weder Prophetie noch wahre Poeſie kennt“ (S. 128), ift hier in der That gar nichts gethan; und einem Theologen, der es wagt, troß des Wortes Chrifti Matth. 22, 43—45 den 110. Pſalm für nicht-davidifch zu er⸗ Mären (S. 173), fteht e8 übel an, mit ſolchen willkürlichen Macht⸗ fprüden der kritiſchen Forſchung Halt gebieten zu wollen. Überdies macht der Verfafjer aus guten Gründen nirgends ben Verſuch, genauer anzugeben, was man in jenen Grundverheigungen als urfprünglichen Überfieferungsfern und was als Zuthat der fpäteren Referenten anfehen fol; jener bleibt überall in nebelpafter Unbeftimmtheit. Die Hier gegebene Darftellung des geſchicht⸗ lichen Entwidelungsgangs der Weisfagung Hat daher ein überaus ſchwankendes und flüffiges Fundament.

Wenn aber auch das Fundament, auf welches der Verfaſſer eine bis in die Patriarchenzeit und in die Anfänge des menfchlichen Geſchlechts zurückreichende Gefchichte der Weisfagung bauen will, einen fefteren Halt Hätte, jo bliebe fein Verfahren in Anbetracht des Verſprechens, die Weisfagung „in ihrer geſchichtlichen Ent⸗ widelung“ darzuftellen, immer noch verfehlt. Denn es muß in den Lefern die Vorſtellung erweden, daß in diefen einzelnen BVerheigungsworten die Wurzeln und Keime liegen, aus welchen die prophetifche Weisfagung von der Vollendung des Gottesreiches fich gefchichtlich entwickelt Hat. Daß aber die Lefer damit zu einer unrichtigen und ungeſchichtlichen Vorftellung verleitet werden,

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wird der Verfaſſer ſelbft nicht in Abrede ſtellen wollen. Wollte er es thun, fo läge ihm der Nachweis ob, daß ſich in der meſſia— nischen Weisfagung der Propheten von Anfang an Beziehumgen auf diefe Grundworte göttlicher Verheißung, Anknüpfungen daran, Nachtklänge davon finden. Diejer Nachweis wäre aber ſchwer zu führen; denn das verfteht fich doch wohl von ſelbſt, daß er mit dem Hinweis auf bie Wiederkehr der allgemeinen Gedanken jener Grumdverheigungen, 3. B. in der Wiederkehr des Grundgedanfens der Abrahamsverheißung in der Weisfagung vom Eingang der Heiden in das Reich Gottes, noch nicht erbracht wäre, daß viel mehr gezeigt werben müßte, wie in dem Gepräge der meffianifchen Weisfagung das für jene Grundverheigungen Charakteriftifche noch erkennbar ift und fie als aus diefen gefchichtlihen Wurzeln erwachſen fennzeichnet. Wo wären aber für die Vorftellung von dem Weibesfamen, der der Schlange den Kopf zertritt, ober von der Segnung aller Gefchlechter des Erdbodens in dem Samen Abrahams oder von dem Stern, der aus Jakob aufgehen ſoll, folche Nachwirkungen aufzuzeigen? Außer dem Anklang von Hef. 21, 32 an Gen. 49, 10 (&. 135. 138. 412) finden wir auch in dem Werke bes Verfaffers nichts, worin man ben Verſuch eines folgen Nachweiſes erkennen könnte. Auch er wird darum wohl anerkennen, daß die mefftanifche Weisfagung der Propheten ſich nicht fpeziell aus jenen einzelnen Verheißungsworten geſchichtlich entwidelt hat, fondern daß der Mutterboden, aus welchem ber Geift der Offenbarung fie hervorwachſen ließ, ein viel breiterer und umfaffenderer ift und im den Grundwahrheiten des alttefta- mentlihen Glaubens befteht. Um den Lefern eine richtige Vor— ftellung von der „gefchichtlichen Entwidelung“ der Weisfagung zu ermöglichen, hätte dann aber auch der organifch = genetifche Zu⸗ fammenhang derfelben mit diefen Grundwahrheiten aufgezeigt werden müffen, und die Erörterung über jene einzelnen Verheißungsworte Hätte, fo hoch man auch ihre offenbarungsgefchichtliche Bedeutung anſchlagen mag, doch nur innerhalb diefes Nachweiſes, als sin Teil desfelben ihre richtige Stelle erhalten 1).

I) Den Verſuch eines folden Nachweiſes Habe id; in dem erften Abſchnitt

Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung zc. 811

Auch der dritte Abſchnitt des erſten Teils, der unter der Über⸗ ſchrift „Der Gefalbte des Herrn“ zuerft die an David ergangenen Veisfagungen, nämlich die Nathans in 2 Sam. 7 und die Gottes- fprüche des 110. Pſalms, dann den Wiederhall berfelben in den Pſalmen und den legten Worten Davids 2 Sam. 23, weiter die typiſch⸗ meſſianiſche Bedeutung Davids, Salomos und der Dapibiden in ihrer föniglichen Herrlichkeit und in ihrem Leiden (Leidende pfalmen) und endlich das Wohnen Jahves auf dem Zion erörtert (8 19— 22), enthält mandes, was mehr dazu geeignet ift, die Erkenntnis der „geſchichtlichen Emtwidelung“ der Weisfagung zu verwirren, als fie zu fördern. Abgefehen von der unficher taften« den Pfalmenkritit des Verfafjers bringt die Anlage und der Inhalt des Abfchnitts den Lefer Leicht auf die falfche Vorftellung, als ob 3. B. die typifche Auffaffung bes Hohenliedes (S. 193) oder bie Erkenntnis, daß der meſſianiſche König durch das fehwerfte, uns verfchuldete Leiden hindurch zu der ihm beftimmten Stellung und Wirkſamkeit im Reiche Gottes gelangen werde (S. 193ff.), ſchon zu den geſchichtlichen Vorbereitungen und Grundlegungen für die Weisfagung ber Propheten von der Vollendung des Gottesreiches

meiner Schrift „Die meſfiauiſche Weisſagung“ gemacht, jedoch ohne bie nähere Erörterung jener einzelnen Verheißungsworte in den Bereich meiner Aufgabe zu ziehen. Diefer Verſuch mag manche Mängel haben; aber gegen den Bor- wurf, daß id) die Weisfagung „durch dialektiſche Reflerion“ aus den Grund» gebanten der aftteftamentlichen Neligion entftanden fein Taffe (S. 84), glaube ich mich hinreichend verwahrt zu haben. Was die Bemerkung des Verfafſers: „bie Grundideen ſelbſt, nach ihrer lebendigen Energie, find aber eine Feucht der prophetifchen Offenbarung” fagen toill, verftehe ich nicht, da ich nicht au- nehmen Tann, daf dem Verfaffer erft die Propheten als die eigentlichen Stifter der aftteftamentlihen Religion gelten, DMofes aber eine myſtiſche Nebelgeftalt if. Daß fon die älteften Propheten die Grundgedanken ber altteftamentfichen Religion als aftüberliefert und dem Volke Israel feit der Zeit der Ausführung aus Ägypten wohl betannt voransfegen (vgl. Smend, Über bie von ben Vropheten bes 8. Jahrhunderts vorausgeſetzte Entwickelungsſtufe der isrneli- tifhen Religion in diefer Zeitfchrift, Jahrg. 1876, 9. 4), wird der Berfaffer gewiß nicht Teugnen, und daß die Entfaltung diefer Gruudgedauken in der meffianifhen Weisfagung eine Frucht der prophetifhen Offenbarung war, ift mir nicht eingefallen in Abrede zu ftellen.

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gehöre. Auch der 72. Pſalm, den der Verfaſſer geſchichtlich auf Salomo deutet, durfte meines Erachtens nicht in dieſem Abſchnitt verwertet werden; denn, wie man ihn auch ſonſt auffaſſen möge, ob als ein aus dem liturgiſchen Bedurfnis hervorgegangenes Ge⸗ meindelied beim Regierungsantritt eines neuen Königs oder direkt meſſianiſch, jedenfalls ift er nicht ein Vorgänger, fondern ein Nachhall der mefflanifchen Weisfagung der Propheten (B. 1—4 von Jeſ. 11, 4; V. 8—11 von Sad. 9, 10; vgl. auch V. 12 mit Hiob 29, 12), ähnlich dem freilich jüngeren Nachhall in den Pialmen Salomos (17, 23ff.), deren Tanonifches Vorbild dieſer Pſalm „Salomos“ ift. Dagegen Hätte fih, 2 Sam. 23, 1ff., beffer für die Darftellung des Verfaſſers verwerten laſſen, als es ©. 185ff. gefchehen ift; denn die von ihm gebilligte Anfiht vieler Exegeten, daß V. 3b u. 4, als Border und Nachſatz mit einander verbunden, einen allgemeinen Sag enthalten, paßt gar wenig zu dem feierlichen Eingang mit ber viermaligen Verficherung, daß die folgenden Worte aus Eingebung des Geifte® Gottes geredet feien. Die Deutung des „gerechten Herrſchers“ auf eine Fünftige Einzel- perfon lehnt der Verfaſſer allerdings mit Recht ab; fie ift durch V. 5 („mein Haus“) ausgefchloffen. Wohl aber enthalten bie Worte die auf die Zufage des ewigen Bundes mit dem Haufe Davids (2 Sam. 7, 16) gegründete Ankündigung, daß gerechte und gottesfürchtige Herrfcher aus Davids Haufe fommen, und daß mit ihnen das Licht des Helles in vollem Glanz über dem Gottes- reihe aufgehen und ein. Zuftand reichen Segens und fröhlichen Gedeihens Herbeigeführt werde. Gehören dieſe Worte wirklich David an, woran zu zweifeln auch ich feinen Grund finde, fo haben wir hier in der That einen bedeutſamen Fortſchritt über die durch Nathan dem Haufe Davids gegebene Verheißung hinaus, einen Fortſchritt, der freilich die angebliche, au von dem BVerfafjer ber hauptete „meffianifche Selbſtſchau“ Davids fehr in Frage ftellt. Weit mehr entſpricht den wiffenfchaftlichen Anforderungen an eine Darftellung der geſchichtlichen Entwidelung der Weisfagung der zweite Hauptteil, welcher in ſechs Abfchnitten „das pro phetifche Wort als Vorbote der Neugeburt und Bürge der fünftigen Vollendung des Gottesreiches“ nah der Zeitfolge der einzelnen

Die altteftamentfiche Weisfagung von der Vollendung ıc. 818

Bropheten erörtert, ſich wefentlih auf dem Boden der geſchicht lichen Auslegung Hält, aber auch die Beziehung der Weisfagung auf die Erfüllung im Neuen Bunde forgfältig erörtert und in den meiften Bartieen geeignet ift, in ein tiefere® Verſtändnis des pro« phetifchen Wortes einzuführen. Auch wo ich der Auffafjung des Verfaſſers mich nicht anfchliegen kann, wie z. B. in der ganz ber ftimmt perfönlihen Faſſung des VBegriffs „Knecht Jahves“ in Jeſ. 42. 49. 50 u. 53, erkenne ich die Förderung, welche die Auslegung und Iebendige Neproduftion der Weisfagung durch den Berfaffer erhält, ebenfo gerne an, als feine wohlgelungene, ger ſchmackvolle Überfegung der wichtigſten Stellen. Zwei allgemeinere Mängel machen ſich aber auch hier bemerflih. Der eine betrifft bie Titterärifche Kritik des DVerfaffers, die auch hier oft auf halbem Wege ftehen bleibt. Ich will nicht mit ihm darüber rechten, daß er Obadja für den äfteften Propheten hält, von dem ung eine Schrift erhalten ift (S. 220f.); aber ſchwer begreiflich ift, wie er ef. 40—66 für die Weisfagung eines erilifhen Propheten erklären (S. 423ff.) und doch die jefajanifche Abkunft von ef. 13 u. 14 und gar auch von ef. 34 u. 35 verteidigen kann (S. 323. 330f.); und geradezu abentewerlich werben feine Eritifchen Operationen fhlieglich beim Buche Daniel (S. 515 ff.). Er fieht fi nämlich, genötigt, da8 Zugejtändnis zu machen, daß das Buch, fo wie es vorliegt, einem in der Zeit des Antiohus Epiphanes lebenden Verfaſſer angehöre, und daß im Sinn biefes Schrift ſtellers das vierte Weltreich das griedifch-makebonifche fei; aber weder ben exilifchen Propheten Daniel noch die traditionelle Deus tung des vierten Weltreich® auf Rom möchte er aufgeben. Darum nimmt er an, daß jener Verfaſſer in Daniel 1—6 überlieferte Erzählungen aus der Zeit des Exils und Daniel 7—12 überlieferte Gefichte Daniels gefammelt, überarbeitet und in nähere Beziehung zu den Derhältniffen feiner eigenen Zeit gefeßt Habe. Auch Hier begegnen wir freilich dem Eingeftändnis, eine fichere Ausfcheidung deffen, was dem alten Daniel angehört Habe, jet im einzelnen nicht möglich; aber der Verfaffer verfichert ung: „Auf Daniel gehen ohne Zweifel die Grundgedanken zurüd.“ So weit möchte man ſich diefen kritiſchen Vermittelungsverfuch, auch wenn man ihn als

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unhaltbar anſieht, noch gefallen laſſen, wie er ja auch befannte Vorgänger hat; aber kaum Glaubliches leiſtet der Verfaſſer, indem er nun weiter zu beweiſen unternimmt, nach dem urſprünglichen Sinn der Geſichte Daniels ſei das vierte Weltreich doch das romiſche geweſen!! Die von dem Überarbeiter gegebene Deutung auf das griechiſch⸗ makedoniſche ſei zwar nicht unberechtigt, aber auch nicht erſchöpfendl! Dasſelbe Kunſtſtuck muß dann auch dazu helfen, die herkömmliche chriſtologiſche Deutung des „Geſalbten“ in Daniel 9, 26 zu retten, während zugegeben wird, daß „der Herausgeber und Rebaktor des Danielbuchs“ in der Ermordung des Hohenprieſters Onias III. die Hier geweisfagte Tötung des Gefalbten „zu erkennen geglaubt“ Habe (S. 526f.)! Der andere Mangel befteht darin, daß der Zufammenhang der Weis⸗ fagung mit der Geſchichte nicht genügend hervorgehoben wird. Mochte der Verfaffer immerhin finden, daß der Referent in der Nachweiſung diefes Zuſammenhangs „zu fehr bis ins Kleinliche“ gegangen fei (S. 84), wenigftens da, wo derjelbe fo handgreiflich hervortritt, wie 3. B. in Jeremias Weisjagung von dem Neuen Bunde und der ganz neuen Gejtalt des vollendeten Gottesreich® (ogl. Meſſianiſche Weisfogung, S. 137) oder in dem Herein« treten des Prieftertums in den Bereich der meffianifchen Weisfagung in der nachexiliſchen Zeit (dgl. Meffianifche Weisfagung, S. 127 ff.), Hütte ihn der Verfaffer feinen Lefern viel gefliffentliher aufzeigen möüffen, als er es gethan hat. Es Handelt fich dabei keineswegs darum, der Prophetie „pragmatifche Stügen“ zu geben (S. 253), fondern um bie Erkenntnis der einheitlichen zweckvollen Wechjel- beziehung des ftufenmäßigen Fortgangs der Offenbarung Gottes über feinen Heilsratſchluß und der gefhichtlihen Führungen feines erwählten Eigentumßvolfes, welche jeden für das Göttliche empfüng lihen Sinn mit anbetender Bewunderung der wunderbaren Wege Gottes erfüllen muß. Daß der Verfaffer fo wenig Gewicht auf diefe Erkenntnis gelegt hat, Tann ich mir nur daraus erflären, daß er fi von den übeln Nachwirkungen ber einfeitig fupranaturaliftie ſchen Betrachtung der Weisfagung nicht völlig zu befreien vers mochte.

Wir fügen noch einige Bemerkungen über einzelnes bei. Ju

Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung zc. 815

Gen. 9, 26 u. 27, wo der Fluch Über Kanaan auch in den Segensworten über Sem und Japhet dumpf nachgrollt, fteht job fiher nicht für ib (S. 112), fondern entſpricht dem vod, und bie „Ruhmeszelte* des DVerfaffers (S. 114ff.) find in „Zelte Sems“ zu berichtigen; die Ankündigung des brüderlichen Wohnens Japhets in ben Zelten Sems aber fteht in gegenfäglicher Beziehung zu dem DVerbot jeder Bundesgemeinſchaft mit den Kanaanitern; das Japhet verheigene „Wohnen in den Zelten Sems“ bleibt Kanaan verfagt. Gen. 15, 18 fteht nit „vom Bad“ (©. 123), fondern „vom Strom Ägyptens“, womit nicht der Wadi el Ariſch, fondern nur der Nil gemeint fein kann. ©. 125f. vermißt man eine Bemerkung Über die Bedeutung, welche die Verfiegelung der Abrahamsverheifung durch den Schwur Gottes bei ſich felbft in Gen. 22, 16 Hat (vgl. darüber Achelis in biefer Zeitfchrift, Jahrgang 1867, Heft 3). Die ©. 137 ger gebene Deutung von Gen. 49, 10 „bis daß er gelange in das, was ihm zufommt“ (Abyi = ib Sy), iſt ſprachlich nicht annehm« bar, da win mit dem Accus. in folder Anwendung nicht zu bes legen ift; vielmehr wird jene Lesart nur entweder nach Sept. mit „bis kommen wird, was ihm gehört, gebührt“ ober nach den übrigen alten Überfegern mit „bis der fommen wird, weldem es (das Scepter) gehört” erklärt werden können; wahrſcheinlich ift fie aber nur daraus entftanden, daß die alten Überfeger die Stelle nad) Ez. 21, 32 gedeutet haben. Die S. 144 angeführte Angabe Brugſchs über das ägyptiihe nuk pu nuk Ich bin Ich ift von R. Pietfhmann in Baftians Zeitſchrift für Ethnologie 1878, Heft 3, S. 171 Anm. als ganz nichtig erwiefen worden. Die Bevorzugung der Lesart 1x9 in Pf. 22, 17 (©. 198) dürfte mehr in den Wünfchen des Verfaffers, als in Fritifchen Erwägungen begründet fein, und die Ergänzung von nbrin zu 1120 in V. 28, um die Belehrung der Heiden zur Folge der Errettung des Pfal- miften und feines Lobes dafür zu machen (S. 198f.), ift ganz unmöglich. Über die ©. 240 nad) Baubiffin erklärte Redens- art „einen Krieg heiligen“ f. Studien und Kritiken, Jahrgang 1880, S. 175. Daß Hof. 1 von einem wirklichen Erlebnis des Propheten verftanden werden, Hof. 3 dagegen mur eine fingierte

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Erzählung fein ſoll (S. 257), iſt wieder eine Kombination von zwei Anftchten, bei denen nur ein Entweder» Ober zuläffig iſt. Die herfümmliche Auffaffung des „Sahne und Honig-Efjens“ in gef. 7, 15 u. 22, welder der Verfaffer ©. 296 folgt, ift ſchon don Hengftenberg in feiner Ehriftologie treffend widerlegt worden und verdreht namentlih in B. 22 den Haren Wortlaut (auch wenig Bich wird fo reichlich Milch geben, daß man nur das Befte davon, die Sahne, genießen wird) fo fehr in fein Gegen- teil (das Land wird fo vermüftet fein, daß das Vieh überall weiden Tann), dag man ſich über die Zähigkeit, mit welcher fie feftgehalten wird, nicht genug wundern Tann. Über die Anficht, dag Im— mannel in Jeſ. 7, 14 ein Sohn bes Propheten fei, Hätte der Verfaſſer fih (S. 298) wohl weniger wegwerfend ausgefprocen, wenn er ſich bemüht Hätte, den ganzen Zufammenhang biefer Zeichenanfündigung, bei welder übrigens au er das Hauptge⸗ wicht mit Recht auf den Namen Immanuel legt, mit dem Vor—⸗ hergehenden und folgenden lebendiger aufzufaffen. In ben Parallelen Jeſ. 2, 2—4 und Mid. 4, 1—4 will er ©. 342f. wieder erftere Stelle für das Original ausgeben. In Micha 7 hat er (©. 351) die bedeutſame, die Weisfagung Deuterojefajas vorbereitende Umbildung der Idee des Reſtes zu der Vorftellung der Idealperſon des echten Volkes Jehovas, das fih in der Ge— richtönot bewährt und darum von dem treuen Bundesgotte ber Heidnifchen Weltmacht gegenüber glänzend gerechtfertigt wird, über⸗ fehen. Nahum fegt er (S. 351) trog der Auffchlüffe über die 3, 8ff. erwähnte Eroberung No-Amons, die wir den aſſyriſchen Inſchriften verdanken, immer noch in die Zeit Hisfias. Seine Erklärung des upıs mm in Ser. 23, 6 u. 33; 16 (S. 375f.) giebt dem Begriff der „Rechtbeſchaffenheit“ zu fehr eine ethifche Wendung (— Wohlverhalten, Rechtverhalten), während nad dem Parallelismus die thatfähliche Rechtfertigung durch Spen⸗ dung des Heiles damit gemeint iſt. Gut wird die dunkle Stelle ger. 31, 22; ©. 379f. erläutert. Daß das om in Jeſ. 66, 21 auf die Heiden gehen foll (S. 470), halte ih nad V. 22 und 61, 5f. für unmöglich. Den ſchon von Hitig gut nach⸗ gewiefenen apokalyptiſchen Charakter der Nachtgeſichte Sacharjas,

Die altteftamentliche Weisfagung von der Vollendung ac. 817

traft deffen der Prophet in den erften Gefichten feinen Standpunft in der Vergangenheit nimmt und, wie fehon Ezechiel in Kapitel 17 und 19, an die Bilder des Vergangenen die Weisfagung an« Inipft, hat auch der Verfaffer wieder verfannt (S. 483. 490. 494), und darum aus dem Grunbftein des Tempels (Sad. 3, 9; 4, 7), bis zu deſſen Legung im fünften Geficht der Ausgangs- punkt vorgefchoben ift (während ſich vom fechften Geſicht an die Weisfagung nicht mehr an Vergangenes anfnüpft), einen Stein ger macht, der ein Surrogat für die mangelnde Bundeslade fein fol. In Sad. 6, 13 Hält er (S. 499.) die herkömmliche Erklärung feft, bei welcher freilich da8 oma > nicht bloß „ſchwierig“, fons dern ohne willfürliche Umdentung unbegreiflih wird. Der Um« ftand, daß ſchon die LXX den Sinn meiner Erklärung (die meffia- niſche Weisfagung, ©. 128) ausdrückt, hätte den Verfaſſer wohl zu einer genaueren Prüfung derfelben veranlaffen dürfen.

Andere Einzelheiten, bei denen ich meinen Diffenfus eingehen« der motivieren müßte, übergehe id. Ohne Zweifel wird das Werk bes Verfaſſers bei dem tHeologifchen Publikum eine gute Aufnahme finden und namentlih von allen denen willtommen geheißen werden, die fi der Erfenntnis nicht verfchliegen, daß auf dem Gebiet des Alten Teftamentes manche Zugeftändniffe an die ftreng hiſtoriſche Auslegung und an die Teitifche Forfhung nicht zu umgehen find, dabei aber auch die in den kirchlichen und bibelgläubigen Kreifen Herfömmlichen Anſchauungen, zu deren gründliher Reviſion fie weder Zeit noch Luft haben, wefentlic unverändert. beibehalten möchten. Um fo mehr erfchien e8 mir als eine Pflicht, bei aller Anerkennung der Vorzüge des Werkes feine Schattenfeiten ſcharf Hervorzuheben. Denn mit haltlofen Vermittelungen ift nach meiner Überzeugung weber der altteftamentlichen Wiffenfhaft noch dem wahren Intereſſe des Bibelglaubens gedient.

I. Riehm.

Theol. Stud. Yahrz. 1888. 53

818 Reuß

2.

Eduard Reuss, Die Geschichte der heiligen Schriften Alten Testaments. Braunschweig, C. A. Schwetschke & Sohn, 1881. XV u. 744 8. gr. 8.

Wenn der Unterzeichnete dem Tang vorbereiteten und im Freundes⸗ und Schülerkreife lang erwarteten Werke von Neuß einige Worte widmet, fo gefchieht es nicht, um dasfelbe bekannt zu machen, denn in ben etwa anderthalb Jahren, welche feit feinem Erſcheinen verflofen find, hat das Buch felbftändig ſich feinen Weg gebahnt, nicht um dasfelbe zu empfehlen, denn deffen ift eine Arbeit des Altmeifters bibliſcher Wiſſenſchaft nicht bedürftig. Aber es würde biefer Zeitfchrift nicht ziemen, von dem Buche zu fehweigen, welches bie abfchließende, Hoffentlich nicht die Leite, Arbeit ift eines langen, vorwiegend der altteftamentlichen Wifjenfchaft mit der nie erfalteten Wärme erfter Liebe gewibmeten Gelchrtenlebens. Auch jet noch mag die durch äußere Umftände verzögerte Beſprechung einem Teile der Lefer diefer Blätter zur Orientierung von Dien- ften fein.

Weniger noch, als es fonft aud bei den beften wifjenfchaft- lichen Arbeiten der Ball zu fein pflegt, haben wir es hier mit einer Leiftung von geftern Her zu thun. Der Verfafjer nennt dies Wert fein letztes und zugleich fein erftes. Den Ausgangspunkt besjelben bildet eine im Jahre 1834 gehaltene Vorlefung. Seitdem hat der Verfaffer an dem Plane des Ganzen gemodelt, an dem Wort» laute der Paragraphen gefeilt. Die Grundgedanken, mit welchen er in den dreißiger Jahren ihrer Neuheit wegen nicht an die Offent lichkeit hervortreten mochte, find biefelben geblieben. Heute haben fie vor der Kritik fich micht zu ſcheuen; denn was damals unerhört ſchien die von dem Verfaſſer dem großen Kultuögefege des Pen- tateuchs angemiefene Stelle, bie Behauptung diefer zeitlichen Folge: Propheten, Geſetz, Pfalmen —, ift ſeitdem duch unmittel«

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bare und mittelbare Schüler von Reuß in weiten Kreifen zur Anerkennung gelangt. Wenn es im vollen Umfange nicht Gemein⸗ gut der Fachgenoſſen geworben (auch Ref. zählt zu den Diver- gierenden), fo Hat doch unter ber von Neuß neben Vatke und George (1835) ausgegangenen Anregung wohl die gefamte Fade genoffenfchaft, foweit fie ein von der Tradition unabhängiges Ge⸗ ſchichtsbild der altteftamentlihen Entwickelung erftrebt, an wichtigen Punkten die ältere Anſchauung von ber Literatur» und Religions⸗ geihichte Israels zu modifizieren fich genötigt gefehen. Das Wert, bis dahin „nie geſchloſſen, oft geründet“, fam dennoch zur Vollendung, als vor wenigen Jahren eine fchwere Erkrankung ben verehrten Verfafjer an die dem menfchlichen Leben geftedtte Grenze ger mahnt Hatte und zu feiner Erholung eine kurze Unterbrechung der alademifchen Thätigkeit notwendig wurde. Damals Kollege des Verfaffers, werde ich nicht vergeffen, mit welch jugendlichen Mute, mit wie befchämender Raftlofigkeit der kaum Genefene ſich an die Arbeit machte, um zu vollenden, was er vor neun Luſtren begonnen. Die Befriedigung darüber, daß dies ihm gelingen durfte, iſt es wohl nicht zum mindeften gewefen, welche feiner ſeitdem wieder unaus⸗ geſetzt geübten Arbeitskraft neue, gebe Gott lange Stetige teit verliehen hat.

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1. Die „Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments“" iſt beftimmt, an die Stelle deffen zur treten, was man gemeinhin mit einem wenig günftig gewählten Namen als Einleitung in das Alte Teftament zu bezeichnen pflegt. Der Titel weiſt darauf Hin und wer des Verfaſſers Gefchichte des Neuen Teftamentes kennt, wird es kaum anders erwarten —, daß die altteftamentliche Littera⸗ tur hier in Hiftorifcher Entwickelung dargeftellt wird, nicht nur in dem Sinne, wie die gewöhnlichen Einleitungen ſich als hiſtoriſch⸗ tritiſche zu bezeichnen pflegen, indem fie die einzelnen Bücher des Alten Teftamentes in der angegebenen Weife behandeln, fondern in der Art, daß ein fortlaufender Gefchichtöbericht Hergeftellt ift. Der Verfaffer ift ſich defien voll bewußt, daß die Durchführung eines ſolchen Geſchichtsbildes auf altteftamentlichem Gebiete weit größeren

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Schwierigkeiten begegnet als auf neuteftamentlihem, weil die Un« ficherheit der Anfegung dort eine viel größere ift als hier. Das vorliegende Werk zeigt aber, daß ein folder Plan ſich au fir das Alte Teſtament befolgen läßt, da wenigftens, wo eine Darftellungs- gabe vorhanden ift, wie fie dem Verfaſſer eignet. Ganz freilich iſt die Durchführung nie möglih. Die Pfalmen z. B. Können immer nur in Gruppen zufammengeftellt werden an dem zeitlichen Bunfte, welcher den Endpunkt einer Gruppe zu bezeichnen ſcheint. Das Zeitalter der einzelnen Lieder einer folchen Gruppe mag da» bet ein nicht unbeträchtlich verſchiedenes fein. Ebenſo fteht es mit den vielfach aus fehr verfchiedenen Schichten beftehenden Gefeges- codiced. Das Bekanntwerden eines neuen ober Täßt fi etwa zeitlich figieren. Wo aber folfen die einzelnen Beftandteile desfelben untergebracht werden, von welchen ſich im beften Galle nur fagen laßt, in welchem Altersverhältniſſe fie unter einander ftehen? Am wenigften wollen fi die aus vielen Urkunden zufammengefitgten Geſchichtsbucher einer ftreng litteraturgefhichtlihen Behandlung fügen. Wann bie legte Redaktion der Bücher Richter, Samuel, Könige vorgenommen wurde, Täßt fich fo ziemlich genau beftimmen; aber an welcher Stelle hat die Litteraturgeſchichte von ihren bieler- fei älteren Bejtandteilen zu veden? Es find die Andeutungen von Schwierigkeiten, welche niemand beffer kennt als der Verfaffer felbft. Mit glänzendem Gefchide zur Gruppierung, zum Ente "werfen von Rückblicken an gewiſſen firierbaren Punkten ift er ſolcher Hemmniſſe für die Hiftorifche Darftellung Herr geworden fo weit ungefähr, als ſich derfelben eben Herr werben läßt. Wer die ber ftehenden Schwierigfeiten kennt, vermag zu beurteilen, welcher Ge⸗ ftaltungsfraft es bedurfte, um zum erftenmale biefe Litteraturgefchichte als ſolche zu entwerfen. Jeder Nachfolgende Hat es nicht ſchwer, nad diefem Vorgang in Einzelheiten Verbefferungen zu bringen. Daß der Verfaffer diefen Entwurf gewagt Hat, wollen wir ihm Dank wifjen; denn diefe erftmalige Zeichnung des Entwicelungse ganges ift als folche in hohem Grade Ichrreih. Auch das Tann taum einem Zweifel unterliegen, daß eigentliche Litteraturgefchichte das Ziel ift oder, wenn man etwa an der Möglichkeit der voll« endeten Durchführung zweifelt das Ideal fein follte defien, was

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wir in unferer „Einleitung“ zu betreiben pflegen. Dennod er» laube ich mir, für die von dem Verfaffer mit geringer Liebe ftizzierte alte Methode, für beftimmte Fälle wenigftens, ein Wort einzu legen. So gewiß der Schriftfteller berechtigt ift, den Verfud der Litteraturgefchichte zu wagen, fo wenig finde ich dasſelbe Verfahren (ih weiß mich hierbei in Widerſpruch mit der von Reuß befolgten Praxis) empfehlenswert für Vorlefungen. Wir haben nun einmal die israelitiſche Litteratur überkommen in ber Form der Bücher, wie fie im Kanon ftehen. Der Lernende kennt das Königsbuch und kennt das Buch Jeſaja jedes als ein Ganzes und will, ehe der kritiſche Hiſtoriker eine Vielheit darans macht, wifjen, weshalb dies geſchieht; bei Neuß erfährt er es teils nachträglich, teils auch muß er fi die Gründe für die Zergliederung zufammenfuchen aus dem erft auf Grund derfelben ermöglichten Gefchichtebilde. Ich zweifle fehr, daß ein Lernender auf diefem Wege von der Nots wendigkeit ber kritiſchen Sonderung überzeugt werden wird, auch dann, wenn ich als Lernenden nicht mar den Studenten, fondern überhaupt den Nichtfachmann denke, welcher nicht alle kritiſchen Vorunterſuchungen für ſich felbft vorwegnehmen konnte. Es will mir fcheinen, als ſei das vorliegende Wert fehr zu günftiger Zeit erfchlenen oder mas richtiger gefagt ift als habe der. Ver⸗ faffer die Form feines Werkes richtig berechnet nach dem, was er als eine Errungenfchaft früher erfchienener Arbeiten anficht. Ohne die Leiftungen von Graf, Kuenen, Kayfer, Wellhauſen, welche unterfuhend verführen, würde fein bdarftellendes Verfahren ſchwerlich in dem Umfange Zuftimmung finden, wie es jetzt der Ball iſt. Ich will Hiermit nur die Berechtigung von zwei Wegen behaupten, eines jeden in feiner Weife. Schr wohl ift mir bes wußt, daß bei dem gewöhnlichen Berfahren der „Einleitung“ ein empfindlicher Mangel nicht zu vermeiden ift: der Lernende empfängt kein Gefamtbild des Litteraturganges, fondern nur Studien zu einem folchen. Ich Halte aber die größere Kraft der Überzeugung, welche ich für Lehrzwecke diefem Verfahren zufchreibe, für einen wertoolferen Gewinn als den eines doch nur teilweiſe verftandenen Geſamtuberblickes. Dagegen ſcheint mir das Werf von Neuß fehr geeignet und empfehlenswert auch als Lehrbuch im eigentlichen

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Sinne, wenn es zur Ergänzung von Vorlefungen benügt wird, welche nad der anderen Methode verfahren.

2. Reuß giebt weit mehr an Stoff, als man in den „Ein Teitungen“ zu finden gewöhnt ift. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Sitteraturgefchichte nur dann verftanden werden kann, wenn fie zuſammengeſchaut wird mit der politiſchen Geſchichte und mit der allgemeinen Kufturgefchichte, hat er jene als den Mittelpunkt umgeben von bem breit gehaltenen Rahmen ber beiden letztgenaunten Entwidelungen. In dem erften, bie „Heldenzeit“ behandelnden Abs ſchnitte kann nicht einmal von der Verwertung nur als Rahmen bie Rede fein: da aus diefer Periode geringe Litteraturrefte vor⸗ liegen, nimmt die Beſprechung diefer einen Heinen Raum ein in dem allgemeinen Geſchichtsbilde. Trogdem das Buch viel mehr bietet als eine Litteraturgefhichte, wählte der Verfafer den auf diefe verweifenden Titel feines Werkes „nicht bloß deswegen, weil er ſo das Seitenftüc zu der Gefchichte des Neuen Teftaments bildet und ankündigt, fondern deswegen, weil in bem größeren Zeile der israelitiſchen Geſchichte die Litteratur eben das Wichtigfte, ja faft allein ficher Belannte ifi“ (©. 4). Durch jene Verflechtung ver⸗ fchiedenartigen Stoffes gewinnt die Darftellung ungemein an Lebens⸗ friſche. Mit nicht unberechtigtem Stolze blickt der Verfaſſer herab auf bie dürren und oft Tangweiligen Unterſuchungen, welche andere als Surrogat einer Gefchichte geboten Haben. Jedesfalls ift ihm gelungen, was er fich vorfegte: „Mir ſchwebte die Aufgabe vor, in eine nachgerade gar zu trockne, und vor lauter Detail» Kritik formlos gewordene Wiſſenſchaft etwas friſches Leben zu bringen, ohne in den entgegengefegten Fehler zu verfallen und etwaige gefunde Gedanken in einer Sintflut von Phrafen zu erfäufen" (S. zu).

Es Täßt ſich mit dem Verfaſſer nicht darüber rechten, wie er feine Auswahl des der Ritteraturgefchichte hinzugefügten Plus ger troffen Hat: er hat dasfelbe vorzugsweife entnommen der pofitifchen und der im engeren Sinne fo genannten Kultur⸗Geſchichte, weniger der religiöfen Entwidelung. Ich möchte wunſchen, daß dies letzt⸗ genannte Gebiet etwas mehr in den Vordergrund geftellt wäre. Daß «8 nicht geſchah, iſt wohl nicht zufällig, Der Verfaffer tadelt nicht ohne Grund die bisherigen Bearbeitungen der „alt

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teftamentlichen Theofogie“, weil fie zu viel moderne theologiſche und pbilofophifche Gedanken ins Altertum zurüdbatieren (S. 23). Er will, fo ſcheint es, die Heiligen Schriften, um nicht in fie einzutragen, ſelbſt reden laſſen von ihrem religibſen und doch auch theologischen Gehalte. Allein um unferem modern «theologifchen Denken verftändlich zu werben, muß bie altisraelitifche Religions⸗ anffaffung in ihrer Verſchiedenheit von jenem und in ihren originalen Zufammenhängen bargeftellt werden. Die Schriften felbft Leiften dies nicht; Aufgabe des Hiftoriters ift es, die in ihnen zerftrenten Glieder zu einem Ganzen zu verbinden und dieſes in eine folde Beleuchtung zu ftellen, welde uns das Verftänbnis desfelben er⸗ mögliht. Indeſſen um nicht mißverftanden zu werden Neuß ignoriert das theologif—he Element Teineswegs; es handelt fih nur um ein Mehr, welches ich nach biefer Seite gewünſcht Hätte, Die hebräifch- judiſche Geſchichte und ihre Litteratur wird von Neuß bargeftellt bis auf die Zerftörung Jeruſalems durch Titus, demnach auch an Litteratur weit mehr, als fonft unter dem Namen des Alten Teftamentes begriffen zu werben pflegt. „Belannt ift, daß nachmals in der hriftlichen Kirche über den Umfang dieſer Samm lung ſder Bucherſammlung, „welche die chriftliche Kirche bei ihrem Entftehen von der fübifchen ererbt hat“ ] zeitweife verfchiedene Meinungen ſich geltend gemacht haben, und fo erffären wir, daß unfer Bericht, aus nahe liegenden Gründen, alle Elemente des alfo erweiterten Schriftkreifes ohne befchränfende Auswahl berüde fihtigen wird" (S. 1f.; vgl. $ 520). Behandelt auf dieſe Weiſe nad) vielen Seiten Hin das Buch ein viel größeres Bereich als fonft die „Einleitung“, fo bietet e8 dagegen in einer Beziehung weniger. Von dem, was man in der Pegel als „allgemeine Ein» leitung“ zufammenfaßt, fällt nur der Heinere Teil in den Zeitraum, welchen der Verfaſſer für fein Buch abgrenzte. Die Arbeit ber Mafforeten, die Entftehung der nachchriſtlichen Überfegungen fand hier Keinen Play. Nicht ohne ſich einer Keinen Inkonſequenz bes wußt zu fein (8 29), hat troßdem ber Verfaſſer mit wenigen Strichen die fpätere Arbeit zur Figierung des Heiligen Textes ſtizziert (8 578ff.) eine heimliche und beſcheidene Spende dem, man

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folfte nicht glauben, dennoch fascinierenden Idole des Einleitungs⸗ begriffe® dargebradtt.

3. Die äußere Anordnung ift diefelbe, welche der Verfaſſer für feine Gefchichte des Neuen Teftamentes gewählt hatte: Para« graphen mit dazwifchen geftellten Grläuterungen und Litteratur⸗ angaben. Der Text jedes Paragraphen reiht fih eng an den des vorhergehenden, fo daß zur Wiederfindung des Fadens über die Zwiſchenbemerkungen Hinweggefehen werden muß. Die Verarbeitung diefer (fofern fie nicht bloß Sitteraturangaben enthalten) mit dem Paragrapgenterte wäre vielleicht in mancher Hinſicht wunſchens⸗ wert; namentlich bürfte etwa eine ftärfere Beeinflufjung dieſes Textes durch die mehr in bie Zwiſchenbemerkungen vermiefene Kritit der Geſchichte am Plage gewefen fein. Es ftehen öfters dort bie Pofition, Hier die Negation friedlich neben einander, fo befonder8 in der „Heldenperiode*. Doc ift bei der befolgen Gruppierung ein alles gelehrten Apparates entledigter, durch keinen Ballaft des Details befchwerter Text gefchaffen worben, welchen glänzendes Darftellungstalent entworfen, künftlerifcher Geſchmack in jedem Sage, es ift faum zu viel gefagt, in jedem Worte ges ftaltet Hat. Ohne Wortreichtum weiß der Verfaffer viel zu fagen: wo er einen Charakter fchildert, fteht er mit wenigen Strichen lebensvoll vor uns, nicht wie ein Porträt gerade von Lenbad) dazu find die Konturen zu Hein, die Striche zu zierlich und Motive der Umgebung zu ſtark charakterifiert —, eher wie eine Figur aus den Meinen Holzſchnitten Menzels, man vergleiche 3. B. die Art des Joſephusporträts 8 15 mit dem in wenigen Linien hingezauberten Voltairekopf auf der „Abendgefellfchaft in Sansſouci“; wo er eine landſchaftliche Gegend befchreibt, find wir durch einige dharakteriftifche Barben wie durch ein Hildebrandtſches Aquarell in die örtliche Stimmung verfegt; wo er ein Dichtunge- wert ich fann nicht ganz allgemein fagen ein Litteraturwerk fchildert, da wählt er wie ein Unger in feinen meifterhaften Nach-⸗ bildungen von Gemälden eine jeweils dem Gegenftand entſprechende Art der Radierung, fo daß die Strihführung der Schilderung uns hineinverfegt in die eigentiimliche Färbung des Originals. Überall nicht kalte, gleihmäßige Konturen, fondern der Wechſel in der

Die Gefchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 8

Führung des Stiftes läßt die Gegenftände wie gefärbt, belebt er» feinen. Ich Habe eine Ausnahme gemacht. An den Propheten bes Berfaſſers bei Jeremia mit feinem elegifchen Tone ftcht es anders bin wenigftens ich unerwärmt vorübergegangen. Michels angelo hat aus den Propheten Geftaften gefchaffen, die and nicht erwärmen, aber fie find Kolofjal, und wir glauben an ihre Größe; diefe Propheten aber von Neuß ber verehrte Verfaffer molle es mir verzeihen find Mein, Ghobomwiedi-figuren, und mir meinerfeits fällt es ſchwer zu glauben, daß vom ihnen Großes aus⸗ gegangen. Es ift eben nicht alles zu ſchildern auch dem größten Künftler gegeben. Wer mag damit ih no einmal auf dem⸗ felben Gebiete der Bergleichung bleibe und damit ber Verfaffer ans der Höhe des Verglichenen erfehe, wie fehr ich ihn auch in feinen, ich meine, ſchwächeren Geftaltungen äftimiere wer mag des großen Florentiners Heilige Familie vergleichen mit irgendeiner unter den vielen heiligen Familien des Urbinaten? Ich weiß unter den Modernen einen nur, ber, obwohl er nichts weniger war als ein Künftler mit der Feder, Propheten Hat ſchildern tönnen; er wurbe darüber felbft fo unmodern, daß feine Gegenwart ihn oft verladit Hat. Unſer verehrter Verfaſſer hat in reichem und gefegnetem Leben ſtets den Forderungen der Gegenwart gerecht zu werden gewußt. Aber man halte Ewalds Elia und den von Neuß einander gegenüber: jenen hat einer gezeichnet, der ihn im @eifte ſah; diefer ift durch Reflexion am Schreibpulte kunſtlich gebildet. Wo es aber ein gedanfenvolles Dichtungswerk wie Hiob oder ein naturfriſches wie das Lied der Lieder zu ſchildern gilt; wo es ſich Handelt um die Spruchweisheit bes kernigen bürgerlichen Lebens oder au um die melancholiſche Reflexion bes auf die eigene und die volfstämliche Blüte zuridfchauenden Skeptikers; wo es ans kommt auf die Tendenzen des ben Kultus gründenden ober des ihn ansgeftaltenden Geſetzgebers: überall hier ich zähle fie nicht auf die anderen Fälle Hat das feine, in den Gegenftand fi vers fentende Berftänduis des Verfaſſers Mufter der Darftellungskunft geſchaffen. Wie die Schilderung der Propheten, fo ſcheint mir auch die des heroiſchen Zeitalter8 im allgemeinen nicht auf der gleichen Höhe zu ftehen mit der des Judentums im engeren Sinne. Das

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Talent des Verfaſſers, meine ich, ift größer für das Genre und das Stillfeben als für das Grandiofe und das Bewegte. Er malt nicht ibealifierend, aber feinfühlend in dem für den Hiftorifer ziemenden Realismus. Die Schilderungen von Kulturzuftänden find in allen Perioden reizende Kabinetteftüde (3. B. $ 112f.). Man wolle diefe Unterſcheidungen nicht mißverftehen. Einmal beruhen fie auf aſthetiſchem Urteile, nicht auf hiſtoriſchem. Ich bin mir deshalb des Subjeftivismus derfelben bewußt. Sodann würden fie nicht gemacht werben, Handefte es fich hier um ein gelehrtes Opus der Art, an die wir gewöhnt find. Aber wir haben es mit dem Kunft- werke zu thun eines Meifters der Stiliftit, welchem als ſolchem, ich glaube es fagen zu dürfen, unter den Sachgenofjen keiner gleich« zuftellen ift. Nur ganz vereinzelt bin ich einer Wendung bes gegnet, welche meinem Ohre unſchön klingt, wie ©. 639 „fein wollender geſchichtlicher Inhalt“ (des Ariftensbriefes). Wir, insbefondere die Theologen, pflegen fonft in Deutſchland zufrieden zu fein, wenn ein gelehrtes Werk fo gefchrieben ift, daß man es überhaupt verftcht. Es braucht uns diefe Beobachtung nicht allzu Teid zu fein; „denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Ger» manen den Inhalt höher gejhägt als die Form“. Nah der Schönheit zu fragen, ſcheint uns auf wiffenfchaftlichem Gebiete beinahe unberechtigt. Hier wird die Frage herausgeforbert. Denn Neuß macht Anſpruch und darf Anfpruh maden, ein Gelehrter nicht nur, fondern ein Schriftfteller zu fein. Er hat in dem Lande mit beutfcher und franzöftfcher Bildung gelernt, daß beides verein bar ift. Möge Frankreich ihm danken, daß er deutſche Bibel» wiffenfchaft dorthin vermittelt hat; wir wollen es ihm unferfeits zu Dank anrechnen, daß er uns ehrt, auch die erufte Göttin der Wiſſen⸗ ſchaft mit den Zügen der Schönheit, in einem ber Antike abgelanfchten Saltenwurfe der Gewandung zu ſchauen. Bon den Franzofen Hat ex gelernt; er wird es nicht Teugnen. Auch die leichte Grazie ber ſitzt er, welche zu ignorieren verfteht, wo der fehwerfällige Deutfche fih an Schwierigkeiten aufhält, bis er darüber zum Stolpern tommt. Manches Hemmmis wird leife angedeutet, und vorſichtig geht der DVerfaffer um bdasfelbe herum, fo daß wir es kaum be merken. Ich glaube, er lacht über die Pebanten, welde um jeden

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Preis den direften Weg bahnen wollen und für Hinwegräumung des Kiefelfteines den gleichen Kraftaufwand einfegen, womit fie den Felſen fprengen. An mancher zierlichen und wenn auch beftimmten, dod immer Tiebenswürdigen und faſhionabeln Jronie merkt man, daß wir nod mit bemfelben es zu thun Haben, weicher vor Decennien am 68. Pſalm unferer ganzen Zunft in ihrer Not und Kunft ein Denkmal errichtet Hat. Deutſche Lefer, welden das franzöfifche Bibelwert von Neuß weniger befannt ift, mögen darauf aufmerkfam gemacht werden, daß er dort noch vor kurzem den dramaturgifchen Egegeten des Hohenliedes eine ähnliche, mir ſcheint, ehr lehrreiche und beherzigenswerte Lektion erteilte.

4. In den Anmerkungen findet fi eine erſtaunliche Fülle von Kitteraturangaben. Der Verfaffer hat damit dem nicht Meinften unter feinen Werken, feiner mit befonderer Siebe gefammelten, mit ausgezeichneter Umficht geordneten und Iatafogifierten Bibliothek ein bleibendes Denkmal gefegt. „Ich eitiere kein Buch und feine Differtation, ja nicht einmal einen Artikel aus irgendeiner Zeite ſchrift, die ich nicht felbft befige, vielleicht Höchftens mit einem halben Dugend Ausnahmen, die nicht zu umgehn waren, und dabei habe ih meinen Vorrat durchaus nicht erfhöpft“ (S. xı). Wenige Privatleute Deutſchlands werden eine ſolche Bibliothek befigen, wie fie in fauberem und gejhmadvollem Gewande ein halbes Stock⸗ wert in dem geräumigen Haufe des Verfaſſers füllt. Nicht fo leicht wird man, da der Verfaſſer nad) einem ftreng eingehaftenen Plane nur auf die Bibelwiſſenſchaft direft oder inbireft fi Bes ziehendes gefammelt Hat, irgendwo einen folhen Apparat der Bibel» forſchung beifammen finden. Möchte es dem Verfaſſer, der feine Schäge mit feltener Liberalität jedem ihrer Bedurftigen erſchließt, gefallen, dies Werk eines etwa fünfzigjäßrigen Sammelfleißes uns geſchmälert in dieſer Zufammenftellung aud künftigen Gefchlechtern feiner Vaterſtadt offen zu erhalten zum nicht geringften Nachruhme feines Namens!

Allerdings ohne mein Augenmerk fpeziell darauf zu richten, Habe ich nur an wenigen Punkten Litterariſches vermißt. $ 25 wäre Riehms Handwörterbuh, 8 67 Ebers „Dur Gofen zum Sinai“ zw erwähnen gewejen. Bei Beiprehung der angeblichen

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Metrik 8 125 iſt Bickell zu vermiſſen, unter der Litteratur über den Salomoniſchen Tempel 8 167 de Vogüe, 8 218 Friedr. Delitzſch über die Lage des Paradieſes. 8 224 oder wo ſonſt von B. Sacharja die Rede iſt (88 269. 365), habe ih Stades Unter⸗ fuchung nicht erwähnt gefunden, 8 250 unter ber Litteratur zu Jeſaja Nägelsbach und auch fonft nennenswerte Teile des Langer ſchen Bibelwerkes vermißt, ebenfo 8 441 zu Koheleth Delitzſch, 8 464 zu Daniel Hitzig. Neſtles Artikel $ 420 iſt vom Jahre 1879 (nit 59). An wenigen Stellen ſcheint mir der Verfaffer, une um feine Leſer durch Auftiihung einer Kurtofität zu erheitern, Schriften erwähnt zu haben, deren Namen der Würde diefes Wertes nicht entipreden, wie © 91 ©. Seyffarths aftronomifche Zräumereien.

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1. Der Stoff ift gruppiert nad den vier Perioden der Helden, ber Propheten, der Priefter und der Schriftgelehrten. Natürlich geht auch für ben Verfaffer eine Wirkſamkeit der Priefter ſchon neben derjenigen der Propheten her; aber auch dann, wenn man biefer älteren priefterlichen Thätigkeit einen größeren Umfang und ein tieferes Eingreifen zufchreibt als der Verfaſſer (Ref. ficht ſich hierzu genötigt), find es doch erft ſeit dem Exile (von hier an datiert Reuß die „Zeit der Priefter“) die Kohanim, welche dem jübifchen Volt ihren Stempel aufbrüden. Umgekehrt ragen die Propheten ihrer feits noch Hinüber im die folgende Periode. Wie der Verfaſſer feine vier Zeiten verftanden wiſſen will, erfieht man am beiten aus biefer Eharakterifierung berfelben: „das Volt als Subjekt, die Offen. barung als Mittel, der Kultus als Form, das Geſetz als Ergeb» nis: Individualismus, Idealismus, Formalismus, ZTraditionalis- mus“ (S. 31).

Zunächft wird Stammes und Volfögejchichte dargeftellt. Yon Litteratur ift, indem verneint wird, daß es ſich um ſolche handle, erft von S. 70 an (Mofes, Joſua), pofitiv erft S. 118 (Deboralied) die Rede. Der Verfaffer Täßt 8 37 „die femitifchen Völker ihrer Sprache nad) mit den indogermanifchen verwandt fein“. Möglich, aber nicht erwiefen. Jedesfalls aber wären nicht zum Belege,

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was wohl nur der Popularifierung zufiebe gefchehen ift, deut ſche Wörter: „Erbe, ſechs, fieben, Horn, halfen“ u. f. w. anzuführen gewefen, da bie ariſchen Grundformen ander Tauteten. Im -allges meinen tritt das Sprachgeſchichtliche in diefem Buche mit Wiffen und Willen des Verfaſſers (S. xı) in den Hintergrund. Daß der Stamm Levi, abgefehen vom Pentatendh, „erft feit David alle mählich (denn mit den Fabeln der Chronik laſſen wir uns nicht abfpeifen)“ in der Geſchichte „zum Vorſchein kümmt“ (S. 64), ſcheint mir mit Rüdfiht auf Richt. 17f. zu viel gefagt; doch vgl. ©. 127 („Levit“ Richt. 17f. vielleiht Berufs name?).

Sehr beachtenswert ift das Urteil des Verfaſſers über die Wirkfamfeit Moſes, weit pofitiver, als es Heutzutage Mode wird, darüber zu urteilen. Ich ftimme durchaus bei und ftelle der Wichtigkeit des Gegenftandes wegen eine Reihe charakteriftifcher Äußerungen zufammen: ber Verfaſſer findet ſich „ſchlechterdings nicht veranlaßt, an der Eriftenz des Mannes Mofe zu zweifeln; jedenfalls Tann feine Wirkſamkeit, welche fie nun auch gewefen fein mag, nicht eine bloße Fiktion jüngerer Jahrhunderte fein, und die fpäter ins helle Licht der Gefchichte tretenden Beftrebungen der Propheten weifen ihren Anfängen nah auf einen frühern Zeit- punkt, welden wir eben nirgends in der fonft befann» ten nahmofaifchen Periode aufzufinden vermögen“ (S. 69). „Mofe wurde für alle Zeiten der Geſetzgeber Israels; für uns nicht in dem Sinne, daß feine Hand niedergejchrieben hätte, was wir jegt noch in dem heiligen Lehr. und Rechtsbuch des Volkes beifammen leſen können, auch nicht in dem andern, daß von ihm menigftend mündlich alles fo angeordnet und bis ins Heinfte herab beftimmt worden wäre, was feine Nachfolger zulegt fammelten und aufzeichneten . .. Aber fein Geift, darin eben als ein göttlicher ſich erweifend, beherrfchte das Urteil ber Jahrhunderte und drückte der nationalen Entwicelung Stempel und Richtung auf“ (S. 70). „Ihm gehörte zweifelsohne die Regel und Ordnung des Gottesdienftes, wie fie nahmals in Israel beftand, wenigſtens ihren Grundzügen nach, ober genauer gefagt, die engere Beziehung meift uralter Heiliger Gebräuche, zu

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welchen vielleicht auch die Beſchneidung zu rechnen iſt, zu den beſſern religiöfen Ideen“ (S. 80). „... möglich bleibt, daß fein Einfluß auf eine beffere und feftere Geftaltung des gefellfchaftlichen Rechtsherkom- mens fic erftredt Hat, wäre es auch nur durch gelegentlich eingehofte Entſcheidungen einzelner Fälle, welche dann auch für ähnliche gelten konnten. Und daß bie alfo gegründete bürgerliche Ordnung eine fittfihe Grundlage Hatte... ., die Liegt für das fpäter gefchriebene Gefeg fo Har am Tage, daß der Trieb dazu füglich ſchon an ben Anfang gerückt werden mag" (S. 82). „Sei es num viel oder wenig, was durch Mofen eingeführt und gefördert wurde, jeben- falls haben wir uns fein Wirken als das eines Propheten zu denken, eined Mannes, der in der Kraft des göttlichen Geiftes, die in ihm war und aus ihm fprad, und als folder anerkannt, in lebendigem Verkehr mit den Zeit- und Volksgenoſſen ftand, wie und wo fein Wort fie erreichen konnte“ (S. 87). Man ficht ſchon aus biefen Anführungen, das Bild des Mofes ift Hier mit viel beftimmteren Umrifjen gezeichnet, die ſpezifiſch aftteftamentliche Neligion und ihr Kultus ift Bier viel ſicherer durch Moſes ver- mittelt gedacht als 3. B. bei Kuenen. Nicht erft die Propheten des achten oder auch des neunten Yahrhunderts haben demnach, wie man neuerdings vielfah annimmt, dem israelitifchen Volke feinen eigentiimlichen religiöfen Stempel aufgedrüdt. Ich ftimme dem Verfaffer durchaus bei, und kann ohne eine ſolche Moſaiſche Grundlage weder die altteftamentliche Anſchauung von den Anfängen der israelitiſchen Religion noch das Auftreten eines Amos und Hofen begreifen. Hat mit Mofes eine feftere und genauere Ordnung des Kultus begonnen, jo wird die Arbeit feiner weiteren Ausgejtaltung von da an nicht geruht haben. Wir Haben alfo anzunehmen eine neben der prophetifchen Thätigkeit Hergehende wie eine ihr voraus⸗, gehende Ausbildung der Gottesbienftordnung; jene fand naturgemäß bei der Priefterfchaft igre Pflege. Neuß bemerkt dies ausdrücklich: „Daß ... das Beſtehn einer levitifchen Tradition inbetreff der Ritualien, ſchon in der Konigszeit nicht geleugnet werden ſoll, verſteht ſich von ſelbſt; nur von einem ſchriftlichen, offiziellen, heiligen Coder dieſer Art Tann keine Rede fein" (S. 76). Bon einem „offiziellen“, d. h. für das ganze Volk bindenden, Coder ber

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Nitualien vor Esra gewiß nicht. Aber follte von Mofes bis auf Esra die Reife der Jahrhunderte hindurch, in welchen der Kultus aus dem wandernden Dralelzelte des Nomadenvoltes einzog in die feften Gotteshäufer von Siloh, Bethel, Dan und hernach im jerufolemifchen Tempel ein mit befonderem Pompe ausgeftattetes Tönigliches Heiligtum fand, follte in alt diefer Zeit nur die Trabition des „Mofaifcden“ die Kluft überbrücken zwiſchen Mofes und Esra? ES will mir, die Sache ganz allgemein anger fehen, ohne Ruckſicht auf die Beſchaffenheit des pentateuchifchen Prieſtercoder, ſchwerlich denkbar erfcheinen, daß nicht ſchon die große und mächtige (man denke ſchon an Jojada) BPriefterichaft des Salomonifhen Tempels den Verſuch der Fixierung ihrer Kultus» vorfchriften gemacht Haben follte, und daß nicht Beftandteile ſolcher voregilifher Sammlungen in dem von Esra veröffentlichten Rituale gefege erhalten fein ſollten. Bundesbuch und Deuteronomium find folhe Fixierungen nicht; denn die Außerlichteiten des Kultus find in ihnen Nebenſache. ber, ich weife noch einmal darauf Hin, Neuß fteht in einem fehr bedentſamen Gegenfage zu denjenigen, welche feine Pentateuch · Hypotheſe aufgenommen und fortgeführt haben. Anders als bei Kuenen, Wellhanfen und vielen neueren handelt es fi bei ihm mehr um eine litteratwrgefcichtliche Frage. Seine Darftelfung der Kultus geſchichte fteht der älteren bedeutend näher. Ich meinerfeits Tann nicht umhin, im dieſem Hiftorifchen Urteile, wie auch anderwärts in der befonnenen Zurütdhaltung des Verfaſſers, gefunderen Geſchichtsfinn zu erkennen als bei der Mehrzahl der jüngeren altteftamentlichen Kritiler. Dieſen Eharakterzug des Buches begrüße ich mit befonderer Freude.

Die Abfaffung des Liedes Richt. Rap. 5 durch Debora felbft bat, entgegen der Bemerkung ©. 119, fon Wellhaufen (Bleek, 4. Aufl.) in Abrede geftellt. Seine mit Reuß vielfach zufammens treffenden Argumente find durchaus überzeugend.

2. Die „Zeit der Propheten“ wird vom Königtum Davids an datiert, wofür offenbar die Anfchauung maßgebend war, daß ber mächtige Gottesmann Samuel, eine neue Periode einleitend, doc feiner eigenen Perfon nach mehr noch ber älteren angehört. Die Berneinung der Davidiſchen Abfafjung von Pf. 18 (S. 186)

832 Reuß

bebürfte irgendwelcher Begründung (doch vgl. ©. 348). Die Behauptung ©. 196, da8 Innere des Salomoniſchen Tempels fei „den Ungeweihten unzugänglich“ gewefen, überträgt auffallender- weife Vorſchriften für die Stiftshütte des Prieftercoder auf bie Salomonifche Zeit. „Darftellung der Gottheit" (S. 196) waren die Cherubsfiguren bes Tempels nicht, auch nicht aus folder Darftellung entftanden. Die Anfegung des Jalkobſegens in die Salomonifhe Zeit (S. 200.) ſcheint mir denfelben zu tief hinab⸗ zurüden wegen bes über Levi Gefagten, auch mohl wegen des doch wahrſcheinlich als Haupikultusort gedachten Siloh („fo Tange man fommt nad Siloh*?). Das ohne Zweifel ältefte der uns erhaltenen Gefegbücher, da8 Bundesbuch „Er. 21,1 23, 13“ Hält Neuß vermutungsweife für das unter Joſaphat „promul« gierte Zandreht“ (2 Ehr. 17, 7ff., ©. 231). Es ift aber faum zu verfennen, daß auch Er. 20, 22ff. zum Bundesbuche gehörte (S. 232). Sollte nun nit in einem vom jubäifhen Könige ausgegangenen Geſetzbuche, anders als es bier gejchieht, irgendwie ein Vorrang des jerufalemifhen Tempels vor den anderen Heilige tümern zu erwarten fein? her ſcheint mir das Bundesbuch älter zu fein.

ALS ältefter Prophet wird Joel angefegt, als Zeitgenofje des Joas von Juda. Doch gefchieht es „nicht mit voller Überzeugung“. Unter allen anderen Anfegungen fcheint dem Verfaſſer allein die entgegengefeßte in Betracht zu kommen, welche dem Joel unter den Propheten die legte Stelle anweift (S. 243). Ich teile durchaus den Standpunkt des Verfafjers in feinem Schwanfen wie in feinem Endurteil; die beftehenden Schwierigkeiten und das den Ausichlag Gebende feinen mir von demfelben richtig und präcife formuliert zu fein. „Ich geftehe, daß für mic) von jeher der ſchwerwiegendſte Grund gegen ein höheres Alter in der Maren, Leichtverftändlichen, fliegenden Sprache lag, wie ich mir biefelbe bei einem Vorgänger von Amos und Hofea nicht wohl denken konnte. Und ich möchte denfelben auch jet noch in die Wagſchale werfen, obgleich die gegnerifche Kritit darauf zu verzichten fcheint“ (&. 244). Ferner ſcheint bebeutfam für fpäte Zeit: „Won Ephraim ift feine Spur mehr; die Juden find bereits in ale Welt zerftreut; fie haben einen

Die Gefchichte ber Heifigen Schriften Alten Teftaments. 838

König, nur noch Ültefte; Stadt und Tempel exiftieren, aber nur inmitten eine ganz Heinen Gebietes, in deffen Grenzen man es überall Hört, wenn zu Serufalem die Trompete geblafen wird. Der Kultus ift da die Hauptfache, und dabei wird am meiften auf das Faften gehalten. Namentlich aber werden dem Volke keine ber fonderen Vorwürfe gemacht; von Götzendienſt, von den Höhen, wie doch zu Amos’ und Hoſeas Zeit ift nicht die Rede“ (S. 245f.). Ente ſcheidend iſt trog alledem für den Verfaſſer das anfceinende Abhängigfeitverhältnis de6 Amos (S. 244) und namentlich die Schilderung der Völkerwelt bei Joel, der Umftand, „daß er als Feinde Judas, über melde Jahweh Gericht halten will, nur Edomiter, Ägypter, Bhilifter und Phönizier nennt, ausdruͤcklich die beiden letzten als Sflavenhändler: nicht aber Syrer und Affigrer“. Die Erwähnung Jawans macht keine Schwierigkeiten (©. 245).

Den Jehowiſten (Jahwiſten) fest Reuß an in der Blütezeit der Nimfiden. Daß ©. 250 Deut. 33 in der Eharakteriftit desſelben verwertet wird, ift doch wohl ein Verfehen, obgleih nah S. 254 Deut. 33 dem Jehowiſten „ungefähr gleichzeitig“ iſt. Sehr ſchwankend, mir ſcheint, etwas dürftig, ift $ 215 die Darftellung des Verhältnifjes vom fogen. zweiten Elohiften zum Jehowiſten aus» gefallen. Reuß ift nicht für die Ergänzungshhpothefe; über das Altersverhältnis entſcheidet er fi nicht. Wenn aljo nah ©. 75 Nöldefe u. a. „beiviefen“ Haben, daß der „fogen. zweite Elohift älter war als der Jehowiſt“, fo fcheint dies nur aus dem Sinne jener Kritiker gerebet zu fein. Die nicht der priefterlichen Schrift angehörenden Beftandteile der Urgeſchichte vor Gen. Kap. 12 find nad Reuß wie nad) Wellhaufen (der Hier wohl zu nennen ge⸗ wefen wäre) nicht oder doch nur teilweife jehowiſtiſch (S. 255). Jedesfalls ift auch nach Neuß anderen Urfprungs Kap. 2, 4b bis 3, 24. Wellhaufen fheint mir dies bewiefen zu Haben. Ob fi nicht aber Neuß darin tert, daß diefer Mythos oder nad Reuß vielmehr diefe Allegorie eine Schöpfungsgefchichte und bie Er⸗ zählung eines einmaligen Sundenfalles gar nicht. fein wolle und erft von einem Redaktor im diefer Weife mißverftanden wurde (©. 2575)?

Theol. Stud. Yabrg. 1888. 54

[3 Reuß

Iſt nicht Joel der Ültefte umter den in Schriften erhaftenem Propheten, fo iſt es Amos; darüber befteht (von Obadja darf mar, meine ih, abfehen) Feine Frage. Nicht fo allgemein wird anerlannt werden, daß bes Amos Buch „nieht darnach ausſteht, als od ihm nichts Ahnliches vorausgegangen wäre“. Mir ſcheint diefe Beobachtung jehr richtig und fehr beachtenswert: „Gleich das erfte Blatt beruft fich auf frühere Weisfegungen, und überhaupt jegt das Ganze eine bereits gangbare Ideenreihe voraus, die meber dem Scehriftſteller noch feinem Publikum neu war. Schon feine Er⸗ Kärung, ex fei weder ein Prophet noch Prophetenſchuler, würde genigen, jene Vorſtellung abzumeifen‘ (&. 268). Daß Ra auch durdy Wellhauſen (Bleck, 4. Aufl.) von dem Reallsmus ber Ehe bes Hofen fich nicht hat überzeugen laſſen (S. 264 f.), befrembet mich. Es ift nur konfequent, daß der Berfafler geneigt tft, auch bie Kinder de8 Jeſaja für Symbole zu nehmen (S. 308). Wie dies nament- lich für Schearjafhub möglich fein ſoll, fehe ih nicht ein. Der Autor von Sad. Kap. 9—11 iſt nad Reuß gleichzeitig mit Hoſea (S. 266). Stabes Gegengrunde feinen Überfehen werben zu fein. Ich meinerfeite ftimme trotz derſelben dem Urteife von Reuß bei, daß Kap. 9—11 der Zeit angehören, „wo noch beibe Druchteile ber Nation neben einander beftanden, mit ihren Königen und Göttern, wie mit eitlen Hoffnungen auf fiegreiche Bergeltungslriege“ (©. 266). Der WMbfchnitt Sad. Kap. 12—14 gehört nah Reuß bielleicht* der Zeit des Manaſſe an, jedesfalls der Zeit nad Ephraims und vor Judas Untergang (S. 832ff.).. Ich vermag noch jest 12, 11 nur vom Tode Joſias zu verftehen.

Am wenigften begreifli unter den litteraturgeſchichtlichen Urteilen von Reuß ift mir das über Buch Muth gefälle (S. 292ff.). welches, gleichzeitig etwa mit Hiob, in Die Zeit des Jeſaja verlegt wird, kurz nad dem Wolle Ephraims. Es fell eine politifche Tendenzſchrift fein, indem es ben im Lande gebliebenen Meft Ephtaims auffordert, fich dem judäiſchen Reich anzufchliegen. Der Schu des Boas iſt von jeinem Vater her Judäer, aber, als von Neomi aboptiert, Ephraimit. Ephratim nämlich (1, 2) bezeichnet nicht die Männer von Beigfehem Ephrata, fondern die Gphraimiten, „fei es nun daß wirklich zu Bethlehem ſolche (Ephraimiten) angefiedelt

Die Geſchichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. =

waren, oder daß mit dem Ramen &frata gefpielt wird" (©. 297). Alfe die Rachtommen bed Bons, die Davididen find Erben Ephraims von Noomi her. Reuß zeigt in feiner Perſon, dag es moglich ift, die Erzählung fo zu verftehen. Ob aber der Autor des Büchleins anf allgemeines Verftändnis einer folchen Allegorie rechnen Sonnte, fo daß er feinen Zweck irgendwie erreicht Hätte? Ich Tann nur die eine Tendenz in dem Buche erfennen, den König David zu verherrlichen durch die Erzähfung von feiner Ahmmutter. Nicht mit voller Sicherheit wird in die Zeit der Endkataftrophe Ephraims aud das Samuelbuch verlegt (S. 298 ff.) mit Ausnahme der vier letzten Kapitel, welche deutlich ein fpäterer Anhang find (S. 303). Es mtgeht dem Berfaffer nicht, daß das Bud in feiner vorliegen« den Geftalt mit dem Konigsbuche zufammengeasbeitet ift und daß die Redaktion des letzteren erft in bie exilifhe Zeit fällt. Ich dezweifle die Berechtigung, vor dieſer Zufammenarbeitung das Samuelbuch als ein Ganzes vorauszufegen. Wellhauſen, deffen Kritit diefes Buches (Bleek, 4. Aufl.) ich in ihren Grundzügen zu dem Überzeugenbdften rechne, was er gefchrieben, ſcheint mir beffen Ent» ſtehung aus drei gefonderten Büchern, einer Geſchichte Sauls und zweler verfchiedener Geſchichten Davids nachgemiefen zu Haben. Nichts weiſt darauf Hin, daß diefe drei Elemente von einer früheren Hand verbunden wurden als derjenigen, welche die Fortſetzung der Königs⸗ geſchichte Hinzufügte. Daß die Medaktion des Samuelbuches als eines Ganzen „vordeuteronomiſch“ fel (&. 299), wird irvig daraus gefolgert, daß der Gedanke der Rultuszentralifation fehlt. Auch der deuteronomiftifche Redaktor des Konigsbuches laßt diefen erft mit dem Baue des Salomonifchen Tempels prattiich werden (1 Kon. 3, 2). Stlliſtiſch unklar if S. 203 1. A., dieſem zweiten Buche“. Wolches?

Nach der Beſprechung ber Propheten Jeſaja und Micha, für deſſen Integrität Reuß eintritt (S. 318ff.), wirft der Verfaſſer einen Rudblick auf die Theologie der Propheten (S. 315ff.). Sehr beherzigenswert gegenüber der mobernen Liebhaberei fir Lehre begriffe der einzelnen Propheten ift die Erklärung: „Wir find überzeugt, daß die weſentlichen Elemente der prophetifchen Gefamt« anfhanung älter find als unfere älteften Zeugen“ (S. 316). Es

. dae

836 Reuß

ſcheint mir dies ſehr richtig. Dennoch aber will mich bedünken, als habe Reuß den Einfluß der uns noch vorliegenden Propheten nicht eingreifend genug dargeftellt. Auch die Predigt Jeſu bot, von feinem perfönlichen Verhältnifje zum Gottesreiche abgefehen, nicht abfolut Neues, und dennoch war fie als Ganzes ein Neues. In geringerem Maße wird basjelbe von der Predigt der Propheten gelten. Es geht dies hervor aus einer Vergleichung derjelben mit dem, was wir aus den Hiftorifhen Schriften als früheren Volls⸗ glauben refonftruieren können, wie mit dem, was wir aus den Proppetenfchriften felbft als die zeitgenöffifche Anſchauung erfehen. Sogar die Wende, welche mit ber Predigt des Jeremia beginnt Reuß nennt ihn mit Recht den größten unter den Propheten —, ſcheint mir vom Verfaffer nicht genugfam hervorgehoben zu fein. Iſt Hier bei Neuß ein Mangel zu finden, fo hängt er damit zu⸗ fammen, daß derfelbe die Propheten zu fehr als Schriftfteller, zu wenig als Prediger denft. Natürlich meine auch ich, daß manches Prophetenwort nicht in der uns vorliegenden Form Tann geredet worden fein und daß mandes, namentlich bei den fpäteren Pro» pheten, von Anfang an nur ſchriftlich exiftiert hat. Es Handelt fi nur um ein Mehr oder Weniger. Unfer hiſtoriſches Urteil über des Verfaſſers Prophetengeftalten fteht in engem Konnex mit dem äjthetifchen, welches ich mir erlaubte.

Das Richterbuch, von Einleitung und Anhängen abzufehen, alfo 2, 6—16. 31 ift nad) dem Verfaſſer jünger als das Samuelbuch, aber ebenfalls noch vordeuteronomiih (S. 339). Sollte wirklich gleich der Anfang 2, 6ff., der fih fo ganz in beuteronomifchen Wendungen bewegt, der vorjofianiſchen Zeit angehören? Ich kann mic mit vielen anderen dem Eindrude nicht entziehen, daß bie Redaktion wie von Buch Joſua und Konigsbuch (fo auch Neuß), ebenfo nicht minder die des Nichter- und des Samuelbuches in Abhängigkeit ftand vom Deuteronomium. S. 342 hat der Verfaffer den Anhang Richter Kap. 17f. zu fpät angefegt, überfehend, daß 18, 30 eine Gloſſe ift (Wellhaufen).

Zu den beſonders beachtenswerten Partien rechne ich die über das Deuteronomium (S. 340 ff.). Neuß ficht richtig, daß das⸗ felbe nicht ein Werk der jeruſalemiſchen Priefterfchaft zur Zeit

Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teſtaments. 837

des Joſia iſt; denn die deu Zadokiden unbequeme Gleichſtellung der Sandpriefter, welche das Deuteronomium fordert, wurde nad) 2 Kön. 23, 9 in der Reform des Joſia nicht durchgeführt, ohne Zweifel unter dem Einfluffe der Tempelprieſterſchaft. Vielmehr find „die Propheten die eigentlichen Verfaſſer der deuteronomifchen Geſetzgebung“ (S. 350). Das neugefundene Buch war weniger ein Gefe als ein „Lehrbuch für das Bolt, ein Katechismus der Religion und Moral aus der Schule der Propheten“ (S. 359). Diefe im Gegenfag zu vielen neueren Darftellungen ftehende An« ſchauung ift fehr wichtig. Es iſt Hiernah annchmbar, daß zur gleichen Zeit wie das Deuteronomium oder ſchon früher in den Kreifen der jerufalemifchen Priefterfhaft Kultusordnungen entftan« den, welche von ber des Deuteronomiumsd weſentlich verſchieden waren. Dabei wäre nicht auffällig, wenn diefe jerufalemifchen Ritualienſammlungen einen ausgebildeteren Opferdienft vorausfegten als das Deuteronomium. Man wende nicht ein, daß der jeru⸗ ſalemiſche Oberpriefter Hilkia es war, welcher das deuteronomiſche Geſetz ans Licht zog. Er mochte dasſelbe bona fide als das Mofaifche Geſetz begrüßen, obwohl bie Beftimmungen desjelben den Tendenzen feiner Kafte nur in dem einen Punkte der Kultus⸗ zentralifation entfprachen. Wer weiß überdies, ob nicht etwa Hilfe über jene Tendenzen erhaben war? Der Erfolg zeigt, daß das den Zadokiden Unbequeme des Geſetzes ohne Schwierigkeit zu ignorieren war. Demnach giebt and) Reuß zu: „Es iſt neuerdings die Vorftellung empfohlen worden, daß die fogen. elohiſtiſche .. . Geſetzgebung, trog ihrer Verfchiedenheit von der deuteronomifchen, nicht notwendig als eine jüngere zu betrachten ſei; fie Könnte ja mit: letzterer gleichzeitig entftanden und parallel gegangen fein. Wenn damit gefagt werden will, daß bereits in vorerilifcher Zeit die Priefter zu Jeruſalem eine mehr oder weniger fefte Kultord⸗ nung befolgten, fo könnten wir dies füglich gelten laſſen“ (S. 365). Wenn Neuß Hinzufügt: „Aber dabei an einen offiziell redigierten Codex zu denken, von dem etwa gar bie Verfafjer des Deutero« nomiums nichts gewußt hätten und vice versa, da® geht nicht wohl an“, fo liegen die Gründe für diefe Einſchränkung in feiner Beurteilung ber elohiftifchen Gefeggebung an und für fih und in

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ihrem Verhaltniſſe zu Ezechiel. An einen „offiziell redigierten ober“ denfen auch wir nicht; denn das Deiteronomsum ift zur Zeit des Joſia das Geſetz Mofes! Nicht ausgeſchloſſen aber Halte ich eine andersartige in jeruſalemiſchen Priefterfreifen kurſierende Vizierung der am Tempel bereits beftehenden ober doch von deſſen Briefterfcaft gewünfchten Kultusorduung. Daß man nicht fie an- ftatt des Deuteronomiums als Moſaiſches Geſetz an das Licht treten ließ, Konnte fehr einfach darin begründet fein, daß die Urs fprünge jenes prieſterlichen Geſetzes damals nor zu Kar am Tage lagen. Daß die elohiftifge Geſetzgebung nicht erſt erilifch oder nachexiliſch ift, ſchließen wir zunädft aus der Art, wie dies felbe mit dem Denteronomium und mit dem jeowiftifchen Buche verbunden ift. Wie feltfam wäre es doch, wenn ber offenbar dem Deuteronomium zeitlich nicht zu ferne ftehende (nah Neuß noch vor dem Exile arbeitende) Medaktor des deuteronomiſchen Gejeges (ih) denke aus mehrfachen Gründen cher das Exil als feine Zeit) dasfelbe nur mit dem jehowiftifchen Buche verbunden hätte in der Weife, daß er das vom Horeb ergangene Gejeg nicht dem Be- richte vom Wüftenzuge einverleibte, fondern als eine Abſchiedsrede an das Ende des Lebens Mofes fiellte (©. 383f.). Reuß ber merkt: „Daß das ältere aus Joſijas Zeit ſtammende Geſetzbuch bei der legten Auordnung Hinter das jüngere des Esra ſelohiſtiſches Geſetz gericht wurde, erflärt fich ganz einfach aus dem Umftande, daß es den Schauplag in die Nachbarſchaft Kanaans und ans Ende des Sehens Moſes verkegt, und nicht an den Sinai“ (©. 477). Ganz einfah? Aber die Frage ift, weshalb der Deuteronomiler ober vielmehr nicht diefer, fondern der Medaktor des Denterono« miums dem Joſianiſchen Gefege jene zeitliche und Lokale Stellung in der Mofesgefcichte auwies. Darauf giebt Reuß feine Antwort, Diefe Stellung vermag ich nur daraus zu erklären, daß ſchon für den deuteronomiftifchen Redaktor das Deuteronomium als eine Relapitulation der eigentlichen Geſetzgebung erfchien, daß alfo ſchon igm ein anderer Eober vorlag. Das Heine Bundesbuc kann ihm unmöglich als das eigentliche Sinaigefeg gegolten Haben; als Re- fapitulation der Gejeßgebung läßt fi das Deuteronomium nur werten dem großen elohiftifchen Geſetze gegenüber. An dasjenige

Die Geſchichte der heiligen Schriften Alten Teftamente. =”

Geſetzbuch, welchem Leo. Kap. 17—26 angehörte, können wir wicht benfen, als ob diefes für den bdeuteronomiftifhen Redaltor dns eigentliche (zuerft verkündete) Geſetz des Sinai oder Horeb geweſen wäre, da fich feine Spar einer deuteronomiftiichen oder auch jeho⸗ wiftifchen Redaktion biefed Codex findet. Mir wenigſtens ſcheint (anders als Dillmann), daß uns dasfelbe nur im elohiftifcher Über- ‚arbeitung (verbunden mit dem Prieftercader) vorliegt.

Das für die Zeitbeftimmung des Nahum (Neuß ſtellt ihn weben Jeremia und ben Deuteronomiter) wichtige Datum des Untergangs No-Amons (Theben), ift nicht fo ganz unbezeugt, wie Neuß (S. 369) annimmt Nach aſſhriſcher Angabe wäre dasſelbe atıon das Jahr 663 (Schrader, 8. U. T., 2. Aufl, ©. 449ff.).

3. Mit ber Redaktion des Deuterenomiums und (der älteren [?] desteronomiftifchen) bes Buches Joſua ſchließt die „Zeit der Pro⸗ Pheten“. Klagelieder und Ezechiel leiten die „Zeit Ser Priefter“ ein. Dafür, dag Ezechiel die Brücke bilde vom Deuteronomium zum Prieftercoder al dem jüngeren, ift auch für Reuß wie fir Graf, Ruenen u. a. ein Hauptargument die vermeintliche Beobachtung, daß Ezechiel den Unterfchied zwifchen Prieftern und Leiten erft ſchaffe (S. 416). Es iſt dies ber eigentliche Angelpunft der Reußſchen Hypotheſe. Aber Ezechiel ftellt nicht im mindeften im Abrede, daß am jermfalemifchen Tempel eine Unterjdeidung von eigentlichen Prieſtern (Zadoliden) und Tempeldienern beftand, wobei naturlich abzufehen ift von den deutlich erwähnten Tempelſklaven. Die nichtezadekidifcgen Leviten, welche nach Ezechiel früher Priefter waren, nad) feinen Gefetze aber nicht mehr fein follen, find (das ift allgemein anerkannt) bie früheren Höhenpriefter, welche auf Grund des Deuteronomiums eine Zulaſſung zu dein jerufalemäfchen Kultus beanfprugen konnten. Wenn diefe „Leviten“ nicht mehr Priefter fein ſollen, fo ſchließt das doch nicht aus, daß ſchon vor« ber am jeruſalemiſchen Tempel nur eine beftimmte Familie feiner Zeviten des eigentlichen Priefteramtes gewaltet hatte. Die „Les viten“ des Prieftercoder find die Sänger und XThorhüter des Tempels, melde nach Buch Esra und Nehemia aus dem Exil zurücklehrten, alfo fchon vorher beſtauden. Es ift deutlich; denn das Sangergeſchlecht der Korachiden gehbrt zu ben „Leviten‘ des

80 Reuß

Vrieſtercoder, ſteht in nahem verwandiſchaftlichem Verhältniſſe zu der eigentlichen Prieſterſchaft und hadert noch mit dieſer um die Gleichberechtigung. Die von Ezechiel zu „Leviten“ degradierten find, meine ih, eine neue Größe, von welder der Prieſtercodex gar nicht vedet, weil fie zu feiner Zeit für dem jerufalemifchen Kultus nicht in Betracht kam.

Nach Ezechiel, Haggai und Saharja fegt Neuß den Obadja

an (S. 448ff.); mir fheint, zu fpät, da der Haß gegen die Helfer am Werfe ber Zerftörung Jeruſalems noch fo lebendig ift. Ganz Har finde ich die für die Meine Schrift gegebene Kritik nicht. Wenn die Parallelftelle bei Jeremia „lüdenhaft erſcheint, faft wie ein Excerpt“ (©. 450), fo follte man doch meinen, Jeremia habe Obadja 1—8 vor ſich gehabt. Dennoch ift dies nach Neuß nicht der Fall, fondern „Obadjas Schrift nichts weiter als eine Kom⸗ pilation“ (©. 451), aud aus Jeremia. Mir fcheint für V. 18 die Annahme einer (dem Jeremia und Obadja vorliegenden) älteren Quelle notwendig. Als Mittelglied zwiſchen Ezechiel und Esra wird das Meine Geſetzbuch Leo. Kap. 17— 26 gewertet (S. 452). Dabei ver- ftehe ich nicht die Argumentation, daß es älter als Ezechiel deshalb nicht fein Tönne, weil es demfelben unbefannt geblieben oder von ihm nicht beachtet worden wäre, obgleich ihm fo vielfah verwandt (S. 454). Wenn auch Ezechiel auf ein ihm vorliegendes Kultus geſetz fich nicht beruft, fo feheint mir doch nichts der Annahme im Wege zu ftehen, daß er ein ſolches kannte und benügte. Dill» manns Beweisführung für vordeuteronomifchen Urfprung des Grund« ftodes von Len. Kap. 17—26 hat mich überzeugt. Iſt auch der Prieſtercoder in feinen Grundbeftandteilen vorsezehielifch, fo ſcheint doch noch Ezechiel das Geſetzbuch, welchem Lev. Kap. 17—26 angehörte, in feiner DBefonderung gekannt zu Haben.

Mit Esra find wir endlich an dem Zeitpunft angelangt, wo nah Neuß das von den erften Blättern diefer Litteraturgefchichte om negativerweife befprochene große Kultusgeſetz in Sicht tritt (S. 460ff.), nit in die Vollendung; denn fehr beftimmt und von Wellhaufen weſentlich ſich unterfcheidend, dent Neuß zu Esras Zeit nur die Anfänge diefer Gefeßgebung entftanden. Die fichere

Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments. 31

Parallele, welche nach Wellhauſen die Verlefuug des Gefeges unter Nehemia und Esra mit der unter Joſia bieten foll zur Fixieruug der Entftehungsgeit des Prieftercoder, wird alfo doch einigermaßen wieder unficher. Bon dem abzufehen, was Neuß für fpätere Zeiten referviert (S. 387), behält meines Erachtens die hier gegebene Dar⸗ ftelflung von der Entftehung des Prieftercoder unter Esra etwas Un⸗ befriedigende. Nachdem wir vom Anfang des Buches an Polemik gelefen gegen andere Anfegungen dieſes Eoder, erwarten wir nun den pofitiven Beweis, dag nur und ganz zu Esras Zeit die viel⸗ befprochene Größe paßt. Dies Pofitive ift verhältnismäßig kärg⸗ lich behandelt, und Referent muß geftehen, daß er ſich nicht ganz ohne Verwunderung unvermutet am Ende ber lange vorbereiteten Bentateuchfrage ſah. Ich weiß nicht, ob auch Lefer fo urteilen werben, welche die kritiſchen Anfchauungen des Verfaſſers in weiterem Umfange teifen. Ich meinerfeits Tonftatiere jenes Vermiffen dank⸗ barft. In der That fcheint mir die Zeit des Esra fehr wenig darnach auszuſehen, als ob fie den Prieftercoder erzeugt hätte. As Volksgeſttzbuch ift er damals zuerft proflamiert worden, das unterliegt feinem Zweifel. Dieje Veröffentlichung wird nicht ger gehen fein ohne vorhergehende Reviſion, welche einzelne oder auch manche Zufäge nötig finden mochte. „Der Prieftercoder ift eine Sammlung von Gefegen verfchiedenen Urſprungs“ (S. 463), wir zweifeln nit daran. Es ift damit die Berechtigung gegeben, trog unſeres Zugeftändniffes an die moderne Anſchauung don Esras Verhältniffe zum Prieftercoder nach älteren Beftandteilen desfelben zu ſuchen. Die Darftellung der BPriefterverhältnife alfo da8 eigentliche Gerüft des Prieftercoder rechnen wir dahin. Die beiden Klafjen der Priefter und Geviten im Gefege paſſen fchlecht fir eine Zeit, welche neben den Prieftern drei ober zwei Rategorieen des QTempelperfonals Tannte: Leiten und, (von ihnen verfchieden) als- eigentliche QTempeldiener, Sänger und Thors hüter. Die angeblich nur den Zadokiden entgegenkommende Aus-⸗ erwählung der Aaroniden wäre ſehr unvorfichtig gewefen zu einer Zeit, wo das nichtzabofidifche, aber nach dem Prieftercoder aaroni⸗ tiſche Haus Ithamar noch exiftierte (Esra 8, 2). Der Priefter- codeg, warn immer entftanden, iſt alle geben es zu ideali⸗

2 Reuß

fieread, nicht der Wirklichteit ſich aubequemend. Weshalb das zu einer Zeit wie die Esras, wo ein prieſterlicher Gefeiggeber errrichen Tonnte, was irgend in feinem Initereſſe erreichbar? Jenes mn praltiſche Verfagren ift verftündfidger aus einer Zeit heraus, wo die Priefterfchaft noch entfernt war von dem Cinflufie, welchen fie unter Esra befaß, uud größeren Anlaß Hatte als damals, ſich mit Luftſchloſſern ftatt mit der Wirklichkeit abzugeben. Ben alten Details aber abgejchen man leſe die Refte von den Memoiren Esras und Nehemias —: machen ihre Verfafler, die gervorragendften wuter ihren Zeitgenoffen, den Eindruck ſchöpferiſcher Geiſter? Ich glaube, daß ein erneutes Studium der Buücher Esra und Nehemia, die ich bei Vertretern der Reußſchen Hypotheſe mehrjach vernach⸗ Täffigt finde, zu Modififationen jener Konftruktion nötigen wird. Zu den Stücken des Prieſtercoder, weiche der nachezechieliſchen Zeit erſt anzugehören ſcheinen, zähle ih das Geſetz vom Berfühnungs- tage. Reuß verlegt dasfelbe in die nachnehemianiſche Zeit, weil Nepemia ein Verföhnungsfeft feierte am 24., nicht am 10. Zage des fiebenten Monates (S. 475). Deutlich ſcheint mir wenigſtens dies, daß Ezechiel mit feiner einfacheren Verſöhnungszeremonie ben Ritus von Ber. Kap. 16 mach nicht kannte. Ich acceptiere von Reuß die Loslöfung von Lev. Kap. 16 aus dem Gros des Priefter coder, obgleich fie nicht unbedeutende Schwierigkeiten vermrfadht, werüber id eine Erläuterung bei Reuß vermiffe. Wenn micht &;. 30, 10, fo wird doch Num. 29, 7—11 (beide Stellen läßt Neuß älter fein) von der Auſetzung jenes Geſetes abhängig fein. Gleiches gilt für Se. 28, 26— 32, worüber Meng ſich nicht äußert.

Befremdend ift mir, daß erſt nach Nehemia das Spruchbuch eingereigt ift (S. 487 ff.). Von dem drei Anhlngen desſelben will ih nicht reden; aber die voranftehenden größeren Spruchfamm Tungen weifen doch auf eine fo geſunde und kräftige Denkungsart, wie fie dem nachexiliſchen Judentum ſchwerlich zugstrauen iſt. Daß bie einzelnen Spruche, im großen und ganzen genommen, wenn aud uralte darunter fein mögen, gar nicht die Farbe der Pro- phetenzeit tragen“ (S. 494), finde ic bei früherer Anfegurg nicht auffallend. Die „Barbe der Psophetenzeit" Tann Hier doch mur

Die Gejhichte der heiligen Schriften Alten Teſtaments. 38

befagen bie ‚Forbe der Propheten“. Das Bürgertum wirb zur Zeit der Propheten weientlich anders gedacht und gerebet haben als diefe. Mit Jona, Chronik (über deren Glaubwürdigkeit und Charakter fehr beſonuen und maßvoll geurteilt wird), den Anfängen dee LXX, Koheleth, Jeſus Sirach, Tobias flieht Reuß fein drittes Bud.

4. Das vierte Bad; über „die Zeit der Schriftgelehrten“ bietet, wa® fonft unter dem Titel der weuteftamentlihen Zeitge⸗ ſchichte behandelt zu werden pflegt. Es feheinen mir fin Kritik und Verftändnis der Epigonenlitteratur viele daukenswerte Beiträge geliefert zu fein. Die Verwebung der litterariſchen Geſchichte mit der politifchen ift hier befonders glänzend gelungen, die theologifche Entwickelung reichlicher, ſcheint mir, als in den anderen Perioden bedacht. Über Abgrenzung und Titel dieſes Abfchnities ließe ſich ſtreiten. Jene it in der Geſchichte nicht allzu ſicher an die Hand gegeben. Der mallabäifche Aufftand war das Mafgebende, um die voranftehende Periode abzujchliegen. Über den Namen jagt der Verfaffer: „Wenn wir diefe vierte Pertode die der Schrift gelehrten nennen, fo geſchieht es nicht deswegen, weil dieſe etwa anf dem Schauplatz der Gefchichte im Bordergrund ftünden. Dies war um fo weriger der Fall, als die großen Entſcheidungen von ganz anderer Seite und vorwiegend von außen kamen. Wohl aber Teitete uns bie Betrachtung, daß nad dem Berfchwinden ber Propheten und nach dem ſittlichen und politischen Bankrott der Zaboliben, als der eigentfichen Nepräfententen der Hierarchie, die dem Judentume eigentümliche geiſtige Thätigleit ſich auf Studium und Gelehrfamteit konzentrierte“ (S. 568).

IH hebe nur noch hervor, welchen Zeilen des hebräiſchen Alten Teftamentes Reuß Hier ihre Stelle angewieſen hat. Es find Daniel, Ejtger und Pſaltet. Daniel würde, fo ſcheint wir, richtiger noch in der vorhergehenden Periode, innerhalb der malla⸗ baiſchen Kämpfe, feine Stelle finden. Das Buch ift doch abge ſchloſſen vor bem ſchon dort berichteten Tode des Antiochus. Reuß beftreitet die nicht; ex läßt aber „die einzelnen Abſchnitte“ zunächſt gefondert veröffentliht werden (S. 581). Die dem Buch angewiejene Stelle bezieht fi alſo nur auf die Sammlımg. Ich

844 Reuß

zweifle an einer urfprünglichen Ausgabe in ofen Blättern, da diefelben in der Vereinzelung großenteils unverftändlich gewefen wären. Über die dem Pfalter angewiefene Stelle will ich oft Ge— ſagtes nicht wiederholen. Ich zweifle nicht daran, daß die Pfalmen 44. 74. 79 und vielleicht noch andere maltabäifh find. Aber doch, meine ich, nicht allzu viele; jedesſalls kann ich mit der An- ſchauung, daß die ſcheinbar den Abſchluß des vierten Pfalmbuches vorausfegende Stelle 1Chron. 16, 8—36 „eine junge Inter⸗ polation® ſei (S. 588), mid nicht befreunden. Weshalb die chasidim der Pfalmen die politiſche Partei der Maftabäerzeit fein müfjen (S. 596), vermag ich nicht einzufehen.

Es ift mir nicht leicht gewefen, zu der „Kritik“ eines Werkes von Neuß mich zu entfchließen. Nachdem ich durch fünf Jahre demfelben als Kollege und nächſter Fachgenoſſe zur Seite geftan« den, würde ich, der um vieles Süngere, eine Beurteilung feiner Arbeit von meiner Seite nicht am Plage gefunden haben, Hütte nicht der verehrte Verfaffer ſelbſt Einwilligung und Ermunterung gegeben. Wie des Verfaſſers Name, fo Täßt auch der andere, welchen er dem feinigen in der Widmung an bie Seite geftellt hat, ein Pietätsverhältnis zu diefem Buche mich einnehmen. Wer ihm näher getreten es wird nicht allzu leicht geftattet —, dem wahren und geraden Eunig, muß ihn verehrten. Ihm dies Werk gewidmet zu fehen, findet faft felbftverftändfich, wer die Verhält⸗ niſſe der Kaifer-Wilhelms-Univerfität kennt und dieſe beiden ehr⸗ würdigen Zeugen ihrer vergangenen Zeit.

Nachdem ich einmal Vericterftatter geworden, konnte ich es nicht anders fein als freimütigerweife. Wie ich beftrebt war, her» vorzubeben, was mir an dem Werke von Reuß gerade für die gegenwärtige Lage unferer Wiffenfchaft bedeutſam zu fein fcheint, fo Hoffe ih auch betont zu Haben, was der Verfaſſer als feine Leiftung betont zu wiſſen wunſcht. Es ift mir ſchwer gefallen, daß die Art einer Titterarifchen Beſprechung mir unterfagte, wie von dem Werke, fo auch von dem Verfaſſer zu reden und von meiner Verehrung. Selten Habe ich ein wiſſenſchaftliches Wert fo

Die Geſchichte der Heiligen Schriften Alten Teftaments. 35

Horakteriftifch gefunden für die Perfon des Autors. Wer bie Reden an Studierende kennt und dieſes Buch, der kennt den Ders faffer, glaube ich, fehr gut. Liebenswürdigfeit dort an dem Menſchen und Ehriften, im höchſten und tiefften Sinne —, foweit fie fih von dem Gelehrten als ſolchem ausfagen Tägt, ift fie auch bier die Signatur.

Die Vorrede iſt datiert von dem Landfige des Verfaſſers. Es weht etwas in dem Bude von der Baumesfrifche jenes Tus- eulums. Möge deſſen jungerhaltende Kraft an dem verehrten Manne au ferner fi bewähren. Er, der Raftlofe, fammelt Zufäge für eine zweite Auflage. Wolle ein freundliches Geſchick ihn noch ſchauen laſſen auch diefen Erfolg feines Schaffens.

7. April 1883, Wolf Wilh. Waudiſſm.

*

Inhalt des Jahrganges 1883.

Erites Heft.

Abhandlungen.

. Brüdner, Über die Zufammenfegung der Liturgie im achten Buche

der Apoſtoliſchen Konſtitutionen. *

. Kleinert, Bemerkungen zur Kompoſition ber Clemensliturgie .. Schultz, Religion und Sittlichkeit in ihrem Verhältnis zu einander

Gedanken und Bemerkungen.

. Franke, Die galatifcen Gegner des Apoftels Paulus. . . . .- . Neftle, Die alten hriftlichen Inſchriften nach dem Text der Sentuoginte . Ufert, Öfolampabs Stellung zur Kindertaufe . . .

Nezenfionen.

. Erdmann, Der Brief des Jakobus, und Beyſchlag, Kritiſch-exegeti -

fies Handbuch über den Brief des Jakobus; re. von Haupt . .

. BöHL, Ehriftologie des Alten Teftamentes oder Auslegung ber wich-

tigſten meffianifchen Weisfagungen; rez. von Kloflermann . . .

. Kloftermann, Korrekturen zur bisherigen Erklärung des Römer-

briefes; veg. vom M. Rähler. . 2 0 0 nennen

Zweites Heft.

Abhandlungen.

. Dorner, Über das Weien dev Religion «2 2000 e . Ryffel, Ein Brief Georges, Biſchofs der Araber, an den Presbyter

Jeſuussss....

196

199

217

ve»

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vr

*

Inbalt.

Gedanken und Bemerkungen.

. Grimm, Luthers Überfegung der altteftamentlichen Apofcyphen .

Uferi, Das im Staatsarchiv zu Zürich wieder auſuelaen· Ori ginal dev Marburger Artikel im Fakfimile. . . ...

Rezenfionen.

. Analecta ad Fratrum Minorum Historiam; te. von Lechler.

Felice, Lambert Daneau, sa vie, ses oomtes ses lettres inedites; rez. von Ebrard Stade, Zeitſchrift für altteſtamentliche Wifſen chaft; wm. bon Smend

Miscelten.

. Programm der. Haager Gefellichaft zur Bertihigung der chriſtlichen

Religion für das Jahr 1882 . . . Programm der Zenecen Zieolgitäen Bra u San Mm das Jahr 1888. .

Drittes Heft.

Abhandlungen.

» Bacmeifter, Zur Frage der fittlichen Weltordnung . .

. Wendt, Der Gebraud) der Wörter dAyjdsia, —— und eine im Neuen Teftamente . . . . . . Bleibtreu, Der Abſchnitt Km. 8 21-26 more Gedanken und Bemerkungen. . Weiß, Zur Evangelienfrage . .. .. . Beyſchlag, Zu dem vorſtehenden Aufſatz von D. 8. wäh: ,Zur Evangelienfrage“ . ..

»

Wetzel, Aiphaus und Rloyas . Neftle, Bemerkung zu: Une, Das Original der ee Ar⸗

Kolde, Die erſte Nürnberger "ewangelfche Sottesbienfordnung

. Üfteri, Weitere Beiträge zur —— der Leuſuehre der ———

Rice

till, S. 405...» vo. . .. Regenfionen,

. dv. Hartmann, „Das religiöfe Bewußtſein der Menfchheit im Stufen-

gang feiner Ertwidetung“ und de Senn des s Site“; I von Dorner

445

511

631

848 Inhalt.

ver

fe

Biertes Heft.

Abhandlungen.

. Hering, Die Eiebesthätigfeit der deutſchen Reformation. 1. Artikel . . Mfteri, —— der Zwingliſchen Salraments · und —— bei

Bullinger PER . .... Sedanten und Bemerkungen.

. Kleinert, Sind im Buche Roheleth außerhebräiſche Einfläffe anzu -

erlennen Le

. Schmidt, Die Bedeutung der Talente in der Parabel Matth. 25,

M-890. 2200020. . Rezenftonen.

. v. Orelli, Die altteftamentliche Weisſaguug von der Bollendung des

Gottesreiches in ihrer gefchichtlichen Entwidelung; ve. von Riehm.

Reuß, Die Geſchichte der Heifigen Schriften Alten Teſtaments; rez.

von Bandiffin. - 2: 2 2 ernennen.

Deut von Beiedr. Made, Verthes In Cote.

661

730

803

Studien und Kritiken.

ine Beitfhrift für das gefamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. €. Ullmann m D. F. W. 6. Umbreit

und in Verbindung mit

J

8

F D. G. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner m D. J. nn R

herausgegeben

D. J. Röflin un D. E. Riem.

Jahrgang 1883, erſtes Heft.

Gotha. Sriedrih Andreas Perthes.

Zur gefäligen Beachtung!

Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen find an Profeffor D. Riehm oder Konfiftorialrath D. Köftlin in Halle 0/8. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re baftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Patete zu franfieren. Innerhalb des Poſtbezirks des Deutſchen Reiches, fowie aus Öfterreich» Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu umfangreih find, d. 5. das Gewicht von. 250 Gramm nicht überfteigen, am beften al8 Doppelbrief verjendet.

Friedrich Andreas Perthes.

Im Verlage von Wiegandt & Grieden in Berlik iſt ſoeben erfhienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen: [62] Steinmeyer, 8 L., Die Ehrifophanicen des Verherrlihten. 2 4.

Neuer Verlag von J. C. B. Mohr in Freiburg 1./B. Weizsäcker, C. Das_Neue_ Testament, übersetzt

von Carl Weissäcker. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Klein 8°. 4 5. [s1]

Verlag don Friedrich Andrens Perthes in Gotha. Die Ehe in

befonderer Beziehung auf Ehefcheidung und Eheſchließung Geſchiedener. Nach evangeliſchem Kirchenrecht und nad) Lehre der Heiligen Schrift

Dr. Kudotf Roedenbech. AB.

Die natürliche Theologie, Eine Darftellung

den vereinigen Zeugniſſen von Holt innewohnenden Beweiskraft don

Dr. Alfred Barry,

Direftor von Kings College in Eondon, Kanonifus zu Worcefter, Bofprediger der Königin. 44.

Bibliſche Skizzen

F. Pauli,

Paftor an der Frauenkirche in Kopenhagen. #4 1.80.

Korrekfuren

zur bisherigen Erklärung des Kömerdriefes. Bon a. Kloſtermann. A 4.80.

JIuhalt.

WBG

3. Säulg, Religion und Citttiäfeit in ihrem Verhältnis zu einander

Gedanken und Bemerkungen.

N 1. Franke, Die galatifhen Gegner des Apoftels Paulus... . . 2. Böhl, Die alten hriftlichen Juſchriften nach dem Tert der Be 3. Ufteri, Öfofampads Stellung zur Kindertaufe . . . . . >

NRezenfionen.

1. Erdmann, Der, Brief des Jalobus, und Beyſchlag, Kritifcregegeti» ſches Handbuch über den Vrief des Jalobus; reg. von Haupt . . 2. Böhl, Chriftologie des Alten Teftamentes oder Anslegung der wide tigſten meſſianiſchen Weisfagungen; rez. von Kloftermann . . . 3. Klofermanı, Korrefturen zur bisherigen Erllarung des Römer»

i \ brieſes; vg. von M. Kähler. . . o 2 220. ® 5 5

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Drud von Friedr. Audr. Vertbes in Gotha. —E ———⏑———

Studien und Kritiken.

Fine Zeitſchrift für das geſamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. C. Ullmann uud D. 3. W. C. Umbreit IL f:

und in Verbindung mit mp D.G. Baur, D.W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner u]

Herausgegeben von

D. 3. Köftlin uw D. €. BR

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Dahrgang 1883, zweiles Heft.

Gotha. SFriedrich Andreas Perthes.

Zur gefäligen Beachtung!

Die für die Theol. Studien und Kritiken’ beftimmten Einfendungen find an Profeffor D. Riehm oder Konfiitorialrath D. Köftlin in Halle a/6. zu richten; dagegen jind die übrigen auf dem Titel genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re daftion bittet ergebenft, alle an fie zu fendenden Briefe und Pafete zu frankieren. Innerhalb des Poſtbezirls des Deutſchen Reiches, ſowie aus Ofterreich- Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht überfteigen, am beften als Doppelbrief verfendet.

Friedrich Andreas Perthes.

Iuhalt.

Abhandlungen. 1. Dorner, Über das Weſen der Religion 2. Ryffel, Ein Brief Gras, Bitänfe der Araber, an den Grainer Jeſus Gedanken und Semertungen 1. Grimm, Luthers Überfegung der altteſtamentlichen Mpolcyphen . . 375

> 2. Ufteri, Das im Staatsardiv zu Züri) wieder Die

ginal der Marburger Artiel im Fakfimile . . » . - 400

Rezenfionen.

. Analecta ad Fratrum Minorum Historiam; re. von Lechler. . 417 . Felice, Lambert Daneau, sa vie, ses ouvrages, ses lettres inedites; rez. von Ebrard . . 0. 428 . Stade, Zeitjchrift für afttefamenttide Biffenfäaft; m. von Smend 429

Miscelten. . Programm der Haager Gehſellſchaft zur Betbigung ber chriſtlichen Religion für das Jahr 1892 . . 437 . Programm ber Leyrrichen Sinn ocrican uu arm m das Jahr 1883. . 45

Theologiſche Studien und Kritiken.

Line Zeilſchrift für das geſamte Gebiet der Theologie,

begründet von D. €. Ullmann und D. $. W. C. Umbreit

und in Verbindung mit

D.G. Baur, D. W. Beyſchlag, D. J. A. Dorner D. 3.Wagenmann Ei

herausgegeben von

D. 3. Köftlin um D. E. u

Jahrgang 1883, drittes G

Gotha. Friedrich Andreas Perthes.

Bur gefäligen Beachtung!

Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen find an Profefjor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köftlin in Halle 0/8. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Titel genannten, aber bei dem Redaktionsgeſchäft nicht beteiligten Herren mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re daftion bittet ergebenft, alfe an fie zu fendenden Briefe und Pafete zu franfieren. innerhalb des Poſtbezirks des Deutfchen Reiches, ſowie aus Ofterreih Ungarn, werden Manuftripte, falls fie nicht allzu umfangreich find, d. 5. das Gewicht von 250 Gramm nicht überfteigen, am beften al8 Doppelbrief verfendet.

Friedrich Andreas Perifes.

Verlag von G. Reimer in Berlin.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung. Dr. Martin Luthers

Briefe, Sendfchreiben und Bedenken,

vollſtãndig aus den verſchiedenen Ausgaben ſeiner Werle und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handſchriften geſammelt, tritiſch und hiſtoriſch bearbeitet

Dr. W. MU de Wette. [7] 6 Leite. Ermäßigter Preis 18 A.

In meinem Verlage ist soeben erschienen: ls]

Untersuchungen über die synoptischen Evangelien August Jacobsen. Preis 2 A. Berlin, den 6. März 1883. G. Reimer.

Berlag von Friedrich Andrens Wertes in Gotha. Kirche and Reid Gottes. Don

A. Dorner, Profeffor und Mitdireftor am Predigerfeminar in Wittenberg. AT.

Ein Brief Georgs, Biſchofs der Araber,

an den Presöyter Jefus, aus dem Syriſchen überſetzt und erläutert. Mit einer Einleitung Aber . Xeben und feine Schriften.

Lic. theol, vn $ KR Privatdozent in deipi * [Erweiterter Separalabdrus aus den „Cheol. Atndien mi Kritiken.) A 2.80.

‚suite

Inhalt. Seite Abhandlungen. 1. Bacmeifter, Zur Frage ber ſittlichen Weltordnung . .. 405 9 2. Wendt, Der Gebrauch der Wörter dAjdsıa, Arie und Antoe im Neuen Tefamente . . . . .. 51 3. Bleibtren, Der Abſchnitt Am. 2.. 34] Gedanken und Bemerkungen. 1. Weiß, Zur Evangelienfrage .... . . 571 2. Beyſchlag, Zu dem vorftehenden Aufſatz on D. 8. Beh: „Zur J Evangelienfrage“ . . .. 59 8 3. Kolde, Die erſte Nürnberger wongeuiſche Sottesbienftorbnung . . 602 9 4. Ufteri, Weitere Beiträge zur Bi der der reformierten Kircht . . . Pa VER 5. Wegel, aiyhaus and Rlopas .. 620 & 6. Neftle, Bemerkung zu: Ufteri, Das Sriginat der sun ar⸗ till, S. abß.* 627 & Rezenſionen. 1. v. Hartmann, „Das religidſe Bewußtſein der Menſchheit im Stufen- gang ſeiner Lnmwiuilung · und „Die Hagen des soil; 5 von ii Dorner .... .. 631

rat von Betr. Bub, Bares In Bath,

Fine Zeitſchrift für \ das gefamte Gebiet der Theologie, " begründet von D. €. Ullmann um D. F. W. €. umnbreit

und in Verbindung mit oD. G. Sant, D. W. Beyſchlag, D. 3. A. Dorner un» D. 3. Wagenmann 9

Herausgegeben 5

D. 3. Röftin uw D. E. Riehn. 27 .

Bahrgang 1883, viertes Heft.

Gotha. Friedrich Andreas Perthes.

——— 1. m 1885.

Zur gefäligen Beahtung!

Die für die Theol. Studien und Kritiken beftimmten Einfendungen find an Profeffor D. Riehm oder Konſiſtorialrath D. Köftlin in Halle «/. zu richten; dagegen find die übrigen auf dem Zitel genannten, aber bei dem Redaktiousgeſchäft nicht beteiligten Herren mit Zufendungen, Anfragen u. dgl. nicht zu bemühen. Die Re— daftion bittet ergebenft, alfe an fie zu fendenden Briefe und Pakete au frankieren. Innerhalb des Poſtbezirls des Deutfchen Reiches, ſowie aus Ofterreich» Ungarn, werden Manuffripte, falls fie nicht allzu umfangreich find, d. h. das Gewicht von 250 Gramm nicht überfteigen, am beften als Doppelbrief verfendet.

Friedrich Audreas Perthes.

Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig.

Soeben ’erschien vollständig:

W. Gesenius’ Hebräisches und Chaldäisches

Handwörterbuch '

über das A. T.

Neunte vielfach umgearbeitete Auflage von

F. Mühlau u. W. Volck,

ord. Proff. der Theologie an der Universität Dorpat. [s4] komplett LXVI u. 978 8. gr. 8°. 15 Mark.

Zum Luther - Jubiläum.

Soeben erschien in 2. wesentlich umgearbeiteter Auflage:

Martin Luther. be]

Sein Leben und seine Schriften.

Von Professor Dr. Julius Köstlin. 2 Bände, 100 Druckbogen stark. Preis broschiert 18 Mark, in Halbfranz gebunden 21 Mark.

Elberfeld. Die Verlagshandlung: R. L. Friderichs.

Im Verlage der Hahnschen Buchhandlung in- Hannover ist soeben erschienen:

Einblicke in das Sprachliche

der semitischen Urzeit beireffend die Enistehungsweise der meisten hebräischen Woristämme

von Prof. Dr. 8. Herzfeld, braunschweigischem Landrabbiner. gr. 8.6.4.

Im Verlage von Joh. Ambr. Barth in Leipzig ist erschienen:

unter Mitwirkung von Basser-

Theolog. ahresbericht, 1: “yikıe vn ame

Dreyer, Holtsmann, Lipains, Lädomanı, Beyerlen, Siegfried, Wer-

- ner, herausgeg. von B. Pünjer. 2. Band; enthaltend die Littera-

tur von 1882. 464 S. gr. 8°. Preis 8 A. [s2]

Berichtet in ——— Darstellung in 12 Hauptab-

schnitten über die theologische Litteratur des Jahres 1882, einschliesslich

der periodischen und der ausländischen. Für Bibliotheken, theologische

Lesezirkel, wie überhaupt für alle, welche Veranlassung haben, sich über die theologische Litteratur zu orientieren, unentbehrlich.

== Durch alle Buchhandlungen zu beziehen, In meinem Verlage ift ſoeben erſchienen: Ber Pelfimismus und die Sittenlehre,

Getrönte Preisiärift der Teylerſchen Tpeotogifihen Geſellſchaft zu Haarlem

[8]

Hugo Sommer, Amtsrigter in Blantenbusg am Harz. Zweite Auflage. [ss] broſch. 3 Mart 60 Pf. Berlin, den 12. Juni 1883. ©. Reimer.

Im Verlage von Wiegandt & Grieben in Berlin ift forben erſchienen und dur) jede Buchhandlung zu beziehen: Borgius, Konf.-Rat, Srofamen vom Tiſche des Herrn. (2 4. „en Solßhener, Sup. Lic., Der Brief am die Ebräcr, ausgelegt.

Inhalt.

Abhandlungen.

1. Hering, Die Liebesthätigkeit der deutſchen Reformation. 1. Artilel

. Ufteri, Bertiefung der Seen Saframents- und Zauſehre bei Bullinger

Sedanten und Bemerkungen.

. Kleinert, Sind im Buche Koheleth Einflüffe anzu- erlennen ? . Schmidt, Die Bag, de Zolente in der Parabel Natth. 26

14-80.

Rezenflonen .v. Orelli, Die altteſtamentliche Weisſagung von der Vollendung des Gottesreiches in ihrer geſchichtlichen Entwickelung; rez. von Riehm. . Reuß, Die Geſchichte der vage Ban Alten en Zefamenie; rez. von Bandiffin. ... oo.

Deut von u Bel Andr. in ge.

Dita, GOOglE 8

Bars, Google