ee ES SEEN an B5 EN Ey ee in Be = ee En BR Din: aufelk ER Thiere der Heimath. Zn ir ae a i _ Thiere der Heimath. Deutschlands Säugethiere und Vögel, geschildert von Adolf und Karl Müller. Mit Original-Illustrationen nach Zeichnungen auf Holz und Stein von C. F. Deiker und Adolf Müller. Erstes Buch. —— I Ka Kassel und Berlin - Verlag von Theodor Fischer, 1882, Alle Rechte rorbehalten. Inhalt des I. Buchs. A. Allgemeiner Theil. Seite Allgemeine Betrachtungen über hervorra- gende Erscheinungen im Leben der Säugethiere und Vögel . . . . 1 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel 2 2. Die Nestbaukunst der Vögel . 88 Seite 8. Der Zug der europäischen Vögel 88 4. Das Seelenleben der höher organisirten Thiere : . 110 5. Der Kampf in a Böhlen Thierwelt 129 B. Besonderer Theil. Wesen und Wandel der Säugethiere. I. Ordnung. Die Handflatterer. Seite Allgemeines über die Handflatterer . 150 A. Allgemeine Kennzeichen der Familie Fledermäuse oder Glattnasen. Gym- norhina 162 a. Unterfamilie na Rotte ak mäuse. Vespertileonea . 163 Sippe Grossohren oder Ohrenfledermäuse. Plecotus ; : . ..16 Die langohrige Meile oder das as ohr. Pleeotus auritus ; . 164 Sippe Nachtschwirrer. Nee eriitie) 163 Die gemeine Fledermaus. a mu- rinus KR? N Die grossohrige Pledornauss Vespertilio Bechsteinii 5 3 172 Die Bartfledermaus. lie sinne 172 Die Wasserfledermaus. Vespertilio Dau- bentonii EN. Die Teichfledermaus. Vespertilio dasy- eneme . : 175 Die gefranzete oder ih beibe Merle maus. Vespertilio Nattereri . . 176 Die feinwimperige Fledermaus. Vespertilio eiliatus . 177 Chiroptera. Seite Sippe Abendflatterer. Vesperugo . 163 Die frühfliegende Fledermaus. Vesperugo noctula RER LT Die rauharmige ee Vesperugo Leisleri £ EEREFNNAS SELSO Die Ze lacmane, Areeporuss pipi- strellus SE RR NETTO Die rauhhäutige Kleddtmaneı Vesperugo Nathusii . SARA Miller; Die spätfliegende Rledermans‘ Vesperugo serotinus . . N . 184 Die zweifarbige Kledermanst Vesperugo discolor BR 6 0 K) Die nordische lee maus. Vesperugo Nilsonii . 186 B. Allgemeine Kennzeichen der Kari Vampire oder Blattnasen. rhina s. Istiophora . 187 Sippe Hufeisennase. himoleptusn . 187 Die grosse Hufeisennase. Rhinolophus ferrum equinum AN Er 6 Ute) Die kleine Hufeisennase. Rhinolophus Hipposideros „ Ike) VI Inhalt des I. Buchs. II. Ordnung. Nager. Seite Allgemeines über die Nager . 90, A. Unterordnung Hörnchen. Sciurina 192 a. Taghörnchen. Seiuri . . 192 Unser Eichhörnchen. Seiurus vulgaris . 192 b. Murmelthiere. Arctomys . 198 Das Alpenmurmelthier. Aretomys Marmota 198 c. Zisel. Spermophilus 2202 Der Zisel. Spermophilus Citillus . . 202 B. Unterordnung Bilche oder Schlaf- mäuse, Myoxina © AT -Der Siebenschläfer. Myoxus Glis . 207 Der Gartenschläfer oder die grosse Hasel- maus. Myoxus Nitela . 210 Die kleine Haselmaus. Myoxus muscardinus sive Muscardinus avellanarius GC. Familie Biber oder Schwimmfüsser. Castor sive Palmipedia Rodentia. Seite Die Hausmaus. Mus museulus . 239 Die Waldmaus. Mus sylvaticus . 235 Die Zwergmaus. Mus minutus . 236 b. Die Familie der Hamstermäuse. ‚Cricetus A a) Der gemeine Hamster. Cricetus frumen- taraus en 2. a ee 2 c. Wühlmäuse oder kurzsch wänzige Mäuse. Arvicolini. . . . .243 Gruppe Wühlratten. Hypudaeus 244 Die Wasserratte. Arvicola amphibius 244 Die Scher- oder Reutmaus. Arvicola ter- restris . A a 246 Gruppe Waldwühlmäuse Glareolus 249 Die Waldwühlmaus. Arvicola glareolus . 249 Gruppe Feldmäuse. Arvicola . 250 Die Feldmaus. Arvicola arvalis s. arvensis 250 Der Biber. Castor Fiber . ... 220 Die Erdmaus. Arvicola agrestis 256 D. Unterordnung Mäuse. Murina . . 228 E. Unterordnung Hasen. Leporina . 256 a. Eigentliche oder langschwänzige Allgemeines über die Hasen . 256 Mäuse. Mures i 225 Unser Hase. Lepus vulgaris . 257 Die Hausratte. Mus rattus . . . . .228 Das Kaninchen. Lepus euniculus . 265 Die Wanderratte. Mus decumanus . . 228 III. Ordnung. Insectenfresser. Insectivora. Seite Seite Lehrbegriffliches über die Insectenfresser 270 Sippe Wasserspitzmaus. Crossopus 276 a. Spitzmäuse. Sorices . 272 Die Wasserspitzmaus. Crossopus foediens 276 Sippe Waldspitzmaus. Sorex . 212 b. Igel. Aculeata 281 Die gemeine oder Waldspitzmaus. Sorex Sippe Stacheligel. Erinacei . 281 vulgaris “en 2 20.20.2012 Der gemeine Igel. Erinaceus europaeus 281 Die Zwergspitzmaus. Crocidura pygmaeus c. Mulle oder Würfe. Talpina 287 sive minutus ET: . 275 Sippe Maulwürfe. Talpae . 288 Sippe Feldspitzmäuse. Crocidura . . 275 Der Maulwurf. Talpa europaea. 285 Die Hausspitzmaus. Crocidura araneus . 275 d. Dachs. Meles ’ 297 Die Feldspitzmaus. Orocidura leucodon . 276 Der gemeine Dachs. Meles vulgaris 297 IV. Ordnung. Raubthiere. Carnivora. Seite Seite Allgemeines über die Raubthiere . 304 Sippe Hund—Wolf. Canis 329 A. Die Familie der Katzen. Felidae 306 Der Wolf. Canis lupus 330 Sippe Luchs. Lynx . 808 Sippe Fuchs. Vulpes 5 338 Der Luchs. Felis lynx 808° Der Fuchs. /Canis; yulpes . 22202338 Sippe Wildkatze. Catus Sol C. Die Familie der Marder oder Wiesel. Die Wildkatze.- Felis catus . al Mustelae >. 346 B. Die Familie der Hunde. Canina . 327 Sippe Wiesel 348 Allgemeines über die Hunde . . 927 Inhalt des I. Buchs. VII Seite Seite Das grosse Wiesel oder Hermelin. Mustela Sippe Iltis. Putorius . 970 erminea . . ER . 349 Der Iltis. Mustela putorius . . 371 Das kleine Wiesel ode das Heer lncten. Sippe Fischotter. Lutra . 974 Mustela vulgaris . 898 Der Fischotter. Lutra vulgaris > E38 Sippe Marder. Martes . . 398 Sippe Sumpfotter. Vison . . 382 Der Edel- oder Baummarder. Mustele martes 398 Der Nörz. Lutra minor . 382 Der Steinmarder. Mustela foina . 312 V. Ordnung. Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. Seite Seite Unser Hochwild. Eine specielle Betrach- Das Elehwild. Cervus Alces sive A. jubata 405 tung . 888 Sippe Damhirsch. Dama . . 417 Ber ernieniohes über di ne liedehhen Das Damwild. Cervus Dama sive Dama Cervi : . 989 platyceros : . 417 Sippe eigentlifhe odkr EINE EnS Cervus. 395 Sippe Reh. Caprechus R . 423 Der Edelhirsch. Cervus Elaphus . 395 Das Rehwild. Cervus capreolus sive Ca- Sippe Elen oder Elch. Alces . 405 preolus vulgaris . 428 VI. Ordnung. Vielhufer. Multungula sive Pachydermata. Seite Seite Allgemeines über die Borstenthiere oder Das Wildschwein oder die wilde Sau. Sus Schweine. Setigera . „431 scrova . . 433 Sippe Schwein. Sus 435 I. Buch. A. Allgemeiner Theil. an diesem Werke haben wir es uns neben der grossen Anzahl ernster Forderungen, welche die Charakterisirung und Darstellung in Rück- <=s#3iisicht der Ordnungen, Familien und Gruppen, Sippen, en und an an Treue und Gewissenhaftigkeit stellen, zur Aufgabe ge- macht, den hervorragenden, ganze Lebensabschnitte er Säugethiere oder der Vögel umfassenden Erscheinungen die eingehendsten Betrachtungen zu widmen. Vor allem liest es in unserem Plane, ein wirkliches Seelenleben der höher organisirten Thiere nachzuweisen, und diese Bestrebung zieht sich eben so unverkennbar durch das ganze Buch, als sie in der betreffenden Abhandlung, welche durch eine Reihe überzeugender Beispiele die Hand- lungen der Thiere zu erklären sucht, den Leser beschäftigen wird. Im Leben nicht weniger einheimischer Säugethiere verdient zunächst eine Epoche darum so sorgfältige Beachtung, weil sie dem Forscher immer wieder neuen Antrieb gibt, in das herrschende Dunkel über der merk- würdigen Erschemung zu dringen, in welcher das Thier zwischen Leben und Tod oder vielmehr zwischen Schlaf und Tod lange Zeit verharrt. Die Lebensgeschichte der Vögel zeigt uns zwei Erscheinungen, deren Beleuchtung wir als wesentliche Faktoren für die allgemeine Charakter- zeichnung der befiederten Wesen erachten. Es führt uns diese Betrachtung zu den wichtigsten Abschnitten im Leben derselben und veranlasst uns, einem bisher noch sehr vernachlässigten Zweige der Naturkunde, nämlich der Nestbaukunst der Vögel, unsere besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Diese zwei Epochen, gleichsam der Inbegriff ihres wesenhaften Seins, sind das Ehe- und Familienleben und der Zug der Vögel. Wir lassen demgemäss dem systematischen Theile dieses Werks, worin wir die specielle Lebensgeschichte der einheimischen Säugethiere und Vögel A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 1 2 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. niederlegen, einen allgemeinen Theil vorausgehen, der sich ausschliesslich mit der Betrachtung der erwähnten Auftritte im Leben dieser Thiere be- schäftigt und sich verbreitet über: 1. das Ehe- und Familienleben der Vögel, 2. die Nestbaukunst der Vögel, 3. den Zug der europäischen Vögel, 4. das Seelenleben der höher organisirten Thiere und 5. den Kampf in der höheren Thierwelt mit einer gleichzeitigen Be- trachtung des Winterschlafs der einheimischen Säugethiere. 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Während wir in der Säugethierwelt die Herrschaft der Venus vulgivaga wahrnehmen, wonach sich das geschlechtliche Zusammenleben nur auf die kurze Zeit der Minne beschränkt und das Familienleben allein von der Mutter und ihren Kindern gepflegt wird, begegnen wir in der Vogelwelt dem fast durchweg obwaltenden Zuge der Einehe und emer wesentlichen Betheiligung des männlichen Gatten an den Freuden und Leiden, dem hei- teren und sorgenvollen Leben der Familie. Innerhalb des Familienlebens der Vögel selbst aber zeigt sich gerade da die engere und dauerndere Ver- bindung sämmtlicher Glieder, wo die Hülflosigkeit der Jungen in ihren frühsten Lebensstadien nach Dnrchbrechung der Eischale eme hingebende Sorge der Eltern erheischt und die langsame Entwickelung fortwährender Unterstützung bedarf, welche die Kräfte eines Gatten übersteigen würde. Es ist diese Erscheinung bei den sogenannten Nesthockern hervortretend. Die Nestflüchter dagegen kommen in genügend kräftiger Entwickelung ihrer vorzugsweise in Anspruch genommenen Glieder aus dem Ei und sind in- ihrem Fortkommen vollkommen sicher gestellt durch die Pflege und Führung der Mutter. Wo der Vater Theil nimmt an der Erziehung und Pflege der jungen Nestflüchter, tritt doch stets seine Hingabe an dieselben gegen die der Mutter zurück. Wir werden also einestheils unterscheiden müssen zwischen solchen Vögeln, welche im wahren Sinne des Wortes in Einehe und denen, welche in Vielehe leben, anderntheils aber auch wieder die ver- schiedenen Grade der Betheiligung des alten Männchens am Pflege- und Führungsgeschäfte unter der Menge der Nesthocker gegenüber den Erschei- nungen einzelner Arten unter den Nestflüchtern im Auge behalten, bei denen das Männchen sich um seine Nachkommenschaft im Kreise seines Harems gar nicht kümmert. Da die Nestbaukunst der Vögel in einer besonderen, tief in die Materie eingehenden Abhandlung beat ah ist, so wird sich die Darstellung des Familienlebens über folgende Birschönunsen desselben zu verbreiten haben: 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 3 über Paarung und Werbung zur Minnezeit, den Gesang, das Eierlegen und Brüten, die Entwicklung des Vogels im Ei, die Jungenpflegeunddas Wachsthum der Jungen, die Füh- rung und Anleitung der dem Nesteentronnenen Jungen und das Gesellschaftsleben der vereinigten Familien der ersten und nachfolgenden Bruten, sowie endlich noch über die mannigfachen Störungen des Familienlebens, insbeson- dere unserer Singvögel, dureh äussere Einflüsse und Feindseligkeiten. Im Allgemeinen werden die Ehen der Vögel nicht blos für einen Sommer geschlossen, sondern für das ganze Leben. Es lässt sich dies freilich nur schwer, in vielen Fällen gar nicht, mit Sicherheit durch- gehends ergründen und feststellen; allein wir sind berechtigt, aus exact beobachteten Thatsachen auf die Allgemeinheit zu schliessen. In dem Leben der kleineren Zugvögel kommen so viele Unfälle theils auf dem Zuge, theils während des Aufenthaltes in der Fremde vor, dass die Werbung um einen zweiten, dritten oder vierten Gatten im Laufe der Jahre nichts Seltenes sein mag. Wir haben übrigens alte Nachtigallenpaare, die alljährlich wieder zum beliebten Brutplatz zurückkehrten, an uns unverkennbaren Zeichen jedesmal als die vorjährigen erkannt und dürfen daraus schliessen, dass die Ehe nur durch äussere Einflüsse, insbesondere durch den Tod oder das Gerathen in Gefangenschaft gelöst wird. Gleiche Erfahrungen haben wir an Hausrothschwänzchen gemacht, die durch zufällige Abzeichen des Männ- chens und Weibchens in weissen Schwanzfedern alljährlich von uns an Ort und Stelle als gewohnte Hofgenossen bestätigt wurden. Es spricht aber auch für die den Winter überstehende Treue der alten Paare schon das Auffinden des von dem vorangezogenen Männchen 5 bis 8 Tage früher erreichten Brutplatzes seitens des nachfolgenden Weibcehens, zumal an Orten, wo nur ein einziges Nachtigallenpaar in weiter Umgegend beobachtet wurde. Oder sollte nicht das Rauchschwalbenpaar uns deutlich zu verstehen geben, dass es das vorjährige sei, wenn beide Gatten sofort nach der Ankunft im Frühling durch das enge Loch der zerbrochenen Fensterscheibe ganz so wie ehedem in den düsteren Kuhstall einfliegen, um im alten Neste sich wohnlich einzurichten ? Dass es übrigens nicht immer einem Zugvogel leicht fällt, sich einen neuen Gatten an der Stelle des verlorenen alten zu erwerben, tritt durch das einsame Dasein sogenannter Junggesellen und Wittwer, sowie der Jung- fern und Wittwen in die Erscheinung. Wie manches Paar hat gegen solche ehelustige Nachbarn zur Minnezeit nachhaltig zu kämpfen! Stets jedoch bleibt der gepaarte Vogel Sieger über den Eindringling. Wird aber der Gatte vom Gatten durch Tod oder Gefangennehmung getrennt, so tritt nach wenigen Tagen schon der nun gnädig angenommene Nebenbuhler als Er- 1* 4 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. satzmann ein. Das Vorkommen überzähliger Männchen oder Weibchen kann nun ebensowohl seinen Grund im Verunglücken des Gatten auf dem Zuge haben, als auch in dem Mangel an dem Finden eines ledigen Männ- chens oder Weibchens in der Fremde. Tritt letzterer Fall ein, so haben wir es etweder mit einem jungen Vogel vom vorigen Jahre oder mit einem verwittweten alten Vogel zu thun. Das Zusammenschlagen der Gatten aber findet schon in der Fremde vor Beginn des Rückzugs in die Heimath statt. Unter den Standvögeln nehmen wir unzweifelhaft ein engeres Zusammenhalten der Paare während des Winters selbst bei Veremigungen zu Gesellschaften wahr. Wohl ist das Band gelockert, und der ausschliesslich herrschende Ernährnngstrieb kann zeitweise sogar die Gatten weit auseinander halten, aber der Umschlag der Witterung und die Gunst der Umstände führt sie alsbald wieder in nähere Verbindung. Das hindert indessen nicht, dass sie trotz ihrer Zusammen- gehörigkeit sich futterneidisch zanken. Sobald aber die ersten Frühlings- resungen bemerkbar werden, geben diese alten Paare durch ihr wechsel- seitiges Verhalten deutlicher zu verstehen, dass das Band der Ehe unter den rauhen Forderungen des winterlichen Daseins und Waltens nicht zer- rissen worden ist. In dem grösseren oder kleineren Gesellschaftsverbande haben aber auch lange vor dem Eintritt der zur Minne anregenden Früh- lingszeit die jungen Vögel paarweise sich verbunden, ohne dass es dem wenig geschärften menschlichen Auge erkennbar wird. Es ist em allgemeiner grosser Irrthum, in welchem angenommen wird, dass das Ehebündniss erst im Frühjahr geschlossen werde, nein, zu dieser Zeit treten nur die Wer- bungen des Männchens um die Eimwillisung des Weibchens zur ge- schlechtlichen Vereinigung erst auf, und diese Erscheinung hat man bisher fälschlicher Weise Paarung genannt. Man hat sich vielfach irre leiten lassen durch die heftigen Kämpfe, welche unter den Männchen und theilweise auch unter nebenbuhlerischen Weibchen zur Zeit der Minne entstehen. Diesen Kämpfen liegt in unzähligen Fällen nur die Absicht zu Grunde, die Stand- orte zu behaupten und abzugrenzen, und sind vielfach auch zurückzuführen auf die leidenschaftliche Erregung, welche selbstsüchtige Unverträglichkeit und Unduldsamkeit erzeugt. Da, wo es sich um Eroberung eines Weibchens im Frühling handelt, kommen nur Fälle in Betracht, wo überzählige Männchen sich in ihrem Vereimigungstrieb nach Weibehen umsehen. Nur in dem einen Falle ist en Kampf zweier oder mehrerer Männchen um ein Weibchen mit Entscheidung des Erfolgs für den Sieger denkbar, nämlich wenn der Zufall es fügt, dass alle ledig eines Ehegefährten zugleich am Werbungsort er- scheinen. Dies kann durch bereits erwähnte Unglücksfälle auf dem Zuge, der Wanderung oder dem Strich herbeigeführt werden, aber auch manchmal durch absonderliche Verhältnisse der den Zug; beeinflussenden Witterung, z.B. stürmische Nächte, welche einen auf dem Zuge befindlichen Vogel weit über 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 5 die Grenze oder zur Seite seines ursprünglichen Heimathsgebietes verschlagen und da in ganz neue Umgebung einführen. Vielleicht findet dies auch Anwendung auf Vögel, von denen, wie bei Edelfinken, die Weibchen wegziehen und die alten Männchen grossentheils Standvögel sind. Ein charakteristischer Zug tritt bei vielen Junggesellenmännchen der Singvögel in ihrer grossen Unruhe und dem Wechsel ihres Standortes hervor- Dieses Durchwandern grosser Strecken und das überaus eifrige Singen wird offenbar durch die Sehnsucht nach der Paarung, durch das begehrliche Suchen nach einem Weibchen veranlasst. Ganz besonders hervortretend fanden wir diese Erscheinung beispielsweise bei der Bastardnachtigall. Noch deutlicher und untrüglicher, als bei den kleineren Vögeln, tritt die Treue der alten Paare in ihrem Ehebündnisse unter den grossen Zugvögeln hervor. Wir brauchen als Muster nur das Storchpaar zu betrachten, welches alle Jahre wieder den gewohnten Horst emnimmt und jeden Eingriff feind- licher Paare tapfer zurückschlägt. In Gegenden, wo in weitem Umkreis nur ein einziges Storchnest vorhanden ist, bewohnt das seines Männchens be- raubte Weibchen nicht selten mehrere Jahre allein die Brutstätte. Es findet sich kein zweiter Gatte für die Wittwe, und diese zähe Anhänglichkeit an an Ort und Stelle ist ja eben ein glänzender Beweis für das dauernde Bünd- niss, welches den Gatten mit der Gattin stets zur engeren Heimath zurück- führt, wenn kein Missgeschick die Trennung bewirkt. Häufiger hat jedoch die Trennung der Gatten durch irgend welches Missgeschick das Verwaisen der Niststätte zur Folge, besonders in solchen Gegenden, wo die Paare einsam lebten. Auf diese Weise ist das Leerstehen einsamer Storchnester auf eine Reihe von Jahren hinaus zu erklären. Plötzlich erscheint endlich im Frühling ein neues Storchmännchen, befreundet sich mit dem verlassenen Horste und führt bald darauf das nachziehende Weibchen von irgend einem Empfangsorte in belebterer Gegend des Vogelverkehrs zur neuen Heimstätte. Auf gleichen Beweggrund ist das auffallende Ausbleiben beliebter Singvögel an dem gewohnten Standorte zurückzuführen, wenn nicht Oulturveränderungen oder sonstige Störungen demselben die Wiederkehr oder das Verbleiben ver- leideten. Das Nachtigallenmännchen erscheint, erhebt sehnsuchtsvoll seinen Nachtgesang, aber sein Weibchen bleibt aus. Da schwingt es sich eines Nachts aus den Büschen zum Weiterzug empor, beherrscht von der Gewalt des Minnetriebes, um anderwärts seinem Bedürfnisse zu genügen. Zurück- gehalten wird es nur, wenn sein Aufenthaltsort eine sogenannte Nachtigallen- gegend ist, wo ein anderes Weibchen den Verlust alsbald ersetzt oder Nachbarstandvögel die, wenn auch immer erfolglose, nebenbuhlerische Wer- bung erwecken. ‚Ein anderes Bild stellt sich uns im Zusammenleben derjenigen Vögel dar, welche keine Einehe eingehen, und unter denen das Männchen mehrere 6 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Weibchen seiner geschlechtlichen Leidenschaft unterthänig macht und gleich- sam als Pascha eines Harems sich geberdet. Unverkennbar waltet auch in diesem Verhältniss ein bestimmtes Gesetz der anziehenden und bindenden Gewalt, welche eine Anzahl von Weibchen an innegehaltene Plätze fesselt, wo in ihrem Wandel die Abhängigkeit von dem in Eifersucht hoch erregten Herrscher nicht zu verkennen ist; aber hier können sich die Verhältnisse durch Umstände umwandeln, welche im Eineheleben keinen Wechsel des bestehenden Verhältnisses zu bewirken vermögen. Die Nebenbuhler be- kämpfen sich nämlich während der Begattungszeit hartneckig bis zur Ent- scheidung durch Sieg oder Unterliegen, und das siegende Männchen trägt den Preis der Minne davon. Das ist einzig der Erfolg der Stärke, der Macht überlegener Waffenausrüstung, die sich die Begehrten willig und unterwürfig macht und dem Nebenbuhler die Ausbrüche des ungestümen Triebes in Ton und That dämpft. Die Weibchen werden durch das Hervortreten der siegreichen Persön- lichkeit oft zu solcher Hingebung bewogen, dass sie in auffallender Weise dem Triebe des Herrschers durch Einleitung der Begattungs-Oeremonie be- gegnen. Demohnerachtet tritt die in der Einehe so streng innegehaltene Treue in dem Vieleheverhältniss in den Hintergrund, sobald sich die Ge- legenheit darbietet, in die Ansprüche eines Nachbarmännchens einzuwilligen. Mamnisfaltig und in vielen Fällen wahrhaft schön sind die Erschei- nungen und Auftritte in Haltung, Bewegung und Stimme der werbenden Männchen zur Zeit der Minne Was Adler, Weihe, Falke und die leicht- beflügelten Luftschiffer über dem Meere, den Seen und Flüssen an Stolz und Würde, Gewandtheit und Anmuth aufzubieten vermögen, es geschieht in hohem Grade zur Minnezeit. Da werden Kreise gezogen, Schwenkungen und Sturzbewegungen ausgeführt; da stürmt das berauschte Männchen unter den Wolken dahin, als sei ihm das Luftmeer zu klein, mit einem Male geht es in ein sanftes Gleiten und Wogen, in wonneseliges Wiegen über, und mit in das liebliche Zauberspiel wird das Weibchen hineingezogen, und Beide erscheinen dem beobachtenden Auge als Verklärte, denen das gunstvolle Dreinlächeln des Himmels den zaubervollen Hintergrund für ihre Darstellung verleiht. Im maigrünen Buchenhain steigt mit klappendem Flügelschlag das Turteltaubenmännchen auf und schwebt mit hochgehobenen Schwingen- spitzen langsam und zögernd nieder. Der Staar breitet sein purpurglänzendes Gefieder aus und steigt auf und nieder. Finken prallen in der Luft an ein- ander und wirbeln nieder; unter Lerchen und Bachstelzen entwickelt sich die Frühlingsjagd, Männchen und Weibchen sind tief erregt und zum rauf- lustigen Spiel und Zank aufgelegt. Durch die ganze befiederte Welt geht der Zug der Verjüngung und Verschönerung. Das Gefieder erhöht vielfach seinen Glanz, sollte es nicht abgeblasst sein‘!bei denen, welche die Ent- behrungen des Zugs empfinden mussten. Gar mancher Vogel männlichen 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 7 Geschlechts erhält zu dieser Zeit einen ganz besonderen Schmuck im Her- vortreten von Abzeichen, eine herausfordernde Standarte zum Kampfleben, welchem wir in der speciellen Abhandlung „der Kampf in der höheren Thierwelt“ gerecht werden. Eine merkwürdige Erscheinung zur Minnezeit ist das Füttern seitens des Männchens, dem das Weibchen, wie ein junger Vogel den Eltern, nachfliegt und auf den Bäumen flügelschlagend und ganz wie im Jugendalter Töne vernehmen lassend entgegenstrebt. Wir haben dies frühe im Lenz an Bluthänfling- und Grünlingpaaren, sowie an Blaumeisen wahrgenommen. Eine solche Erinnerung an das Pflegegeschäft der Jungen tritt auch bei dem Mönchpaare vor der Nestbereitung im Sommer auf, imdem das Männchen den Lockton der braunbekutteten Jungen öfters hören lässt, der wie „iteck“ klingt. Auffallend wirkt die Zaubergewalt des Minnetriebes auf die Kehle des Vogels, auf seine Stimme, seinen Gesang. Sie wird geschmeidig, beredt, zu wirkungsvollem Vortrag bei den Sängern befähigt, selbst bei gesanglosen Vögeln einzelnen melodischen Tönen dienstbar; sie stimmt ein in die allge- meine Gehobenheit und Neubelebung des ganzen Organismus. Welches Wunder entfaltet sich da unserem lauschenden Ohr! Wir nehmen sogar im Gesang der hervorragendsten Meister eine gewisse Produktivität wahr, eine, wenn wir so sagen dürfen, dichterische Emphase, wo die zur Höhe der Be- geisterung gestiegene Empfindung nach neuen Formen ringt und sonst nie Gehörtes leistet. Die eigentliche Blüthe des Gesanges der Vögel wird dnrch die Minne sicherlich hervorgetrieben, aber er ist nicht einzig und allein von ihr abhängig, am allerwenigsten baar des seelischen Antriebs, der bewussten Empfindung. Es singen auch Vögel noch, wenn die geschlechtlichen Regungen längst zurückgetreten sind. Bewirken doch Witterungs- und Nahrungsein- flüsse, dass unsere Sänger in dem einen Jahre schöner und länger singen, als in ungünstigen Zeiten! Das Gefühl des Behagens und Wohlbefindens und der erheiternden Anregung ist neben dem Minnetriebe Beweggrund des Singens. Die jungen Vögel, seien sie reproducirende oder Originalsänger, üben ihr Lied von den Stufen des undeutlichen, verworrenen Gezwitschers bis zu dem Höhegrade ausgeprägtester Formvollendung allmälig en. Wo aber beginnt und wird fortgesetzt dieses Studium? Schon im Herbste des Geburtsjahres des Vogels hat es seinen Anfang genommen unter den ver- klärenden Blicken der Herbstsonne im heimlichen Dämmer der Gebüsche und Bäume. Fortgesetzt und zur vollen Ausbildung erhoben wurde das Lied in der Fremde, zumal unter dem anregenden Einfluss der. dort viel früher, als in der Heimath, beginnenden Frühlingsmilde und auf dem Zuge. Nun wirft sich die Frage auf: nach welchem Vorbilde arten die jungen Vögel auf diese Weise ihren Gesang? Man legt mit allem Recht Gewicht auf das Muster, welches der Gesang des Vaters den lauschenden jungen Männchen 8 1, Das Ehe- und Familienleben der Vögel. gibt. Keinem Zweifel ist es unterworfen, dass diejenigen jungen Singvögel, welche den Gesang des Vaters noch längere Zeit hören, viel Characteristisches aus dem Gesange desselben annehmen, wie beispielsweise die Drosseln, Am- seln, schwarzköpfigen Grasmücken, Lerchen. und Finkenarten. Hat man doch an der Abnahme der Doppelschläger unter den Edelfinken in Thüringen durch Wegfangen der Meistersänger den unzweideutigsten Beweis zu suchen, dass bei vorhandenem Mangel an Vorbildern die jungen Vögel im Schlage zurückgehen. Dennoch giebt es nicht wenige Exemplare, welche sich, wenn auch durch charakteristische Merkmale, z. B. Rufe, UÜberschlag und auf- fallende: Strophen, als unverkennbare Kinder bestimmter Gegenden und Distriete kenntlich, zu ausgezeichneter Originalität erheben und dem Forscher Anlass geben zu noch anderer Erklärung der Gesangsentwicklung. Offenbar tritt zu der Schule der frühesten Jugend durch den Vater später in der Fremde mittelst gelegentlich begesnender Vorbilder gegen die nahende Zeit des Heim- zugs hin ein neuer Bildungsfaktor. Es mag dieser Umstand vorzugsweise für die Bereicherung des Repertoirs solcher Vögel mitwirken, die ihren Vor- trag fremden Vogelgesängen entlehnen, weniger wohl bei den Originalsängern von wesentlichem Einfluss sein. Die nachahmenden Singvögel, die Spötter, nehmen sicherlich auch auf dem Zug in die Fremde schon vorübergehend begegnende Weisen anderer Vögel auf, und wir vernehmen an ihren Stand- orten Rufe, Locktöne und Gesangsstrophen, welche daselbst niemals zu hören sind. Das Gedächtniss derartiger Vögel ist ausgezeichnet, und die Wieder- gabe des Gehörten fällt dem Vogel bis zu einem vorgerückten gewissen Zeit- punkte seines Jugendalters nicht schwer, während der älter, über ein Jahr gewordene Vogel in der Freiheit im Allgemeinen nichts Fremdes mehr anzu- nehmen geneigt ist, wohl aber mit zunehmendem Alter seinen Vortrag ver- vollkommnet. Die Ausbildung des Gesangs der hervorragenden Origimal-- sänger, in erster Linie der Nachtigall, aber ist grösstentheils das Produet ursprünglicher Anlage, zur Geltung gelangender Naturgabe, welche in den bewundernswürdigen Leistungen wahrer Meistersänger zum triumphirenden Ausbruch kommt und dann aller vorbildlichen Schablone spottet. Der Ver- such des gegentheiligen Beweises durch in der Jugend eingefangene Exem- plare, die niemals zu solcher Ausbildung gelarigen, wird gänzlich entkräftet durch den Hinweis auf das freie Naturleben, welches allein das Talent der Originalität zur Entwicklung fördert. Die junge Nachtigal hört den Vater entweder gar nicht oder nur noch in abgebrochenen Strophen, äusserst selten wohl auch einmal zusammenhängend singen, denn gegen Johanni endet der Nachtigallengesang. Woher soll sie also ihre künftige Meisterschaft nehmen? Die sich darbietenden Gelegenheiten in der Fremde sind keinesfalls aus- reichend; mithin bildet sich das Talent im wahren Sinne des Wortes im Stillen aus der wunderreichen Kraft seiner eignen Tiefe heraus. Diese Er- scheinung stimmt den Eingeweihten zur Ehrfurcht vor dem nie ver- l. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 9 siechenden Quell der waltenden Natur, welche immer die tiefsinnigste Sprache spricht. | Mit dem lebhaft erregten Betragen des Vogels zur Begattungszeit steht der begeisterungsvollste Tonausdruck in engster Beziehung. Das Gebahren des männlichen Vogels durchläuft im Hinblick auf die verschiedenen Familien und Arten die mannigfachsten Stufen vom Schönen und Anmuthigen, Imponi- renden und Würdevollen bis zum Rasen und Toben der Selbstvergessenheit und der Darstellung des unbewusst Comischen. Beispiele ersterer Art sind im Werben der Beherrscher der Lüfte bereits erwähnt worden. Die zur Raserei führende Erotomanie offenbart sich in drastischer Weise beim Auer- und Birkhahn. Ersterer wird, wie die Monographie im speciellen Theile dieses Werkes nachweist, in wirklicher Bedeutung des Wortes während des Schleifens sinnebetäubt. Von den kleimeren Vögeln wollen wir nur die Bastardnachtigall (Hippolais) erwähnen, welche, von Erregung beherrscht, trippelnd, purzelnd und zuweilen krampfhaft eine Strecke vom Baum niederkollernd um des Weibchens Ergebung buhlt; sodann den Gnomen Zaunkönig, der sich mit aufgeblasenem Gefieder, gefächertem Schwanz, emporgerichtetem Schnabel und wimmerndem Geberdenspiel der Gattin zu Füssen legt; die Bachstelze, welche mit ausgebreitetem Schwanz, hängenden Flügeln und hochgekrümmtem Rücken auf dem Dach der Gefährtin als komisch wirkendes Bild der Hingebung ent- gegenschleift; der Rothkopfwürger, der mit gelüfteten Kopffedern und hoch- aufgerichtetem Vorderkörper emen Rundtanz um die Geliebte aufführt und dabei allen Reichthum semes erborgten Gesanges zum Besten gibt. Fassen wir nun alle diese Mittel der Werbung, alle diese Ausdrücke des Minnetriebes in Ton und Geberde zusammen und stellen wir die Frage zur Beantwortung auf: werden sie von der Gattin verstanden, empfunden? Wer- den durch die Entfaltung der Reize wirkliche Seeleneindrücke beim Weib- chen erzeugt? Wir könnten die Antwort vielleicht am schlagendsten geben durch die Gegenfrage: wofür anders sind sie denn vorhanden? Dass sie dem Weibchen gelten, ist unbestritten; sollten sie also nur zwecklose Scenerien bilden? Aber wir wollen die Sache anders beleuchten. Werden doch die alltäglichen Kundgebungen zum Aufbruch, zur Niederlassung, zum Anlocken, zur Warnung und Flucht und dergleichen mehr beiderseitig auf’s Feinste verstanden; erreicht doch jede dieser eigenthümlichen Offenbarungen den Zweck ihrer Bedeutung: warum sollte das Gebahren der Minne, welches einen so mächtigen Beweggrund hat, von demjenigen Theile nicht verstanden und empfunden werden, der ja bis in’s tiefste Innere mit in die Erregung gezogen ist, aber als weibliches Geschlecht das durch die ganze thierische Schöpfung (die menschliche nicht ausgeschlossen) verbreitete Loos des Empfangens und Hingebens an das Entgegenkommende theilt? Einzelausführungen würden als gewagt erscheinen, denn das Verständniss der Thierseele hat für uns seine unübersteigliche Grenze. Wir können nicht wissen, ob das Vogelweibchen 10 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. z. B. einen Farbeneindruck im Einzelnen empfangen kann, ein Totaleindruck des im Sonnenglanz erhöht wirkenden Farbenspiels wäre immerhin möglich. Formenschönheitssinn wird man ihm nach menschlicher Weise nicht zuge- stehen wollen, aber dass es einen gunsterweckenden Eindruck erhält von dem Fluggebahren des werbenden Männchens, möchten wir entschieden behaupten. Solche Curmachereien und ähnliches Gebahren, wie Tanz, Getrippel, Gepurzel, Gekoller, wirken ganz unfehlbar auf das kleine weibliche Vogelherz, wie ja auch die hingebende Stellung und Geberde des Weibchens sofort von dem Männchen verstanden und mit Entzücken durch die That begrüsst wird. Sollte es etwa mit dem Gesang sich anders verhalten? Wir stellen wieder eine Gegenfrage: verstehen und empfinden die Weibchen nicht die Lock- und Warnungstöne des Männchens? Warum sollte nicht auch der Gesang seine Wirkung haben? Kunstgeschmack und musikalisches Verständniss im menschlichen Sinne trauen wir wahrlich keinem Vogel zu. Aber dass die Wirkung des Gattenliedes eine wohlthuende für das Gemüth des Weibchens sein muss und der Minnestimmung entsprechend die harmonische Empfindung erzielt, kann consequenter und natürlicher Weise gar nicht bezweifelt werden. Bereitet auch dem Männchen der Gesang Selbstgenuss, mag es Befriedigung finden in der Befolgung des zwingenden Gewaltantriebes, der Gegenstand, welchem die Verherrlichung gilt, ist der der Minne überhaupt, er bildet wenigstens den Mittelpunkt der Sehnsucht und des Begehrens, welches sich an die Tiefe des Gehörs und der Empfindung des Weibchens wendet. Oder singt vielleicht auf höheren Befehl der Vogel nur für den Erdenkönig Mensch ? Das Lied der Wildniss und der tiefen Gebirgseinsamkeit hört selten ein Mensch. Aber es giebt ja auch eine grosse Menge dem Menschen unangenehmer, wider- licher Vogelstimmen. Diese wären also für ihn vollkommen überflüssig. Die grosse Rohrdommel erhebt wahrlich nicht ihr Minnegebrüll mit obligatem Wasserspritzen zum ästhetischen Genusse der Herren Zweckmässigkeitslehrer, aber der oft vereinsamt in grossen Schilfteichen verborgene befiederte Sonder- ling gebraucht unter dem Vorrath seiner mystischen Eigenheiten ebenwohl diese absonderlichen Minnetouren zur Herbeilockung und Gewimnung des weiblichen Wesens seiner Sumpfeimöden. Es ist dies eigenthümliche Concert eben der Ausdruck für die Rohrdommel, welcher die Gattin sympathisch be- rührt. Das Weibchen des mit einer uns abscheulich klingenden Stimme aus- gestatteten Männchens nimmt den Miss- und Schreiton ganz anders auf; auch solche rauhe Sprache der Liebe findet wie die melodisch klingende den Weg zu dem gleichgestimmten Herzen, weil sie eben Arteigenthümlichkeit ist und für das Sonderverständniss der Gatten ihre Bedeutung hat. Wird doch auch der Gesang des einen Männchens von dem andern derselben Art sogleich erkannt und dadurch Eifersucht der benachbarten Männchen hervorgerufen. Sehe man nur auf den Haushahn, der beim Krähen des unweit von ihm erschienenen Rivalen mit gehobenem Halskragen sofort losrennt. Auf diesem Erkennen 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 11 und Unterscheiden beruht der wunderherrliche Wettstreit mehrerer und vieler Nachtigallenmännchen zur Minnezeit, dem wir bisweilen zu lauschen Gelegenheit hatten. Wirkt aber das Minnelied des einen Männchens gemüthsbewegend auf ein anderes, dann dürfen wir, davon ausgehend, schon den gemütherregenden Eindruck dieses Liedes auf das Weibchen unbedenklich annehmen. Die Werbungen des Männchens um des Weibchens Willigkeit werden von letzterem so lange zurückgewiesen, bis die Unterlage für die Eier bereitet ist. Die Wahl des Nistortes fällt im Allgemeinen dem Weibchen zu, welches sich um die ungestümen Triebe der Baulust des Männchens bei solchen Arten, bei welchen sozusagen Blendnester vorkommen, nicht kümmert. Sobald das Weibchen seine Wahl getroffen und die ersten Stoffe zur Grundlage des Nestes angebracht hat, lässt das Männchen von der Befriedigung seines Privatbedürfnisses sogleich ab und leistet dem Weibchen zur Errichtung der Familienwohnung treulich und eifrig Hülfe. Das sehen wir an den Gras- mücken, dem Zaunkönig und andern Vögeln. Unter den Arten, wo. das Männchen nicht bauen hilft, verrichtet dieses nur den Dienst eines treuen Begleiters und Behüters des nach Baustoff suchenden Weibchens, wie es bei Finken- und Meisenarten der Fall ist. Oefters hat ein Weibchen während seines Wandels und Umherstreifens zum Zweck der Auswahl eines Nistplatzes nicht blos sein angepaartes Männchen, sondern auch noch andere und zwar gattenledige Buhler zur Begleitung, die dem Paar auf Weg und Steg nach- fliegen und einen fortwährenden Streit veranlassen. Einem Distelfinkenpaare Sesellen sich oft mehrere Männchen zu und ihre werbende Ritterschaft geht erst dann zu Ende, wenn das Weibchen seine Ortswahl getroffen und allen Ernstes zu bauen begonnen hat. Dieselbe Erscheinung tritt unter den Elstern auf, bei denen ein Paar zuweilen drei bis vier Männchen zu beun- ruhigenden und streiterweckenden Begleitern hat. Bei denjenigen Vögeln, welche die alten Nester beziehen, findet natürlich kein Suchen nach passender Stelle zur Nestanlage statt; sie bessern die alte Wohnung mehr oder weniger aus und schreiten sogleich zur Begattung. Wir haben übrigens mehrfach entdeckt, dass bei Vögeln, welche der Regel nach nicht nur alljährlich bei der ersten, sondern auch im Laufe des Sommers bei der zweiten Brut ein neues Nest bauen, zuweilen Abweichungen stattfinden, die sich jedoch nur auf letztere beziehen. Ein Amselpaar hatte auf einen Knorren, der am Rande des Gebüschs stehenden Hainbuche sein Nest gebaut und frühe im Jahre seine Jungen erzogen und der Selbstständigkeit übergeben. Da sahen wir eines Tages das Weibchen bereits wieder in dem alten Neste, welches allerdings ausgebessert worden war, über dem vollzähligen Gelege sitzen. Die An- stalten zur zweiten Brut mussten begonnen haben, während die ausgeflogenen Jungen noch gefüttert wurden. Wir übergehen hier zur Vermeidung von Wiederholungen einen Zeitab- schnitt des Familienlebens der Vögel, welchen die Thätigkeit derselben zur 12 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Herstellung von Wohnungen für die Brut ausfüllt, indem wir auf die beson- dere Ahandlung über die Nestbaukunst verweisen. Wir gelangen nun zu der Katastrophe des Eierlegens der Vögel. Alsbald nach Vereinigung der Geschlechter zeitigt das erste Ei, und die Legereife verursacht unverkennbare Unruhe im Betragen des Vogels. Schon am Tage vor dem Legen bemerkt man eine grosse Neigung desselben, im Neste die Lagen zu prüfen und lange tief und fest sich niederzudrücken und sich im Kreise zu bewegen. Bei den Samenfressern, insbesondere auch bei den Tauben, findet man entschiedenere Vorliebe für Aufnahme von Sand und Kalkstoffen zu dieser Zeit, als sonst. Während der Nacht sitzt jetzt das Weibchen im Neste im Vorgefühle der sich einstellenden Wehen. Diese treten in der Regel, wenn nicht schon im Laufe der Nacht, am Morgen ein und fördern das Ei ungefähr innerhalb einer halben Stunde zu Tag. An Stieglitzweibchen, welche wir vom Fenster aus auf zwei Meter Länge bequem beobachten konnten, desgleichen am Kukuk nahmen wir ein Zittern mit den ausgebreiteten Flügeln wahr, welches periodisch den ganzen Vogel ergriff, aufgerichteten Vorderleib, etwas gesperrten Schnabel, sehr erregtes Athmen und schliessliches Senken der Flügel. Die Stärke der Wehen ist während der Katastrophe bald steigend, bei welcher Erscheinung der Vogel sich fester in’s Nest drückt und heftiger zittert, bald abnehmend, jedesmal aber gegen das Ende hin auffallender, denn der Vogel macht wirksame Anstrengungen durch Drücken nach hinten, sperrt weiter den Schnabel auf und lüftet das Gefieder. Rasch tritt das Ei durch den letzten kräftigen Druck getrieben, zu Tag; aber damit sind die Wehen noch nicht vorüber, die Nachwehen sind zwar viel unbedeutender als die Hauptwehen, allein der Krampfzustand lässt den Vogel noch einige Zeit aufrecht im Neste stehen und den Leib von dem- selben nach und nach höher lüften. Sobald die Nachwehen vorüber und die angegriffenen Organe beruhigt sind, setzt sich der Vogel wieder nieder und gibt Wohlbehagen kund. Wir glauben, dass bei jüngern Weibchen die Wehen im Allgemeinen heftiger auftreten, als bei älteren. Ist doch auch mit dem erstmaligen Legen des Vogels Blutabsonderung verbunden. Beim Kukuk scheint der Legeprocess kürzere Zeit zu dauern. Entweder setzt sich das Kukukweibchen auf die Erde, um sein Ei zu legen und alsdann mittelst des Schnabels in das Nest eines Höhlenbrüters zu schmuggeln, oder es deckt, in sehr unbequemer Lage wegen des geringen Umfangs der Nester und wegen deren Stand auf dünnen Zweigen, unmittelbar mit dem Unterleib das frei- stehende Nest und legt das Ei direkt in die Mulde. Täubinnen, welche vor der Nestbereitung dem ungestümen Drängen ihres Täubers nachgaben, werden mitunter während der Nacht oder am frühen Morgen von Wehen befallen und lassen die Frucht vom Aste einer Kiefer oder Fichte herab auf die weiche Moosdecke fallen, wo es sich dem Auge des aufmerksamen Beobachters ver- räth. Auch Eulenweibehen werden auf nächtlichem Streifzug von Wehen 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 13 überrascht und genöthist, das Ei auf offenem Felde zu legen. Wir fanden mehrmals dasselbe früh Morgens auf Blössen im Felde und in Chausseegräben. Gleiche Erscheinungen treten auch noch bei andern grossen Vögeln auf. Es liegt uns ob, auf Gestalt und Färbung der Vogeleier zunächst Rück- sicht zu nehmen, ehe wir von dem Innern derselben reden. Abgesehen von dem bedeutenden Umfang des Straussenei’s und der ab-. nehmenden Grösse durch unzählige Grössegrade bis zu dem kleinen Ei des Goldhähnchens und Zaunkönigs oder dem noch kleineren des winzigen Kolibris, nehmen wir auch wesentliche Unterschiede in der Formbildung wahr, wenn sie sich auch in der Hauptsache immer gleich bleiben, nämlich in der ovalen Gestaltung. Die Abweichung besteht darin, dass die Form sich mehr der Kugel- oder mehr der Birnform oder der Walzengestalt nähert. Bezüglich der Färbung gilt der allgemeine Grundsatz, dass die Pracht- vögel oft glänzend weisse, die Höhlenbrüter ebenfalls weisse, die Erdbrüter erd- oder grasfarbige, die Baumbrüter gesprenkelte und getüpfelte Eier legen. Die grösseste Anzahl der Eier ist verschiedenfarbig oder gezeichnet. Man unterscheidet punktirte oder marmorirte Eier und dieselben sind stets am stumpfen Ende am dichtesten und zugleich lebhaftesten gefärbt. Punktirte Eier legen die Kibitze, Würger, Haidelerchen, Baumpieper, Grasmücken und viele andere kleine Vögel, marmorirte z. B. die Ammern, Emberizae. Nicht selten ist die Einfarbigkeit der Eier vertreten in Weiss oder wenigstens hellem Ton, wohl aber nur spärlich die düstere Einfarbigkeit und am seltensten die blaue, grüne und blaugrüne Das Blaukehlchen und der schwarzrückige Fliesenfänger legen meergrüne, das Baumrothschwänzchen blaugrüne Eier. Wie die Farbe der Eier Abwechslung und Interesse bietet, so zieht uns auch die verschiedenartige Grösse derselben zur genaueren Untersuchung und zur Vergleichung an. Die kleinsten Eier legen unter: unseren europäl- schen Vögeln Goldhähnchen, Zaunkönig und Meisenarten, noch viel kleinere jedoch die Kolibri's. Die grossen Vögel legen in der Regel die wenigsten, die kleineren und mittelgrossen die meisten Eier. Doch kommen auch Ausnahmen vor, wie z. B. bei den Kolibri’s, deren Nester gewöhnlich nur zwei Eier enthalten, und bei dem Strauss, der zuweilen ein ganzes Dutzend von Eiern legt. Die Durchschnittszahl der Eier eines Nestes schwankt zwischen vier und sechs. Die fruchtbarsten Eierleger finden wir unter den Hühnern, Gänsen und Enten, sowie unter den Meisenarten. Von manchen Vögeln wird das Nest nach dem Legen des ersten Ei’s nicht mehr verlassen; andere sitzen bis zur Vollen- dung des Geleges nur Nachts und während des Legens auf den Eiern. Die Zahl der Bruten während eines Sommers ist verschieden. Viele Vögel brüten nur einmal, andere zwei- und wieder andere sogar dreimal während einer Periode. Das Gelege der späteren Brut ist weniger zahlreich, als das der ersten. Das Brüten besorgt, einzelne Ausnahmen abgerechnet, wie wir sie 14 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. bei den Wallnistern und dem Kukuk finden, der eierlegende Vogel selbst, wobei ihm entweder Hülfe geleistet wird von dem Männchen oder gler Arteigen- thümlichkeit nach das Geschäft ihm allein überlassen bleibt. Das aufrechte Sitzen ist die durchgehende Regel; nur machen z. B. die Eistaucher hiervon eine Ausnahme, indem sie den Hals platt ausgestreckt auflegen und so über den Eiern liegen. Der brütende Vogel geräth mehr oder weniger im einen fieberhaften Zustand; die Brutwärme steigt zu hohem Grade, und das Bedürfniss zur Überleitung dieser Wärme auf die Eier ist oft so bewältigend, dass das Brüten fortgesetzt wird, wenn statt der Eier Steine oder sonstige Gegen- stände untergelegt werden. Es fallen dem brütenden Vogel in der unteren Bauchgegend Federn aus, und beim Blasen auf diese Stelle wird der so- genannte Brutflecken deutlich sichtbar; auch erscheint derselbe geröthet. Dem weiblichen Vogel fällt beinahe ohne Ausnahme der Haupttheil des Brütens zu. Seine Brütezeit währt die ganze Nacht hindurch, und der männ- liche Gatte löst die Gattin nur um einige Stunden während des Tages ab. Bei den Straussen brütet indessen nur das Männchen. Das brütende Vogel- weibchen wird von dem Männchen treulich mit Futter versorgt.: Die In- sectenfresser geben das im Schnabel herbeigetragene Futter schnell ab, während die Samenfresser, welche eine grössere Menge von Körnern erst im Kropf ansammeln, längere Zeit zum Füttern verwenden. Das fütternde Männchen hält bei diesem Geschäft den Kopf so, dass Ober- und Unter- kiefer in die Mundwinkel des weiblichen Schnabels passen, wodurch die Überleitung des hervorquellenden Futters in den Mund des Weibchens leicht und ohne Nahrungsverlust bewerkstelligt werden kann. Unter den aus dem Kropfe fütternden Finkenarten füttern die Männchen ihre brütenden Weibchen alle anderthalb bis zwei Stunden. Umstände können aber auch Ausdehnung der Pausen bewirken, so beispielsweise die Witterung. Die Insectenfresser dagegen kommen alle fünf bis zehn Minuten und versorgen die Weibchen mit Gaben. Solche Vögel, welche mit sehr kleinen Kerbthieren füttern, darunter die Goldhähnchen, sammeln erst eine grössere Anzahl von Beute im Schnabel an, ehe sie dem Neste zufliegen und machen diesem Umstande gemäss oft längere Pausen. Das Gelege vermehrt sich der Regel nach zwei- täglich um ein Ei bis zur Vollzahl. Im Anfange des Brütens entfernt sich der brütende Vogel mehrmals des Tages vom Neste, um sich auszuspannen. Er hebt sich im Neste empor, streckt einen Fuss nach dem andern in Be- gleitung mit dem entfalteten Flügel nach hinten, gähnt in gekrümmter Stellung und hüpft zum Neste hinaus. In der Nähe des Nestes stürzt er, wenn er nicht sogleich zur Insektenjagd oder zur Tränke weiterfliegt, öfters von Zweig zu Zweig mit rascher, scharfer Wendung und rauschendem Flügel- schlag hin und her wie besessen, offenbar wohlig durchdrungen von dem Gefühl der augenblicklichen Befreiung von seiner fesselnden Obliegenheit. 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 15 Wenn das Männchen zur Ablösung herankommt, so erfolgt jedoch gewöhn- lich der Aufschwung von den Eiern ins Freie so rasch, dass man das Auf- stehen gar nicht wahrnimmt. Gleicherweise verfährt der brütende Vogel, wenn er vom Neste gejagt wird. An sehr warmen Tagen werden die Eier auf längere Zeit, als an etwas kühleren, an sehr kühlen oder nassen Tagen gar nicht oder kaum einmal auf kurze Zeit verlassen. Lüftungen finden seitens des brütenden Vogels immer statt, und zwar täglich mehrmals, um den Luftzutritt zur Vermittelung des dem Ei nothwendigen Sauerstoffs zu bewirken. Dies geschieht auch gegen das Ende der Brütezeit noch, wo der Vogel fester sitzt und die anfänglich mehrmals am Tage wiederholten Drehungen zum Zweck veränderten Sitzens nach der einen oder der andern Richtung hin möglichst zu vermeiden sucht. Gewöhnlich ändert der Vogel seinen Sitz nach zwei entgesengesetzten Richtungen hin, wenn er nicht durch die unmittelbare Umgebung des Nestes, durch einen Zweig etwa, zu anderer Einrichtung genöthigt wird. Die Schilfsänger, welche kahnförmig ihr Nest einrichten, halten sehr strenge diese entgegengesetzten Richtungen ein, und dem ersten Blick des Beobachters in ihr Heilisthum verräth sich dies durch den auf beiden entsprechenden Seiten niedergedrückten Nestrand. Täglich ordnet der Vogel sein Gelege. Sobald irgend eine Unordnung entsteht, wird die Ordnung hergestellt. Sehr aufmerksam ist er auf die Lage der Eier, Kreisförmig, mit den Spitzen nach innen gerichtet, liegen manche Gelege. wie z. B. vielfach bei den Stelzvögeln; andere sind wieder je nach der Art- eigenthümlichkeit des Vogels in andere Lage, grossentheils in Reihen, ge- bracht. Mit dem Schnabel werden sie von Zeit zu Zeit gewendet und von dem Vogel bisweilen auffallender Weise längere Zeit förmlich betrachtet. Beim Einsteigen in’s Nest zeigt er Vorsicht, damit die Eier nicht beschädigt werden. Er gleitet, am Nestrande mit den Zehen sich haltend und unter Umständen sogar die Flügel zur Stütze nehmend, mit gespreizten Beinen nieder. Dann duckt er sich tief in die Mulde, bewegt sich rückwärts und schiebt so die Eier unter die aufgeblähten Federn. Es ist Thatsache, die von uns sorgfältig beobachtet worden ist, dass der brütende Vogel die Ent- fernung eines oder mehrerer Eier oder Unterschiebung fremder Eier sowie sonstiger Gegenstände alsbald bemerkt, wenn er zum Nest zurückkehrt. Das Befremdetsein über den Eingriff gibt sich deutlich zu erkennen, und erst nach Ablauf einer gewissen Zeit fügt sich der Vogel in sein Schicksal, weil ihn die Bruthitze zur Überleitung der Wärme auf die Eier an das Nest fesselt. Es kommt nicht selten vor, dass ob des störenden Eingriffs Geschrei vom Weibchen erhoben wird, welches das Herbeieilen des Männchens be- wirkt, und in dem Gebahren des Paares offenbart sich das sichere Verständ- niss für die geschehene Veränderung. Wenn der Kukuk sein Ei in das Nest eines Insectenfressers gelegt hat, erheben die alten Vögelchen oft langan- haltendes Geschrei; und nur zögernd und von der Störung misstrauisch 16 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. erregt, nimmt der Brutvogel sein Geschäft wieder auf. Es ist wahr, dass z. B. Blut-Hänflinge auf untergelesten Dompfaffeneiern fortbrüten, auch wenn ihnen ihr eigenes Gelege genommen wird. Aber es muss diese Ver- änderung höchst vorsichtig und zur Zeit geschehen, wo das Hänflingweibchen schon mit voller Hingebung brütet. In vielen Fällen gelingt aber dieser Versuch der Dompfaffenzüchter nicht. Andere Vögel, wie Stieglitze, Edel- finken etc. verlassen vielfach nach derartiger Störung das Nest, entschiedener noch meiden dasselbe die solchem Trug ganz und gar nicht zugänglichen Ammern, Goldhähnchen, Drosseln, Grasmücken und Laubsängerarten, wenn unter den beiden letztgenannten auch solche sich befinden, welche das Kukuksei annehmen. In gar vielen Fällen sucht der Brutvogel fremde Gegenstände aus dem Neste zu entfernen, und dies gelingt ihm, wenn er sie mit dem Schnabel packen kann, während er ein Ei nicht leicht hinauszuwerfen ver- mag. Das taube, faule Ei unter dem eigenen Gelege weiss er von dem gesunden indessen nicht zu unterscheiden. Wir stehen jetzt vor der Entwickelungsgeschichte der Vögel, welche in der wunderbaren Werkstätte der Entfaltung des Keimlebens, in dem Ei, ver- läuft. Den nachstehenden, interessanten für unsere Aufgabe vollkommen ge- nügenden Abriss verdanken wir der grossen Güte des Herrn Dr.M. Braun in Dorpat, einer anerkannten wissenschaftlichen Autorität. Die klare Darstellung wird mit Hilfe der beigegebenen Figuren auch dem Laien das Verständniss für die bewundernswürdigen Vorgänge im Innern des Ei’s ermöglichen. „Die Entwickelungsgeschichte oder Embryologie oder Ontogenie hat die Aufgabe, die allmähliche Entwickelung eines jeden Organismus im Ganzen wie in seinen Organen aus dem einfachsten, bekannten Zustande desselben zu erforschen und die Gesetze, nach denen diese Entwickelung verläuft, dar- zulegen — Aufgaben, von deren Erfüllung unsere Wissenschaft jedoch noch recht weit entfernt ist. Speciell bei den Vögeln wird es sich darum handeln, die Entwickelung jeder einzelnen Art vom Ei an bis mindestens zum Verlassen des Eies zu verfolgen, aber auch diese Forderung ist bis jetzt gar nicht zu erfüllen, weil bis auf ganz wenige Ausnahmen die Vögel nur in dem ausgewachsenen oder halberwachsenen Zustande bekannt sind. Streng genommen kennen wir bis Jetzt nur von einem einzigen Vogel die Entwickelung vom Ei an genauer, das ist vom Huhn oder, wie die Autoren gewöhnlich sagen, vom „Hühnchen“; erst in der jüngsten Zeit beginnt man, auch andere Vögel in derselben Weise zu untersuchen. So kommt es, dass wir in diesem Ab- viss der Entwickelungsgeschichte der Vögel fast nur vom Hühnchen handeln können, einem Objeet, das wegen der Bequemlichkeit der Beschaffung schon von Aristoteles untersucht wurde. Das frisch gelegte Hühnerei ist jedoch nicht das jüngste, bekannte Stadium in der Entwickelung des Hühnchens, dieses ist das Ei im engeren 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 7 Sinne, auch Eierstocksei oder Eizelle genannt, jene einzelnen verschieden grossen und verschieden alten Kugeln, welche wir an dem traubenförmigen, unpaaren Eierstock der Henne hängen sehen. Jede einzelne der grösseren, reifen Kugeln oder Eier, die wir aus ihrer häutigen Umhüllung herauslösen, besteht aus einer zarten Haut, der Dotterhaut und dem von dieser um- schlossenen Dotter; der letztere lässt an einer oberflächlich gelegenen Stelle einen weissgelblichen runden Fleck erkennen, welcher Bildungsdotter oder Hahnentritt oder Narbe genannt wird, während der grösste, gelbe Theil des Dotters „Nahrungsdotter“ heisst. Härtet man ein Eierstocksei in passender Weise und schneidet dasselbe in bestimmter Richtung durch, so erkennt man in dem gelben Dotter eine nicht sehr deutliche, concentrische Schichtung (Fig. 1 c), ferner dicht unter der Dotterhaut (Fig. 1 a) den Durch- schnitt des Bildungsdotters (b), nach innen etwas vor- springend und ein kleines, etwa 1). mm. breites Bläs- chen, „das Keimbläschen“einschliessend. Von dem Vorsprung des Bildungsdotters zieht durch den gelben Dotter zu einer central in letzterem gelege- . . . .. wD-- nen Höhlung ein Kanal, der wie die Höhlung von | einem etwas flüssigeren Theil des gelben Dotters ausgefüllt ist; man nennt ihn seiner Farbe wegen „weisser Dotter“ Jeder erinnert sich gewiss beim Durchschneiden eines hartgekochten Kies in Fig. 1. Schematischer Durch- ante hart selb MDotter ö n schnitt durch ein Eierstocksei der Mitte des harten, gelben Dotters eine etwas y9m Huhn. (Aus Kölliker's hellere, flüssige Masse bemerkt zu haben, dies ist Entwieklungsgesch. p. 45). en eeenenlemitdachersichnetenerössere, A a) Dotterhaut. b) Bildangs- die in der Figur I mit\d“ bezeichnete srössere An gotter mit dem Keimbläschen. sammlung von weissem Dotter. c) gelber Nahrungsdotter mit Eat mer stoelse: Ah ! Schichtungslinien. d) Weisser at nun ein Ei im Eierstock seine ihm zukom- Nahrungsdotter mit di) der mende Grösse erreicht, so platzt die das Ei um- grösseren Ansammlung im . EI Se: . Innern des Dotters. gebende Eierstockshaut, das Ei wird frei und wird von dem offenen, triehterförmigen Ende des unpaaren Eileiters, eines muskulösen, mit verschiedenartigen Drüschen versehenen Schlauches, aufgefangen, um nach hinten, gegen den After weiter geleitet zu werden. Auf diesem Wege wird das Ei befruchtet, geht die ersten Entwicklungsstadien, die Furchung, ein und wird in den verschiedenen Abschnitten des Eileiters mit mannigfachen Hüllen umgeben, so dass nun erst nach dem Austritt des Eies aus dem Eileiter, nach dem „Legen“ desselben, das, was wir schlechtweg „Ei“ nennen, gebildet ist. Es dürfte zweckmässig sein, auch das abgelegte Ei in seinen Theilen etwas näher kennen zu lernen und zu dem Zweck Fig. 2 zu betrachten, welches ein Ei nach 24 stündiger Bebrütung von oben geschen darstellt, doch so dass die Schale im Durchschnitt erscheint, also geöffnet ist. Zu äusserst sehen wir die Kalkschale (a), vorzugsweise aus kohlensaurem Kalk bestehend; sie ist das Bestimmende für die Form des Eies, A. u.K. Müller, Th. re der Heimath. 2 15 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. bei den verschiedenen Vögeln verschieden dick, bei allen aber von Poren- kanälen durchzogen, die jedoch, wie feine Schliffe lehren, nicht an der äusseren Oberfläche ausmünden, sondern hier von einem zarten, kalkarmen Häutchen (Oberhäutchen) überkleidet werden, das zwar nicht Flüssigkeiten, wohl aber Luft und andere Gase passiren lässt; die Kalkschale ist entweder weiss oder enthält in ihren Schichten verschiedene Pigmente, aus den Drüsen des unteren Abschnittes des Eileiters stam- mend, abgelagert, welche die Farbe der Eier bedingen. Auf der Innen- seite ist die Schale von der derben, aus zwei Blättern bestehenden Scha- lenhaut (b) ausgekleidet; beide Blätter hängen in der grössten Aus- dehnung zusammen, nur am stumpfen Pol desselben weichen sie zur Bildung eines Luftraumes (b‘) auseinander, der sich bei Eiern erst bildet, wenn sie einige Zeit gelegen haben. Die E= 72 III MIN SS 2) I en h IR ı ; h NEL PP | YA N, A| v | I =—> — OL... D- & Fig. 2. Ei, Hühnerei 24 Stunden bebrütet; die Eischale geöffnet. (Aus Kölliker p. 69). a) Schale. Db) Schalenhaut. b! Luftraum. e) Grenze zwischen äusserem und mittlerem Ei- weiss. d) Grenze zwischen dem mittleren und innersten Eiweiss. e) Hagelschnüre. v) Dotter. a0) Dunkler Fruchthof oder Gefässhof, den hellen Fruchthof mit der Anlage des Embryos umgebend. av) Dotterhof. nächstfolgende Schicht, das Eiweiss (ce, d) zeigt ähnlich wie der gelbe Dot- ter eine Zusammensetzung aus Schich- ten, eine äussere, fHüssigere Schicht, eine mittlere, dickere und endlich die innerste Lage, welche zwei, von den Polen nach dem Dotter zustrebende, gedrehte, aus diehtem Eiweiss be- stehende Schnüre enthält, die sogenannten Hagelschnüre (e). Im Oen- trum des ganzen Eiweisses liest der in seinem Bau uns schon bekannte Dotter; alle den Dotter umgebenden Theile stammen aus der Wandung des Eileiters und zwar aus verschiedenen Drüsen desselben und werden in der Reihenfolge von innen nach aussen um das Eierstocksei abgelagert. Zu gleicher Zeit verändert auch das befruchtete Ei seme Zusammen- setzung, indem es die Furchung eingeht; durch einen in seinen Einzel- heiten hier nicht näher zu schildernden Vorgang entstehen in dem Bildungs- dotter zuerst grössere, dann kleine Abschnitte, die sich immer vermehrend zu mikroskopisch kleinen Kügelchen umformen, welche den Charakter von „Zellen“ besitzen. Sehr bald ordnen sich die Zellen in zwei über einander liegende Schichten, welche die Stelle des früheren Bildungsdotters einnehmen und als Keim oder Keimhaut bezeichnet werden; wie erwähnt besteht die Keimhaut aus zwei Schichten oder „Blättern“, die nach ihrer Lage oder der Rolle, die sie beim Aufbau des Embryo’s spielen, oberes Keimblatt resp. Hautsinnesblatt (Ectoderm) und als unteres Keimblattoder Darmdrüsenblatt (intoderm) heissen. 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 19 Auf diesem Stadium, also mit zweiblättriger Keimhaut, werden die Hühnereier gewöhnlich abgelegt und bedürfen zur weiteren Entwickelung einer Temperatur, welche der Körperwärme des mütterlichen Thieres ent- spricht und etwa zwischen 385° —40° C. schwankt. Den Eiern kann die Wärme direkt von der Henne oder aus irgend einer andern Quelle (künstlicher Brutapparat) zugeführt werden. Es ist bekannt, dass die Ent- wicklungsfähigkeit der Eier bis zu einer gewissen Zeit beim Aufbewahren in der gewöhnlichen Temperatur erhalten bleibt. Setzen wir nun abgelegte Eier von Hühnern oder anderer Vögel der Brutwärme aus, so beginnt gleich die weitere Entwicklung, zu deren Be- trachtung wir uns wenden wollen. Die beiden Keimblätter liegen dicht unter der Dotterhaut dem Dotter wie ein Uhrschälchen, dessen Rand verdickt ist, auf; gleich mit der Bebrütung beginnt nun ein allgemeines Wachsthum der Keimhaut an ihrem Rande, sie dehnt sich immer mehr zwischen Dotterhaut und Dotter aus, bis am Ende des sechsten Bruttages der ganze Dotter von der Keimhaut umwachsen ist, so dass dieser nun von zwei — allerdings sehr verschieden gebauten Häuten eingeschlossen ist, zu äusserst liegt die uns vom Eierstocksei schon bekannte Dotterhaut und unter derselben die aus den Keimblättern bestehende Keimhaut. Letztere wird aber noch im Laufe des ersten Bruttages dreiblättrig, indem sich zwischen den beiden erst bestehenden Blättern ein drittes, mittleres Keimblatt (Mesoderm) entwickelt; seine Entstehung steht im innigsten Zusammenhange mit dem Auftreten eines kleinen, weisslichen Streifens, den der berühmte ©. E. v. Baer Primitivstreifen genannt hat — er ist das Erste, was wir mit blossem Auge bei einem etwa 20—24 Stunden bebrüteten Hühnerei von dem sich bildenden Hühnchen erkennen können. Zu gleicher Zeit hat sich auch das Aussehen in der Keim- haut in der Umgebung des Streifens derart geändert, dass man mehrere Zonen oder Höfe erkennen kann, was uns die Fig. 2 illustriren soll. Wir sehen zu allerinnerst einen kleinen Stab, den Primitivstreifen; um denselben bemerken wir einen langgestreckten hellen Hof, den hellen Fruchthof, der seinerseits wieder von einem breiteren, dunklen Hofe um- geben ist (ao in der Fig. 2); er heisst desshalb der dunkle Fruchthof; endlich erkennen wir noch zwischen dem Dotter (v) und dem dunklen Frucht- hofe die Grenze zwischen der ganzen Keimhaut, den sogenannten Dotter- hof (av). Einzig aus den Theilen des hellen Fruchthofes entwickelt sich das Hühnchen, während im dunklen Fruchthofe, der seinerseits sich gerade wie der Dotterhof vergrössert, Blutgefässe zur Er- nährung des Embryo’s entstehen. Wie in der Figur ersichtlich nimmt der Primitivstreifen, auf welchem eine niedrige Längsrinne sich findet, den mittleren Theil des hellen Frucht- hofes ein, das ändert sich sehr bald dahin ab, dass er durch Ansatz neuer Elemente an sein hinteres — hier in der Figur unteres — Ende nach hinten 9% 20 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. wächst und daher nun schon die Körperregionen vorn, hinten, demgemäss auch rechts und links erkennen lässt. Sehr bald — am Beginn des zweiten Bruttages — erheben sich vor dem Primitivstreifen zwei Längswülste in der Keimhaut, das sind die Rückenwülste, welche zwischen sich eine Rinne, die Rückenrinne (s. Fig. 3 rw. u. rf.) fassen; beide, Wülste wie Rinne, dehnen sich nach hinten immer mehr aus und umfassen auch den vorderen Theil des Primitivstreifens; unter allmählicher Erhöhung der Wülste wird die Rückenrinne immer tiefer, die Wülste beginnen sich gegen einander zu neigen, schliesslich berühren sie sich und verschmelzen in der Mittellinie über der Rinne, die dadurch zu einem Rohr, dem Rückenmarksrohr (s. Fig. 5 m.) wird. Sein vorderer Theil buchtet sich an einzelnen Stellen besonders aus und so entstehen als seitliche, erweiterte Ausbuchtungen die drei Hirnblasen; die vordersten, grössten Blasen enthalten noch in sich die Anlagen des nervösen Theiles des Auges, die Netzhaut und den Seh- nerven; durch Abschnürung des seitlichen Theiles entsteht jederseits die Augenblase (Fig. 4 Ab.), welche mit einem Stiel, der Anlage des Seh- nerven mit der vordern Hirnblase in Verbindung steht. Später bildet sich an der Stelle, wo die Augenblase an das äussere Keimblatt stösst, durch lokale Zellwucherung ein rundlicher Zapfen, dies ist die Anlage der Krystall- linse, welche bei ihrem Wachsthum die Augenblase in sich einstülpt, sich selbst aber vom Ectoderm löst. Doch verlassen wir das Rückenmark, das sich allmählich von vorn nach hinten zu einem Rohr schliesst, um auch kurz derjenigen Veränderungen zu gedenken, welche in den andern Keimblättern auftreten. Zuerst sei er- wähnt, dass das mittlere Keimblatt, durch einen in demselben auftretenden Fig. 3. Querschnitt durch einen 2 Tage alten Hühnerembryo; 83 mal vergrössert. (Aus Kölliker p. 119.) a0) Aorta. ch) Chorda dorsalis, Rückensaite. dd) Darmdrüsenblatt, Entoderm. h) Hemternnes- blatt, Entoderm. rf) Rückenfurche. rw) Rückenwülste. sp) Seitenplatten. p) Spalte im mitt- leren Keimblatt, Lerbeshöhle. uwp) Urwirbelplatte. Spalt (Fig. 3 p.), der aber nicht bis an die Mittellmien des Embryo’s geht, in eine obere Platte, die wegen ihrer Beziehungen zur Haut, als Hautfaser- platte (Fig. 5 hp.) bezeichnet wird, und in eine untere Platte, die Darm- faserplatte (Fig.5 d f), zerfällt; der Spalt, welcher diese Scheidung be- dingt, ist die Bauchhöhle. Die unmittelbar seitlich neben dem Rücken- marksrohr gelegenen Theile des mittleren Keimblattes (Fig. 3 uwp.) ver- 1. Das Ehe- nnd Familienleben der Vögel. 21 dicken sich bedeutend zu emer langen Platte, in welcher die erste Gliederung des Embryo’s auftritt; es schnüren sich würfelförmige Stücke ab, die zu den Seiten des Rückenmarkes in je einer Reihe hintereinanderliegen, die Ur- wirbel (Fig. 4. Sie enthalten die Anlage der Stammmuskulatur, der knorpeligen Wirbelsäule mit Anhängen, einen‘ Theil der Gefässe des Embryo’s u. s. w. Im unmittelbaren Anschluss an den Primitivstreifen und aus dessen tieferen axialen Theilen sich entwickelnd entsteht unter der Rückenfurche ein fast den ganzen Embryo durchziehender Stab (Fig. 4 Ch) von rundem Querschnitt, die Rückensaite oder Chorda (Fig. 3 ch); sie ist der Vorläufer der Wirbelsäule, hat für das Leben der höheren Wirbelthiere, wie es scheint, keine weitere Bedeutung, da sie fast ganz wieder schwindet, und kann nur durch Vererbung von Vorfahren erklärt werden, welche dieselbe Chorda an Stelle einer Wirbelsäule be- sassen. Vom Blutgefässsystem ist anzuführen, dass das Herz sehr früh aus zwei seitlich gelegenen Schläu- chen entsteht, die jedoch bald in der Mittellinie neben einander rücken und einen sich S förmig windenden Schlauch (Fig. 4 H) darstellen; derselbe pulsirt auch gleich und treibt das Blut zum Theil durch den Embryo, zum Theil a en in Blutgefässe, welche sich über dem Dotter entwickeln; Ende des zweiten Brut- 0 0 . tages von der Bauch- so bildet sich der erste embryonale Kreislauf aus, der ee beim allmählichen Aufbrauch des Dotters einem zweiten (Aus Kölliker p. 189). . > 0 . l . Ch Kreislauf weicht, auf den wir weiterunten noch zu sprechen er n kommen. Herzschlauch. om)Vena Im Bereich des mittleren Keimblattes entsteht an der nn seitlichen Fläche der Urwirbel, ein solider Strang, im Vorberhirn. Vd) Vor- sanzen also zwei, der sich allmählich von vorn nach De hinten aushöhlt und einen Kanal, der nach seinem Entdecker als W olff- scher Gang (Fig. 5 wg) bezeichnet wird, darstellt; er ist der gemein- schaftliche Sammelgang von kleinen, senkrecht von ihm verlaufenden Kanälchen eines Organes, das im embryonalen Leben die Rolle eines Ex- cretionsorganes, gleich den späteren Nieren, spielt und daher Urnieren (oder auch Wolff’scher Körper) heisst; rechts und links von der Mittellinie liegt je eine Urniere. Die Wolff’schen Gänge münden in den Endabschnitt des Darmes aus, zu dessen Bildung wir uns nun wenden. Das Darmrohr geht durch Rinnenbildung aus dem unteren Keimblatt, dem Darmdrüsenblatt, hervor, ähnlich wie sich das Rückenmarksrohr durch Schluss der Rückenfurche bildet; eine längere Zeit hindurch besteht der 2 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. grössere, mittlere Theil als Darmrinne (Fig. 6 D. und Fig. 5 dr.), während der vordere Abschnitt, der Vorderdarm, und der hinterste Abschnitt, der Hinterdarm, bereits ein kurzes Rohr darstellen. Allmählich nähert sich der Verschluss der Darmrinne immer mehr und mehr, bis endlich das ganze Rohr gebildet ist — ausgenommen ein kleiner Gang, durch welchen der Darm bis ans Ende der embryonalen Periode mit dem Dotter in Verbindung bleibt, dies ist der Nabelstrang, in welchem noch Blutgefässe und ein Kanal verläuft, der aus dem Hinterdarm ursprünglich kommt. Es bildet sich näm- lich vom untern Keimblatt des Embryos am Hinterende desselben eine kleine Tasche, die allmählich bei der Umlagerung der Theile unter den Embryo zu liegen kommt, weiter wächst und dann ein kleines Bläschen, die Allantois oder das Harnsäckchen (Fig. 6 All) darstellt. Dieses hat einen doppelten Zweck, einmal sammelt sich in demselben das Sekret der Urnieren, welches dieselben durch den Wolff’schen Gang in den Hinterdarm entleeren, sodann dient die Allantois zur Etablirung des zweiten Kreislaufs und damit zur Athmung des sich bildenden Vogels. Sie wächst nämlich immer mehr nach Fig. 5. Querschnitt durch den vorderen Rumpftheil eines Hühnerembryo’s vom Anfang des dritten Bruttages; 76 mal vergrössert. (Aus Kölliker p. 155). a) Aorta. asp) Ammionspalte. cb) chorda dorsafis. df und dfp) Darmfaserplatte. dr) Darm- rinne. h) Hornblatt. hp) Hautfaserplatte. m) Rückenmarksrohr. mk) Muskelplatte. pp) Leibes- höhle. uw) Urwirbel. wg) Wolff’scher Gang. oben, durch einen Stiel, der im Nabelstrang verläuft, bleibt sie aber mit dem Hinterdarm in Verbindung, lagert sich über den Embryo und breitet sich hier mit zahlreichen Blutgefässen weit aus; sie kommt dadurch fast unmittel- bar unter die poröse Schale zu liegen, was für den Gasaustausch zwischen dem Blut und der äusseren Luft von Wichtigkeit ist. Im Laufe der weiteren Entwicklung entstehen aus dem Darmrohr, über welches sich die oben erwähnte Darmfaserplatte gelegt hat, noch einige wichtige Organe: so bildet sich aus dem vorderen Theil desselben ein kleines Bläschen, das sich bald in zwei kleine Säcke, die durch einen gemein- schaftlichen Gang mit dem Vorderdarm in Verbindung stehen, theilt und die Anlage der beiden Lungen und der Luftröhre darstellt. Etwas weiter nach hinten erweitert sich das Darmrohr zur Anlage des Magens und 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. hinter diesem stülpt es sich wieder in zwei dicht nebeneimanderliegende Gänge aus; der eine derselben wickelt sich zur Leber, der andere zur Bauchspeicheldrüse. Endlich möge noch von inneren Organen erwähnt werden, dass noch während des Bestehens der Urnieren sich die bleibenden Nierent mit ihrem Ausführungsgang entwickeln; auch entstehen im unmittelbaren An- schluss an die Urnieren die inneren Ge- schlechtsdrüsen; als Ausführungsgang der männlichen wird ein Theil der Ur- niere sowie der Wolff’sche Gang be- nützt, die also beide ihre Funktion wech- seln, während als Eileiter ein neuer Kanal jederseits entsteht, die Müller’schen Gänge. Bei der unpaarigen Anordnung der weiblichen Geschlechtsorgane der Vögel gehen die entsprechenden Bil- dungen im Laufe der Entwicklung auf der entsprechenden Seite zu Grunde; die Anlage ist vollkommen paarig. Die Schilderung der äusseren Ent- wickelung, die vielleicht ohne Hilfe von zahlreichen Abbildungen noch schwerer zu führen ist, als einzelne Züge der inneren, kann sich nur auf einige Punkte beschränken; sehr früh treten die An- lagen der Extremitäten, Flügel und Beine (Fig. 6 u. 7 Ex), als kleine, etwa schaufelförmige Wucherungen der Leibes- wand hervor, die zapfenförmis werden und sich gliedern. Etwa am dritten Tage bilden sich an den Seiten des Halses nach einander vier Spalten (Fig. 6 u. 7 Sp.), welche die Halswand und den Vorderdarm durch- brechen und derart Kanäle darstellen, welche aus dem vorderen Theil des Darmes nach aussen führen; ihrer Lage ent- & Fig.6. Hühnerembryo vom vierten Bruttage in der Bauchansicht; 20 mal vergrössert. (Aus His: unsere Körperform p. 4). All) Allantois. D) Darmrinne Dd) Um- Umschlagsstelle des Darmblattes. Ex) Ex- tremitätenanlage. Gh) Gehörbläschen. H) He- misphäre des Vorderhirns. Hz) Herz. Lw) Lei- beswand. Ls) Linse im Auge. Lb) Anlage der Leber. M) Mundhöhle. Mg) Magenan- lage. Mh) Mittelhirn. Ok) Oberkieferfortsatz des ersten Kiemenbogens. Rg) Riechgrübchen. Sp) Erste Kiemenspalte. Sz) Schwanzanlage. Uk) Unterkieferfortsatz. 24 1. Das Ehe- und Familienleben. der Vögel. und Anordnung wegen werden sie mit den Kiemenspalten mancher Fische verglichen und demgemäss auch bezeichnet. Nach der Bildung jeder Spalte erhebt sich ihr nach dem Kopfe zu gelegener Rand zu einer diekeren Leiste und ebenso der untere Rand der vierten Kiemen- spalte; soentstehen fünf Verdickungen, welche Kiemenbögen (Fig. 6) heissen. Merkwürdig sind die Umänderungen, welche im Laufe der Entwicklung mit Spalten und Bögen statt- finden: der erste, grösste Kiemenbogen jeder Seite bildet an seinem oberen, dem Kopfe zu gelegenen Rande einen Fortsatz, von denen jeder dem aufder anderen Seite liegenden ent- gegenstrebt; doch verbinden sich beide Fort- sätze nicht direkt, sondern erst durch ein vom Vorderende des Kopfeszwischen siewachsendes Stück, das mit Rücksicht auf die Theile, die sich aus ihm entwickeln, Stirn-Nasenfort- satz heisst, während der Fortsatz des ersten Kiemenbogens als Bildungsmaterial für den Oberkiefer demgemäss Oberkieferfortsatz (Fig. 6 Ok.) genannt wird. Der ursprüng- liche erste Kiemenbogen entwickelt sich zum Unterkiefer (Fig. 6 Uk.). Das zweite und dritte Bogenpaar liefern verschiedene Theile des Zungenbeins und des Gehör- knöchelchens, während die beiden letzten Paare, die von Anfang an klein sind, wieder verschwinden. Dasselbe findet auch mit den drei letzten Kiemenspalten statt, sie schliessen sich wieder, nur die erste bleibt jederseits bestehen und geht m die äussere Ge- höröffnung so wie den Gehörgang über. Die erste Anlage des Gehör- organes tritt jederseits auf der Rückenfläche des Halses in Form eines vom äusseren Keim- A blatt gelieferten Grübchens auf, der sich in der Rückenansicht, 20 mal ver- später zu einem unter der Haut liegenden grössert. (Aus llis p. 3) Sn Al 0 ann a) Herz. b) und Ex) Extremitätenan- Säckchen . (Fig. { Gh) abschnuns > lage. Rg) Riechgrüchen. Sp) Kiemen- demselben tritt dann der aus dem Hinterhirn spalten. hervorsprossende Gehörnerv, beide Ge- bilde liefern unter Betheiligung des mittleren Keimblattes das Labyrinth des Ohres mit seinen anfangs knorpeligen, später knöchernen, inneren Umhüllungen. 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 25 Schwierig sind die Veränderungen zuerforschen, welche mit der. Ent- wicklung des Geruchsorganes einhergehen; dasselbe entsteht in seiner ersten Anlage am Ende des dritten Bruttages als ein Paar, vorn und unten am Kopf gelegener Grübchen, die Riechgruben (Fig. 6 u. 7 Rg.), welche sich später mit der Mundhöhle vereinigen. Letztere Vereinigung ist zum grossen Theil vorübergehend, mdem nämlich die Mundhöhle m zwei Ab- schnitte zerfällt: der obere wird zum respiratorischen Theil der Nasenhöhle, während die ursprünglichen Riechgruben unter Betheiligung des aus dem Vorderhirn stammenden Geruchsnervenpaares zum riechenden Abschnitt der Nasenhöhle sich entwickeln. Im Laufe der ersten 3—4 Tage legen sich die meisten Organe an, Aufgabe der weiteren Entwicklung ist es dann, diese Anlagen weiter aus- zubilden; auf diesen Theil der Entwicklungsgeschichte der Vögel können wir jedoch hier nicht eingehen; die Verhältnisse sind sehr komplicirt, er- fordern viele Vorkenntnisse und sind schliesslich auch unter den Sachver- ständigen noch durchaus nicht in allen Phasen erschöpft; das Gegebene, so unvollständig und lückenhaft es ist, möge genügen. Für diejenigen, welche weitere Details zu erfahren wünschen, sei unten*) auf einige der hauptsäch- lichsten Werke hingewiesen.“ Wir schreiten nun auf Grund eisner Beobachtung zur Schilderung der den jungen Nestvögeln von den Eltern zu Theil werdenden Pflege und ihres W achs- thums vor. Das Ausschlüpfen der schon unter der Eischale athmenden Vögel bewirkt nicht blos bei den brütenden Weibchen, sondern auch öfters beim Männ- chen Erregung. In vielen Fällen gibt ersteres letzterem die überstandene Kata- strophe alsbald zu verstehen, und neugierig lust das Männchen ins Nest hinein — mit welchen Empfindungen? Wir können’s nicht sagen, jedenfalls aber ge- schieht es in harmonirendem Einverständniss mit der Gattin. Die zer- brochenen Eierschalen werden mittels des Schnabels fortgetragen, von ge- *) K. E. v. Baer: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Königsberg 1828—1837 2 Thle. Erdl: Entwicklung der Leibesform des Hühnchens. Leipzig 1845. Remak: Untersuchungen über die Entwickelung der Wirbelthiere. Berlin 1850— 1859. W. His: Untersuchungen über die erste Anlage des Wirbelthierleibes. Leipzig 1864. W. His: Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Entstehung. Leipzig 1874. (‚an naturwissenschaftlich gebildete Leser gerichtet“). A.Kölliker: Entwicklungsgeschichte der Menschen und der höheren Thiere. 2. Aufl. Leipzig 1829. Diese werthvollen Arbeiten beschäftigen sich vorzugsweise mit der Entwickelung des Hühnchens; auf die Entwickelung anderer Vögel nimmt folgende Publikation Rücksicht: M. Braun: Die Entwickelung des Wellenpapagei’s (Melopsittacus undulatus Sh.) unter Berücksichtigung der Entwicklung anderer Vögel. Theill. Würz- burg 1881. Mit 7 lithograph. Tafeln. 26 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. wissen Arten, wie den Hühnern z. B., sogar verzehrt. Die Kleinen sind der Erwärmung ausserordentlich bedürftig, namentlich die, welche völlig nackt zur Welt kommen. Die jetzt zum höchsten Grade gesteigerte Brutwärme der Mutter begegnet diesem Bedürfniss in entsprechender Weise. Das Nest wird von ihr gar nicht oder höchst selten nur einmal auf kurze Zeit und zwar bei warmer, stiller Witterung verlassen. Lässt sie sich auf die Jungen beim Einsteigen ins Nest nieder, so geschieht es noch mit sorgfältigerer Schonung, als zur Brütezeit in Berücksichtigung der Eier, mdem sie sich mit den Zehen an der inneren Nestwand anklammert und so allmälich nieder- gleitet. Die Lage der Jungen wird von dem Muttervogel zuweilen mit vor- sichtigem Gebrauch des Schnabels geordnet, namentlich dann, wenn das eine oder andere derselben durch die Geschwister gedrückt wird und das Köpfchen nicht unter der beschwerenden Last hervorzuziehen vermag. Vom siebenten Tage an entfernt sich der Pflegevogel öfter vom Neste, und täglich wächst nun das Bedürfniss nach reichlicherer Nahrung. Männchen und Weibchen decken bei vielen Familien und Arten abwechselnd die Jungen. An sehr warmen Tagen unterbleibt die Bedeckung oft lange, während der Nacht wird sie aber nicht unterbrochen. Die Sonnenwärme veranlasst die Jungen, ihre Hälse über den Nestrand auszustrecken und mit geöffneten Schnäbeln sich hin zu legen und schnell zu athmen. Zu solchen Stunden bringen die aus dem Kropfe fütternden Alten durch Aufnahme von Wasser mehr angefeuchtetes Futter ihren Jungen. Mehr herangewachsen, können die Kleinen es recht gut vertragen, dass die Eltern ihre Füsse auf sie setzen, weil dies so sanft wie möglich geschieht. Zum Zweck der Ent- leerung heben sie unter Rückwärtsbewegung die Bürzel, indem sie, sich an die Neststoffe der Innenwand anklammernd, mit der Kloakenmündung mög- lichst bis zum Rande in schlängelnder Bewegung empordringen. Der Rück- zug in die Mulde erfolgt unmittelbar nach Abgang der Excremente sehr schnell. Zur Fortbewegung stützen sie sich anfänglich auf die Fersen und breiten die nackten Flügel dabei aus, erst später vermögen sie auf den Zehen zu stehen und fortzukommen. Die Augen der „Nesthocker“ öffnen sich nach fünf bis sechs Tagen vom Ausschlüpfen an gerechnet. Bis dahin betheiligt sich das Männchen am Fütterungsgeschäft weniger, als späterhin. Die Vögelchen vermögen schon kräftig ihre Hälse und Köpfe emporzuschnellen, und durch weites Sperren unter zitternden Bewegungen die Futtergaben zu empfangen. Die Muskeln des Halses — dieses wegen der Unbeweglichkeit des Auges so ausserordentlich gelenken Körpertheiles der Vögel — sind schon frühe unverhältnissmässig vor andern Gliedmassen entwickelt. Gleich frühe Ent- wicklung zeigen die zur Entleerung sich in Bewegung setzenden Muskeln. Die jungen Raubvögel, Raben, Reiher, Störche u. s. w. spritzen ihren kalk- artigen Abgang weit über das Nest hinaus, beschmutzen jedoch auch den Nestrand und die unmittelbare Umgebung des Nestes. Gewöhnlich folgt die 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. a7 Entleerung unmittelbar nach der Fütterung. Die Höhlenbrüter tragen die zähen Kothbrocken ihrer Jungen mit dem Schnabel aus der Höhle und lassen sie eine geraume Strecke vom Nistplatze niederfallen. Manche Höhlenbrüter thun dies jedoch nicht, und in Folge dessen häuft sich der Koth im Nest- innern so sehr an, dass ein pestartiger Geruch entsteht. Das Forttragen der Kothbrocken durch die fürsorglichen Eltern wird durch den gallert- artigen Überzug, welcher die Ballen umgibt, auch dann noch ermöglicht, wenn während der Abwesenheit der Eltern die Entleerung erfolgt ist. Die alten Vögel warten aber in der Regel nach der Fütterung durch längeres Verweilen in der Höhle auf die Entleerung der Jungen und packen gewöhn- lich die Brocken schon, noch ehe sie vollständig zu Tage getreten sind oder unmittelbar nach dem Austritt. Ganz anders zeigt sich gegenüber den mühsamen Hülfeleistungen seitens der Eltern der Nesthocker der geringere Beistand der Alten der jungen Nestflüchter. Die Jungen kommen mit offenen Augen, zur Flucht ausge- bildeten Füssen und mit der Befähigung, selbst Nahrung aufzunehmen, aus den Eiern. Gleichwohl sind sie der Erwärmung sehr bedürftig. Ihr Kleid ist ein wolliger Flaum, der erst spät der wirklichen Befiederung Platz macht, ein Dunenkleid. Bei den Raubvögeln tritt ebenfalls die Erscheinung des Dunengewandes im zartesten Alter auf, der Wechsel mit dem Federkleide tritt aber viel früher, als bei den Nestflüchtern ein; er vollzieht sich der durchgehenden Regel der Nesthocker getreu im Neste. In einem Zeitraum von drei oder vier Wochen geht die Entwicklung der Federn bei den Nesthockern von Statten. Zuletzt wachsen die Schwanz- federn aus, und zwar besonders lebhaft nach dem Ausflug aus dem Neste. Erst bilden sich Kiele, die in weichem Zustande hervorstossen, und nun kommen die Kolbenfähnchen zum Vorschein, worauf die Verbreiterung und Ausbildung des deckenden Federtheils und das Erhärten des Federkiels allmählich erfolgt. Gewöhnlich erscheinen die Federn reihen- oder zeilenweis in Feldern auf den Flügelarmen und dem Mantel (Rücken), sowie an den Seiten der Brust und an den Weichen herab zuerst, während die Mitte des Bauchs sich erst später mehr oder weniger befiedert. Auf dem Kopfe stehen die sogenannten Mausfedern — die primitive Bekleidung der kahlen Nest- hocker — noch bei den flüggen Jungen hervor. Nach und nach wird den Vögelchen ihre Wohnung zu eng und lästig. Die Lust zum Fliegen gibt sich schon im Schnurren mit den Flügeln kund und dem Wagniss, den Nestrand und die unmittelbar daranstossenden Zweige zu besteigen. Der Abend führt aber die Geschwister wieder ins Nestinnere zusammen. Die älteren kräftiger entwickelten Jungen der Höhlenbrüter drängen sich aus der Tiefe der Höhle zum Höhlenrande und betrachten sich von da aus die Welt und harren der futterbringenden Eltern, um gierig die Gabe entgegenzunehmen. Aber die sorgsamen Alten drängen sich an ihnen vorbei in das Innere, um die zurück- 28 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. gebliebenen jüngeren Kinder mit Nahrung zu versehen. Es passirt mitunter in denjenigen Nestern, die mit Pferdehaaren ausgelegt sind, dass ein Vögelchen sich mit den Füssen, sogar auch mit den Flügeln in dieselben verwickelt und in Folge davon sorbı Wir fanden in einem Goldhähnchenneste zwei halbflügge Junge, von Pferdehaaren an Füssen und Flügeln und am Halse umschlungen. Die lebenden Geschwister sassen über den in die Tiefe ge- drückten, bereits übelriechenden Leichen gesund und munter. Die Kleinen waren in die Pferdehaare so sehr verwickelt, dass wir nur mit Mühe die Lösung vornehmen konnten. Die Nestvögel verstehen alle schon die Töne ihrer Eltern, insbesondere die Warntöne, welche letztere ein sofortiges Schweigen und Niederducken in das Nest bewirken. Steigert sich das Klage- und Warngeschrei der Eltern zu besonders hohem Grade, so werden nicht blos gleichartige, sondern auch anderartige Vögel der Nachbarschaft zur Theilnahme geweckt und zum Schauplatz der Gefahr angezogen. Es werden demnach nicht blos die Signaltöne der Vögel in der Umgebung verstanden, sondern auch die Klage- töne wenigstens von einem Theile der verschiedenen Vögel. Am frühesten wagen sich von unseren Singvögeln die Grasmückenarten aus dem Neste. Der geringste Anstoss, selbst — wie wir bei jungen Gartengrasmücken be- obachteten — ein lange auf ihnen verweilender Blick des Menschen lässt sie dem Neste enteilen und auf dem Boden sich verkriechen. Es kommt vor, dass in den Nestern oder Höhlungen der Höhlenbrüter, sowie in zugewölbten Nestern gewisser Insectenfresser die Jungen sich nicht zum Austliegen ent- lien wollen. Da wenden die Eltern, um ihren Willen dur chrnsdtacn, einestheils das Mittel des Futtervorenthaltens, anderntheils sogar Zwangs- verfahren durch Herauszerren und Herausdrängen der Verzasten oder Eigen- sinnigen an. Die Sperlinge kommen mit Futter herbei, reizen die Gier der mit den Köpfen aus der Spalte oder dem Loch hetvorlugenden tlüggen Jungen, fliegen dann zögernd unter gezogenem Lockton hinweg und nöthigen so ie Hungen zur Nachfolge. Die Zaun sowie auch einmal Sperlinge, haben wir die erwähnten Zwangsmittel in Anwendung bringen sehen. Der Ausflug der Nestvögel geschieht, wenn kein äusserer Gewalt: anstoss es anders bewirkt, unter dem Vorangehen der am kräftigsten ent- wickelten und der späteren Nachfolge der uch nicht zum Fortkommen im Freien befähisten. Es bleiben immer schwächere Vögelchen im Neste zurück, während die rüstigen schon mehrere Tage sich dem Freien anvertraut haben, namentlich unterscheidet sich eines der ieiee durch langsamere Kraft- und Befähigungsentwicklung. Mit der Ausbildung der Jungen steigt auch die aan] lichen und Sorge der Eltern. Während das alte Männchen den mean Vögelchen jedenfalls geringere, zuweilen fast gar keine Theil- nahme zuwendet, wird es den fliige ge gewordenen Kleinen ein ängstlich be- sorgter, mit der Gattin in der Bilese wetteifernder Vater. Ja, es sind uns 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 29 Fälle bekannt, dass das Männchen entschieden grössere Anghänglichkeit an die ausgeflogenen Jungen zeigte, als das Weibchen. Es entdeckt sich also hier eine individuelle seelische Neigung bei ein und derselben Art, welche wesentliche Ausnahmen von der allgemeinen Regel vor Augen führt. Die Jungen mancher Arten kehren nach dem Ausflug noch kürzere oder längere Zeit zur Höhle oder dem Neste allabendlich zurück, um darin zu übernachten, wie dies bei den Schwalben und Meisen beispielsweise der Fall ist. Alte und junge Mehlschwalben drängen sich im Neste Nachts oft so zusammen, dass sich der unbequem sitzenden Gesellschaft grosse Unruhe bemächtist, die sich in fortwährendem Gezirp verräth und Ursache von drängenden Be- wegungen ist, welche das Nest oft mit einemmale sprengen. Ausgeprägter Egoismus zeigt sich schon bei den Nestvögeln in dem Bestreben eines jeden, zum eigenen Vortheil und unbekümmert um das Bedürfniss der Geschwister sich die Lage zu bereiten, sowie in dem futtergierigen Vorandrängen zu den gabenspendenden Eltern. Dies tritt beim Flüggewerden immer stärker hervor, so dass die alten Vögel oft grosse Mühe haben, dem Bedürfniss aller Kinder, zumal wenn diese zahlreich sind, zu genügen. Besonders mühsam aber wird die Versorgung, wenn die Jungen ausgeflogen sind und mancherlei Gefahren ihnen drohen. Die Schärfe des Orts-Gedächtnisses und die feinen Sinne kommen übrigens dann den besorgten Eltern sehr zu Statten. Sie folgen dem Gehör, welches das leiseste Flüstern der oft in Gestrüpp und Gras und in bergenden Schlupfwinkeln sitzenden Kleinen vernimmt und unter Beihülfe des sicher erkennenden Auges zum Gegenstand der Sorge und Verpflegung führt. Emsig thätig im Ernährungsberuf und gleich sehr wachsam in der Ausübung des Schutzes vor den zahlreichen Feinden, be- finden sich die Eltern in anhaltender Erregung, die sich bei nahender Gefahr für die Kleinen zur wahren Verzweiflung steigert und in Geschrei und toben- dem Flattern kundgibt. Wir haben Zaunkönigpaare gesehen, denen in Folge der Jungenpflege eine Menge Federn ausgefallen waren und die offen- bar die deutlichsten Zeichen eigner Entbehrung und Aufopferung an sich trugen. Die Liebe der Eltern zu ihren Jungen ragt weit über ihre Anhäng- lichkeit an Nest und Eier empor, namentlich zeichnet sich diese Liebe auch wesentlich stärker bei der ersten, als bei der zweiten und dritten Brut aus. Sind die Jungen rüstiger geworden, so beginnt die Führung der Eltern in die weitern Umkreise. Die Zöglinge werden mit den Ortlichkeiten, insbe- sondere auch mit den Nahrungsquellen nach und nach vertraut gemacht. Die Staarenfamilien der ersten Brut einer Gegend sammeln sich zu Schaaren und ziehen mit einander umher in wirrem Durcheinander und ohrbetäuben- dem Geschrei; dennoch werden die Eltern mit sicherem Scharfsinn unter allen Umständen ihre eigenen Jungen erkennen und nur sie versorgen, wie auch die Jungen ihre Eltern mit andern nicht verwechseln. Die Stieglitze führen ihre durch die Lüfte auf Bäume, an Nahrungsplätze zur Tränke folgenden 30 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Jungen und werden zirpend und futterneidisch drängend und flügelschlagend von ihnen umringt. Gleiche Erscheinungen nehmen wir" bei Hänflingen wahr. In Colonien nistende Vögel, wie Saatkrähen, verwechseln eben so wenig zur Zeit der Zusammenschaarung der ausgeflogenen Bruten ihre eigenen Jungen, als sie es im Walde zur Zeit thaten, wo die Jugend sich nachbarlich ver- tragend auf den die dicht zusammenstehenden Nester umgebenden Zweigen und Asten im Durcheinander Platz nahm. So werden die Jungen dieser Familien kürzer, jener länger geführt, bis sie selbstständig werden. Die beiden Bruten der Teichhühnchen (Nestflüchter) vereinigen sich sogar unter Leitung der Eltern, und die selbstständig gewordenen Jungen der ersten Brut leisten in der Pflege der Nachgeschwister den Alten Hülfe. Bei den Eltern er- kaltet übrigens naturgemäss die Liebe mit dem Selbstständigwerden der Jungen. Diese werden sogar vielfach feindselig behandelt und sozusagen weggebissen Es sind hinsichtlich der Anleitung den alten Vögeln gewisse plan- mässige Absichten, förmliche Abrichtungen und belehrender Unterricht zuge- traut worden, zu welcher Unterstellung wir uns auf Grund unserer Wahr- nehmungen keineswegs entschliessen können. Man gibt sich beim Anblick solcher Auftritte im Familienleben der Vögel, die durch den Anschein Anlass zu derartiger Auffassung bieten, wirklichen Täuschungen hin und erspart sich die Mühe, der Sache tiefer auf den Grund zu kommen. Wenn wir die alten Spatzen mit beutebeladenem Schnabel unter langgezogenem Lockton zögernd von der Nähe der Nisthöhle dahin fliegen sehen, so erkennen wir darin allerdings eine absichtliche That, welcher unzweifelhaft die Erkenntniss zu Grunde liest: unsere Kleinen sind flügge genug, um im Freien fortkommen zu können, wir fühlen uns belästigt, die den Raum versperrenden grösseren Kinder zur Seite schieben zu müssen, damit wir den zurückgedrängten Kleinen in der Tiefe der Wohnung unsere Fürsorge zu Theil werden lassen können. Die Alteren müssen wohl oder übel heraus. So lautet der Gedankengang nach klarer menschlicher Weise, der in der Vogelseele wohl nur unbestimmte Gestalt gewinnt, jedenfalls aber genügend zum Bewusstsein kommt, um Ver- mittler zu sein zwischen Bedürfniss und zweckentsprechender Ausführung. Aber die That ist kein Mittel des Unterrichtens, sondern nur Anstoss, An- leitung. Die Alten wollen den Jungen doch nicht zeigen, wie sie ihre Flügel gebrauchen und in der Luft sich fortbewegen sollen! Unterricht ertheilen auch die Schwalben ihren nachjagenden Jungen im Fluge nicht, weder die unter lautem „Sri“ dahinsausenden Segler, noch auch die Mehlschwalben im September, wenn sie, Alt und Jung auf Dächern und Thürmen versammelt hinausstürmen wie auf Commando und in Auflösung wieder zurückkehren. Jene Unternehmungen, nämlich die der Segler, sind Jubelspiele, sprechende und anschauliche Freudenflüge, wie wir sie bei unserer fröhlichen Jugend im Laufen durch Strassen und über freie Plätze hin sehen, wo freilich nicht die minder eilfertigen Eltern, wohl aber ältere voranstürmende Buben die An- 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 31 leitung übernehmen; diese Veranstaltungen, nämlich die Herbstmorgenflüge der Mehlschwalben, sind gewissermassen Probeflüge, jedoch keine wirklichen Übungsversuche zur Heranbildung der Fertigkeit für den Zug in die Fremde. Der Antrieb liegt in der beginnenden Wanderlust, in dem drängenden Vor- gefühl der grossen That, welches Ausdruck sucht im Anschluss an die Reise- genossenschaft und in gemeinschaftlichen Flugunternehmungen. Es ist sicherlich noch nie einem Falkenpaar eingefallen, den Jungen Unterricht im Raubfang oder in der Zerlegung der Beute zu ertheilen. Das Unvermögen der Jungen fesselt diese an jene und jene an diese so lange, bis die der Natur- anweisung entsprechende Periode der Elternliebe erkaltet und das Bewusst- sein des selbstständigen Fortkommens die Nachkommenschaft der Unter- stützung entzieht.. Mögen die Thurmfalken mit ihren Jungen also in der Luft verfahren, dass sie die Beute fallen lassen, um sie ihren Schützlingen preiszugeben: es geschieht dies nicht in der Absicht, den Kindern Unterricht zu ertheilen, sondern aus Vorsorgungsdrang, welcher die Thätigkeit der Eltern auffordert, um zugleich in der genauen Kenntniss von dem Vermögen der Jungen die fallengelassene Beute erhaschen zu können, gleichzeitig aber auch von deren Unzulänglichkeit, sich selbstständig ausreichende Nahrung zu verschaffen. Der Eingriff der Eltern bei Fehlstössen der Jungen ist einzig und allein auf den Besitz der Beute gerichtet, erscheint aber nicht etwa als eine Correetur der gemachten Fehler oder eine vorbildliche Anweisung, wie verfahren werden muss. Die Vögel sind keine Pedanten, in ihrem Thun und Treiben waltet überall der schöne Zug der Ummittelbarkeit, und gerade in ihrer Eigenschaft als echte Naturkinder treffen sie überraschend und bewun- dernswerth das Richtige. Immerhn mag dem jungen Raubvogel im Beispiel des Zerlegens der Beute von seiten des alten Weibcehens ein Muster gegeben sein, die Absicht des Unterrichtens liegt dennoch ferne: nur die dem Bedürfniss der Unbehülflichkeit des Unmündigen entgegen- kommende unentbehrliche That spricht klar aus dieser Erscheinung. Der junge Vogel braucht gar nicht dieses Vorbild zu sehen, erwachsen verfährt er gleicherweise wie die Pflegemutter. Früh aus dem Neste genommene, von Menschenhand aufgefütterte Raubvögel machen alles später genau so, wie die in der Freiheit gezogenen. Die Anleitung trägt überall nur den Charakter der Hilfeleistung, welche die Erfahrenheit zur Befriedigung des eigenen Be- dürfnisses wie desjenigen der Plleglinge übernimmt, und die damit verbundenen Unternehmungen und Ausführungen kommen ohne Beigabe von elterlicher unterrichtender Absicht der Jugend zu Statten. Die Ordnungen im Vereins- leben der Vögel, das Wachestellen, das Anführen der wandernden Zugschaar geschieht ja auch nur aus der zum Bewusstsein gekommenen Bedürfnissfor- derung der Gesellschaft, keineswegs aber aus der Absicht dem jüngeren Ge- schlecht hierin vorbildlichen Unterricht zu ertheilen, obgleich dieses im Wandel genau also verfährt, wie das vorhergehende Geschlecht. 32 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Unstreitig geringer ist die Elternsorge bei den Nestflüchtern, als bei den Nesthockern, keineswegs aber die Elternliebe. Nachdem das Dunenkleid nach dem Auskriechen der Jungen aus dem Ei abgetrocknet ist, führt die Mutter sie aus. Sind es Schwimmvögel, so geht die Führung zum Gewässer, sind es landlebende Arten, so hält sich die Familie an die Flur, das Feld oder den Wald an bestimmten Plätzen oder zum Umherstreifen. Hier betheiligt sich das Männchen an der Führung wenig oder nicht, dort wesentlich. Die in verlassenen Nestern der Raubvögel und Krähen nicht selten aufhohen Bäumen nistenden Stockenten tragen ihre Kleinen im Schnabel herunter zum Sumpf und Gewässer, ebenso tragen die Schnepfen ihre Kleinen im Schnabel zur Morgen- und Abendstrichzeit zu erkorenen Stellen oder entfernen sie auf solche Weise bei Gefahren. Wenn auch die jungen Nestflüchter alsbald nach dem Auskriechen rüstig laufen oder schwimmen können, so bedürfen sie doch ihrer sonstigen Unselbstständigkeit wegen und im Verhältniss zu den Nest- hockern lange Zeit der Führung. Namentlich ist es die Wärme der Mutter, deren sie nicht entbehren können und das Blosslegen der Nahrung durch das Scharren der Eltern auf dem Boden oder das Vorlesen derselben im Be- reiche der Sümpfe und Gewässer. Grosse Besorgniss vor drohenden Ge- fahren und sofortige Bereitwilligkeit, zu schützen und zu behüten, beweisen die Eltern den Jungen gegenüber wie unter den Scharr- und Stelzvögeln, so unter den Schwimmvögeln. Welcher vertraute Beobachter der Vögel kennt nicht die Massregeln des alten Rebhuhnpaars zur Bergung und Entführung der Küchlein aus drohender Gefahr? Wer hörte nicht die Wildenten gleich der zahmen Ente durch wohlverstandene Töne die Küchlein herbeirufen unter ihre Flügel, um ihnen Schutz zu bieten? Die Steissfüsse nehmen ihre Jungen unter die Flügel und tauchen mit ihnen in die Tiefe hinab, um sie der Gefahr zu entziehen. Beobachten wir die Grasmücken, so müssen wir staunen über die Art und Weise, wie die Eltern ihre Kinder vor dem Feinde zu retten wissen. Sie thun, als wären sie flügellahm und Hattern demgemäss scheinbar matt an dem Boden hin, hinken auf einem Beine eine Strecke fort, stossen Angst- geschrei aus und lenken damit den auf sie aufmerksam und nach ihrem kaube lüstern gewordenen Feind möglichst weit vom Neste ab; dann kehren sie auf Umwegen selbst wieder zu den geretteten Kleinodien ihrer Liebe und Sorge zurück. Eines Umstandes müssen :wir noch in Bezug auf die Ver- sorgung der jungen Nestvögel gedenken. Wir haben nämlich einzelne Beobachtungen gemacht, dass die Eltern durch benachbarte Weibchen ihrer Art im Fütterungsgeschäft unterstützt werden. Im Krofdorfer Domainial- revier versorgten zwei Schwanzmeisenweibchen in Gemeinschaft mit dem Männchen die Jungen; in jungem Hegwalde bei Staden, unserer Familien- heimath, fütterte eine benachbarte weibliche graue Grasmücke gemeinschaft- lich mit dem Elternpaar die Nestvögelchen. Solche Ausnahmen finden statt, 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 33 und als solcher gedenken wir hier auch noch des merkwürdigen Ereignisses, dass ein Stieglitzhahn in dem zur Oberförsterwohnung gehörenden Garten in Krofdorf zwei Weibchen hatte, von denen das eine auf hohem Birnbaume, das andere auf dem Zweige eines rothblühenden Weissdorns Junge aus- brütete. Ebenso interessant ist die bei Alsfeld von uns beobachtete That- sache, dass eine auf eben erst vollendetem Gelege brütende graue Grasmücke, deren Männchen weggefangen wurde, sich tags darauf dem Männchen eines Nachbarpaares sehr auffallend hingab und demselben bei seinem Erscheinen in der Nähe, mehrmals von dem Neste ihm entgegenfliegend, seine Williskeit zur Vereinigung zu verstehen gab. Wir sind am Gesellschaftsverbande der Vogelfamilien an- gelangt, der bei hierzu geneigten Vögeln nach vollendetem Brüten erfolgt. Unter den Nesthockerarten sehen wir hier Schaaren mit einer Menge benach- barter Brut-Familien bilden, dort nur kleinere Gesellschaften oder blos Familien, hier verschiedene Arten zu grösseren Flügen sich vereinigen. Ein Blick auf viele Rabenvögel, auf Grasmücken, Drosseln, Amseln, Meisen, Finken und Schwalben genügt zur Bestätigung dieser Thatsache. Theils führt viele Familien und Arten der Beerenreichthum des Herbstes, theils ruft der Zustrieb oder das Gewahren der Vorboten der rauheren Jahreszeit auf Grund vererbter Gewohnheiten die befiederten Wesen zusammen. Nach überstandener Mauserzeit, welche den Vogel still, zur Abgeschiedenheit geneigt macht und in Folge des Säfteverbrauchs zur Neubildung des Gefieders vielfach entkräftet, tritt das Bedürfniss reichlicherer Ernährung ein. Schöne Herbsttage regen zu Gesang, Neckereien und Raufereien an. Es kehrt noch einmal ein Nachhall des schönen Vorsommerlebens wieder, aber der rauhe Hauch der ungünstigen Witterung verweht den leise erhobenen Anklang und erinnert an die Wirklichkeit, welche herbe der Welt verkündet: der schöne Traum des Familienlebens ist aus. Wahrlich die Betrachtung des Familien- lebens der Vögel gibt uns vielfältigen Anlass zur Mithülfe am Schutz der liebenswürdigen Geschöpfe! Namentlich sind es unsere deutschen Singvögel, welche durch ihre Anmuth sowohl, wie durch ihren Gesangsreichthum unsere Theilnahme erwecken. Drohen doch unseren Lieblingen tausend Gefahren und sind doch der Ursachen gar viele, welche das Familienleben derselben stören und ihre Abnahme fühlbar machen. Ein übersichtlicher Blick auf die unseren Sängern in ihrem Familienleben sich entgegenstellenden Feind- seligkeiten möge darum den Schluss unserer Betrachtungen bilden. Es würde uns zu weit führen’und unserer Tendenz weniger entsprechend erscheinen, wollten wir auf Umstände und Eimrichtungen eingehende Rüek- sicht nehmen, welche höheren Zwecken und Verkehrsforderungen der Men- schen dienen, oder die mannigfaltigen Zufälligkeiten hervorheben, die hem- mend oder zerstörend in das Familienleben der Vögel eingreifen. Aber einer hervorragenden, stets sich wiederholt bestätigenden Thatsache müssen A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 3 34 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. wir vorübergehend mit nachdrucksvoller Würdigung ihres wesentlichen An- theils an der Vernichtung vieler Zug- und Strichvögel gedenken. Es werden nämlich zur Zugzeit im Herbst und Frühjahre m dem weitreichenden Ge- biete der nach allen Richtungen hin verzweigten Telegraphendrähte unzählige nach der Fremde oder zur Heimath ziehende Vögel dadurch getödtet, dass diese zur Nachtzeit gegen jene anstossen. Oft auch fallen die Verletzten, elend dahin siechend oder ein Raub der Feinde werdend, zu Boden; im günstigsten Falle vermögen sie ihre Reise mehr oder weniger mühsam fort- zusetzen oder auch an Ort und Stelle fortzukommen. Die Telegraphendrähte befinden sich in der Höhe, welche unsere meisten kleineren Zugvögel einzu- halten pflegen. Die Ursachen der Verminderung unserer Singvögel sind theilweise allge- gemein, theilweise nur dem Eingeweihten bekannt, keineswegs aber gebührend gewürdigt, und die gesetzgebende Gewalt hat bis jetzt zur Begegnung ent- weder nur verkehrte oder nicht ausreichende Mittel ergriffen. Verschwin- dend ist der Nachtheil, welchen die Vogelliebhaber durch den Betrieb des Fangs dem Oontingent der Vögel zufügen. Empfindlich wird er nur da, wo die Fänger auf Erwerb ausgehen, wo der Vogelfang handwerksmässig be- trieben, wo die edlen Thierchen hundert- und tausendweise hingeschlachtet werden, um die Gaumen der Feinschmecker zu befriedigen. Darum nieder mit den Meisenhütten, fort mit den Lerchengarnen, Zerstörung den Vogel- herden und Vogelschneisen, Verbot den Vogelmärkten! Empfindlich für einzelne Gegenden kann aber auch der Unfug werden, welchen die Jugend an den Nestern der Vögel begeht. Es ist gewiss nur zu loben, wenn der Kinder Sinn frühzeitig auf die Natur hingelenkt wird, aber das Eiersammeln führt zu unberechenbaren Ausschreitungen. Die Zer- störungssucht tritt auf und steckt die Umgebung an, und vieler Vögel Familienglück wird geopfert. Auch bildet sich durch Eiersammeln leicht eine Neigung zu Subtilitäten- und Raritätenkram, zur einseitigen Stubenge- lehrsamkeit aus, die vor lauter Eiern den Vogel nicht sieht. Nur der Um- gang mit der frischen Natur, die lebendige Betrachtung des Vogelnestes mit seinem- Inhalte fördert eine ebenso sachkundige als ungefährliche Kenntniss. Ein anderer Feind tritt in der häufige Veränderung bewirkenden Kultur der Wälder und der Entblössung der Gärten von Gebüsch und Heckenwachsthum auf. Es gibt eigensinnige, wählerische Singvögel, welche nicht nur ihren Tisch am Wohnorte reichlich gedeckt haben wollen, son- dern auch Schutz durch dichten Unterwuchs und das Vorhandensein beliebter Holzarten verlangen. Tief eingreifend sind die Einflüsse der Witterung in das Familienleben der Vögel. Kaum sind die ersten Frühlingsregungen im der Natur bemerk- bar geworden, da erwacht schon der Fortpflanzungstrieb einiger unserer Sängerarten. Die Schwarzamseln und Singdrosseln wählen sich die geeigne- —_ 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. 35 ten Niststellen aus, und welcher aufmerksame Waidmann hätte nicht schon auf der Schnepfensuche im März und zu Anfang des April brütende Amseln und Drosseln entdeckt? Da erfolgt plötzlich ein empfindlicher Rückschlag, der uns gleichsam wieder in den Winter zurückwirft und die Landschaft in eine dicke Schneedecke hüllt, welche von dem eisigen Nord widerstandsfähig erhalten wird gegen die Wirkungen der höher gestiegenen Sonne. Was bleibt da den brütenden Vögeln übrig, als schliesslich die mächtige Regung zur Fortpflanzung unter den noch mächtigeren Ernährungs- und Selbsterhaltungs- trieb zu beugen? Wohl wird, möchten wir sagen, das Aecusserste von den Paaren gewagt, um die Brut zu retten; aller Scharfsinn, alle zu Gebote stehenden Erinnerungen werden zur Geltung gebracht, um trotz der hem- menden und die Quellen der Nahrung verstopfenden Elemente treu in dem begonnenen Unternehmen ausharren zu können. Mit grosser Sorgfalt schützen die Weibchen ihre Eier durch die Brutwärme vor dem Zutritt der Kälte, indem sie sich tiefer und abschliessender in die Nestmulde niederdrücken, während die Männchen gleich pflichtgetreu der Nahrung nachgehen, um für sich und die Gefährtinnen den peinigenden und wärmeentziehenden Hunger zu stillen. In vielen Fällen beobachteten wir unter solchen Umständen‘ Schwarzamselpaare, die wahrhaft heldenmüthig sich durchkämpften und die Brut retteten. Es kommt dabei wesentlich darauf an, ob die Eier schon längere Zeit bebrütet sind oder das Brüten erst begonnen hat. In letzterem Fall bedürfen sie der gleichmässigen oder höheren Erwärmung nicht so sehr, als in ersterem. Auch entscheidet der härtere oder gelindere Frost vor dem Schneefall, da Amseln sowohl wie Drosseln den Boden mit dem Schnabel bearbeiten müssen, um zur Nahrung zu gelangen. Gar häufig haben wir übrigens unter der Ungunst solcher Frühjahrswitterung die Nester verlassen und den Lebenskeim der Eier ertödtet gefunden. Dieselbe Beobachtung machten wir öfters bei Edelfinken, die ziemlich häufig ihre vollständig aus- gebauten Nester beim Eintritt unwirthlicher Witterung ganz und gar ver- lassen, auch wenn sie noch keine Eier gelegt haben. Eine gefährliche Erscheinung für die Nester und deren Inhalt sind Ende März und Anfangs April nicht minder die schweren Hagelschläge, welche zuweilen den brüten- den Vogel verletzen oder ihn doch nöthigen, das Nest zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Entweder zerschlägt dann der Hagel die Eier, oder er häuft sich im Neste an und wirkt zerstörend durch die Kälte. In gleicher Weise nachtheilig ist der Gewitterhagel im Sommer, der durch seine Schwere Nest, Eier oder Junge zerschlägt. Heftige Stürme, die während der Fortpflanzungsperiode der Vögel sich erheben und, wenn auch nur, durch Ge- witter veranlasst, kurze Zeit toben, zerreissen oder werfen auf die Seite gar manches auf Baum oder Strauch stehende Vogelnest. Der Sturm weht die Zweige gegen einander, und diese zerdrücken oder lockern die Wohnung, so dass der Inhalt über Bord geschleudert wird oder durch die defekten + 36 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. Stellen hindurch fällt. Anhaltende Regenströme erweichen nach und nach die demselben ausgesetzten Nester, durchnässen den brütenden Vogel der- massen, dass er sich zur Bewegung und zur Einölung, sowie zum Ordnen des Gefieders veranlasst fühlt. Zuletzt ist das Paar genöthigt, das Brutge- schäft gänzlich aufzugeben. Bei solcher andauernden Nässe fanden wir nicht selten nackte Junge todt im Neste liegen, die offenbar der Einwirkung der Nässe erlagen, welche die Eltern abhielt, den Jungen den nöthigen. Schutz zu gewähren und sie vor Erstarrung und Lähmung der Glieder zu sichern. Halbflügge Junge werden unter tagelang währendem Landregen zum Verlassen des Nestes bewogen und sterben dann auf dem Boden, wenn sie nicht einen sichernden Schutzwinkel erreichen, dahin. Die frühere oder spätere Zeitigung der Eier wird vielfach von den Witterungseinflüssen bedingt. Unter der Herrschaft nasskalter Tage steht den Insektenfressern natürlich weit weniger Nahrung zu Gebote, und dem sich und dem brütenden Gefährten versorgenden Vogel gelingt es nicht immer, die nöthige Menge von Kerbthieren und deren Larven aufzufinden, welcher Umstand ein häufigeres Verlassen des Nestes von Seiten des brütenden - Weibehens und somit auch eine langsamere und der Zahl nach geringere Entwicklung der Embryonen zur Folge hat. Natürlich kann der Unter- schied sich nur auf einen, höchstens mehrere Tage erstrecken. Unläugbar erscheint auch die kräftigere oder schwächere Ausbildung der ausgeschlüpf- ten Jungen von der Fülle oder dem Mangel der Ernährung abhängig, die durch den Einfluss der Witterung begünstigt oder geschmälert wird. Die Erscheinung stärkerer und schwächerer Exemplare unter den Vögeln der- selben Art ist nicht allein zurückzuführen auf die ursprünglich schon in Grösse und Stärke sehr verschiedenen Insassen eines Nestes, sondern auch auf die durch Witterungseinflüsse bedingte Ernährung während der Zeit der Unmündigkeit. Manche an und in Ufern der Gewässer nistenden Vögel haben es der Gunst der Witterung zu verdanken, wenn ihre Bruten gedeihen. Wie oft aber macht der Eisvogel in seiner Bruthöhle, die Wasseramsel in ihrem Neste unter Wurzelausschlägen oder in Mauernischen der Mühlenbäche, die Ge- birgsstelze in ihrem Schlupfwinkel, der Rohrsänger in seinem oft nicht hoch über dem gewöhnlichen Wasserstande angebrachten Kunstbau die schlimmste Erfahrung. Anhaltende Regengüsse verursachen das Anschwellen des Wassers und das schliessliche Eindringen desselben in die Wohnungen der liebens- würdigen Flussbewohner. Man hat von einem Ahnungsvermögen der Rohr- und Schilfsänger gesprochen und geschrieben, welches die Tierchen be- stimme, in ie enigen Sommern, welche Fluthen und Hochwasser mit sich führen, ihre Nester in Bela er Höhe anzulegen, aber damit geradezu ein Dogma aufgestellt, welches genügender Begründung entbehrt, ja, durch die Dean widerlegt wird. oc jedesmal haben wir viele Jahre hindurch 1. Das Ehe- und Familienleben der Vögel. ar an schilf- und rohrbewachsenen Flüssen und Bächen nach zurückgetretenem Hochwasser im Vorsommer überschwemmte Nester der Rohr- und Schilf- sänger entdeckt. Die in Felder und Wiesen bauenden Lerchen und Schmätzer erfahren es häufig, dass Platzregen ihre Nester zerstört, vorzüglich an ab- schüssigen Stellen, wo sich in kurzer Zeit durch starken Zufluss Wasser- mengen anhäufen, die den Boden überfluthen. Tiefer noch, als Witterungseimflüsse, greifen die befiederten und unbefiederten Feinde unter den Thieren in das Familienheilisthum unserer Lieblinge ein. Hier ist's die sausende Wucht des Falken, Habichts und Sperbers, dem der eine oder andere Ehegatte zur Beute wird, und mit einem Schlage des Mörders werden zugleich Eier oder hilflose Nestlinge mit ihm vernichtet. In seltenen Fällen füttert der überlebende Gatte dennoch die Kleimen unter doppelter Anstrengung gross; wir haben sogar wahrgenommen, dass das Weibchen einer schwarzköpfigen Grasmücke, deren Männchen vor unseren Augen weg- gefangen wurde, die starkbebrüteten Eier völlig ausbrütete und die Jungen alle allein grossfütterte. Das war aber auch nur dadurch möglich, dass die Witterung still und heiss war und die Brütezeit nur noch wenige Tage währte. Während die edleren Raubvögel nicht als unmittelbare Nestplünderer gelten können, sondern nur in der erwähnten Weise mittelbar die Brut ver- nichten, erscheinen die Bussarde hier und da, ursprünglich wohl in Folge zu- fälliger Entdeckungen, auf Grund derselben weiterhin aber auch auf dem Wege der Auskundschaftung als Zerstörer der Bruten der Erdnister. Der- artige Plünderungen beobachteten wir mehrmals auf Wiesen, auf welchen durch die Schur Lerchennester blossgestellt worden waren. Die Würger- arten erlauern auf Büschen und Bäumen den Standpunkt der Nester der Sing- vögel, welche sie des Inhaltes berauben. Elster und Heher durchforschen auf ihren täglichen Streifereien im Bereiche ihres erwählten Aufenthaltsortes die Baumgruppen und jungen Hegen und ermitteln mit ebenso viel Scharf- sinn als List in der Benutzung des günstigen Augenblicks die Nester vieler Singvögel, von denen nur diejenigen Gnade vor ihnen finden, die leer stehen. Kolkrabe, Krähe, Dohle und Elster entdecken manches Nest, das sie plün- dern. Ihnen zur Seite steht der mordlustige Storch. Selbst unser nützlicher Staar zerreisst im Frühling die Nester unserer Edelfinken und anderer früh- nistender Vögel und trägt das geraubte Material seiner Höhle zu; seine Kühnheit geht sogar laut unserer Entdeckung so weit, dass er die nackten Vögelchen raubt, um seine eigenen Nestlinge damit zu füttern. Der Ein- griff des Kukuksweibchens in das Eheleben einer Reihe insektenfressender Vögel ist keineswegs unbedeutend. Es wird indessen der durch die Zer- störung der fremden Bruten zu Gunsten der untergeschobenen Leibesfrucht verursachte Schaden insofern ausgeglichen, als die Nützlichkeit der Kukuke als unersättlicher Raupenfresser zweifellos feststeht. 38 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Wer kennt nicht die entschiedene Neigung unserer Katzen, den Bruten der Singvögel auf die Spur zu kommen, verbunden mit der gefährlichen Sprung- und Kletterfähigkeit? Weit gehen oft erfahrungsmässige Klugheit und Sicherheitsmassregeln der hartnäckig gestörten Paare, denn wir haben gesehen, dass eine Bastardnachtigall ihrer Gewohnheit entgegen das niedere und höhere Gebüsch mit der Krone eines hohen einsam stehenden Zwetschen- baumes zur Anlage des Nestes vertauschte, weil die ersten Versuche des Bauens im Gebüsch von Katzen unterbrochen wurden; eine graue Grasmücke der Gartenhecke den hochragenden schwanken Zweig einer Linde der Allee vorzog, weil sie ebenfalls in der Tiefe Nachstellungen erfuhr. Marder, Iltis, grosses und kleines Wiesel entdecken und zerstören gleicher Erde sowohl wie in Löchern, Höhlen und auf Zweigen die Brutstätten der Vögel. Die grosse Haselmaus usurpirt manches Singdrossel- und Amselnest, Eier oder Junge raubend und die Wohnung ihren eignen Bedürfnissen gemäss einrichtend. Wasser- und Landspitzmäuse gelangen auf ihren Raubzügen an Nester der Rothkehlchen, Fitise, Buchenlaubvögelchen und Bachstelzen, gierig über den Inhalt herfallend. Selbst Maulwürfe sahen wir junge hilflose Vögelchen ihren unterirdischen Gängen zuschieben, weder um das Geschrei des Opfers, noch um das verzweiflungsvolle Flattern und Klagen der alten Vögel sich kümmernd. Im Walde zerstört das ohnehin schädliche Eich- hörnchen weit mehr Vogelnester, als der Uneingeweihte sich denken mag; ihm sind Eier und nackte Vögelchen wahre Leckerbissen. So werden viele harmlose Verbindungen, Werke des friedlichen Still- lebens, Bilder rührender Anhänglichkeit und aufopfernder Pflege, Keime und Grundlagen neuer Geschlechter vernichtet. Wahrlich, das Leben einer Singvogelfamilie ist voller Sorgen und Kämpfe um das Dasein! Und doch sind diese sanguinischen Wesen, diese Kinder des Augenblicks, so empfäng- lich für die lächelnde Gunst des Geschickes, wenn dieses ihnen auch eben erst arg mitgcspielt hat. Unter mannigfachen Entbehrungen, unter dem Einfluss unwirthlicher Witterung, unter dem rauhen Toben feindlicher Ele- mente und der Tücke überlistender Verfolgungen erhält sich die Heiterkeit des schnell vergessenden Vogelherzens aufrecht. Die Vögel sind und bleiben die Glücklichen und Glückverkündenden. Sie leben zu ihrer eignen und Anderer Freude, ihr Wesen und Walten belebt und verschönt die Natur und bewegt mächtig das Menschenherz, das diesen Wesen desshalb zeitlebens eine warme Theilnahme bewahren soll. 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Neben dem Gesange erweist sich die Baukunst der Vögel wohl als das Anziehendste für den Naturfreund. Zwar findet sich dieselbe auch schon 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 39 unter den Säugethieren, noch häufiger, namentlich was genaue und regel- mässige Formgebung anbelangt, bei den Insecten und andern niederen Thieren; allein als eine Regel, als einen ausgebildeten Trieb, der sich nicht selten zu einer wahren Kunstfertigkeit erhebt, gewahren wir erst den eigent- lichen Nestbau unter den gefiederten Wesen. Vogel und Nest gehören ja sprichwörtlich zu einander , sie ergänzen sich gerade so wie Biene und Zelle, Spinne und Netz, Mensch und Haus. Der tiefere Blick des Forschers entdeckt in diesem Bautriebe eine allgemein in der Vogelwelt verbreitete Naturgabe; er gewahrt, dass diese innerhalb gewisser Grenzen und Grundregeln unveränderlich dieselbe bleibt. Das zeigen .ihm die immer sich gleich bleibenden, nach denselben Formen und in derselben Weise alljährlich entstehenden Vogelnester ganzer Sippen und Familien. Der Vogel baut sein Nest heute gewiss noch gerade so wie zu Adams Zeiten. Aber es ist diese Beanlagung des Vogels nicht etwa ein blinder Trieb, den man mit dem oft begrifflosen Worte „Instikt“ belegen darf; nein, die Nestbereitung bewährt sich als eine zwar unabänderlichen Regeln unterworfene Naturgabe, in welcher sich aber gewisse Stufen der Vervollkommnung nicht allein bei einer und der derselben Art, sondern auch im Allgemeinen unter den verschiedenen Sippen und Familien als ausge- bildete Kunstfertigkeit bemerkbar machen. Die Erfahrung und Übung helfen hier ausbilden. Alte Vögel bauen vollkommenere Nester als junge; sie wissen nicht selten ihre Kunst den Umständen anzupassen, ihre Nester ausser dem Bereich von gewöhnlichen Nachstellungen anzubringen und gehen hierin über die Grenzen der Nistweise ihrer Art hinaus. Manche bringen es unter Ihresgleichen zur hervorragenden Meisterschaft, ja zur Erfindung in der Tech- nik ihrer Art. Aber wir dürfen wiederum bei dieser Betrachtung nicht der Annahme huldigen, als sei diese Kunstfertigkeit allfällig eine von dem jungen Vogel erlernte. Wer hat wohl je eine Unterweisung des jungen Vogels von den Eltern beobachtet? Die erste Brut hat selbstverständlich den Bau ihrer Wiege nicht entstehen sehen. Ebensowenig beobachten wir aber auch nur die mindeste Bethätigung einer Unterweisung der ersten Brut bei einem zweiten Nestbau von Seiten der Alten. Und dennoch tritt der junge Vogel im nächsten Jahre an die Nestbereitung, als wenn er sie schon Jahre lang geübt hätte. Es ist also der Bautrieb des Vogels nichts anderes als eine Mitgift der Natur, ähnlich wie der Trieb bei den wilden Volksstämmen sich im eigenthümlichen Bau von Hütten und Wohnungen bethätigt. Nur schafft sich der menschliche Kunstsinn allmälich durch die überwiegende geistige Kraft, vermittelt und vermehrt durch das Zusammenleben und die Berührung verschiedener Völkerschaften, unendlich viel höher heran. Obgleich der Vogel im Allgemeinen auf den Bau des Nestes eine ausser- ordentliche Sorgfalt verwendet, so dient dasselbe in der Regel doch nur zur einmaligen Stätte des Familienlebens. Bei denjenigen Vögeln, deren Junge AO 2. Die Nestbaukunst der Vögel. sogenannte „Nestflüchter“, dient das Nest nur zur Brut, und fast durchgängig sind diese Brutstätten ganz rohe Zubereitungen, gewöhnlich blos gescharrte Vertiefungen im Boden, höchstens hin und wieder mit wenig Aufbietung von Mühe und Kunst roh belegte Mulden. Erst bei denjenigen Familien und Sippen, deren Brut „Nesthocker“ darstellen, sehen wir das Nest mit Sorgfalt und Kunstsinn bereitet werden. Das Nest ist die Wiege des jungen Vogels. Sobald derselbe flügge geworden, verlässt er das Nest. Nur ausnahmsweise benutzt er dasselbe nach dem Ausfluge noch eine Zeit lang als Schlafstätte. Der leicht-beschwingte Vogel ist eben ein Überall und Nirgends, der, ein launiges, flüchtiges Kind des Augenblicks, bald da, bald dort sein Unterkommen sucht und findet. Aber noch ist hervorzuheben, dass neben der herrschenden Regel der einmaligen Benutzung des Vogelnestes zur Brut, sich doch noch die That- sache bemerklich macht, wonach alle durch besondere stoffliche Dauerhaftig- keit sich auszeichnender Nester, desgleichen alle Wohnungen, welche durch obdachliche Vorrichtung dem Vogel entweder schon eine natürlich darge- botene Zuflucht oder Schutz gewähren oder ihm eine künstliche Förderung zu semem Nestbau bieten, gewöhnlich auch ständig oder doch mindestens öfters zur Brut benutzt zu werden pflegen. Wir erinnern zur Bestätigung dieser Thatsache an unsere Schwalben neben vielen Ausländern, welche dauerhafte Nester mauern; an unsere Höhlenbrüter, wie die Spechte, die sich in die Bäume Höhlen meisseln, an den Eisvogel und die Uferschwalbe, die sich solche in die Erde hacken; an die schon vorhandene Höhlen und Löcher benutzenden Dohlen, Staare, Spechtmeisen, Meisen, Rothschwänzchen u. s. w., ferner an alle diejenigen Vögel, deren colonienweises Nisten sie schon an ihre alten Brutstätten führt, wie Saatkrähen, Reiher, Cormorane u. a., sowie endlich an unsern Storch mit seinem Neste, das er auf der ihm von Menschen- hand errichteten Unterlage auf unsern Dachfirsten alljährlich wieder bezieht. Nach unseren langjährigen Erfahrungen bekundet sich bei den Vögeln das Weibchen vorherrschend als der künstlerische Theil bei dem Nestbau. Schon bei der Auswahl des Nistplatzes gibt zumeist dieses den Ausschlag. Sehen wir auch hin und wieder die Männchen der Grasmückenarten, der Zaunkönige und anderer Sänger kleine Anfänge zum Nestbau unter Minne- gesang bereiten, das Weibchen bestimmt nichtsdestoweniger in den meisten Fällen den Ort, wo das Nest entstehen soll. Auch die Weibchen sind regelmässig die thätigsten der Gatten in der Nestbereitung, bei überwiegend vielen Arten, wie z. B. den Finken und manchen Meisen, die allemigen Bau- künstler, während die Männchen die Baustoffe sammelnde Gattin nur be- gleiten und bei dem Baugeschäfte mit ihrem Gesange ermuntern; auch andere den Nestbau blos anfänglich schwach oder nur bis zu einem gewissen Zeitpunkte unterstützen oder über die Handlangerschaft sich nicht erheben. Der Stoffe, deren sich die Vogelschaar zu ihrem Nestbau bedient, sind 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 41 es ausserordentlich mannigfaltige. Viele derselben kommen bei der Nest- bereitung der folgenden einzelnen Gruppen, in welchen wir die gefiederten Künstler vorführen werden, zur Sprache. Doch sei in kurzem Umrisse das reiche Material wenigstens im Allgemeinen erwähnt. Zum grössten Theile bietet das Pflanzen- und Thierreich die Baustoffe, den kleineren Theil des Materials bilden Erdarten u. dgl. Von der Wurzel bis zur Knospe und dem entfalteten Blatte der Gewächse entnehmen unsere Künstler das Baumaterial. Die Blüthenblätter, Blüthen- und Samenflocken, selbst Theile von Früchten macht sich der Vogel zu Nutz. Die Rinde und der Bast, das Holz, ja selbst der klebrige Saft des Baumes, wie Gummi und Harz als Bindemittel, das Moos und die Flechte der Erde, der Felsen und Gewächse, vom Baume abwärts bis zur Staude, das Gras in allen seinen Theilen wird gebraucht. Wolle und Haare der Hausthiere, des Wildes und des Menschen, fremde und seine eigenen Federn, Bestandtheile von Fischen und Kerbthieren, wie Gräten und Insectenflügel, sein eigener Speichel als bindenden Kitt, selbst den Abfall der Thiere, wie ausgelaugter Kuh- und Pferdemist sehen wir vom Vogel verwendet. Ja, auch den Stein, die Muschel, Knochen, Glas und andere glänzende Gegenstände sucht das muntere, launige Völkchen der Lüfte aus, wenn nicht zur Familienwohnung, so doch zum Ausschmuck seiner Spiel- und Minneplätze, wie die Lustlaubenfertiger, die Atlas- und Laubenvögel Australiens. Die vorherrschendste Gestaltung des Vogelnestes ist die kugelige; die häufigste die Halbkugel; auch ist die Viertelkugel vertreten. Das halb- kugelige Nest steht immer nach oben offen, wie die meisten Nester unserer grossen, mittelgrossen und kleinsten Vögel zeigen. Unvollständige Halb- kugeln oder eine Viertelkugel bilden die Nestchen der Colibris, welche an ein zusammengerolltes hängendes Blatt gekittet sind. Auch die Nester unserer Hausschwalben gestalten sich gewöhnlich zu einer unvollständigen Halb- kugel. Ferner sind die eirunde und die ganze Kugelform vorhanden. Ei- runde Nester fertigen unsere Schwanzmeisen. Diese Form geht über in die röhrengestaltige, wie bei den Nestern der Beutelmeisen, des kleinen Honig- kukuks am Kap der guten Hoffnung, der Webervögel und der Beutelstaare. Auch die Spechte meisseln ihre Höhlennester halb- in röhren-, halb in beutel- förmiger Gestalt. Einer mehr oder weniger regelmässigen Kugel gleichen die Nester unseres niedlichen Zaunkönigs, des kleinen und grossen Weiden- zeisigs und des grünen Laubvogels (der sogenannten Backöfchen), des Wasserstaars und des Töpfervogels in Südamerika, der em merkwürdiges Nest in Form emes runden Ofens baut. Eine Zwischenform der gewöhn- lich oben offenen Halbkugel-Nester und der ganz zugewölbten bildet das Nest unserer lieblichen Goldhähnchen. Dies ist einer hohlen Dreiviertel- kugel vergleichbar, indem es so weit mit seinen Rändern nach oben über- sebaut wird, dass nur eine kleine Oeffnung bleibt. 42 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Man hat nach diesen äusseren Formen die Nestbereitung betrachtet und unsere befiederten Baukünstler z. B. in platten-, halbkugel-, röhren-, kuppel- förmig u. s. w. Bauende unterschieden. Die Unterscheidung nach dem Gefüge ihres Nestbaues bringt uns aber die Eigenheit der Künstler näher. Denn auf solchem Wege wird die Art und Weise der Nestbereitung an- schaulicher. Es ist von jeher in den sogenannten Naturgeschichten bis in die neueste Zeit der blossen Beschreibung des Gefüges und der Form der Vogelnester einseitig und übergebührlich Genüge geschehen. Viele schreiben von ein- ander ab, und so hat sich eine wahre: Schablone mit leiermässigem Gang der Beschreibung dieses Gegenstandes gebildet, der nachgerade zum Über- druss führt. Die Art und Weise, wie der Vogel bei dem Bau seines Nestes verfährt, wie also dasselbe entsteht, darüber geben uns nur äusserst wenige zoologische Werke höchstens vereinzelten und dürftigen, beinahe alle gar keinen Aufschluss. Es ist eben die leichte bequeme Manier der Beschreibung des Aussern beliebt und sozusagen Mode geworden; der sehr mühseligen, langwierigen und in vielen Fällen wegen der Heimlichkeit, Verstecktheit und Vorsicht der Nistvögel äusserst schwierigen Beobachtung des bauenden Vogels scheint sich trotz unseren vor Jahren schon gegebenen Anregungen fast kein Naturforscher anhaltend hingeben zu wollen. Wir haben nun schon viele Jahre lang uns bemüht, diesen Beobachtungsgang einzuhalten und entwerfen im Nachfolgenden ein getreues Bild unserer Erfahrungen gleichsam von unserer frühesten Jugend an, hoffend, dass dies bei streb- samen Forschern zu ähnlichen Beobachtungen Anlass geben möge. Wir sehen uns in unserer nächsten Umgebung nach Beispielen des Nest- baues um, und da gibt uns sogleich der Haussperling Gelegenheit, ihn in seinem Baugeschäfte zu beobachten. Eben hat er — um ein lebendiges Beispiel zu ergreifen — einen halbmeter langen Strohhalmen, an dem noch Bind- fäden, Schafwolle und Papierschnitzeln hängen, in unbehülflichem Fluge zu der Dachspalte aus dem Hofe getragen. Es war das Männchen des Spatzen- paares, das schon einige Tage sein lärmendes Wesen auf dem Dache der Nachbarschaft getrieben. „Tschib, tschib, dıll, dell!“ hämmerte der schwarz- kehlige, verliebte Vogel da den halben Tag vor der Spalte am Dach, die sich sein blasseres graugelbes Weibchen zum Wohnsitz auserkoren. Dies ist jetzt, und neben ihm der Gatte, emsig mit Eintragen von allerlei Bau- stoffen in die Ritze beschäftigt. Es fällt uns dabei auf, wie wenig wählerisch die beiden Sperlinge beim Aufsuchen der Stoffe sind. Das Erste Beste wird aufgelesen, gleichviel in welcher Form, ob rauh oder zart, lang oder kurz, es wird zum Dach getragen. Aber wie sie auch lüderlich bei ihrem Nest- bau verfahren, sehen wir jetzt daran, dass sie lange Halmen und Fäden aus der Nisthöhle heraus hängen lassen. Bald wird auch ein anderer Zug an dem Sperling bemerkbar, der mit seinem sonstigen Wesen vollkommen 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 43 übereinstimmt. Das Paar fliegt nämlich eine Weile schon auf einen Baum des Hausgartens.. Aufmerksam geworden, sehen wir, wie die Vögel in diebischer Weise ein angefangenes Edelfinkennest zerzausen, um den abgerupften Baustoff zu ihrem eigenen Nestbau zu verwenden. Dies be- stimmt uns, die Sperlinge bei ihrem Baugeschäfte m der Nähe zu beob- achten. Dazu bietet der Boden unter der Dachfirste die beste Gelegenheit. Wir schleichen dort hinauf nahe an die Dachpfette, durch deren Spalten wir das ganze Nest gewahren. Es ist nichts anderes als ein Haufen der verschiedensten Stoffe, unordentlich auf- und durchemander gelegt. Wir bemerken Strohhalmen und Geniste aller Art, Garn, Kleiderlappenstücke, unsere schon gewahrten Papierschnitzel mit Hobelspänen vermengt, hin und wieder die gestohlenen Stoffe von dem Edelfinkennest bündelweis in dem Wirrwarr. Eben kommt einer der Vögel in die Ritze geschlüpft mit einem Bündel Baumaterial. Es sind Pferdehaare und Wolle aus dem Finkenbau. Das Sperlingsweibchen, das hereingeschlüpft, setzt sich inmitten des Nestes, stopft den Klumpen Stoffe, den es in seinen Schnabel hält, am Rande des wirren Nesthaufens fest, zaust nun die Stoffe rechts und links auseinander, um gleich darauf wieder aus dem Loch zu fliegen. Nun kommt das Männ- chen mit gleichem Baustoffe, um denselben geradeso wie vorher das Weibchen zu verwenden. Eine Zeit lang dauert diese zwischen beiden Gatten ab- wechselnde Beschäftigung so fort. Auf diese Art ist nach und nach ein flacher Rand entstanden, welchen die beiden Gatten einfach durch Anhäufung der Baustoffe, um ihre Brust herum mit dem Schnabel fertigen. Jetzt aber erscheint mit einemmale das Weibchen mit Federn im Schnabel, steckt diese in die Mitte des Nestes und drückt sich mit Bauch und Brust in die Mulde des- selben hinab, hin und wieder sich umdrehend und mit Flügeln und Schnabel den Rand durch Andrücken bearbeitend, also dass sich allmälich um die sewölbte Brust und die muldig etwas vom Leibe abgehaltenen Flügel eine flache ausgebauchte Vertiefung im Innern des anfangs formlosen Haufens von Baumaterial bildet. Diese Mulde wird meist mit Federn abwechselnd von beiden Vögeln ausgefüllt. Wo sich Baustoffe in die angemessene Lage nicht fügen wollen, werden sie von dem Vogel mittelst mehrmaligen Ziehens durch den Schnabel biegsamer gemacht und an die gebührenden Stellen des Nestes mit dem Schnabel gebracht. Die anfänglich wirre Masse erhält so Form und Gestaltung. Der ganze Nestbau ist beendet. Das wird jetzt bei dem Spatzenpaar sichtbar, das eine Weile auf dem Dache feiert, sich die Federn putzend, um dann der Kurzweil und Dieberei auf Strasse, Hof und in Gärten nachzugehen. Der beendete-Bau erweist sich als ein Vogelnest, woran sich vier Theile besonders bemerklich machen: 1) der wirre sozusagen chaotische unterste Theil, die rostartige Unterlage, 44 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 2) zwei besser geordnete und geformte Theile, das eigentliche Nest mit der inneren Mulde und der äusseren Wandung, 3) der obere, besonders geglättete und geordnete Rand, an welchen bei Regengüssen die Flüssigkeit schnell abfliesst und die Nest- wandung ebenso vor Durchnässung schützt, wie dessen Mulde der darauf sitzende Muttervogel bewahrt. Diese Wahrnehmung bei der Nestbereitung unseres Haussperlings lässt uns, so einfach und unvollkommen sie auch ist, das Grundsätzliche der ganzen Baukunst der Vögel erkennen. Vergegenwärtigen wir sie uns, so lassen sich folgende Fundamentalregeln an derselben absehen. Der Vogel: gebraucht seine Gliedmassen als Werkzeuge bei der Anfer- tigung seines Nestes. Vorzugsweis ist der Schnabel das Faktotum, das er bald als Mittel zum Herbeiholen, Zerkleinern und überhaupt zur Vorbereitung der Baustoffe, bald mit seiner Spitze als Pfriemen oder Nadel, bald vereint mit Ober- und Unterkiefer als Greifzange, bald als ordnendes oder glättendes Werkzeug, wie Spaten und Kelle, verwendet. Auch die Flügel dienen mit ihrer muldenförmigen, nach aussen bogigen Gestaltung als ein Mittel zur formgebenden Ausbauchung des Nestes. In ähnlicher Weise bedient sich der Baukünstler der Fersen seiner Füsse und des Hintertheils mit dem Schwanze. Die eigentliche runde Form der Nestmulde wird aber mit An- wendung des ganzen Körpers gebildet. Der Vogel dreht sich zu dem Ende im Kreise um sich selbst. Dabei stellen seine Fersen den einen Schenkel, gewöhnlich den Stützpunkt, sein Vordertheil, mit der Schnabelspitze endigend, den andern Schenkel des Zirkels dar. Diese natürlichen Werkzeuge sind aber nicht etwa dürftige, rohe. Im Gegentheile, sie spotten bei ihrer Einfach- heit der vielfältigen zusammengesetztesten unserer menschlichen Handwerker. Betrachten wir uns nur einmal eingehender die so unendlich verschiedene Schnabel- und Fussbildung der Vogel-Familien und -Arten. Da gewahren wir sie von der breiten löffelförmigen und innen bezahnten der Schwimm- vögel bis zur spiess-, haken-, messer- und lanzettförmigen; wir sehen den Pfriemen und Meisel, sowie den Spitzhammer, die Kelle und das Falzbein sprechend vertreten. Selbst en miniature der Spaten, die Schaufel, ja die Hacke, der Rechen, die Hechel und der Kamm wird ersetzt in den vielge- staltigen Füssen der Vogelfamilien. Befinden wir uns hier nicht mitten in unserer Betrachtung auf dem natürlichsten Wege der Vergleichung der Vogel- nester mit Produeten menschlicher Kunstfertigkeit? Dieser Vergleich liegt nahe, und die Betrachtung oder Unterscheidung unserer Künstler der Natur als Flechtende, Webende, Filzende, Schaufler und Minirer, Meisselnde oder Zimmernde, Mauernde und Kittende ergibt sich gleichsam von selbst und ist auch wissenschaftlich vollkommen gerecht- fertigt. So gut der Mensch seine ersten Werkzeuge nach Gebilden seines Körpers, namentlich der Hand formen konnte, ebenso gut förderte ihn die 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 45 Nachahmung von sprechenden Gliedmassen des Vogels, wie z. B. dem Schnabel. Unser Vergleich bringt also Gegenstände in Verbindung, welche an und für sich schon in einem Causal-Nexus stehen. Wir führen unter jeder dieser Abtheilungen die Nestbereitung eines oder mehrerer besonders charakteristischer Vertreter als illustrative Beispiele an, berühren aber nichts desto weniger später bei der Schilderung der Vogel- familien und Arten den Nestbau, besonders wenn sich derselbe in der Höhe der Kunstfertigkeit zeigt. Betrachten wir nun jede dieser Gruppen in ihrer eigenthümlichen Werk- thätigkeit unter den natürlich-lebendigen Bildern, deren Eindrücke sich uns unauslöschlich von frühester Jugend an in's Gedächtniss eingeprägt, und die wir im späteren Leben ernsterer Betrachtung und Forschung ergänzt und vervielfältigt haben. Die Diechsenden Diese Nestbereiter stehen im Allgemeinen auf der untersten Stufe der Baukunst. In dieser Gruppe gewahren wir die rohesten Anfänge des Nest- baues. Die Geschicklichkeit stuft sich jedoch bei Einzelnen schon zu einer wahren Kunstfertigkeit auf. Diese sind mit den Korbmachern zu vergleichen. Hierher zählen die Schwimm-, Wad- oder Stelz- und Hühnervögel, wie die Schwäne, Wildgänse, Enten, die Cormorane oder Pelicane, die Taucher, die Wasserhühner, die Reiher, Störche, Kraniche, Trappen, die Wald- und Feldhühner und viele andere mehr; ferner die Raubvögel, Staare, Würger und unzählige kleinere Vögel, wie viele Sänger. Einige Taucher, unsere Wald- und Feldhühner, die Schnepfenvögel, Trappen, Regenpfeifer, Kibitze u. a. m. erscheinen gleichsam noch in der Kindheit der Nestbereitung. Sie fertigen ein Nest, indem sie sich wiederholt auf ihren Fersen im Kreise drehen und mit Füssen und Schnabel nachhelfen, eine für ihren Körper entsprechende Nestmulde in den Boden oder das Wachsthum desselben zu bilden und diese höchstens mit Geniste dürftig auszulegen. An diese reihen sich die Wildtauben. Ihr Nest besteht aus dünnen Lagen von dürren Reisern, auf Asten und Zweigen kreuzweis ohne besonders künstlichen Zusammenhang flach und ziemlich formlos übereinan- dergelegt. Auf gleicher Stufe stehen fast alle Höhlenbrüter, d. h. hier solche Vögel, welche in natürliche Spalten und Löcher der Bäume, Felsen, Mauern und Häuser ihre meist aus Geniste allerlei Art lose zusammengefügte flachwan- digen Nester anlegen. Der Nestbau des Storchs, Reihers, Kranichs, sowie der Tagraubvögel lässt sich schon besser mit einem Geflechte vergleichen. Diese Vögel ver- fahren aber auch schon sichtlich gewissenhafter und umständlicher bei Be- 46 2. Die Nestbaukunst der Vögel. reitung ihrer Wohnungen. Besonders der gemeine oder weisse Storch ist, nachdem er die gröbere Unterlage von Holzstangen oder Stöcken und Reisig durch einfaches Uebereinanderlegen der Stoffe bewirkt hat, in der Bildung der eigentlichen Nestmulde schon regelrecht und sorgfältig. Beim Ein- drücken und Umdrehen seines Körpers sehen wir hauptsächlich den spiess- förmigen Schnabel beschäftigt, Reiser, Stroh, Schilf, Gras und andere Stoffe ineinanderzufügen. Und in der That! Die Nester unseres Storchs auf dem Rade der Dachfirsten und Thürme, auf den Stümpfen der Kopfholzstämme in Auen, Wiesen und Triften zeugen von Dauerhaftiskeit, indem sie Jahr aus Jahr ein Sturm und Wetter trotzen und vom Storche wiederholt benutzt werden, nachdem er ihre Ausbesserung zu Anfang des Nistens alljährlich be- wirkt hat. — Aus der Ordnung oder Gruppe der Rabenvögel möge hier ein charakt- eristischer Vertreter seine Thätigkeit im Flechtwerk entfalten. Es sei dies der Eichelheher. Scheu, wie der misstrauische und aufmerksame Vogel ist, geht er auch äusserst vorsichtig und wachsam an seinen Nestbau. Wer ihn dabei beobachten will, muss dies mit emem guten Tubus aus einem deckenden, entfernten Ver- stecke thun und sich äusserst unbeweglich verhalten. Denn die geringste Be- wegung oder ein Geräusch entdeckt der scharfsichtige, gut vernehmende Vogel. Dieser kundschaftet, ehe er seinen Nistplatz wählt, diesen mit grosser Sorgfalt und Angstlichkeit aus. Ob das Weibehen oder Männchen die Nist- stelle zuerst bestimmt, haben wir nicht genau ermitteln können, weil sich die beiden Geschlechter in ihrem Aussern nicht merklich unterscheiden. Diese Niststelle ist in der Regel eine sorgfältig geprüfte, verborgene, Späher- blicken nicht auffällige. Meist deckt sie von einer Seite ein derber Baum- schaft, von der andern Seite das Geäste des Stammes. Gewöhnlich wird sie m eimer Höhe von 2—4 m über der Erde auf mittelstarken Bäumen oder Stangen gewählt. Hat der Heher den Platz gefunden, so beginnt er mit dem Einsammeln von Reisern, vorzugsweise der Birke oder Buche. Sogar während des Suchens nach Reisern auf dem Erdboden erhebt er zeitweilig den Kopf, um herumzuspähen oder ein verdächtiges Geräusch aufzufassen. Sehr wählerisch, passt ihm nicht jedes Reis, und er prüft eines nach dem andern durch Picken und Zerren oder mittelst mehrmaligen Ziehens durch den Schnabel, ob es haltbar und zweckdienlich. Unpassende Reiser schnellt er weg, manchmal selbst noch auf der Niststelle Mit diesem mehr oder weniger dünnen Materiale bildet er in einer Gabel von zwei und mehr mittel- starken Asten oder starkem Gezweige eine rostartige Unterlage. Dieselbe sieht sich an wie eine lose Anhäufung von kreuz und quer übereinanderge- legten Zweigen. Schon beim Bereiten dieser Unterlage flicht der Vogel aber hin und wieder Blätter und Zweige der unmittelbaren Umgebung in das Gefüge ein. Ist diese Grundlage etwa 4 cm dick, dann beginnen die Heher 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 47 das eigentliche Flechtwerk ihres Nestes. Zu dem Zwecke schleppen sie oft starke Klumpen, Wurzeln und Stengel der gemeinen Haide, sowie andere Faserwurzeln, welche sie durch Hülfe der Füsse am Boden auskratzen und mit dem Schnabel loszerren, herzu, um dieselben in das Gerüste der Unter- lage einzuflechten. Hin und wieder wird auch in die neuen Flechtlagen etwas Moos oder Stücke grünen Rasens von den Vögeln eingestopft, welches sie ruckweise mit dem Schnabel thun. Das Flechten bewirkt der Heher, indem er die Enden der gröberen Wurzeln und die Stengel der Haide mittelst des Schnabels in die Reiserunterlage einstösst und dann mit ihren Ver- zweigungen in die Zwischenräume des Reisernestes weiter noch verflicht. Durch öfteres Ineinanderbiegen vieler solcher Bündel entsteht allmählich eine Mulde groben Materials um den im Mittelpunkt der Niststelle sitzenden Vogel, der nun, nachdem eine etwa 4—5 cm. hohe Wandung um ihn herum entstanden, die Mulde in der Mitte des Nestes durch gewaltsames Eindrücken seines Körpers bis zu 6 und 7 cm vertieft. Nun beginnt der Bau der Innenbekleidung. Hierzu verwendet der Vogel feinere Faserwurzeln meist von der Haide. Er zieht dieselben wiederholt durch den Schnabel, indem er das eine Ende derselben mit den Zehen seiner Füsse festhält, bis jene, biegsam genug befunden, zum Geflechte des Innern benutzt werden. Fort- während ist der Schnabel befleissigt, Würzelchen und Hälmchen in das sröbere Geflecht der äusseren Wand einzufügen, bald hier ein widerspensti- ses Ende zwischen das Gefüge einzustossen, bald da eine sperrige Wurzel oder einen starren Stengel unter wiederholtem Ziehen durch den Schnabel biegsamer zu machen, um allem diesem bald horizontal, bald vertical oder diagonal in die Wandung eingeflochtenen Materiale durch Andrücken von Brust und Hals einestheils und Flügelarmen, sowie Schwanz und Füssen anderntheils nach und nach die gehörige Rundung und Glätte zu geben. So entsteht allmählich in einem Zeitraume von 6—7 Tagen ein etwa im Innern 5-6 em tiefes und 1O— 12 em breites, im Aeussern hingegen be- trächtlich umfangreicheres Flechtnest auf einer noch breiteren Grundlage. Die Weber. Eine ganze Reihe von Vögeln in den verschiedensten Erdtheilen und Länderstrichen trägt diesen Namen wegen der hervorragenden, dem gleich- namigen mersehlichen Gewerbe ähnlichen Geschicklichkeit in der Nerbau. kunst. Aber diese Künstler Afrika’s, Asien’s und Amerika’s sind noch nicht eingehend genug bei ihrem eig Eellichen Baugeschäft in der Natur beobachtet a beschrieben. Wir lassen statt dieser Ausländer, der Aufgabe unseres Buches gemäss, einen heimischen Vogel seine Künstler schaft bethätigen. Es sei unser schön gefärbter Pirol oder die Goldamsel, der trotz der eigentlichen Webervögel als Muster in der Weberkunst gelten kann. 48 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Auf der Zweiggabel eines jungen Eichbaumes in einem Stangenholze sitzt in einer niedergedrückten Stellung, zuweilen mit den hängenden Flügeln zitternd, ein männlicher Pirol. Er gibt durch kurze melodische Rufe mit der eigenthümlichen, wie Krähen klingenden Zwischenstrophe, sowie sein auffallendes Betragen kund, dass er den Baum zum Nestbau aufgesucht habe. Das graugrüne Weibchen gesellt sich auf die wiederholten Rufe zu dem goldschimmernden Männchen. Nun untersucht es seimerseits die Um- sebung des Ortes, prüft das Gezweig und scheint mit der Wahl des Nist- platzes einverstanden. Eifriger und liebeseliger lässt der männliche Pirol nun seine tiefen Flötenrufe hören und entfernt sich bald, von der Gattin gefolgt. Wir stellen uns nun, mit einem Fernrohre versehen, verborgen im Gehölze zur Beobachtung auf. Nicht lange währt’s, so erscheint das Pirolpaar wieder auf der Eiche. Das Fernrohr zeigt uns das Männchen mit einem dicken Büschel Schafwolle im Schnabel. Beide Vögel fussen einander gegenüber auf einem Gabelzweig, der an einem Aste hervorgewachsen ist. Der männ- liche Pirol fasst den Wollenbündel zwischen die Zehen seiner Füsse und zaust die Wolle nun mit dem Schnabelin dieLänge. Den so verlängerten Bau- stoff wickelt der emsige Vogel mit Hülfe semer Füsse und des Schnabels um einen der Zweige. Dann zieht er die Wolle abermals mit dem Schnabel zu einem noch längeren Strange auseinander und reicht diesen dem gegen- über sitzenden Weibchen dar. Dieses befestigt seinerseits jetzt das darge- reichte Ende der Wollschnur an den andern Zweig der Gabel, worauf es fusst. Schnabel und Füsse zerren den übrigen Stoff, soweit er hinreicht, zu einem weiteren Strange auseinander, worauf derselbe dem Männchen wieder hinübergereicht wird, bis auf solche Weise die Wolle verbraucht ist. So werden in den Morgenstunden von 6—9 Uhr etwa drei bis vier Wollbüschel an die Gabel verwoben, wonach das Pirolpaar den Nestbau für den Tag einstellt und feiert. Des andern Tages in der Frühe vorsichtig angeschlichen, bemerken wir bald die Vögel in der angegebenen Weise noch emige Bündel Wolle ver- wenden, um sodann plötzlich mit Hobelspänen und Schnüren von Bast dürrer Eichen und Aspen im Schnabel zu erscheinen, welche Stoffe sie nun sich anschicken, mit den Wollsträngen innig zu verweben. Bisweilen lassen sie einen Strang oder eine Schnüre mit dem einen Ende herunterhängen. Aber nicht lange bleibt dies unbemerkt, und eines um’s andere des Paares fasst halbschwebend von der Gabel herab das Strangende, um es gegenüber am Zweige zu verweben. Begierig, woher die scheuen Pirole die Hobelspäne sich verschaffen, beobachten wir die Richtung, in der sie sich bei ihrem jetzt immer eifriger sich entfaltenden Baugeschäfte entfernen. Wir sehen sie in der Richtung eines Gehöftes fliegen. Dorthin begeben wir uns und sind, bald in einem guten Hinterhalte verborgen, im Stande, das Paar in seiner Thätigkeit zu 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 49 belausehen. Das dreistere, dem Suchen nach Baustoffen eifriger hingegebene Weibchen hüpft bereits in plumpen Sprüngen auf dem Boden umher, während das Männchen zurückhaltender und vorsichtiger noch auf einem Obstbaume zögert, den von diesen entschiedenen Baumvögeln gemiedenen Boden zu betreten. Jetzt rückt es dem Wolle und Hobelspäne nebst etwas Moos auflesenden Weibehen näher, indem es sich an ein Wasserreis des Baumes nahe der Erde anklammert und endlich zu der Gattin hüpft, um ebenfalls die bezeichneten Stoffe zu sammeln. Mit starken Bündeln entfernt sich das Paar in der Richtung des Waldortes. In kurzer Zeit kehren die Vögel wieder, ein Zeichen, dass sie den Ort als eine reiche Fundgrube für ihr nöthiges Baumaterial bereits kennen gelernt und denselben in Zwischen- räumen von höchstens 4—5 Minuten besuchen, um ihn auszubeuten. Im Walde haben wir noch einmal Gelegenheit, von ferne das Paar zu beobachten wie es an einer dürren Aspe handlange und noch längere Schnüre des Bastes mit dem Schnabel loszerrt und dem Neste zuträgt. Von unserem Verstecke aus gewahren wir am dritten Morgen den weib- lichen Vogel alsbald, wie er sich auf die flachbogig verbundenen Stränge setzt, diese mit Leib, Flügeln und Beinen unter sichtlicher Anstrengung herunterdrückend. Die biegsame Wolle dehnt sich und die anfänglich flache Unterlage gestaltet sich allmälig zu einem tiefer muldenförmigen Napfe. Das bis jetzt beobachtete Baugeschäft hat bereits anderthalb Vormittage in Anspruch genommen. Den darauf folgenden Morgen sind die emsigen Vögel unserer weiteren Beobachtung schon ein Stadium ihres Baugeschäftes vorausgekommen, denn unsern Blicken enthüllt sich vor dem Felde des Fernrohres ein Gewebe von Wolle- und Bastschnüren unterhalb der schon niedergebogenen Stränge, welches diese letzteren kreuz und quer durchzieht. Entweder am Nachmittage des vorhergehenden Tages oder ganz in der Frühe vor unserem Erscheinen hatten also die fleissigen Künstler weiter unter der schon gestern entstandenen napfförmigen Nesthülle gebaut. Wir erfahren alsbald, in welcher Art die Baukünstler diese neue Verstrickung und Verwebung der Napfhülle bewerk- stelligen. Einer um den andern lässt sich an der Zweiggabel halb schwebend herunter und reicht dem Gehülfen die zerwirkten Schnüre, diese in grossen, langen Bögen abwechselnd auf die vorher beobachtete Art an die Gabel webend. Nach jeder so entstandenen Kreuzlage betreiben die beiden Gatten abwechselnd das Herabspannen der Nestmulde durch verstärktes Eindrücken ihrer Kör- pertheile in dieselbe. Die grösseren Kreuzbögen unter den ersten flacheren Webungen halten nun diese und dienen zu deren Verstärkung. In Folge dieses erneuten Herunterspannens der Nestmulde hat sich in einigen Stunden ein tiefer Napf geformt, dessen Rand an dem auseinanderstehenden Theil der Gabel als der am wenigsten herabgedrückte noch flachbogig oder ach kahn- förmig erscheint, während der Winkel der Gabel eine noch offene Stelle aufweist. A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 4 50 9. Die Nestbaukunst der Vögel. Von jetzt an bauen die Vögel anhaltender und fleissiger wie vorher, und es müssen auch die Stunden des Nachmittags zum Beobachten verwendet werden. Fesselnd ist es zu sehen, wie am fünften Morgen zur Erzielung grösserer Dichtigkeit und Haltbarkeit Spinnengewebe unter die Woll- und Bast- schnüren an den Haftpunkten der Gabel verwoben werden, während vorher durch das kreuzweise Verweben und Verstricken der Stränge der Hülle Halt verliehen worden war. Das Pirolpaar wendet seine Thätigkeit jetzt haupt- sächlich dem flachen Nestrande zwischen den ausemanderstehenden Gabel- zweigen zu, indem es den wagrechten Strang mit Hanf, Wolle und Spinnen- weben verwebt und also verdichtet, wonach der weibliche Pirol diesen so verstärkten Theil des Nestes mittelst Andrängens von Brust und Flügel- armen etwas bauchiger nach aussen und abwärts formt. Von nun an — am sechsten Tage — beschäftigt sich der weibliche Vogel fast ausschliesslich nur mit dem Nestbau. Nachdem die emsige Künstlerin durch anhaltendes Andrücken mit Brust, Hals, Flügeln und Steuer, sowie durch öfteres Umdrehen des Körpers im Neste dessen äusserem Gefüge all- mälig eine nahezu kreisrunde Form gegeben hat, bekleidet sie das Innere der Wandung mit langen Grasstengeln und Halmen. Jeden Halm zieht der Vogel beharrlich durch den Schnabel, um ihn gefügiger und geschmeidiger zu gestalten und damit in wagerechten, schön kranzförmigen Lagen die innere Nestmulde zu formen, indem die Enden der Stengel und Halme in das äussere Gewebe mit der Spitze des Schnabels eingesteckt werden. Zeit- weilig drückt der Vogel den Schnabel an den breiteren und dickeren Stellen des Randes zwischen den divergirenden Gabelzweigen und in deren Winkel, weit die Kinnladen auseinanersperrend, heftig und zitternd an, ein Zeichen, dass er seinen Speichel gebraucht, einestheils um die Stoffe gefügiger zu machen, anderntheils denselben mehr inneren Zusammenhang und äussere Glätte zu verleihen. Die Bildung des Inneren hat einen guten Tag Arbeit in Anspruch genommen, und der Vogel widmet sich nur noch dem Ausbau des Nestrandes, namentlich der Glättung desselben. In einem halben Tage, also von den ersten Anfängen des Nestbaues an gerechnet, am Vormittage des siebenten Tages, hat die zukünftige Mutter die luftige Wiege für ihre Nach- kommenschaft vollendet, und das Ampelnest erscheint nun in der oft be- schriebenen tiefnapfförmigen, am Rande nach innen überbauten Gestaltung mit zierlichster Auspolsterung des Innern. Es misst in seiner Tiefe etwa 12,5 em, während sein Inneres einem Durchmesser von ca. 8 cm entspricht. Es ist übrigens zu bemerken, dass die Pirole nicht immer gleichmässig ihren Nestbau vollführen. Eine Vergleichung der eben beschriebenen Nest- bereitung mit derjenigen, welche wir in unsern „Uharakterzeichnungen deut- scher Singvögel“ geschildert, thut dies dar. Dort wob ein jedes des Paares für sich allein die Schnüre und Stränge um die Zweige, so dass die Enden jener herunterhingen. Gewöhnlich das Weibchen erhaschte diese Enden VRR. UN VEN zz DIE — Rohrsängernest. 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Hill schwebend im Fluge, um dieselben zur andern Zweiggabel zn führen und daselbst mit Hülfe des Gatten zu verweben. Diese Abweichung in dem Verfahren bei dem Nestbau beweist, dass derselbe vom Vogel nicht nach todter Schablone des „Instinktes“, sondern nach gegebenen Umständen und der Individualität des Thieres gemäss, leben- dig und anstellig bewirkt wird. — Unter einer ganzen Reihe Weber, die schon ihr Nistplatz im Schilf und köhricht nahe über dem Spiegel oder am Ufer der Gewässer zu festem Anweben ihres Baues an die Umgebung hinleitet, greifen wir den be- kanntesten Vertreter für unsere Schilderung heraus, den Teichschilfsänger oder Rohrspatz (Öalamodyta arundinacea). Dieser geschwätzige, gewöhnlichen Blicken aber stets m dichtester Wassererescenz verborgene Vogel errichtet vorzüglich gern in Rohr und Binsen, zuweilen auch im Weiderich etweder ganz nahe am Ufer oder über der Wasserfläche sein interessantes, sehr kunstvolles Nest. Wir haben es hier abgebildet, sowie wir es gemäss seines gewöhnlichen charakteristischsten Standortes sowohl, als hinsichtlicht der Anwebungsweise der kleinen Bau- künstler in der Natur entdeckt haben. Die Niststelle befindet sich gewöhnlich nicht über !/r Meter, oft noch tiefer, über dem Wasserspiegel. Als Grundlage des Nestbaues biegt der Vogel an dem Nistplatze zwischen mehreren Rohrstengeln an denselben Seitenblätter in eime horizontale Lage nieder. Nun werden die nächsten passenden Rohrstengel mit Band- und Riedgras, sowie auch mit zerschlitzten schmaleren Grasblättern und gröberen Stengeln erst horizontal, dann vertical, also kreuzweis verwoben, zu deren festerem Halte der Vogel noch benach- barte Blätter des Rohres und Schilfes in das Gewebe hineinzieht, indem er alle Schnüre mit Inseetengeweben und hin und wieder auch mit Puppenge- häusen umspinnt, nachdem sie um die Rohrstengel gewunden sind. Das so gefertigte tiefnapfförmige äussere Nestgerüste wird um 4 mm. diek mit einer Lage der zartesten, nach allen Richtungen hin sich kreuzenden Grashalme belegt. Kuh- und andere Thierhaare, Pflanzen und Thierwolle — wie einige Schriftsteller angeben — haben wir niemals in dergleichen Nestern ent- decken können. Diese Auspolsterung muss, wenn sie vorkommt, wohl sehr selten stattfinden. Das vollendete Nest bietet einen ebenso soliden als wohl- gefälligen Kunstbau dar. Es ist solchermassen an zwei und mehr gegen- überstehenden Rohrstengeln mit dem angegebenen Materiale befestigt, dass es an diesen beiden Hauptstellen am Rande sichtlich erhöht gebildet und die rechtwinkelig gegenüberstehenden Seitenränder bogenförmig niedergedrückt erscheinen, wodurch das Ganze einem kleinen Kähnchen ähnlich wird. Diesen beiden flachbogigen, freien Seiten des Nestes zugekehrt, erblicken wir den sitzenden Brutvogel, dessen Wohnung ein scharfer Wind oft bis nahe zur Wasserfläche niederbeugt. 48 Zi I) 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Die Filzenden. Auf einem Apfelbaum des Gartens unweit des Fensters lässt sich der charakteristische Nestbau des Edelfinken betrachten. Nur das Weib- chen dieser Vogelart besitzt die Gabe der Baukunst, und zwar m einem be- wundernswerthen Grade. Es hat bereits in aller Stille einen breiten Ast des Baumes zum Nist- platze erwählt. Dort drückt sich’s in einer Verbreitung, welche zwei sich scheidende Aste mit einander bilden, mit Brust und Leib nieder auf eine bereits aufgetragene Lage Baustoffs, dabei die zitternden Flügelarme etwas seitwärts abgehalten. Die angefangene Grundlage des Baues bildet eine fingerdicke Moospartie, welche auf die Rinde der Aste aufgeklebt erscheint und bereits eine kleme Vertiefung sehen lässt. Die Stoffe sind nämlich mehr neben an den Asten angeheftet, sodass die obere Wölbung derselben, also die Mitte der Nestgrundlage noch unbedeckt ist, ein Zeichen, dass der Vogel die Mitte der Astfläche als das natürliche Fundament seiner entstehenden Wohnung ansieht. Auf diesen angefangenen Ring filzt das Thhierchen stetig Baustoff auf Baustoff, so dass allmählich um dessen Brust herum rund und glatt ein 2-5 cm hoher Rand entsteht. Dabei biegt die Künstlerin den Hals über, um zwischen ihm und der Brust, die jedesmal herzugetragenen Stoffe ringförmig anzuklemmen. So rückt sie im Kreise herum weiter, eine Lage an die andere cirkelförmig drückend, und auf diese Art wächst um sie höher und höher die äussere Wand des Nestes. Wir entdecken Moos, Flech- ten, Rindenstückchen, Halme, Gespinnste von Spinnen und Raupen, Thier- und Pflanzenwolle, Bast, Werg und Fäden an dem Gerüste. Das Schnäbel- chen der emsigen Baumeisterin sehen wir bald hier, bald dort sich über den Rand biegen, um wiederstrebende Stoffe in das Hauptgefüge einzufilzen. Das Zusammenwirken erfolgt mit Hülfe von Spinngeweben und dem Speichel des Vogels, indem er nach jedem Andruck mit Hals, Brust, Leib, Flügeln, Füssen und Schwanz bald die Schnabelspitze zum Verfilzen gebraucht, bald mit geöffneten Kiefern oder mit seitlicher Bewegung derselben die Stoffe zerwirkt und glättet. Das inzwischen entstandene äussere Nestgerüste ist jetzt 5-6 em hoch ange- wachsen und erscheint an seimem oberen Rande etwas nach innen gewölbt, in der Form der Schale einer tiefen Kaffeetasse vergleichbar. Bemerkenswerth ist die auffallende Ähnlichkeit der äusseren Nestbekleidung mit dem Über- zug der Äste des Nistbaumes, weil Frau Finkin zu ihrem Ban ganz gleiche or ähnliche Stoffe zur äusseren Bekleidung anwendet. Diescibn oder täuschend ähnliche Moose und Flechten, wie der Ast, worauf es steht, er- blicken wir auch an der äussern Wand des Nestes, das einem faustdicken Knorren des Baumes gleicht. Nach Vollendung dieses äusseren Gebildes geht das Finkenweibchen an die Auspolsterung des Innern. Dies wird zuerst mit einer Lage Wolle oder 77 n EZ Milan Ih Buchfinke beim Nest. 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 53 Moos hergestellt, auf welche eine Auskleidung von horizontal im Kreise ge- wundenen Pferdehaaren und feinen Federn so zierlich und regelmässig er- folgt, wie es wohlgefälliger nicht gedacht werden kann. Jedes Haar und jede Feder wird auf’s Sorgfältigste durch den Schnabel gezogen, um sodann mittelst der Schnabelspitze m die Rundung der Nestwand angelehnt und ein- gefügt zu werden. Haar an Haar reiht sich in regelmässigen Bogen anein- ander, und jede Feder steht mit ihrer Fahne meist nach oben oder neben, während die Kielchen in der Regel nach ‘unten oder seitwärts sorgsam mit ihren Spitzen eingefilzt und mit Haaren, Fädchen oder Hälmchen haltbar überzogen werden. Dem oberen, leis überbogenen Rand gibt der Vogel sehr säuberlich und glatt einen Flechtenüberzug, den er mit Spinngeweben und seinem Speichel zerwirkt und aufklebt und über die obere Lage der Pferde- haare und Halme verfilzend zieht. Am zierlichsten und der Umgebung am meisten angepasst finden wir das Nest des Finken m unsern Buchenwaldungen. Unser Bild ist einem solchen aus der Natur getreu nachgebildet. Meist ununterbrochen jeden Vormittag und auch manche Stunde des Nachmittags beschäftigt sich der Vogel mit dem Bau seiner Kunstwohnung, bis diese elegant und wohlgerundet mit dem achten Tage vollendet ist. Behaglich gibt sich der Vogel dem Baugeschäfte hin, während ihn der Hahn von benachbarten Zweigen mit seinem schmetternden Gesange des „Bräutigams“, „Reiterzugs“ und anderer berühmter Edelfinkenweisen auf's Angenehmste unterhält. Dem Kunstbau des Edelfinken kann das m Form sowohl, als in dem soliden, wohlgefälligen Filzgebilde errichtete Nest unserer Schwanzmeise an die Seite gestellt werden. Wir heben bei dem Nestbau der Schwanzmeise nur ganz besonders Charakteristisches hervor, während wir zur Vermeidung von Wiederholungen das schon bei andern Vögeln Vorgeführte nur in allgemeinen Umrissen er- wähnen oder berühren. Das Nisten der Schwanzmeisen beginnt in der Regel während der ersten Hälfte des April. Es ist em wahrer Genuss für das Auge, die anmuthigen Thierchen bei ihrer Beschäftigung zu beobachten. Mit sichtlichem Behagen und Wohlgefallen geben sich beide Gatten derselben hin. Die niedlichen Baumeister sieht man am rührigsten in der Frühe bis gegen 11 Uhr Morgens. In Zwischenräumen von 5—8 Minuten, je nach der kleineren oder grösseren Entfernung der Orte, woselbst die Baustoffe herbeigeholt werden, erscheinen die Vögelchen gewöhnlich eines um das andere mit Material zur Niststelle. Diese wird meist in einem Quirl oder einer derben Gabel gesucht, da wo sich an Obst- und andern Bäumen der Stamm in Aste theilt. In Wach- holder- und Dornsträuchern, in welchen es ebenfalls häufig angetroifen wird, steht es gleichfalls mit seinem Fundamente stets auf einem Aste oder starken 54 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Zweigen, niemals aber hängend, wie das Nest des Pirols oder des Goldhähn- chens. Mit dem Auftragen der rostartigen Unterlage wird natürlicherweise begonnen. Sehr geschickt und fest setzen die Thierchen mit ihren kurzen Schnäbelehen die Moos- und Flechtenbündel mit Thierwolle und Spinnen- geweben in den natürlichen Überzug der Rinde an den Asten. In Gebüschen, in welchen ihnen sowohl die Grundlage breiterer Aste, als auch der Moos- und Flechtenüberzug der borkigen Baumäste mangelt, helfen sich die kleinen Baumeister dadurch, dass sie mittelst Wolle, Spimnengewebe und feiner Grashalmen die ersten Grundlagen für den Bau um die Zweige wickeln und diesem Umwickeln noch durch Zuthat ihres Speichels mehr Halt verleihen. Der Aufbau der hohen Nestwände, sowie die Überwölbung des ganzen Nestes geschieht bis zu einer gewissen Höhe, anfangs von innen aus, seltener hilft eines oder das andere des Paares von der Aussenseite nach. Da das Nest der Schwanzmeise eiförmig und viel höher wird, als der Vogel selbst ist, so nöthigt es ihn, seinen Standpunkt in der Mitte beim Höherwerden der Nest- wand zu verlassen und abwechselnd von aussen und dadurch, dass er sich an der Innenseite anhängt, fortzubauen. Ausschliesslich von aussen besorgen die Vögel die Durchführung langer Halme in dem äusseren Wandfilzwerke, sowie die Verkittung desselben mit Flechtenüberzug, welcher äusserst zierlich und glatt mittelst Speichels und Spinnweben bewirkt wird. Die Verfilzung mit Flechten und Glättung des kreisrunden, die netten Vögelchen kaum durchlassenden Fluglochs oder Fensterchens geschieht gleichfalls von aussen. An die innere Fläche der Aussenwandung wird nunmehr ein feines Zwischen- gebilde, dessen Hauptbestandtheil aus feinem Moos besteht, gefilzt, uud hier- auf die Auspolsterung des eigentlichen Nestinnern vollzogen. Hierzu ver- wenden die Meisen mit Vorliebe Federn, hauptsächlich Hühner- und Hahnenfedern, und es ist zu verwundern, in welcher Schnelligkeit dieser Baustoff oft auf weite Strecken herbeigeholt wird. Grerade bei dieser Ar- beit lösen sich am meisten die beiden Gatten ab, ja es scheint das Bauspiel mit Federn eine Art Leidenschaft der Vögelchen zu sein, da sie es mit so viel Behagen, so verschwenderisch und solchermassen anhaltend thun, dass nicht allein eines dem andern Federn durchs Flugloch reicht, sondern das Männchen auch, während das Weibchen Eier legt und brütet, hin und wieder noch Federn zuträgt und sie am Filzwerk anbringt. Gar anmuthig anzuschauen ist es, wenn die beiden niedlichen Gatten gemeiniglich gegen 11 Uhr Vormittags über den Nachmittag Rast von ihrem Baugeschäfte halten, in einem Baume sitzen und die Federn ordnen, oder sich nach dem Ausruhen rührig dem Inseetenfange, Spiel und Kurzweil hin- geben, wobei sie die überraschendsten, zierlichsten Bewegungen ausführen und Luftschwenkungen und Purzelbäume in der Luft ausführen, bei welchen die langen Schwänze sich wie Balancirstäbchen ausnehmen. Zur Vollendung dieses Kunstbaues gebraucht das Paar gewöhnlich drei 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 55 Wochen, ja es ordnet und bessert noch in der Brutzeit öfters sowohl von Aussen als im Innern nach. In der Regel sahen wir die Gatten in Zwischen- räumen von 6 zu 6 Minuten abwechselnd mit Baumaterial zum Nistplatze kehren. Gewöhnlich entfernt sich das Paar nicht über 200 Schritte von seinem Stande, ausgenommen in den eben hervorgehobenen Fällen des Her- beiholens von Federn aus Dörfern oder Gehöften in ferne Waldungen. Das vollendete Nest ist ein wahrer Kunstbau, der das Auge des Be- schauers in hohem Grade erfreut. Es hat in der Regel eine fast regelmässige elliptische oder Eigestalt. Je nach der Form seiner Baumunterlage erscheint es unten mehr oder weniger breit und verjüngt sich nach seiner oberen Wölbung hin, die von dem etwa 23 mm breiten Flugloche an etwas nach vorn geneigt ist, während die hintere Partie des ganzen Nestes eine starke Wölbung nach vorn hat, besonders wenn das Nest mehr frei und nur bis zur Mitte an Seitenästen angelehnt erscheint. Die ganze Höhe des Nestes beträgt gewöhnlich 15—17,5 cm, sein äusserer Umfang 8,5—10 cm. Unter- suchen wir sein Gefüge näher, so stellt sich das ganze Nest als ein regel- mässig durchgeführtes Filzgebilde dar, welches eme ungemeine Dehnbarkeit besitzt. Es lässt sich eine grössere äussere Wandung entdecken, bestehend aus einem Filzwerk von Wolle, Puppengehäusen, Moos, Faserwürzelchen und Grashalmen, überall durchwirkt von Spinnengeweben und überkittet von verschieden gefärbten, der jeweiligen Umgebung angepassten Flechten. All mälig geht diese äussere Lage über in eine mittlere von Moos und Gras- stengeln, welche mit der ersteren durch Schafwolle und Gespinnste zerwirkt ist. Endlich findet sich das Innere von unten bis oben reichlich und regel- mässig ausgelegt mit Federn, deren Spulen meist in dem mittleren Moosfilz eingeheftet sind. Die Loslösung des Nestes zeigt, dass dasselbe gemeiniglich auf einem 4—5 cm dicken Untersatze ruht, welcher bei anhaltendem Regen oft feucht bleibt, während es an den Stellen, woselbst es Aste oder Zweige berührt, stark eingeschnitten und dünnwandig erscheint. Sehr ähnlich wie der Edelfinke verfährt der Distelfinke oder Stieglitz bei dem Bau seines Nestes. Dies ist aber viel kleiner, doch oft mit ähnlichen Stoffen gefertigt wie das Edelfinkennest; nur befestigt es der Stieglitz, entgegen dem Buchfinken, in das dünnere Gezweig, oft an die äussersten Gabelspitzen der Aste und Wipfel. Der sehr spitze Schnabel dieser Finkenart, von welcher das Weibchen ebenfalls allein baut, befähigt sie vorzugsweise zu netter, gefälliger Filzarbeit, und es gewährt das nied- liche, zierliche Nestehen mit den bunten, eleganten Vögeln einen prächtigen Anblick. Einem interessanten Nestbau emes filzenden Vogels dürfen wir nicht vorübergehen, weil er sich neben netter, gefälliger Gestaltung durch auf- fallende Baustoffe vor andern auszeichnet. Es ist das Nest der Bastard nachtigall oder ds Gartenlaubvogels. 56 | 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Das Paar hat durch seine melodischen Lockrufe, das Weibchen mit den Sylben „Deterä“, der männliche Vogel mit einem noch wohlklingenderen „De- teroi“, bereits seinen Nistplatz verrathen. Unter den zur Nestanlage in einem Parke oder einem Auwäldchen beliebten Randbüschen des Flieders (Syringa vul- garis), Hasels, Hartriegels, des Fichtenbaumes, der jungen Buchen und Ahorne hat es diesmal einen Jasminstrauch bevorzugt. Wir sehen das Männchen anfänglich beim Nestbau besonders emsig sich betheiligen und mit dem blasseren Weibchen oft grosse Bündel dürrer Grashalme, Thier- und Pllanzen- wolle, sowie vorzugsweise gerne die weisse Oberhaut der Birkenrinde her- zutragen und ähnlich wie die Pirole, doch jedes des Paares allem, an die Zweige befestigen. Als echte Baum- und Strauchvögel vermeiden sie sicht- lich das Betreten des Bodens und suchen sich die Baustoffe lieber von nie- deren Zweigen herab aus der Tiefe anzueignen, oder erbeuten Grashalmen» Moos, Flechten, Gespinste u. dgl. m. eher auf alten Stöcken und von der knorrigen Rinde der Bäume, als von der Erde. Die Vögel scheinen eine grosse Vorliebe zur Verbrämung der äusseren Nestwand mit allerlei auf- fallenden Stoffen zu haben: denn wie die Birkenbaststreifen werden auch Hobelspäne und Papierschnitzel zur Decoration gewählt und geschickt in die Wandungen mit Gespinnsten und Wolle verfilzt. Sehr gerne wirkt auch die Bastardnachtigall grüne Blätter und sogar stärkere Zweige der Um- gebung in die Nestwand ein, wie wir dies an unserem der Natur nachgezeich- neten Bilde gewahren. Die Vögel biegen sich gar artig über den Nestrand, ergreifen mit dem feinen, spitzen Schnabel ein Blatt, um es vorerst m das Material der Aussenwand zu biegen und sodann mit Halmen, Stengeln, Moos und Wolle fester an die Stelle einzufilzen. Zweige werden oft 4-6 cm lang in die Wand eingesponnen. Die Mulde wird ebenso oft durch schmale und breite Grashalmen unter Einfilzung von Gespinnsten und Pferdehaaren, als mit einer guten Polsterung von Federn gefertigt, von welchen die obere Lage meist über den übergebogenen Nestrand hervorragt. Auch an der Aussenwand des Nestes erblickt man hin und wieder die Verzierung mit Federn unter den schon erwähnten auffälligen Stoffen. Die Zeichnung stellt ein Nest der letzteren Art dar. Wir fanden es in emem Jasminbusch unweit eines Teiches in einem Parke unserer Heimath, während uns andere Nester des Gartenlaubvogels zu Gesicht gekommen, die hauptsächlich nur aus Grasstengeln und Halmen mit Gespinnsten und wenigen Pferdehaaren mehr gewoben als gefilzt waren, auch die beutelförmige Gestalt der Mehr- zahl der Bastardnachtigallen - Nester nicht besassen. Diese einfacheren, leichteren und kunstloseren Nester sind Gebilde jüngerer Vögel oder nach Zer- störung der ersten in der zweiten Brut gefertigte, bei welcher die Paare meist nicht mehr die Sorgfalt im Nestbau anwenden, wie zur Zeit der ersten Brut. Eines unserer entschiedensten vaterländischen Charaktervögel haben wir neben seiner Vielseitigkeit auch Angesichts seiner Kunstfertigkeit im Nest- \\ N < N II gr = x IL / 2 7 Brütende Bastardnachtigall. 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 57 bau zu gedenken. Es ist der Zaunkönig, von dem wir in unsern Thier- wohnungen Folgendes berichten: „Beim Nestbau entfaltet der Zaunkönig neben grossem Kunsttalente alle seine Rühriskeit, Beharrlichkeit und Ausdauer. Er bekundet hier so recht sprechend, dass ein Riese in dem Zwerge wohnt. Mit seinem herr- lichen, an den Kanarienvogel-Gesang erinnernden Liede hat er schon früh im März die durch alle Hecken und Büsche erjagte Lebensgefährtin be- zaubert, mit von Gesang gehobener Laune geht er auch mit ihr an den Nestbau. Zwei, ja drei Bauten fängt der muntere Hochzeiter im unge- stümen Drange voreilig an, lässt sie aber, nur halb vollendet, unbenutzt stehen, bis sich das Weibehen endlich ganz heimlich eine Stelle gesucht, woselbst die eigentliche Wiege für die Nachkommenschaft gegründet wer- den soll“... Die von dem Männchen erbauten Nester sind alle „unfertig, locker, oft nur halb gewölbt, entbehren regelmässig der Auspolsterung mit Federn und sind viel kleiner als die eigentliche Nistwohnung.“ Dieser Drang zu bauen ist nichts anderes, „als eine wohlige Spielerei des minnebezauberten kleinen Wesens, sowie wir sie an dem vielfach erregten Mönche in dieser Zeit be- merkten. Das liebeselige Männchen gibt sich offen und rückhaltslos dem Baugeschäfte hin, dass man es oft mit der Hand fangen kann, wenn es mit Gesang in das Nest eingeschlüpft ist. Sind die Männchen wirklich gepaart, und hat das Weibchen irgend eine Stelle zur Errichtung der Familien- wohnung ausgesucht, so enden alsbald diese Belustigungen. Nur ungepaarte Männchen treiben die Spielereien fort, wie wir es noch vor einigen Jahren an einem Beispiele“ (und später zu wiederholtenmalen) „erfahren haben, wo ein einsames Hähnchen im vergeblichen Drange nach der Seligkeit des Familienlebens zwei unfertige, lose Moosnester in Mauerlöcher anlegte. Nie- mals hingegen sahen wir beide Gatten gemeimschaftlich solche Bauten fer- tigen, auch niemals bei der grössten Aufmerksamkeit, die wir dem Gegen- stande widmeten, bis jetzt die Männchen diese angefangenen Nester etwa als Schlafstätten benutzen.“ Wir fügen dieser 1869 niedergelesten Behauptung nunmehr nach mehr als einem Decennium ergänzend hinzu, dass wir in einem Falle Zaunkönige, welche offenbar aus einer Brut stammten nnd sich noch zusammenhielten, wiederholt Abends ein in einem Holzstalle befindliches altes Zaunkönignest — wahrscheinlich die Wiege der Vögelehen — zur Schlafstätte im Winter benutzen sahen. Es trifft diese Beobachtung mit einigen anderwärts mit- getheilten überein, wo (junge) Zaunkönige Schwalbennester zu Schlafstätten wählten. Die Erbauer der unfertigen Nester, also die alten ungepaarten Männchen, haben wir nie, wie mancherseits behauptet wird, in ihren selbst- gefertigten Nestern, weder gleich nach deren Vollendung noch später, zu Schlafplätzen benutzen sehen, so oft wir Abends solche Bauten auch con- 58 2. Die Nestbaukunst der Vögel. trolirten. Der alte Zaunkönig schläft vermöge seiner gegen Kälte unempfind- lichen, derben Natur, in einem Winkel oder einem geschützten Orte. „In diesem Frühjahre“ — fahren wir in dem oben angeführten Werke fort — „beobachteten wir in einer Scheune unseres Wohnorts aufmerksam das Treiben eines Zaunkönigpaares beim Nestbau. Richtig hatte das Männchen im ersten Liebes- und Frühlingsrausche sein Scheinnest ganz offen auf einem niedrigen Balken der Scheune angelegt, und wir glaubten schon den Nestbau hier ausführlich beobachten zu können; als wir plötzlich durch das Ab- und Zufliegen des Weibchens oben im sogenannten „Eulenloch“ der Scheune aufmerksam geworden, den Anfang des eigentlichen Nestes unter dem Lehmverband des Strohdaches gewahrten. Alsbald im Stroh auf dem Gerüste verborgen, konnten wir unbemerkt ganz nahe sehen, wie das Männ- chen bereits seinen Scheinbau verlassen hatte und mit dem Weibchen mehr- mals die gewählte Niststelle im Dache besuchte. Der uns schon aus un- serer Jugendzeit wohlbekannte charakteristische Grundbau des Nestes war bereits weit vorgeschritten. Er bestand in einer zwei Zoll (= 5 em) dieken Grundlage von Stroh, Aehren, dürren Blättern und Halmen, förmlich hinein- gedrängt und eingeflochten in einen schief herabhängenden Bündel Dach- stroh, welches durch eine Ritze im Lehmgefach des Daches durchgebrochen war. Der herabhängende Bündel Stroh bildete mit der Dachfläche nach oben einen sehr stumpfen Winkel, zwischen welchem der Anfang des Nestes begonnen hatte. An die beschriebene Nestgrundlage schloss sich dachauf- wärts ein nach oben verjüngter elliptischer Kranz oder Ring von Moos, Blättern und Stroh, welchen wir bewundernswerth fest fanden. Das Moos erschien in kleinen rundlichen Büscheln förmlich in einander gestülpt und verfilzt, und ausserdem waren die ganz dürren Blätter und Strohhalme in diese Masse geschickt eingewebt. In unserer Jugend hatten wir mehrmals Gelegenheit, die Anfänge der Nestbereitung in dem sogenannten Burggarten der Stadt Friedberg, woselbst damals der Zaunkönig auffallend häufig vor- kam, entstehen zu sehen. An dem Vorgewölbe emiger Keller in den Mauern der westlichen Seite des Gartens hefteten einige Pärchen regelmässig im Frühjahre ihren Grundbau schwalbennestartig an. Auf einem schmalen Vorsprunge begannen ihn die Thierchen mittelst einer Grundlage von Moos, dürren Ahomblättern und Geniste und errichteten nun von diesem Punkte aus, rechts und links aufsteigend, den eiförmigen, nach oben sich verjüngen- den Ring, der sich stets an die Gewölbsdecke anschloss. Eines der Vögel hängte sich an die Mauer, um die Anheftstelle zur Anklebung des Baustoffs mit Speichel zu bestreichen, während das andere alsbald mit kleinen Partien Moos oder einem beliebten Blatt der Platane oder des Ahorns im Schnabel erschien, welches Material nun zuweilen von beiden Gatten im kleineren Partien verarbeitet und angeklebt wurde. Manchmal übersprangen die Thier- chen eine Strecke, um an besonders unebenen Plätzen der Mauer ihr Kitt- 2. Die Nestbaukunst der Vögel. h 59 werk bündelweise anzubringen und dann erst die Zwischenräume von beiden Enden der angefangenen Stellen aus allmälich auszufüllen. Merkwürdig ist es, wie die Vögel dem Ringbau die fast regelmässig elliptische Form zu geben vermögen, ohne hier einen besonderen Massstab an ihren Gliedmassen zu haben.“ — „Sehr begierig, wie wir waren, den Fortgang des Nestbaues in der Scheune zu beobachten, verfügten wir uns — da es zur Zeit, als wir das angefangene Nest daselbst entdeckten, schon gegen Abend ging und die Vögel zu bauen aufhörten — des anderen Morgens frühe wieder in unser Versteck in die Scheune. Höchst anziehend war das emsige Treiben der netten Geschöpfe bei ihrer Arbeit. Eines um das andere hing sich rechts und links an den Grundbau, nachdem sie in höchst komischem Aufzuge mit einem Bündel Materials von der eigenen Grösse im Schnabel erschienen, das nun von der Grundlage aus allmäligs den Ringansatz hinauf als Filz an- geklebt wurde. Sobald der Grundbau aber emmal die Höhe von drei Zoll (= 1,5 cm) erreicht hatte, begannen die Vögel von innen zu bauen. Ab- wechselnd setzten sie sich in mehrerwähnter Weise in das Innere der Grund- lage und formten mit den herbeigetragenen Stoffen rasch durch Drehen und Andrücken der Flügelchen das Gewölbe nach und nach über sich, während ihr spitzer, länglicher Pfriemenschnabel beständig das Filzgeschäft mittelst Verschlingens grosser Moosballen mit anderem Material bewirkte. Charakteristisch ist dabei die Controle, welche die Thierchen immer nach einem gewissen Anwachsen der Wölbung ausübten. Sie hingen sich von aussen an die Wandung und halfen durch Einfilzung und Verflechten, wofür sie immer Blätter, Halme, Würzelchen und mehrmals Hobelspäne ver- wandten mit dem Schnabel überall nach. Offenbar nahmen die Vögel nun- mehr den Speichel viel spärlicher oder gar nicht mehr zu Hülfe. Nur bei der Verfilzung der Wandung mit dem Ringansatze und bei der Bildung des Fluglochs verwandten sie ihn nicht allein, sondern entwickelten während letzterer auch erneute Thätigkeit und Kunst. Das Flugloch entstand am dritten Tage folgendermassen. Nachdem die Erhöhung der Wandung von unten bis zu der Stelle vorgeschritten war, an welcher der untere Rahmen des Fensters angebracht werden sollte, filzte das Pärchen vom Ringe an der Lehmwand aus allerseits an, sodass nach Vollendung einer unvollständigen, lockeren Mooskuppel eine ziemlich unregelmässige, hin und wieder unter- brochene, flache Oeffnung von 1! bis 2 Zoll (= 3,15—5 em) im Durch- messer blieb. Nun wurde eine Art Vor- oder Anbau von Blättern, Hobel- spänen und Moos vor und zwischen der Oeffnung angefilzt und Stengel und Stroh mittels Speichels der Schnäbelchen, theils bogenförmig, theils nach unten eingeknickt, lagenweise angeflochten und verklebt, wodurch eime zoll- breite, besonders nach unten trichterförmig erweiterte Oeflnung mit einem 1!% Zoll langen, kreisrunden Gang entstand. Die Halme wurden theils nach 60 2. Die Nestbaukunst der Vögel. aussen, theils von innen angebogen und. befestigt, wobei die Thierchen eine anmuthige Emsigkeit und Geschicklichkeit entwickelten. Jeden Halm zogen sie wiederholt und so lange durch die Schnäbelchen, bis er sich geschmeidig und nett in die Rundung fügte. Blätter und Moos wurden da- zwischen gefilzt und im Gange nahm das Moos immer mehr zu. “Nach dieser Herrichtung schlüpften die Thierchen lange Zeit mit zärteren Moos- bündeln im Schnabel in’s Innere, um dasselbe mit diesem Materiale auszu- polstern. Zwei Tage darauf, also am fünften unserer Beobachtung (wir waren an dem fortgesetzen Besuche der Scheune verhindert) fanden wir bei unserer Ankunft am Nachmittage fast das ganze Innere bereits mit Hühner- und Entenfedern zart und glatt belegt und das Weibchen nur höchst spärlich mit Eintragen von Federn beschäftigt, während das Männchen im nahen Grasgarten die Vollendung des zehnfach die eigne Grösse übertreffenden Kunstbaues in schmetterndem Gesang feierte.“ „Die Rückseite des Nestes war und blieb sehr lückenhaft und lose mit einigen Moosbündeln belegt, während die übrige Wandung glatt, dicht und fest erschien.“ In dem Orte des ehemal. hessischen Hinterlandes Sinkershausen ent- deckten wir ein Zaunkönignest unter dem Strohdache eimer Stallung. Es war mit der hinteren und oberen Wand in die Halme eines aus dem Dache etwas heraushängenden Bündels Stroh originell eingestülpt und vertlochten. Die Mulde oder der Boden des Nestes wurde mattenartig durch Strohhalme getragen. Aus dem Grunde hatten die Vögel aus dem Ende des Strohbündels Halme gezogen und diese in Bögen um den Napf des Nestes geführt und an der Gegenseite sehr fest in den Strohbündel wieder verflochten. Das mit Federn ausgepolsterte Ganze war wie mit dem Stroh verwachsen und bot einen sinnreichen, von der Überlegung der Thierchen sprechend zeugeuden äusserst kunstvollen und netten Anblick. „Kin Holzhauer“ — erwähnen wir in unsern Thierwohnungen — „zeigte uns eines Tages das Nest eines Zaunkönigs, das unter dem Rain einer alten Steinkaute sehr künstlich angebracht war. Es hing fast frei als ein 6 Zoll (15 cm) langer, ovaler Beutel an der überhängenden wurzelreichen Lehm- und Steinwand des Rames. Die obere Wölbung und ein Theil der Rückseite war theils an dem steinigen Lehm fest und breit angeklebt, theils an einige Wurzeln des Uberhanges mittelst Schafwolle und Bast geflochten. Die Hauptstoffe bildeten Moos mit durchflochtenen Grashalmen und Bastschnüren hin und wieder mit einigen dürren Blättern von der Buche und Eiche ver- filzt. Offenbar war das Nest von der Kuppel abwärts gebaut. Das zeigte deutlich das Gefüge. Dachziegel- oder dütenförmig lag nach aussen eine Mooslage über der andern, sodass die obere immer über die untere hervor- ragte. Halme und Bast hatte der Vogel entweder ganz oder nahezu wage- recht in Schnüren eingeflochten und so immer vermehrte Anheftpunkte für 2. Die Nestbaukunst der Vögel. | 61 den Fortbau nach unten erhalten. In merkwürdiger Weise erschienen im Boden des Nestes die Bastschnüren und Halme, gerade entgegengesetzt den horizontalen, reifartigen an den Seiten, als senkrecht bogenförmiges Gerüste, in welches Moos und starke Blätter sehr dicht und fest eingefilzt waren. Das Innere bestand theilweise aus gekrümmten, sehr auffallend hellgelb ge- färbten Hahnenfedern, ein Umstand, dem schon der Finder des Nestes seine Aufmerksamkeit zugewendet und eine Deutung gegeben, die sich durch unsere Untersuchung als vollständig richtig bewährte. Wo hatten die Vögel- chen diese Hahnenfedern an der einsamen Waldhalde, die von der nächsten Ortschaft mindestens eine halbe Stunde Wegs entfernt war, hergenommen ? Dies war die Frage, die sich unwillkürlich aufwarf. Durch den philoso- phirenden Waldbruder auf den „hellgelben Gickel“ in dem nächsten Orte aufmerksam gemacht, verfügten wir uns mit lebhaftem Interesse in das be- zeichnete Bauerngehöfte und fanden den gelben Hahn richtig in der Hof- raithe. Die sichtliche Übereinstimmung der bogigen Federn am Grunde seines Schwanzes mit den Nestfedern liess gar keinen Zweifel über den Ursprung und Erwerb der letzteren. So weit waren die schlechtfliegenden Zaunkönige, die sich sonst niemals über so grosse freie Strecken, wie hier nothwendig, wagen, gewandert, um ein paar Federn im Hofe oder in den anstossenden Grasgärten zu sammeln! Gewiss eine merkwürdige Entfaltung des Bautriebes und eben wohl eine sprechende Thatsache, dass der Zaun- könig für die Auspolsterung der eigentlichen Familienwohnung vorzugsweise, unter Umständen ausschliesslich, Federn wählt!“ Ausserdem ist ein von uns einst an einem Brückenbalken entdecktes hängendes Nest zu erwähnen, welches davon zeugte, dass der Zaunkönig nicht immer, wie gewöhnlich, eine Stütze oder Unterlage zur Anheftung seines Nestes bedarf, sondern dasselbe auch an senkrechte Wände kleben kann. Das gefundene grosse Nest von Platanenblättern haftete an der etwas verwitterten senkrechten Wand des Balkens und war sehr reichlich mit In- seetengeweben durchwirkt und überall durch Beigabe von Speichel haltbar gemacht. Seitdem sind wir unter unzähligen normalen Nestern des Vögelchens in den Besitz eines solchen gekommen, welches einzig in seiner Art ist. Bei Gelegenheit der Wegräumung von Büschen und Gestrüpp in Folge Nivelli- rens einer Waldwegestrecke fanden in unserm Beisein Hülfsarbeiter das Nest eines Zaunkönigs in emem Wachholderbusche. Dasselbe war von aussen vorherrschend mit Moos und dürren Blättern umgeben, wie die meisten Nester des Zwergvogels in den Gebüschen und andern Ortlichkeiten des Waldes es zeigen. Beim Untersuchen des Nestinnern erstaunten wir aber nicht wenig, als dasselbe mit Erde gebaut erschien. Wir untersuchten die Structur desselben genau. Die Aussenwand war, wie angegeben, eine mit einzelnen dürren Buchen- und Eichenblättern, sowie Grashalmen verflochtene 62 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Moosschicht. Auf diese folgte eine merkwürdige 4—7 mm im Durchschnitt dicke Lage von Erde. Diese bestand sammt der des Vorbaues, dem Flug- loche und dem Überbaue, dem Hauptstoff nach aus lehmiger Walderde, in welcher ganz feines Wurzelwerk der gemeinen Haide, einiges wahrscheinlich mit dem Erdstoff zugleich aufgenommene Geniste und dünne Grashalme eingewirkt waren. Die Masse war unten in der Mulde am dicksten, nach oben zu an Dicke etwas abnehmend, sehr fest und glich dem Zwischenbau an Nestern der Schwarzamsel. Das Innere erschien ausgekleidet mit moos- durchfilzten Grashalmen, Rosshaaren und Federn von Hausgeflügel. Es war ein frisches Nest in welchem das Gelege noch nicht vollzählig. Wir haben es dem Museum der Universität Giessen zum Geschenk gegeben. Hieran reihen wir eme Mittheilung über ein ebenso der Form nach seltenes Zaunkönignest, welche uns im Jahre 1372 ein Forstkandidat R. Pe- lissier aus Frankfurt a/M. so gütig war brieflich zukommen zu lassen „Am 30. Mai 1871“ — so schreibt der Genannte — „fand ich in einem in der Nähe unseres Hauses gelegenen, verwilderten und selten betretenen Garten ungefähr 5 Schritte vom Wege ein oben offenes Zaunkönignest. Es stand mitten in der Gabel, welche zwei junge Bäume dicht am Boden bildeten und ruhte auf einer verhältnissmässig sehr grossen, aber lose aufgeschichteten Unterlage von Platanen-, Buchen-, Ahorn- und anderem dürren Laub, Stengeln und Strohhalmen. Ausserlich bestand es aus denselben Stoffen und in- wendig war es mit Fichtennadeln und feinen Würzelchen sorgfältig ausge- füttert. Das Nest hatte ein runde Gestalt und eine sehr tiefe, napfförmige Mulde. Die Blätter der Nestwandungen waren alle fest unter einander geschoben und mit dem Speichel des Vögelchens an einander geklebt. Das Nest selbst war mit der Unterlage so gut wie gar nicht verbunden, sodass ich es leicht herausnehmen konnte. Es war schon die Unterlage nur wenig kleiner als ein Schwarzamselnest und hielt ungefähr 4° (= 10 cm) im Durchmesser. Es enthielt 6—7 junge Zaunkönige, welche schon flügge waren, als ich sie zum erstenmale sah, und wirklich auch wenige Stunden danach ausflogen. Sobald das Nest leer war, nahm ich es natürlich mitsammt der Unterlage mit nach Hause und beschrieb es mit obigen Worten. Sie können sich auf die Genauigkeit meiner Beobachtung vollständig verlassen, sowie auch darauf, dass es wirklich junge Zaunkönige waren.“ Die Schaufler und Minirer. Obgleich sich unter unseren einheimischen Vögeln nicht eine einzige Art befindet, welche einzig und allein als Schaufler im eigentlichen Sinne bei ihrer Nestbereitung auftritt, wie z. B. die Grossfüsser (Megapodiden) Neuhollands, welche einen wahren Wall fertigen als Nistplatz oder vielmehr Niederlage für ihre Eier, welche durch die unter diesem Aufwurfe sich 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 63° bildende Wärme von selbst gezeitigt werden: — so wird doch bei manchen unserer Minirer oder Erdhöhlenfertiger auch die Eigenschaft des Schaufelns sichtbar. Namentlich haben wir eine Vertreterin dieser Bauart, welche zu- gleich mit dem Minirgeschäft ausgeübt wird, in unserer Uferschwalbe. Ihre Bauarbeit, in welcher sie Bewunderungswürdiges leistet, kann für die Kunst des Minirens und Schaufelns aller andern Vogelarten sprechen. Bei oberflächlichem Blicke halten wir es für unmöglich, dass das schmäch- tige Vögelchen eine so ausdauernde und geschickte Arbeit bestehen könnte; prüfen wir aber seinen Körper näher, dann erkennen wir auch die ent- sprechenden Werkzeuge zur Ausführung dieser Bethätigung. Da ist der zwar kurze und kleine Schnabel, der uns anfänglich die Fähigkeit des Thier- chens bezweifeln lässt, die Riesenarbeit des Minirens zu bewältigen; aber die Härte, die schneidige Kantung und die entschieden scharfe Zuspitzung seiner Kiefern geben uns den gleichen Aufschluss von seiner Befähigung, wie die ausserordentlich scharfbekrallten Füsse. Dieses Schnäbelchen ist der natürliche Spitzhammer unseres kleinen Steinmetzen, die Füsse die natür- lichen Steigeisen zum Anklammern an den steilen Wänden und Überhängen eines Ufers, eines Hohlweges oder Engpasses. Durch Hin- und Herrücken oder in kurz abgesetzten Bogenflügen hat es bald die passende Stelle ge- funden, die nicht gerade zu locker und auch nicht gerade zu fest ist für sein Baugeschäft. Hier und da hackt der Schnabel probend in die Wand, bis das richtige Plätzchen ausgewählt ist. Nun entfaltet sich bei dem Schwälbehen eine Baumanier, die als Regel das umgekehrte Verfahren der meisten ge- fiederten Baukünstler erblicken lässt: der kleine Minirer beschreibt mit dem Hinterleibe und den Füssen einen Kreis um seinen Kopf, dessen Schnabel die Stelle an der Wand zu eimer Wohnung aushöhlt; während sich — wie wir bereits wissen — gewöhnlich das Vordertheil des nestbauenden Vogels um die Fersen als Angelpunkt dreht. Emsig und ausdauernd bearbeitet die Uferschwalbe mit dem harten Schnä- belehen unter eingezogenem Halse die Lehmwand, dass nach allen Seiten die Erde wegspringt. In kurzer Zeit hat sich das scharfe Werkzeug eine runde Vertiefung — das zukünftige Flugloch des Schwalbenhauses — bereitet, in welcher die Minirerin jetzt bequemen Fuss fassen kann. Unversehens fördert die Arbeit, sodass das schanzende Vögelchen bald in der Wand ver- schwunden ist, und von nun an ein gutes Fernrohr uns das fernere Be- nehmen des Thierchens aufdecken muss. Man gewahrt jetzt dasselbe bald neben, bald oben und unten hängend in der für bequemeres Vordringen er- weiterten Höhlung, diese fortwährend im Kreise mit dem Schnabel bearbeitend. Hierdurch löst sich Schutt in der Höhle ab, dessen Entfernung sich der Vogel durch Herausscharren mittelst der Füsse angelegen sein lässt. Diese Mühe der kleinen Füsse steigert sich beim tieferen Eindringen im die Wand. Doch Fleiss und Beharrlichkeit, sowie eine gewisse Planmässigkeit helfen auch 64 2. Die Nestbaukunst der Vögel. diese starke Arbeit für das schwache Schwälbchen überwinden. Grössere Brocken schiebt der Vogelleib gemach nach dem Ausgang, um sie dann durch ein plötzliches Anstemmen über den Rand hinabzuschaufeln. So schafft sich der kleine Erdarbeiter allmählich ins Innere, einen etwas schräg nach oben gehenden runden Gang herstellend, so dass emdringendes Regenwasser alsbald wieder abfliessen kann. Das am höchsten liegende Ende des Laufes wird für das kunstlose, aus einer einfachen Unterlage von Greniste und Federn bestehende Nest entsprechend erweitert. Die Höhlung führt meist in ge- rader Richtung, bisweilen aber auch an Steinen und Wurzeln gewunden vorbei, und dringt, von besonders geübten alten Vögeln angelest, gewöhnlich einen halben Meter, bisweilen aber auch bis dreiviertel Meter in die Erde. Da die Uferschwalbe colonienweise lebt und nistet, so sehen wir die Wohnungsplätze an den Ufer- und Klippenwänden regelmässig vielfach durch- löchert. Die Vögel wissen ihre Wohnungen aber stets so anzulegen, dass Raubthiere, wie Wiesel, Wasserratten u. a., sie nicht zu plündern vermögen. Die Hohlgänge finden sich deshalb nie tief am Fusse der Wände, sondern von deren Mitte bis etwa einen Meter weit von dem oberen Rande oder Über- hange. Vielfach finden sich angefangene Gänge, an deren Fortsetzung ent- weder em Unfall öder zu harte, steinige Beschaffenheit der Stellen die Nist- paare abgehalten hat. Alle diese Vertiefungen sind trichterförmig anzusehen, ein Zeichen, dass die Vögel stets ihren Arbeitsplan innehalten, vom Mittel- punkte und nicht etwa vom Umfange aus ihre Minirkunst zu beginnen. Nicht allein Lehmwände, sondern auch solche von weichem, verwittertem Sandsteine erküren sich die rastlosen Uferschwalben zu ihren Nistplätzen. An einer Sandsteinbrüstung unweit des Maimes bei Höchst a/M. besteht eine solche, und die Wand zeigt die charakteristische siebartige Durchlöcherung. Ein zweiter Minirer aus der Reihe der heimischen Vögel ist unser schön sefärbter Eisvogel. Dieser vorsichtige Bewohner der Ufer unserer Ge- wässer wählt für die Anlage seiner Bruthöhle steile Wände der Ufer an Bächen, Teichen und Flüssen, woselbst er vor den Nachstellungen der Wiesel, Wasserratten, des Nörzes, Fischotters und anderer Räuber sicher ist. Der Vogel vermeidet bei Errichtung seimes Erdganges ebenso sehr weichen und feuchten als sehr festen Boden. Ein lehmiges, trockenes, steinfreies, von Baumwurzeln und Gestrüpp überwölbtes Ufer ist ihm am willkommensten. Alsbald nach der Auswahl des Nistortes begibt er sich an die steile Wand, um mit seinem kräftigen, harten und spitzen Schnabel die Erde zu be- hämmern. Aber in seiner Arbeit ist er nicht ausdauernd, vielmehr das Gegentheil von der Uferschwalbe Kaum ist ein flaches kleinfaust breites Loch in die Lehmwand gehauen, so setzt sich der bequeme Eisvogel schon auf eine Wurzel oder überhängende Staude des Ufers, um zu feiern und sein Prachtgefieder zu ordnen, oder auf Fische zu lauern. Unter dieser Zerstreuung vergisst er stundenlang, ja den ganzen Tag über sein begonnenes 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 65 Miniren. Die treibende, drängende Minnezeit aber führt ihn wieder dazu, und er hämmert eine Zeit lang wieder rüstig am Ufer, in das er allmälich tiefer eindringt. Alsdann hält es dem schwach- und kurzbeinigen Vogel schwer, die im Innern sich anhäufende Erde aus dem Gange zu schaffen. Dazu bedient er sich nun hauptsächlich des Schnabels, in welchem die Lehm- klümpchen bis zum Rande der Höhlung getragen und fallen gelassen werden. Stösst der Eisvogel bei semem Miniren auf einen Stein oder eine Wurzel, dann weicht er zur Seite aus, wodurch der Gang eine Krümmung bekommt. Bei dem bedächtigen Erdgräber, der oft säumt und feiert, auch seine schwachen Füsse nur nothdürftig oder gar nicht bei dem Herausbringen des Bauschuttes aus der Höhlung gebrauchen kann, währt das Miniren gemeinig- lich mehrere Wochen. Der vollendete Gang hat gewöhnlich eine Länge von 25 cm und darüber, steigt nach hinten etwas und baucht sich daselbst um etwa 9—10 cm zu einem Brutraume aus. Hier häufen sich öfters Fisch- gräten, Überreste von Wasserinsecten, welche die Vögel bekanntlich in Ge- wöllballen auswürgen, und der weibliche Eisvogel brütet dann auf und neben dieser übel dunstenden Unterlage. Meisler oder Zimmerer. An die Minirer reihen sich naturgemäss die Meisler oder Zimmerer in der Vogelwelt. Sie zählen in unserm Vaterlande die Spechte zu ihren Ver- tretern, von welchen wir den grossen Buntspecht unsern Lesern in der Bethätigung seiner Zimmerkunst aus unmittelbarer, vielfältiger Beobachtung heraus vorführen. Im Frühling kann man diesen eifrigen Zimmerer während seiner Höhlen- fertigsung öfters beobachten: denn er verräth dem Aufmerksamen seine Ar- beit in den anbrüchigen Stämmen ebenso durch vernehmliches Pochen und Hämmern, als auch durch Herauswerfen von Holzspänen unmittelbar unter dem Stamme, worin er seine Nisthöhle anlegt. Der Specht hackt mit seinem derben, meiselartigen Schnabel ein kreisrundes Flugloch in einer Weite, die seine schlanken Achseln nur gerade so durchlässt. Die Anfertigung dieses Eingangs geschieht nach ähnlichem Plane wie bei der Uferschwalbe vom Mittelpunkte aus nach der Peripherie, nur dass der Specht das Hauptmeisel- geschäft von einer Stelle unterhalb des Flugloches besorgt, höchstens einmal von den beiden Seiten arbeitet. Die Arbeit fördert ungemein schnell, so- bald der unruhige und oft launige Vogel nur einmal mit Entschiedenheit den Plan zur Bereitung seiner Wohnung gefasst hat. Sonst verlässt er öfters, wie die Uferschwalbe, die kaum begonnene Arbeit an dem Flugloche, bis- weilen an demselben Stamme oder Baume. Wir haben das geräuschvolle Meiseln des Vogels schon stundenlang belauscht, indem wir — zum Niststamme seschlichen — das Ohr an den Baum hart anhielten. Die Thiere wirthschaften * A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 5 66 2. Die Nestbaukunst der Vögel. abwechselnd sehr eifrig und beharrlich; von Zeit zu Zeit entsteht eine Pause, in welcher der vorsichtige und scheue Vogel die Umgebung auskundschaftet. Um zu prüfen, ob ein lautloses Anschlagen an den Stamm mittelst eines weichen Gegenstandes von dem Spechte vernommen werde, schlugen wir mit der Hand an die Rinde des Stammes, wodurch augenblicklich der Specht an dem Ausgange erschien: em Zeichen, dass er entweder das leiseste Ge- 'äusch durch ein höchst scharfes Gehör, vermittelt und geschärft durch die Resonanz der Holzfaser, vernimmt, oder, was wahrscheinlicher, die Fort- pflanzung der Schallwellen im Holze durch ein sehr feines Gefühl gewahrt. Hat der Specht nur emmal sich Raum innerhalb des Holzes verschafft, geht das Meiseln um so schneller und umfangreicher vor sich. Lebendiger dringt dann auch das Hämmern zu unserem Ohre. Es fallen von Zeit zu Zeit starke Späne aus der Höhle, denen endlich kleinere Splitter sich gesellen und zuletzt femes Holzmehl folgt, das letztere immer ein Zeichen, dass der Specht an der Vollendung seiner Wohnung ist. Dieses Geschäft besteht im der vollständigen Ausräumung und Glättung des Hohlganges. Die Abtrennung des Astes vom Baume bringt jenen mit der Höhlung in unsern Besitz, und durch einen vorsichtigen Längsschnitt ist die neuge- zimmerte Wohnung aufgedeckt. Wir haben ein klares Bild von deren Ge- staltung und Ausdehnung. Ein gutes Stück Arbeit, das von Geschicklich- keit und Ausdauer des Verfertigers lebhaftes Zeugniss ablegt, dessen harter meiselartiger Schnabel den bis 30 cm. langen Gang in 10—14 Tagen vollendet hat. Der regelmässig kreisrunde Eingang senkt sich in einem sanften Bogen schräg nach unten, um sich sodann in der Mitte seiner Länge senkrecht nach unten in einen beutel- oder birnförmigen Raum zu erweitern. Die Wände werden nicht allein mit der Spitze des Schnabels, sondern wahr- scheinlich auch mit den Schnabelkanten geglättet. Den unruhigen Vogel, der sich wegen semer Unbehülflichkeit im Ver- theidigen oft sogar von kleimeren Höhlenbrütern schon vor Vollendung seines Kunstbaues stören und vertreiben lässt, legt auf’s Neue wieder Höhlen in anbrüchigen Bäumen an. Neben der vollendeten Familienwohnung aber bereitet er öfters ein Dutzend und mehr Baumhöhlen, welche ihm nur vor- übergehend als Schlafstätten dienen. Das Hämmern, Meiseln und Zimmern scheint dem nimmer rastenden Vogel Bedürfniss zu sein, wie den Mäusen das Nagen. So wird der ohnedies schon durch Vertilgung schädlicher Baumin- secten nützliche Vogel auch noch förderlich für andere Vögel, wie für Staare, Wiedehopfe, Spechtmeisen, welchen seine verlassenen Schlafhöhlen Nist- stätten abgeben. 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 67 Mauernde und Kittende. Unter dieser Gruppe erscheinen mit die populärsten heimischen Vögel. Wer kennt nicht unsere Hausschwalbe! Aber wer hat sich die Mühe gegeben, der emsigen lieben Hausgenossin emmal bei ihrem interessanten Mauergeschäfte aufmerksam und eingehend zuzusehen? Nur Wenige, und unter diesen ist kaum ein Einziger, der das Geschäft der Baukünstlerin aus- führlich beschrieben. Ist der Hausschwalbe die alte Wohnung vom vorigen Jahre nicht zerstört worden, dann nimmt sie das vom Zuge im Mai angekommene Paar sogleich ein. Es fegt und räumt sein Haus. Der alte, abgenutzte innere Baurath wird ächt haushälterisch entfernt und neues weiches Material einge- tragen. Zerbröckelte oder mürbe gewordene Stellen am Neste werden mit frischem Lehm ausgebessert. Wenn aber das alte Nest nicht mehr vorhanden ist, so schreiten die Schwälbchen alsbald zur Errichtung eines neuen Baues, gemeiniglich an der alten Niststelle: denn nur oft wiederholte Zerstörungen können das angenehme treue Thierchen bewegen, die liebgewonnene Räum- lichkeit zu verlassen. Das Paar fliegt jetzt zu Pfützen, an seichte Bach- ufer, Teiche, Gräben und Gossen. Hochaufgeschürzt schreiten die Thier- chen mit ihren kurzen, weissbefiederten Füsschen an den feuchten Stellen umher, sich im den breiten tiefgeschlitzten Schnäbeln erbsen- bis bohnen- dicke Klümpchen feuchter Erde aufzulesen und diesen Stoff an die gewählte Niststätte des Hauses zu tragen. Dort ist's gewöhnlich eine kleine hervor- ragende Verzierung, ein Gesimse unter dem Dache, ein Balken unter einem Thorwege, ein Schellenzug über einer Hausthüre, ein den friedlichen Vögel- chen von sorglicher Hand angebrachtes Brettchen unter dem Dache oder die Wandbekleidung des Daches selbst, die sie zur Unterlage oder zur An- heftstelle ihres Nestes wählen. Sie klammern sich mit ihren spitzbekrallten Füsschen an, und der ausgebreitete Schwanz dient ihnen ausserdem noch als Stützpunkt. Die herbeigeholte Erde kleben sie unter Beimischung ihres Speichels in kleinen Klümpchen mit zitternden Bewegungen ihrer Köpf- chen auf. Bietet sich den Bauenden eine Stelle, wo Vieh kurz vorher urinirt hat, so wird dieselbe gerne ausgebeutet. Bei warmem, sonnigem Wetter fügen die Thierchen in ununterbrochener Folge ein Erdklümpchen an und auf das andere, sodass bald ein Fundament des kleinen Mauerwerks ent- standen. Auf dieser Grundlage fusst nun die Schwalbe, das hochaufgerichtete Hintertheil der Wand zuwendend. Mit dem Vordertheile dem Nestrande zu- gekehrt, mauert sie nun in viertel- bis halbkugeliger Wölbung nach oben. Ein Lehmklümpchen um das andere häuft sich an, und oft sehen wir sie Stroh und Halmen mit in die Erdklümpchen vermengen, um dem Mauerwerk besseren Halt zu geben. Sehr geschickt zeigt sich das Vögelchen beim Ver- ändern seines Standpunktes während des Bauens. Zumeist bei Beginn der Nest- 5* 68 2. Die Nestbaukunst der Vögel fertigung sitzt die Schwalbe inwendig, mauert also vom Mittelpunkte aus. Den bogigen Grundriss an der Hauswand sieht man auf diese Art entstehen. Dann wieder verfügt sich die Künstlerin auf den Rand der Nestwand, später hängt sie bald aussen an der Wand, bald neben und auf der Nestmauer, um zu kleben, auf- zutragen und auszubessern. Sie passt so ihr Nest ganz der Umgebung an. In der Regel ist dies beim freien Aufbau an einer senkrechten Wand halbkugelis; oft aber bedingt ein Vorsprung, ein Balken oder ein anderer Gegenstand am Nistorte die Gestaltung. So fanden wir einst das Nest einer Mehlschwalbe rund um den eisernen Zug einer Hausglocke in dem Bogengang des Kurhauses zu Salzhausen in der Wetterau angemauert. Es stellte fast eine ganze Kugel dar, indem die Vögel die grosse Adhäsion des Eisens für ihre erdigen Bau- stoffe benutzten und bloss das obere Ende des Zuges neben der Decke der Einfahrt zu Anheftstellen wählten. Nur an warmen sonnigen Vormittagen baut die Schwalbe eifrig. Ihr Bauge- schäft ist mit sichtlicher Anstrengung verbunden. Wie angedeutet, verwendet sie neben der feuchten Erde und Geniste ihren Speichel als Bindungsmittel, welchen sie unter zitternden Bewegungen auswürgt und mit Hülfe des weit geöffneten Schnabels andrückt. Dies Mauern dauert nur eine gewisse Zeit lang, bis die zu dieser Zeit besonders aufgetriebenen Speicheldrüsen den Speichel nicht mehr in ergiebigem Grade abzusondern pflegen. Nach Auf- trag eimes etwa fingerdicken Aufsatzes ruhen gewöhnlich die Vögel, um am andern Morgen auf dem inzwischen trocken gewordenen Auftrag weiter zu bauen. So verstreichen bei günstiger Witterung 8—10 Tage, bei feuchtem und regneri- schem Wetter indess wohl auch zwei Wochen, bis die Wohnung vollendet ist. Untersuchen wir das Nest überhaupt nun näher, so finden wir dessen Aussen- und Innenwand nicht geglättet, sondern körnig, wie eine „grob be- rappte“ Speisswand einer Wohnung bearbeitet, indem der Vogel die Erd- klümpchen so, wie er sie findet oder hinzuträgt, anklebt. Die rauhe Innen- wand verklebt die Schwalbe endlich mit mancherlei Geniste, Strohstückchen und Grashalmen, Federn und Wolle. Oben, wo das Nest die Hauswand oder das Dachgesims berührt, bleibt ein im Verhältniss zu dem schlanken Vogel stehendes enges Flugloch. Der mauernden Schwalbe darf unsere Singdrossel als kittende Nest- baukünstlerin getrost an die Seite gestellt werden. Zur ersten Grundlage des Nestes fertist die Singdrossel einen Rost. Entweder in die breite Verzweigung eines jungen Nadel- oder Laubholz- stämmchens, auf das niedere Geäste einer Eiche oder Buche oder in die Zweiggabeln eines Busches trägt bald das Weibchen allein, bald das Paar dürre Reischen, diese kreuzweise übereinander legend. Auf diesen Rost wird nun ein Aufsatz von Ast- und Laubmoosen, Flechten und Haidewurzeln bün- delweise zugetragen und theils in Schichten aufgedrückt, theils mit der Um- gebung verflochten. So entsteht ein etwa 4—5 cm dicker Aufsatz, auf 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 69 welchen nun die Vögel nach Art der filzenden Nestbereiter eine 9—10 em hohe Wand von Moosen, Haidewurzeln, Gras- und Strohhalmen errichten, welches Aussengerüste in einigen Tagen gebaut ist. Nun beginnt die Herstellung des Nestinnern, das eigentliche Kittwerk, dessen Bereitung sich zumeist die weibliche Singdrossel allein unterzieht. Man gewahrt zu dieser Zeit, dass die Speicheldrüsen des Vogels reichlichen zähen Schleim absondern, der sich beim Baugeschäft öfters aus der Mund- schleimhaut in Fäden abzieht. Die Verkittung geschieht von dem Mittel- punkte der Nestmulde aus. Hier klebt die Drossel einen Kitt jedesmal in kleinen Partien auf, der von dem Schnabel aus altem trockenem Kuh- und Pferdemist nebst feinen Blättchen faulen Holzes mittelst des Speichels ver- arbeitet und in einer nur einige mm breiten Lage ausgebreitet wird. Diese erste Kittlage geht bis zu dem Nestrand des Aussengerüstes hinauf. Dieser Rand wird um etwas breiter als die Wandung und nach innen eingebogen mit Moos, Flechten und Halmen sehr dicht verfilzt und mit dem Speichel zierlich geglättet. Hier sowohl als bei dem Kittwerk des Innern gebraucht der Vogel hauptsächlich seinen Schnabel unter fortwährender Verwendung seines Speichels, den er mit zitternden Bewegungen, ähnlich wie die Schwalbe, auswürgt, worauf ein öfteres Bestreichen und Andrücken vermittelst der Kiefern wie mit eimer Kelle erfolgt. Der Schnabel bestreicht jede Fuge zwischen den verwendeten Holzstückchen und dem Pferdemist mit Speichel, sodann diese Stoffe auf die innere Seite des Nestgerüstes stark aufdrückend, sodass eine überall gleichmässig verarbeitete dünne Lage innerhalb der ganzen Nestmulde entsteht. In vielen Fällen, namentlich auch bei dem Nest- bau der zweiten Brut im Sommer, verwendet die Drossel aber auch zur Überklebung des Innern eine sehr dünne Lage feuchten Lehms, welchem sie feine kurze Halmen und Blätterrippengewebe zur grösseren Haltbarkeit beimengt. Diese Lehmlage überkittet der Vogel alsdann mit einer zweiten dünnen Schicht des schon beschriebenen Kittes. Diese innere verkittete Wand stellt in dem Falle, in welchem sie blos aus faulem Holze und Kuh- und Pferdemist besteht, eme kaum 3 mm starke, im andern Falle hingegen eine 4-5 mm dicke, glatte, pappdeckelähnliche Lage dar. Die nette, der jungen Brut Schutz bietende Wohnung ist bei anhaltend trockener Witterung in wenigen Tagen vollendet, indem, wie angedeutet, der Aussenbau höchstens 11e—2 Tage in Anspruch nimmt, zur Förderung der Verkittung des Innern hingegen günstiges oder ungünstiges Wetter seinen Einfluss geltend macht. An warmen Tagen trocknen natürlich die Kittlagen schnell, und das Baugeschäft erleidet wenig oder gar keine Unter- brechung. Nasses und kaltes Wetter halten die ununterbrochene Fortsetzung des Baues oft mehrere Tage auf. Das Nest ist ein wahrer Kunstbau, dessen regelmässige, gefällige Form ebenso sehr das Auge erfreut, als seine Festigkeit und Dauer die solide 70 2. Die Nestbaukunst der Vögel. Arbeit der Vögel bewundern lässt. Die Aussenwand des Nestes ‘hält im Durchmesser 12—15 em, seine innere Mulde 6—8 em bei einer Tiefe von 5—6 cm. Zwischen den Filzenden und Mauernden in der Mitte steht in ihrer Kunstfertigkeit unsere Schwarzamsel. Sie kommt jedoch in Anbetracht ihrer vorwiegenden Mauerarbeit an ihrem Nestbau den Mauernden näher, weshalb wir sie in ihrer Bethätigung hier anreihen. Auf der Schnepfensuche bemerkten wir vor Jahren schon ein Stück der Nestzubereitung dieses scheuen, menschlichen Blicken sich sorgfältig entziehenden Vogels. Wir beobachteten damals den weiblichen Vogel eines Paares in der Errichtung des Unterbaues seines Nestes in einem tief an der Erde befindlichen Strunk eines Buchenstockausschlags. Die Amsel trug mehrmals zu der schon gebauten Unterlage von Haidewurzeln und den ersten Anfängen der Wandung von dürrem Laub, Wurzeln und Moos derbe Klumpen feuchter, lehmiger, mit Blattrippen, abgestorbenen Halmen und sonstigem Geniste vermengter Erde, wodurch allmälich eine etwa 1 cm. starke Schicht Mauerwerk, nach aussen verkittet mit Moos und Wurzeln von der gemeinen Haide entstand. Weiter als zu der Kenntniss des Baugeschäftes dieser vermauerten Unterlage gelangten wir damals nicht trotz unseres unab- lässigen Bemühens, den Vogel bei der weiteren Nestbereitung zu beobachten. Erst nach einer Reihe von Jahren kamen wir hinter das Geheimniss, als wir auf einem Waldgange plötzlich dicht an dem Stamme einer jungen Eichenstange auf zwei Seitenästen die ersten Anfänge eines Schwarzdrossel- nestes gewahrten. Bei näherer Betrachtung zeigte sich der Anfang des Nest- baues als eine gliedshohe Unterlage, verbunden zu einem Mörtel von thoni- gem Lehm, Blätterrippen, Gewürzel, Moos und Fichtennadeln, durch welchen die beiden 5 cm breiten Aste mit einander verklebt waren. Mit der vor Jahren entdeckten Unterlage verglichen, hatte der Vogel hier auf derbem Fundamente sogleich mit Mauerwerk zu bauen angefangen. In dem ziemlich räumlichen Stangenorte war, dem misstrauischen Vogel nicht auffällig, schnell eine schmale Durchsicht mit dem Waidmesser von einer entfernten Beobachtungsstelle in einer verwachsenen Eiche bis zum Neste hin gehauen oder vielmehr geschnitten. Nicht lange auf dem Verstecke der Eiche weilend, sahen wir die weibliche Amsel in kurzen Zwischenräumen mehrmals grosse Bündel Lehm herzutragen, um diese vorerst auf einem bestimmten Punkte des Grundbaues aufzusetzen. Hierauf zertheilte der geschäftige Schnabel diesen Aufsatz bald mit der Spitze, bald mit den Seiten der Kinnladen, ein Beweis, dass er neben der Feuchtigkeit der Baustoffe seinen Speichel zur ‘grösseren Halt- barkeit des Mauerwerks bei der Knetung verwendete. Der Vogel hatte sich in die Mitte des Fundamentes gesetzt und nahm nun ein Stück Mörtel nach dem andern, um es, um sich herum regelmässig auseinanderbreitend, mit ge- öffneten Kiefern hart auf dem Grundban anzudrücken. Die Bewegungen des 2. Die Nestbaukunst der Vögel. 71 Schnabels gleichen öfters dem bekannten Schnabelwetzen der Vögel. Sehr selten trug die männliche Amsel einen Klumpen Erde herzu, indem sie den- selben auf oder neben der Grundlage absetzte, also blossen Handlangerdienst verrichtet. Die Gattin besorgte dann in beschriebener Weise das Ver- mauern. Über eine Weile erschien dieselbe mit grossen Bündeln Haide- wurzeln und Moos, welche sie auf der‘ Niststelle nun zertheilte und von der Mitte des Grundbaues aus in dünnen Schichtchen auf den Rand des Mauer- werks mit dem geöffneten Schnabel auftrug und festklebte, nachdem unge- fügige Wurzeln und Halmen mittelst Ziehens durch den Schnabel geglättet und mit dem Moos und unter sich verflochten und verfilzt waren. Das Männchen trug zuweilen Bündel von Baustoffen herzu, diese hin und wieder bei Abwesenheit des Weibchens auf den Rand des Nestes aufsetzend, wo- nach die sorgsamere Hälfte des Paares dieses Material kunstgerecht erbaute. In einigen Stunden gedieh der Aufbau zu einer Nestwand von 7—8 cm Höhe in glatter, gefälliger Form, die der Vogel nach der schon beschriebenen Art anderer Nestbaukünstler mittelst Umdrehens um sich selbst, durch An- klammern und Zusammendrücken zwischen Brust- und Schnabelwurzeln her- vorbrachte, während er die muldenförmige Tiefe durch das Anstämmen und den Gebrauch der Füsse und Flügel bildete. In der Frühe des andern Tages war bei unserem Erscheinen schon unmittelbar auf dem erdigen Fundamente in der Mitte der Nestmulde, welche ohne Bekleidung von andern Stoffen gelassen wurde, eine Auflage von Lehm bewirkt, die den Anfang der inneren Erdwand bildete. Auf den Aufbau dieser Wand verwendete der weibliche Vogel grosse Sorgfalt, indem er einmal in der besprochenen Manier die Erdklümpchen zertheilte und anein- andermauerte, zum Andern diese Stoffe mit dem Material der Aussenwand vermengte und auch schon beim Einsammeln mit dem Lehm Steinchen und Rindenstückchen, Laubrippen, Wurzeln, Halmen und anderes Geniste mit aufnahm und verwendete. Es erstand auf diese Weise eine nach dem oberen eingebogenen Rand des Nestes allmälich sich verjüngende Lehmwand, die am dritten Morgen vollendet war und einen 8—9 cm tiefen, 10 cm weiten Napf herstellte. An demselben Morgen bildete das Amselweibehen den Schluss des Nestbaues, die Verpolsterung des Innern und Glättung des Nestrandes. Es gebrauchte feme Halme, Moos und dürres Laub zuerst für die Auslegung der Mulde, nachdem vorher in beschriebener Weise die Stoffe gefügig ge- macht worden. Das Innere wurde in meist horizontalen Halmenlagen nun sehr nett bis zum oberen Ende der Lehmwand geführt, und dann begann der Bau des Nestrandes mit ganz besonderer Sorgfalt und unter sichtlichem Be- hagen des Vogels. Halmen, sehr feme Wurzeln, Moos und Rindenstückehen wurden in regelmässigen Lagen mit Speichel geglättet und kreisrund um den Rand geführt, der sich 25—3 cm hoch über die innere Lehmbekleidung etwas verbreitert erhob. 22 3..Der Zug der europäischen Vögel. Viele fertig aufgefundene Nester der Amsel in Lohden oder im Gezweige der Büsche und Bäume lassen uns sehen, dass die Berührungsflächen von Nest und Gezweig vermauert sind. Wieder andere blos in der Aussenbe- kleidung fertigen in dichtem kleinverzweigtem Gebüsche weisen hingegen einen Aufbau der äusseren Nestwand von blosser Mooswand ohne alle Ver- mörtelung auf, geben also Zeugniss davon, dass die letztere dem Bau mit pflanzlichen Stoffen erst nachfolgt. Ein Vergleich zwischen diesen und den beiden beschriebenen Fällen er- gibt nun den Beleg, dass die Schwarzamsel ihre Nestbereitung nach der Beschaffenheit des Nistplatzes richtet. Bieten sich ihr Aste und Zweige in der unmittelbaren Umgebung dar, so besorgt sie, wie im zuerst bezeich- neten Falle, das Vermauern oder die Vermörtelung mit dem Aufbau der Aussenwandung. Eines entschiedenen Anmauerns, eines Mauerfundamentes bedarf aber die Amsel auf freieren Asten, wie der zweitbeschriebene Nest- bau deutlich zeigt. Hier verrichtet der Vogel auf der Grundmauer die äussere Wandung, wodurch er für die Vermörtelung im Innern einen, wenn auch losen, Anhalt bekommt. Das Vorgetragene hat unseren geehrten Lesern gewiss überzeugende Beweise geliefert, dass die Baukunst der Vögel nicht blos als eine instine- tive Bethätigung betrachtet: werden kann, sondern vielmehr auch als eine Handlung der Überlegung, als ein Act freier, nach einem gewissen Plane und Zwecke handelnder Wesen sich erweist. Gerade die Erkenntniss der einfachen Grundregeln dieser Kunst setzt uns in Erstaunen über die Leistungen, welche mit so unscheinbaren Mitteln solche herrlich - schönen Erzeugnisse liefern. Aber die Natur vollbringt ja das Grösseste und Herrlichste stets mit einfachen Mitteln, und das ist an ihr das ewig Bewundernswürdige. Auch in der Baubethätigung der Vögel entdeckt sich ebenwohl solches Bewun- dernswerthe, und in dieser Erkenntniss rücken uns die Wesen näher, in welchen die Natur so Anziehendes wirkt und schafft. Die Worte Goethe’s werden vor unseren forschenden Augen wahr, und wir erblicken in den herr- lichen Naturkindern keine nach höherem Commando gleichsam schablonen- mässig sich bewegende Maschinen der Teleologie, sondern unsere „Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser“. 3. Der Zug der europäischen Vögel. Der Sommer ist geschieden; der Herbst naht. Schon sammeln, sich die Hausschwalben auf den bethauten, von der Morgensonne beschienenen Dächern; aber plötzlich wie auf ein verborgenes Commando stiebt die Vogel- schaar wimmelnd und zwitschernd in die Luft. Längst hatten sich die Storche in den Wiesenebenen gesammelt, um sich eines Tages hoch in die 3. Der Zug der europäischen Vögel. 73 Lüfte zu erheben und dort in sanften, immer weiter rückenden Kreisen all- mälich in die Ferne zu verschwinden. Unser aufmerksames Ohr vernimmt schon das leise „Pst“ der Rothkehlehen in den Gebüschen der Raine und Haage, und in den Hollunderbüschen und Bäumen der Parkanlagen und Gärten, deren Laub die Herbstsonne herrlich verklärt, lässt sich der leise anmuthige Gesang der Laubvögel, Grasmücken, Drosseln und anderer heimi- schen Sänger vernehmen. Es beschleicht ein eigenthümliehes Gefühl unsere Brust bei diesen Lauten und diesem auf den stillen Nachsommer mit einem- male wieder neu bewegten Leben der Natur. Unser Gemüth ist halb weh- müthig, halb freudig bewegt; wehmüthig bei dem Anblieke des herbstlich gefärbten und theilweise schon fallenden Laubes in Wald, Hain und Gärten und der kurzen scheidenden Tage des Sommers, der in Erdspinnengeweben seine Fäden langsam an uns vorüberziehen lässt, wie em hinschwindender Traum seiner schönen, glänzenden Zeit. Aber freudig bewegt ist unser Ge- müth in dem reinen, erquiekenden Luftzuge aus dem heiteren Blau des Herbsthimmels. Es ergreift die allgemeine Wandlung der Natur auch die Menschenbrust, deren Gefühl sich jetzt lebhaft steigert bei dem Rufe der hoch über uns dahinziehenden Kraniche. Ja, uns durchdringt ein Gefühl, das die leiehtbeschwingte Schaar in noch viel stärkerem Grade bewegt, vom kleinen Sänger im Gebüsche bis hoch hinauf zu den Riesengeschwistern in den Lüften. Sie alle, die Millionen, belebt ein Etwas, dessen merkwürdige Bethätigung der Zug der Vögel senannt wird und der wir unsere Betrachtung widmen wollen. Wir finden diese Erscheinung als eine allgemeine in der Vogelwelt ver- breitete. Wir schliessen also — ohne vorerst deren Wesen zu ergründen oder auf ihren Ursprung forschend zurückzugehen — dass der Zug ein sebietendes,einnothwendigesErfordernissfür dieVogel- welt sei. Denn die unwirthliche Jahreszeit rückt heran, deren nachtheili- sen Folgen die beschwingten Wesen rechtzeitig entfliehen. Und die Natur hat den Vogel auch zu dieser Auswanderung angemessen ausgestattet. Überall bemerkt man bei aufmerksamer Forschung an den Wesen die Thatsache, dass bei einem Triebe auch die Mittel und Werkzeuge sich aus- bilden oder vorhanden sind, diesen Trieb ausführen zu können, also — um diese Thatsache auf unser Thema anzuwenden — die Fähigkeit oder das Vermögen bei den Vögeln herrscht, der gebietenden Nothwendigkeit zu folgen. Betrachten wir nun eingehend den Bau und das ganze Wesen des Vogels, in welchem der Wandertrieb so merkwürdig und ungestüm sich be- thätigt. Der Leib des Vogels erweist sich als ein verhältnissmässig sehr leichter. Sein Federkleid ist ja sprüchwörtlich leicht. Die weiten Zellen der Lungen, die sackartigen der Brust- und Bauchhöhlen, sowie die hohlen, marklosen 74 3. Der Zug der europäischen Vögel. Knochen bergen eine durch die hohe Blutwärme des Vogels leichter gewor- dene Luft. Zu dieser Leichtigkeit des Körpers — dessen specifisches Ge- wicht jedoch stets das der Luft soweit überwiegt, dass er dieselbe mit Ent- schiedenheit zu durchdringen vermag — tritt nun auch noch seine ange- messene Form. Diese ist die eines Kahnes, dessen Kiel der mächtige Brustkorb mit seinem hervorspringenden Kamme, dessen Steuer und Ruder der fächerförmige Schwanz und die Schwimmfüsse, dessen Segel die muldigen Flügel. Fürwahr! ein trefflich ausgestattetes Naturschiff, hier zum Durch- wandern der Lüfte, dort zum Durchsegeln der Gewässer! Aber wie der Vogel sich dermassen als ein wahres Luft- und Wasserthier darstellt, so ist er vermöge seines zarten, sensitiven Wesens auch ferner ein Thier des Lichtes und der Wärme. Und diese Wesen — wo streben sie in ihrem Zuge anders hin, als zur Sonne, zum erwärmenden ewigen Sommer des Südens. Aber auch die Bekleidung des Vogels führt uns zu diesem Schlusse. Die Feder, dieses lockere, vielverzweigte Feingebilde einer hornartigen Substanz, erweist sich gegen den so sehr vermehrten Wasserdunst und die fortwäh- rend nasskalten Niederschläge unserer Winter sehr empfindlich und im den meisten Fällen widerstandslos. Ein feuchtes oder nasses Federkleid schwillt an, sträubt sich und drückt den Vogel nieder, dessen Wärme entflieht durch die Lücken in seiner durchnässten und verwirrten Hülle, sowie durch die Verdunstung derselben, wodurch das Verderben des Thieres erfolgen würde. Der Zugvogel könnte also, abgesehen von der Unmöglichkeit sich zu er- nähren, schon mit seiner Feederhülle in unserem Klima nicht bestehen. Mit diesem zarten Gebilde könnte er sich aber auch weder, wie so viele Säuge- thiere, im Spalten, Höhlen und Klüfte der Erde bergen und leben oder gar in einen Winterschlaf verfallen, noch vermöchte er seine Nahrung in unwirth- licher Jahreszeit zu finden, die m Sämereien und Erzeugnissen, sowie in Thieren des Sommers besteht. Diese Betrachtungen führen uns abermals zu der Folgerung: die Mehrzahl der Vögel muss wandern, ihr Zug in die Ferne ist eine Nothwendigkeit, eine Lebensbedingung. Bevor wir weiter diesen Zug in die Ferne besprechen, möge vorerst der Unterschied Erwähnung finden, den die Vogelkunde zwischen den grösseren und kleineren Reisen der Vögel macht. Bei manchen Sippen und Arten gewahrt man ein Streichen, wonach die Vertreter dieser Bethätigung Strichvögel genannt werden. Das Streichen oder der Strich erfolgt der Nahrung wegen nur auf klei- neren Strecken. Es ist ein Hin- und Herziehen, zigeuner- oder noma- denhaft von Flur zu Flur, von Baumstück zu Baumstück, von Hain zu Hain, wo sich eben Futter für die Suchenden und Rührigen findet. Dieses Strei- chen erfolgt zu keiner ganz bestimmten Zeit, denn es macht sich mehr oder weniger das ganze Jahr über bemerklich: es ist eine unregelmässige, unbe- ständige, ja zufällige Erscheinung in dem Vogelleben. 3. Der Zug der europäischen Vögel. 75 Von unseren heimischen Vögeln führen — mit Ch.L. Brehm zu reden — ein Zigeunerleben die in vielfacher Beziehung merkwürdigen Kreuz- schnäbel, imdem sie bald hier, bald da ihren Aufenthalt nehmen und nisten. Unsere Kreuzschnäbel richten ihr nomadenhaftes Herumstreichen oder, wenn man will, ihre kleinen Wanderungen wesentlich nach dem Gedeihen der ihnen zusagenden Nadelholzsamen, sodass sie je nach der örtlichen Fruchtbarkeit des Nadelholzes ihre Aufenthaltsorte und Brutstätten an ge- wisse Localitäten oder Striche binden und mit dem Ausbleiben der Wald- sämereien wieder verschwinden. An diese reihen sich — jedoch erst nach der Brut im Spätsommer — als Nahrung suchende Strichvögel Hänflinsg, Distelfink, Zeisig, Dompfaffe, Grünling, Feldsperling, Hauben- lerche, Spechtmeise, Grün- und Buntspecht, Eisvogel, Kolkrabe, Uhu, Steinadler u.a.m. In unseren Staaren, Meisen und safran- köpfigen Goldhähnchen erkennen wir ebenfalls solche bewegliche Gäste, die kleinere Striche schon im Sommer bei Führung ihrer flüggen Jungen unternehmen. Ebenso sind Landstreicher die Junggesellen unter den angeführten und auch den Zugvögeln den Sommer hindurch, die entweder keine Gelegenheit hatten, sich ein Heim durch Nisten zu gründen, oder von begünstigteren oder kräftigeren Nebenbuhlern verscheucht wurden. Ganz anders verhält es sich mit den grösseren Reisen der Vögel. Man unterscheidet diese als Zug und Wanderung. Am meisten. finden wir die Zugvögel gegen Norden hin vertreten. Die in kalten und gemässigten Klimaten nistenden Vögel stellen also das haupt- sächlichste Contingent zum Zuge. Je näher dem Süden resp. den Wende- kreisen, desto mehr vermindert sich die Erschemung des Zuges bei der dort wohnenden Vogelschaar. Dieser Umstand gibt dem Forscher schon eine Deutung, eine theilweise Erklärung für den Grund, die Ursache des Zuges. Je näher dem Süden, desto mehr Lebensbedingungen findet der Wärme liebende und suchende und an deren Gebilde und Erzeugnisse in seiner Er- nährung hingewiesene Vogel. Was Wunder! wenn die feinfühligen gefieder- ten Wesen, diese lebendigen Luft- und Wärmemesser, schon im Nachsommer und vielmehr noch im Herbste das vermissen, was ihnen zum Gedeihen, ja Fortbestehen noththut — Licht und Wärme. Man hat seither die Ursache des Zuges hauptsächlich m dem von der Natur dem Vogel tief eingepräg- ten Wandertriebe gesucht, ja ein Ahnungsvermögen vor Kälte und Un- wirthlichkeit als Erklärung zu Hülfe genommen, ohne dies irgendwie real begründen zu können. Das, was so nahe lag — an das hat man nicht gedacht, das hat man nicht erforscht. Doch dies werden wir erst weiter unten näher berühren. Vor der Hand begnügen wir uns mit der Thatsache, dass wir bei unseren Zugvögeln zur Zeit des Wegzuges einen ungestiimen Trieb fortzustreben gewahren. Aber diesen Trieb bringt zuerst die den Vogel umgebende, sich verändernde Natur zur Geltung, und 76 3. Der Zug der europäischen Vögel. da sie ihn von jeher beim Wechsel der Jahreszeiten gemahnt und ange- trieben hat zum Ziehen, so flossen Ursache und Wirkung vor unseren äusserlich beobachtenden Blicken gleichsam in einander zu einer Erschei- nung, die sich eben als das Symptom des unruhigen Fortstrebens verkündet. Es macht sich bemerkbar an allen Zugvögeln, jung und alt, selbst an im Käfige gehaltenen, sobald sie sogenannte Wildfänge sind, d. i. aus dem Freien gefangene mindestens einjährige Vögel. Auch diese beherrscht zur Zeit der Reisetrieb so mächtig, dass sie in unbefriedigtem Drange stürmisch auf und ab, hin und her fliesen, wenig fressen, durcheinander rufen, zwit- schern und abgebrochen singen; ferner, dass diese Unruhe andauert, so lange der Wegzug ihrer Brüder in die Ferne währt und wieder anhebt zur Zeit ihres Rückzugs in die Heimath. Diese Symptome sind so energisch ausge- sprochener Art, dass es erklärlich ist, wie man bisher die Wirkung für die Ursache ansah und von emem primitiven Wandertriebe sprach, der das alleinige Agens der Bewegung nach dem Süden und von diesem wieder zurück bilde Doch hier sei noch nicht der Ort, diesen Irrthum aufzuklären. Genug, wir sehen die hundert und tausend Arten der Vögel sich rüsten zur Reise in die Winterherbergen. Zu dieser sind alle auch körperlich vorbe- reitet. Keiner der Reisenden ist mager, die meisten sind sogar wohlgenährt, ja fett von dem reichlichen Segen des Nachsommers und Herbstes. Vor Allem ein sprechendes Zeichen, dass nicht Mangel an Nahrung, also auch nicht das Suchen nach derselben die Ursache ihres Fortziehens sein kann. Diese Ursache, Mangel an Ernährung, erzeugt vielmehr das Wandern. Der wandernde Vogel verlässt urplötzlich nahrungsarme (beziehungsweise wasserarme) Gegenden, um solche aufzusuchen, die ihm Unterhalt bieten. Das Wandern kann nach jeder Richtung geschehen. Es gleicht dem Streichen, unterscheidet sich von diesem aber durch bedeutendere Ausdeh- nung und Bethätigungen grösseren Massstabes. Die Eingewanderten machen da Halt, wo sie hinglängliche Ernährung finden, ja sie gründen sich an solchen Orten nicht selten vorübergehend Wohn- und Brutstätten. So erblicken wir oft plötzlich im kalten, schneereichen Wimtern die Seidenschwänze, Flachsfinken, Hakengimpel, bindige Kreuz- schnäbel (L. taenioptera), Schneeeulen, Lummen, Eiderenten, Alken und andere nordische Vögel als Gäste bei uns; so rücken — wie die genannten aus den hohen Zonen — aus höheren Regionen der Gebirge Stein-, Schnee- hühner, Alpendohlen, Bergfinken und Nussheher m unwirth- lichen langen Wintern in die gastlicheren Niederungen. Beim ersten Schnee (1579) bemerkte der Eine von uns (Adolf) in seinem Forste zu wahren Schwärmen vereinigte Flüge Bergfinken und einige Nussheher m den Vorwäldchen und Baumgärten seiner Nachbarschaft, wo sie sonst um diese Zeit nicht gesehen werden. Ch. L. Brehm theilt schon eine inte- 1 =] 3. Der Zug der europäischen Vögel. ressante Ankunft emer Art Leinfinken mit, welche in Thüringen inner- halb vierzig Jahren nicht vorgekommen war und in grosser Menge plötzlich kam und wieder verschwand. Selbst während des in Deutschland gelinden Winters von 1866/67 beobachteten wir im ehemaligen hessischen Hinterlande bei Gladenbach schon von Mitte November an eime Menge Seiden- schwänze, welche bis in den Februar herumwanderten und von den dortigen Vogelfängern auf den Drosselherden zahlreich gefangen wurden. Eine merkwürdige sozusagen Vogelvölkerwanderung machte das Faust- oder Steppenhuhn (Syrrhaptes paradoxus) aus den kirksischen und bucharischen Steppen. Diese Schwärme zogen sich im Vorjahre 1863 von Südost nach Nordwest über das Kaspische Meer, durch die Moldau und Wallachei, durch Ungarn, Böhmen, Schlesien, Westpreussen bis nach Däne- mark und in einem Zweige nach England. Ihre Rückwanderung erfolgte in sehr gelichteten Reihen in den Jahren 1864 und 1865, nachdem sie in manchen Strecken nach ihrer Einwanderung gebrütet hatten. Wie schon A. v. Homeyer das urplötzliche Kommen und Gehen der grossen Flüge des Hakengimpels aus Sibirien und des Steppenhuhnes aus den östlichen Steppen in die Kategorie von isolirten, ungewöhnlichen, sich selten wiederholenden Wanderungen bringt, so gestalten sich die Reisen der an- dern aufgeführten Wandergäste schon annähernder als regelmässige, wenigstens periodisch wiederkehrende. Den grossen ausserordentlichen Wanderungen wird gewöhnlich der Grund andauernder, einseitiger und den T'hieren feind- licher Witterungsverhältnisse, wie grosse Trockniss, Schneeanhäufungen u. s. w., untergelest; die Art und Weise aber, wie sich diese über weite Länderstrecken verbreitenden Wanderungen vollziehen, lässt nichts Geordnetes, nichts Regel- mässiges, weder Plan noch Ziel erkennen. Es ist diese Erscheinung ein verwirrtes, ungestümes Ausdehnen der Schaaren über viel weitere Strecken hinaus, als es zur Beseitigung des Nahrungsmangels vonnöthen wäre. Neben der gewöhnlichen Ursache des Wanderns, dem Nahrungsmangel, bewirkt aber die Wanderung anderer Thiere, wie Fische, Insecten, Nager, auch der Zug der Vögel selbst, eine wandernde Bewegung in einem Theile der Vogelwelt. Schon Pennet und Pallas berichten, dass Seevögel, wie Seeraben, Möven u. s. w. den Härinsszügen, die Heuschrecken- drosseln (Turdus gryllivorus) und Rosendrosseln (T. roseus) in Massen den verheerenden Heuschrecken-Wanderungen in Asien zehntend folgten. Ingleichen verfolgen die verschiedensten Raubvögel u. a. die Lemmingszüge des Nordens. Diese Mittheilungen werden ergänzt durch spätere Beobachtungen an anderen Vögeln, welche die Zeitschrift „das Ausland“ im 1865er Jahrgange über Wanderungen von Tag- und Nachtraubvögeln aus der Popular Science Review referirt. Hiernach be- gleiten die Reihen des reisenden kleineren Geflügels eine Menge Raub- vögel, wie Rothfuss- und andere Falken, verschiedene Weihen, 18 3. Der Zug der europäischen Vögel. namentlich um die Küste des Mittelmeeres im Frühlinge, wodurch unter den daselbst ankommenden und sich sammelnden Zugvögeln arg aufgeräumt wird. „Ein Marine-Offizier“ — heisst es a. a. OÖ. — sagte uns, dass an einem Frühlingsabend, als er hundert engl. Meilen von der afrikanischen Küste entfernt war, das Takelwerk seines Schiffes mit kleinen Vögeln sich anfüllte, die man in zerstreuten Schaaren von Süden ankommen sah; unter denselben befanden sich viele Falken und einige kleinere Eulen, möglicherweise Scop’s Ohreule(Zwergohreule), die in grosser Anzahl zu dieser Jahreszeit wandert. Kaum hatten die kleinen Vögel sich auf den Raen niedergelassen, als die Falken anfıngen, sich ihre Beute zu holen, und man sah sie ihre Gefangenen innerhalb weniger Schritte von den Offizieren verzehren, die dem Gemetzel durch Wegschiessen der Räuber ein Ende zu machen suchten, allein vergebens; sie verfolgten die unglücklichen Thierchen von Tau zu Tau, von Raa zu Raa und um das ganze Schift, bis die Nacht dem Ver- nichtungswerk ein Ende machte, Freund und Feind zur Ruhe gingen und dann bei Tagesanbruch eiligst den Weg nordwärts fortsetzten‘“ — Hier- her muss auch das massenhafte Auftreten der Sumpfohreule (Strix bra- chyotos) im Jahre 1857 in Deutschland, wo sie sogar brütete, gezählt werden. Mit ihrem Erscheinen war damals die grosse Überhandnahme der Brand- und Zwergmaus im Jahre 1856 und der Feldmaus im Jahre 1857 verbunden; auch andere Räuber erschienen mit der Eule, wie der Mäuse- und Rauchfuss- bussard und unter anderen Weihen auch die östliche Art circus cinerareus. Mit der Abnahme der Mäuse verschwand auch die genannte Eule, deren Vorkommen noch heute in Deutschland selten ist. Der kleinste Theil der Vögel bleibt Sommers wie Winters an einem und demselben Orte. Dies sind die sogenannten Standvögel. Sie be- dürfen nicht des Wanderns, noch viel weniger des Zuges, da sie von Natur begabt sind, sich zu jeder Jahreszeit ihren Unterhalt an ihrer Heimstätte zu verschaffen und der Kälte des Winters theils durch ihr rauheres Naturell, theils durch ein dichtes Federkleid oder neben diesem noch durch den Ansatz von Fettpolstern zu widerstehen. In unserer gemässigten Zone sind mut. mut. mehr und minder Standvögel die Haussperlinge, Goldammer, Schwarz- und Misteldrosseln, Wasseramseln, derZaunkönig, die gemeine Krähe, der Eichelheher, die Feld-, Auer-, Birk- und Haselhühner, der grosse Trappe, der gemeine Reiher, einige Taucher und Möven. Nur der leichteren Übersicht halber nahmen wir den Gang der Be- trachtung durch Unterscheidung von Stand-, Strich-, Wander- und Zug- vögeln. In der Wirklichkeit gehen diese Erscheinungen aber vielfach in- einander über, ja es machen Familien, Sippen und Arten durch ihr ver- schiedenes Verhalten in diesen Richtungen Ausnahmen von den angedeuteten Regeln. Schon bei Tiedemann und Schlegel treffen wir auf diese An- 3. Der Zug der europäischen Vögel. 19 sichten, die ganz richtig betonen, dass, da die Ursachen der Reisen (sc. des Wanderns und Streichens, nicht aber des Zuges) nur in örtlichem Nahrungs- mangel begründet seien, es einleuchte, wie Vogelarten, deren Vorkommen sich auf grosse ‘geographische Breitestrecken ausdehnte oder welche „Weltbürger“ seien, einen Orts Standvögel sein könnten, während sie sich in andern Gegen- den als bewegliche Repräsentanten des Strichs, Wanderns und sogar Zuges zeigten. Es genüge, hier nur einige Exempel anzuführen. Die Schwarz- drossel ist bei aller eutschiedenen Neigung zu ihrem Heim, dem „Stand“, doch variabel, indem sie in der Ebene als Standvogel, im Gebirg aber als Strichvogel auftritt, wenigstens die Weibchen und jungen Vögel. Selbst das ausdauernde, rauhe Waldhühner-Geflügel, sowie die Feldhühner streichen. Wir Brüder beobachteten öfters im Spätherbst nach der Mauser verschiedene „Völker“ Feldhühner zusammengeschart bis zu 60 Stück ge- markungsweis streichen und dabei sogar ihrer sonstigen Gewohnheit zuwider, mitten in zusammenhängenden Waldungen. Im ehemaligen hessischen Hinter- lande, im Vogelsberg und im Odenwalde bemerkten wir an den Waldhühnern ein Streichen und finden in unserer Jagdpraxis die längst ausgesprochene Behauptung bestätigt, dass das Birkwild 'schr gerne streicht, ja sogar auswandert. Die Nebelkrähe findet sich als Standvogel auf dem grie- chischen Archipel, während sie in unsere Gegenden aus dem Norden kommt, wo sie nistet. Dasselbe gilt von der Haubenlerche. Die Weibchen und jungen Vögel der Edelfinken wandern zur Spätherbstzeit, während viele Männchen Standvögel bleiben. Sperber, Hühnerhabicht, Roth- fussfalk, Mäuse- und Rauchfussbussarde bewähren sich in man- chen Gegenden ebensosehr als Standvögel, wie sie in andern streichen und wandern. Das Schneehuhn des Nordens wandert oft in grossen Trupps südlich, wie es aus hoher Alp nachGirtanner bei sehr langen und strengen Wintern Strecken zu Thal streicht. Der Segler endlich zeigt sich unter den Wendekreisen als Standvogel; in allen übrigen Länderstrichen ist er ein entschiedener Zugvogel. Bei diesen Anführungen mag es bewenden. Es entnimmt sich aus diesen Thatsachen leicht der Schluss, dass ebensowenig von den Individuen innerhalb der Arten, Sippen, ja ganzer Familien eine strenge Regel im Hin- blick auf das ständige Verweilen am Heimathsorte, das Streichen, die Wan- derung und selbst das ausgeprägte Ziehen innegehalten wird, als sich be- stimmte Grenzen bilden lassen in Hinsicht der Beständigkeit oder aber der Veränderlichkeit, der Grösse oder Ausdehnung von Zug und Wanderung. Auch wird gerade bei Beobachtungen in diesen Richtungen gar leicht die Thatsache übersehen, dass nicht wenige der bei uns und in andern gemäs- sisten Gegenden überwinternden Zug- und Wandervögel Bewohner nörd- licher Gegenden sind. Ausdehnung, Anfang und Ende von Zug und Wanderung sind sehr veränderlich und in der Natur der Sache begründet: er) "8. Der Zug der europäischen Vögel. denn der rauhere, dem hohen Norden entstammende Zugvogel findet in der gemässigten Zone, z. B. in den südeuropäischen Ländern bis zum Mittel- meer, noch ganz annehmbare wirthliche Stätten; während die entsprechenden südlicheren Arten ihre Witerherbergen schon im Wendekreise des Krebses suchen werden. Desgleichen vertauschen einige nordische Wanderer gerne ihre Zone mit den ihnen zusagenden Regionen auf Plateaus in Gebirgs- zügen des Südens. Mehr entschieden und constant bemerkbar ist jedoch die schon vom Prmzen von Neuwied ausgesprochene Thatsache, dass in den Ländern der heissen Zone mit fast sich stets gleichbleibendem Klima und wenig oder gar keinem Jahreswechsel nur Stand- und Strichvögel und höchstens Wandervögel auftreten. Jedoch auch die heisse Zone gibt durch ihren Wechsel von Dürre und Regenzeit den dortigen Vögeln Veranlassung zum Wandern, wie uns das Verzeichniss Heuchlin’s belehrt, das er über die in Afrika oft hunderte von Meilen weit Wandernden aufstellt. Ein Gleiches erfahren wir schon von A. v. Humboldt, welcher in seinen Reisen in die Aequinoctial-Gegenden Folgendes berichtet: „Diese regelmässigen Reisen der Vögel aus einem Tropenland ins andere in einer Zone, deren Temperatur das ganze Jahr hindurch unverändert bleibt, sind sehr ausser- ordentliche Erscheinungen. Auch auf der Südseite der Antillen-Inseln treffen alljährlich zur Zeit der grossen Überschwemmungen der Ströme der Terra Firma zahlreiche Flüge Zugvögel vom Orinoko und seinen Nebenflüssen ein. Es ist wahrscheinlich, dass die Wechsel von Trockenheit und Feuchtigkeit in den Aequatorial-Ländern auf die Gewohnheiten der Thiere ähnliche Wir- kungen äussern, wie in unseren Erdtheilen die grossen Temperaturwechsel (!) thun. — Gleichmässig zieht ein erleichterter Fischfang die Plattfüsse und die Strandläufer von Norden nach Süden, vom Orinoko nach dem Ama- zonenstrom.“ Beobachtungen neuerer Reisenden, wie Dr. G. Fritsch, geben uns ebensowohl Veranlassung, behutsamer als seither mit Behaup- tungen und Annahmen über die geographische Ausdehnung der Wanderung und des Zuges zu sein. Mit Recht bezweifelt Dr. F. ©. Nollin einer Ab- handlung über „die Erscheinungen des sogenannten Instinktes“ im October- heft der Zeitschrift „der Zoologische Garten“ von 1576 u. a. den Beweis für die Annahme, dass der unterm 12°n. Br. von Brehm angetroffene Wachtel- könig auch wirklich aus dem nördlichen Deutschland dahinzog, dass „die Spiessente (Anas acuta), die im Winter sich unter dem 11° n. Br. um- hertreibt, dieselbe ist, die im Sommer unter dem 700 n. Br. nistete.“ — Fritsch begegnete jenseits des Aequators unter dem 330 s. Br. dem ge- meinen Storch. Von dieser Art ist es ebenso zweifelhaft, woher sie gekommen, ob aus der nördlichen oder südlichen Hemisphäre, ob die Art aus Europa, Nord- oder Südafrika, oder ob die Gegend, wo sie angetroffen, gar ihre Heimath war. Letztere Frage wäre wenigstens ebenso berechtigt, wie die anderen, da nach A. v. Homeyer der gemeine Storch ein Brut- 3. Der Zug der europäischen Vögel. Ss vogel der afrikanischen Wüste und der Steppe Medidjah. Wenn Living- stone grosse Flüge (?) des Mauerseglers über der Ebene bei Kuruman (unterm 90 n. Br.) in vollem Zuge begriffen beobachtete, so. entsteht ebenwohl die Frage, von welcher Heimath diese Reisenden den Zug begonnen: denn der Segler ist als Brutvogel ebensogut in Algerien und Egypten betstätigt, als er m Europa zu Hause ist. Alle diese Einzelerfahrungen zusammen betrachtet, berechtigen wohl vorläufig zu dem Zweifel, dass ein Zug der Vögel von der nördlichen Erd- hälfte über den Gleicher hinaus zur südlichen Hemisphäre stattfindet. Man neigt sich in neuerer Zeit mehr der Ansicht hin, dass zur Herbstzugzeit eine allgemeine Verschiebung in den Aufenthaltsorten unserer Vögel ent- stünde und zwar in der Weise, dass die jeweilig südlicheren Stätten conti- nuirlich von nördlicheren Einwanderern eingenommen würden. Es wird sich dabei natürlich gestalten, dass die ziehende Vögelschaar sich in den Ländern der Winterherbergen verhältnissmässig vertheilt, dass also Über- häufung in Distrikten naturgemäss bald wieder durch Weiterziehen Über- zähliger corrigirt oder ausgeglichen und umgekehrt noch gar nicht oder wenig besuchte Landstriche durch Zug und Wandern bevölkert zu werden pflegen, wenn sie wirthlich und annehmbar für die Wandergäste überhaupt sich bewähren. Wie in so unzähligen Fällen wird auch hier die Natur egalisiren. Nach diesen Vorbemerkungen kann nun der Zug oder die regelmässige grosse Reise der gefiederten Welt ungetheilt besprochen werden. Der besseren Übersicht wegen und auch seinem Wesen nach mag er nach folgenden Ge- sichtspunkten oder Abschnitten Betrachtung finden: Das Fortziehen in dieFremde oder der Hinzug, und hier wieder die Stadien: die Vor- bereitungen zum Zuge und die Zeit desselben, sodann die Richtuns, die Art und Weise, sowie das Ziel der Reise und das Leben in der Fremde. Darauf beschäftige uns der Rück- oder Herzug aus der Fremde in die Heimath. Schon der Nachsommer verräth uns im manichfachem Gebahren und eigenthümlicher Form die Reise-Vorbereitungen. Bereits Eingangs un- serer Betrachtung erwähnten wir das Zusammenschaaren, die Versammlungen der Schwalben und Störche, das Kundgeben eines beweglichen Lebens der Sänger in Gärten und Haimen durch Lockrufe, Zwitschern und Gesänge. Beschauen wir das Thun und Treiben noch anderer Vogelarten zu dieser Zeit. Da begegnen unseren aufmerksamen Blicken öfters junge Nachti- sallen, in klemer Vorreise begriffen von Gebüsch zu Gebüsch, von Garten- hecke zum Haag, von Hain zu Hain. Der Eine von uns (Adolf) beob- achtete dies fast jährlich an verschiedenen Orten der Wetterau, des Taunus und des Odenwaldes, der Andere von uns (Karl) begrüsste einst eine junge, eben erst selbstständig gewordene Nachtigall am 2. Juli bei Alsfeld als Gast, A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 6 S2 3. Der Zug der europäischen Vögel. welche daselbst ihre Mauser bis Ende August vollzog. An anderen Örtlich- keiten, deren gebüschreiche, räumliche Ausdehnungen den Bruten nach ihrem Selbstständigwerden mehr von den Alten unangefochtene, anderweit zusagende Plätze oder Stände zur Vertheilung darbieten, pflegen weniger oder gar keine Veränderungen stattzufinden. So verweilten die jungen Nachtigallen in einem unfangreichen, an ein kleines hainartiges' Gehölz stossenden Parke an der Nidda bis zu Anfang September, ihrer allgemeinen Zugzeit, und übten ihren Gesang unbeholfen em. — Die Grasmücken, Laubvögel, das Garten- rothschwänzchen, die Singdrosseln mitso vielen andern Sängern wandern von einem Hollunderbusche zum andern, daselbst den Zehnten sich nehmend vom Beerensegen des Nachsommers und mit Gezwitscher und selbst mit lauten Strophen den bevorstehenden Fortzug ankündigend. Den feinen Ruf des Rothkehlehens im Erdgebüsche beantwortet der Hausröthling von hoher Dachfirste, und unser Staar besucht noch einmal semen Brutkasten oder sein Baum- und Mawerloch, schlüpft aus und ein und lässt seine bauch- rednerischen Musikweisen hören über der trauten Stätte seines Heims. Aber auch in den Lüften regt sich’s merklich unter den Vögeln. Die Saatkrähen und Dohlen sammeln sich in schwarzen Flügen in den Vorhölzern der Wälder, wimmelnd und schwatzend den Wegzug dem Kundigen aus- plaudernd. Ahnlich schaaren sich die Wildtauben, allabendlich in Nadel- hölzern einfallend. Auch die Reiher schlagen sich zu Trupps zusammen und sitzen, wie zuvor die Störche unten in Wiesen und Triften, auf den kahlen Asten der Eichenwälder und Triftbäiume. Die Haidelerche erhebt sich noch einmal in geringe Höhe aus der Schaar ihrer zigeunerhaft von Halde zu Halde, von einem Baumstück zum andern wandernden Genossen- schaft, um ihr Abschiedslied der heimathlichen Haide zu lullen. Die Feld- lerche begrüsst ihre Flur in abgebrochenen Noten ihres verhallten Sommer- gesanges und schaart sich zu immer ansehnlicheren Flügen, flurenweis ziehend. In beschriebener Weise laden sich die Hausschwalben zum Stelldiehein auf den Dächern ein, die Rauchschwalben auf den Bäumen und den Telegraphendrähten der Eisenwege in dicht gedrängten Reihen, bereit auf das Loosungswort: Auf zum grossen Zug in die Fremde! Und dies Wort spricht die beredte Sprache in der Vogelbrust. In Millionen Vogelherzen hallt es wieder, und eines Tages hat sie bei Allen gewirkt: unsere lieben gefiederten Wesen haben uns verlassen. Bei dem Wegziehen sind zwei wichtige Abschnitte im Leben des Vogels vorüber: die Brut und die Mauser. Die durch diese beiden anstrengenden Lebensepochen entschwundenen Kräfte hat der Vogel wieder doppelt ersetzt durch ‚seine entschieden der Ernährung jetzt hingegebenen Lebensweise. Alles in der gefiederten Welt hat sich gekräftigt, ist gerüstet für die ausserordentlichen Anstrengungen der Reise. Es bestätigt sich, dass der Regel nach der Vogel, welcher am 3. Der Zug der europäischen Vögel. S3 frühesten seine Brut vollendet und mausert, auch am zeitigsten zur Reise aufbricht. Ingleichen macht sich die Regel geltend, dass die zuerst ziehenden Vögel immer zuletzt wiederkehren und umgekehrt die spätziehenden am ehesten wieder in ihrer Heimath sind. Die Zeit des Hauptzuges bei der Mehrzahl der Vögel fällt m die der beiden Tag- und Nachtgleichen. Wir können nur in allgemeinen Umrissen die Zugzeiten der bekann- testen der zahlreichen Reisenden angeben. Es würde die Aufzählung der langen Reihe der Pilgernden den Leser nur ermüden. Dem flüchtigen Segler sozusagen auf dem Fusse folgen der Kukuk, Pirol, der Gartenlaubvogel mit seinen zärteren Verwandten, dem Buchenzeisig und Fitis, die Blaukehlchen, die Uferschilf- sänger, de Würger, der Bienenfresser, die Mandelkrähe, die Seeschwalben, der Nachtschatten. Bis Mitte September verlassen uns mit einigen der schon Aufgeführten die Wachtel, der Wachtel- könig, die kleineRohrdommel, der Wiedehopf, die Fliegen- fänger und emige Sumpfschnepfen. Von Mitte September zieht die Schwalbe, Nachtigall, Sprosser, die graueGrasmücke, der Gartenrothschwanz, das Turtelehen. Gegen das Ende Septembers bis zur Mitte Octobers verschwinden in der Regel Mönch, Klapper- grasmücke, die Dorn-Grasmücke, der kleine Laubvogel, die Rauchschwalben, Schafstelzen, der Baumpieper, die Regenpfeifer, die noch zurückgebliebenen oder nördlicheren Wach- teln, Strandläufer und Regenpfeifer, derKibitz, Blässhuhn, Steissfüsse und Enten; ferner Sperber, die Bussarde, die Roth- drosseln und einige nachziehenden Singdrosseln, weisse Bach- stelze, Rothkehlchen, Hausröthling, Wiesenpieper, die jungen weiblichen Edelfinken, das feuerköpfige Gold- hähnchen; sodann bis Ende October unsere grösseren Wildtauben, wie Hohl- und Ringeltaube, die Waldschnepfe, Beeassinen, Rallen, Wasserhühner und Wildgänse, welch letztere auch noch vom höheren Norden bis in den November und später mit Saatkrähen und Dohlen, Seeadler und vielen Anderen folgen. Schon zu Anfang November rücken an Stelle der schon im October Abschied genommenen in die Länder Mitteleuropa’s ein die Bussarde, Taucher und Steiss- füsse, viele nördlichen Enten, Wildgänse, Saatkrähen u. s. w. Diesen Erfahrungen aus Mitteleuropa über die Zugzeit der einheimischen Arten im Spätjahre mögen sich einige Beobachtungen anschliessen, die an den Gestaden des Mittelmeeres hierüber angestellt sind. „Zu allen Zeiten“ — berichtet „Das Ausland“ a. a. O. — „hängt viel von der Strenge des Winters ab, indem je nach Beschaffenheit desselben die Anzahl der Zugvögel zu- oder abnimmt. Ohne Zweifel dehnen viele, gleich den Drosseln und andern in gemässigten Klimaten einheimischen 6* 84 3. Der Zug der europäischen Vögel. Arten, während der Wintermonate ihr Aufenthaltsgebiet aus, wenn auch nicht allein des Nahrungsmangels wegen, da das kalte Wetter ihnen erlaubt, sich über Gegenden zu verbreiten, die ihrer Körperbildung und ihren Ver- hältnissen im Sommer feindselig sind“... „Sobald längs der Gestade des Mittelmeeres das kalte Wetter wirklich eingetreten ist, findet eine theilweise Wanderung der folgenden Vögel statt. Der Norfolk-Kibitz zerstreut - sich im Winter über die Inseln und dringt weit südlich nach Uentral-Afrika vor. Während des Novembers kommen Flüge von Goldkibitzen auf den nördlichen Seiten der maltesischen Inseln an; ebenso einige der grauen und ziemlich viele der Schlappflügel „Kibitze“ (Lappen- kibitz? V. pileatus?) ...“ „Die Fröste des Octobers und der folgenden Monate treiben über das Binnenmeer Myriaden von Regenschnepfen, die Wald-, die gemeinen und kleinen Strandläufer, Stelz- vögel, Wasserrallen, die gemeinen, gefleckten Baillons, sowie die klemen Landrallen und das Wasserhuhn. In kleinerer Menge kommen schwarzschwänzige grosse Uferschnepfen,, gemeine und Haarschnepfen, gemeine und gefleckte Roth- beinchen, Sumpf- und grüne Strandläufer nebst Hauben- tauben, die grosse Schnepfe, das graue Wasserhuhn, der Brachvogel-Strandläufer, der Steindreher. Hin und wieder zieht die Waldschnepfe hinüber...“ „Die adriatische Möve dehnt ihr Gebiet im Winter über das westliche Mittelmeer-Gestade aus. Viele nordischen Möven und Meerschwalben, die kleineren und schwarz- rückigen (Mantel-)Mören, die Sandwich-, die gemeinen, die kleinen, die weissflügeligen und die bärtigen Meerschwalben verbreiten sich über das Meer und wandern nilaufwärts und nach den Seen Nord-Afrika’s.“ Wie es scheint sind unter diesen meist ziehenden Stelzvögeln und Möven auch blos wandernde Arten, z. B. die adriatische Möve, begriffen. Über die Richtung des Zuges ist die Beobachtung ziemlich unter- richtet. Schon die ältere Ansicht, wie die Tiedemann’s, ist, abgesehen von der irrigen Meinung dieses Autors über die Ursache des Zuges, im Wesent- lichen die richtige, wenn sie den Zug als der (ungefähren) Richtung der Parallellinien eonform der Bewegung der Erde um die Sonne gehend be- zeichnet. Es sei hier erläuternd für die ganze Abhandlung bemerkt, dass wir, der Überschrift gemäss, wesentlich den Vogelzug auf unserem Continente im Auge haben. In Deutschland wie in ganz Mitteleuropa geht der Hinzug im Allge- meinen von Nordost nach Südwest, bald mehr entschieden die südliche, bald mehr die westliche Richtung behauptend. Hingegen passiren die Zug- vögel Englands augenscheinlich den Canal, um entweder über Frankreich sich zu verbreiten oder darüber wegzuziehen und den dortigen Zugvögeln 3. Der Zug der europäischen Vögel. 1619) sich anzuschliessen, die sich in ihrer Richtung theilen, indem sie einmal von den Gestaden Südfrankreichs über das Mittelmeer, zum Andern aber auch über die Pyrenäenpässe nach Spanien ziehen. In Spanien wird zwar mehr oder weniger die ganze südliche und südwestliche Küste zum Überzug über das Mittelmeer nach Afrika benutzt, vorzugsweise aber — wie sich von vornherein schon denken lässt, aber auch durch Beobachtungen bewiesen ist — die enge Strasse von Gibraltar. Alle Gewässer, die in der ange- deuteten Richtung fliessen, alle Thäler, Gebirgseinschnitte, Wälder und Haine sind Anhaltspunkte und Zugstrassen der Wanderer. Jeder Einschnitt, alle Sättel der Gebirge dienen als Pässe, um über die Höhen zu kommen. Für die Ebenen Deutschlands bildet eine Hauptzugstrasse das Rheingebiet, sowie die Donau und Elbe, weniger die Oder. Allen Flüssen zweiten Ranges, allen Flüsschen und Bächen folgen ebenfalls gern die Reisenden, wenn nur ihr Lauf nicht ausserhalb der Richtung des Zuges geht. Dieses Besuchen der Gewässer oder vielmehr die Verfolgung ihres Laufes bemerkt man aber vorzugsweise nur beim Frühlingszuge, in beschränkterem Masse, ja bei überwiegend vielen Arten und Sippen gar nicht beobachten dasselbe unsere Vögel während des Herbstzuges; der — wie wir zeigen werden — einen entschieden andern Charakter hat als der Frühlingszug. In Frankreich folgen viele Vögel vornehmlich dem Gebiete der Rhone und Garonne, in Spanien öffnen sich ihnen nach dem Überzug über die Pässe der Pyrenäen die grossen Hochebenen dieser Halbinsel. Es wenden sich hauptsächlich die Züge den wenigen, aber ergiebigen Tiefebenen, wie denjenigen Aragonien’s mit den Flüssen Ebro, Guadiana und denjenigen Andalusiens mit dem Guadalquivir zu. In Russland folgt. der Zug besonders dem Gebiete der Wolga, dem des Don und Djneper, in Polen der Weichsel. Am meisten bewegt sich die grosse Vogelzugstrasse gen Afrika über Italien und seine Inselgruppen, die Türkei resp. Griechenland mit den inselbesäeten Jonischen und Ägäischen Meeren. Das mächtigste Zuggebiet für die Vogelreisen aus Mitteleuropa sind die Alpen. F. v. Tschudi und G. Kohl berichten uns hierüber manches Interesseerregende. So bemerkt u. A. der Erstere im „Thierleben der Alpenwelt“: „dass viele in der Westschweiz heimische Wandervögel nicht über die Alpen fliegen, sondern durch das französische Rhonethal. Diejenigen aber, die von Sardinien, Sicilien und Afrika (also im Herzuge) nach der westlichen Schweiz pilgern, folgen erst dem Lauf des Po, theilen sich dort und überfliegen theilweise die Alpen, theilweise gehen sie in's untere Rhonegebiet über und folgen diesem nach dem Genfersee, um den sich, da er im Osten, Westen und Süden von Bergen umgeben, aber mit einem freien Südwestthore versehen ist, grosse Vögelmassen aus Süd und Nord sammeln.“ — Der sorgsame Beobachter Kohl sagt in seinen „Alpenreisen“: „Alle Wandervögel aus Norden kommen das Reussthal vom Vierwaldstätter See her herauf. Der unzugängliche Schöllenenschlund, der S6 3. Der Zug der europäischen Vögel. den Verkehr des Menschen mit dem Reussthale so lange hemmte, konnte ihnen nie hinderlich sein. In der Höhe, in der sie sich aufhielten, war das Thor weit genug. — Wenn die Zugvögel im Ursenerthal ankommen, bietet sich ihnen eine Aussicht auf drei Pässe dar, auf die Furka, die nach Wallis, auf den Ober-Alpenpass, der nach Graubünden, und auf den Gott- hardpass, der nach Italien führt. Der Letztere ist der höchste und auch der am meisten versteckte von diesen Pässen. Nichtsdestoweniger lassen sich die Vögel nicht beirren. Sie schwenken, ohne die beiden übrigen Pässe zu betrachten, gleich zum St. Gotthard ein, als wenn sie wüssten, dass dieser sie auf dem kürzesten Wege zu ihrem Ziele führte, und dass sie durch Wallis und Graubünden wieder lange Umwege zu machen hätten. Die zahlreichen kleinen Seen des St. Gotthard benutzen sie als Ruheplätzee Doch vermögen sie dort nie lange zu verweilen, weil es ihnen in jenen Höhen an Nahrung, an Fischen und Insecten, gebricht. Sie eilen zu den italienischen Seen hinab, wo sie sich im Herbste zu Zeiten in grossen Schaaren versammeln, und wo ein Theil von ihnen überwintert.“ Neben der Erfahrung spricht schon die Wahrscheimlichkeit dafür, dass der St. Gotthardpass der von den alpenreisenden Vögeln, vornehmlich den Grossvögeln, wie Kranichen, Störchen, Gänsen, Enten u. a. be- vorzugteste ist, da dort die nördlichen Seen nahe zusammentreten, wodurch sich den Wandernden ein ebenso kurzer als auch der ergiebigste Weg in diesen Hochgebirgen bietet. — Über eine frequente Zugstrasse im östlichen Europa gibt uns derselbe Autor wiederum Aufschluss. „Der Chersonesos Trachea“ (südrussisches Küstenland auf der Krim) — berichtet Kohl — „ist en vollkommen flaches Land, das ih seiner Spitze gegen Westen hin sehr allmälig wie eine schwach geneigte Tafel bis zum Niveau des Meeres himabsteigt. Erst bei Balaklawa fängt das hohe Bergufer an. Die Zugvögel, die von Kleinasien im Frühling herüberkommen, ziehen von dort aus auf die Krim, weil dies der kürzeste Weg über den Pontus ist. Sie stossen im Süden der Krim auf ein hohes Gebirge, welches sie umgehen. Ein Theil derselben zieht nach Osten und gelangt durch die Defilden und tiefen Querthäler, die in der Mitte, beim Theatirdagh, das Gebirg durchbrechen, in:die Steppe, der andere Theil aber geht nach Westen über den niedrigen Chersones. Ihr An- drang ist hier im Frühling sehr gross, und sie beleben dann das sonst so todte und öde Tafelland ungemein“. Hier also haben wir die Beobachtung eines erprobten Reisenden als An- haltspunkt für die Zugrichtung auch in dem östlichsten Theile unseres Con- tinentes, der mit dem nördlichen und nordöstlichen Verlauf des Rückzug sim mittleren und westlichen Europa ganz übereinstimmt. Es entstehen also schon Zweifel, ob die eben von Kohl referirte Zugstrasse nach den süd- 3. Der Zug der europäischen Vögel. 87 östlich von ihr liegenden Nilgesenden gehe; um wie viel mehr muss es fraglich, ja sehr unwahrscheinlich sein, dass von den mitteleuropäi- schen Zugvögeln Egypten, das man seither immer gewohnt war, als die Hauptwinterherberge unserer Zugvögel zu betrachten, jemals berührt werde. Aber noch ist eines seither gar nicht geahnten oder vielmehr vielfach bestrittenen Zugweges zu gedenken. Es betrifft das merkwürdige, aber that- sächlich bewiesene Ercheinen mancher am erikanischen Fremdlinge auf Helgo- land, in Irland und England, welches aber einen Vergleichspunkt bildet mit der als regelmässig erkannten Reise von allgemein bekannten europäischen Zugvögeln. Man erklärte bis in die neueste Zeit dies Erscheinen für ein Verirrt- und Verschlagensein der Vögel. Von Gäthke angestellte Beobach- tungen auf Helgoland haben in diesem Eintreffen von Vögeln aber einen ganz regelmässigen, selbst nach Tagen zu bemessenden Zug bestätigt, und so sind z. B. die weisse Bachstelze und der Weissschwanz oder grosse Steinschmätzer (Saxicola oenanthe), welche als Brutvögel Grönlands und in Amerika fehlend constatirt sind, als Zugvögel entdeckt worden, welche die erstaunliche Reise über den atlantischen Ocean nach Europa alljährlich zu den bekannten Zugzeiten im Frühlinge und Herbste her und hin unternehmen. Man hat gegnerischer Seits diese allerdings erstaunenswerthe Reise be- zweifelt. Aber es hat der ebenso aufmerksame als zuverlässige Gäthke neben dem Beweise, dass es nach Analogie der Flugkraft einer Brieftaube einem schnell- und leichtfliegenden Vogel möglich sei, in kurzer Zeit (in 12 — 16 Stunden) von Grönland bis Irland oder Helgoland zu fliegen, eine andere auch bisher von uns bezweifelte Thatsache für die Möglichkeit eines Hin- und Herzuges über den Ocean zwischen Europa und Amerika durch Beobachtungen bestätigt, nämlich, dass selbst kleine Landvögel wie Drosseln und Schneeammern auf unbewegter See einfallen, schwimmend sich erhalten und sich wieder zu erheben vermögen. Dies könnte den Beweis dafür ab- geben, dass auf der Seereise ermattete Vögel zeitweilig auf dem Meere aus- ruhten, was aber nur bei stiller See möglich sein dürfte. — Bewährte sich übrigens die Ansicht Gäthke’s durch fortgesetzte Beobachtungen als thatsächlich, dann könnten diese überseeischen Reisen doch gewiss nur bei Luftströmungen bewältigt werden, welche in der Richtung des Zuges der Reisenden sich bewegten! — Eine merkwürdige, für unsere groben Sinne unfassbare Begebenheit ist das genaue Einhalten dieser Luftwege von den Vögeln. Dass hier bis- weilen die Führung alter, erfahrener Vögel waltet, ist wohl nicht abzuleugnen. Wir Brüder haben nun schon Jahrzehnte lang die Züge der Reisenden in Gebirgen und Ebenen unseres engeren Vaterlandes beobachtet und fanden jedes Jahr ein auffallend genaues Benutzen der Hauptzugstrassen 88 3. Der Zug der europäischen Vögel. von Seiten der Wandernden; namentlich bemerkten wir die grösseren Vögel regelmässig die einmal bekannten Luftwege kommen und gehen und dies ebensowohl über Gebirgseinschnitte, als im Wesentlichen über offene Thäler hinaus. Die Fortbewegungsmittel, auch die Grösse und Eigenthümlichkeit der Vögel bewirken die besondere Art und Weise des Zuges. Die Arten von gutem Flugvermögen legen ihre Reisen im Fluge, die Schwimmvögel wo- möglich durch Schwimmen, die Laufvögel wesentlich durch Laufen zurück. Diese Fortbewegungsweise ändert sich jedoch naturgemäss vielfach durch die Beschaffenheit der sich darbietenden Zugstrassen, wonach die wandernden Schwimmvögel abwechselnd, bald schwinnmend Wasserwege, bald fliegend Landstrecken und dies mehr oder weniger entschieden je nach ihrem Flug- vermögen durchreisen, Laufvögel hingegen über Gewässer im Fluge weiter ziehen werden. Immer aber wird die Reiseart wesentlich der Flug sein. Nur allgemeine Umrisse lassen sich bis jetzt über die Tageszeit geben, in welcher das Ziehen hauptsächlich erfolgt: denn gerade hier stehen wir noch vor grossen Lücken in der Beobachtung. Die grossen, starken, wehrhaften sowie die flüchtigen Vögel, welche entweder keiner besonderen Verfolgung durch Raubvögel ausgesetzt sind, oder diesen Feinden entgehen können, reisen bei Tage oder aber zu jeder Tageszeit hoch in den Lüften: alle schwächeren, bezüglich scheuen Vögel hingegen benutzen ebensosehr die Nacht oder Dämmerung als jede mögliche Deckung von Wald und Busch- werk. Die Stimmen vom Kleingeflügel, welche das kundige Ohr des Beobachters in den Nächten während der Frühlings- und Herbstzugzeit ver- nimmt, dienen der letzteren Annahme zur Stütze. Ausserdem bekundet sich das Reisen noch in ausserordentlich verschie- dener Weise. Bald bemerkt man die Pilger blos einzeln oder paar- und familienweise, bald wieder in mehr oder minder grossen Flügen, endlich wieder andere, nach Geschlechtern und Alter getrennt, ziehen, beim Hinzug die Weibchen mancher Arten voran, die Männchen später, beim Herzug in umgekehrter Folge. Es sind die Fragen nach dieser Richtung hin, insbe- sondere die Erforschungen, ob junge und alte Vögel mehr oder weniger ge- trennt von einander ziehen, sehr vorsichtig zu behandeln und äusserst schwierig anzustellen. Es gehört ein unausgesetztes Beobachten in verschie- denen Landstrichen und Örtlichkeiten, eine ganz umfassende Kenntniss des Wesens und Lebens der Arten, ein von frühester Jugend an praktisch geübter, scharfer, untrüglicher Blick zur Behandlung und Beantwortung dieser Fragen; und diese lassen sich dann immer nur stückweise und sehr allmälig zum exacten Austrage bringen. Einzelne Züge, welche wir in dieser Richtung im Laufe von Jahrzehnten an den Pilgern entdeckt, mögen hier als kleiner Beitrag zur Ergänzung dieser und ähnlicher Lücken in der seitherigen Beobach- tung dienen. 3. Der Zug der europäischen Vögel. 89 Wie erwähntermassen bei den Nachtigallen, so bei einigen heimi- schen Grasmücken, unseren Laubvögeln und Singdrosseln und andern kleinen Sängern, haben wir Brüder manchmal früher schon, nament- lich aber wiederholt im Herbst (1379 und 1830) ein ausschliessliches Ziehen von jungen Vögeln in der Vorreise zum grösseren Zuge bemerkt. Diese ziehen — wie schon erwähnt — durch Gärten, Haage, Baumstücke und Vor- hölzer vereinzelt und in kleineren Gesellschaften. Vereinzelt auf dem Zuge sind von uns bemerkt worden der Kukuk, der Pirol, hin und wieder der Segler, der Wiedehopf, die Nacht- schwalbe, der Nussheher, rothrückiger und rothköpfiger, sowie grosser Würger, die jungen Singdrosseln, meist auch die Waldschnepfe, die Bekassine (Himmelsziege), die Pfuhlschnepfe, die kleine Bekassine. Ebenso oft einzeln, als in Gesellschaften von zwei und mehr Exemplaren ziehend, gewahrten wir Grasmücken, Blau- und Rothkehlchen, Garten- und Hausrothschwanz, Laubvögel, Baum- und Wiesenpieper, unsere beiden Wiesenschmätzer, sowie den Stein- schmätzer. Stets in Trupps, gememiglich familienweise ziehen die Haidelerchen; in grösseren Flügen die Ackerlerchen; auch die Haubenlerchen schlagen sich oft, wenn nicht regelmässig zu Gesellschaften. Berg- und Leinfinken, Erlenzeisige, Buchfinken ziehen ebensowohl in Schaaren als in kleineren Flügen und in diesen letzteren bisweilen vereinzelt in Abständen, wobei sich die Ziehenden aber stets mit Lockrufen signali- siren. Die Staare fliegen stets in gedrängten Flügen. Mistel-, Wachholder- und Weindrosseln ziehen ebenfalls in Schaaren. Dass die jungen Vögel und die Weibehen der Edelfinken allein ziehen, ist bestätigt, ebenso dass die männlichen älteren Vögel dieser Art über- wintern — die Thatsache aber, ob Letztere an ihren Heimathsorten oder in einem striehweisen oder wandernden südlichen Vorrücken stattfindet, ist uns bis jetzt noch nicht unumstösslich festzustellen gelungen. Gewiss ist aber für die Gegenden Mitteleuropa’s, dass die jungen Vögel und Weibehen der Edelfinken — sollte der letztere Fall obwalten — südlicher ziehen als die älteren Männchen. Die Rauchschwalben pilgern eigenthümlich. Wir haben eine der- artige Beobachtung in unseren Thierwohnungen schon früher niedergelegt, _ welche also lautet: „Im Hessischen Vogelsgebirg, unter der sog.: „Herchen- hainer Höhe“, sahen wir spät an einem Nachmittage im Herbste 1856 die Thiere in eigenthümlicher Weise ziehen. Zuerst erschien eine Vorhut von etwa einem Dutzend, flintenschussweit (ca. 40 Schritte) von einander ent- fernt und tief am Boden herstreichend; dann kam nach einigen Secunden in einer Entfernung von mehreren hundert Schritten ein viel grösserer Schwarm 90 3. Der Zug der europäischen Vögel. der Thierchen, in welchem sie dichter zusammenstrichen, und in einem Z/wischenraume von ebenfalls einigen hundert Schritten erschien eine schwä- chere, in der Weise der Vorhut fliegende Nachhut. Der Zug ging äusserst schnell und tief an der Erde nach Südwest vorüber.“ Wir haben im hessischen Hinterlande seitdem noch einmal ein ähn- liches Ziehen an der Rauchschwalbe beobachtet, mehrmals aber auch diese Vögel in ähnlicher Weise in Flügen gruppirt in beträchtlicher Höhe über Wälder hineilen sehen. Bald mit ihrer Art allein vereint, bald gemischt mit andern Arten ziehen unsere Witldenten, besonders offenbaren darunter die letztere Gewohnheit die kleineren Arten, wie z.B. Pfeif-, Drassel-,Krikenten u.a. m. Dasselbe beobachten viele Möven. Auch nicht wenige Stelz- vögel mischen sich unter andere verwandte Arten auf ihren Zügen; die grösseren Arten ziehen aber nur unter sich. Die gleiche Selbstständigkeit im Isoliren auf Flügen bekunden die grösseren Schwimmvögel, wie Schwäne und Wildgänse. Am auffälligsten ist der Zug der Grossvögel, auch schon um deswillen, weil er nicht wenig bei Tage geschieht und in vielen Fällen dem blossen Auge sichtbar ist. Ein schönes Schauspiel bieten die Züge der Kraniche, Wildgänse und Wildenten. In der bekannten <. Form präsentiren sie sich. Die erfahrenen Thiere sind erfinderisch auf ihren Reisen. Die Altesten, wenigstens vielfach die Stärksten, bilden die Spitze des Keiles und lösen sich zeitweilig in dieser Führung mit andern ab, da nach leicht begreiflichem physikalischem Gesetze der an der Spitze rudernde Vogel den meisten Aufwand an Kräften zum Durchschneiden der Luft zu entwickeln hat und nach einiger Zeit ermüdet. Es ist merkwürdig, wie die Erfahrung diesen Wesen das Natur- gesetzliche in dieser Weise der Flugbewegung finden liess. Dass durch eine abdachige, keilförmige Figur, wie sie eme Schaar grösserer Vögel beim Ziehen herzustellen pflegt, an und für sich die Luft besser durchschnitten wird, dass also die ganze Anordnung und Form der Zuglinie den Flug des Gesammt- zuges unterstützt oder fördert, ist einleuchtend. Die ziehende Vogelschaar in ihrer Gesammtheit stellt eben durch ihre schiefe Reihe im Wesentlichen nichts anderes her, als den spitzen Kiel eines Luftschiffes. Dass der vor- derste Vogel in solcher Zugfigur, der Führer, den meisten Kraftaufwand anzuwenden hat, ist schon dargethan; ebenso der Beweis dafür, dass von Zeit zu Zeit andere Individuen die Führerstelle übernehmen, also den Er- müdenden ablösen, auch in der ganzen Linie zeitweilig ein Wechsel von hinten nach vorn sowie hinüber und herüber in die beiden Flügel des Keils stattfindet. Es ist von gewisser Seite versucht worden, eine bessere Erklärung über den Grund zu geben, warum manche Zugvögel in Keilform reisen. Bei dieser Erklärung ging man aber von der völlig irrthümlichen Annahme aus, dass der ziehende Vogel in der Regel oder stets der Windrichtung 3. Der Zug der europäischen Vögel. 91 entgegen steuere. Fine von uns schon längst bestätigte Thatsache ist es aber, dass der ziehende Vogel jede, auch die geringste und nur keine allzu heftige, orkanhafte Windströmung in seiner Zugrichtung als förderndes Mittel benutzt. Wir können diese Behauptung mit vielen unserer Beobach- tungen belegen, begnügen uns aber hier nur mit der Anführung der unbe- streitbaren, jedem erfahrenen Jäger bekannten Thatsache, dass Schnepfen und andere jagdbare Zugvögel z. B. im Frühjahre aus dem Süden stets mit Süd-, oder -Südwest- oder Westwind bei uns ankommen, dass wir zu wiederholtenmalen solche Zugvögel bei Tage aus den Wolken, mit der Windrichtung ziehend, ankommen sahen. Dasselbe berichtet ein Beobachter in der Zeitschrift „Das Ausland“ u. a. von den über das Mittelmeer ziehenden Wiedehopfen folgendermassen: „Die zauberische Form des Wiedehopfs kann man im Frühling beständig vor einem Südwind hertreiben, oder im August südwärts eilen sehen, selten schaarenweise, immerhin aber so zahlreich, dass wir einmal auf einem an der Insel Gozo hervorragenden Felsen im Verlauf einer halben Stunde nicht weniger als zehn Wiedehopfe, eimen nach dem andern, an- kommen sahen. „In demselben .Blatte, Nr. 25 des Jahrgangs 1865, weist folgende Mittheilung über „die Wanderungen europäischer Zugvögel über das Mittelmeer“ ebendahin: „So kann man im Frühling Schaaren von Falken über den Feldern und längs der Seeküsten des Mittelmeeres schweben sehen, wo die Zugvögel sich versammeln, ehe sie ihren Flug nach Norden beginnen — alle vertrieben“ (oder vielmehr getrieben — ge- schoben!) „von dort durch die heissen Winde der Wüste, die, unter den örtlichen Namen Harmattan, Sirocco, Chamsin, Samum und Samiel, bald alles Grün welk machen und die Zugvögelnöthigen, ihr Gesicht nordwärts zu wenden und in aller Eile nach passenderen Klimaten zu fliegen“, mit andern Worten: ihren Rückzug mit diesen Winden anzutreten.“ — Wie sollten nun — fragen wir jeden Denkenden — unsere heimischen Zugvögel von Süden her bei den erfahrungmässig zur Zeit der Frühlings- Tag- und Nachtgleiche herrschenden Süd- und Südwest-Winden ihre Heimath anders erreichen können, als auf die beschriebene lavirende Weise, indem sie sich vor der Windströmung her treiben lassen?! Im Spätherbste sind es die herrschenden kälteren Polarströmungen, also die nordwestlichen, nördlichen, nordöstlichen und östlichen Winde, welchen der Vogel gewöhnlich folgt oder von welchen er sich treiben lässt wie ein segelndes Schiff; wohingegen uns der Frühling die Zugvögel regelmässig mit den erwähnten gegentheiligen Winden wieder bringt. In beiden Fällen also trifft der hin- und herziehende Vogel in der Regel nicht eine ihm entgegenwehende, sondern vielmehr eine Luftströmung in der Richtung seines Zuges. Die anderweit versuchte, an sich richtige Erklärung, dass der in den beiden Keillinien je folgende Vogel von den nach hinten und 92 3. Der Zug der europäischen Vögel. schief seitwärts gedrängten Luftwellen getragen werde, welche die Flügel- schläge seines vorfliegenden Gefährten im Zuge verursachten, passt wesentlich nur für eine dem Vogelzuge entgegenwehende Luftströmung, ist also nach der eben vorgetragenen Thatsache rein überflüssig oder höchstens zutreffend in dem Falle, wenn beim Zuge die Luft ganz ruhig ist. Das tritt aber nur in seltenen Fällen ein. Immer also bleibt die Keilform an sich der physi- kalische Hauptgrund für die räumliche Förderung der Gesammtheit einer Vogelschaar durch die Luftschichte. Die Wahl der Keilform beim Ziehen hat aber noch eine ganz andere Bedeutung, nach ganz anderer Seite hin. Nach der obigen kurzen Andeutung, dass der Zugvogel sich schief gegen den ihn treibenden Wind lege, geht hervor, dass der Haken der in einer Zifterzuglinie reisenden Vögel unter Wind sich befindet, d. h. vom Wind nicht unmittelbar getroffen wird, während die lange oder Hauptlinie so formirt ist, dass sie die Windströmung von der Seite und halb von hinten bekommt. Der ganze Zug kehrt also die lange Linie der meistens in der Zugrichtung wehenden Luft- strömung so entgegen, dass letz- tere die erstere in einem spitzen Winkel trifft, also die ganze Keil- figur wie ein halb mit Rücken-, halb mit Seitenwind lavirendes Segelschiff fortgetrieben wird. Da die Geschwindigkeit der ziehen- den Vögel gewöhnlich jedoch eine grössere ist als die des sie be- gleitenden oder schiebenden Win- des, so nützt die Spitze des Keiles & immer noch zur Durchschneidung der Luftschichte vor dem Zuge. Die Fortschiebung der Zuglinie a—b) längere Zuglinie im Wind, seht nach dem Gesetz des Pa- b—e) urn Hakenlinie unter Wind, rallelogramms der Kräfte in der d—e) Windrichtung, 3 ae 3 ar Diagonale vor sich. Eine figür- {—g) Fortbewegungslinie des Vogel- : 0 zuges in der Diagonale. liche Darstellung mag hier zur näheren Erläuterung des Gesagten dienen. Die im Haken befindlichen Vögel wechseln — wie oben erwähnt — zeitweilig in die lange Linie und rekrutiren sich aus dieser, ein Zeichen dass bei einem scharfen Winde die Vögel in der langen (Wind-)Linie etwas angestrengtere Arbeit durch entschiedeneres Laviren haben, als die Gefährten im klemen Flügel. Niemals lassen die Ziehenden aber den Wind zwischen 3. Der Zug der europäischen Vögel. 95 die beiden Zugschenkel kommen, da der Zweck der Keilform hierdurch auch ganz verfehlt oder vereitelt wäre. Bei stillerem Wetter jedoch er- weitern sich die beiden Schenkel der Zuglinie mehr, bilden also einen stumpferen Winkel, während man bei unruhiger Luft die Schenkel sich mehr zusammenziehen oder in Eine Linie auflösen sieht. Ein anderes angenehmes Schauspiel gewähren die Saatkrähen und zumeilen auch die Dohlen auf ihrem Zuge. Mit einemmale nämlich wirft sich aus der dahinziehenden Schaar ein Mitglied wie ein Pfeil eine grosse Strecke aus der Höhe herab, welchem Beispiele nach und nach einzelne und zuletzt continuirlich der ganze Schwarm folst, um nach einer Strecke gerade zurückgelesten Weges in der Tiefe wieder allmälig aufzusteigen und über eine Weile das beschriebene Benehmen von Neuem zu beginnen. — Die schönen Kreistouren der Störche, womit diese ihren Fortzug be- ginnen und öfters auch ihre Ankunft ähnlich beendigen, sind schon Eingangs erwähnt worden. Zu bemerken ist noch, dass der Zug der Grossvögel im Allgemeinen langsamer, aber stetiger, auch grössere Strecken in einemhin zu gehen pflegt als der des Kleingeflügels, das in der Regel in wirren, oft unterbrochenen Flügen zieht, wobei die Mitglieder öfters rasten und alle möglichen natürlichen Deckungsmittel zu ihrer Sicherheit benutzen, auch ihre Reise nach dem Zuge der Thäler und Gewässer vielfach ändern und modificiren. Es ist schon erwähnt, dass sehr heftige Windströmungen, wie Stürme, selbstverständlich namentlich wenn sie der Richtung des Zuges entgegen- wehen, dem Vogelzuge hinderlich sind. Der Zugvogel liegt auch bei solchen Hindernissen still: er macht eine Reisepause. Dies tritt aber im Wesent- lichen nur ein, wenn der Wind dem vorwärts strebenden Vogel entgegen- weht; in der Regel kommt em solcher Gegenwind zur Zeit des Zuges aber nicht vor, oder der Vogel benutzt vorzugsweise nur in seiner Richtung hingehende Strömungen und pausirt. meist bei sich einstellenden starken und hinderlichen Gegenwinden auf seinem Zuge. Eine bewegte, ja sogar heftig bewegte Luft ist dem Zugvogel im Allgemeinen durchaus nicht hinderlich, im Gegen- theile, er benutzt sie nach unseren Jahrzehnte langen, immer auf’s Neue wieder sich bestätigenden Beobachtungen vorzugsweise gerade dann, wenn sie mehr oder weniger in seiner Zugrichtung sich äussert. Ja, wir können kraft unserer Erfahrungen behaupten, dass regelmässig die Zugvögel mit starken, heftigen Winden — wie sie m den Tag- und Nachtgleichen unseres Conti- nentes thatsächlieh herrschen — kommen und vielfach auch gehen. Ebenso beeinflussen die Extreme von heiterem und trübem Wetter die Art und Weise des Zuges. Während derselbe bei stiller klarer Witterung viel seltener, und nur meist von Grossvögeln bewirkt, in der Höhe vor sich geht, sucht der ziehende Vogel bei trüber oder nebeliger Atmosphäre die Tiefe nahe der Erdoberfläche. Das tiefe Ziehen der Kraniche, Enten 94 3. Der Zug der europäischen Vögel. und selbst der so scheuen und vorsichtigen Wildgänse bei Nebel ist jedem einigermassen erfahrenen Jäger bekannt. Ungewöhnlich hoch, dem unbewaffneten Auge nicht erreichbar, voll- ziehen bei klarem Wetter die meisten Grossvögel, sowie die Raubvögel ihre Reisen. Der englische Astronom Tennant sah im Herbste 1875 bei der Beobachtung der Sonnenscheibe vor dem Felde seines Teleskops viele Vögel vorüberfliegen, deren mittlere senkrechte Entfernung von der Erdoberfläche er auf eine Meile annahm. Solche Hochzüge werden wahrscheinlich mit günstigen Strömungen in höheren Luftschichten verursacht, die der fein- sinnige Zugvogel zu entdecken weiss. Beim Überfliegen der Gebirge, wie z. B. der Alpen, gewahrt man aber, dass die Vögel sich nur gerade so hoch über die Pässe erheben, als es nöthig, um etwa vor der Schusswaffe des Menschen sicher zu sein und den Überblick über die Gegenden, sowie die Richtung ihres Zuges zu behaupten. „Wer führt die Vögel auf ihren grossen Reisen?“ so fragen wir noch heute, wie wir es vor einem Jahrzehnt gethan. Aber wir glauben heute durch unausgesetzte Aufmerksamkeit, die wir seitdem diesem Gegenstande gewidmet haben, dieser Cardinalfrage doch näher gerückt zu sein und sie anders wie damals beantworten zu können. Es ist ja wohl denkbar, dass bei manchen Arten, die erfahreneren unter den Pilgern die Führung übernehmen, ebenso ist es thatsächlich, dass besonders klugen und starken Vögelarten sich minder kluge und wehrhafte oder schwache anvertrauen. Denn Erfahrung hilft hier, wie in so unzähligen Fällen in der Natur, gewiss ausbilden und zur Reise ganz besonders tüchtig machen. Ein ungemein feines, unseren Sinnen unergründliches Ortsgedächtniss, ein untrüglicher Sinn des Gefühls und das ausserordentlich scharfe, einem Fernrohre vergleichbare Gesicht wohnt der grossen Schaar der Begleiter inne, sonst könnte die Mehrheit nicht mit der bewundernswerthen Sicherheit jahraus, jahrein ihre heimathlichen Stätten auf der grossen Wanderung wiederfinden. Aber die seitherigen Naturbeobachter — und wir noch vor eimem Decennium mit ihnen — suchten den vermeintlich unsichtbaren Führer neben den leiblichen unter den gefiederten Wesen nach einer ganz falschen, unnatürlichen Richtung hin. Es wurde dem Unerklärlichen ein undefinirbares Etwas, ja eine über- natürliche, mit Bewunderung angestaunte Leistung substituirt. Allerdings ist der Grad der Handlung dieser Wesen als eine „Grossthat“ zu betrachten, aber der Vogel verrichtet diese an der Hand der ebenso einfachen als grossen Mutter Natur, welche ihn allerdings auf Grund seiner feinen Orga- nisation durch ihre gesetzmässigen Freignisse leitet. Der ziehende Vogel hält sich im grossen Ganzen an die herrschenden Luftströmungen zur Zeit seiner Weltreisen; sie haupt- sächlich sind das ihn erweckende und leitende Agens, 3. Der Zug der europäischen Vögel. 95 dem er in seiner ausgeprägten Eigenschaft als Luftthier regelmässig folgt und dessen Walten er sich übergiebt. Wir wollen dies nach unseren seitherigen Erfahrungen und Wahrnehmungen kurz erläutern. Schon der August ‚macht sich durch kühle Nächte, das beginnende Walten einer kühleren Polarluftströmung selbst unseren groben Sinnen be- merklich. Ist dieser Monat doch der den Sommer in den Herbst über- führende, die Zeit, in welcher sich auch im pflanzlichen Leben jener geheime Übergang vom sichtlich Wachsenden zum verborgen Vorbereitenden vollzieht. Sollte nun das feinfühlige Wesen der Lüfte, dessen zellenreicher Körper und luftführende Knochen — wie wir oben gezeigt — ihn vorzugsweise mit der Luft in lebendige Wechselwirkung bringt, diese selbst für uns merklichen Veränderungen in der Atmosphäre nicht doppelt wahrnehmen ? In der That! wir sehen schon im August unsere empfindlichsten Sommer- vögel, den Mauersegler, den Pirol, den Kukuk und den weissen Storch, den Reigen eröffnen zu der Weltreise gen Süden. Diese ausser- ordentlich sensitiven und sanguinischen Vögel vertrauen sich den zu dieser Zeit vor den noch höher heranrückenden Passatwinden der nordöstlichen Strömungen langsam zurückweichenden wärmeren Luftschichten an und folgen diesen bis in den regelmässigen Ostpassatwind unter dem Wendekreis des Krebses. Ihnen folgen in der oben erwähnten Reihenfolge die genannten Reisenden. Geradeso wie sich der Zug der zartesten Vögel continuirlich bis zu den rauhesten vor unseren Augen vollzieht, in derselben stetigen Weise macht sich die Zunahme der Polarströmung, also für unsere Striche ein Vorherrschen von Nord- und Nordostströmungen geltend. Die wärmeren Schichten werden durch die eindringende kältere Strömung im der Richtung von Nord und Nordost nach Süd und Südwest zurückgedrängt. Was ist natürlicher, als dass sich der Zugvogel diesen für ihn so merklich bewegten Luftwellen, seinem wahren Elemente, übergiebt? Aber diese Luftver- änderungen im Herbste gehen angedeutetermassen einen ebenso stetigen als säumigen Gang. Die Sonne hat noch ihre Gewalt und erwärmt noch gleichmässig die Höhen und Tiefen, die Wälder und Felder, also dass der Schauer einer kälteren Schichte noch nicht eindringen oder überhand nehmen kann. Deshalb vollzieht sich der Herbstzug der Vögel auch so langsam, zögernd und regellos. Die Vögel finden es überall noch wirthlich in der Natur; sie nehmen Abschweifungen vor, vertheilen sich, besuchen Plätze, Örtlichkeiten, selbst tiefe Waldeinsamkeiten, die im Frühlingszuge — wie weiter unten ersichtlich sein wird — von den Reisenden nicht berührt werden. In umgekehrter Richtung vollzieht sich im Beginne des Frühlings em Vordrängen und allmäliges Herrschen der südlichen Strömungen unter continuirlichem Nachlassen des Polarwindes, wodurch der Herzug der ge- 96 3. Der Zug der europäischen Vögel. fiederten Schaar wachgerufen wird und unsere bekannten Lieblinge denselben Weg, den sie in die Fremde gezogen, wieder zurückführt. Obgleich nun nach dem Vorstehenden die Vorgänge der zur Neige gehenden Jahreszeit als Grund und Ursache des Zuges der Vögel in die Fremde betrachtet werden müssen, so wird doch im Hinblick auf die Regelmässigkeit des Aufbruchs vieler Arten zur Reise anzunehmen sein, dass diese Ordnungs- mässigkeit erst im Laufe unberechenbarer Zeiträume, entsprechend der verschiedenen Ausprägung der klimatischen Verhältnisse des Continents, sich herausgebildet hat. Diese an ganz bestimmte Wochenzeiträume, ja nicht selten an bestimmte Tage gebundene Wiederkehr des Zugtriebes, welcher sich zur unbestreitbaren zwingenden Nothwendigkeit, zum unwiderstehlichen Drange gestaltet hat, ist nunmehr eine vererbte Gewohnheit, ein in die Natur des Vogels tief eingedrungenes, von Geschlechtern zu Geschlechtern herzuleitendes fixirtes Movens geworden, welches seine Macht übt, sobald nur das erregbare Nervensystem von den Naturereignissen beim Wechsel der Jahreszeiten berührt wird. So wie nun diese Naturveränderungen im Laufe der Zeiten aus den primitiven chaotischen Verhältnissen der Perioden unseres Planeten heraus sich nach und nach zu den regelmässigen, constan- teren klimatischen Erscheimungen entwickelten, ebenso hat sich der anfänglich gewiss wohl mangelhafte, unregelmässige, zerstreute und vielleicht höchst unsichere Zug der Vögel allmälig conform diesen geregelteren kosmischen Verhältnissen zu den alljährlich vor unseren Augen sich vollziehenden regel- mässigen Reisen der gefiederten Wesen herausgebildet. Aus diesem einfachen naturgemässen Hergange in der Atmosphäre, aus der Wechselwirkung zwischen den Veränderungen der Luft und den feinsinnigen Wesen in ihr stellt sich die Erscheinung der regelmässigen alljährlichen Vogelreisen her, und wir erblicken in den Wind- strömungen der Atmosphäre im Herbst und Frühling den grossen Führer unserer Vögel auf ihren Wanderungen. Wohl ergänzt und modifieirt diesen der Vogel erheblich durch seinen schon hervorgehobenen ausserordentlich entwickelten Ortssinn, vermöge welchem er das Thal, die Flur, den Hain oder das Gebüsch und das Haus nach den Hunderten und Tausenden von Stunden Weges wiederfindet. Wollten wir dies leugnen, so müssten wir ja dem Thiere jede geistige Selbstthätigkeit, jedes freie Handeln absprechen. Schon der Naturforscher von Middendorff in Petersburg streifte an eine ähnliche Erklärung, imdem er behauptete, die Vögel folgten vermöge ihrer Sensibilität den magnetischen Polen, deren Strömungen sie leiteten; und wirklich stimmt die Richtung des Vogelzuges im Allgemeinen mit der- jenigen der durch die magnetischen Pole gezogen gedachten Mittagslinien überein, indem diese letzteren nur um 17° südwestlich von den wahren Mittagslinien abweichen. Obgleich im Allgemeinen die grosse Empfäng- 3. Der Zug der europäischen Vögel. 97 lichkeit des Vogelleibes für magnetische und electrische Kräfte nicht in Abrede gestellt, ja angenommen werden kann, dass solche feinorganisirte Naturen noch mehr als in der bekannten Weise viele Säugethiere von diesen Einwirkungen besonders berührt und beeinflusst werden; so hängt der Middendorff’schen Ansicht doch vorherrschend Gesuchtes, Gewagtes an, und es werden unmittelbare, thatsächliche Beweise dafür stets fehlen. Den Hauptfactor für den Zug der Vögel gibt immer der durch die grossen atmosphärischen Umwandlungen verursachte Jahreswechsel ab. Mit dieser Erklärung trifft eclatant unsere schon vor einem Jahrzehnt durch Thatsachen begründete Behauptung überein: dass der Zugvogel erwähnter- massen nicht gegen den Wind, sondern in der Regel mit demselben reise. Die Beobachtung dieser Thatsache führte uns naturgemäss zu der vorge- tragenen Erklärung hin. Wie freudig überraschte uns deshalb dieselbe Behauptung in einem Artikel, dem wir zufällig im 4. Bande des 1872 er Jahrganges der Jagdzeitschrift: „Der Waidmann“ begegneten. Unter der Aufschrift: „Die Wanderung der Vögel“ kommt daselbst Dr. Koloman Graf Läzär im Wesentlichen zu derselben Ansicht über die Ursache des Vogelzuges, wie wir, jedoch auf einem andern Wege, auf dem der Hypo- these. Mit Recht aber weist dieser aufmerksame Beobachter auf die in der Atmosphäre gegen Herbst sich einstellenden, nur dem reizbaren Vogel- organismus verständlichen cosmischen Veränderungen hin, wie auf den durch Winde verursachten Wechsel der Temperatur, das Sinken dieser und die sichtliche Zunahme der Wasserdünste, welche auf den Wärme bedürftigen und vermöge seines losen Federkleides intensive, von Kälte begleitete Feuchtigkeit fliehenden Vogel bestimmenden Einfluss üben müssen. Ganz im Geiste des Vorgetragenen sagt der Genannte: „Die Natur trifft langsam und gewissermassen im Geheimen ihre Vorbereitungen zum eintretenden Wechsel, die jedoch auf die feinfühlenden Vögel schon Einfluss ausüben. Während wir uns noch schöner, warmer Tage erfreuen, während wir kaum einzelne Fäden des Altenweibersommers in der Luft schweben sehen, ver- lassen uns bereits die Goldamsel, der Kukuk und der Storch; und warum? Fehlt es ihnen an Nahrung? Nein, sie verlassen uns, weil sie am empfäng- lichsten für die Wärme sind und die Luft schon so sehr abgekühlt ist“ (besonders in den Nächten), „dass dieselbe sie zwingt, sich zu entfernen.“ Selbst die im Zimmer gehaltenen Zugvögel (Wildfänge) verspüren vermöge ihrer Sensibilität ebenwohl, wie ihre Brüder im Freien, diese Ver- änderungen in der Atmosphäre: ihr Organismus verkündigt ihnen das, was sie im Freien zum Aufbruch nach Süden bewegen würde, was sie im Käfig aber nur durch Unruhe und diese bekundende Laute bethätigen können. Auch die schon früher bekannte Thatsache, dass späte Vögelbruten sammt den Alten den Hinzug nicht mehr auszuführen vermögen, am Brutorte herumirren und zuletzt sterben, weil sie unter günstigen Bedingungen der A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 7 98 3. Der Zug der europäischen Vögel. Zugzeit ihre Reise nicht antreten konnten: — auch diese Erscheinung können wir mit Läzär, namentlich durch Erfahrungen in jüngster Zeit, als Beweis tür die Richtigkeit der referirten Erklärung der Ursache des Zuges darthun. Gegen den Herbst hin emgefangene Grasmücken und Rothkehlchen, bis über deren Zugzeit zurückgehalten und dann freigelassen, irrten in klemem Umkreise umher und verkamen endlich. Die späten Bruten der Schwalben müssen sich den Spätherbst in Mauern und hohlen Bäumen ver- kriechen, weil sie zur Zeit der Wanderung noch nicht selbstständig und rüstig genug zur Reiseunternehmung sind. Der im VI. Jahrgang des „Zoo- logischen Garten“ von 1865 auf Seite 76 von Dr. R. Meyer erwähnte junge Kukuk, welcher am 12. October in einem Walde bei Offenbach geschossen wurde, war gewiss einer jener verspäteten Bruten entstammter Vögel gewesen, der die leitenden günstigen Bedingungen seiner längst ver- strichenen Zugzeit nicht mehr vorfand und auch über kurz oder lang am Orte seines Zurückbleibens verkommen wäre. Dass er aber sich so lange an dem Orte ernähren konnte, spricht deutlich gegen die falsche Ansicht, der Zug unserer Vögel entstände aus Mangel an Nahrung. Einen ebenfalls sprechenden Beleg für die Richtigkeit unserer Beobachtungen in dieser vichtung enthält die Mittheilung des bewährten Beobachters H. Schacht aus einer Abhandlung über „die regulären Wandervögel des Teutoburger Waldes“ im Heft Nr.7 des XX. Jahrganges „Der Zoolog. Garten“ von 1879. Aus einem Fluge ziehender Ringdrosseln wurde ein junges Exemplar eingefangen. „Ich setzte das Thier“ — sagt der genannte Autor a.a. 0. — „nachdem seine Begleiter längst milderen Himmelsstrichen zugeeilt waren, erst im November (!) wieder in Freiheit. Mehrere Tage bemerkte ich sie nicht weiter. Da trat plötzlich der Winter ein, und siehe da, der Vogel erscheint wieder beim Hause und zeigte nur zu deutlich, dass es ihm am täglichen Brode fehle. Ich warf ihm Vogelbeeren hin, die er gierig ver- schlang. Er blieb ganze Tage bei mir, und da ich eigentlich der Urheber seines Nothstandes war, musste ich ihn auch selbstverständlich ernähren. Als der Schnee nach einigen Tagen wieder zu Wasser wurde, blieb meine Ringdrossel aus, so dass ich schon glaubte, sie sei ihren Brüdern nachgeeilt. Dem war aber nicht so, denn sowie ein neuer Schneefall eintrat, da war der darbende Gast wieder vor der Thür und verlangte seine Ration. Er wurde so zahm und zutraulich, dass er mir schon entgegenflog, wenn ich am Fenster mit einer Traube rother Vogelbeeren erschien. Warum aber, fragen wir, begab sich der Vogel nicht sofort in eine Gegend, wo der Tisch für ihn reichlich gedeckt war?...“ „Einfach aus dem Grunde, weil er ohne Führer verlassen und rathlos dastand und des Wegs allein nicht kundig war.“ Obgleich wir das Walten einer Führerschaft von alten, des Zuges kundigen Vögeln, namentlich den gesellig lebenden, in manchen Fällen nicht leugnen wollen, so ist im vorliegenden Falle nach dem Vorausgegangenen . Der Zug der europäischen Vögel. 99 der Mangel eines ganz anderen Mediums als die Ursache des Zurückbleibens der Ringdrossel zu erkennen, nämlich in dem Fehlen der vorübergegangenen günstigen Bedingungen der wahren Zugzeit des Vogels, die im September und October ihm wie seinen vorausgeeilten Genossen sicher den Weg geführt haben würden. Aber viel sprechender, als diese vereinzelten Vorkommnisse und diese nur im Kleinen auszuführenden Versuche, sind die auf Grund nun schon Jahre lang angestellter Beobachtungen über die im Herbst und Frühjahr herrschenden Windrichtungen gezogenen Ermittelungen. Stets standen in unseren Notizbüchern über Windrichtung und Witterung zu den gedachten Jahreszeiten die Vogelzüge mit den herrschenden Windrichtungen in lebendiger Beziehung: bei nördlichen und östlichen Strömungen unter sinkender Temperatur und wechselndem Barometerstande gingen die Vögel, bei Südwest und Westwinden unter gleichfalls wechselndem Barometerstande, aber gewöhnlich steigender Temperatur kamen sie an. Dies sind nicht etwa Resultate abstracter, im der Stube angestellter Ermittelungen, nein! sie gingen hervor aus einer langen Reihe von Erfahrungen, die wir — allerdings gestützt zugleich auf gewissenhafte meteorologische Beobachtungen — in der lebendigen Natur gemacht. Zu wiederholtenmalen sahen wir bei Tage aus Wolkenzügen Waldschnepfen und viele Wasservögel ankommen, im Frühlinge stets und ständig bei Süd oder Südwest, und dabei regelmässig bei sehr starken Strömungen. Unsere kleinen Vögel gewahrten wir, stets aufmerksam zur Zugzeit, ohne Ausnahme eben- falls immer nach bewegten Nächten mit lauen südlichen Strömungen. Wie durch einen Zauber waren unsere lieben Sommergäste in der Heimath, aber diese Zauberwirkungen übten stets die mit Ungestüm sich vollziehenden kosmischen Processe in der Atmosphäre. Sobald stilles Wetter mit klaren kühlen Nächten eintrat, stockte das bewegte Leben des Zuges: es kamen keine neuen Ankömmlinge an, und die im Durchziehen begriffenen Vögel lagen entweder still oder strichen Nahrung suchend in kleineren Umkreisen umher. Kaum aber stellten sich die südlichen Strömungen wieder her, so vollzog sich sogleich der Weiterzug, und eine heimische Stimme und Vogel- sestalt nach der andern verrieth die Ankunft neuer Brutvögel. Das Früh- jahr 1880 hat wieder überzeugende Beweise für die Richtigkeit unserer Behauptungen erbracht. Unser Tagebuch über die Witterungsbeobachtungen verzeichnet vom 28. Februar an einen Umschlag der vorher kalten, mit Schneefall begleiteten Nord- und Nordostströmungen in Südwest mit trübem, feuchtem Wetter, und siehe! dasselbe brachte uns die ersten Acker- lerchen und Bachstelzen am 28. und 29. Februar. Die von sehr heftigen Südwest- und Südwinden begleiteten Tage vom 1. bis 7. März führten uns die ersten Waldschnepfen mit der Singdrossel, dem Rothkehlchen und dem Hausröthling ungewöhnlich frühe her. Vom 10.—12. März erschienen bei lauem Westwinde mehr Wanderer dieser Tr 100 3. Der Zug der europäischen Vögel. Arten. Der Schnepfenzug wurde aber bei den nunmehr vorherrschenden klaren Tagen und Nächten unter rauhen Ost- und Nordostströmungen des März sehr unterbrochen und ging ohne Lebendigkeit vorüber. Die von lauem Regen begleiteten Süd- und Südwestwinde des April brachten uns erst unsere eigentlichen Sommervögel. Am 15. April liess sich in unserem Garten der erste Wendehals, gleich darauf m Flur und Wald der Wiedehopf und Kukuk hören, während seit dem 12. April die Klappergrasmücke, der Mönch, der Fitis und Buchenzeisig in Garten und Wald ihren Gesang erschallen liessen. Ganz der Ankunft dieser Zugvögel gemäss, machte sich seit dem 12. April eine Strömung von Süd-Ost, vom 14. April an ein Süd-Südost, von sehr warmem Wetter und von Windstössen an den Nach- mittagen begleitet, geltend. Die bald darauf wieder bis weit in den Mai vorherrschende nordöstliche Strömung liess aber den Rückzug unserer Sommervögel sich dieses Jahr verhältnissmässig sehr zögernd und sporadisch vollziehen. Erst den 20. Mai erschien das uns bekannte Paar graue Fliegenfänger in unserem Hausgarten. Uferschilfsänger (phrag- mitis) und Bastardnachtigall, graue Grasmücke, Gartenroth- schwanz, Pirolu.a. stellten sich spät und in bemerklichen Zwischen- räumen einzeln an ihren Standorten ein. Auch der Herbstzug im vorigen Jahre 1830 stand conform unseren vielfältigen Erfahrungen in vorderen Jahren wieder in inniser Wechselwirkung mit den atmosphärischen Vor- gängen im September und October. So zogen tief im Walde vom 1. bis 4. September, dann vom Nachmittage des 5. an bis zum Abend des 11. Sep- tember, sowie vom 13. bis 15. September regelmässig bei Nord- und Nord- ost-Strömungen die verschiedensten Singvögelarten, Drosseln und Wild- tauben südlich. Die letzte Hälfte des September führte ebenfalls gleich- zeitig mit einem Umschlage der über eine Woche herrschenden West- und Südwestwinde im eine nördliche Strömung vom 22. September bis zum 2. October Morgens und Abends viele Zugvögel vorüber. Ingleichen belebte sich wieder nach siebentägigem Vorherrschen südwestlicher Strömungen, bei welchen der Zug stockte, beim Umschlag der Windrichtung in Nordost so- gleich der Zug. Wir beobachteten in kleimeren und grösseren Flügen sowohl, als einzeln und familienweise ziehend, Acker- und Haide- lerchen, Flüge Zeisige, Berg- und Edelfinken, Staare, Hohl- tauben u. a m. Schon vor Sonnenaufgang und mit demselben hörten wir von unseren Hochsitzen, auf welchen wir nach Edelwild tief im Walde viele Stunden des Morgens und Abends die Monate September und die erste Hälfte des October hindurch verweilten, die Locktöne der über uns südlich und südwestlich Ziehenden, und wie durch einen Zauber erschienen die be- lebten Flüge der Wildtauben, Staare, der Lerchen, Finken, Zeisige, sowie der Kraniche mit dem ersten Tagesschimmer. Mit dem Anbruch des Morgens theilte aber auch ein scharfer Nordost plötzlich das 3. Der Zug der europäischen Vögel. 101 vorher regnerische Nebelgewölk mit seiner südwestlichen Strömung und herrschte mehrere Tage, den Zug der Kraniche, sowie den Durchzug der Schnepfen belebend, welche letzteren die kalten Strömungen vom 22. October ab uns vielfach zuführten, die Ost- und Nordostwinde zu An- fang des November aber auch südwestlich entführten. — Diese Thatsachen mit ihren unmittelbaren, wesentlich sich gleich bleibenden Wirkungen sprechen deutlich und unumstösslich für unsere Erklärung. Wie früher von uns, so auch von der Allgemeinheit der Vogelkundigen ist dieser einfache Vorgang in der Natur seither übersehen worden. Nur hin und wieder begegnet man in der Literatur einer auftauchenden Einzel- beobachtung, die mit dem Gesagten völlig übereinstimmt, wie z. B. die schon oben erwähnte Mittheilung über den Zug des Wiedehopfs über das Mittelmeer. Solche Beobachtungen sind aber unbeachtet und ohne Schluss- folgerung auf das m der Natur alljährlich sich geltend machende Gesetz- mässige geblieben. Die fast allgemein seither cursirende 'Theorie, der Vogel bedürfe auf seinem Zuge einer entgegenströmenden Luftbewegung, die ihn hebe, während ein von hinten und der Seite kommender Wind den Fort- strebenden niederdrücke, stand wie ein Dogma vor der Erkenntniss und dem Eindringen in das Wesen des Vogelzuges. In der That! wie sollte ein Vogel, namentlich die Mehrzahl unseres Kleingeflügels, bei einem kräftigen Gegenwinde den Uebergang über eine Wasserfläche wie das Mittelmeer, das in seiner grössten Breite mindestens 130 englische Meilen misst, bewirken können ? Beachtenswerth und für unsere Behauptung vollkommen zutreffend ist das, was das mehrerwähnte „Ausland“ a. a. ©. darüber Thatsächliches mittheilt: „Die Wachtel“, heisst es, „wird auf ihrem Weg nach Europa im Frühling, oder nach Afrika im Herbst, oftmals durch einen starken widrigen Wind in das Land zurückgeführt, das sie eben erst verlassen hat, und wir haben wiederholentlich bemerkt, dass einstarker Sirocco, (afrikanischer südlicher Wind) im September fast stetseine Menge Wachteln auf die Südostküste von Malta wirft, in der selben Weise, wie ein heftiger griechischer Wind viele auf eine entgegengesetzte Richtung hingetrieben herbei- bringt“ Solche „widrige“, der Reiserichtung entgegenwehende südliche oder südöstliche Winde sind zur Herbstzeit aber Ausnahmen: denn bekannt- lich herrschen Winde, wie der Sirocco, Samum, Chamsin u. s. w. haupt- sächlich und regelmässig nur vom Beginn des Frühlings bis Juni. Hinsichtlich des Zieles oder der Ausdehnung des Zuges unserer Vögel nach Süden ist man bis in die neuere Zeit ebenso sehr fehlerhaften Behaup- tungen gefolgt, als man in früherer Zeit einer irrthümlichen, zuerst von Tiedemann widerlegten Annahme huldigte. Diese ging bekanntlich dahin, dass der Zugvogel der nördlichen Hemisphäre so weit reiste, bis er auf der südlichen Erdhälfte den seinem heimathlichen Aufenthalte entspre- 102 3. Der Zug der europäischen Vögel. chenden Landstrich aufgefunden habe. Im Allgemeinen ist die Ansicht Tiedemann’s noch heute als die wahrscheinlichste zu betrachten: dass der Zug der Vögel sich hauptsächlich zwischen den gemässigten Zonen und den beiden Wendekreisen bewege, im Winter der nördlichen Erdhälfte zwischen dem Wendekreise des Krebses und dem Aequator eme Anhäufung, im Sommer dagegen eine Zerstreuung nach Norden zu stattfände. Ausser dem oben schon in dieser Beziehung Gesagten fügen wir erläuternd und ergänzend noch Folgendes hinzu. Es ist eine vielfältig wiederholt bewiesene Thatsache, dass viele Zugvögel Europa’s, ganz gewiss aber alle der südlichen Länderstrecken unseres Continentes, über das Mittelmeer nach Afrıka wandern. Ebenso gewiss bestätigt sich das Eintreffen und Überwintern von nörd- licheren Zugvögeln in den südeuropäischen Gegenden. Die nordischen Gäste rücken also nach Süden blos so weit vor, als sie es, ihrer rauheren Natur gemäss, in den Strichen Mittel- und Südeuropa’s schon wohnlich finden; während ihre südlicheren Brüder ihnen Platz machen und das ihnen mehr zusagende Klima unter dem Wendekreise bis zum Gleicher suchen. Aber auch innerhalb der heissen Zone macht sich em Hin- und Herziehen be- merklich, wie aus den oben schon angezogenen Mittheilungen Humboldts hervorgeht. — Gewiss vertritt die grosse Dürre der heissen Zonen den Winter der gemässigten und kalten, und die Regenzeit dorten unseren Früh- ling. M. Th. v. Heuchlin ergänzt und stellt die oben erwähnte Ver- muthung A. v. Humboldt's fest, indem er in semer „Reise in das Gebiet des weissen Nils“ eine Menge Zug- und Wandervögel der heissen Zone aufführt. Alles in Allem zusammengefasst, berechtigt wohl zu dem Schlusse, dass die seither vielfältig angenommene Ausdehnung des Zuges unserer Vögel in engere Grenzen zurückgeführt werden muss. Diese Grenzen haben sich verändert und bleiben veränderlich. Sowohl der Vogel als Einzelwesen, wie auch die Arten und Sippen wandern eben im wahren Sinne des Wortes aus; der Vogel verändert und verrückt seine ursprüngliche Heimath im Laufe der Zeiten vielfach. Immer erneuerte Erfahrungen über das plötz- liche Erscheinen von Brutvögeln in Gegenden, wo sie früher nicht heimisch gefunden worden, unterstützen diese unsere Annahme. Es drängen sich fortwährend Vögel von ihren südlichen Wohnstätten weiter nördlich, und umgekehrt verlegen die letzteren ursprünglich nördlicheren Bewohner ihre Brutplätze in südlichere Gegenden. Es ist dieses Hin- und Herrücken, das Verschieben des Vorkommens auch vielfältig, wenn nicht wesentlich, die Folge des Suchens nach zusagenden Örtlichkeiten oder vielmehr die Ursache von so manchen Culturveränderungen, wie Waldlichtungen, Entfernung von Remisen, Rainen und Hecken, Entsumpfungen, Errichtung von Strassen ete., endlich auch Nachstellungen, welches Alles besonders auf solche Vögel entschie- denen Einfluss übt, welche gegen die Umgebungen wählerisch und empfind- lich zu sein pflegen. 3. Der Zug der europäischen Vögel. 105 A. v. Homeyer hat diese Thatsachen im 1868er Jahrgange der mehrerwähnten Zeitschrift „der Zool. Garten“ zusammengestellt und durch exacte eigene und Beobachtungen anderer tüchtiger Forscher, z. B. an der Wachholderdrossel, dem Girlitz, dem Gartenammer (hortu- lana), dm Hausrothschwanz, der Haubenlerche, der Alpen- lerche, der Weindrossel, dem Cormorane, dem Nacht- reiher u. a. nachgewiesen. — Wenn gleich nun der tüchtige Beobachter E. F. von Homeyer in Nr. 5 der gedachten Zeitschrift von 1850 im Allge- meinen der Behauptung entgegentritt, dass die Brutgrenzen so mancher Vögel sich veränderten, resp. die Verbreitung der oben angeführten Arten nach einer bestimmten Richtung stattfände: so können wir doch wenigstens ein plötzliches Auftreten des Gartenammers in der Wetterau bestätigen, das vorher während unseres jahrzehntelangen Aufenthaltes im dieser unserer Heimath nicht eintrat. In dem Ausgange des Thales der Nidda in die Wetterau, sowie in der benachbarten Ebene des Horloffthales bei Bingen- heim ist uns auf einmal im Jahre 1549 der Gartenammer als Brutvogel auf- gestossen, von dem wir in der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes daselbst vorher bei allen fortwährenden Beobachtungen und Nachstrebungen nach unseren heimischen Vögeln keine Spur vorgefunden hatten. — Es sprechen gewiss auch bei den Veränderungen im Vorkommen und der Verbreitungs- srenzen der Vögel die individuellen Eigenschaften der Thiere mit. Es muss der Vogelwelt von dieser Seite die gebührende Aufmerksamkeit zugewandt werden. Es gibt gewiss Einzelwesen einer und derselben Art, welchen von Natur eine Unruhe innewohnt, eine Neigung zum Wechsel ihres jeweiligen Aufenthaltes, zum Herumziehen, zum Vordrängen, die bei Empfindlichkeit und wählerischem Wesen für Veränderungen der Umgebung oder Nach- stellungen sich steigern und eine Ausdehnung der Art über seitherige Grenzen ihres Vorkommens zur Folge haben. Aber wir dürfen Mangel an Nahrung nicht als den Hauptfactor, ja nicht einmal als einen wesentlichen Beweggrund des Zuges ansehen, wie es hin und wieder sehr- irrthümlich heut zu Tage noch oder vielmehr nach der wieder aufgegriffenen Ansicht Tiedemann’s geschieht; nein! die primäre Ursache des Zuges ist und bleibt immer die Abnahme der Wärme in der Heimath des Vogels, dessen Wärme- und Lichtbedürfniss ihn der Sonne zutreibt. Das Leben in der Fremde ist vielfach ein bedrängtes, nicht sehr heiteres. „Alle Vögel“ — sagt Brehm — „halten sich während der Zeit ihrer Wanderung in Gesellschaften zusammen, viele (?) Gattungen mausern; alle sind still; kein einziger Sänger lässt seine Lieder ertönen. Nicht ein einziger Zugvogel gründet sich in der Fremde einen zweiten Herd, nicht einer baut ein Nest, nicht einer brütet !“ Mit dem Versammeln und Anhäufen der Eimgewanderten in einem fremden Länderstriche vermehren sich auch die Gefahren durch die Nach- 104 3. Der Zug der europäischen Vögel. stellungen mitreisender Räuber, welche die Reihen der Ziehenden nach bereits oben gegebenen Mitcheileneen schon unterwegs lichten. Dazu treibt die Überfüllung mancher Striche zu neuem ech, Es gesellen sich Unkenntniss der Localitäten im der Fremde, welche die armen Bedrängten die Quellen ihrer Nahrung ungleich schwieriger finden lässt, als in der wohl- bekannten Heimath. Kaum haben unsere nördlichen Reisenden die „Wege- mühen“, die vielfachen Hindernisse und Anstrengungen über die Gebirgs- ketten der Alpen überstanden und wähnen sich gleichsam in den gelobten Ländern der lachenden Mittelmeerstriche; so tritt ihnen schon der grösste Räuber der Erde, der Mensch mit seiner tausendfachen thierquälerischen List entgegen. Sehr drastisch schlagend schildert Brehm diesen ungast- freundlichen Empfang der Vögel in Italien: „Ganz Italien wird zu einer Mördergrube;; was nur getödtet werden kann, wird gemordet. Der Bürger verlässt sein Gewerbe, der Pfaffe und Mönch sein Haus und zieht hinaus, die Zugvögel abzulauern. Kaum besser ist es in Spanien, und wenn der Grieche nicht auch an dem allgemeinen Morden Theil nimmt, so ist daran wahrlich nur seine Faulheit schuld.“ Ahnliches berichtet „das Ausland“: „Unglücklich“ — heisst es da — „ist der Zugvogel, der Malta zu irgend einer Zeit, besonders am Sonntag, als augenblicklichen Ruheplatz wählt; denn kaum ist er erkannt, so wird auch schon ein Dutzend Gewehre her- vorgesucht, und bald sieht man die schönen Formen des Bienenfressers, der Pirole etc. in Reihen ausgestreckt auf den Bänken des Geflügel- händlers.“ Auch das von launigen Winden beherrschte Mittelmeer ver- schlingt — wie gleich dargethan wird — viele Tausende unserer Pilger; obgleich diese jede günstige Luftströmung zum Überzuge über dass. Dorutzen und ihnen die mit den beiden Jahreswechseln erwiesenermassen verbundenen Luftveränderungen im Wesentlichen günstig sind. Wie den Wachteln im griechischen Archipel, so auch unzähligen andern Wan- dernden daselbst und in anderen Binnenmeeren, ergeht es auf dieser Zug- strasse. Ermattet kommen sie an den Meeresküsten an und werfen sich, in ihren Flügelgelenken wie gelähmt, nieder, unfähig sich zu bewegen. Ein Glück, dass den Gästen in den Herbergen Afrika’s ein besserer Empfang von den Afrikanern zu Theil wird als an den europäischen Gestaden. Es unterliegt jetzt nach der Beobachtung Gäthke’s über das Ver- mögen selbst ae Vögel, auf den Wellen stiller See auszuruhen und sich wieder zu erheben, keinem Zweifel mehr, dass ermattete Vögel beim Über- zuge über das Meer bei ruhiger Oberfläche desselben von diesem Ver- mögen hin und wieder Gebrauch machen werden, und es wäre durch diese Erfahrung eine Thatsache mehr gefunden, nach welcher den Zugvögeln die Reise über Meere erleichrert würde. Wir enthalten uns eimer näheren Schilderung des Fremdlebens, weil wir in dieser Beziehung eigener Beobachtungen entbehren und nur oft 3. Der Zug der europäischen Vögel. 105 schon Wiedergegebenes reproduciren müssten. Wir verweisen unsere Leser daher auf die desfallsigen Schilderungen A. Brehm’s. Im Allgemeinen sei nur der vielfach noch bestehende Irrthum betont, dass gewisse, verhältnissmässig kleine Länderstriche Afrika’s zum scheinbar ausschliesslichen Zufluchtsorte oder Stapelplatze der europäischen Wanderer dienten. Es mögen auch die bekannten Schilderungen Brehm’s über die Winterherbergen der Zugvögel im Egypten theilweise falsch verstanden worden sein, theilweise aber auch diesen Irrthum hervorgerufen haben. Die Zugstrasse unserer meisten europäischen Vögel geht ausweislich unserer obigen Auseinandersetzungen und Mittheilungen nicht nach Egypten, son- dern vertheilt sich längs der Küsten des nördlichen und nordwestlichen Afrika; nur ein verhältnissmässig kleiner Theil des südlichen Russland, allfällig der Türkei, Griechenlands und dessen Archipels, sowie aber be- sonders Kleinasien bevölkern die allerdings reich gesegneten Länderstrecken des Nil. Die oben angeführte Beschreibung Kohl’s von einer Zugstrasse zwischen Kleinasien und dem südlichen Russland gibt hierfür einen An- haltspunkt. Über den Rück- oder Herzug bleibt noch ein Weniges zu sagen, und gerade nur im Hinblick auf unsere Behauptung über die Ursache des Zuges. Wohl kehrt in die tausend und abertausend Vogelseelen in der Fremde neues Leben — die Berichte Afrikareisender melden es ja, und Brehm besonders schildert diesen Moment des Erwachens der Heimathlust so lebendig — wenn der Winter unsere Thäler verlässt und der Frühling seinen Einzug hält. Wer bringt nun aber die Kunde davon den hunderte von Meilen über dem Meere Entfernten? so fragten wir noch vor einem Jahr- zehnt und meinten damals, dass die Entfernten weder das Brausen und Rauschen der Wälder hören, noch die Sonne sich heben sehen könnten über Berg uud Thal der Heimath, und dass sie dennoch auf einmal, wie von einem zu ihnen gedrungenen Weckrufe beseelt, sich zur Rückkehr nach den geliebten Geburtsorten anschickten. Aber den Grund dieser Erschei- nung suchen wir heute nicht mehr wie damals in enem „wunderbaren, un- erklärlichen Etwas,“ das den Entfernten gleichsam als Offenbarung des „Instinktes“ sagt: die Zeit des Heimzuges ist gekommen! Die südliche nordwärts zur Heimath dringende Luft sagt es ihnen. Dieser Windstrom weckt in der Ackerlerche die Regsamkeit, in der sie sich smgend in die Höhe schwingt; er ist's, der die liebliche Waldschwester Haidelerche und die Singdrossel bewegt und den Staar, „in der Februarsonne, auf der Wasserbüffel Rücken sitzend, sein purpurfarbenes Gefieder spiegeln und in melodischem Liede vom Frühling im Norden erzählen“ lässt. Der Frühlings- zug macht sich im Vergleich zu der Reise im Herbst als eine viel stürmischere Bethätigung geltend. Es liegt dies jedenfalls in der lebhafteren Erregung ® 106 3. Der Zug der europäischen Vögel. des Vogels zu dieser Zeit. Unzweifelhaft mischt sich m diese Erregung auch die Sehnsucht nach der Heimath. Ein Trieb weckt den andern. Gleich begreiflich ist, dass die Sehnsucht ihre Begründung im Sinnengedächtniss hat, welches dem Vogel eine Vorstellung von dem Heimathsorte gibt und ihn diesen genau wiederfinden lässt. Mag immerhin die Empfindung beim Thiere eine mehr unklare, verschwommene sein, sie gibt nichtsdestoweniger dem Vogel doch ein Streben nach einer gewissen Richtung, nach einem be- stimmten Ziele hin. Rasch vollzogen ist der Herzug bei bewester, milder Witterung. Wir wiederholen es: Regen und Wind bringen uns mit der Menge anderer Zugvögel auch unsere zarten Sänger, nicht aber kalte und stille Luft, mag auch dabei die Sonne den ganzen Tag über scheinen. Wie oft haben wir bemerkt, dass Nachtigallen bei windstillen, frostigen Nächten im April acht Tage lang an einem und demselben Orte still sich verhielten, bei dem ersten zugigen Thauwetter aber sofort verschwanden! Ebenso beobachteten wir, wie Drosseln, Blau- und Rothkehlchen und andere mehrere Wochen hindurch in grösseren Veremigungen bei eben berührter ungünstiger Witterung im Frühjahr rasteten. Zu dem betonten stürmischen Drange des Vogels, welcher im Allgemeinen seinen Herzug viel rascher vollbringen lässt, als semen Hinzug, kommt aber noch der fördernde Umstand, dass die Ziehenden im Frühjahre mehr auf die von der Uultur berührten und aufgeschlossenen Strecken unseres Continentes ange- wiesen sind. Die weicheren, den Einflüssen von Sonne, Luft und Wasser mehr geöffneten und von Menschenhand aufgelockerten Strecken der Gärten und Felder, die Milde der Ebenen, die warme Feuchtigkeit der Fluss- und Bachgebiete — diese Strassen sucht der heimkehrende Vogel ausschliesslich, ohne sich zerstreuen zu können. In den Hochlagen, den Wäldern und Hainen hat die Sonne und der Thauwind noch nicht auflösend genug ge- wirkt, den Boden zu erweichen und das Leben der Insecten und anderer niederer Thiere zu wecken. Aber Land- und Gartenwirthschaft haben die Bodenstrecken zu den Bedingungen der Existenz des Vogels vorbereitet. Daher zieht dieser rasch über die ihm. gebotenen, bestimmten, ohnedies nicht wie im Herbste mit bergendem Wachsthum versehenen nackten Fluren unaufhaltsam hinweg. — Schon im Februar beginnt sich’s langsam zu regen unter den Vogelschaaren in den Winterherbergen. Allmälig wird der Reisetrieb stärker, denn immer herrschender wird der Wecker und Führer in der Luft, bis endlich im Frühlings-Aequinoctium der Zug den grössten Aufschwung nimmt. In dem mächtigen Drange des Zuges kommt denn auch die Erscheinung zu Tag, dass der herziehende Vogel niemals wieder zurückkehrt, auch wenn er von dem unwirth- lichsten Umschlag der Witterung überrascht wird. Stelz-, Wasser- und Singvögel sahen wir so in die grösste Noth gerathen; aber alle strebten nie zurück. Der auf dem Herzuge begriffene, von Unwettern betroffene 3. Der Zug der europäischen Vögel. 107 Vogel zieht sich wohl aus unwirthlicher Höhe in die Ebene, niemals jedoch lässt er sich bewegen, nach Süden wieder umzuwenden. Sem Gesicht und seine Seele ist der Heimath zugekehrt, und er erleidet lieber den Tod, als dass er wieder zur Fremde flöge. Aber er vermöchte dies auch in den meisten Fällen nicht: denn ganz anders ist jetzt die grosse Luftbewegung als im Herbste. Der sengende Strom des Südens macht ihm nun die heimische Luftstrasse so deutlich fühlbar. Rüstig übergibt sich der kleine befiederte Luftkahn lavirend und segelnd den bewegten Wellen des atmo- sphärischen Meeres, um das entfernte Land seiner Kindheit zu erreichen. Und diese findet der mit den merkwürdigen Sinnen begabte Vogel denn auch regelmässig wieder. Das bestätigen zahlreiche, unwiderlegliche Beispiele von zuverlässigen Forschern und Beobachtern, welche an Stimme, Gesang und körperlichen Abzeichen Jahre hintereinander ihre alten ge- fiederten Freunde in den Zurückgekehrten wiedererkannten. Linn ent- deckte einen lahmen Staar, welchen er in emem und demselben hohlen Erlenbaume im Sommer nisten sah. Spallanzani begrüsste mehrere Jahre hintereinander eme Schwalbe wieder, kenntlich an dem rothen Bändchen, mit welchem er ihren Fuss gezeichnet hatte. Ein Mann gab von einem Nestpaare Finken einem Weibchen die Freiheit, und es kehrte fünf Jahre hinter einander wieder auf den Kätig vor dem Fenster, worin sein Brüderchen gehalten wurde, zurück, um sich daselbst nach gewohnter Weise sein Futter zu holen und in der Nähe zu nisten. Brehm erkannte eine Bastardnachtigall seines Gartens an ihrem stümperhaften Gesange all- jährlich wieder. Ein Vogelfreund hatte eine Schwalbe so gezähmt, dass sie ihn alljährlich bei ihrer Rückkunft freundlich begrüsste und ihm auf die dargebotene Hand flog. An unserem Hause nistete drei Jahre ein an mehreren weissen Federn kenntliches Rothschwänzchen. Ein tüchtiger Beobachter lässt sich a. a. O. der Zeitschrift „das Aus- land“ über diesen Gegenstand folgsendermassen hören: „Hier (nämlich beim Zug von Innerafrika über das Mittelmeer)“ bemerken wir nun jene ausser- ordentliche Begabung, wodurch z. B. Schwalben in den Stand gesetzt sind, Jahr um Jahr in dasselbe Nest zurückzukehren. Zieht man die lange Ab- wesenheit, die mit der Reise verbundenen Gefahren und Schwierigkeiten in Betracht, so scheint es unglaublich, dass irgend ein nichtmenschliches Wesen fähig sein könnte, nach emem achtmonatlichen Aufenthalt in Centralafrika im Frühling auf einen Bauernhof in den Binnen-Grafschaften Englands zurückzukehren, und noch wunderbarer ist es, dass, wie man in Yarrell’s „british Birds“ lesen kann, mehrere Mauerschwalben, die auf’s Unwider- leglichste bezeichnet waren, nicht nur drei Jahre lang nach einander zurück- kehrten, sondern dass sogar eine davon nach Verlauf von sieben Jahren an dem nämlichen Ort gefangen wurde. Hier also sind Wirkungen eines Ge- dächtnisses und einer Wahrnehmungskraft, mit einem Wort wunderbare 108 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. Kundthuungen von Verstand entwickelt, die unter dem unbestimmten Namen Instinkt (d. h. ein natürlicher blinder Antrieb, der ohne Zwischentreten der Vernunft handelt) unseres Bedenkens allzu unterschiedlos auf derartige geistige Erscheinungen unter den niedrigeren Thieren angewendet worden sind.“ Gerade in oder unmittelbar nach der Regenzeit, wo dort m Afrika nach Brehm „Alles Fülle, Alles Leben ist, erscheinen die nordischen Wander- gäste zu Tausenden“; gerade zur Zeit der höchsten Dürre, wo die „ver- nichtende“ Kraft, „die Gluth der Sonne und des aus Süden strömenden Windes“ herrscht, gerade zu dieser Zeit entflieht dieser verheerenden Macht der Zugvogel und eilt der Heimath zu, in welcher der Frühling erwacht. Wir glauben mit dieser Abhandlung emen kleinen Beitrag geliefert zu haben zur Sichtung und Aufklärung dieses nur unter langer Erfahrung und durch schwierige Beobachtungen aufzuklärenden Gegenstandes, über den unser Wissen nur Stückwerk ist, und für welches der Einzelne nur Theile zur Ausfüllung der Lücken beitragen kann. 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. Die Naturwissenschaft hat unstreitig ihre Grenzen, und wir müssten ihren Gang als irreführende Richtung bezeichnen, wollte sie ihre Kräfte in die Luft gebauten, unfruchtbaren Hypothesen zuwenden. Räthsel wird es für die Menschheit immer geben, und „irren wird der Mensch, so lang’ er strebt.“ Das Endliche, Beschränkte übt seinen Einfluss nach allen Rich- tungen hm aus, und auch der Geist ist unter die hemmende Schranke ge- stellt. Aber es ist in vieler Hinsicht schwer zu sagen, was unerforschlich und wo die Grenzlinie der Naturwissenschaft gezogen sei. Was heute Sieg der Wissenschaft geworden, war nicht blos den Kindheitsvölkern, sondern auch vorangegangenen, uns näherstehenden Generationen das Nebelbild des Unerreichbaren, das Geheimniss der Wunderkräfte. Die Wissenschaft kann sich nicht um die Vorurtheile derer kümmern, die ihr Halt gebieten wollen und Umkehr zur Pietät vor den Traumgebilden der Vergangenheit und Gewohnheit, die sie zerreissen muss, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will. Nach den Begriffen der strengen Zweckmässigkeitslehrer denkt das Thier nicht, ein Anderer denkt und handelt für dasselbe, und dieser Andere ist eben der Weltregent, der ewig Verkannte. Das Thier soll keine Seele besitzen, die ihm die Befähigung der Selbstbestimmung auch nur in be- schränktem Grade auf Grund intelleetueller Vorgänge gibt; Staffage, Mittel zur Vollendung der Naturscenerien, soll es als nothwendiges Glied eingefügt sein in den Plan der Schöpfungsharmonie — für wessen Auge? für wessen Ohr? zu wessen Freude, Nutz und Frommen? Für den König der Erde, 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 109 der herrschen soll über die Thiere, aber mit keiner Faser des seelischen Lebens mit ihnen in Vergleich, Zusammenhang und Gemeinschaft gebracht werden darf. Wenn irgendwo, so findet hier Göthe’s Ausspruch volle An- wendung, dass, wo die Begriffe fehlen, sich ein Wort zur rechten Zeit ein- stellt. Um ja die Kluft zwischen dem Menschen und dem Thiere nicht zu überbrücken, erfand man zur Bezeichnung des Antriebs thierischer Hand- lungen das Wort Instinkt, und war damit zugleich der Mühe enthoben, den veranlassenden Ursachen auf den Grund zu kommen und das Räthselhafte in den Erscheinungen des Thierlebens zu lösen. Sehr natürlich zu erklären ist es, dass zu diesem Auskunftsmittel, welches der Bequemlichkeit nicht nur Vorschub leistete, sondern auch die Unwissenheit zuzudecken geeignet ist, Tausende ihre Zuflucht nahmen und die Lehre vom Instinkt der Thiere zur unumschränkten Herrschaft gelangte. Erst der neuere Aufschwung der Naturwissenschaft kommt zu anderen Resultaten der Anschauung von der Thierseele und lässt sie im Lichte annähernder Menschlichkeit erscheinen, wenngleich die Unterschiedsgrade der Vermögen ihre volle Würdigung er- halten. Namentlich hat der Vergleich menschlicher Kindheitszustände mit denen des Thieres zu der unausweichlichen Einsicht geführt, dass die Be- zeichnung Instinkt oder Naturtrieb ebenso berechtigt ihre Anwendung auf den neugeborenen Menschen findet, der unbewusst die Mutterbrust sucht und diese Nahrungsquelle nach dem treibenden Bedürfniss annimmt, als auf das junge Säugethier, welches ebenso handelt. Bei dem älteren Geschöpf ist die Grenzlinie zwischen den Handlungen, welche hauptsächlich dem Naturtrieb entspringen, das heisst unbewusst auf Grund eines Nervenreizes durch die Leitungsnerven erfolgen, und den intellectuellen Thätigkeiten schwer zu ziehen. Vorzüglich ist dies beim Menschen nicht möglich, der ja gewissen Reflexbewegungen auch mit zwingender Nothwendigkeit unter- worfen ist, gegen die sogar der zur Hemmung bereite Wille oft vergeblich ankämpft. Das Bewusstsein des Unvermögens, gewisse Handlungen der Thiere, wie 2. B. Wanderungen und von Kunstfertigkeiten zeugende Unternehmungen, wissenschaftlich m ein helles Licht zu setzen, führte zu sehr gezwungenen Erklärungen. Nicht genug, dass Eduard von Hartmann sich zu der wun- derlichen Bezeichnung: „unbewusstes Hellsehen“ für Instinkt verirrte, man substituirte sogar dem Thiere einen sechsten Sinn, der wiederum nichts anderes, als die Erklärung für das Wort Instinkt sein sollte. In neuerer Zeit hat sich ©. F. Noll, der Herausgeber des „Zoologischen Gartens“ in Frankfurt a. M., durch seine vorzügliche Arbeit über den Instinkt der Thiere unserer Meinung nach auf den richtigen Standpunkt gestellt, indem er die sogenannten instinktiven thierischen Handlungen dem Sinnenreflex entspringen und so die naturgemässeste Quelle der Motive für dieselben zur Geltung gelangen lässt. Doch gesteht auch er, wie es jeder mit dem 110 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. Thierleben innig Vertraute bekennen muss, dass die Wissenschaft bis jetzt zur vollen Klarheit über die Entwicklung der bewundernswürdigen zweck- mässigen Handlungen der Thiere nicht vorgedrungen sei. Die Untersuchung des thierischen Seelenlebens eröffnet der Wissenschaft ein ausgedehntes Gebiet, und es fällt nicht schwer, glänzende Zeugnisse für dasselbe beizubringen. Freilich darf dies nur geschehen durch Heranziehung verbürgter Thatsachen, denn die exacte Beobachtung geht von den Berufenen aus, und die Gültigkeit der Autorität ist an die Meisterschaft, an die bewährte Leistung gebunden. Um den Rahmen unserer Darstellung einzuschränken, wollen wir nur die höhere Thierwelt in Betrachtung ziehen. Es wird die Klarheit fördern, wenn wir die Lebensäusserungen der Thiere von den niederen bis zu den höchsten uns in Erstaunen setzen- den Graden und Ausbildungen verfolgen, zu welchem Zweck die eigenen Forschungs- und Beobachtungsresultate das hauptsächliche Material liefern mögen. Der Blick in die Wiege der sogenannten Nesthocker zeigt uns schon alsbald nach der Entschlüpfung aus der Eischale gewisse Lebensäusserungen. Die zarte Brut reckt unter zitternden Bewegungen des Kopfes den Hals aus und sperrt den Schnabel auf, um dem Ernährungstrieb, also dem sich einstellenden Nervenreiz des Hungers, Folge zu geben. In ähnlichem hilf- losen Zustande befinden sich die jungen Säugethiere, deren erste Lebens- äusserungen im Gebrauch ihrer Stimmen und im Suchen des mütterlichen Gesäuges bestehen. Die Handlung geschieht unbewusst, und hier waltet wirklich der reine Naturtrieb, und zwar in der Erscheinung als Einzelreflex. Das Bedürfniss des Nahrungsempfanges übt seinen Reiz auf sensitive Nerven, und die motorischen veranlassen die zur Aufnahme der Nahrung noth- wendigen Bewegungen. Auf dieser Stufe der Lebensäusserung fände wohl das Wort Instinkt, als blosser Naturtrieb gefasst, passende Anwendung. Auf gleicher Stufe steht die Bewegung des Bürzels der Vögelchen nach dem Nestrande zum Zweck der Ablagerung der Excremente. Unbewusste Zweck- mässigkeit tritt hier in die Erschemung, die ihre Begründung im Gesetz des Organismus sowohl wie im Freistehen des Nestes hat. Bei den Höhlen- brütern tritt die Eigenthümlichkeit auf, dass die jungen Vögelchen die zähen Abgangsbrocken regellos im Neste oder der Höhle, sogar auf den Rücken der Geschwister absetzen, und hier kommt der säubernde Eingriff der Alten zu Hülfe, welche jedesmal nach der Abgabe des Futters die Exceremente im Schnabel aus der Höhle in’s Freie tragen und eine geraume Strecke von der Wohnung entfernt im Fluge niederfallen lassen. Die Höhlenbrüter machen bei der Kothentleerung zwar auch diese rückschreitende Bewegung mit gehobenem Bürzel, aber die Richtung ist regellos, und der Grund hier- für ist nur in der einschliessenden Umgebung zu suchen. Wie übrigens die organische Entwicklung den Bedürfnissforderungen ent- spricht, nehmen wir bei den sperrenden nackten Vögelchen an der Stärke der 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. ll Halsmuskeln wahr, die Kopf und Hals kräftig emporzuschnellen vermögen. Ein anderes Bild stellen die Nestflüchter dar, solche Vögel, welche nach voll- zogener Abtrocknung, sobald sie die Eischale verlassen haben, davonlaufen können, durch die ‘bereits vorgeschrittene Entwickelung im Zustande der Einhüllung dazu befähigt. Die Fürsorge der Natur hat diejenigen Werkzeuge zur frühen Aus- bildung gefördert, welche die nöthige Fortbewegung und die selbstständige Aufnahme von Nahrung bedingen. Der sofortige Gebrauch derselben ist ebenfalls das Werk der Reflexbewegung. Bei den ausgekrochenen Hühnchen bemerkt man alsbald ein Picken mit dem Schnabel nach dem Boden oder der Wand hin, ohne dass Futter vorhanden wäre. Es ist die unbewusste Bewegung als Folge der Organisation. Nicht anders verhält es sich mit dem sofortigen Vertrautsein der jungen Schwimmvögel mit dem Wasser. Das lange Verweilen im Dunenkleide erfordert häufiges Erwärmen durch die Mutter. Der durch Wärmeentziehung entstehende Gemeinreflex ver- anlasst das Schlüpfen unter das erwärmende Federdach, welches die Mutter ausbreitet. Erst nach und nach gesellt sich zu der unbewussten die Seelen- thätiekeit. Verfolgen wir die Entwickelung der Nesthocker, so nehmen wir auch bei ihnen nicht blos eine allmälige, immer sicherer auftretende Vollziehung der dem Organismus entsprechenden Eigenthümlichkeiten und Gewohnheiten wahr, sondern auch die Unterstützung durch das in’s Mittel tretende seelische Motiv. Bald nach dem Öffnen der Augen, beginnt das letztere schon mit seiner Theilnahme und äussert sich täglich deutlicher. Von Weitem er- kennen die Kleinen die Eltern und sperren ihnen, mit den Fähnchen trei- benden Flügeln schlagend, entgegen. Der elterliche Ton der Warnung wird wohl verstanden, und nieder duckt sich das ganze Häuflein, verstummend und zur resungslosen Haltung sofort übergehend. Das ist seelischer Reflex, wiederum beruhend auf den Trägern, den sensitiven und motorischen Nerven. Der Eindruck der äusseren Erscheinung in Gestalt oder Ton wird von den ersteren zum Oentralnervensystem und von letzteren aus demselben den Muskeln zugeführt, welche das Verhalten erzeugen. Nun ist aber die Furcht vor Verfolgung und Gefahr etwas den jeweiligen Nestvögelchen Ange- borenes oder auf sie Vererbtes. Die Erfahrungen unzähliger in die Ver- sangenheit hinaufragender Geschlechter haben sich fixirt, und die von den fixirten Eindrücken hervorgerufenen Veränderungen sind von den Nach- kommen als Erbschaft angetreten. Die häufig wiederkehrende Empfindung vermag sich selbst den Aus- druck in entsprechendem Ton zu geben; — in welchem Zeitraum in voll- endet constanter Eigenthümlichkeit? — wer kann es ergründen? Jedenfalls sind die Warnungsrufe der Vögel alt, denn die Gefahren drohten ihnen von jeher von allen Seiten, und wenn nicht von lebenden Wesen, gewiss doch 112 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. immer von den Elementen her. Auch die Säugethiere haben ihre Warnungs- zeichen und Töne zum Schutz ihrer Jungen, letztere indessen in weit geringerem Maasse als die Vögel. Die Ausserungen werden von den einigermaassen zur Entwicklung gekommenen Jungen wohl verstanden und beachtet. Die Kaninchenmutter braucht ihre Besorgniss nur durch Stampfen des Bodens mit den Hinterläufen den aus dem Bau ausgeführten Klemen zu verkünden, und pfeilschnell verschwindet die ganze Gesellschaft im bergenden Dunkel der unterirdischen Wohnung. Viele Säugethiere locken durch einen leise murksenden Ton ihre Kleinen an sich, und diese verstehen den Ruf, der ein sofortiges Herzueilen der Gehorchenden zur Folge hat. Diese Zeichen und Töne sind bei allen Müttern mnerhalb der Arten genau dieselben, und ohne Ausnahme werden sie von den Gliedern der Familie verstanden, ohne Zweifel in ihren Wirkungen durch eine uns unergründliche Naturgabe be- dingt, wiewohl im Laufe der fortschreitenden Entwickelung der Jungen in- folge der Wiederholung immer klarer zum Bewusstsein gebracht. Unver- kennbar ist der Umstand, dass im frühesten Kindheitsalter der Thiere die Charaktereigenschaften noch schlummern und erst in Verbindung mit der Aussenwelt und dem geweckten Egoismus des Individuums hervortreten. Die Mordgier und der Blutdurst des kleinen Raubthieres, welches noch keine andere Nahrungsquelle suchte als die Mutterbrust, verräth sich dem Forscher in der Organisation, vorzüglich in der Bildung des Gebisses; dem vollständig Umeimgeweihten aber würde das der Wolfs-, Bären-, Tiger- oder Löwenmutter vom Gesäuge genommene Junge, dessen Alter nur nach Tagen zählt, ebenso harmlos und friedliebend seiner Naturanlage nach er- scheinen, wie der Säugling der furchtsamen Mutter einer Art aus den Wie- derkäuern oder Nagern. Sobald aber das Raubthier in seiner Entwicklung so weit vorgeschritten ist, dass ihm die Nahrung von aussen zugetragen wird, dann beginnt das Zutagetreten seiner der furchtbaren Waffenrüstung entsprechenden Eigenthümlichkeiten, und dem inneren Trieb des Raubens und Mordens zeigt sich jede seiner Waffen, natürlich im Maasse ihrer Aus- bildung, sogleich dienstbar. An den kleinen Kätzchen kann jeder Be- obachtungsbegierige das allmälige Erwachen und Sichgeltendmachen der Raubnatur erkennen. Im Spiel der Füchschen vor dem Bau zeigt sich als- bald die ausgeprägteste Selbstsucht im Neid, in der Bosheit und Verschlagen- heit des Betragens, sobald es sich um Vorkommnisse der Vertheilung von Beute unter sie durch die alte Fuchsmutter handelt. Das tritt mit zuneh- mendem Alter und der Ausdehnung des Gebietes der von ihnen berührten Aussenwelt immer schärfer hervor, bis endlich die Macht der Selbstsucht und das Bewusstsein der genügenden Selbstständigkeit die Familie ausein- ander führt, hier früher, dort später. Ahnlichen Erscheinungen der allmälig erwachenden und sich schärfen- den Raubnatur begegnen wir beim Beobachten der Bruten in den Raub- 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 111 vogelhorsten. Im Familienleben der Hühnerhabichte haben wir wahrge- nommen, dass schwerverletzte oder kranke Insassen der Raubgier der flüggen Brüder oder Schwestern zum Opfer wurden. Ein anziehendes Bild stellen die jungen Nestvögel überhaupt durch ihren mit dem bewussten Handeln in Verbindung stehenden Entwickelungsgang dar. Die Kleinen werden mit dem Wachsthum des Gefieders kühner, verwegener, wachhalsiger; sie fühlen ihre zunehmende Kraft. Täglich werden auf dem Nestrande die Flügel ge- schwungen oder in schnurrende Bewegung gesetzt. Der Trieb zum Fliegen regt sich, aber das Gefühl des Unvermögens hält sie oft viel länger vom Ausflug zurück, als es nöthig ist. Hier kommen also zwei Reflexthätig- keiten in Kampf, gerade wie bei der eintretenden Furcht, die Schweigen ge- bietet, und dem Hunger, der nach der Futtergabe schreien heisst. Da ist es je nach der Stärke des einen oder anderen Triebes fraglich, welcher siegt, und schwierig, die Linie zu ziehen zwischen dem von der Naturanlage Ge- botenen und der mitwirkenden Seelenthätigkeit als Folge bereits gemachter individueller Erfahrung. Die öfters wiederkehrende furchterweckende Er- scheinung wird, wenn sie nicht thatsächlich störend einwirkt, nach und nach als ungefährlich schon von den flüggen Nestvögeln erkannt und schliesslich weniger beachtet, womit die Seelenthätigkeit klarer zu Tage tritt. Immer unleugbarer macht sich dieselbe bemerklich, wenn die ausgeflogenen Vögel zuerst von den Alten geführt und zu Unternehmungen bewogen und später dem selbstständigen Wandel überlassen werden. Da zeigt sich zunächst das Sinnengedächtniss im dem Auffinden der Plätze, an welche sie theils von den Eltern geführt, theils zufällig aus eigenem Antrieb geleitet, und wo von ihnen Entdeckungen zur Befriedigung vorhandener Bedürfnisse gemacht wurden. Der Weg zum aufgespeicherten Weizen unter Dach und Fach geht durch eine dunkle Spalte; der junge Sperling kennt ihn als mündig sewordener Jüngling noch aus der Lehrzeit im der Schule der listigen Alten. Den jungen Zaunkönigen bleiben die von dem alten Paar anvertrauten Schlupfwinkel lebhaft im Gedächtniss, und die jungen Meisen, eine Zeit lang bis zum Zusammenscharen im Herbste von den Eltern sich selbst über- lassen, sind wohl bewandert in der örtlichen Kenntniss ihres Heimath- bereiches. Überall und mamnigfaltig offenbart sich dieses Sinnengedächtniss der Vögel schon in der Jugend, und mit zunehmendem Alter schärft, erweitert und vervollkommnet es sich auf Grund gemachter Erfahrungen. Die Sper- linge scheuen den Menschen nicht oder wenig, so lange er sich nieht um ihr Treiben kümmert und ihren Frieden nicht stört, schiesst er aber mit der Flinte oder mit dem Blasrohr einige Mal nach ihnen, so fliehen sie schon von ferne die Erscheinung der Person wie der sichtbar werdenden Waffe, die sich nachhaltig in ihr Gedächtniss eingeprägt haben. Was verhilft dem Papagei, dem Staar und Kolkraben zum Nachsprechen von Worten und Sätzen? was dem Dompfaffen zum Nachpfeifen vorgepfiffener Melodien ? A. u. K. Müller, Thiere der Heimath, 8 114 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. Das Gedächtniss, welches Lage, Charakter und Tempo der Töne sich einprägt und sogar jeden Fehler, jeden unreinen Ansatz, jeden öfters wiederholten Halt hinter einer Liedesstrophe der genauen Wiedergabe übermittelt. Und wie das Tongedächtniss des Dompfaffen getreu ist, so erweist sich auch gleich vielen anderen Vögeln sein Personengedächtniss bewundernswürdig in einzelnen Fällen. Nach einem Zeitraum fast jähriger Trennung von seinem Lehr- meister, erkannte Abends bei Licht der unserem Vater geschenkte Dom- pfaffe sofort den Einen von uns, dessen Stimme vom Hausflur aus schon seine Erregung bewirkte Rührend gab er die alte Anhänglichkeit im Ge- berdenspiel und Vortrag seines Liedes kund. Dass sich indessen das Ge- dächtniss des Vogels nicht selten auch nur an die äussere Bekleidung der Erscheinung zu halten geneigt ist oder schon durch diese in Aufregung versetzt werden kann, beweist das Verhalten des Dompfaffen einer Dame, welche denselben von einem Müller erhielt, der ihm immer mit weisser Kappe auf dem Haupte vorgepfiffen hatte. Lange Zeit eigensinnig schwei- gend und allen Liebkosungen und Aufmunterungen unzugänglich, erhob er plötzlich in freudiger Anwandlung sein Lied, als die neue Pflegerin zu dem Mittel der Täuschung durch Nachahmung der Müllerkappe m der Wahl ihrer Kopfbedeckung griff. Das Wiedererkennen des alten Herrn und die damit in Verbindung stehenden Geberden sind für uns im Leben einiger Hunde ergreifend gewesen. Ein Pudel begegnet seinem Herrn nach drei- jähriger Trennung wieder auf der „Zeil“ m Frankfurt a. M. Laut bellend und an dem Erstaunten hoch emporspringend, begrüsst er ihn. Ja, das war ein Jauchzen und eine Begrüssung seitens des Thieres, die geradezu Achtung gebietet. Der neue Herr war vergessen oder vielmehr gänzlich in den Hin- tergrund getreten vor der Erscheinung, die so lebhaft sich dem Erinnerungs- vermögen des Thieres eingeprägt hatte. Mit Widerstreben fügte er sich dem Zwang der fesselnden Schnur, die ihm sein verblüffter neuer Besitzer am Ring des Halsbandes festband, und noch lange sahen wir ihn den Kopf wenden nach dem alten, die Strasse hinabwandelnden Herrn. Es kommt sehr darauf an, welche Erfahrungen das Thier in seinem vielfach bewegten Wandel macht, wie es sich zu den seiner Gattung oder Art eigenthümlichen Gewohnheiten künftig verhält, ob genau an das Her- kommen gebunden oder hier und da abweichend. Wohl ist die Gattungsgewohnheit eine strenge beherrschende Macht, eine Art zwingender Absolutismus, denn sie beruht auf angebornem typischen Organismus und unberechenbaren Zeitraum durchschreitender Vererbung. Aber veränderte Verhältnisse und Gunst oder Ungunst der Lage können immerhin auch Gewohnheiten bis zu einer gewissen Grenze umbilden oder wenigstens in ihren Einzelgesetzen alteriren. Innerhalb der Gattungsgewohn- heit machen sich individuelle Neigungen geltend, zunächst vielleicht nur her- vorgerufen durch zufällige Entdeckung oder dargebotene Gelegenheit, dann 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 115 aber unter Umständen auch zur Leidenschaft gesteigert. Wenn nestor nobilis, ein in den neuseeländischen Alpen heimischer Papagei, statt des Blüthensaftes der Beeren und statt Insekten durch die dargebotene Gelegenheit der Fleisch- fässer der Ansiedler und der zum Trocknen aufgehängten Schaffelle Fleisch- kost sich erkor und in seiner leidenschaftlichen Vorliebe für dieselbe sogar lebendige Schafe anfıel und ihnen Stücke aus den Lenden hackte, so ist dies allein schon ein ausreichender Beleg für die aufgestellte Behauptung. Der Storch, die Krähe und andere der Vielseitigkeit der Nahrungsobjecte geneigte Vögel werden, durch Gelegenheit und zufällige Entdeckung lüstern gemacht, zu Räubern von jungen Hasen und Bruten der Erdnister, die eifrig aufgesucht werden. Das Eichliörnchen, welches als Nagethier von Natur auf die Pflanzen- nahrung angewiesen ist, wird durch die dargebotene Gelegenheit zum leiden- schaftlichen Nestplünderer. Eier und junge Nestvögelchen werden mit solcher Leidenschaft von erfahrenen Eichhörnchen aufgesucht, dass wir in ihren Räubereien nach dieser Richtung hervorragende Ursachen der Abnahme der Kleinvögel erkennen müssen. Die Wanderratte wird in Gehöften, wo man die Geflügelzucht pflegt, zum empfindlichsten Mörder der jungen Hühnchen, Entchen und Gänschen. Ja, ihre Vorliebe für Fleischnahrung steigert sich dadurch zu solch hohem Grade, dass sie den alten Gänsen zur Zeit ihrer Nachtruhe in den Ställen starke Verletzungen an Kopf und Hals beibringt und sogar die Augen ausfrisst. In gleicher Weise wird ihr Angriff, der sich anfänglich auf neugeborene Kaninchen beschränkt, gesteigert und auf die alte Kaninchenmutter gerichtet. Das Bewusstsein der Stärke wurzelt in dem mutherzeugenden Umstande der Gesellschaft von Gefährten, mit denen sie sich zu einem und demselben Unternehmen verbunden hat. Die Erfahrung bildet im Verem mit den Einwirkungen äusserer Ver- änderungen um und aus. Das grosse, einflussreiche Ereigniss der Eis- periode hat sicherlich tief auf die Umgestaltung der ganzen Thierwelt ein- gewirkt, so dass wir eine ganze Reihe von sonst unerklärlichen, zur Gewohnheit gewordenen, von Generation zu Generation forterbenden, an bestimmte Jahreszeiten gebundenen Handlungen nur durch ihr Auftreten zu erklären vermögen; aber sie hätte nur vernichtende, nicht auch umbildende Gewalt üben können, wenn die Erfahrung den Thieren nicht zu Hülfe ge- kommen wäre und sie der Thierseele nicht den Weg gezeigt hätte zur Rettung, Anbequemung und Veränderung in Lebensweise und Lebensein- richtung. Die Erfahrung ist Erzeugerin von Gewohnheiten, aber sie löst oder lockert auch das Band, welches an dieselben fesselt. Sie steht höher als die Gewohnheit, welche in dem Maasse sich von dem überlegten Thun entfernt, in welchem sie ihre massgebende Herrschaft ausdehnt. Die Er- fahrung beruht auf der seelischen Thätigkeit der Verbindung von Ein- drücken, die im natürlichen Zusammenhang stehen, in so enger Verknüpfung, 8# 116 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. dass mit dem einen auch der andere wach gerufen wird. Die Erfahrung der Thiere geht aber noch einen Schritt weiter und verbindet von einander entfernte Eindrücke, bei denen kein Causalnexus das Verständniss erleichtert. Das Thier vermag den hemmenden Eingriff einer Gewalt von aussen zu begreifen, der ihm verbietet, das Ziel seiner Neigung und seines Strebens zu erreichen. Auf diese Befähigung gründet sich die Enthaltsamkeit, die Ent- sagung bei noch so starkem Begehrungstrieb, ja hierauf ist das ganze glän- zende Resultat der Erziehung und Abrichtung zurückzuführen. Wir staunen über die Gewalt, welche der Thierbändiger durch die mühevolle That der Abrichtung über blutdürstige Bestien gewinnt. Mehr als die Kunst, der Muth und die tollkühne Verwegenheit des Bändigers be- schäftigt unser Nachdenken der Kampf des 'Thieres mit sich selbst. Der Trieb seiner grausamen Natur stachelt es fortwährend zum Sprung auf den Versucher an, aber die Furcht, welche ihm das bannende Auge, die Zucht- waffe in der beherrschenden Hand, mit einem Wort die menschliche Über- legenheit als Ausfluss der Intelligenz einprägt, siegt. Das ist ein unheim- licher, zur höchsten Spannung gesteigerter Kampf, in welchem die mit einander kämpfenden Empfindungen durch Eintritt irgend einer unberechen- baren Veranlassung oder eines kleinen Fehlers seitens des Bändigers m der beherrschenden oder unterdrückten Lage plötzlich wechseln können. Beim zahmsten jungen Löwen erwacht der Blutdurst zu unbändiger Gewalt, wenn die leckende Zunge die Haut zum Austritt von Blutstropfen geritzt hat, und selbst der von dem Thiere mit ausserordentlicher Anhänglichkeit auf Wan- derungen im Freien begleitete Herr ist dann der drohendsten Lebensgefahr ausgesetzt. Bewundern wir aber auf der einen Seite die Beherrschung eines furchtbar mächtigen Triebes des gebändigten Löwen unter der Herrschaft eines entgegenstehenden Seelenreflexes — denn die Abrichtung stützt sich ja doch nicht auf blosse mechanische Wirkung, sondern auf das Ver- ständniss des Thieres — so müssen wir andererseits das Unvermögen der thierischen Intelligenz eingestehen, welche weder das Übergewicht der eigenen Kraft zu wägen, noch auch das an sich Unbedeutende der beherrschenden materiellen Schranke zu begreifen vermag. Aber nehmen wir nicht der- artige Erfahrungen auch bei rohen Kräften unter den Menschen, die sich dem Übergewichte der ihnen sich entgegenstellenden Intelligenz oder mora- lischen Macht unwillkürlich beugen, wahr? Man muss selbst Thiere ge- züchtet und abgerichtet haben, um zu ermessen, wie viel Antheil an dem Werke der Erziehung das geistige Wesen des Erziehers, die Art der Be- handlung, die Anlehnung des Lehrers an die Anlagen und den Grad der Auffassungsgabe sowie die individuellen Eigenthümlichkeiten des Schülers haben. Das Thier will erst studiert sein, ehe es zum Studium auf die Hochschule der Lehre und Ausbildung geführt wird. Und hier gilt der Grundsatz, den Unterricht möglichst frühe, jedoch 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 117 ohne Überspannung und Ermüdung der lernenden Kräfte zu beginnen Die Parforcedressur der Hunde sollte längst gänzlich überwundener Stand- punkt sein, denn nichts ist unnatürlicher, als mit der Erziehung und Ab- richtung zu warten, bis der Hund em Jahr alt geworden ist. Wir haben unsere jungen Hühnerhunde, sobald sie über ein viertel Jahr alt geworden, spielend angeleitet und die Liebe zum Herrn wie zur Vollziehung seiner Anweisungen frühzeitig durch verständnissweckende Beziehungen zu fördern gesucht. Allmälig vom Leichten zum Schwierigen aufsteigend, gelangten wir so zu bewundernswerthen Resultaten, mit denen diejenigen der späteren ernsten Praxis auf der Jagd m Einklang standen. Nichts ist verderblicher, als eine rohe Behandlung des Hundes, und wenn trotz derselben hier und da Befriedigendes erzielt wurde, so war der Grund in der hervorragenden Beanlagung des Thieres, gewiss nicht in der Art der Behandlung zu suchen. In möglichst verständnissinnige Beziehung zum Herrn gebracht, entwickelt der Hund seine Fähigkeit unter dem Segen einer heiteren Stimmung und der naturgemässesten Lösung der ihm gestellten Aufgaben. Dabei soll und darf die systematische Grundlage der Dressur nicht fehlen, und mit der Zunahme der Reife des jungen Lehrlings wächst selbstverständlich auch der Ernst der Forderungen. Die Erziehung muss auf die Ausbildung der beliebten Raceanlagen aid auf die Erzielung de sewünschten Brauchbarkeit gerichtet sein. Dem ent- sprechend sollen Übungen unternommen werden, welche der Naturgabe zu Hülfe kommen und sie zur Höhe grossartiger Fertigkeiten führen. Es ist bewundernswürdig, zu welcher Höhe der Intelligenz der Hund durch Ge- duld und Ausdauer sowie unter der obwaltenden Regel vernünftiger und humaner Behandlung erzogen werden kann. Sehen wir von der Gelehrig- keit des Pudels, den Scheitlin Menschthier nennt, von den vielfach bekannten Kunststücken abgerichteter Exemplare ab und wenden wir uns zu einem ziemlich kleinen Hunde gemischter Race, dessen Kopfbildung an den Wachtelhund erinnerte, der in Leipzig producirt und von Nichtkennern der Grenzen thierseelischer Thätigkeit gänzlich falsch beurtheilt und auf die Stufe eines gewandten Rechenmeisters erhoben wurde. Sein Lehrer stellte sich mit erhobenem Stöckchen vor den auf dem Tisch sitzenden Hund, wo Karten in mehreren Reihen gelegt waren. Von den Zuschauern namhaft gemachte Karten wurden von dem Thiere ohne Zögern herausgefunden und mit der Schnauze betastet. Darin ging er nie fehl. Aber damit nicht genug. Das von einem Zuschauer angegebene Alter an Jahren wusste der Hund durch Zusammensetzung gewisser Karten von eins bis zehn ausfindig zu machen. Wir erforschten alsbald den Hergang der Sache und forderten den Lehrer auf, uns das Stöckchen in die Hand zu geben und bei Seite zu treten. Natürlich wurde die Zumuthung zurückgewiesen, denn das ganze Kunststück beruhte in dem genauen Verständniss des Hundes für din auf 118 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. die betreffende Karte scharf gehefteten Blick des Herrn. Das Stöckchen mochte ebenfalls zu einer Direcetion dienen. Jedesmal warf der Hund einen prüfenden Blick auf seines Herrn Auge, ehe er die Karte bezeichnete, und ohne Zweifel hoch zu rühmen ist die strenge Wahrnehmung der Richtung des hindeutenden Auges. Die Sache war auf Täuschung des Publikums abgesehen, und der Ruf des Wunderhundes sollte nur Mittel sein zum Zweck hoher: Einnahmen. Der Unternehmer sah sich von uns durchschaut, denn die an ihn gerichtete Bemerkung brachte ihn in sichtbare Verlegenheit: „Die Zahl der Jahre braucht nicht dem Hunde genannt zu werden, es genügt, wenn man sie Ihnen in’s Ohr flüstert, denn Zahlen spielen bei Ihrem Hunde in der Lösung seiner Aufgabe gar keine Rolle“ Dennoch war hier genug geistige Bei- gabe vorhanden. Welche Anerkennung verdient schon der geduldige Ge- horsam, das fortwährend gespannte Aufmerken, die Missachtung aller Er- scheinungen und Auftritte in der Umgebung, welche geeignet waren, den Sinn des Thieres zu zerstreuen! Mit der Erfahrung ist die Combimirung unzertrennlich verbunden, sie setzt Verständniss voraus und leitet so in den eigentlichen Bereich der Schlussfolgerung und Überlegung hinüber. Wir brauchen nicht zum verständigen Papagei unsere Zuflucht zu nehmen, um Verstandesthätigkeit auch bei den Vögeln nachzuweisen, dieselbe tritt uns schon bei anderen klugen, überlegenden Vögeln entgegen. Wer die Thierseele genau studiert, wird sogar eine Art Gewissensäusserung bei dem erzogenen Thiere, vorzüglich dem intelligenten Hunde, selbst bei gezähmten und wohlerzogenen Vögeln, wahrnehmen. Die Vorstellung von den eigenen Handlungen und ein Bewusstsein von der Übereinstimmung derselben mit dem in’s Gedächtniss aufgenommenen Willen des Erziehers und Unterrich- ters oder des Abweichens von demselben ist vorhanden, und es bleibt nur das davon abhängige Gefühl der Thierseele als Gewissen nachzuweisen übrig. Dies lässt sich aber erkennen in den Geberden der Zufriedenheit und Freude wie in den Zeichen der Verlegenheit. Und sei auch nur die Aussicht auf Belohnung oder die Furcht vor der Strafe Urheber des Ge- bahrens, der niedere Grad der Gewissensregung ist damit, natürlich unter Ausschluss moralischer Begriffe, erwiesen. Wenn unseres Vaters Hühnerhündin einen Fehler begangen oder irgend- wie gegen den Willen ihres Herrn gehandelt hatte, so genügte schon die Erschemung des von ihr mit grosser Anhänglichkeit überall hin gern be- gleiteten Mannes, um sie in ergötzliche Verlegenheit zu bringen. Sie ver- vieth das unleugbare Bewusstsein, gegen das Gesetz, gegen ihres Herrn Willen gehandelt zu haben. Rührend war eines Tages die demüthige Selbstverleugnung, als die Hündin dem zur Pürsche ziehenden Herrn im Gefühl des Zweifels, ob er es billige, schleichend gefolgt war. Erst in der 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 119 Nähe des Waldes entdeckte sie unser Vater, und nun sprach deutlich aus dem flehenden Auge die Frage: darf ich oder darf ich nicht? zürnst du mir ob meines Nachschleichens oder nicht? Wie der Mensch zum Menschen spricht, so lautet ohne irgend ein abwehrendes oder strafendes Zeichen das entscheidende Wort: „Siehe, Bella, auf dem Pürschgang kann ich dich nicht brauchen, kehre also wieder um.“ Die Ruthe zwischen die Hinterläufe ge- klemmt, machte das verständige und gleichsam im Gewissen getroffene Thier Kehrt nach Hause. Zu dieser Art von Gewissensregung gesellt sich bei Thieren zuweilen ein Gefühl der Theilnahme für den Herrn. Der Eine von uns ritt einen grossen Schimmel, der ihm bei seinen Dienstgängen im Walde, zur freien Weide gelassen, gleich anhänglich und auf Pfiff und Ruf achtsam folgte wie der vortreffliche „Caro“, mit welchem er in freundschaftlichem Verkehr stand. Eines Tages setzte das Pferd nicht im rechten Tempo und in genauem Anschluss an das Wort des Reiters über einen breiten Graben und warf seinen Herrn ab. Zitternd am ganzen Körper stand es, seines Fehlers sich bewusst, und wer möchte es nicht für möglich halten, dass eine Zugabe von Theilnahme am Schicksal des Herrn in der Aufregung enthalten war? Mit ausserordentlichem Eifer führte das sanft behandelte Pferd unmittelbar nach dem Unfall, entsprechend dem Befehl des wieder in den Sattel gestiegenen Reiters, das Übersetzen ein halbes Dutzend Mal tadellos aus; es war im Bewusstsein des be- sangenen Fehlers darauf bedacht, denselben wieder gut zu machen. Sprechen nicht die Tage der Trauer, welche Hunde auf den Gräbern ihrer Herren zubrachten, für die Wahrscheinlichkeit einer gewissen Theil- nahme, zeugt nicht dafür auch die todesmuthige Vertheidigung des in Lebensgefahr befindlichen Herrn gegen seine Feinde? Ein alter pensionirter Actuar in Alsfeld hatte sich vor fünfzehn Jahren, während der Nacht in die Fluth versunken, an einen Weidenbusch festgeklammert. Sein Hühner- hund eilte unter lautem Geheul in das nahe gelegene Gehöfte, wo die Leute, auf das Gebahren des ihnen bekannten Hundes aufmerksam gemacht, init Laternen sich anschickten, dem vorangehenden Hunde zu folgen; dieser führte sie zu seinem in Lebensgefahr schwebenden Herrn zur Rettung. Ist eine solche mit tiefer Erregung und sprechenden äusseren Zeichen ver- bundene That des Hundes ohne theilnehmende Empfindung erklärlich ? Ge- wiss nicht. Hier lag keine Abrichtung zu Grunde, wie es bei den segens- vollen Rettungsthaten der Bernhardinerhunde der Fall war. Tritt die Anhänglichkeit an die Person oder den Heimathsort des Thieres mit der Inanspruchnahme des Ortsgedächtnisses in Verbindung, so leistet mancher Hund Grosses. Der Eine von uns Brüdern nahm von Staden in der Wetterau, dem Wohnort unseres Vaters, den daselbst erzogenen Hühnerhund zu Fuss mit zur Eisenbahn nach dem zwei Stunden entfernt 120 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. liegenden Friedberg. Dort wurde der Hund in den Hundebehälter des nach Frankfurt fahrenden Zuges gethan. In Frankfurt gingen Herr und Hund zum Darmstädter Zug. In Darmstadt blieb der Hund mehrere Tage während der Abwesenheit seines Herrn in dessen verschlossenem Zimmer. Am dritten Tage entwich durch Nachlässigkeit des Dienstpersonals der Hund und suchte zunächst seinen Herrn, dann begab er sich zur Eisenbahn, un- tersuchte den Wartesaal und lief längs der Schienen in der Richtung nach Frankfurt. In der Nähe Frankfurts verliess er die Bahnlinie und begab sich, wie zufällig Leute aus Staden aut ihrer Wanderschaft versicherten, denen er begegnete, ohne auf ihr Locken zu achten, in directer Richtung nach dem seitwärts im Niddathal liegenden Staden, durchschwamm den Main und langte Nachmittags um sechs Uhr in der Küche des Pfarrhauses an, nach dem Futternapf am gewohnten Platze suchend. Nach brieflicher Mittheilung war der Hund morgens um zehn Uhr entwichen und hatte, die Zeit des Suchens nach dem Herrn in den Strassen Darmstadts nicht abge- rechnet, in acht Stunden die vierzehnstündige Entfernung zurückgelegt. Das nennen wir ein Meisterstück, zu dessen Ausführung nur hochbegabte Individuen befähigt sind. Wäre der Hund längs der Eisenbahn bis Fried- berg und von da auf der Hochstrasse, die er kannte, nach Staden gelaufen, so wäre dies zwar schon eine Grossthat gewesen, weit anerkennenswerther aber ist die Wahl der directen Richtung, die den Hund durch unbekanntes Terrain, selbst über einen breiten Fluss führte und das Ziel nicht verfehlen liess. Das zeugt von einer hohen Gabe des Scharfsinns und der Orientirung, zugleich aber auch von rührender Anhänglichkeit an den Herrn und die Heimath. Nach vergeblichem Suchen der Person erwachte mächtig das Heimweh, und sicherlich flossen dann Person und Ort in der Vorstellung des Thieres in einander; im ungestümen Sehnsuchtstriebe wurde Beides identisch. Bewunderungswürdig erscheint uns das schon sehr frühe zur Entwick- lung kommende Unterscheidungs- und Erkennungsvermögen des Vogels. Wenn die Schaaren alter und junger Staare im Juni von vielen Hunderten gebildet werden und man ist Zeuge des verwirrenden Durcheinanders, nimmt aber dennoch wahr, wie sich die Familienglieder immer wieder zusammen- finden, weil die Alten ihre Jungen nicht blos, sondern auch letztere die ersteren mit untrüglicher Sicherheit herausfinden, so muss dies um so mehr Staunen erregen, als die Unterscheidungsmerkmale für unser Auge nicht er- kennbar sind. Das Vergleichungsvermögen scheint indessen nur nach be- stimmten Richtungen hin vorhanden zu sein, und zwar merkwürdiger Weise gerade da, wo dasselbe durch die Forderung der Erhaltung und des Fort- bestehens nothwendig; ist. So weit reicht das Vermögen des Thieres nicht, dass es sein Farbenkleid in Vergleichung zu bringen vermag mit anderen Gegenständen; aber wenn das Rebhuhn sich bei nahender Gefahr dicht an den Boden drückt, die Spechtmeise starr in der Lage und Stellung verharrt, 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 121 in welcher der Schreck sie ergriff, der Hase sich tief in die Furche drückt, so ist mit solchen Handlungen das Bewusstsein verbunden, dass dadurch die Entdeckung von Seiten des Feindes zu verhüten ist. Hier kommt die Gat- tungsgewohnheit in Verbindung mit Einzelausführungen, welche die Über- lesung oft mit glänzendem Erfolg vorschreibt. Abweichungen von den gewöhnlichen Regeln sind zuweilen die Verkündiger überraschender Ver- standesthätigkeit. Eine Schnepfe, die mehrmals durch den Jäger und Vorstehhund beunruhigt worden war, erhob sich plötzlich am sonnenhellen Tage hoch in die Luft und vorlor sich in die Weite Eine Wildsans, welche vom Bachufer angeschossen ins Feld gestrichen war, legte sich platt mit vorgestrecktem Hals ganz gegen die Regel der gesunden Wildsänse hinter eine Scholle, um sich vor dem nahenden Schützen unsichtbar zu machen. Eine von uns am Bachufer überraschte Stockente hielt den ganzen Ober- körper im Wasser, mit Ausnahme des oberen Theils ihres vorgestreck- ten Halses. Die überraschte Tauchente taucht in unmittelbarer Nähe des angeschlichenen Jägers und steht erst ausser Schussweite von demselben auf. Was hält die geweckten Raben so merkwürdig berechnend ausser Schussweite des Jägers, und was lässt dieselben, sowie die Wildgänse ruhig ‚weiter der Nahrung nachgehen, wenn der ackernde oder fahrende Land- mann an ihnen nahe vorbeikam? Und was erblickt das Forscherauge in dem Kreisen des Kolkraben, bevor er sich seinem Horste nähert oder einen Raub ausführen will? Was in dem Betragen des Sperlings, wenn er die unter Schnee oder Spreu verborgene kleine eiserne Falle mit dem Köder scheu umkreist, wohl aber die umhergestreuten Kirrbrocken fein säuberlich aufnimmt? Was anders als Überlegung, als Unterscheidungsvermögen lässt diesen wie die einmal durch das Schlag- oder Zuggarn berückten Drosseln, Grasmücken, Nachtigallen und Dutzende anderer Vögel diesen Menschen- trug meiden? Und wenn wir gar an den einzig dastehenden Fall denken, wo ein Krähenmännchen sein brütendes Weibchen, nachdem es den dem Horste zuschleichenden Jäger bemerkt hatte, aus hoher Luft niederstürzend von dem Neste zur Flucht drängte und zerrte, so feiert die Seelenthätigkeit des Vogels einen wahren Triumph. In gleicher Weise ist dies der Fall bei anderen Beobachtungen, die wir Brüder machten. Ein Hahn vertheidigte seine Henne gegen den Hund im Hofe, sobald dieser das ihm vorgestellte Futter anging und die Hühner wegjagte. Er flog ihm ims Gesicht, so dass der Hund wich. Eines Tages ist ein Huhn allein im Hofe und wird von dem Hunde vom Fresstroge abgewiesen. Eilig läuft es um die Hausecke auf die Strasse, ruft den Hahn herbei, der im hitzigen Lauf mit der ganzen Hühnerschaar erscheint und sogleich sich auf den Hund wirft. Ein Hühner- habicht stiess auf ein Huhn. Der herbeieilende Hahn sprang mit wahrer Todesverachtung dem Räuber, mit Nägeln und Flügeln schlagend, entgegen und verjagte schliesslich den mehrmals auf das Huhn stossenden Habicht, 122 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. Es ist nicht Einseitigkeit der Erfahrung und Beobachtung, die uns im- mer wieder auf die Seelenäusserungen bestimmter Säugethiere hinführt, denn einzelne Gattungen unter den Vierfüsslern zeichnen sich unstreitig vor anderen durch hervorragende geistige Begabung aus. Des Elephanten Klugheit, Erinnerungsvermögen und Willensstärke sind von Kennern hoch gepriesen worden. Beispiele von lange nachgetragenem Groll und von end- licher Ausführung furchtbarer Rache, sowie Thaten der Dankbarkeit an semem Wohlthäter stellen dieses Thier auf eine hohe Stufe der Intelligenz. Vorzüglich sind es die dem Menschen nahestehenden Hunde, an deren Uharakteräusserungen das Studium des Thierfreundes sich niemals erschöpft. Wenn auch der Hühnerhund im Allgemeinen nicht frei ist von schmarotzer- haften und diebisch verschlagenen Eigenschaften, einzelne Exemplare be- weisen wirklich Charakter. Eine excellirende Hündin unseres Vaters arbeitete vor ihrem Herrn mit der sorgfältigsten Bravour; sobald wir Buben sie aber mit auf die Jagd nahmen, glaubte sie des Gehorsams gegenüber unserem Commando enthoben zu sein und jagte mit unverkennbarer Absicht die Hühner heraus, dass wir kaum zum Schuss kamen. Es gibt Hühner- hunde, welche keinem Fremden die Dienste leisten mögen, welche ihre Herren jederzeit von ihnen verlangen dürfen. Ist es nicht Charakter, wenn der Spitz oder Pommer Haus und Hof, Hab’ und Gut seines Herrn mit aufopfernder Treue Tags und Nachts mit den wachsten Sinnen behütet? Ist es nicht ein Muster von treuem Gehorsam und charaktervoller Dienst- leistung, wenn der Schäferhund die Stelle seines Herrn vertritt und im Be- wusstsein seiner Verantwortlichkeit doppelte Gewissenhaftigkeit beim Hüten und Zurechtweisen bekundet? Aber stellen wir auch Beispiele von Ver- schlagenheit und Perfidie der Hunde auf, wobei uns indessen die List und weitgehende Überlegung Bewunderung abnöthist. In Gladenbach, einem Orte des ehemals hessischen Hinterlandes, beobachtete unser Vater am frühen Morgen vom Fenster aus folgenden Vorgang auf dem Felde. Sem Hühnerhund und sein Bracke waren zur gemeinschaftlichen Jagd ausge- gangen. Ein aufstehender Hase wird von dem Bracken verfolgt, während sich der Hühnerhund in die Nähe des Hasenlagers in die Furche drückt und auf die Rückkehr des Hasen lauert. Der Eigenthümlichkeit der Hasen überhaupt getreu, kommt nach etwa einer Viertelstunde der Verfolgte dicht am Lager vorüber und wird durch einen Sprung aus dem Hinterhalt die Beute des Hühnerhundes, der ihn in Gemeinschaft mit seinem Helfershelfer verzehrt. Ein anderes Mal liest derselbe Hühnerhund in dem Zimmer an- scheinend schlafend. Sein Herr geniesst saure Milch, wird aber auf emige Augenblicke abgerufen. In’s Zimmer zurückgekehrt, findet er den Teller leer, den Hund aber in vorheriger Lage noch immer schlafend. Der Teller wird von Neuem gefüllt und der Hund abermals allein gelassen, jedoch von aussen durchs Fenster beobachtet. Langsam hebt das Thier den Kopf, 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 123 schaut sich um und eilt dann rasch dem Tisch zu, um die Milch auszu- lecken. Der Herr findet beim Eintritt ins Zimmer wiederum den perfeeten Heuchler in fingirten Schlaf versunken. Hier kam eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen zusammen. Auch aus dem Leben der Katzen sind uns Thaten der Überlegung von hohem Interesse bekannt. In einem Dorfe des Vogelsberges fanden wir eine Katze, emen Staar und ein Rothkehlehen in der Bauernstube in ungestörter Eintracht vereinigt. Die Hausfrau stellt den Futternapf für die drei Stubengenossen hin, und sofort begibt sich das Raubthier mit den beiden Vögeln zur Stelle. Das Rothkehlchen aber wird futterneidisch und fliegt der Katze pickend nach dem Gesicht; diese zieht sich selbstverleugnend und schonend zurück, und es war rührend, wie sie die Krallen tief einzog, um auch nicht die geringste Feindschaft gegen den befiederten Kameraden zu zeigen. G. Jäger berichtet von einer Katze Folgendes: „Eine Hauskatze hatte aus einer Reihe verschiedener Wahrnehmungen die Folgerung entnommen, dass die Köchin die Küche verlässt, wenn die Glocke ertönt. Sie benutzte dieses Ergebniss als erstes Glied zu einem Kettenschluss folgender Art: 1) wenn die Glocke ertönt, verlässt die Köchin die Küche; 2) wenn die Köchin die Küche verlässt, kann ich das Fleisch stehlen; also 3) der Ton der Glocke verschafft mir eine günstige Gelegenheit. Nachdem dies für sie festgestanden, machte sie die weitere Beobaehtung, dass beim Ertönen der Glocke jedesmal ein Draht, der über dem Kasten, worauf sie sass, hinweg- lief, in Bewegung gerieth. Diese Wahrnehmung bildet ein weiteres Glied zu dem obigen Kettenschluss, infolge dessen sie den Entschluss fasste, selbst an dem Draht zu ziehen. Das Experiment gelang, der Draht wurde als Mittel zum Zweck in Bewegung gesetzt und der Zweck war erreicht.“ Derselbe Gewährsmann berichtet über einen Orang-Utang, der lange im Londoner Garten lebte. „Er ging eines Tages mit bedächtigen Schritten vor seiner Behausung spazieren. Da fiel es einer Meerkatze bei, ihn hinter- listig in’s Bein zu zwicken. Der Orang dreht sich um, misst den kecken Burschen, der sich an ihm vergriffen hatte, mit einem Blicke, geht dann, ohne ein Wort zu sagen — denn er war ja ein Orang — in seine Behausung, holt sich dort seinen gewöhnlichen Spatzierstock, hebt die Meer- katze am Schwanz in die Höhe, regelrecht, wie der Schulmeister seinen un- artigen Schüler an dem Unaussprechlichen, und prügelt sie in aller Form ab.“ Sicherlich vervollkommnet sich das Thier in seiner Seelenthätigkeit im Umgang mit dem Menschen, und nur unter dem bildenden Einfluss solchen Verhältnisses treten Erscheinungen auf, wie wir sie eben vorgetragen haben. Aber auch im Frei- und Wildleben des Thieres zeugen viele Auftritte von unverkennbarer Überlegung. Nehmen wir nur einige Belege aus dem Leben Meisters Reinecke, unseres listigen Fuchses. Mit sicherer Berechnung wartet die Fuchsmutter, die ihr „Geheck“ im Bau zu versorgen hat, den Zeitpunkt 124 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. ab, wo die jungen Gänschen oder Entchen zur Weide getrieben werden. Entfernt sich der Hirt oder lässt derselbe ein kleines Kind als Hüter zurück, so ist die Zeit zur Ausführung des Raubes für den Laurer gekommen. Das tesultat kluger Überlegung, gepaart mit kühner Verwegenheit, war es von einem alten, jedenfalls sehr erfahrenen Fuchs, als er sich durch’s Treiben hinter unsere Schützenlinie schlich und auf die Lauer stellte, bis er einen erlegten Hasen aufnehmen und davonschleppen konnte. Schlaue Berechnung lag der von uns ebenfalls erlebten Fuchsthat zu Grunde, welche sich an einem Augustnachmittag im Walde während der Taubenjagd abspielte. Wir standen unter hohen Eichen gedeckt im Stangenholz und schossen in kurzen Zwischenräumen mehrere Tauben, welche von den Eichen herab zu Boden fielen. Dann erst liessen wir unseren Hühnerhund zum Apportiren der Beute vor. Welches Erstaunen ergriff uns, als uns unser Nachbar laut zu- rief: „Eben ist Bruno hinter einem Fuchs her an mir vorübergejagt, der eine Taube im Maul trug.“ Der Fuchs hatte jedenfalls anfänglich auf seinen abenteuerlichen Raubgängen Federn und Blutspuren geschossener Tauben unter dem Eichbaume entdeckt. Diese Entdeckung hatte er bald mit den am späten Nachmittag fast täglich fallenden Schüssen in seiner Nähe in Ver- bindung gebracht, und nun kam es nur noch auf den Entschluss an, sich in die Nähe des Schützenstandes zu begeben, um die geschossene Taube durch verwegenes Zufahren in seinen Besitz zu bringen. Hier wirkten Gedächt- niss, Unterscheidungsgabe, Schlussfolgerung, Zurückdrängung angeborener ' Furcht, Lüsternheit und Begehrungstrieb zusammen. Es entstand ein innerer Kampf, der keine geringe Summe der Überlegung und Überwindung er- forderte. Wir mögen die ganze Periode des Sommer- und Winterlebens der Vögel durchforschen, wir können uns nur bereichern an der Erkenntniss der Seelenthätigkeit dieser interessanten Geschöpfe. Seele spricht aus dem Kampfleben der Vögel zur Zeit der Paarung. Mit feurigen Blicken befeinden sich gegenseitig die nebenbuhlerischen Männ- chen; alle Bewegungswerkzeuge sind m Spannung und Thätigkeit, aufge- regt klingt die Stimme, erbost fauchen die Kämpen, stark klopft das Herz, schnell fliegt der Athem, matt liegen sie zuletzt am Boden. Das ist Eifer- sucht und geschieht aus Liebe zum Weibchen. Die Liebe ist egoistisch. Hat der Stärkste gesiegt, so treten die Kämpfe bei fernerer Begegnung seltener ein, und wenn ausser der Paarzeit gestritten wird, so liegen andere Resungen zu Grunde, hier Futterneid, dort Abneigung überhaupt, zuweilen wohl auch übermüthige Rauflust. Die Kohl- und Blaumeise wie viele andere Vögel verjagen diejenigen, welche sich in ihren Haushalt eindrängen wollen, nur in der Absicht, um sich, ihr Weibchen und ihre Brut zu schützen oder nicht stören zu lassen. Das geschieht aber nicht ohne Achtsamkeit und immer nur aus innerem freien Bewegtrieb, Das Betragen gegen Nachbarn 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel 125 ist auch veränderlich. Hier duldet eine Meise durchaus kein anderes Vogel- paar neben sich, dort brüten mehrere in einem und demselben Baum mit ihr. Die Vögel haben ihre individuellen Eigenthümlichkeiten und Launen; sie wissen auch, gegen welchen Vogel sie etwas ausrichten und gegen welchen nichts. Im Kampfe ist indessen nicht immer Stärke entscheidend für den Sieg, sondern auch Muth, Entschiedenheit und leidenschaftliche Erregtheit. Sicher ist aber und wahr, dass der einmal gepaarte Vogel sich von keinem nebenbuhlerischen Eindringling, mag dieser auch stärker sein, vertreiben lässt, und hier wird ein gewisses Selbstbewusstsein, ein durch ein gewisses Recht auf Besitz (menschlich geredet) gestärktes Gefühl obwalten, das dem Ehegatten dem Eindringling, gegenüber die Übermacht verleiht. Die Beobachtung zeigt, dass der Vogel im Allgemeinen nicht lange trauert, wenn die Ehe getrennt wird. Der verlorene Gefährte wird alsbala durch einen neuen ersetzt. Übrigens sind uns Fälle bekannt, dass Storch- weibehen, die ihre Männer verloren, Jahre lang im Wittwenstande blieben und einsam den beliebten Horst bewohnten. Die Turteltaube trauert mehrere Tage und fliegt immer wieder zu dem Platze, wo sie ihr Weibchen verlor. Das ist ein Beweis von Frinnerungsvermögen, welches wenigstens auf einige Tage zurückreicht. Schreiten wir in unserer verfolgenden Beob- achtung weiter voran zum Nestbau der Vögel, so gewinnt die Frage: Waltet auch hier Überlegung? eine besondere Bedeutung, Zunächst ist das Bauen des Nestes ein Erzeugniss der Kunstanlage des Vogels, und vermöge vererbter Fertigkeit und vorhandener Leibesorganisation kann er nicht anders, als nach bestimmten Grundregeln, die für jede Sippe oder Art ge- seben sind, bauen. Edelfink, Stieglitz, Hänfling, Grasmücke, Weidenlaub- sänger, Schilfsänger u. s. w. bauen noch heute nach denselben Grundregeln ihre künstlichen Nester wie vor Tausenden von Jahren. Der Höhlenbrüter wird seiner Gewohnheit ebenso treu bleiben wie die Schnepfe, welche auf dem flachen Boden im Laub ihre Eier legt. Aber die Erfahrung bildet auch hier aus, und wenn die älteren Vögel schönere und solidere Nester bauen als die jungen, so hilft Überlegung, welche durch die Erfahrung hereingezogen wird in die Thätigkeit. Und wenn bei Nachstellungen gegen Regel und Gewohnheit statt auf Büsche auf einzeln stehende Bäume gebaut wird, so ist dies ein schlagender Beweis für die Vorgänge der Über- legung und Schlussfolgerung. In grossem Irrthum befinden sich indessen diejenigen, welche meinen, der junge Vogel lerne das Bauen von dem Alten durch Anschauung des von diesem gegebenen Vorbildes. Dass die Jungen Vögel im Neste sich kein Modell an ihrer Wiege nehmen können für die zukünftige ihrer eigenen Nachkommenschaft, ist selbstverständlich. Die jungen futtergierigen Schreihälse denken nicht daran, architektonische Stu- dien zu machen. Und welches schlechte Modell würden sie sich an dem meist durch die Brut defeet gewordenen, nieht selten beschmutzten Bau 126 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. nehmen! Schreiten die Eltern zur zweiten Brut, so sind die Jungen der’ ersten von ihnen getrennt, und keimem einzigen kommt es in den Sinn, bei jenen Bauunterricht zu nehmen. Im nächsten Frühjahr sind sie aber den- noch im Stande, ihrer grossartigen Naturanlage zufolge Nester zu bauen, genau nach dem Muster der alten, wenn auch erst mit der Zunahme der Jahre zur künstlerischen Solidität und sorgfältigen Ausführung gelangend. Auch der brütende Vogel bekundet in Bezug auf das Gelege Seelen- thätigkeit. Er merkt es sogleich, wenn Eier verschoben, mit anderen ver- tauscht oder wenn sie verletzt worden sind: denn er ordnet sofort das Ver- schobene, er gibt durch Geberden und Laute kund, dass er das Fremde wohl erkannt, er ruft den Gefährten herbei und, was das Beherzigenswer- theste ist, er schafft verletzte Eier oft alsbald aus dem Neste. Diese Hand- lungen sprechen deutlich für das Vermögen, welches wir unbedingt ebensowohl Anhänglichkeit zu Eiern und Nest als Überlegungs- und Unterscheidungs- gabe nennen müssen. Obgleich nun der Vogel auch fremde Gegenstände, wie untergeschobene Steinchen, annimmt und auf diesen wie auf dem Gelege weiter brütet, so beweist dies doch nur den grossen Drang des Brutvogels zu seinem Geschäft. Es ist ihm Bedürfniss, die Bruthitze überzuleiten auf das Gelege, auch dann noch, wenn man ihm dies theilweise nimmt und dafür etwa Steinchen unterschiebt. Aber niemals oder höchst selten wird er nach Entfernung des ganzen Geleges auf fremdem brüten. Er verlässt das Nest, je nach Art und Individualität, nicht selten schon bei geringer Störung. Er wirft aber auch häufig genug das Aufgenöthigte aus seinem Heilisthum heraus. Lebendig spricht die Seelenthätigkeit aus dem Gesang der Vögel. Wohl ist derselbe hauptsächlich Product des Geschlechtstriebes, aber nicht so, dass der Vogel dabei mechanisch dem materiellen Antrieb folgte und nicht seelisch empfände. Es singen auch Vögel noch, wenn längst nichts mehr von geschlechtlichen Regungen vorhanden ist. Wie äussere Einflüsse, Wit- terung, Nahrung u. s. w., bewirken, dass die Vögel das eine Jahr eifriger, schöner und längere Zeit singen als das andere, wollen wir nur vorüber- gehend erwähnen. Auch ruckst die Wildtaube noch nach dem Brutgeschäft, singt der eine oder andere Vogel draussen, wie z. B. der Stieglitz und Hänfling, die Feld- und Baumlerche, bis in den Herbst und Winter hinem. Die jungen Ringeltauben rucksen im August sehr eifrig, die jungen Sänger üben sich in den Spätsommer- und Herbsttagen im Gesang. Ende September und zu Anfang des Octobers lassen sich die Rothkelchen, Drosseln und Amseln früh am Morgen und vor Eintritt der Abenddämmerung laut singend ver- nehmen. Dasselbe nimmt man im September bei alten Rothschwänzchen, Grasmücken verschiedener Art, bei den Laubvögelchen und anderen Sängern wahr. Bedingt dies der Geschlechtstrieb? Oder hat nicht das Gefühl des Wohlseins und Behagens überhaupt den meisten bewegenden Antheil? Warum 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 127 hat eine Nachtigall bei uns im Käfig vom März an laut bis in den November hinein gesungen, und zwar je mehr nach dem Herbste zu, desto anhaltender und leidenschaftlicher? Warum singen Vögel im Käfige beinahe das ganze Jahr hindurch, sogar während der Mauser, wo der Säfteverbrauch doch gewiss den Geschlechtstrieb gänzlich zurücktreten lässt. Aber hat nicht die geschlechtliche Liebe auch ihre seelische, höhere Seite beim Vogel? Unfehlbar, sonst würde das Männchen nicht immer der treue Begleiter des Weibchens sein. Ein stärkeres Band hält sie unzertrennlich zusammen. Was wirkt so nachhaltig, dass Männchen und Weibchen sich selbst den Winter über treu bleiben, wo das, was wir mit dem Worte geschlechtliche Liebe im alltäg- lichen Sinne bezeichnen, ganz und gar zurückgetreten ist? Verfolgen wir nur aufmerksam den Gesang des Vogels, so nehmen wir, wie wir schon im Eheleben der Vögel hervorgehoben, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger einen willkürlichen Vortrag der einzelnen Theile wahr. Die Nachtigall und der Sprosser stehen hierin obenan, und wer sie im vollen Feuer belauscht hat, wird ihnen ein gewisses Ringen nach Form- bildungen nicht absprechen können. Wir haben unwiderlegliche Wahr- nehmungen gemacht, die für eine Productionsfähigkeit der Nachtigall im Gesang, jedoch selbstverständlich im beschränkten Sinne, reden. Kann das ohne Vorhandensein von Selbstbewusstsein und Wollen, ohne Empfindung, ohne Unterscheidungsgabe geschehen? Der lernende Dompfaffe weiss, hört, empfindet genau, wenn er einen Fehler gemacht hat, sucht sich zu verbessern, studiert, denn er vergleicht ja zwischen dem Vortrag seines Lehrers und seinem eigenen. Es ist dies Lernen nicht rein mechanisch, am allerwenigsten aber das Naturerzeugniss des Geschlechtstriebes, sondern Auffassung und Wiedergabe des Aufgefassten unter der Leitung der Reflexion. Wenn der Papagei oder Staar sprechen lernt, so ist dies ohne Gebrauch einer gewissen Verstandesthätigkeit nicht denkbar. Das Ohr nimmt das Wort auf und die Vermittelung zwischen Gehör und Stimmorgan ist durch die Reflexion be- dingt. Schreibt auch der Geschlechtstrieb grossentheils dem Staar sein Balzen vor, führt er den Drang zum Gebrauch des Stimmorgans zur Zeit der Geschlechtsregung mit sich, die Worte schreibt er ihm nicht vor. Der Vogel besitzt also innerhalb unübersteiglicher Grenzen Bildungsfähigkeit nach dieser Richtung hin. Nur unter der Bedingung, dass der Vogel sich im Zustande geschlechtlicher Erregung oder im vollen Wohlbehagen befindet, erhebt er seinen Gesang. „Eigentlich bedürfte es,“ sagt Brehm, „zum Beweise des Gemüths der glücklichen und des Glücks sich bewussten Vögel nur des einen Wortes „Gesang“, um genug gesagt zu haben.“ Auch der Vogel vermag durch Reflexion Ausserungen des Gefühls zu unterdrücken. Hemmende Einflüsse lassen ihn zum Gesang nur ansetzen, rasch Töne ausstossen, leise vor sich hin flüstern. Der veränderte Ausdruck im Ton, seine Dämpfung, sein zaghaftes Hervortreten — wodurch wird es 128 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. bewirkt? Durch die Seele in ihrer jeweiligen Stimmung und Verfassung. Nur bei ungetrübtem inneren Glück singt der Vogel vollkommen. Die Jungenpflege gebietet ihm durch die Fülle der damit verbundenen Sorge Schweigen. Unbestritten ist die Liebe zu den Jungen bei dem alten Paar weit grösser, als zu den Eiern. Das Jammergeschrei der Eltern um die bedrohten Jungen ist unvergleichlich stärker, als beim Raube der Eier. Auffallend, aber doch auch wieder sehr erklärlich ist die Abnahme der Liebe zu den Jungen bei der zweiten Brut. Mit dem Alterwerden der Jungen wächst unstreitig die Anhänglichkeit der Eltern an dieselben. Vorzüglich ist dies der Fall bei dem Vater, der sich anfänglich oft fast gar nicht um die Kleinen bekümmert und die erste Pflege beinahe ausschliesslich der Gattin überlässt. Ein flügges Vögelchen wird vom Vater ebenso sehr wie von der Mutter geliebt und gefüttert; ja, wir haben sogar die sichere Beobachtung gemacht, dass in vielen Fällen der Vater weit mehr Anhänglichkeit an die ausgeflogenen Kleinen zeigte als die Mutter. Endlich finden wir auch im geselligen Verkehr der Vögel entschiedene Beweise für ihre Seelenreflexion. Wohl gebietet ihnen die Natur im Herbste: schart euch zusammen! wie sie im Frühling die Abgeschiedenheit der Paare von einander vorschreibt. Aber die Überlegung kommt überall zu Hülfe, wo gemeinschaftliche Unternehmungen stattfinden. Die Erfahrenen führen die Gesellschaft an. Sie kennen die Nahrungsquellen grossentheils noch von vergangener Zeit her, und die Jüngeren vertrauen sich ihrer Leitung an. Man frage nach dem Grunde der Ausstellung von Wachen bei Wild- sänsen und Kranichen, Trappen und Singschwänen; zweifellos wird der Unbefangene hier bewundernswürdige Überlegung anerkennen trotz vererbter Gewohnheit. Man sehe die Kraniche und Wildgänse alljährlich auf ihren Frühlings- und Herbstzügen die gewohnten Strassen ziehen: sie bleiben diesen Luftstrassen so treu, wie der vertraute Wanderer seiner Strasse auf festem Grund und Boden. Die Erfahrenen führen meist den Zug an und commandiren nach uraltem Brauch zum genauen Einhalten der Richtung über Fluss und Thal, über Hügel und Gebirgssättel. Ihre Sprache ist allen verständlich, ihre Bewegungen und Vereinszeichen werden nicht übersehen, und wie electrischer Strom geht die alarmirende Empfindung der anführenden Häupter durch die ganze Kette bis zum letzten Gliede Merkwürdig und auffallend ist die Erscheinung im Leben der Vögel, dass die Signaltöne, welche den nahenden Räuber in der Luft der umgebenden Vogelwelt ver- kündigen, von Allen verstanden werden und ihre erschreckende und zum rettenden Fluchtmittel auftordernde Wirkung weithin äussern, wie dies auch bei Klagetönen vielfach der Fall ist, während die übrigen Töne nur unter den Gliedern der betreffenden Arten Beachtung und Verständniss finden. Hierin erkennen wir wieder die grosse Macht der Nothwendigkeit, zur Er- 4. Das Seelenleben der Säugethiere und Vögel. 129 haltung und zum Fortbestand des Individuums das Seelenvermögen in seiner Thätigkeit zu erweitern. Die starken, erschütternden Eindrücke, die so häufig wiederkehren, mussten ja von jeher die Sinne schärfen und die Auf- merksamkeit über die gewöhnlichen Grenzen hinüber leiten, so dass die Erfahrung nach und nach die drohenden Eindrücke der Gefahr, welche durch die Warnungstöne anderer Vogelarten verkündet werden, in ihrer Bedeutung verstehen lehrte und dieses Verständniss dann zur forterbenden Gewohnheit gestalten konnte. Und werfen wir sorgfältige Blicke in die Schaaren unserer Finken, Meisen, Lerchen, Staare und Krähen, tausend Einzelheiten im Gesammtleben dieser Gesellschaftsverbände reden dieselbe Sprache der Verstandesthätigkeit und der Gemüthsaffeetionen. Warnungsrufe, welche zum Schutz, Locktöne, die zur Aufforderung dienen, herbeizueilen, um die entdeckten Nahrungsquellen auszubeuten, Rufe, die zum Aufbruch und zum Weiterziehen mahnen, Klage- töne, welche zur theilnehmenden Versammlung und zum Beistandherbei- rufen, Zeichen, die durchweg in der Gesellschaft einmüthiges Handeln zur augenblicklichen Folge haben alle diese Erscheinungen lassen sich nur durch freie, vorurtheilslose Anschauung der Vogelwelt als einer lebendigen Werkstätte seelischer Antriebe, selbstbewusster Empfindungen und Handlungen begreifen oder erklären. 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. Ohne Kampf kein Besitz, ohne Besitz keine Ruhe, kein Friede. Diese Thatsache sehen wir verwirklicht im Leben aller Wesen, besonders aber bei den höher organisirten Thieren. Es scheint der Kampf um jedes Da- sein an die Funetionen des Lebens geknüpft zu sein, denn es stellt sich jedem aufmerksam beobachtenden Geiste das Leben als ein ununterbrochenes Ringen dar. Die Lichtpunkte gleichsam dieses Kämpfens aus dem Leben der beiden höchstorganisirten Thierklassen, der warmblütisen Wirbel- oder Sinnen- thiere, der Säuger und Vögel, zu betrachten, sei hier unsere Aufgabe. Wir beginnen mit dem Kampf um den Besitz des Lebensgefährten zum Zweck der Fortpflanzung und des Familienlebens. Welch eine Verschieden- heit des Werbens und Zusammenlebens gibt sich in diesem Kampfe kund! Wie lässt hier die Natur Mamnigfaltiskeit zu, wie gibt sie Spielraum zur Entfaltung der charakteristischen Eigenartigkeit! Unter der Gewalt des Fortpflanzungstriebs treten plötzlich die Züge des wilden Wesens der Raubthiere und Raubvögel zurück, und es beginnt das Geberdenspiel der Minne. Wesen, Haltung, Bewegung, Gang, Lauf und Sprung oder Flug sind gleichsam geadelt. Stolz und Anmuth zugleich, A. u.K. Müller, Thiere der Heimath. 9 130 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. Feuer und sanfte Milde, Ungestüm im Begehren neben Unterwürfigkeit vor dem Urheber der fesselnden Zauberwirkungen, Verschmelzung und Steigerung der Gaben und Kräfte, mit denen die Natur das Thier ausgestattet hat, Affect im verklärenden und verschönernden Lichte, welches der beherrschende Verjüngungstrieb ausströmt — ein solches Bild wunderbarer Umwandlung stellt sich dem Auge dar. Und diese Bändigung unter eine Macht, dieser Sieg einer gleichsam zweiten Natur im 'Thiere, diese Bemühungen, zu gefallen, und diese Huldigungen — sind sie nicht Zeugen eines unleugbaren Kampflebens im Innern? Selbst die Stimme wird dem mächtigsten aller Triebe unter- than. Vom Schrei des Brunfthirsches hallen Waldesschlucht und Fels- thal wieder, und gilt derselbe auch unzählige Mal in bebender Eifersucht dem tödtlich gehassten Nebenbuhler; wir erkennen darin nicht minder den Ausbruch einer treibenden Empfindung überhaupt, die sich in Jauchzen, klinge es auch noch so rauh und das musikalische Ohr beleidigend, Luft macht und der Welt verkündist, dass sie das Individuum beherrscht. Der Gesang des Vogels ist die schönste Blüthe dieses Triebes. Er bildet das Stimmorgan aus, gibt ihm die Geschmeidigkeit, die Fülle, die Kraft, den Zauber, die Seele. Kreisend unter der Sonne, im blauen Aether, vermag selbst der Raubvogel schönere Töne hervorzubringen, wenn er um des Weibchens Gunst wirbt. Raben und Sperlinge werden zur Minnezeit Sänger, wenn auch nur mit dem allerbeschränktesten Repertoire. Das Meckern der Becassine, das Balzen der Schnepfe, des Auer- und Birkhahns hat keinen andern bewegenden Grund. Ja, diese Umwandlung ist schon ein Kampf, unter welchem das Thier mit sich selbst ringt und dem Gegenstand seiner Hingabe Sinnen und und Streben weiht. Wer will uns etwa belächeln, wenn wir auf das Menschlich-Verwandte hinweisen, das hier überzeugend und drastisch zu Tage tritt?! Zeigt sich der liebeberauschte Jüngling der Erwählten gegen- über in der vortheilhaftesten Stellung und Bewegung, so kann er in der Luft sein Ebenbild schauen an den schönsten Schwenkungen des Falken, am wohligen Schweben der Waldtaube oder der Staarmännchen oder auf den Zweigen an den schäkernden Hahnen der prangenden Distelfinken. Welcher leidenschaftliche Tänzer könnte nicht im Birkhahn, wenn er sich im Balztanz schwingt, einen Rivalen erblicken, der sich nur durch den Grad der Berauschtheit und dadurch von ihm unterscheidet, dass er die Musik zu seinem 'Tanze selbst vorträgt ? Gegenüber dem Nebenbuhler aber wird der Kampf um den Gegen- stand des Begehrens ein erbitterter und folgenschwerer. Die Händel der Füchse, Marder, Iltisse und Katzen, so hartnäckig sie erscheinen, verlaufen doch noch unter geringeren Verletzungen. Balgfetzen fliegen davon, wie die Federn bei den Kämpfen der Wald- und Feldhühner; Schmarren trägt der Besiegte davon, und ein Niederrollen der in einander 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 131 ° festgebissenen Marder vom Dache bis in die Tiefe schadet den muskel- starken Zählebigen auch nicht. Ernster und gefährlicher sind dagegen die Kämpfe der Hirsche und der „Keiler“ (wilden Eber) in der Brunft. Bei Ungleichheit der Stärke und Wehrhaftigkeit genügt oft schon die drohende Haltung des mächtigen Führers und Herrschers des Rudels. Eben- bürtige Kämpfer aber verletzen einander schwer; nicht selten wird der Be- siegte durchbohrt oder aufgerissen oder von dem Rande einer Felswand hinabgestürzt; bisweilen verenden beide Hirsche in Folge der Verschlingung (des „Verkämpfens“) ihrer Geweih-Enden. Diesen nur ausnahmsweisen tödtlichen Kämpfen der Riesen stehen die mörderischen vieler Zwerge aus den Reihen der Säuger sowohl wie der Vögel gegenüber. Aber es’ sind diese Zwerge auch geistig und körperlich derb und ungestüm angelegte Naturen. So befehden sich Spitzmäuse und Maulwürfe, wie schon bei gewöhnlichem Begegnen, so ganz besonders zur Zeit der Minne in den meisten Fällen auf Leben und Tod. Die bissigen kleinen Meisen, sowie der wüste, stürmische Segler bestehen die wüthendsten Sträusse, diese hoch in der Luft, oft beiden zum Verderben, jene im mörderischen Anfall, der sich manchmal im Aushacken des Gehirns gipfelt. Aber mögen wir Kampfscenen unter reissenden Thieren oder den jagdbaren unserer Um- gebung, unter Riesen oder Zwergen beobachten, im Urwalde wie im Walde der Cultur, in der Wüste und Steppe wie auf der angebauten Flur, überall erliegt der Schwächere dem Stärkeren, vorausgesetzt, dass der Unterschied der Kraft nicht ein verschwindender ist; sonst kann von einem andern Um- stande erfahrungsmässig die Entscheidung abhängen, nämlich von einem ge- wissen Bewusstsein — wir dürfen nicht sagen: des Rechtes, wir wollen sagen: des Besitzstandes und Daheimseins, einem Gefühle, welches unstreitig auch das Thier ermuthigt und z. B. bei Hunden den ergötzlichen Anblick gewährt, dass ein winziger Dächsel, Pinscher oder Pommer den stärksten und händelsüchtigsten Metzger- oder Schäferhund zur Flucht aus dem Besitzthum nöthigt. Aber auch von freier Wahl, von Ver- schmähung und Bevorzugung, ja von sichtlicher Neigung sind hin und wieder Beispiele bemerkbar. Wie sollte es sonst erklärlich sein, dass manche Hündinnen, die in unsern Augen schönsten und kräftigsten ihrer Race von sich weisen und sich andern oft schwächlichen, verkommenen oder unschönen und tölpelhaften Exemplaren mit besonderer Vorliebe zu- wenden? Gewiss, auch die Thiere haben Antipathieen und Sympathieen: sie fühlen sich hier gegenseitig angezogen, verkehren und spielen mit einander und stehen sich gegenseitig in Streitigkeiten mit anderen bei, während sie sich dort nicht minder hassen und bekämpfen. Im Allgemeinen geht aller- dings auf dem Kampfgebiete der Liebe Gewalt und Stärke vor Recht. Im Harem der Hennen herrscht in Wald und Hof der gewaltigste der Hähne. Die tapfersten Ritter unter den Edelfinken sind die glücklichsten Werber g# :132 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. um die Edelfrauen; der m die Flucht geschlagene Kämpe muss sehen, wo er anderswo sein Ziel erreicht. Unter den Vögeln, wie unter den Säuge- thieren irren alljährlich viele Junggesellen umher; sie finden keine über- zähligen Weibchen, haben keinen Besitz, kein Heim; sie sind von den glück- lichen Nebenbuhlern zurückgewiesen, „abgekämpft“ worden, und wenn einmal die Einehen geschlossen sind, dann löst auch der fremde Stärkere nicht mehr das Band. Doch wir sprechen von den Vögeln und fragen, ob eine ähnliche Be- thätigung sich auch in dem Leben der im Allgemeinen höher entwickelten Säuger kundgibt? Diese Frage bringt uns an der Hand umsichtiger, scharfer Forschung und Beobachtung auf die Thatsache: dass bei den Säugethieren — um mit dem aufmerksamen Altvater der Ornithologie Ch. L. Brehm zu reden — die venus vulgivaga herrsche, während im Leben der meisten Vögel eine dauernde Paarung oder ein eheliches Band bemerkbar wird. Wir begnügen uns mit dieser allgemeinen, fast durchgreifenden Be- merkung, weil in den nachfolgenden Abschnitten des besonderen Theiles gerade dieser Zug im Leben der einzelnen Säugethierarten nähere Betrachtung findet. Ein harter Kampf entwickelt sich zugleich um den „Stand“ oder das Wohngebiet, um die Stätte, wo die Nachkommenschaft gepflegt und erzogen werden soll, um geeignetes Versteck oder um Höhle, Bau und Nest. Das ist vorzugsweise der Fall unter den Vögeln, zunächst unter gleichartigen, dann aber auch unter verschiedenartigen Paaren. Da hat wiederum die Gewalt ihr Feld des Angriffs und der Abwehr, aber auch die List ihre erfinderischen Mittel und Wege. Da zerfetzt und zerfleischt das alte Storchpaar im Kampfe um den Besitz des Nestes den einen und andern seiner eignen Söhne und Töchter, für die auch nicht der leiseste Zug ver- wandtschaftlicher Gefühle sich mehr regt und in deren beiderseitigen Ver- hältnisse von keiner Anerkennung und kemem Bewusstsein der Eltern- oder Kindschaft noch die Rede sein kann. Da zankt sich Brüder mit Bruder, Vater mit Sohn und Enkel, Vetter mit Vetter; ganze Generationen ver- folgen, verdrängen und befehden einander, ledig aller Rücksicht, geleitet von selbstischer Eifersucht und neidischer Bosheit. Da wartet der hinter- listige Sperling, bis die Schwalbe ihr Nest an die Wand gemauert hat und eben das Flugloch blos zum Ein- und Ausschlöpfen ihres schlanken Leibes zu verengern sich anschicken will; dann schlüpft er hinter ihr durch das noch geräumige Flugloch ein und ängstet und beisst sie und lässt die Schreiende schliesslich, um ihr das Wiederkommen zu verleiden, an einem festgehaltenen Fusse eine Zeit lang zappeln. Da kommt der wüste, täppische Mauersegler zum Staarenkasten, in welchem ein Sperlingspaar nackte Pfleglinge birgt, und wirft diese hinaus, um sich selbst dort wohnlich ein- zurichten. Da gönnt der Staar dem frühnistenden Edelfinkenweibchen 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 133 nicht den sorgfältig gefilzten Kunstbau und zerzaust die Stoffe, um sie in seine Höhle zu tragen. Der rothrückige Würger will die harmlosen Sänger um sich her nicht dulden; Rothschwanz und Fliegenfänger, Meise und Kleiber, Ammer und Hänfling, Weidenlaubvogel und Grasmücke, Sperber und Krähe — sie alle mit vielen andern halten wenigstens eine Zeitlang feindliche Nachbarschaft, bis sie, mit ihrem eigenen Hauswesen eingehender beschäftigt, sich vertragen lernen und schliess- lich, unbekimmert um ihre gegenseitigen Interessen, neben und über einander sich ansiedeln. Aber erblickt denn nicht jeder Vorurtheilslose in diesen grossen und kleinen Kämpfen, Streitigkeiten und Zwisten, Neckereien und Verfolgungen, auf der Grundlage von Eifersucht, Neid, Missgunst und Selbstsucht, ein Stück unserer eigenen Natur ? Mitten in die Raufhändel und das laute Gezänke fährt zuweilen der Schreckruf eines Vogels, der den dahersausenden Räuber in der Luft erblickt hat, und wie mit einem Schlage wird es still, und rasende Flucht, starres Miederdrücken, scheinbare Lähmung der Glieder sind die charakteristischen Ausserungen. Und merkwürdig! Hier geht em Warnungstrieb durch die hülflose Vogelwelt, dessen Signalton allen Familien, Sippen und Arten ver- ständlich und für den jegliches Ohr auf das Feinste geschärft ist. Hat die Pflege der Familie unter heimlicher Sorgfalt und Mühewaltung begonnen, säugt die Mutter ihre Kleinen oder trägt sie ihnen unter hundert Waenissen Nahrung zu, sitzt der Vogel über Eiern oder Jungen; so ent- spinnt sich ein neuer Kampf, der Kampf um Erhaltung der Nachkommenschatft. Nicht blos wir Menschen, auch die Thiere haben ihre Nahrungssorgen, ja, und gerade die Vögel, von denen es heisst: „sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernähret sie doch,“ müssen den bit- tern Kampf um Dasein und Selbsterhaltung kämpfen. Oder schaue man sich doch einmal die kleinen Zaunkönige an, denen das Kukuks- weibchen ein Ei mit dem Schnabel durch das enge Flugloch des kuge- ligen Moosnestes eingeschmuggelt hat! Der fressgierige Adoptivsohn, den das Zaunkönigweibchen manchmal mit einigen seiner eigenen Jungen treulich ausgebrütet und denen es mit dem Gatten Tag em, Tag aus Kerbthier- nahrung zuträgt, müht sich über die Kräfte ab, und solche Arbeit und Sorge bewirkt eine sichtliche Verkümmerung der sonst so rüstigen Vögelchen und reichlichen Ausfall der Federn, sowie Erbleichen des noch übrigen Gefieders. Das ist der Kampf der Ernährungs- und Verpflegungssorge. Schauet hin nach dem alten Vöglein, das unter Gewitterregen und Hagelschlag unwan- delbar seine Flügel über die gefährdete Brut deckt und lieber selbst von der Schlosse sich tödten lässt, als dass es weichen möchte von den zarten Nestlingen — das ist der Kampf der Aufopferung gegen die Elemente. Dort naht das schleichende Raubthier dem Volke der fHaumbedeckten Re b- 134 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. hühner. Mit täuschender Verstellungskunst spielt die angstvoll besorgte Henne die Rolle der Flügellahmen und lenkt flatternd und schreiend den getäuschten Feind von den sich versteckenden Kleinen ab. Hier setzt sich der zarte Singvogel zum Schutze der Brut dem sonst mit überwältigen- der Angst geflohenen Raubvogel, oder der lüsternen Elster und dem hinterlistigen Heher zur Wehr, nicht selten selbst dadurch dem Schlage der scharfen Fänge oder den Schnabelhieben verfallend. Und hier zerschlägt der Habicht dem Buben, welcher mit den geraubten Jungen am Baume niedersteigt, das Gesicht, dass er zeitlebens daran denkt; dort wieder sieht das erfahrene Krähenmännchen den Jäger dem Neste des brütenden Weibehens sich nahen; eilend stösst es nieder und zwingt die Gattin ge- waltsam mit Schnabelhieben, der Gefahr zu entrinnen. Ahnliche Gefahren veranlassen den Kampf im Familienleben der Säuge- thiere. Wie die Waldvögel ihre Eier und nackten Jungen vor den mord- lustigen Nagezähnen und dem lüsternen Gaumen des Eichhorns zu hüten haben, so muss dieses die eigenen Kinder bewahren und verbergen vor den auswitternden Sinnen des Edelmarders, seines Todfeimdes. Das fiepende Rehkälbcehen verräth sich dem Fuchse, den der Kampf um die Er- haltung des „Gehecks“ (Jungen) zum Angriffe auf diesen theuren Sprössling des Mutterrehs anspornt und seine Erfindungsgabe in den Künsten der Überlistung auf die Höhe der möglichsten Befähigung stellt. Der Kampf der Abwehr aber zeigt sich bei dem Reh nicht minder bewunderungswürdig. Der mütterliche Trieb gibt ungewöhnlichen Muth, spannt die Kräfte und Bewegungsmuskeln, setzt die schnellenden Vorderläufe in wirbelnde Be- wegung. Ahnlich wehrt die von Natur feige Häsin dem eindringenden Kolkraben zum Schutze des entdeckten „Satzes“ (Nachkommen). Den- selben Kampf kämpfen Maulwurf und Spitzmaus, Ratte und Ham- ster in der unterirdischen Wohnung und um dieselbe, sowie um die Nach- kommenschaft — denselben Kampf, den die Bewohner der Bäume und der Erdoberfläche kämpfen. Das nächtliche Schleichen der Löwin in Wüste und Urwald, der Tigerin in den Pampas und Rohrdiekungen Indiens, oder der Wölfin in den Waldschluchten, deren Sorgen um Schutz und Schirm der Jungen vor den schonungslosen eigenen Vätern, ihre nächtlichen Raubzüge und ihre tägliche Treue, mit der sie die Verstecke und Lager mit den Schützlingen theilen — ja, das ist derselbe Kampf, wie das unab- lässige Ab- und Zufliesen des Finkenpaares beim Neste und das ver- zweiflungsvolle Schreien und Umflattern, womit es den Räuber seiner heiss- geliebten Brut verfolgt. Es offenbart sich in den manmnisfaltigen Kämpfen innerhalb des Fami- lienlebens der Thiere gar viel Beherzigenswerthes, Geist und Gemüth des Naturfreundes Fesselndes. Bald leuchten uns die Blitze der unverkennbarsten Intelligenz von den Bahnen der Klugheit und listigen Unternehmungen der 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 135 Thiere; bald werden Saiten des Gemüthslebens, rührender Empfindung an- geschlagen; bald bespiegelt eine That todesverachtender Hingebung eine Treue und Anhänglichkeit, die nur darum kein Vorbild für den Menschen sein kann, weil in kurzer Zeit der Trauer die Wunde verharrscht, da das Thier, wie der Mensch im frühen Kindheitsalter, ein Wesen des Augenblicks ist, das heisst der Gegenwart lebt und der Reflexion entbehrt. Mögen wir immerhin in dem Idealismus der Liebe unseres Strebens Ziel erblicken, nie dürfen wir vergessen, dass auch die menschliche Liebe, egoistisch ihrem ganzen Wesen nach, aus dem Boden der Wirklichkeit, aus der ununterbrochenen Folge der Kämpfe um Erhaltung dessen, was uns das Theuerste ist, ihre Nahrung und Thatkraft zieht. Auch wir sind dem all- mächtigen Naturtrieb unterthan, nur dass wir uns dessen klarer bewusst sind, als das Thier, und das Geistesvermögen unter den erziehenden Ein- flüssen der Cultur zum vernünftigen Regulator berufen ist. Auch wir formen uns nach Sitte und Gewohnheit, wie nach den Banden des Blutes. Wenn die sittliche Entrüstung und das tiefgekränkte Ehrgefühl den Einzelnen oder ein Volk zur Tilgung oder Abwehr der Schmach antreiben, so ist dies eine That, die den Menschen hoch über das Thier stellt, wiewohl wir manchem im Umgang mit Menschen erzogenen Thiere ein gewisses Eihrgefühl nicht absprechen können. Wenn aber der Vater oder gar die ohnmächtige Mutter dem Kinde rasch in die schäumende Wassertiefe oder in die Flammen nachspringt, so folgen Beide dem überwältigenden Naturtriebe, und wir möchten uns keine Entscheidung darüber erlauben, ob jene oder diese That erhabener und bewunderungswürdiger sei. Der Kampf dehnt sich aber über das engere Familienleben der Thiere hinaus und ist jedem einzelnen Individuum wie ganzen Gesell- schaften verordnet, und auch hier ist er ein innerer und äusserer. Der vom Aste herab dem Wilde auf dem Wechsel auflauernde Luchs findet wohl vermöge seiner ihn dazu anleitenden Naturanlage befriedigendes Be- hagen im Geheimniss des Hinterhaltes, und die Geduld ist ihm unstreitig angeboren; aber wenn er seine kochende Mordlust, seine blutlechzende Zunge bändigt und in regungsloser Entsagung das ausersehene Opfer unan- gefochten ziehen lässt, weil ihm der Sprung aus der Höhe in den Nacken desselben zu weit und unsicher dünkt: so ist dies ein glänzender Sieg der Überlegung über den heissen Naturtrieb, ein Resultat der Erfahrung. Junge unerfahrene Kätzchen sehen wir oftmals wieder zur unrechten Zeit den Sprung nach Vogel und Maus unternehmen; aber die alte Katze liegt ausdauernd auf der Lauer und beherrscht sich bis zum Eintritt des günstigen Augenblicks, während die Glieder vor Aufregung zittern und die Windungen des vom Körper gedeckten Schwanzes die gefesselte Leidenschaft verrathen. Wie sipfelt sich aber erst die Enthaltsamkeit unseres Hundes, namentlich des Hühnerhundes in seinem Thun und Lassen! Seine Raubthiernatur treibt 136 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. ihn an, das Wild zu fassen, zu erwürgen und zu zerreissen — aber er steht vor demselben fest wie eine Bildsäule und bringt sodann das vor dem Jäger aufstehende und erbeutete Thier unverletzt diesem oft auf weite Strecken. Wenn ihn auch der fortwährende Umgang mit dem Menschen seit undenk- lichen Zeiten auf diese hohe thierische Stufe gebracht hat, so beweist diese Thatsache eben die ungememe Bildungsfähiskeit unseres Culturthieres, das vermöge seiner Intelligenz den Kampf mit seinem oft mächtigen Natur- triebe siegreich besteht. Das Zusammenschaaren der Kraniche, Wildgänse, Wildenten, Trappen, Schwäne, Störche, Krähen und Staare, Finken, Zeisige, Ammern und Hänflinge zur Herbstzeit geschieht unter Anweisung des Naturtriebes, der unverkennbar dem Kampfe gegen die auf dem Zug und der Wanderschaft oder beim Überwintern in der Heimath sn ulhen. den Hindernisse zu Hilfe kommt, aber die Erfahrung bildet, und die Weis- heit ist auch hier bei den Alten zu suchen, welche die Führerschaft über- nehmen und eine grosse Vielseitigkeit in allen Unternehmungen bekunden. Demselben Triebe gehorsam ist das ganze Rudel (Trupp) unseres heimischen Wildes sammt dem misstrauischen Hirsche, wenn es vertraut „äst“ (frisst), während das erfahrene, aufmerksame, weibliche „Altthier“ die Wache hält in gespanntem Aufmerken seiner Sinne, oder wenn es, „den Kopf führend“, dem Rudel vorangeht. Das sind die Wächter und Führer im Kampf mit den Gefahren des Daseins, und sie werden sogleich ersetzt von andern Er- fahrenen aus der Gesellschaft, sobald ihnen ein Unfall begegnet oder sie er- müdet ausruhen. Jugend und Mangel an Erfahrung lassen das junge Huhn auf dem Hofe in jedem verdächtig scheinenden Punkt in der Luft den Habicht erkennen; das Auge der alten Henne prüft mit Sicherheit, und ihr be- ruhisendes Benehnsen corrigirt t den Fehler. Naturtrieb und Überlegung sind im han des Thieres oft innig verbunden, so dass die Grenzen elta in emander verschwimmen und ihr en mit Sicherheit nicht festzu- stellen ist. Die Natur weist die Stockente an, vor dem Habicht oder Wanderfalken im Wasser Zuflucht zu suchen, aber ihr Entschluss, nahe dem Fluss, der ein besserer Schutz für sie wäre, den sie aber nicht mehr erreichen zu können glaubt, vor dem dicht hinter ihr hereilenden Räuber sich schnurstracks in eine Pfütze zu stürzen, gibt Zeugniss von der zu Hülfe kommenden Überlegung. Die Wagnisse einer grossen Krähenschaar sogar dem Wolf gegenüber, der den schweren Raub mit Anstrengung nach dem Walde schleppt, und ihr Sieg über ihn, den ihren Schnabelhieben Weichenden ist neben dem bewegenden Naturtrieb dem wohlbewussten Ge- fühle zuzuschreiben: „vereinte Kraft macht stark“. Der Kolkrabe und unser Fuchs sind gewiss keine gesellig lebenden Thiere, namentlich nicht unter sich; trotzdem verbinden sich zuweilen im Winter mehrere Kolkraben, 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 137 ebenso Füchse unter einander, um gemeinschaftlich ein Wild zu jagen. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich ihrem Begehren entgegenstellen, veranlassen sie gegen den Trieb der Isolirung, ja ihrem beiderseitigen Miss- trauen zuwider zum gemeinschaftlichen Kampf um einen Preis, mit dessen Erringen sogleich Missgunst und selbstische Gier die Verbündeten trennt und einen neuen Kampf, den gehässigen Zweikampf oder besser das Ge- balge um das gemeinschaftlich Erworbene, in Scene setzt. Die Elster flieht den Jäger, wenn dieser in grosser Entfernung auf sie zukommt, während sie sorglos dem Bauer hinter dem Pfluge folgt. Dort bekämpft die Erfahrung den Ernährungstrieb; hier gestattet sie ihm freien Lauf. Einer unserer Hunde, bei dem sich im Umgange mit dem Menschen nicht blos die Überlegung, sondern auch das Gewissen merkwürdig heraus- gebildet hatte, rührte den Braten vor seiner Nase nicht an, wie verführerisch ihm auch der Duft in dieselbe zog. Beschämt ein solcher zum Siege ge- führter Kampf der Selbstbeherrschung nicht in unzähligen Fällen den Men- schen? Es gibt Kämpfe edelartiger Hunde, innerliche und äusserliche, die wahre Charakterkämpfe zu nennen sind und die ein rührend schönes Ver- hältniss zwischen dem Menschen und dem Hunde begründen. Und wenn die unmenschliche Parforcedressur der Hunde mehr und mehr verschwindet und die Erziehung bei fester Hand doch in Milde und vertrauenerweckender Freundlichkeit mit ihren Eindrücken zur Zeit der bildungsfähigen Jugend beginnt und stufenweise vom Leichten zum Schwierigen vorschreitet; so hat man erkannt, dass dieser Bildungsgang in gleicher Weise Individualisirung und wahre Humanität erfordert, wie derjenige in unseren Familien und Schulen. Lange genug hat man das Thier misshandelt und nur als Geschöpf im Dienste der Menschheit betrachtet, dem keine Ansprüche auf gefühlvolle Rücksicht und freudvolles Dasein zuzugestehen seien, und sogar das Wort aus der naiven Überlieferung, welche uns die Darstellung paradiesischer Anfangszustände schildert: „Herrschet über die Thiere!“ mag, von der Seite der Gewaltsamkeit erfasst, nicht wenig dazu beigetragen haben, schon dem ungezogensten Schulbuben Stock und Peitsche in die Hand zu geben. Dass man jetzt eimer menschenwürdigen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Thier sich immer mehr zugänglich zeigt, gereicht uns selbst nur zur grössten Ehre und ist ein Zeugniss, dass wir weniger thierisch sind, als ehedem. Wir wollen den harten Kampf des Thieres nicht noch härter machen, sondern ihn möglichst erleichtern; wir wollen das erniedrigende Thierische in der Menschheit niederkämpfen und das erhebende Menschliche in der Thierwelt zur Anerkennung bringen! Zu dem Kampfe mit der Umgebung, zu den Handlungen und Bethä- tigungen für die Sicherheit der T’hierwelt vor den Einflüssen der äusseren Natur, den der Existenz der feindlichen Witterungsverhältnissen kann wohl 138 Der Kampf in der höhern Thierwelt. mit Recht auch der alljährliche Rückzug so mancher Thiere vor oder mit dem Eintritt der Winterzeit gerechnet werden. Wir meinen das Verfallen in einen Winterschlaf. Da wir uns nur mit den beiden höchst organisirten Thierklassen der Heimath beschäftigen, so fällt die Betrachtung der Kerb- thiere in dieser Richtung aus, und es handelt sich hier also um die Be- leuchtung der angedeuteten Erscheinung in den Reihen unserer vaterländischen Säugethiere. So auffallend und im höchsten Grade Interesse erregend diese letztere nun auch ist, so hat man es doch bis hierher merkwürdiger Weise unter- lassen, ihrem Wesen eingehender nachzuforschen. Zwar sind einzelne Be- obachtungen und Versuche an im Winterschlafe begriffenen Thieren ange- stellt worden, aber an eine ordnende und sichtende Zusammenstellung und Vergleichung der Resultate dieser Forschungen und Untersuchungen, an eine übersichtliche, beleuchtende Betrachtung über das Wesen dieser Epoche im 'Thierleben ist unseres Wissens seither entweder gar nicht oder nur äusserst unvollkommen gedacht und geschritten worden. Wir wollen es versuchen, unter Anknüpfung an das bis hierher besprochene Thema, das uns durch eigene und Anderer Beobachtungen und Ermittelungen bis jetzt Erreichbare über diese Materie zusammenzustellen und dann seinem Wesen nach allgemein zu beleuchten. Den im 3. Abschnitte des allgemeinen Theils bereits näher erörterten grossen Weltreisen der Vögel auf dem Fusse folgend, bereitet sich im Spät- herbste und Vorwinter bei vielen Säugethieren der nicht minder merkwür- dige Lebensabschnitt vor, eben das Überwintern oder der Winterschlaf. Die uns noch im Spätsommer vielfach begegnenden und beschäftigenden Abend- flüge unserer Fledermäuse haben sich eingestellt. Ebenso bemerkt der aufmerksame Blick des Naturkundigen, dass sich manche der die Felder zehntenden Nager in ihre verschiedenen Schlupfwinkel, ihre Baue und Bur- gen, zurückgezogen haben, und in Garten, Hain und. Wald entdecken sich dem Forscher die Bethätigungen so mancher Säugethiere im Bereiten ihrer Winterlagerstätten. Besonders in drei Ordnungen, den Handflatterern, Nagern und Insecten- fressern, finden wir die Winterschläfer unter unseren einheimischen Säugern. Dem ausgesprochensten und andauerndsten Schlafe unterliegen unsere Fle- dermäuse und einige Sippen unter den Nagern, von welchen eine Unter- ordnung deshalb auch die der „Schlafmäuse“ genannt wird. Das Zurückziehen der Fledermäuse ist sichtlich begründet in dem gänzlichen Mangel an ihrer ausschliesslichen Nahrung, den Insecten, beim Herannahen der unwirthlichen Jahreszeit. Es lassen sich genaue Ab- stufungen nachweisen, nach welchen die Winterruhe der verschiedenen Arten Handflatterer, neben ihrem rauheren oder zarteren Naturell, kürzer oder länger währt, je nach ihrem Bedürfnisse gewisser Insectenarten und deren 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 139 kürzerem oder längerem sichtlichen Verweilen in der Aussenwelt. Gleiche Ursachen erzeugen hier gleiche Wirkungen: mit dem Erstarren, der Winter- metamorphose der Kerfe ist auch der Winterschlaf unserer Handflatterer bedingt. Nicht so ganz conform verhält es sich mit den Schläfern unter den Insectenfressern. Diese verfallen zwar ebenfalls in einen Schlaf, allein dieser bewährt sich bei weitem nicht so fest und tief als derjenige der Fledermäuse. Nun sind unsere hauptsächlichsten Vertreter der schlafenden Insectenfresser der gemeine Igel und Dachs. Von diesen beiden Thieren wissen wir aber gewiss, dass sie nicht ausschliesslich an Insectennahrung ge- bunden sind, sondern auch von Fleisch warmblütiger Thiere und Vegetabilien leben. Hier also befreit sich die Bethätigung einer vielseitigeren Ernäh- rungsweise von dem engeren Bann einer wahren Erstarrung, eines ununter- brochenen Winterschlafes: denn wir sehen Dachs sowohl wie Igel nach längerem und kürzerem Schlafe in Zwischenräumen ihr Winterlager ver- lassen und Nahrung sowohl als Wasser einnehmen. Betrachten wir uns hingegen den Winterschlaf unter unsern Nagern, so finden wir in den Murmelthieren, dem Ziesel, in dergrossen und kleinen Haselmaus, dem Siebenschläfer, sowie im Hamster dieselbe Erscheinung wie unter den Fledermäusen: den ausgesprochenen Winterschlaf, die Erstarrung. Da nun bei diesen Nagern die Nahrung in den verschiedensten Pflanzenstoffen besteht, welche selbst den Winter über diesen Arten eben so wenig als ihren Ordnungs-Verwandten, den ächten und Wühl-Mäusen etc., fehlen würde: so müssen wir nach anderen Einflüssen forschen, welche den tiefen, lang währenden Schlaf bedingen. In der That! solche Einflüsse walten ob. Es bieten sich in diesen Nagern insgesammt sehr erregte Naturen dar, eine hochgespannte Lebensthätigkeit, welche einen bedeutenden Verbrauch der Säfte und in Verbindung damit einen unge- wöhnlichen Process der Athmungswerkzeuge und Reiz des Nervensystems hervorruft. Diese Sensibilität, diese hohe Spannung der Lebenskräfte hat eine Erschlaffung zur Folge, und die Natur fordert zur Ausgleichung einen gegentheiligen Process in der Lethargie der Winterruhe. Sehr bemerkens- und nachdenkenswürdig sind bei diesen Thieren sowohl die Vorkehrungen für den Ort ihrer Ruhe und Sicherheit, als die Vorsorge, vor dieser Lebensepoche sich mit Vorräthen zu versehen. Die Winter- quartiere, seien es nun die Erdbaue der Murmelthiere, des Hamsters und Ziesels, oder die künstlich selbst bereiteten oder usurpirten Nester und Höhlen der Haselmäuse und der Siebenschläfer: sie alle werden nicht allein recht- zeitig und zweckdienlich hergerichtet, sondern in vielen derselben auch Nahrungsstoffe für die Zeit der Noth, des Erwachens, angesammelt. Beim Ziesel, Hamster und der kleinen Haselmaus sind diese Handlungen um so merkwürdiger, als der eingehendsten Forschung bisjetzt Anhaltspunkte fehlen, welche irgend eine Unterweisung oder selbst nur ein Absehen der 140 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. jungen von den Bethätigungen der alten Thiere erblicken liessen. Jung wie Alt geht im Spätherbste an die Wohnungsbereitungen und das Emsammeln von Vorräthen ganz selbstständig, von einander unabhängig. Es bietet sich hier ein sprechendes Analogon, ein interessanter Vergleichspunkt mit dem Bautriebe der Vögel dar. Während Ziesel und Hamster stets einzeln in isolirten Bauen schlafend gefunden werden, sammeln sich nicht selten der Siebenschläfer und die grosse Haselmaus zu zwei und mehr Exemplaren in einem Neste oder einer Baumhöhle auf Holzmehl, um den Schlaf neben und aufeinander zu voll- bringen. Immer allem, gewöhnlich m einem niedlichen, sehr regelmässig und fest bereiteten Neste, zuweilen auch unter Moos und Laub, in einer hohlen Wurzel oder in einem Moosloche versteckt, schläft auch die kleine Haselmaus. Wenden wir uns von diesen wahren Schläfern zu denjenigen, welche nur einen mehr oder minder unterbrochenen Winterschlaf vollziehen, zu dem Igel, unserem Eichhörnchen und dem Dachs, so gewahrt man bei diesen dreien eine vorsorgliche Handlung, hier in Bereitung des Winterlagers und im Sammeln von Vorräthen für die Unterbrechungen des Schlafes, dort in der Errichtung eines vollkommenen Nestes, in einem sorglichen Lager eines sicheren Schlupfwinkels oder gewonnenen Erdbaues. In den Lebensbeschrei- bungen der aufgeführten Thierarten finden sich die eingehenderen Mitthei- lungen über die Art und Weise der Herrichtung und die Form dieser bau- lichen Zufluchtsorte, weshalb sie hier übergangen werden können. Am meisten unterbrochen oder am wenigsten den Charakter des Winterschlafs tragend, erweist sich das Überwintern des Eichhörnchens, wenigstens bei uns, namentlich auch in milden Wintern. Unsere vielfachen Beobachtungen an dieser Art haben bewiesen, dass bei ihr kein eigentlicher Winterschlaf eintritt; aber das Thier verweilt leise schlafend, gewöhnlich allein, selten in Gesellschaft von Seinesgleichen bei sehr unwirthlicher, stürmischer und nasser Winterzeit 3, 4, ja 5 Tage im Neste, um zu günstiger Zeit von den hier und dort zusammengetragenen Vorräthen zu zehren oder an der pflanzlichen Umgebung zu nagen. Übrigens soll das Eichhorn in Schottland laut Be- richt in der „Dublin Medical Press 1839“ und nach Band Il. 24 von „Tr o- schels Archiv“, Jahrgang 1860 in Sibirien vom Spätherbste bis März in Winterschlaf fallen, was sehr wahrscheinlich ist, da in strengen Wintern in unseren Wäldern das Thierchen bei dem Suchen nach Nahrung erfriert, also sich in den nordischen Gegenden bei ihm naturgemäss ein Hiberniren ein- stellen wird. Untersuchen wir die Lage, in welcher die Winterschläfer während der Erstarrung verharren, so begegnet der Blick überall der angemessensten Form, in welcher sich der Körper befindet, nämlich der Kugelgestalt. Murmelthiere, Ziesel, Hamster, Schlafmäuse, Igel und Dachs liegen zusam- 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 141 mengerollt, regelmässig auf der Stirne und den Sohlen ruhend, seltener ein- mal wenig zur Seite geneigt. Offenbar die physikalisch beste Lage, in welcher der ausstrahlenden Wärme die möglichst kleinste Oberfläche geboten wird. Bei den Fledermäusen begegnet man hingegen theils der in dem speciellen Theile unter dem Abschnitte über die Handflatterer näher beschriebenen hängenden Lage, bei welcher sich einige in den Schirm ihrer Flughäute bis zur Nasenspitze einhüllen, oder aber in einer zusammengekauerten ähnlichen Stellung an den Wänden oder in Löchern und Ritzen unter eng an den Leib zusammengefalteten Flughäuten und Ohren, stets den Kopf nach unten gerichtet, verharren. Obgleich sich nun unter den Gliedern dieser Ordnung erwähntermaassen im Allgemeinen der entschiedenste Winterschlaf zeigt, so bekunden sich doch die mannigfaltigsten Abstufungen von der vollkommenen Erstarrung bis zur leisen Winterruhe an den verschiedenen Arten. In der Darlegung des Wesens und Wandels der Fledermausarten findet sich dieses jeweilige Verhalten während des Hibernirens gekennzeichnet. Fühlen sich schon die Flughäute der Handflatterer beim wachen Zu- stande der Thiere kühl an, so verursacht das Betasten des ganzen Körpers in der Erstarrung den Eindruck eines eiskalten Gegenstandes. Die anima- lische Wärme sinkt in der That aber auch bei einigen der entschiedensten Erstarrung Verfallenden bis zu wenig Graden, ja hin und wieder im Extreme bis zu 1° R. herab. Hier finden wir die bei allen Winterschläfern auftreten- den Symptome zurückgetretener Funktionen der Innerorgane, wie Herz und Lungen, im auffallendsten Grade, sodass dann der Puls sehr verlangsamt und während 3 und mehr Minuten nur ein Athemzug erfolgt. Das Auf- fallendste bei diesen Thieren bleibt, dass sie sich oft ganz ungeschützt am Ausgange von Höhlen, Schachten und Rissen aufhängen, neben Eiszapfen und Schnee. Ja, gerade sonst zarte Arten, wie die der Sommerwärme be- dürftige, feinfühlige langohrige Fledermaus (Plecotus auritus) findet sich ge- wöhnlich an den eben beschriebenen exponirten Plätzen. Allerdings tödtet sie starke anhaltende Kälte, das zeigen die Erfrorenen, welche man nach strengen Wintern, wie z. B. der vorjährige, an den Orten des Ueberwinterns findet. Wir wollen an einigen charakteristischen Beispielen die wesentlich- sten Momente der Winterlethargie darthun, um uns eine Gesammtvorstellung des Wesens dieses Zustandes zu verschaffen. Der Chemiker Regnault in Paris nahm auf Veranlassung des Pro- fessor Sacc in Neuenburg an vier ihm von diesem übersandten, in Winter- schlaf versunkenen Murmelthieren folgende Untersuchungen vor. Der fran- zösische Forscher bediente sich hierzu sehr feiner und zweckmässig erson- nener Vorrichtungen und Instrumente, mit welchen er vorher den Athmungs- process an im Puppenprocess befindlichen Inseceten geprüft hatte. Das Athmen der Murmelthiere erwies sich im Vergleich mit dem von Kaninchen ungefähr analog mit dem Unterschiede, dass erstere etwas mehr Sauerstoff 142 Der Kampf in der höhern Thierwelt. einathmeten und mehr Stickstoff aushauchten. In emer Temperatur von 12° R. maass ihre Körperwärme + 33 bis + 34° R. Unter die Glocke der Luftpumpe versetzt, verbrauchten die schlafenden Thiere nur den dreis- sigsten Theil des Sauerstoffs, den sie wachend verzehrten, was bewies, dass auf dreissig Athemzüge im wachen Zustande nur ein Athemzug des schla- fenden Thieres kam. Die Wärme ihres Körpers erfand sich tiefstehend, nur 4° R. höher als die sie umgebende Lutt. Eines der unter die Pumpe ver- setzten Thiere erwachte und erstickte aus Mangel an Sauerstoff, während ein anderes, im Schlafe verharrendes den Mangel an Sauerstoff nicht em- pfand und weiter in Stickstoff schlief. Eudlich entzog man es der Glas- slocke vor dem Erwachen. Bei seinem erst unter 4 25° R. allmälig er- folgenden Erwachen zeigten sich bald dem beobachtenden Auge die sich verstärkenden und vermehrenden Athemzüge, welche in der Erstarrung dem unbewaffneten Gesichte völlig unbemerkbar waren und alle 3—5 Minuten nur emmal erfolgten. Mit dem steigenden Athmungsprocesse, also mit ver- mehrter Sauerstoff-Verzehrung, nahm auch continuirlich die Körperwärme der Thiere bis zur normalen Höhe von — 35 bis — 34° R. zu. Hieran mögen sich die interessanten Beobachtungen an einem Ziesel und zwei Sie- benschläfern von Fr. Tiemann in Breslau reichen, welche derselbe im VII. Jahrgang: „Der Zoologische Garten“ von 1867 (Heft No. 4) nieder- gelegt. „Im August 1559 kam der schon erwachsene Ziesel in meine Hände, und ich hatte die Freude zu sehen, dass unser Thier sich mit vieler Ge- müthsruhe bald in die veränderten Verhältnisse einlebte. Ohne eine mir damals auffallende Veränderung im Benehmen des Ziesels wahrgenommen zu haben, fand ich ihn am Morgen des 9. November in seinem Schlafkäst- chen, tief in die darin befindliche Baumwolle eingebettet, in der bekannten zusammengekugelten Lage, unbeweglich liegen. Ausser einer abwechselnden Hebung und Senkung der Seiten waren an ihm keine weiteren Lebens- zeichen zu bemerken. In diesem selbstgewählten Ruheplätzchen hatte das Thierchen vordem ein behagliches und wärmendes Unterkommen gefunden, nunmehr schreckte aber eine empfindliche Kälte die eingeschobene Hand zurück. Die das Kästchen umgebende Temperatur variirte zwischen —— 3° und — 11!/° R. Unter solchen Verhältnissen währte der lethargische Zustand mit ge- ringer Unterbrechung von nur 4 Tagen (Mitte März), vom 8. November 1859 bis zum 20. April des folgenden Jahres. Die Dauer des Winterschlafs be- trug somit 155 Tage (oder pr. pr.5 Monate). Während dieser Zeit, wie auch während des viertägigen Wachens, nahm das Thier keine Nahrung zu sich, hielt also 162 Tage ohne Speise und Trank aus. Im Verlauf dieser Zeit gab dasselbe auch keine Losung ab. Das Athmen geschah in lang- samen auf einander folgenden Zügen, in deutlich wahrnehmbaren Intervallen, 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 143 und es folgte nach mehreren schwächeren Inspirationen ein tiefer sonorer Athemzug. Die Intervalle, in denen die einzelnen Athemzüge einander folgten, schwankten zwischen 50—56 Secunden. Es kommen hiernach auf einen Tag 1630 Athemzüge; im wachen Zustande hingegen etwa 30 Athemzüge auf die Minute, mithin 43,200 auf einen Tag, also etwa 30mal so viel als während des Winterschlafes. Die Körperwärme sank auf — 5° R. Dem Erwachen gehen keine auffallenden Symptome vorher. Am 19. April lag der Ziesel noch in seinem lethargischen Zustande, am 20. Morgens aber, als ich die obere Lage Wolle abhob, schaute er mich mit seinen klaren Augen an wie vordem, und als meine Hand ihn erreicht hatte, huschte er mit derselben Gewandtheit tiefer in die Wolle hinein wie vor dem 9. No- vember. Die so empfindliche Kälte im Lager war einer angenehmen Wärme gewichen. Bald wurde der vorgesetzten Speise zugesprochen, und es zeigte sich schon vom folgenden Tage an ein unglaublich guter Appetit. Abge- magert sah unser Schläfer aus; er erholte sich aber schon nach eimigen Wochen. Von nun an begann die frühere Lebensweise; die Zeit theilte sich in Spazierengehen, Essen, Trinken und Schlafen bis der Herbst und mit ihm der Winterschlaf sich einstellte. Wirklich legte sich unser Ziesel um die- selbe Zeit wie im Vorjahr zur Winterruhe ein, und die Eigenschaften der Erstarrung schienen genau dieselben zu sein, wie beim ersten Male; indessen war insofern eine Veränderung eingetreten, als die animalische Wärme nicht unter — 10° R. herabsank, oft sogar höher bis auf + 13° R. stieg und da- mit selbstverständlich ein schnelleres Athemholen verbunden war. Am 20. Januar traf ich mein Thierchen munter und guter Dinge an; es war aus seiner Erstarrung erwacht, befand sich aber am 26. wieder im lethargischen Zustande, aus dem es am 12. Februar erwachte. So verlief der Winter zwischen schlafähnlicher Lethargie und wachem Zustande. Der 21. Februar fand unsern Ziesel im Winterschlaf, der 20. März wachend, der 24. sah ihn wieder zur Ruhe gehen, der 7. April war wieder ein Tag der Auferstehung, am 12. legte er sich wieder ein und erwachte erst Ende des Monats. Während des mehrtägigen Wachens nahm der Ziesel ausser etwas Milch keine weitere Nahrung zu sich. Ohne dass irgend eine Veränderung in den Lebensverhältnissen des Thierchens eingetreten wäre, rückte der dritte Herbst mit seiner Schlafzeit heran. War der Winterschlaf der vorhergehen- den Periode ein ziemlich unregelmässiger gewesen, so konnte man dies erst recht von dem in diesem Jahre sagen. Nach einigen Wochen erwachte unser Schläfer wieder, blieb wochenlang wach, schlief wieder auf kurze Zeit ein, erwachte wieder u. s. f. bis zum Mai. Wenn er aufgewacht war, nahm er wie gewöhnlich seine Nahrung zu sich und liess etwa eine auf- fällige Trägheit oder Schläfrigkeit nicht wahrnehmen. Die beiden Siebenschläfer hielten von vornherein einen höchst unvoll- kommenen Winterschlaf. Der lethargische Zustand stellte sich bei diesen 144 ö. Der Kampf in der höhern Thierwelt. reizenden Thierchen nach unregelmässigen Zwischenpausen ein; er hielt bald 3, bald 5, bald 9, niemals über 14 Tage an. In den Zwischenzeiten frassen und tranken sie wie gewöhnlich und waren lebhaft und unbändig wie zu jeder andern Jahreszeit. Diese auffallende Veränderung im Verlauf des Winterschlafes kann ich nur den gänzlich veränderten Lebensverhält- nissen in der Gefangenschaft zuschreiben.“ Fügen wir noch hinzu, dass nach Angabe Tiemann’s der Ziesel wohl als ausgewachsenes Thier ein- gefangen, die beiden Siebenschläfer aber jung dem Neste entnommen und in der Gefangenschaft gross gezogen waren. Die verminderte aale Lebensthätigkeit in dem Gefangenleben kam beim Ziesel erst im dritten Herbste zum Vorschein, während die in der Gefangenschaft aufgezogenen Siebenschläfer von vornherein der natur- wüchsigen Ausbildung entbehrten, also bei ihnen auch die normalen, scharf ausgeprägten und sich scheidenden Lebensabschnitte nur andeutungsweise auftreten konnten. Die Ansicht Tiemann’s am Schlusse seiner Mittheilung ist also vollkommen gerechtfertigt. Denn diese Thiere mit unserem Garten- schläfer und der kleinen Haselmaus halten in der Natur einen regelmässigen, tiefen, langen und ununterbrochenen Winterschlaf. Zu jeder Winterzeit und Ase angs derselben haben wir wenigstens den Gartenschläfer und die Iilann, Haselmaus entweder selbst stets und ständig im Zustande voll- ständiger Erstarrung entdeckt oder von Waldarbeitern in diesem Zustande erhalten. Einige Naturforscher, wie Lenz, Galvagni, geben an, dass gefangen gehaltene Siebenschläfer beim Überwintern alle 4-8 Wochen erwachten. Es mag dieser jedenfalls abnorme Zustand in der veränderlichen Tempe- 'atur und in den mancherlei störenden Einflüssen des Gefangenlebens ge- legen haben. Auch in der Natur unterbricht sich ja der Winterschlaf unserer Schläfer während sehr milder Winter oder sehr abwechselnden, extremen Witterungsverhältnissen. Bei normalem Charakter unserer Winter hingegen wird sich der Winterschlaf unserer eigentlichen Schläfer stets als ein andauernder bewähren. Wie bei zu starker Kälte z. B. selbst die festschlafendsten Fledermäuse erwachen, ihre Plätze ändern, ja min- der typische Schläfer sogar aufflattern, so nimmt die Erstarrung auch umgekehrt ab bei erhöhter Temperatur. Die Arten und selbst Indivi- duen emer und derselben Art verhalten sich hierin übrigens etwas ab- weichend von emander. Doch verursachen erhöhte Wärmegrade stets Er- wachen. Auffallend und daher mit Vorsicht aufzunehmen sind die Angaben von Mangili, nach welchen eine Haselmaus bei + 1° R. sich im Erstarrungs- zustande befunden, während dieselbe bei — 1° R. erwacht sein soll und hinwiederum bei einer empfindlichen Kälte von — 20° R. fortschlief, auch ihr Athmen auffälligerweise bei erhöhter Temperatur langsamer von statten 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 145° gehend bezeichnet wird als bei Kälte. So soll das Thier bei — 20° R. Kälte 32 mal in der Minute geathmet haben (!), während bei + 1° R. nur 3—3,5 Athemzüge in der Minute erfolgten, bei + 8° R. sogar nur 1 Athemzug während 27 Minuten gezählt worden sein soll (!) und das Thier bei -+ 100R. doch wieder vermehrt, 47 mal in 34 Minuten athmete! — Wir erwähnten diese zweifelhaften Angaben nur gerade deswegen, weil sie den mitgetheil- ten exacten Beobachtungen anderer Forscher und der unserigen stracks zu- widerlaufen. A. Brehm führt sie sogar ohne alle Kritik m dem Werke: „die Thiere des Waldes“ auf. Einer höchst interessanten, in der Betrachtung über den Zug der Vögel nur allgemein berührten Thatsache dürfen wir nicht vorübergehen, welche bei drei unserer heimischen Schwalbenarten, der Haus-, Rauch- und Ufer- schwalbe, in auffallendster Weise einen Winterschlaf ım Zustande der. Er- starrung nun hinlänglich bestätigt hat. Schon im Aprilhefte der Zeitschrift „Allgemeine Forst- und Jagdzeitung von 1865“ wird ein Fall erwähnt, in welchem in Gegenwart eines Ober- försters Langenbach in Lasphe aus einer gefällten hohlen Eiche drei Hausschwalben (H. domestica) mit einer grossen Haselmaus (Myoxus nitela) im Erstarrungszustande heraus genommen worden. „In einer Höhe von etwa 15 Fuss“ — heisst es in gedachtem Blatte — „hatte die Eiche ein Astloch, vor dessen Ausgang, ungefähr einen Fuss abwärts, die drei Schwalben ihr Winterlager gewählt hatten und zwar so, dass eine Schwalbe in der Mitte, die beiden andern dieser rechts und links zur Seite lagen, gleichsam unter den Flügeln der mittleren steckten. Die Haselmaus fand sich in dem hohlen Raum des Stammes nahe dem Boden. Herr Oberförster Langen- bach brachte die Thiere zu dem Feuer, das die Holzhauer in der Nähe unterhielten, und sah nach etwa zehn Minuten mit freudigem Krstaunen, dass die augenscheinlich todten Thiere in’s Leben zurückkehrten, die Augen öffneten und sich zu bewegen anfıngen. Aber alle Versuche, die Schwalben zu grösserer Lebensfähigkeit zu bringen, waren vergeblich: sie blieben in agone, in einem Zustand zwischen Leben und Tod.“ Jedenfalls war die damals herrschende Kälte von — 80 R. die Ursache, dass die Thiere, ge- radeso wie die am spätesten ebenfalls nur halb erwachende Haselmaus, nicht ganz zur Belebung gebracht werden konnten. Der Eine von uns (Karl) machte schon als 14 jähriger Knabe eine ähnliche Erfahrung an einer Rauchschwalbe, welche er im Monat Februar im erstarrten Zustande aus dem tiefen Mauerloche eines Ziehbrunnens in der Burg Friedberg hervorzog. Der Vogel, an die Ofenwärme gebracht, erwachte, zuerst sich matt auf die Flügelarme stützend und endlich zum aufrechten Sitzen vorschreitend; allein er starb schon nach einer Stunde. Neuerdings bringt das „Berliner Tageblatt“ in der Nr. 583 vom 12. De- cember 1880 Seite 6 einige Notizen über diesen Gegenstand. Die von dem A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 10 146 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. Blatte angeregte Frage, ob unsere Schwalben in ihrer Heimath einen Winter- schlaf halten, ist mehrfach von einem vogelkundigen Lieutenant W. in Arnsberg beantwortet worden, von dessen eigenen Wahrnehmungen wir folgende Fälle verzeichnen. „Im November“ — so wird berichtet — „hielt ich mich besuchsweise einige Wochen in Ibbenbüren bei Osnabrück auf, und machte von da aus tägliche Excursionen, um meine Steinsammlung zu bereichern. Auf einem solchen. Wege traf ich einige Arbeiter, welche damit beschäftigt waren, einen Mühlteich zu remigen und die Ufer zu reguliren. Dieselben zeigten mir, ohne besondere Verwunderung dabei auszudrücken, sechs Stück mit Erde überdeckte Schwalben, die sie soeben ausgegraben hatten. Die Leute beabsichtigten die Vögel ihren Kindern mitzubringen, sie überliessen sie mir indess auf mem Ersuchen, und es gelang mir nach 1—5 Stunden, drei Schwalben so weit zu bringen, dass sie mir von der Hand nach der Fensterbank der warmen Küchenstube flogen, die andern blieben todt. Ich bemerke, dass die Schwalben zu der Gattung hirundo domestica sehörten. — Im December 1574 waren der Stadtförster S. und der Polizei- sergeant St. in Arnsberg Zeugen, wie in dem städtischen Waldbezirk eine Eiche gefällt wurde, in deren hohlem Stamm zwei erstarrte Schwalben (hi- rundo rustica) sich vorfanden. Der letztgenannte Herr nahm dieselben mit nach Hause, erwärmte sie und hatte die Freude, die Vögel zum Leben zu- rückzurufen. Am Tage nach der Auferweckung habe ich das Paar in der Wohnung des St. frisch und munter auf der Gardinenstange sitzen ‚gesehen. — In der Zeit vom März bis April verschiedener Jahre haben die Kripp- meister, Gebrüder Pf. in Arnswalde, die Regulirung der Ruhrufer besorgt, dabei sind von den Arbeitern wohl ein Dutzend Mal anscheinend todte Schwalben (hirundo riparia) ausgegraben, von denen viele, wie mir die Be- theiligten erzählten, „aufgewärmt“, d. h. aus ihrem Schlafe aufgeweckt worden sind. — Bei Abbruch einer alten Scheune im Februar wurden in einem morschen, ausgehöhlten Hauptbalken zwei Schwalben in erstarrtem Zustande entdeckt. Der mir befreundete Besitzer des Gebäudes theilte mir die Nachricht hiervon sofort mit, und ich fand die beiden Thierchen bereits zum Leben erweckt und im Zimmer umherfliegen. Da emes derselben bald darauf starb, so untersuchte ich den Magen und constatirte schon mit unbe- waffnetem Auge erkennbare Überreste von Kerbthieren (N). Ein weiterer Berichterstatter N. aus Berlin bestätigt einen Fall, wo in dem Soldiner Kreise beim Befischen eines Teiches im Monat December eine Schwalbe aus dem Schlamm (?) herausgeholt wurde, die ebenfalls wieder lebendig geworden ist. Von dieser letzteren Art der Überwinterung sprechen schon ältere Berichte mehrfach. Auch das angeführte Blatt zählt zuletzt noch einen Fall auf, inhaltlich welchem auf einem Landgute in der Nieder- lausitz in den hohlen steilen Ufern an emer Mühle zahlreiche Schwalben gefunden wurden. „Dieselben befanden sich am Ende langer, wagrecht m 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 147 das Erdreich führender Gänge, trugen aber meistens Spuren der Verwesung(()), und ist keine von ihnen in’s Leben zurückgekehrt.“ Wahrscheinlich betreffen solche Fälle unsere Uferschwalbe, deren ver- spätete Bruten, in der rechten Zeit am Zuge verhindert, in den Nisthöhlen an den Ufern Zuflucht vor der unwirthlichen Jahreszeit suchen und bei den Winterfluthen öfters nicht sowohl von Anbeginn an im Schlamme als viel- mehr in den vom Wasser zugeschlemmten Niströhren entweder erstarrt oder bereits todt gefunden werden. Gerade diese Fälle, das Auffinden von Schwalben im Schlamme von Gewässern, sind als sehr unzuverlässig und zweifelhaft, gründlicher Untersuchung zu unterwerfen. Es schwebt noch ein Dunkel über dieser einzig in ihrer Art dastehen- den Begebenheit in der Vogelwelt, ein Dunkel, das nur allmälig durch be- währte Forschung gelichtet werden kann. Soweit sich die bis hierher be- kannt gewordenen Fälle überschauen lassen, sind diese Vorkommnisse im Hinblick auf die Thatsache, dass unsere drei genannten Arten Schwalben regelmässig im Herbste von uns wegziehen und im Süden überwintern, nur Ausnahmen von der Regel. Aber der Ursache dieser Ausnahme ist man noch nicht auf den Grund gekommen. Man vermuthet, dass die erstarrt gefundenen Schwalben Exemplare verspäteter Bruten seien, welche die günstigen Bedingungen der Zugzeit bei ihrer Reife nicht mehr vorfänden und in Folge dessen diesem abnormen Zustande verfielen. Zusammengehalten mit der Thatsache, dass zur Zugzeit gefangene Vögel, später wieder freige- lassen, die Ferne nicht mehr suchen und in der Heimath verkommen, hat die berührte Vermuthung viel Wahrschemliches für sich. Dennoch bleibt die höchst seltsame Thatsache daneben, dass unsere Schwall en mitunter einer Eirstarrung, einem förmlichen Winterschlafe verfallen. Das Wesen dieses Zustandes ist aber noch gar nicht zu ergründen gesucht, ja die auf- sefundenen Schwalben sind noch nicht einmal einer sorgfältigen Prüfung auf Respirations- und Circulationsfunetionen unterworfen worden. Es bleiben also noch sorgfältige, exacte Forschungen über diesen Gegenstand bewährten Kräften vorbehalten. Verglichen mit den Beobachtungen und Versuchen an der kleinen Hasel- maus, welche in der Schilderung des Lebens dieses Thierchens im speciellen Theile nachgeschlagen werden mögen, ergeben sich nun folgende charakte- ristische Merkmale des typischen Winterschlafes. Dieser Zustand ist begleitet von einem vollkommen niedergesunkenen Leben. Die Thätigkeiten des Herzens und der Lungen treten auffallend stark zurück, ja verschwinden bis zu einem Minimum des Lebensprocesses. In Folge dieser niedergehaltenen oder zurückgetretenen Funktionen der Innerorgane sinkt die körperliche Wärme dermassen herab, dass sich empfindliche Kälte auf der Oberfläche und den Gliedmassen der Schläfer zeigt, die sich sogar der unmittelbaren Umgebung ihres, Lagers mittheilt. 10* 148 ö. Der Kampf in der höhern Thierwelt. Alle diese Merkmale bieten nun hinlänglichen Stoff zur Erklärung, wie den besprochenen Thieren im Winterschlafe es ermöglicht ist, die lange Epoche ohne Nahrung bestehen zu können. Der äusserst geringe Verbrauch des Sauerstoffs hängt selbstverständlich mit dem verlangsamten Athmen oder dem sehr verminderten Verbrennungsprocess des Kohlenstoffs im Körper zusammen. Dieser letztere aber sinkt notorisch wohlgepflegt, innen und aussen mit Fettpolstern belegt, in den Winterschlaf und gibt ebensowohl hinlänglichen Kohlenstoff zu dem geringen Verbrennungsprocess in den Lungen ab, als er mit der erwärmenden Fettumhüllung die Schläfer vor Erfrieren schützt. Der Magen enthält gewöhnlich nur wenig Flüssigkeit, typische Schläfer, wie viele Fledermäuse, zeigen sogar einen zusammengeschrumpften, voll- ständig leeren Magen, wie denn überhaupt die ganze körperliche Substanz der Schläfer trocken, säftearm zu nennen ist. Das einzige Surrogat für die fehlende Nahrung bleibt das im Körper angehäufte Fett, dessen Kohlenstoff im verlangsamten Respirationsprocess allmälig verbraucht wird, weshalb die Thiere gegen das Ende der Schlafperiode abgemagert erscheinen. Es ist erwiesen, dass die Schläfer in der Lethargie keme Darm- und Blasenent- leerungen vornehmen, und es übernimmt das Hautsystem die Verdunstung der geringen Mengen Feuchtigkeit, welche durch Inspiration und Ansaugung dem Körper zugeführt werden. Deshalb scheint bei typischen Schläfern, besonders aber bei den Fledermäusen, die Einathmung feuchter Luft ein Bedürfniss zu sein. Thatsächlich beziehen die Handflatterer auch vorzugsweise gerne Ortlichkeiten mit feuchter Umgebung für die Über- winterung. Dieser Zustand im Verlauf seiner ganzen Erscheinung tlösst uns Ver- wunderung ein und fordert den Forschergeist zum regsten Nachdenken auf. Es ist kein eigentlicher Schlaf, diese Erstarrung; der Anblick eines in solche Lethargie versunkenen Thieres erzeugt in uns eher den Eindruck eines Todten als eines Schlafenden. Wiederum aber bieten die Glieder und der ganze Körper nicht die langgestreckte Form der Todesstarre. In der oben beschriebenen Weise verharrt der Körper zusammengerollt regungslos, das Gesicht in Falten und Runzeln gezogen. Es ist ein Verharren zwischen Leben und Tod oder besser zwischen Schlaf und Tod: denn der eiskalte Körper verharrt in einem ganz eigenthümlichen Stadium, näher dem Tode als dem Schlafe, in dem Scheintode. In diesem Zustande gewaltsam er- drückte Thiere verharren vollständig in ihrer Lage, wie mehrere Beispiele uns überraschend zeigten. Nichts ändert sich an diesen ja scheinbar schon todt Gewesenen, und selbst im Tode ist der Cadaver solcher Thiere noch ein Räthsel. Die Leichen grosser und kleiner Haselmäuse, die wir uns zu Modellen für Zeichnungen und nachherigen Versuchen sowohl zu Anfang als gegen das Ende der Schlafperiode verschafften, zeigten bei uns während 5. Der Kampf in der höhern Thierwelt. 149 mehrtägigen Gebrauchs gar keine Veränderung, auch keine Anzeichen der Fäulniss trotz der herrschenden Stubenwärme An den Ofen gebracht vertrockneten nach und nach die Cadaver zu Mumien ohne merklichen Geruch. So steht der Forscher an einer der merkwürdigsten Erscheinungen in der Thierwelt, wie vor einem unentschleierten Geheimniss, einem noch nicht gelösten Räthsel, und er muss auch hier m die Worte des grossen Dichters ausbrechen: „In’s Innerste der Dinge dringt kein erschaffner Geist“. —_— m m Wesen und Woandei der Säugethiere. — I. Ordnung. Die Handflatterer. Chiroptera. Allgemeines über die Handflatterer oder Fledermäuse. Wenn wir unter den Beutlern, Nagern und Halbaffen 'Thierformen be- gegnen, die sich einer zwischen ihren äussersten Gliedmassen ausspann- baren Flughaut als Fallschirm bei Luftsprüngen bedienen; so bietet sich uns in den Handflatterern oder Fledermäusen eine Thiergestaltung mit noch viel bedeutenderen, vollkommneren Flughäuten dar. Ihr Hautsystem ist ganz ausserordentlich entwickelt. Zwischen den schon vergrösserten Ober- armen und riesig verlängerten Zehen oder besser Fingern der Vorderhände dehnen sich die seitlichen Hautfalten zu einer ungeheuer breiten Flug- oder Flatterhaut (Patagium) aus, die in ihrer Spannweite ganz oder theil- weise auch den Schwanz mit aufnimmt. Diese Hautfalten sind die Fort- setzung der Färbestoff- und Gefässhautschichten und ergänzen sich beider- seits durch Vermittelung zweier grossen Lamellen halb von den Rücken-, halb von den Bauchseiten. Zwischen diesen beiden Schichten lagert sich eine dritte ab, welche, äusserst elastisch aus einem feinen Gewebe von Ge- fässen (Adern), Nerven und Muskeln besteht und die ganze Flughaut durch ihren Gefässreichthum fortwährend ermährt. Die 'Thiere besitzen in ihrem drüsenreichen Gesichte Fettwarzen, in welchen sich eine stark riechende, ölige Feuchtigkeit absondert, mittelst welcher sie die Flughaut einfetten, welches Geschäft man sie an ihren Ruheplätzen beim Erwachen der Flugzeit oft ver- richten sieht. Die Flughaut finden wir stets als ein kühl anzufühlendes, fettes und fast kahles Hautgebilde, das mittelst der stäbeförmigen Finger wie ein Schirm zum Fluge entfaltet werden kann. Je nach ihren Abschnitten oder Feldern begrenzt sich diese Flughaut als a) Schulter- (Windfang, Pro- patagium), b) Finger- (Dactylopatagium), ec) Flanken-, Seiten- oder Ellen- Die Handflatterer. Chiroptera. 151 bogen- (Plagiopotagium) und d) Schenkel- oder Schwanzflughaut (Uropa- tagium s. Periscelis). Nur der spitz und scharf bekrallte 2gliedrige Daumen der Hand, sowie die gleichfalls benägelten Dzehigen Hinterfüsse sind von der Hautspannung ausgeschlossen. Ausnahmsweise (bei den fruchtfressenden Hand- Bild der Flughaut von Plec. auritus von Ad. Müller. EN ) N X ER ER Y % MY SLR % U Zn rm A Se flatterern) erscheint auch der zweite Finger neben dem Daumen mit einer Kralle. Der Schenkel- oder Schwanzflughaut dient als Stütze und zum Zwecke der Ausspannung bei allen denjenigen Arten, deren Schwanz ganz oder beinahe völlig von der Flughaut umgeben ist, das Spornbein (calcar), 152 Die Handflatterer. Chiroptera. welehem bei allen Arten mit schmaler, gestreckter Flughaut noch ein kleiner Hautlappen (Spornbeinlappen, epiblema) anhaftet. Das Spormbein ist ein vom Fersenbein des Hinterfusses auslaufender dornartiger Knochen- fortsatz. Mittelst der Zehen der Hinterfüsse heften sich die Handflatterer ebensowohl an Gegenständen an, als sie mit denselben und den Daumen- krallen klettern und kriechen. Mit dem Daumen krallt sich auch die Fleder- maus zuerst an, wenn sie sich an ihren Hinterzehen aufhängen will. Wenn sie harnt, hakt sie sich ebenfalls mit einem oder den beiden Daumenkrallen an, um sich in eine horizontale Lage zu versetzen; oder sie hängt bei dieser Verrichtung, sowie bei der Kothentleerung auch nur an den beiden Daumen- krallen an Gegenständen. Beim Aufscheuchen aus ihrer Ruhe harnen die Thiere fast regelmässig, sowie sie denn auch diese Entleerungen im Fluge bei ihren Jagden vollziehen. Bei der Fortbewegung, welche bei emigen Arten sich bis zum Laufen vervollkommnet, stützt sich das Thier auf die Krallen seiner Daumen, zieht die Hinterfüsse unter den Leib nach, hebt dann den Hinterkörper, um das Vordertheil vorzuschieben. Die Zehen der Hinterfüsse sind durch eine eigenthümliche, nach hinten und auswärts gehende Gelenkung der Ober- und Unterschenkel mit den Sohlen der Füsse nach innen oder nach dem Bauche gekehrt. Durch diese Stellung der Krallen wurden die Thiere befähigt, sich mit den Hinterfüssen an Gegenständen aufzuhängen und in dieser Stellung theils unter Zusammenfalten ihrer Flug- häute an den Flanken, theils unter Einhüllung ihres Körpers in die Flug- häute zu schlafen, sogar in einem mehr oder minder unterbrochenen KEr- starrungszustande zu überwintern. Der Körper der Fledermäuse erscheint im Allgemeinen gedrungen und abgeplattet: ein kurzer Rumpf, auf gleichem Halse ein mässig gestreckter Kopf mit weitgespaltenem Rachen, der ein kräftiges, vollständig bezahntes Gebiss aufweist. Der Körper, mit Ausnahme der dünnen, häufig fast durch- scheinenden Flughäute, ist dieht mit Haaren besetzt. Das einzelne Haar erschemt am Grunde und an den Spitzen verjüngt und fällt durch die eigenthümliche Gestaltung seiner Schuppen-Oberfläche auf. Diese Schuppen reihen sich wie Einstülpungen, trichter- oder tütenförmig gegliedert, anein- ander, und sind abwechselnd schief gerändert oder gedreht. Diese Bildung tritt in der diekeren Mitte der Haare am deutlichsten hervor, während sie sich gegen die Wurzeln und Spitzen verfeinert oder verliert. Der Theil zwischen Haarwurzel und der diekeren gedrehten, mit Umgängen versehenen Partie wirdnach Kolenati das „charakteristische Haardrittel“ genannt. Durch die trichterförmigen Schuppenabsätze oder schraubenförmigen „Umgänge“ wird die Leibeswärme gebunden oder gestaut, also den Thieren erhöhter Wärmeschutz verliehen, welcher sich noch vermehrt durch die luftführenden, gewöhnlich heller gefärbten Haarspitzen verschiedener Arten. Das Innere der Haare der Handflatterer ist bei den einzelnen Sippen und Arten sehr Characteristisches Haardrittel von Vespertilio mystacvinus. (vide Seite 152.) Gemeine Spitzmaus. (vide Seite 272.) Die Handflatterer. Chiroptera. 153 verschieden eingerichtet. Es kommen hin und wieder hohle durchgehende Räume vor; Querschnitte zeigen dies deutlich. Nach K och’s Untersuchungen waren diese Röhren aber nicht glattwandig, sondern als aus Rissen in der feinen, die Haare füllenden Marksubstanz entstanden zu betrachten. Bei andern Arten zeigte sich das Haar ohne Röhre. Dann erscheint das Innere wieder abgegliedert oder geschieden durch quere Scheidewände in Form von glatt- wandigen Zellen, welch letztere bald hell durchscheinend, bald dunkler ge- färbt sind, als die sie umgebenden Wände. Unsere heimischen Fledermäuse haben hingegen alle Haare mit durchlaufender Röhre, welche mit einer Flüssigkeit angefüllt ist. Die eimzelnen Arten kennzeichnen sich durch die Menge und Eigenthümlichkeit der eben erwähnten Haargliederung. Es sind an den Rückenhaaren der Zwergfledermaus 926 Gliederungen gezählt wor- den. Bei murinus steigen sie bis zu 1150, und hat Koch bei zwei andern Arten bis über 2000 gezählt bei einer winzigen Länge der Glieder von 0,008 mm bis 0,009 mm und 18 bis 20 mm langen Rückenhaaren. Der Stand der Haare ist, wie schon angedeutet, ein sehr dichter, und ermittelte Koch, dass eine Fledermaus von mittlerer Grösse durchschnittlich eine bis anderthalb Millionen Haare auf ihrem Körper habe. — Die Farbe des Fledermauspelzes ist meist eme düstere. Häufig tritt eime bereifte Nüance auf in der helleren Färbung der Haarspitzen. Auch die Unterseite der Thiere ist gewöhnlich heller, als die obere. Wie das Aussere der Hand- tlatterer schon auffallend, so sonderbar gestaltete Parasiten birgt auch ihr Pelz, und man sieht die Thiere oft durch Kratzen mit den Hinterzehen sich dieser erwehren. Unter den Vögeln stellt ihnen der Schleierkauz und der Thurmfalk nach, aber der erstere kann nur die freischlafenden oder aus ihren Schlupfwinkeln kriechenden Individuen, nicht aber die fliegenden er- haschen: denn die spätfliegende Fledermaus z. B. sahen wir oft ganz im der Nähe der ausfliegenden Eule unbehindert ihre Jagd fortsetzen, ein Zeichen, dass der Kauz im Fluge ihr nichts anhaben kann. Ihre schlimmsten Feinde sind plötzlich eintretende starke Witterungswechsel, namentlich nasskalte Vorsommer und harte langandauernde Winter, wie die verflossenen der Jahr- sänge 1579/80 und 1830/31. Manche Arten sind durch eigenthümliche lappige Gebilde auf und über der Nase und an den Ohren ausgezeichnet. Dies sind häutige Auswüchse, welche aus einem Vorderblatte, das Hufeisen genannt, einem mittleren Ge- bilde, dem Sattel, und einem hinteren, meist senkrechten @Querblatt, die Lanzette, bestehen. Merkwürdige Einrichtungen zeigen die Ohren. Diese sind im Allge- meinen gross, bei manchen Arten auf dem Scheitel am Grunde zusammen- stossend oder verwachsen, und verlängern sich dieselben beinahe bis zu Leibeslänge. An der vorderen Aussenfläche der sehr bedeutenden Ohr- muscheln befinden sich viele Tastwärzchen, auf welchen feine Tasthärchen 154 Die Handflatterer. Chiroptera. stehen; sowie denn dieses Organ durch einen Reiehthum von Nerven über- haupt ausgezeichnet ist. In der Mitte des Grundes der Ohrmuschel ragt der fast unbewegliche Ohrdeckel (tragus) spiess- und dolchförmig, sowie feinhäutig oder auch rundlich und rauhhäutig in die Höhe. Dieser Ohr- deckel hat keine sichtliche Muskelvorrichtung, ist also keiner besonderen Bewegung fähig und kann deshalb auch nicht, wie mancherseits behauptet wird, zum Verschliessen des Gehörganges dienen. Er scheint vielmehr wie ein Schallfänger zur Verschärfung des Gefühls an den Ohren für die leisesten Luftschwingungen zu dienen, da er mit sehr femen Nervenverzweigungen durchzogen ist. In der Ruhe liegen die Ohrmuscheln seitlich am Kopfe an- gedrückt, bei Arten von besonders entwickelten Muscheln wie die „Hörner eines Widders“. Die Vorrichtung, vermöge welcher die Ohren im dieser auffälligen Form zusammenge- lest werden, sind auf der Aus- sen- oder Rückseite der Ohr- muscheln nach Entfernung der Oberhaut deutlich zu finden. Hier ziehen in die Quere knorpelige Falten oder Leisten, deren bei der gemeinen Fledermaus S—9, bei dem Langohr 22—24 zu bemer- ken sind. Über diese Querfalten laufen von unten rechtwinkelig Muskelpartien theils in gleich- mässiger Vertheilung, theils ge- sondert bis zur Mitte der Ohr- muschel, um sich dann nach den Ohrenspitzen und zum unteren Theil des Hinterrandes zu ver- zweigen. Mittelst dieser retractores oder Beugemuskeln können die Fleder- mäuse die Ohren in der erwähnten Form zur Seite des Kopfes zusammen- legen. Der Gegenmuskel oder Antagonist (erector) entspringt am Grunde des inneren Ohrrandes, dem Kiele, und läuft, den imneren Saum des Ohr- randes bildend, am Rande aufwärts bis nach der Spitze des Ohres zu, dort mehr und mehr sich verbreitend. Durch diese Muskelvorrichtung richtet das Thier den Kiel und mit diesem die Ohrmuscheln oder einzelne Theile derselben auf, was bei dem Vernehmen der leisesten Luftwellen oder beim Aufflattern der Thiere geschieht. Feine kleine Offnungen am Ohrrande in der Knorpellage des Kiels dienen als Durchgänge für Nervenstränge. Noch ist zu erwähnen, dass der Ohrdeckel oder Tragus bisweilen an seinem Rande einfach oder mehrfach ausgeschnitten oder gebuchtet ist, welches man „ge- zahnt“ nennt. Die nähere Betrachtung der halb verkümmerten, sehr kleinen Die Handflatterer. Chiroptera. 155 gewölbten Augen führt nur noch entschiedener auf die feinorganisirten Ohren als dem Hauptorgane, mit welchen die Thiere die leisesten Luftrschütterun- gen zugleich hören und fühlen, wodurch ein verschärftes Vernehmen ent- steht. Bei dem Schwirren der Flügel eines Insects erheben sich schon in weitem Abstande die Ohrmuscheln des Langohres, und diese äusserst fein- fühlige Fledermaus gewahrt auf der Stelle den leisesten Luftzug aus einer Ritze oder Fuge an Fenstern und Thüren beim Vorbeiflattern. Versuche in Stuben mit geblendeten Flatterthieren haben auf das Bestimmteste darge- than, dass die Thierchen ohne Augenlicht sich sogleich vollständig zu orien- tiren vermochten: sie vermieden vollständig das Anstossen an Wänden, Decken und Fenstern; sogar ausgespannten Fäden wichen sie aus. An diesen Gebilden und lappigen Anhängen der Ohren verstümmelte Fleder- mäuse verlieren ebensowohl an Flugfähiskeit, als sie m ihrem Nahrungs- erwerbe empfindlich gestört werden, ein Beweis, wie wichtig dieses Wahr- nehmungs- und Gefühlsorgan bei diesen Thieren ist. Den Ohren behülflich sind die Tastwerkzeuge an Flughäuten und die feinbenervten Nasen, von welchen beiden wir die Nervengewebe, sowie die Hautgebilde erwähnten. Nähern sich die Flatterthiere durch ihr Flugvermögen schon merklich den gefiederten Wesen, so erinnert das Knochengerüste nicht weniger an den Vogelleib. Der Knochenbau ist leicht, obgleich er den Typus des Säugethierskelets im Wesentlichen aufweist. Doch auffallend ist die Festig- keit des Brustkorbs sowohl, wie die Länge des bedeutend entwickelten und mit den Sitzbeinen verwachsenen Kreuzbeines, sowie das vorn offene Becken. Die deutlichsten Annäherungen an den Vogelleib aber bieten die ausgebil- deten starken Schlüsselbeine in ihrer festen Verbindung mit den Schultern, sowie das Vorhandensein emes Brustkammes (crista sterni), woran die Mus- kulatur der Flughäute oder vielmehr der Oberarme haftet, und die Ver- knöcherung der kurzen Rippen oder der Sternocostalknorpelstücke. Mit dem Vogelleibe in Parallele gestellt, erscheinen hingegen die Knochen der Fledermäuse fest und nicht luftführend; ihr Körper ermangelt der Luftsäcke in der Brusthöhle, wodurch derjenige der Vögel, verbunden mit dem Federkleide, die speeifische Leichtigkeit erhält. Auch entbehren die Fledermäuse eines eigentlichen Steuers, denn die Schwanzflughaut kann dies durch den Mangel einer unbehindert freien Stellung nur sehr unvoll- ständig ersetzen. Die Handflatterer sind, von diesem Gesichtspunkte be- trachtet, gleichsam verzerrte Vögel; sowie ihre absonderliche und hässliche Körperbildung sie hinwiederum als Zerrbilder der Säugethierwelt erschemen lässt. So stehen sie im der Mitte zwischen beiden Thierklassen und bilden nach beiden Richtungen hin den Übergang. Mit dem Fluge des Vogels verglichen, erscheinen die Luftbewegungen auch der gewandtesten Fledermausarten immerhin als Nlatternde. Em stetiges Emporsteigen oder pfeilschnelles Senken und Fallen, ein Schweben und 156 Die Handflatterer. Chiroptera. sanftes Ziehen in Kreisen, wie wir es an so vielen Flugkünstlern der Vogel- welt bewundern, kann uns das Flugvermögen der Handflatterer nicht ge- währen. Es ist ein unstetes, unruhiges Hm- und Herschwanken, ein schatten- haftes Huschen ın der Luft, em Tummeln, Wenden und Drehen im Zickzack. Die gewandteste frühfliegende Fledermaus bleibt weit zurück in ihrer Flug- fertigkeit gegen eine Schwalbe, einen Segler oder gar einen Oolibri. Das gespenstische,: geisterhafte Erscheinen und Verschwinden einer früh- fliegenden Fledermaus oder selbst eines Langohres kann uns wohl auf Augenblicke überraschen und interessiren; nie aber wird der Flug einer Fledermaus Augen und Smne erheben und entzücken wie der Flug eines hoch m den Lüften schwebenden Seglers oder das Kreisen, Schweben und Niederrauschen eines Raubvogels, der herrliche Bogenzug der Störche im Aether oder das mannigfache Wandern der Zugvögel über unseren Häup- tern. Der Flug der Fledermaus ist und bleibt eben ein Flattern in ver- hältnissmässig niederer Luftschichte; nie oder nur ausnahmsweise sucht er die Höhe des Athers; er entbehrt des harmonisch Schönen, Erhabenen und der Majestät des Meisterflugs der befiederten „Boten des Himmels“. Die Fledermäuse sind Nachtthiere. Sie jagen in bestimmten Revieren von der Abenddämmerung bis gegen Morgen in längeren Unterbrechungen, namentlich um Mitternacht, umher, am Tage in geschützten Schlupfwinkeln verborgen. Die meisten Fledermäuse, namentlich ausnahmslos unsere ein- heimischen Arten, leben von fliegenden Kerbthieren, insbesondere von Käfern, Nachtschmetterlingen, Mücken und Fliegen. Ihr Gebiss ist darum dasjenige der Insectenfresser. Einige europäische Arten der Vampire saugen auch das Blut von Säugern und Vögeln, während die grösseren Arten dieser Familie, die Flughunde, sich von saftigen Früchten nähren, als Ausländer von unsern Betrachtungen aber ausgeschlossen bleiben. Die Verbreitung der Handflatterer ist eine bedeutende; sie sind Welt- bürger und fehlen nur in den kalten Regionen und Zonen der Erde. Ihr Vorkommen nimmt nach dem Süden hin zu, häuft sich daselbst erstaunlich nach Formen und Arten, während in gemässigten Gegenden nur eine spär- liche Anzahl von Arten und kleinere Formen auftreten. „Unser Vaterland“ — sagt Brehm richtig — „liegt an der Grenze ihres Verbreitungskreises und beherbergt blos noch kleine, zarte, schwächliche Arten.“ Für einzelne südliche Arten gibt man den Harz als nördlichste Verbreitungsgrenze an, während in west-östlicher Richtung die Elbe die Scheide sein soll. Unsere Fledermäuse scheinen sehr wählerisch beim Aufsuchen ihrer Aufenthaltsorte zu sein, denn man trifft selten in einer und derselben Gegend mehr als ein halb Dutzend Arten. Am häufigsten tritt die Zwerg- fledermaus und die gemeine auf; auch die spätfliegende Art und die Mops- fledermaus ist an vielen Orten vertreten. Manche lieben die bergige Höhe, andere die Niederungen; diese Art ist in den Wäldern, jene in Gärten, Parks N NN NR NN N IIIN NIÄ0 Schlafende Fledermäuse; rechts im Vordergrunde Zwergfledermäuse, links im Hintergrunde Hufeisennasen, in ihre Flughäute gehüllt. M N al = Se Die Hanäflatterer. Chiroptera. 157 und Baumstücken zu Hause; andere jagen im Düsteren der Waldungen, während andere die Lichtungen, Blössen und den Saum der Wälder ein- halten; hier suchen sie die Mauern und Gehöfte der Städte, dort endlich sind gewisse Arten an die Gewässer gebannt. Freie, baumlose Strecken, wie Haiden und Wüstungen, offene und weite Felder meiden alle. Sobald die Nächte im Herbste kälter werden, flüchten sich die Fleder- mäuse in ihre mannigfachen Verstecke, welche von allen Arten an vor Zug- wind und Nässe geschützten Orten gewählt werden. In unserer Vaterstadt Friedberg in der Wetterau waren in den alten Thürmen, Gängen und Zieh- brunnen des dortigen Burggemäuers wahre Fundgruben von Fledermausarten. Wo die Aufenthaltsorte von oben keinen Schutz boten, wie manche Zieh- brunnen, verkrochen sich die Thiere in die Ritzen und Löcher der Mauern. Am liebsten besuchten sie die gewölbten unterirdischen Gänge der Burg, wo sich die wärmste, gleichmässigste und eher feuchte als trockene Tem- peratur im Winter behauptete. Hier waren auch die Winterquartiere, in welche sich gegen den Herbst hin von weiten Strecken her gewisse Arten einfanden, die zur Flugzeit niemals oder selten dort zu sehen waren. Und in der That ist bei mehreren Arten ein Wandern aus einer Gegend in die andere vielfach schon beobachtet worden. Selbst Zugfledermäuse, welche alljährlich regelmässige Reisen in den Süden unternehmen, wie bei der nordischen Fledermaus (Nilsonii) sind bestätigt worden. Dass die früh- fliegende Fledermaus ebenfalls strichweise wandert, haben wir selbst beob- achtet. Ebenso wanderten aus Gebirgsgegenden, z. B. dem Vogelsgebirge, in die oben gedachten Winterquartiere der Wetterau die rauharmige (Leis- leri), sowie die zweifarbige Fledermaus (discolor). In der Winterruhe verfallen einige Arten in eine vollständige Erstarrung. Unter allen Säugethieren haben die Handflatterer den ausgesprochensten and andauerndsten Winterschlaf, welcher bei den meisten Fledermäusen, die tropischen Arten ausgenommen, mehrere Monate, unter den nordischen Formen sogar 4-6 Monate ohne Unterbrechungen währt. In der oben be- schriebenen Weise hängen sie am Gebälke, an Steinvorsprüngen der Wände und Gewölbe, in hohlen Stämmen, oder stecken, ebenfalls den Kopf unter- wärts, in allerlei Wandbekleidung der Gebäude, in Ritzen und Löchern. Ihre Blutwärme sinkt dann, obgleich langsamer, mit der Temperatur ihrer unmittelberen Umgebung. Bei empfindlicher Kälte erwachen sie, ihre Blut- wärme steigt dann rasch, die Thiere bewegen sich, wechseln zuweilen die Plätze, ju fliegen sogar davon. Allzu starke Kälte aber tödtet sie nicht selten, weshalb man in strengen Wintern oft viele erfrorere Exemplare an altem Gemäuer und auf Böden findet. Der lange und strenge Winter 1875/79 raffte viele Fledermäuse hin, was wir an den todten Exemplaren in der Burg Gleiberg bei Giessen und im Gemäuer der Wetzlarer Kirche gewahr- ten, worunter selbst Leichen der rauhen pipistrellus und auritus sich vor- 158 Die Handflatterer. Chiroptera. fanden. Die in Erstarrung smkenden Arten bedürfen kemerlei Nahrung wäh- rend ihrer oft langen Winterruhe, wohl aber einer feuchten Atmosphäre. Ihr Pulsschlag verlangsamt sich in dem Grade der verminderten Blutwärme welche nach Beobachtungen bis zu 4 40, ja im Extrem bis 10 R. herab- sinken soll, gewöhnlich aber nach Koch zwischen + 120 bis — 180 C. be- trägt, sodass in der Minute wenige, bei intensiver Erstarrung alle 3 und mehr Minuten em Pulsschlag erfolgt. Ihre vor dem Winterschlafe angelesten an- sehnlichen Fettpolster werden, den geringen, sehr zurückgetretenen Func- tionen des Herzens und der Lungen analog nur allmälig verbraucht. Erst bei anhaltend steigender Temperatur vermehrt sich auch die - Blutwärme zusehends wieder, und unter gesteigertem Pulsschlage erwachen endlich die allerdings etwa um !/s bis 1/5; ihres Gewichtes abgemagerten Flatterer. Die rauheren Arten mit schmalen Flügeln halten meist nur einen unterbrochenen Winterschlaf, in welchem sie selbst bei leichten Berührungen Lebenszeichen geben, ja oft erwachen und ihre Plätze verändern. Auch locken sie nicht selten milde Wintertage hmaus in's Freie, gewiss aber die erste freundliche Witterung im Februar und März. Das Ueberwintern findet meist in kleineren oder grösseren Gesellschaf- ten, welche bis zu hunderten steigen können, statt, wobei sich die verschie- denen Arten'abweichend verhalten. Die der Zwerg-, der frühfliegenden und der gemeinen Fledermaus fanden wir oft in grösseren, sogar in ansehnlichen Trupps in ihren Schlaf- und Winterquatieren, jedoch von einander art- wie ortweise abgetrennt, versammelt; während besonders das Langohr und die spätfliegende nur in wenigen Exemplaren unter ihresgleichen gefunden wur- den. Aehnlich wie diese verhält sich auch die Mopstledermaus in ihren 'Winterquartieren. In den unterirdischen Gewölben der Burg Friedberg konnte man die Grade der Empfindlichkeit einiger überwinternden Fleder- mausarten an ihrem mehr oder weniger weiten Eindringen in’s Innere der Gänge wahrnehmen. Serotinus und murmus waren meist die hintersten, während barbastellus und mystacmus gewöhnlich die Mitte hielten, aber auch wohl mit den nach dieser Richtung unempfindlichen pipistrellus und auritus die vordersten Mauerwölbungen einnahmen oder daselbst m Ritzen und Löchern steckten. Bemerkenswerth dabei war auch die Wahl eines tiefen Hohlweges von Seiten der Fledermäuse zu ihrem Jagdgebiete in der Umgegend Friedbergs. Der Hohlweg lag von der die Fledermäuse zu Dutzenden entsendenden Burg mindestens 20 Minuten entfernt, und doch konnte man an schönen Sommerabenden bis in den Herbst hinem regel- mässig drei bis vier Arten von der Burg zu dem Hohlweg wandern und sich in demselben Stunden lang hin- und hertreiben sehen. Ueberhaupt ist das Jagdgebiet der meisten unserer Fledermäuse kein so beschränktes, wie es manche Schriftsteller darstellen; unsere Beobachtungen ergeben dasselbe Resultat in dieser Beziehung wie diejenigen Karl Koch’s, welche dieser in Die Handflatterer. Chiroptera. 159 seinem Werke „Das Wesentliche der Chiropteren“ niedergelegt hat. Er sagt u. a. Folgendes darüber: „Als allgemein richtig kann man annehmen, dass alle unsere einheimischen Fledermäuse im Sommer sich mehr nach den in- sektenreichen Gebieten, also ihrer Nahrung nach, ziehen; vor dem Winter dagegen nach solchen Gegenden wenden, wo ihnen die geeigneten Schlupf- winkel geboten sind, also ihrer, Sicherheit nach.“ ... „Im Allgemeinen sind die meisten Fledermäuse sehr zum Wechseln ihres Aufenthaltes und ihrer Jagdgebiete geneigt, wobei sie aber in wiederholtem Wechsel gerne dahin zurückkehren, wo es ihnen einmal gefallen hat und sie ihren Zweck erreicht haben. Wir möchten behaupten, dass die Fledermaus ihren Aufenthalt nicht leicht wechselt, so lange sie daselbst ihre Nahrung und den ihr nöthigen Schutz gegen ungünstige Witterung und Anfälle ihrer Feinde findet, dass sie sich aber an gar keine Distanzen zu binden scheint, wenn sie den Wechsel ihres Aufenthaltes für gerathen hält.“ ... „Störende Witterungsver- hältnisse und Verfolgungen von ihren Feinden, wozu auch der Mensch leider gerechnet werden muss, sowie bauliche Veränderungen, Abtreiben von Wäl- dern, Austrocknen von Gewässern und dergleichen, influiren auf die Regel- mässigkeit der kleineren und grösseren Wanderungen unserer Fledermäuse. Daher kommt es auch, dass diese oder jene Art plötzlich verschwindet in einer Gegend, wo sie sonst nicht selten war; oder eine andere Art in einem Jahre in einer Gegend beobachtet wird, deren Fauna sie vorher fremd war.“ Die Paarung erfolgt gewöhnlich nicht lange nach dem Erwachen aus der Winterruhe, was das Jagen unter schrillen und schwirrenden Begattungs- rufen bei den Ausflügen deutlich bekundet. Nach der Begattung scheiden sich die Geschlechter von einander, indem die Männchen einzeln jagen und in ganz abgeschiedenen Schlupfwinkeln schlafen, die Weibehen dagegen je nach Art mehr oder weniger gesellig vereint bleiben. Das Zur-Weltkommen der jungen Fledermäuse geschieht in origmeller Weise. Die Weibchen kreisen um Mauervorsprünge oder sonstige hervorragende Gegenstände ihrer Schlafstätten umher und haken sich gegen ihre Gewohnheit mit den Krallen ihrer Daumen an. Beim Gebähren fangen sie das Junge in der nach innen sekrümmten Schwanzflughaut wie in einem Sacke oder einer Schürze auf, lecken dasselbe trocken, worauf die Kleinen sich an zwei warzenähnlichen Auswüchsen, den Haftzitzen am Bauche festsaugen und im Pelze fest- klammern. Daselbst haften sie, von den Alten selbst bei den Ausflügen ge- tragen, bis zum Selbststündigwerden, das mit ihrer Flugbarkeit, anfangs noch in Begleitung der Alten, eintritt. Die anfänglich unbeholfen den mütter- lichen Führern nachflatternden stumpfnäsigen und stumpfbeflügelten. Jungen erlernen bald den äusserst nützlichen Inseetenfang in der Luft schon in der fünften oder sechsten Woche ihres Lebens und folgen vielfach der Mutter noch bis in den Spätherbst, ja in die Winteraufenthalte. Uebrigens hält 160 Die Handflatterer. Chiroptera. sich die Vermehrung aller Handflatterer in bescheidenen Grenzen, indem ein weibliches Thier jährlich höchstens zwei Junge zur Welt bringst. Hinsichtlih der geistigen Fähigkeiten stehen die Fledermäuse auf keiner so niederen Stufe, als ihr körperliches Ansehen vermuthen lässt. In ihrem Thun und Treiben zeigen sie Gedächtniss, Unterscheidungsgabe und Ver- stand. Die richtige Auswahl ihrer Schlafplätze und Winterquartiere beur- kunden dies; höhere Belege für ihr seelisches Leben geben die Zähmungs- resultate von Fledermäusen ab. A. Brehm erwähnt eines Langohres (auritus), das seinem Bruder durch die Zimmer folgte und sich, wenn er ihm eine Fliege hinhielt, augenblicklich auf seine Hand setzte, um jene zu fressen. In Friedberg zähmte ein Bäcker sogar murinus — bekanntlich die stärkste und bissigste unter unseren Fledermäusen — so trefflich, dass sie sich aufnehmen und füttern liess. An Angelruthen eingehakte Nachtschmet- terlinge hängt man vergeblich als Köder für Fledermäuse aus. Sie um- kreisen den Köder, beissen aber nicht an, sondern lassen diesen nach gründ- licher Untersuchung sogleich fahren. In ihren Zufluchtsstätten gestörte und beeinträchtigte Thiere verlassen solche Orte auf längere Zeit oder für immer. Den ausserordentlichen Nutzen der Thiere hat unser Freund Karl Koch, der gründlichste Kenner unserer Fledermäuse, sprechend dargethan. Wir wollen unsere allgememen Betrachtungen über diese Familie mit seinen Worten schliessen : „Die Fledermäuse verdauen zwar nichts weniger, als gründlich, aber auffallend rasch; daher auch ihre unersättliche Gefrässigkeit, von der man einen Begriff haben kann, wenn man solche Orte besucht, welche viele Fle- dermäuse zu ihrem täglichen Aufenthalte während der Sommerzeit wählen. Dort liegen die leicht kenntlichen Exceremente oft fusshoch auf dem Boden, und mir sind Fälle bekannt, wo dieser Koth von alten Kirchenspeichern weggeschafft und wagenladungsweise als Dünger verkauft worden ist, wie z. B. von der Spitalkirche in Wetzlar und in einigen öffentlichen Gebäuden süddeutscher Städte.“ Dieser Mist von Fledermäusen wird, wie der Küstenguano aus Vogel- mist, als Guano am westlichen Abhang der Cordilleren gegraben, kommt auch in Europa aus den Höhlen der Karpathen in den Handel als Guano; wie denn die natürlichen Salpeterlager in Chili und auf Ceylon — wie Koch erwähnt aus den starken Ablagerungen von Fledermausmist entstanden sein sollen. „Wie sehr die Fledermäuse im Sommer unter den Nachtschmetterlingen aufräumen, kann man auf rein gehaltenen Wegen von Parkanlagen des Mor- gens an den Flügelresten sehen; diese liegen überall umher, und nur der kleinste Theil dürfte von Singvögeln herrühren. Wie viele Insectenreste auf Wiesen und Wäldern von den Fledermäusen zurückgelassen werden, ist Die Handflatterer. Chiroptera. 161 schwer zu controliren; aber so viel ist gewiss, dass eme Fledermaus mehr Insecten vertilgt, als em gleich grosser Insecten fressender Vogel.“ „Man hat beobachtet, dass ein einziges Exemplar der frühfliesenden Fledermaus ein Dutzend Maikäfer in einer Stunde verschlungen hat; dass eine Ohrenfledermaus (auritus) gegen 60 Stubenfliegen in derselben Zeit fing, und dass andere Arten in einem Abend eme weite Rasenfläche von Motten und Graseulen säuberten. Die Gefrässigkeit dieser T'hiere ist eine ausserordentliche, und gereicht in dem Haushalte der Natur um so mehr zu ihrer Geltung, als gerade diejenigen Insecten, deren Larven die Vegetation so sehr beeinträchtigen, von den Fledermäusen vertilgt werden. Die Sing- vögel, welche in dem Haushalte der Natur einen ähnlichen Zweck verfolgen, stellen den Tag- und Dämmerungs-Insecten nach, ebenso die Eidechsen, Schlangen und Frösche; Kröten, Spitzmäuse und Ziesel nähren sich zwar auch von Nachtinsecten neben Würmern und Urustaceen, aber sie erhaschen nicht die in der Luft schwebenden schädlichen Insecten; dagegen die Fleder- mäuse sind berufen, die ohne ihr Dasein vorhandene Lücke auszufüllen, und mit dem Ziegenmelker unter einer besonderen Abtheilung der schädlichen Inseeten aufzuräumen; namentlich sind es hier die kleinen, durch ihr massen- haftes Vorkommen besonders lästigen Insecten, welche den Fledermäusen zur Beute fallen.“ Fast alle den Wäldern und Feldgewächsen schädlichen Dämmerungs- und Nachtfalter, Käfer, die lästigen Fliegen und Mücken sind als den Fledermäusen zur Nahrung dienend nachgewiesen worden. „Die nützlichen Arten der Hymnopteren,“ führt Koch weiter aus, „wie die Honig- bienen, die Raubwespen, Ichneumoniden und andere, fliegen in der Regel nicht bei Nacht und bleiben daher von den Fledermäusen verschont, wäh- rend verschiedene Blattwespen, Lophyrus, Cynips und andere, ihnen zur Beute fallen. Ebenso vertilgen die kleineren Fledermäuse sehr viele Ameisen, welche schädlich werden können, wie Formica ligniperda und zwar gerade zu der Zeit, ehe die fliegenden Weibchen zu Gründerinnen neuer Colonien befähigt sind.“ „Freilich fangen die Fledermäuse neben den schädlichen Inseeten auch manche, welche durch Vertilgung dieser selbst Nutzen bringen, wie ver- schiedene Sialidae, Semblodeen und andere Neuropteren; dagegen vertilgen sie auch wieder viele schädliche Glieder dieser Ordnung, und ihr Nutzen im Haushalte der Natur bleibt immer ein unberechenbarer, wenn man ihn mit Berücksichtigung aller Verhältnisse zu würdigen versteht.“ Die Handflatterer zerfallen in zwei Unterordnungen, in die der Frucht- fressenden (Carpophaga s. Frugivora) und in die der Insectenfresser, von welchen wir die letzteren nur betrachten, indem unsere einheimischen Arten blos dieser zugehören. Die insectenfressenden Handflatterer (Entomophaga s. In- sectivora) scheiden sich in zwei Gruppen oder Familien, in die Fleder- A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 11 162 Die Handflatterer. Chiroptera. mäuse (Glattnasen, Gymnorhina) und die Vampire (Blattnasen, Phyl- lorhina, Istiophora). Nur die Fledermäuse unterziehen wir einer eingehen- deren Betrachtung, während blos vorübergehend der Vampire Erwähnung geschieht, von welchen Tropenbewohnern zwei kleine Vertreter unser süd- liches Deutschland in ihrem Vorkommen berühren. Es sind ungefähr 18 Fledermausarten über Mitteleuropa verbreitet, wo- von 12 aber auch in Südeuropa vorkommen. Fünf Arten davon sind aus- schliesslich nordische, cisalpmische Formen, welche auch als ächte emheimische betrachtet werden können. Diese sind Vespertilio mystacimus, Nattereri, Bechsteinii, Vesperugo Leisleri und die am weitesten nach Norden und öst- lich gehende Vesperugo Nilsoni. Die übrigen dreizehn Arten bewohnen ebenfalls unser Vaterland, ja die meisten derselhen sind darin ganz beson- ders häufig und als die hervortretendsten Formen unserer Fledermäuse in einigen Vertretern emgehender Betrachtung zu unterwerfen. Es sind Vesper- tiio Daubentonii, dasycneme, murinus und die seltene ciliatus; Plecotus auritus, barbastellus, sowie Vespertilio serotinus, discolor, pipistrellus, Nathusii und noctula, endlich die beiden auch diesseits der Alpen vor- kommenden südlichen Formen der Hufeisennasen, Rhinolophus ferrum equi- num und Rh. hipposideros. — Man hat sehr verschiedene Gliedmassen und Organe der Handflatterer als Merkmale zur Unterscheidung der Fa- milien und Sippen vorgeschlagen. Selbst gute Forscher verloren sich aber hier in Kleimlichkeiten. Die wesentlichsten und practischsten Merk- male sind und bleiben immer die deutlich hervortretenden äusseren Kenn- zeichen zur Bestimmung. Dies sind das Epiblema oder der Spornbein- lappen, der Tragus oder Ohrdeckel, die Grösse, Form und das Verwachsen- sein oder aber der freie Stand der Ohren, deren Querfalten und Lappen, die Form und Gestaltung, sowie die Structur der Flushäute, auch die Farbe des Pelzes, wie des einzelnen Haares, endlich die Schädel-, weniger schon die mehr subtilere Zahnbildung und das Zahnsystem. Während wir es bei der Familie der Blattnasen oder Istiophoren nur mit einer Sippe Rhinolophus, Hufeisennase, zu thun haben, verbreitet sich die Gruppe oder Familie der Glattnasen oder Gymnorhina über alle übrigen Arten unserer einheimischen Handflatterer. A. Allgemeine Kennzeichen der Familie Fledermäuse oder Glattnasen, Gymnorhma. Die Nase erscheimt glatt, ohne jeden häutig-blätterigen Aufsatz. Der Zwischenkiefer ist meist inmitten tief ausgebuchtet und fest mit dem Oberkiefer verwachsen. Die Backenzähne haben Leisten in Form eines W. Der Stand der srossmuscheligen Ohren auf dem Scheitel verschieden, bald daselbst zusammen- stossend, bald getrennt. Der Ohrdeckel (Tragus) ebenfalls abweichend gestaltet, aber stark entwickelt. Die Zahnstellung und Bildung ist sehr verschieden. Die Die Handflatterer. Chiroptera. 163 wesentliche Form der Backenzähne ist die spitzzackige, ihre Zahl drei jeder- seits, während die Zahl der Lückenzähne sowohl im Hinblick auf die obere und untere Kinnlade als auch überhaupt schwankend sich erweist. Die Eckzähne sind stark und die spitzigen Schneidezähne stehen oben zu zwei, vier oder sechs, unten in der Regel zu vier und sechs, selten zu zwei. Die Gesammtzahl der Zähne schwankt zwischen 28 und 88. Die Glattnasen leben ausschliesslich von Insecten, welche sie im Fluge während der Vegetationszeit in der Dämmerung und Nacht erhaschen. Die verschiedenen hier in Betracht kommenden Unterfamilien oder Sippen der Glattnasen charakterisiren sich kurz, wie folgt: Die Unterfamilie oder, wie man sie mancherseits auch genannt hat, „Rotte“ der Fledermäuse, Vespertilionea, kennzeichnet sich durch einen langen, ganz mit der Schwanz-Flughaut (Periscelis) verwachsenen Schwanz, der hin und wieder nur mit einer kurzen Endspitze aus der Flughaut her- vorragt, durch die vier paarigen in der oberen und sechs Schneidezähne in der unteren Kinnlade. Als Fortsetzung des feinfaltigen Gaumens schiebt sich zwischen den paarigen Schneidezähnen ein Tastorgan ein. Man unterscheidet die Sippen in dieser Unterfamilie nach dem Fehlen oder Vorhandensein des Spornbeinlappens, der Grösse und dem Stande der Ohren und der Gestaltung der Ohrdeckel, sowie nach der Zahl der Lücken- zähne. Die Sippe Grossohr oder Ohrenfledermaus, Plecotus, welche sich durch grosse, am Scheitel zusammentreftende oder verwachsene Ohren mit langem, schmalem Ohrdeckel auszeichnet, weist in unserer Heimath zwei Vertreterinnen auf. Die charakteristischen Kennzeichen der Ohrenfledermäuse finden sich in einem vorspringenden Hautlappen am inneren Rande der Ohren. Hierher zählen Plecotus auritus und barbastellus. Die Sippe Nachtschwirrer, Vespertilio, macht sich kenntlich durch freistehende, dünn- und feinhäutige Ohren, einen länglichen, in der Regel lanzettförmigen Ohrdeckel, breite, stumpfe und dabei dünne, zarte, mitunter durchschemende Flughäute, sowie durch das Fehlen des Spornbeinlappens. Ihre Flugzeit erfolgt zu späten Abendstunden; ihre Fruchtbarkeit ist gering, indem sie nur ein Junges bringen. Diese Sippe wurde von Kolenati in Untersippen geschieden je nach dem Längenverhältniss der Ohren zu dem des Kopfes, sowie auch nach der An- zahl der sehr feinen Gaumenfalten, welche Trennung unwesentlich oder doch zu minutiös erscheint. Die einheimischen Vertreter dieser Sippe sind: Vespertilio murinus, Bechsteinii, mystacinus, Daubentonii, dasyeneme, Nattereri und eiliatus. Sippe Abendflatterer, Vesperugo. Diese kennzeichnen rauhe, dicke, kurze und dunkle Ohren mit analogen kurzen, abgestumpften Ohr- 11* 164 Die Handflatterer. Chiroptera. deckeln, lange, schmale, zugespitzte, rauhe und ebenfalls dunkel gefärbte Flughäute, welche ihnen im Gegensatz zu den Vertretern der Vespertilionen ein gewandtes Flugvermögen verleihen. Sie charakterisirt ein unempfind- liches Naturell. Hier sind die Spornbeinlappen vorhanden. Die Vertreter bringen zwei Junge. Es gehören hierher: Vesperugo noctula, Leisleri, pipistrellus, Nathusii, serotinus, discolor und Nilsonii. Die Sippe der Ohrenfledermäuse, Plecotus. Die langohrige Fledermaus oder das Langohr. Plecotus auritus. Dieses höchst auffallende, gespensterhafte Wesen unter unseren Fleder- mäusen macht sich, wie in seiner ganzen Erscheinung, so noch besonders durch seine Riesenohren kenntlich, welche, im Mittel 3,6 em hoch, nahezu oder bisweilen ganz die Körperlänge erreichen und emen äusserst feinen Bau besitzen. Sie sind über dem Scheitel am Grunde verwachsen, zeigen an der Basis des Innenrandes schräg aufsteigend einen leistenförmigen mit wolligen Haaren besetzten Hautlappen, welcher, wie der Aussenrand, mit seinen Tastwärzchen dem Kiel entlang, wimperartig behaart ist. Ueber die Mitte der zarten, dünnhäutigen Ohrmuscheln laufen 22 bis 24 Querfalten, deren Einrichtung und Funktionen wir schon in dem allgememen Theile über die Handflatterer besprochen haben. Die Muscheln biegen sich mit ihren abgerundeten Enden nach hinten. Der zarte Ohrdeckel erreicht mit seiner verjüngten, etwas nach aussen gebogenen Spitze nicht ganz die Mitte der Ohrhöhe; er hat am Grunde seines Aussenrandes einen deutlichen Aus- schnitt oder emen „Zahn“. In ganz eigenthümlicher Form, den Hörnern eines Widders vergleichbar, legt das Thier in der Ruhe, zumeist auch im Laufe und Fluge die Ohren am Kopfe zurück. In der Ruhe bedecken die angelegten Flughäute halb die zurückgeschlagenen Ohren. Es stehen dann die beiden Ohrdeckel wie Spiesse ans den Ohren in die Höhe. Die licht- graubraunen Flughäute sind zart, feucht-fettig, breit und grösstentheils nackt. Die Länge des 5. Fingers verhält sich zum 3., wie 10 zu 15, und zur ganzen Flügellänge, wie 10 zu 24. Die Flügelspannung beträgt in ihren Extremen 23,4—27 cm, somit im Mittel 25,2 cm. Das letzte Schwanzglied steht ausserhalb der Schwanztlughaut; der Spornbeinlappen fehlt. Die gewöhn- liche Normalfärbung des Thieres ist oben hell graubraun, unten weisslich mit graubraunem Anhauche bei überall dunklerem Haargrunde. Das Ge- sichtsfeld bis zur Nase hat einen weissen Reif, und die Schnauze ist weiss bebartet. Der Kopf zeigt gegen die Mitte des Scheitels eine starke Wöl- bung, das Nasenbein ist bogig und die zugespitzte Schnauze gegen das ab- fallende Nasenbein geschweift, wodurch sich der Ausdruck des Kopfes sehr abweichend von dem der stumpfnasigen Arten gestaltet. Bei der grossen Veränderlichkeit in den einzelnen Körperformen, nament- Die Handflatterer. Chiroptera. 165 lich in den hervortretenden Theilen, hat man wiederholt versucht, aus den Varietäten der langohrigen Fledermäuse mehrere Arten zu bilden, ein Be- ginnen, welches sich als unbegründet, als eine manchen Naturforschern an- klebende unselige Neigung oder Sucht nach Artentrennung und Zerplit- terung erwiesen. Die Natur bindet sich an keine ängstliche oder starre Schablone; sie will in ihrer reichen Mannigfaltigkeit und Abwechselung verstanden sein; pedantische Einseitigkeit stösst sich sogleich an jeder ver- änderlichen Form und misst sie mit kleinlichem Massstabe. In ihrer hervortretenden Leibescharakteristik, sowie ganz besonders in ihrem Wesen und Wandel stimmen alle langohrigen Fledermäuse überem. Ab- weichungen in der Totalfärbung des Pelzes sowohl, wie in der Specialzeichnung einzelner Körpertheile, Veränderungen in der Gestalt und Grösse der Ohren, des Ohrdeckels und des Ohrlappens; der Umstand, ob die Schnauze hier „schmäler, spitzer und länger“ als dort, das Gebiss bei diesem Exemplare weisser, schärfer und grösser als bei andern erscheint, ob die freien Daumen und Zehen der Hinterfüsse im Extrem sogar um '/; länger oder kürzer sich erweisen: — diese und ähnliche Subtilitäten vermögen denn doch das Charakteristische, das sprechend Typische der Art nicht im mindesten zu beeinträchtigen. Es entbehren also solche kleinliche Unterscheidungen des wesentlichen Grundes, um darauf Abbildungen in den Reihen des Lang- ohres vorzunehmen. Betrachte man nur den grossen Verbreitungskreis des Thieres, der sich über Mittelasien bis Ostindien und Nordafrika ausdehnt, die Gewohnheit dieser Fledermaus, an den verschiedensten Ortlichkeiten zu leben, und man wird es nicht anders als natürlich finden, dass diese Species vielfach abändert. Das Langohr meidet den hohen Norden; es überschreitet den 60. Grad nördlicher Breite nicht, kommt aber in ganz England, im Skandinavien so- wohl, als in Finnland noch vor. In unsern Gebirgen, wie in den Alpen bleibt es in der Baumgrenze. Am häufigsten trifft man diese Art in Mittel- europa. Obgleich ihr Verbreitungsgebiet ein ausgedehntes ist, so pflegt sie in grosser Anzahl in keiner Gegend vorhanden zu sein. Dennoch bleibt sie immer eine unserer häufigsten Fledermäuse. Bei vorgerückter Abenddämmerung und in der Nacht flattert das Lang- ohr in Parks, Baumstücken, im Walde auf Blössen und Wegen, in Städten und Dörfern meist in einer Höhe über gewöhnlichen Gegenständen und mittelhohen Bäumen. Der Flug ist zwar nicht rasch, aber geschickter Wendungen fähig, und kennzeichnet sich besonders noch durch ein eigen- thümliches Schweben oder Rütteln des Thieres über bestimmten Punkten. Obstbäume und grösseres Buschwerk umschwärmt es schattenhaft. Bald hier, bald dort taucht es auf und schwirrt, wie an einem unsichtbaren Fa- den gehalten, über einer Blüthendolde oder einem Zweigende, um daselbst Nachtschmetterlinge und Käfer aufzuscheuchen und zu erhaschen, sowie 166 Die Handflatterer. Chiroptera. Raupen abzulesen. Beim Rütteln richtet es die Riesenohren zum Auf- spüren der Inseeten auf Blüthen und Blättern in ihrer ganzen Länge auf und mit der Spitze nach vorn. Die Flugzeit währt in unsern Gegen- den von Aufang April bis Ende September. Die Zufluchtsorte unseres Thieres im Sommer sind in der Regel hohle Bäume in Baumgärten, Hamen und Auwäldern, Verstecke hinter Läden, Gesimsen, Balkonen an Villen und sonstigen Gebäuden, selbst in den inneren Räumen bewohnter Häuser. Im October zieht sich das Langohr schon in seine Quartiere zum Winterschlafe zurück. Seine Verstecke sind dann natürliche Höhlen, besonders in Kalk- sebirgen, Bergwerksgänge, Kirchengewölbe, Grüfte, Burgverliesse, Keller und Winkel in Behausungen. So sehr es zur Flugzeit die Wärme liebt, so exponirte Plätze sieht man es zum Überwintern wählen. Fast regel- mässig fanden wir die langohrige Fledermaus unter wenigen ihrer Art, ähnlich wie pipistrellus, an den vordersten Bögen der Verliesse und Gänge in der Burg Friedberg. Koch traf sie auf dieselbe Weise in der Schloss- ruine bei Dillenburg unweit dicker Eiszapfen. Sie hängt sich dann meist an den langen Krallen ihrer Hinterzehen auf, zieht in der beschriebenen Weise die Ohren gekrümmt und halb hinter die Oberarme der Flughäute zurück. Bisweilen steckt sie sich auch in Ritze und Mauerlöcher. Die langohrige Fledermaus ist ein munteres, bewegliches und dabei verträgliches, angenehmes Thier, das sich leicht zähmen lässt, jedoch eine sorgsame Pflege erfordert. Es gewöhnt sich daran, seinem Pfleger aus der Hand zu fressen, demselben sogar zu folgen, wie wir oben schon eines der- artigen Falles erwähnten. An dieser Fledermaus lässt sich mehr wie an jeder andern Art darthun, wie die fembenervten Ohrmuscheln das Summen oder Schwirren eines Insectes neben dem Gehör durch das Gefühl ge- wahren, und wie das Thier sich auf dieses doppelte zarte Empfinden und seinen scharfen Geruch beim Erbeuten seiner Nahrung verlässt; dass ferner der Ohrdeckel, nur unbedeutend oder gar nicht beweglich, zum Verschliessen des Gehörganges nicht dienen, also kein Glied sem kann, um nach der Ansicht einiger Naturforscher zu starke Schall- und Luftwellen vom Ge- hörgange abzuhalten. Dieses Gebilde scheint vielmehr, nach unserer früheren Andeutung, zur verschärften Wahrnehmung von Luftschwingungen beizu- tragen. Lässt man auf eine ansehnliche Entfernung von einem Langohr die kleinste Fliege an einem Flügel nur ganz unbedeutend schwirren, so richten sich auf der Stelle die Ohrmuscheln der Fledermaus auf mit den Enden genau nach der Richtung der Luftwellen. Auch beim Laufen und wenn sich das Thier durch Flattern vom Boden erheben will, spreizt und spitzt es abwechselnd die Ohrmuscheln. Es läuft behende auf dem Boden dahin und an den Wänden hinauf, wobei es die Krallen seiner vorderen Daumen gebraucht, weiss beim Flattern in Zimmern allen Gegenständen geschickt auszuweichen und spürt den feinsten Luftzug, der durch Thür- Die Handflatterer. Chiroptera. 167 und Fensterritzen dringt. In seiner Nähe freigelassene Fliegen, Mücken und andere Inseeten sucht es unter die Schwungweite seiner Flushäute zu be- kommen, um sie flink mit dem Maule zu erhaschen, einzulecken und die rauheren Theile geschickt wieder aus dem Munde zu entfernen. Ganz ähn- lich verfährt das Thierchen bei seinem Rütteln vor Blüthen und Blättern, in- dem es durch die Schwingungen seiner Flügel die auf und in den Zweigen und Blüthen sitzenden Inseeten aufscheucht und unter dem Schirm seiner Flughäute erhascht. Man vermuthete seither, dass es auch Käfer und Raupen vom Gezweige ablese, da man in den Excrementen an seinen Schlafplätzen Köpfe von Raupen entdeckt hat, die es wohl an Zweigen abgelesen haben muss, es sei denn, dass es Spinnerraupen gewesen, welche an ihren Fäden hängend, die Fledermaus weggeschnappt. Soeben im Mai (1850) beobachten wir eine und die andere langohrige Fledermaus in unserem Hausgarten am Fusse der Ruine Gleiberg bei Giessen an mehreren Abenden. Von den Blättern der Zwetschen- und Zwerg-Apfelbäume sahen wir die Fledermaus wiederholt die kleinen 7—8 mm langen gelb-grünen Räupchen des Frostspanners, Acidalia brumata, welche wir vorher in Menge an den Bäumen entdeckt hatten, im Schwebefluge ab- lesen. Mehrmals gewahrten wir, dass die Fledermaus mittelst der Flug- häute Insecten — ob es Räupchen oder andere Insecten, konnte in der Dämmerung nicht bestätigt werden — von Blättern und Blüthendolden der Birnbäume und einiger Traubenkirschenbüsche abschlug, um die fallenden Insecten mit erstaunlicher Geschicklichkeit in der Luft zu erhaschen. An den Zwerg- und Zwetschenbäumen waren dies aber ganz gewiss die Frost- spanner-käupchen, da an diesen Bäumen nach unseren gründlichen, Unter- suchungen nur diese vorhanden waren und sich Abends an ihren Gespinnst- fäden von Blatt zu Blatt herabliessen, also zur Zeit des Flugs der Fleder- mäuse an den Fäden frei hingen, wodurch sie eine leichte Beute des flinken Handflatterers wurden. Zu Ende Juni oder Anfangs Juli werfen die Weibchen nur ein Junges, das sich bis in den Herbst hinein durch dunklere Farbe von den Alten unterscheidet. Tag- und Nachtraubvögel, sowie die Marder, Wiesel und der Iltis stellen dem Langohr gerne nach; die Hauskatzen fressen es aber nicht. Diese Fledermaus wird von gewissen Flöhen, Milben und Fledermaus- spinnen geplagt. Von Blutsaugern, wie der kleinen Hufeisennase, angesaugt, soll sie diese erwürgen. Die Mopsfledermaus oder das Kurzmaul, Pl. barbastellus. Wie ihr Name schon ausweist, ist diese Fledermaus an ihrer auffallend kurzen, aufgeworfenen, einem Mopsmaule ähnlichen Schnauze kenntlich und so leicht mit einer andern Art nicht zu verwechseln. 168 Die Handflatterer. Chiroptera. Der Nasenrücken ist durch eine Biegung in der Mitte markirt, wodurch er gegen die Stirne sowohl als gegen das Nasenende aufsteigt. Zu dieser auffälligen Form tritt nun noch die Nacktheit der Nasen- und Gesichts- gegend bis zu den Ohren, welche gegen die bartartige Partie an den Wangen sich abhebt, sowie weiter noch das Pittoreske der länglich gespaltenen auf der Nasenspitze offenstehenden Nasenlöcher hinzu, wodurch der mopsartige, düstere Gesichtsausdruck entsteht. Charakteristisch sind ferner die sehr breiten Ohren von Kopflänge, welche sich in Einer Fläche nach vorn präsen- tiren, wodurch ihre natürliche Breite scheinbar noch zunimmt. Der schlanke, zugespitzte Ohrdeckel ragt nur bis zur Mitte der Ohren, welche am Scheitel mit einander verwachsen sind und an den äussern Rändern einen sichtlich hervorstehenden lappigen Ausschnitt oder Zahn haben und zwischen den Augen und den Mundwinkeln sich ansetzen. Der Schwanz ist beinahe bis zu seiner Spitze mit der Schwanzflughaut verwachsen. Ohren und Flughäute sind rauh und dick, schwarzbraun bis schwarz gefärbt. Die ganze Oberseite sieht mehr oder minder sammtglänzend schwarzbraun aus, die Unterseite erscheint hingegen grau durchschossen und dadurch heller. Die Spornbemlappen sind vorhanden. Bei ihren ziemlich schmalen Flügeln bildet sich das Verhältniss der Länge des 5. Fingers zu der des 3., wie 10 zu 13 und zur totalen Flü- gellänge wie 10 zu 25; die Flugweite schwankt zwischen 25,5 und 27 cm bei einer Leibeslänge von 5,4—9,7 cm. Die Mopstledermaus ist so ziemlich über das gemässigte Europa und auch einen Theil Asiens verbreitet und geht sehr hoch in den Gebirgen hinauf, in den Alpen noch über den St. Gotthard hinaus. Ihre Heimath sind waldige Gebirge, und fast m allen unsern deutschen Gebirgszügen ist sie gefunden worden. Wir trafen sie im Vogelsberg, der Wetterau, dem Taunus und dem hessischen Hinterlande, und an allen diesen Orten ist sie, entgegen der Behauptung einiger Schriftsteller, nicht selten. Bevorzugt von ihr sind Felsenhöhlen und Bergwerksstollen, doch eben so oft trifft man sie in alten Schlössern, Mauergewölben, Burgverliessen, sowie in bewohnten Behausungen. Diese Art hängt sich meist mit den Hinterzehen theils ganz frei auf, theils unterstützt sie sich auch dabei, die Seitenwände der Mauern aufsuchend, mit den Daumen. Nach Koch’s Beobachtungen sollen die männlichen Mops- fledermäuse mehr diese Stellungen behaupten, als die Weibchen, welche in Spalten sitzen. Wie schon früher angedeutet, findet sich diese unempfindliche Art ge- wöhnlich in den vorderen Luft und Kälte ausgesetzten Theilen’ ihrer Win- teraufenthalte. Mitten unter Eiszapfen an Höhlen und Stollen sieht man sie zuweilen hängen, woselbst sie aber auch bei hartem Frost erfriert. Sie hält, nicht gesellig, nur mit wenigen von Ihresgleichen und dann allemal in grösseren oder kleineren Zwischenräumen, auch zuweilen mit einigen andern Arten eine leise, oft unterbrochene Winterruhe, was sie bei Berührungen Die Handflatterer. Chiroptera. 169 durch ihre gezogenen Laute sowohl als noch mehr durch ihr öfteres Er- wachen und Herumfliegen in den Räumlichkeiten ihrer Schlupfwinkel im Winter bekundet. Ihr Erheben aus der oft tief im Spätjahr erst erfolgenden Winterruhe geschieht deshalb auch ebenmässig sehr frühe, bisweilen schon Ende Februar oder Anfangs März. Gleichzeitig soll ihre Begattung be- Sinnen, aus welcher gewöhnlich zwei Junge entspringen. Mit ziemlich raschem und geschicktem Auge macht sie sich schon früh in der ersten Dämmerung auf in Waldwegen, an den Rändern des Holzes, in Baumstücken und Gärten, gewöhnlich sehr hoch und nur bei unfreund- licher, windiger und nasser Witterung etwas niedriger fliegend, so dass sie bisweilen sich auch zur Wasserfläche wendet. Die Mopsfledermaus wird leicht en Raub der Eulen und der vier- füssigen Räuber, die sie an ihren Schlafstellen erhaschen können, sofern sie nicht, wie sie es öfters, durch Nachstellungen gewitzigt, thut, Höhlen und Stollen bezieht, deren Boden unter Wasser steht. Das Thierchen ist die sanfteste, am besten zähmbare einheimische Fle- dermaus. Sie beweist sich hierdurch als das gerade Gegentheil ihres finsteren, trotzigen Aussern, munter und friedlieh, sich bald an ihren Pfleger sewöhnend und diesem sogar, wie schon oben erwähnt, nachfliegend. Sie wird, wie Koch mittheilt, von mehreren Arten Flöhe geplagt, und nament- lich die Ohrenränder überzieht oft klumpenweis eime orangengelbe Milbe (Otonyssus auranticus), welche die erwähnten Gliedmassen sichtlich gelb- gefärbt erscheinen lässt. Die Sippe der Nachtschwirrer, Vespertilio. Die gemeine Fledermaus, Vespertilio murinus. Der starke, langgestreckte Kopf, die schmale, ziemlich zugespitzte Schnauze mit den halbmondförmig geöflneten Nasenlöchern, was alles dem Thiere eine „schweineartige Physiognomie“ verleiht, sowie vor Allem der be- deutende derbe Körper lassen diese Riesin unter allen unseren heimischen Fledermäusen leicht erkennen. Die unverwachsenen Ohren sind länger als der Kopf, hellgrau, mit 9 bis LO Querleisten und einem langen, dolehförmigen bis zu einem guten Drittel der Ohrmuschelhöhe reichenden Tragus ver- sehen. Die lichtbraunen grossen Flughäute sind zart, fast durchscheinend und verhältnissmässig breit und messen in ihrer Spannung 35 bis 38,4 cm, während die Körperlänge 7,5—7,3 em beträgt. Der 5. Finger ist nur wenig kürzer als der 3. und 4, und verhält sich zu diesen, wie 10 zu 12, und zu der ganzen Fluglänge, wie 10 zu 24. Ihr Gebiss ist sehr scharf und kräftig und weist besonders lange derbe Eckzähne auf. Nur an der Innenseite ist die glatte Flughaut zunächst des Leibes etwas behaart; sie schliesst, den Schwanz ausgenommen, das letzte Endglied und einen kleinen Theil des vorletzten ein. Blos die halben Fusssohlen der Hinterfüsse sind an der 170 Die Handflatterer. Chiroptera. Flughaut angewachsen ; sie haben ein langes, kräftiges Spornbein ohne Sporn- beinlappen. Die Farbe der Oberseite ist gememiglich eine licht rauchbraune oder graubräunliche, die Unterseite hingegen heller grau oder schmutzig- weiss. Die einzelnen Haare erscheinen dunkler grundirt und werden heller nach den Enden. Kolenati zählte an einem Haare 577 Glieder, von welchen 190 charakteristisch. Diese Fledermaus weicht in der Leibeslänge (7,5 —7,3 cm) und Spann- weite ihrer Flughäute sehr ab, weniger schon in der Pelzfärbung, obgleich unter den beschriebenen normal gefärbten auch aschgraue oder röthliche Exemplare aufzutreten pflegen. Gewiss sind diese Abweichungen im Alter, Klima und in der Lebensweise begründet. Ihr Verbreitungskreis erstreckt sich hauptsächlich auf Mittel- und Süd- europa, das nördliche Afrika und den südöstlichen Theil von Asien. Weiter nördlich als Dänemark und Mittelrussland geht sie nicht, wohl aber m den Alpen bis zu 1200 m hoch und höher. Im Herzen unseres Vaterlandes ist sie häufig und verdient ihren Namen „gemeine Fledermaus“ mit Recht. Ihre Sommer-Zufluchtsorte sind hohe, emsame Burgen, Kirchenspeicher und verödete Böden grosser Behausungen, in deren Nähe sie in stark her- eingebrochener Dämmerung und während der Dunkelheit jagt. Ihr gemäch- licher Flug geht unbeholfen Hatternd und mit weitausgeholten Flügelschlägen geradeaus, gewöhnlich in einer Höhe von 4—6 und mehr m um Mauern und Gebäude, den Strassen und Alleen entlang, auch hin und wieder am Saum und auf Blössen von Wäldern und Hainen ab und zu, woselbst wir sie schon in hohlen Bäumen und auch schon frei an Stämmen sitzend gefunden haben. Selbst im Fluge schon machen sie neben ihrer Leibesstärke die grossen Ohren kenntlich, welche sie hoch aufrichtet und mit der Spitze nach vorn wendet, wenn sie das Summen oder Schwirren eimes Käfers gewahrt. Dann biegt sie schon auf mehrere Meter Entfernung nach dem Insect von ihrer geraden Flugrichtung ab, fängt unter hörbarem Schnappen dasselbe und verzehrt es mit knisternden Bissen, wobei die Flügeldecken und sonstige harte Theile niederfallen. Sie ist sehr gefrässig und bedarf bei ihrer raschen Verdauung und ihrem grossen Körper sehr vieler Nahrung. Nach Jäckel kehrt murinus Nachts in die Räumlichkeiten ihrer Sommeraufenthalte, um sich aufhängend ihren Raub zu verzehren. Er sagt auf S. 230 des VI. Jahrganges der Zeit- schrift „Der Zoologische Garten“ von 1865 Folgendes hierüber: „Von der grossen Fledermaus kommen alljährlich während der Sommermonate einzelne Exemplare des Nachts in das mittlere Stockwerk des hiesigen Kirchthurms durch die weite Öffnung des einzigen Fensters geflogen, hängen sich an der gewölbten Decke an, verzehren da ihren Raub und lassen die ungeniess- baren Reste, Flügel und Flügeldecken etc. auf den Estrich herabfallen.“ — Der eifrige Forscher hat in mehreren Jahrgängen der erwähnten Zeitschrift die Überreste der Nahrung von murinus zusammengestellt. Daraus geht Die Handflatterer. Chiroptera. 171 hervor, in welcher ausgedehnten Weise diese Fledermaus unter den Kerfen, namentlich unter vielen Arten Schmetterlingen aufräumt. Diese von dem fleissigen Sammler gefundenen Speisereste stellen aber nur einen verhältniss- mässig kleinen Theil des Raubes dieses gefrässigen grössesten unserer Hand- tlatterer dar, da diese Art nach unseren Erfahrungen die meisten Kerfe, selbst grössere, wie Mai- und Junikäfer, in der Regel im Fluge verzehrt. Jäckel fand nur einzelne, hier und da 2 Flügel in Vereinigung mit dem Bruststücke und Kopfe des Schmetterlings oder Käfers. „Die Flügeldecken der Sonn- wendkäfer (Juni-, Pragkäfer) zeigten sich jedesmal von den langen Eck- zähnen der Fledermäuse durchlöchert.“ Ausserst bissig und unverträglich, ja sogar gegen kleinere Fledermaus- arten mord- und raubsüchtig, trifft man sie gewöhnlich vereinzelt oder im Winter unter Ihresgleichen klumpenweis freihängend oder an den Wänden sitzend, zumeist an sehr geschützten Orten, in unterirdischen Gängen, Ge- wölben und Kellern stets tief im Innern. Sie hängt entweder an ihren stark- bekrallten Hinterzehen mit zusammengefalteten und an den Seiten angelehnten Flughäuten an den höheren Stellen ihrer Schlupfwinkel frei auf, oder sitzt, mit dem Kopfe abwärts, ebenfalls mit den Hinterkrallen angeheftet an Wän- den oder andern Gegenständen, die Ohrmuscheln zusammengefaltet und gerade nach vorn geneigt. Im Sommer trifft man sie zuweilen in hohlen Bäumen oder im Freien an Stämmen. In einer hohlen Eiche fanden wir sie sogar schon mit der grossen und wehrhaften noctula zusammen. Mög- lich, dass sich beide ihrer Stärke zufolge respectiren und gegenseitig neben einander dulden. In dem von uns öfter besuchten Wetzlar kommt sie Som- mers massenhaft neben der frühfliegenden vor. Dort in dem Thurm und Speicher der Spitalkirche ist ein Hauptversammlungsort der murinus, wie dies schon Koch erwähnt. Das Thier zieht sich schon Anfangs November, bei früheintretenden Frösten schon Ende October, in Gewölbe, unterirdische Burggänge, Berg- werksschachte und sonstige geschützte Orte zum Winterschlafe zurück, der bis in den März, sogar bis zu Ende des März andauert. In der Gefangenschaft ist sie unliebenswürdig und bissig, obgleich sie sich nach und nach zähmen lässt oder vertrauter wird, jedenfalls sich aber sehr gut eingewöhnt. Das Weibchen bringt gegen Ende April nur ein Junges, das sich in kurzer Zeit entwickelt, doch durch seine dunklere Färbung und die sehr stumpfen Flughäute bis in den Herbst vor den Alten kennzeichnet. Kraft ihrer Grösse und Wehrhaftigkeit, auch wohl ihres derben Kno- chengerüstes halber, bleibt sie von den Nachstellungen der Eulen befreit; nur die Marder- und Wieselarten rauben sie an ihren Schlafplätzen. 172 Die Handflatterer. Chiroptera. Die gross- oder breitohrige Fledermaus. V. Bechsteinii. Ihre zwar nicht so auffallend verlängerten Ohren, wie die des Lang- ohres, sind jedoch immer noch sichtlich länger als der Kopf, knapp 2,5 cm messend, und kennzeichnen das Thier noch auffallend genug. Sie sind, mit denen von auritus verglichen, erstlich nicht am Grunde verwachsen, sondern freistehend; ferner schmaler und spitzer, besitzen bei ihrer geringeren Länge auch nur 10 Knorpelfalten, ähneln aber im Wesentlichen in der Gestaltung denjenigen der angeführten Art. Ebenso verhält es sich mit dem Ohr- deckel. Die breiten Flügel zeigen im Vergleich der Länge des 5. mit der des 3. Fingers ein Verhältniss wie 10 zu 12 und mit der Länge des ganzen Flügels wie 10 zu 24. Die Flugspannung misst 24—27 cm und die Kör- perlänge 5—5,4 cm. Die Hälfte des vorletzten .Schwanzgliedes, sowie das ganze letzte ragt aus der Periscelis hervor. Nur am Rande längs des Leibes sind die durchscheinend-zarten hellbraunen Flügel behaart, eine noch hellere Farbe tragen die Ohrmuscheln, welche transparent in's Fleischfarbene spielen. Die bräunlichgraue Farbe der Obarseite geht auf dem Bauche in helles Weissgrau über. Die Hauptkennzeichen sind und bleiben immer die frei- stehenden grossen Ohren und lassen keme Verwechselung mit einer andern Art zu. Die grossohrige Fledermaus ist ebenso selten, als ihr Verbreitungsge- biet beschränkt. Es erstreckt sich dies nur über Mitteleuropa. Besonders in Thüringen ist sie beobachtet worden. Sehr zärtlich, wählt sie die hinter- sten, verborgensten Theile von Höhlen, Gruben und hohlen Bäumen. Sie hängt nach Koch, der sie im ehemaligen Herzogthum Nassau beobachtet. hat, in der Regel vereinzelt unter der Decke einer Höhle, eines Stollens oder Burgkellers (in Bäumen, wie anderwärts beobachtet worden, hat er sie nie angetroffen) mit gerade vorgestreckten Ohren und nur lose angedrückten Flughäuten an den Hinterfüssen frei im Winterschlafe. Dieser währt lange und dauert ununterbrochen bis tief in den April. Sie wird von vielen Schmarotzern heimgesucht. Ihre Flugzeit erfolgt in vorgerückter Dämmerung. Sie flattert langsam und schwerfällig in der Tiefe auf Baumwegen und Waldschneissen mit dem charakteristischen, von auritus verschiedenen Kennzeichen, dass sie die Ohren gerade ausstreckt. Koch schildert sie zänkisch und bissig. Er traf sie auch bei Gladen- bach. Dort haben wir sie aber trotz unseres 17jährigen Aufenthaltes nie gesehen. Die Bartfledermaus, V. mystacinus. Diese kleinste breitflügelige Fledermaus macht sich hauptsächlich durch den Stand ihrer kurzen, derben, nicht viel über 1 em messenden Ohren Die Handflatterer. Chiroptera. 1& kenntlich, indem diese durch eine seitliche Biegung ihrer Spitzen vom Scheitel nach aussen von einander abstehen. Der zugespitzte Deckel ragt nur bis zur Hälfte der äusseren Ausbuchtung der Ohren. Die ziemlich rauhen Flughäute sind am Körperrande ziemlich dicht behaart. Der Sporn ist — wie bei allen Breitflüglern — ohne Lappen, und die warzige Schwanz- tlughaut am Rande unbehaart, aus welcher der Schwanz mit dem halben vorletzten und letzten Gliede hervorsteht. Das Gesicht ist dichthaarig, in der Nasen- und Augengegend aber nackt und schwarz, wodurch es gegen die langen Wangenhaare entschieden absticht und wie mit einem Bart um- geben aussieht, Die Gliederung des dritten Fingers ist zu beachten, die einzig dieser Art eigen. Das zweite und dritte Glied an diesem Finger sind nämlich ganz gleich. Die Länge des 5. verhält sich zu derjenigen des 3. Fingers wie 10 zu 12 und zur ganzen Flügellänge wie 10 zu 26. Die: Körpergrösse schwankt zwischen 4,2 und 48 cm; die Flugweite zwischen 20,1 und 22,2 cm. Die Füsse sind bis zu den Zehenwurzeln mit der Flan- kenflughaut verwachsen, was sie von der folgenden Art unterscheidet. Die Bartfledermaus wechselt in Grösse und Färbung sehr. Bei der gewöhnlichen Färbung tritt die Oberseite langbehaart und dunkelschwarz- braun auf, während die Unterseite dunkel aschgrau, bräunlich durchschossen ist. Die Haare am Grunde sind immer entschieden dunkler als die Spitzen. Nun kommen viele Übergänge in’s Bräunliche, sowie im Hinblick auf die Form und Beschaffenheit der Haare, vom trüb Rauhen und Wolligen in’s Glatte und Glänzende vor. Ein Blick auf das obige Maass des Leibes zeigt uns, dass wir es mit einem Zwerg unter unsern einheimischen Arten zu thun haben, der nur an Kleinheit des Körpers von der Zwergfledermaus übertroffen wird. Sie ist aber, wie das angegebene Grössenverhältniss der Flügelbreite zur Flugweite ergibt, die langflügligste aller breitflügeligen. Deshalb haben wir eimiger- maassen geschwankt, sie unter die Gruppe der Letzteren zu stellen. Ein Vergleich mit dem Verhältniss der Flügelbreite zu der Flugweite zwischen ihr und ihrem Concurrenten in der Zwerggestalt charakterisirt sie indess doch als zu der ihr angewiesenen Gruppirung gehörig, sowie denn dies noch durch das Fehlen des epiblema am Spornbein entschieden wird. Obgleich diese Art zu den selteneren gehört, so ist sie doch ortsweise ziemlich häufig und bis jetzt, über Mitteleuropa verbreitet, aufgefunden worden. Die Alpen sind ihre südliche Grenze. ‚. Unser Zwerg ist in Bezug auf seine Aufenthaltsorte wie pipistrellus ein Überall und Nirgends.. Vom Schornstein und Dachboden bis zum Keller- gewölbe der Wohnungen, in Baum- und Mauerritzen, in Felshöhlen der Wälder und in Schachten der Bergwerke, hoch über der Erde und tief unter derselben versteckt sich das Thierchen zum Tagesschlaf wie zur Win- terruhe, theils sitzend in Löchern, Spalten und Ritzen, bald hängend an den 174 Die Handflatterer. Chiroptera. Wänden. Erst spät im Jahre bezieht es seine Winterquartiere und kommt frühe, oft schon im Februar wieder zum Vorscheine, während es auch schon mitten im Winter in seinen räumlicheren Zufluchtsorten, wie Gewölben, Stollen und Gängen, bisweilen herumflattert. Diese Art ist die schnellste und gewandteste ihrer Gruppe. Ziemlich frühe, beim Einbruch der ersten Dämmerung, schon ausfliegend, geht ihre Jagd in einem ziemlichen Gebiete meist tief über Pfützen, Gräben, am Ufer der Bäche, Teiche und Seen, über Wiesen und Triftpläne hin, wo sie sich die Nacht über bis zur Morgendämmerung emsig herumtummelt. Wiesel, Marder und Fuchs, auch die Eulen erbeuten die oft Tiefsitzende im Schlaf. Koch hat auch beobachtet, dass murmus diese Art in der Ge- fangenschaft überfiel und theilweise verzehrtee. Ob dies in der Natur vor- kommt, bezweifeln wir. Die Wasserfledermaus, V. Daubentonn. Diese Fledermaus hat in dem Stande ihrer noch kürzeren Ohren Ahn- lichkeit mit der vorigen, indem durch eine knieförmige Biegung der Innen- ränder die Ohrenspitzen sich von einander abwenden. Beide Arten sind aber schon durch die sichtliche Differenz in ihrer Grösse sehr wesentlich verschieden, denn die mittlere Leibeslänge von Daubentonii ist D em. Ent- schieden breitllügelig, sind die unteren Gliedmaassen des 3., 4. und 5. Fin- gers in ihrer Länge wenig verschieden. Die Länge des letzteren Fingers verhält sich zu der des 3. wie 10 zu 12 und zur gesammten Flügellänge wie 10 zu 25. Nur die vordere Hälfte der Hinterfüsse ist frei, indem diese bis zur Mitte der Sohle mit der Flankenflughaut verwachsen sind. Andert- halb Endglieder des Schwanzes sind mit der peristelis nicht verwachsen. Die Letztere ist zwar feinbehaart aber nicht „gewimpert“, d. h. auf dem Rande sichtlich mit steiferen Haaren nicht versehen. Die Flankenflughaut erscheint längs der Körperseite behaart. Ausserdem sind die nackten Flug- häute, wie die Ohren, ziemlich dünnhäutig und zart. Oben graubraun mit bald hellerem, bald dunklerem röthlichem Anfluge, erscheint die Unterseite trübweiss. Sie hat diese Zweifärbung mit der nachfolgenden verwandten Teichfledermaus gemein. Wie schon ihr Name verkündet, sind Gewässer ihre Heimath. Über ganz Europa und Asien, die nördliche Zone ausgenommen, ist sie verbreitet, wo nur wasserreiche Gegenden vorkommen. Sie geht in unseren Gebirgen bis zu 500 m, in den Alpen um das Doppelte höher hinauf. Nach Norden, wie im nördlichen Skandinavien, tritt sie schon sehr vereinzelt auf; ebenso selten erscheint sie m den südeuropäischen Ländern. Im Ganzen ist sie eine ziemlich häufige Art im mittleren Europa zu nennen, ihr Vorkommen aber sporadisch, weil sie an das Wasser gebunden. Besonders im Sommer tummelt sie sich im mässigem Fluge schon in Die Handflatterer. Chiroptera. 175 der ersten Abenddämmerung dicht über breiten, räumlichen Wasserflächen umher. Sie hält m ihrem Flug eine gewisse Ordnung, Regel, fliegt z. B. erst den Spiegel eines Mühlgrabens ab und wechselt dann durch einen Brückenbogen oder eine Mühle bis zu bestimmten Punkten hin und her. Nicht andauernd bei diesen ihren Abendwanderungen, hängt sie sich von Zeit zu Zeit an allerlei Gegenständen in der Nähe des Wassers, wie z. B. an Bäumen, Brückenbögen, Wasserstegen, stillstehenden Mühlenrädern, mit Ihresgleichen reihenweise zur Ruhe an. Gesellig in ihrer Lebensweise, trifft man sie sowohl an ihren Schlafplätzen als in der Winterruhe zu halben und ganzen Dutzenden, wenn nicht klumpenweis, doch im Reihen oder ziemlich dichten Gruppen zusammen, bald in Bäumen, Felsenhöhlen und Schachten, bald in Gewölben und sonstigen Räumlichkeiten der Gebäude, bald auch selbst unter Brückenbögen, Wasserstuben und Stegen. Hier hängen sie frei und in Höhlen und Gruben ziemlich weit nach vorn, dort wieder ver- kriechen sie sich m Stein- und Erdritzen. Im Ganzen ist die Wasserfleder- maus ziemlich unempfindlich gegen die Witterung, und bezieht ihre Winter- quartiere ebenso spät, als sie dieselben öfters an ungeschützten Orten wählt. Ihre Flugzeit beginnt, sobald die kleineren Wasserinsecten sich in hinläng- licher Menge zeigen, also sobald stärkerer Frost die Quellen ihrer Nahrung nicht mehr mit Eis überzieht. Wir haben beobachtet, dass der Kornweih diese und die folgende Art stösst, wenn jener Raubvogel in der Abenddäm- merung über Teiche und breite Flussspiegel niedrig streicht. Die Teichfledermaus, V. dasyeneme. Wie die vorige Art fliessende Wasserflächen, wie Bäche, Flüsse und Ströme sucht, so finden wir diese ihre nahe Verwandte an den stehenden Gewässern, wie Sümpfen, Teichen und Seen. Sie ist etwas grösser als die Wasserfledermaus, denn ihre Leibeslänge misst 6,3 7,2 em bei einer Flug- weite von 22,5—24,9 cm. Das Verhältniss der Flügelbreite zur Spannung ist hingegen dasselbe, wie bei ihrer Verwandten. Die Farbe ihrer Ober- und Unterseite erscheint im Vergleich mit der vorigen Art etwas heller, die der ersteren gelbgraubraun bei weissgrauem oder schmutzigweissem Bauch. Ausser der Grösse unterscheiden sie zwei Hauptkennzeichen von der vorigen, erstlich der halbmondförmig nach innen sich neigende, oben rundliche kleine OÖhrdeckel, welcher nicht die Hälfte der Ohrmuschelhöhe erreicht, zum Anden der freie Fuss, indem die Flankenflughaut (das plagiopatagium) schon über der Ferse endet. In der Wetterau und auch in der letzten Zeit in der Lahngegend haben wir diese seltene Art mehrmals zu beobachten Gelegenheit gehabt. An Teichen und Sümpfen kann man sie bisweilen, mit ihrer Verwandten ver- einigt, Abends dicht über dem Wasserspiegel jagen schen. Sie hat mit ihrer verschwisterten Genossin die Eigenheit gemein, dass sie sich in 176 Die Handflatterer. Chiroptera. Zwischenräumen von 15—20 Minuten bei ihrem Fluge an Weiden, Schilf und sonstigen Gegenständen anhängt, um auszuruhen. Über einem alten versumpften Arme der Lahn zwischen Giessen und Lollar pflest sie im Sommer regelmässig zu erscheinen. Koch schreibt wohl mit Recht dieser Fledermaus ein Wandern zu. Das Thier sucht im Sommer die Niederungen und geht zur Höhe, namentlich in’s höhlenreiche Kalkgebirge zur Winterruhe. In den Höhlen trifft man sie bald freihängend unter Ihresgleichen, bald einzeln im Ritzen versteckt. Ihr Vorkommen stimmt ziemlich mit dem der vorigen überein, doch ist es etwas beschränkter und hält sich sich im Wesentlichen in den Grenzen zwischen Nordsee und Alpen, scheint sich aber auch östlich zu verbreiten. Die sefranzete oder rauhwimperige Fledermaus, V. Nattereri. In dieser und der folgenden Art begegnen wir zwei näher verwandten Fledermäusen, welchen man ihren Namen wegen dem hervortretend mit Haaren bewachsenen Rande ihrer Schwanzflughaut gegeben hat. Man könnte aber ebenso gut und vielleicht noch mit wesentlicherem Rechte dieselben nach dem gekerbten Tragus ihrer Ohren betrachten und benennen. Die Schwanzflughaut der rauhwimperigen Fledermaus ist an ihrem wulstigen Rande mit doppelt stehenden und nach unten gebogenen diekeren und steiferen Haaren als der übrige Leib besetzt und trägt ein hervortreten- des derbes Spornbein. Der schmale Kopf mit länglicher Schnauze besitzt gleich lange Ohren mit 5—6 Querfalten und ist inmitten des Aussenrandes leicht ausgebuchtet. Ihre sehr schlanken, zugespitzten, bis über die Hälfte der Ohrhöhe reichenden Ohrdeckel sind durch unregelmässige Einkerbungen gekennzeichnet, welche über dem an der Basis bezahnten (mit einem kan- tigen Vorsprung versehenen) Aussenrande bis zur Spitze hervortreten. In den breiten Flügeln verhält sich der 5. Finger zum 3. wie 10 zu 12, und zur ganzen Länge des Flügels wie 10 zu 24. Die Spannung beträgt zwischen 25 und 26 cm, die Körperlänge 4,5—4,38 cm. Die Seitenflughaut reicht bis über die Hälfte der Fusssohlen, und die Schwanzflughaut nimmt in ihr Feld den ganzen Schwanz auf. Die Haare .des Rückens zeigen eine graue, in’s Braune oder Braunröthliche spielende Farbe, während die Unter- seite trübweiss erscheint. Diese seltene Fledermaus hat ein beschränktes Verbreitungsgebiet, sie erscheint, ihrer Verwandten ciliatus gegenüber, mehr in den nördlichen Strichen Deutschlands. Weiter als die Alpen geht sie nicht. Ihre Auf- enthaltsorte sind Baum- und Felsenhöhlen, sowie Bergwerke und Burg- mauern, in deren Innern sie sich gemeiniglich mit dichtangeschlossenen Flug- häuten und vorgestreckten Ohren an den Seitenwänden mit wenigen ihrer Art, manchmal auch in Gesellschaft von anderen Arten, anhängt. Aus diesen Schlupfwinkeln kommt sie in später Abenddämmerung in langsamen, Die Handflatterer. Chiroptera. TH niedrigem Fluge an Waldblössen, Schneissen und Baumstücken hervor. Koch schildert ihren Charahter abweichend von dem der Nachfolgenden als sanft und verträglich. Die feinwimperige Fledermaus. V. ciliatus. Diese der vorigen Art in Farbe, Grösse und Gestaltung sehr ähnliche Fledermaus besitzt etwas rauhere und stärkere Flughäute, sowie breitere Ohrmuscheln mit sichtlich kleinerem und regelmässiger eingekerbtem Tragus. Ihre Wimpern am Rande der periscelis sind viel zärter, nicht doppelt und auch weitläufiger stehend, die Seitenflughaut lässt auch den Fuss weniger frei, denn sie setzt sich bis an die Wurzel der Zehen an. In der Lebens- weise stimmt sie mit der Vorigen überein, ihr Vorkommen beschränkt sich aber mehr auf den südlichen Theil unseres Vaterlandes. Die Sippe der Abendflatterer, Vesperugo. Die frühfliegende Fledermaus, Vesperugo noctula. Die stumpfe Schnauze, gebildet durch die breite Ausbuchtung des Ober- kiefers, wodurch die Eckzähne weit auseinander stehen, fällt auf. Die Ohren sind am Scheitel getrennt, kurz und breit mit kurzen, oben dicken und nach vorn gerichteten Ohrdeckeln. Das Spornbein besitzt einen deutlichen Lappen, und die Schwanzflughaut umschliesst vollkommen den Schwanz. Die cha- rakteristische Flughaut, derb und dick angelegt, ist sehr schmal und zuge- spitzt. Die Länge des 5. zu der des 3. Fingers verhält sich wie 10 zu 18 und die zur ganzen Flügellänge wie 10 zu 33. Flughaut und die rauhen Ohren sind schwarzbraun; die erstere ist am Arme uud an den Fingerwurzeln dicht mit wolligem Haare bekleidet. Die Flug- oder Spannweite beträgt zwischen 35,4 und 38,1 em. bei einer Leibeslänge von 7,6 cm. Der ganze Oberkörper ist entschieden roth- oder rostbraun gefärbt, die Unterseite gelb- bräunlich. Charakteristisch ist der in gleicher Höhe mit den breiten Mund- winkeln und dicht hinter denselben angewachsene stark umgeschlagene Aussenrand der Ohrmuscheln, der sich wie ein um den Vorderhals gehendes Halsband ausnimmt. Schon durch die Grösse kennzeichnet sich diese Fledermaus: denn sie ist eine unserer stärksten und kräftigsten einheimischen Arten. Von der sehr verwandten V. Leisleri, der rauharmigen Fledermaus, unterscheidet sie eben die bedeutendere Grösse und die röthliche Färbung. Ihre schmalen zugespitzten Flügel, unterstützt von starken, muskelkräftigen Oberarmen, gestalten sie zu der gewandtesten Art unserer Flatterthiere. Noch ehe die Sommersonne zur Neige gegangen, erscheint schon diese Seglerin. Ihr Flug geht gewöhnlich hoch um die höchsten Baumwipfel herum oder in noch ansehnlicherer Höhe in der Luft. Ihre Tummelplätze sind, und zwar fast bei jeder Witterung, Wälder, Parkanlagen und Baum- A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 12 178 Die Handflatterer. Chiroptera. stücke. Hier jagt sie um die höchsten Baumkronen, am Saum vom Holze oder auf Waldblössen mit sichtlichem Erfolge nach Käfern und Schmetter- lingen. In den kühnsten, raschesten Wendungen umsegelt sie das Gezweig; eben schiesst sie geradeaus, um ein Insect zu haschen, jetzt stürzt sie urplötzlich wie der Blitz eine Strecke ab- oder seitwärts, um im nächsten Augenblick in schönen steten Bogenzügen eine Baumkrone zu umkreisen oder vor einem Punkte eines Zweiges eine Zeitlang zu schweben. Sehr gerne bejagt sie auch Gewässer in und an den Wäldern und in Parks, und man sieht sie gewiss dann aus der Höhe zur Tiefe kommen, um schwalben- artig die Wasserfläche abzujagen. In dem an dem Flüsschen Nidda in der Wetterau gelegenen Orte Staden, woselbst ein ziemlich ausgedehnter Baum- park mit einem kleinen Teiche unweit des Flusses sich befindet, haben wir das Thier allsommerlich zu beobachten oft Gelegenheit gehabt. Ihr erster Jagdausflug ging aus einem alten Gartenhausdache nach einer Gruppe hoher Fichten, Platanen und Ahorne in der Nähe des Teiches, um deren Kronen sie sich eine Zeit lang herumtummelte, um sodann oft in einem Zuge aus der Höhe in die Tiefe sich zu begeben und über der Teichfläche und von da nicht selten über dem Spiegel der Nidda zu jagen. Als wir der Jagenden Schattenbild zuerst beim Angeln an dem Flüsschen bemerkten, sprachen wir sie als die Wasserfledermaus (V. Daubentonii) an, bis wir bei näherer Beobachtung das Thier an seiner Grösse, seinem eigenthümlich röthlichen Kleide und seiner ungemeinen Flüchtigkeit erkannten. Obgleich die frühfliegende Fledermaus weite Niederungen und Thal- züge dem Gebirge vorzieht, so begegneten wir doch derselben im Taunus und hessischen Vogelsberge gerade nicht selten, aus welchen Gebirgen sie sich aber regelmässig m die Wimterquartiere der mehrerwähnten Burg Fried- berg in der Wetterau zahlreich im Spätherbste begab, woselbst sie Sommers nur vereinzelt anzutreffen war. Abweichend von der Behauptung Koch's und Anderer, dass das T'hier in unterirdischen Gewölben, Felshöhlen, nie- mals vorzukommen schien, trafen wir alljährlich eine ziemliche Anzahl an- und aufeinander an der Mauerwand in den unterirdischen Gängen der Burg. Demungeachtet sind ihre Lieblinssruheplätze alte hohle Stämme, Specht- höhlen, Ritze und Löcher in Böden alter Schlösser, Thürme, im Gemäuer und in stillen Gartenhäuschen, woselbst sie sich zu Dutzenden, namentlich im Winterschlafe, klumpenweise in dachziegelförmigen Reihen über einander an. den Gesimsen, Vertiefungen, in Ritzen und Nischen anhängen und durch einen durchdringenden amoniakartigen Geruch verrathen. Das Thier schläft einen langen, festen Winterschlaf bis tief m das Frühjahr hinem und kehrt in seineSommerbezirke in hügeliges Terrain und waldiges Gebirge erst spät zurück. Noch wissen wir uns des lebhaften Eindruckes zu erinnern, als einer unserer Jugendgenossen bei dem Ausheben von Vogelnestern an einer Dach- ritze des Burggemäuers plötzlich unter Schmerzensrufen die visitirende Hand Die Handflatterer. Chiroptera. 179 zurückzog, an welcher eine rostrothe noctula hing, welche sich in die vor- witzige Bubenfaust mit ihrem scharfen, starken Gebisse eingebissen hatte. Nächst der gemeinen Fledermaus (V. murinus) ist die frühfliegende die bissigste Art. Hier in meinem (Adolf Müller) Dienstbezirke, dem Krofdorfer Walde bei Giessen, haben wir neuerdings einen vom Sturm entkronten alten Eichenstumpf als einen beliebten Zufluchtsort der noctula entdeckt, in welchem aber auch murinus zeitweise sich einfindet. Beachtenswerth ist der Umstand, dass zum Ein- und Ausfliegen blos eme Ritze am oberen Theile des Baumrumpfes gewählt wird, einige breitere Öffnungen in der unteren Partie aber unbeachtet bleiben. Das kleine Flugloch wird sehr benutzt, denn es ist ringsum zerkratzt und an seinen Rändern wie polirt und abge- schliffen. Es fehlen uns bis jetzt eingehendere Beobachtungen über das Verhalten unseres Thieres gegen die so sehr unverträgliche und wehrhafte murimus. Es scheinen sich beide Arten aber zu vertragen, da wir eine murinus bereits halb lebend aus dem unten zugänglichen hohlen Baume im vorigen Herbste herausgezogen, wobei aus demselben Baume einige früh- fliegende Fledermäuse unter schrillen Lauten heraushuschten. In und um Wetzlar haben wir die frühfliegende Fledermaus im Sommer 1877 mehrmals in ansehnlicher Anzahl Abends hoch über das Lahnthal ab und zu wechseln sehen. Und eben in diesen Tagen (1878), als wir dies niederschreiben, beobachten wir die Thiere zu Dutzenden bald hoch, bald tiefer über dem Spiegel und dem Thale der Lahn unweit einiger Vorhölzer, aber auch merk- würdigerweise einige dieser Thiere an der Eisenbahnstation Lollar bei Giessen jagen. Sie kommen aus den alten Eichen des Krofdorfer Forsts und des angrenzenden Wissmarer Gemeindewaldes, mindestens 4 bis 5 Klm. von ihrem Jagdreviere entlegen. Der Verbreitungskreis der frühfliegenden Fledermaus ist ein beträcht- licher. Sie meidet zwar den Norden und im Allgemeinen das hohe Gebirg, kommt hingegen in Mittel- und Südeuropa bis Asien und Afrika, also in der alten Welt, als ein fast überall häufiges, doch mehr dem Süden zuge- wandtes Flatterthier vor. Dennoch scheint die Art in der Wahl ihres Auf- enthaltes wählerisch zu sein, denn man trifft sie nur in gewissen Strichen und bestimmten Walddistrikten ungleichförmig, sporadisch verbreitet. Sie wandert augenschemlich im Herbste und Frühjahre Es ist ihr Wandern öfters (so z. B. an der Donau zu Tausenden westwärts) beobachtet worden, und jeder aufmerksame Naturkundige kann sich davon an ihren Aufent- haltsorten alljährlich, besonders an klaren stillen Herbsttagen, überzeugen, wenn sie in mehr oder weniger grossen, meist unzusammenhängenden, in Abständen von eimander ziehenden Gesellschaften hoch in den Lüften schwalbenartig sich allmälig aus dem Gesichtskreis nach einer bestimmten Richtung hin verlieren. In der Wetterau haben wir bei hellem Tage in unseren Jugendjahren wiederholt solches Ziehen beobachtet. 12* a 180 Die Handflatterer. Chiroptera. Im April werfen die Weibehen gewöhnlich zwei Junge, welche den Müttern bis in die Winterguartiere folgen und daselbst an ihrer falberen, matteren Färbung von den Alten sich wesentlich unterscheiden. Das Thier ist sehr nützlich für den Forst. Es jagt m einer Höhe weit über dem Niveau, in welchem unsere nützlichen kerbthiervertilgenden Kleinvögel thätig zu sein pflegen. Die schädlichsten Forstinsecten werden ihm kraft seines bedeutenden Flugvermögens leicht zur Beute und zufolge seiner ungemeinen Fressgier und seiner ansehnlichen Körpergrösse auch in grossen Mengen. Es verzehrt wie murinus ungesättigt mehrere Dutzend Maikäfer schnell hinter einander. Den mittleren und grossen Dämmerungs- faltern stellt es mit eben solchem Erfolge nach. Der Forstmann sieht in ihm einen willkommenen und jederzeit in besonderen Schutz zu nehmenden Gast seines grünen Reviers. Die rauharmige Fledermaus. V. Leisleri. Es ist gleichsam die verkleinerte Vorige. Die noch etwas stumpfere Nase, die Flügel, der Schwanz mit der entsprechenden Flughaut, das Sporn- bein mit dem sichtlich hervortretenden Lappen und die Fusssohlen erinnern lebhaft an ihre nahe grössere Verwandte. Die Ohren sind kurz, stumpf und weit von einander abstehend und mit ihren umgeschlagenen Aussenrändern hart hinter den Mundwinkeln angesetzt, während die Innenränder am Grunde weit vorspringen. Sie sind wie die Flughäute dick und rauh, dunkelschwärz- lichbraun. Die letzferen weisen neben den Armen und zwischen den Finger- wurzeln eine dichte wollige Behaarung auf, woher der Name der Fleder- maus. Das Verhältniss des 5. zum 3. Finger ist etwas geringer, als das der Frühfliegenden, wie 10 zu 16. Sehr verschieden von dieser ist ihre Grösse, denn die ganze Flugspannung beträgt nur 28,7 bis 30 cm., die Länge des Körpers 5,4 bis 5,7 cm. Die Oberseite ist schwarzbraun, nicht selten mit röthlichbraunem Schimmer, die Unterseite hellbräunlich, gelbgrau an den Haarspitzen. Die oft vorkommenden Abänderungen in der Färbung sind dem verschiedenen Alter zuzuschreiben. Das Jugendkleid ist immer ent- schieden dunkler, düsterer, mehr in's Graue gehend. Diese Art ist ein ausgeprägtes Waldthier und liebt vorzugsweise das Gebirg, wo sie, ähnlich der vorigen, um die höchsten Baumkronen, schon sehr frühe mit gewandtem Fluge segelt. Der Verbreitungskreis der rauharmigen Fledermaus ist ein grosser. Sie geht nördlich weiter als die frühfliegende In Russland erscheint sie im Ural, sowie sie denn in allen gemässigten Ländern Europas vorkommt und als ein Gebirgsthier in den Alpen sehr hoch steigt. Sie bewohnt gesellig als ein entschiedenes Baumthier hohle Stämme der Eichen und Ahorne, ist jedoch wählerisch in ihrem Aufenthalte, aber sehr rauh und unempfindlich gegen Kälte und Nässe, Als Flugloch dient Die Handflatterer. Chiroptera. 181 ihr die unscheinbarste Ritze. Ihre Uberwinterung geschieht in ununter- brochener Erstarrung, ihr Schlaf ist aber kürzer als der der Frühfliegenden. In ihrem Sommerleben haben wir sie im ehemaligen hessischen Hinterlande manchmal auch aussen an Bäumen und einmal in einer Bergwerkshalde gefunden. Sie beisst bei Gefahr oder auch schon bei Berührung scharf um sich mit zornigen, schrillen Lauten. Die Zwergfledermaus. V. pipistrellus. Der Schädel ist wie bei den beiden Vorigen abgeflacht, die Schnauze gewöhnlich ziemlich stumpf und breit, die Ohrmuscheln haben beinahe Kopfeslänge und stehen am Scheitel getrennt von einander, der Ohrdeckel reicht nicht ganz bis zur Mitte der am Aussenrande etwas ausgeschweiften Die Zwergfledermaus. Natürliche Grösse. Ohrmuschel, ist oben stumpf und mit der Spitze etwas nach innen gebogen. Das Spornbein hat einen starken seitlichen Lappen, die schmalen, schlanken Flughäute gehen bis zu den Zehenwurzeln der Hinterbeine, und die Schwanz- flughaut schliesst den ganzen Schwanz ein. Die Länge des 5. Fingers ver- hält sich zu derjenigen des 3. wie 10 zu 14, und zur ganzen Fluglänge, wie 10 zu 26. Die Flugweite schwankt zwischen 15 und 17,1 cm. Flughäute und Ohrmuscheln sind, wie bei allen schmalflügeligen Arten, rauh und dick, sowie dunkel (schwarzbraun) gefärbt. Hie Flankenflughaut in her Nähe der Bauchseiten, sowie em Theil der Oberseite der Schwanz- flughaut und ein Streifen am halben Schienbein hin erscheinen leicht be- haart. Die gewöhnliche Färbung des Oberkörpers ist am Haargrunde dunkel bräunlich oder rostbraun, an den Spitzen mit olivenfarbigem Anhauche, die 182 Die Handflatterer. Chiroptera. Unterseite mit langen, an der Wurzel dunkelbraunen, an den Enden ent- schieden helleren Haaren besetzt. Hier in der Gegend, eine Stunde von Giessen in den Ruinen Gleiberg und Vetzberg bei Krofdorf, sowie um Wetzlar, ist die Färbung des Thierchens gewöhnlich eine entschieden rothbraune. Wo wir sie hier noch selbst angetroffen oder sie uns von Andern geliefert wurde, war sie von der eben beschriebenen Farbe: das Thierchen ist, vom Rücken gesehen, täuschend ähnlich einem Stück rothen Zunders. Die Zwergfledermaus ändert m Farbe und auch zuweilen in Grösse schr ab. Alle diese durch den Einfluss verschiedener Örtlichkeiten hervorgerufenen Varietäten lassen sich aber auf die beschriebene typische Form zurückführen. Koch gibt an, dass die Varietäten des Hochgebirss, besonders der Alpen, in der Regel klemer und dunkler seien, als die der Ebene. Unser Thier ist der Zwerg unter den eimheimischen Fledermäusen, nur von 3,6— 9,3 cm. Körperlänge Am häufigsten und verbreitetsten unter allen unsern Arten, geht diese Fledermaus von den Niederungen bis zu bedeutenden Höhen hinauf. Sie kommt m ganz Europa, mit Ausschluss des hohen Nordens, vor, verbreitet sich über Russland bis in den Ural und Altai und nach Mittel-Asien bis Japan, geht im Schweden und Norwegen bis zum 60. Grad nördlicher Breite, in den Alpen bis über 1500 Meter über die Meerestläche, sowie südlich bis auf die Inseln des Mittelmeers. Abends schon frühe, zuweilen schon vor der Dämmerung, munter, flattert sie in allen möglichen kurzen Wendungen leicht und flink nahe um Gegenstände, wie Gebüsche, mittelhohe Bäume, Häuser, durch Strassen, Hohlwege, Gärten, in Wäldern und Feldern umher. Ihr Jagdgebiet, in welchem sie mehr als irgend eine andere Art regelmässig zu denselben Stellen, z. B. unter T'hor- wege, m offene Hallen, Winkel, Ställe und Böden, wiederkehrt, ist im All- gemeinen ein beschränktes, sowie denn ihr Flug sich im Niederen, im Mittel etwa 3 Meter vom Boden, hält. Sie huscht, ein winziges Luftgeistchen, in zwar nicht sehr schnellem, aber unruhigem, gleichsam neckischem Fluge emsig und unermüdlich an den beschriebenen Orten bis zur Morgendäm- merung umher und vertilgt die der Obst- und Waldbaumzucht gefährlichen Falter, Wiekler und Motten, sowie in Ställen und Behausungen Mensch und Thiere belästigende Fliegen, Mücken und Schnaken in grosser Menge. Noch vorigen Sommer (1880) sahen wir einige Paare die Grasfläche unseres Haus- gartens in zwei Abenden völlig rüumen von den so schädlichen Graseulen. Die Jagd dieser Thiere hielt bis in die Dunkelheit an. Ihre nützliche Eigen- schaft steigert sich nicht wenig dadurch, dass sie die rauheste, unempfind- lichste Art unserer Handflatterer ist und bei dem unfreundlichsten Wetter ihrer Jagd obliegt, wenn keine andere Fledermaus ausfliest. Manchmal schon im Januar bei Thauwetter, gewiss aber im Februar bei einigermassen nicht zu frostiger Witterung fliegt sie schon aus und ist die letzte Art, die im Die Handflatterer. Chiroptera. 183 Spätherbst die Winterquartiere aufsucht, um dort nur bei anhaltendem Froste in einen leisen, oft unterbrochenen Winterschlaf zu versinken. Die ge- ringste Störung weckt sie sogleich, was sie sofort durch ihre schrille Stimme kundsgibt. Die Zwergfledermaus ist eine der geselligsten Arten. Man findet sie an ihren Schlafplätzen fast niemals allem, bei der Überwinterung aber zu Dutzenden, manchmal zu vielen Hunderten klumpenweis unter Ihresgleichen und unter andern Arten, wie noetula, serotinus, discolor und selbst, zwar räumlich getrennt, aber an ein und demselben Orte, mit murinus zusammen. Ihre Lieblingsschlupfwinkel sind schmale Ritze und Spalten in Häusern und Mauern; sie stecken unter Wandbekleidungen, Fensterläden, Gesimsen, hinter Bilderrahmen, Schränken und andern Geräthen, in Kammern, engen Haus- winkeln, sowie endlich allgemein in passenden Gewölben und unterirdischen Gängen und zuweilen auch in hohlen Bäumen der Obstgärten, Alleen und Waldungen, obgleich sie m Bäumen gar nicht oder höchst selten zu über- wintern scheinen. Die Paarung erfolgt bei mildem Wetter meist schon im Februar, sonst aber im März. Im Mai entstehen gewöhnlich zwei Junge, welche den Weib- chen im Juli als Miniaturausgaben der Alten mit unbeholfenem Flattern folgen. Das Thierchen lässt sich in Gefangenschaft halten und zähmen, ist nicht bissig und gewöhnt sich ziemlich rasch an die Fütterung von lebenden und todten Fliegen, mit der man beginnen muss, später auch an allerlei Fleischnahrung und Milch. Mehr als irgend eine andere einheimische Art, ganz abgesehen von ihrer Häufigkeit, verfällt sie dem Raub ihrer zahlreichen Feinde. Ver- schiedene Eulen, sowie auch ganz besonders unter den Tagraubvögeln der Thurmfalk, stellen ihr nach. Die Wiesel, Marder und der Iltis zehnten ebenfalls ihre Reihen, und nach Koch sollen selbst die Mäuse die Thiere in ihren Winterverstecken anfallen und benagen. Der vernünftige, vorurtheilslose Mensch aber wird diese nützlichen, harmlosen Thierchen überall in seinen besonderen Schutz nehmen. Die rauhhäutige Fledermaus. V. Nathusii. Diese Art ist eine Zwergfledermaus und ähnelt sehr der Vorigen, wird auch deswegen oft mit derselben verwechselt. Von dieser unterscheidet sie ihre meist dunklere rauchschwarze Farbe, bei welcher noch zwischen Ohren und Achseln dunklere Fleekenzeichnung sie kennzeichnet; sowie denn Koch auch noch emige (subtile) Unterscheidungsmerkmale gegen pipistrellus in den Vorderzähnen und den Gaumenfalten sucht, welche letzteren zwischen 3. und 4. Falte einen Umschlag aufweisen sollen. Mit pipistrellus hat sie den deutlichen Spornbeinlappen gemein, auch in den diekhäutigen dunklen 184 Die Handflatterer. Chiroptera. Flughäuten und Ohren und der ziemlich dichten Behaarung der Flanken- haut unmittelbar längs des Körpers und der bis zur Hälfte behaarten Schwanzflughaut, sowie in der Form der Flügel, deren Verhältniss zur Breite und Spannweite, stimmt sie mit ihrer Verwandten überein. Doch ist sie grösser als diese, nämlich 4,8 bis 5,1 cm lang. Sie ist auch viel seltener. Unempfindlich gegen Kälte und Nässe, ist sie wie diese aber eine der früh- fliegendsten unserer Arten, und tritt auch den Winterschlaf spät -an. Sie lebt m Ritzen und Spalten der Häuser, Mauern und Bäume und fliegt wie pipistrellus in gewandten, leichten Schwenkungen, oft schon bei eingetretener Dämmerung. Ihre Verbreitungsgrenzen scheinen mit der ihrer verwandten Form ziemlich übereinzukommen. . Die spätfliegende Fledermaus. V. serotinus. Der flachstirnige Kopf weist in der Zahnreihe an den Eckzähnen die grösste Breite auf. Die Ohren, auf dem Scheitel getrennt stehend, sind stumpf und kürzer als der Kopf. Der nach oben verjüngte Ohrdeckel neigt sich mit seiner Spitze nach innen. Die Schwanzflughautnimmt den Schwanz nicht ganz in ihre Spannung auf, indem zwei Glieder desselben frei sind. Das Spornbein besitzt einen Lappen, während die zugespitzten derben Flug- häute sich ziemlich auch in die Breite spannen. Sie erscheinen auf der unteren Seite längs ihrer Basis und an den Unterarmen dicht schmutzig braun behaart, während ihre nackten Partien schwarzbraun gefärbt sind. In der Regel zeigen die Ohren eine düster schwarze Farbe; nur bei jungen Exemplaren findet man die hellere braunschwarze Färbung der Ohren. Der Pelz des Oberkörpers wechselt; ein in’s Graue ziehendes Braun kenn- zeichnet den Charakter der Färbung, während die Unterseite ein Gelbbraun charakterisirt, das bei den Jungen unentschiedener, schmutziger auftritt. Sie bietet eine Flugweite von 335—36 cm bei einer Körperlänge von 7,2—T,D cm. und erreicht somit beinahe die Flugspannung der Riesin unter den einheimischen Fledermäusen, der gemeimen Fledermaus. Ihr Körper erscheint im Vergleich zu dieser aber etwas kürzer, auch schlanker. Ganz dasselbe Verhältniss der Länge des 5. Fingers zu der des 3. und zur ganzen Flügellänge, wie bei der Zwergfledermaus angegeben, findet sich auch bei dieser Art. Ihrer Grösse nach kann sie von ungeübteren Augen mit der Früh- fliegenden verwechselt werden. Es unterscheiden sie von dieser aber ihre breiteren, nicht so langen Flügel. Wer jedoch die so häufig vorkommende Zwergfledermaus einmal gesehen und sich deren Formen eingeprägt hat, erhält emen sicheren Anhaltspunkt des Erkennens sowohl in der Farbe als Gestalt, sobald er sich den Zwerg in sehr vergrösserter Form denkt: denn die Spätfliegende ist eine riesige Ausgabe der schon beschriebenen Zwerg- Hledermaus. | Die Handflatterer. Chiroptera. 185 Sie lebt in hohen Thürmen, altem Gemäuer, hohlen Bäumen und Berg- werksstollen, kommt bei uns überall, an vielen Orten sogar häufig vor. Sie geht im Gebirge, z. B. im Harze und Thüringen, bis zu 500 Meter Höhe, und man will sie in den Alpen schon in viel höheren Regionen angetroffen haben. Ihre Verbreitung ist eine ausgedehnte und erstreckt sich ziemlich gleichmässig über die gemässigte Zone der alten Welt; sie meidet aber den hohen Norden. Ihr Flug geht hoch in tief eingebrochener Dämmerung, wenn gewöhnlich schon der Ruf des Schleierkauzes erschallt, ein Beweis, dass sie im Flug von diesem Nachträuber nichts zu fürchten hat. In ziem- lich gewandten Schwenkungen segelt sie um Thürme der Burgmauern und zwischen Dächern der Städte, Park- und Alleenrändern entlang und beweist sich sehr emsig und geschickt im Insectenfange, besonders von grossen Nachtfaltern. An der Lahn bei Wetzlar, Giessen und Lollar streift sie um Kirchen und an Hüttenwerken, auch hoch über dem Lahnspiegel allsommerlich umher. Vermöge ihres weiten Verbreitungskreises in verschiedenen Localitäten und Klimaten zeigt sie in Grösse und Färbung Abänderungen, welche zu spitz- findigen Unterarten-Unterscheidungen geführt haben, welchen wir zu folgen grosses Bedenken nehmen. Solche subtile Trennungen führen zu Unklarheit, Verwirrung und Zersplitterung und erweisen sich am Ende doch nur als überflüssige Gelehrten-Spielereien. Die zweifarbige Fledermaus. V. discolor. Auch bei dieser Art begegnen wir einem abgeflachten Schädel, sowie weit auseinanderstehenden Oberkiefern, nicht verwachsenen, kurzen, abge- rundeten Ohren und eimem einwärts geneigten, oben breiten, unten einmal gezahnten Tragus. Die Fusssohlen zeigen, wie die der vorigen Art, deut- liche runde Schwielen. Hinsichtlich der gestreckten schlanken Flügel steht die zweifarbige Fledermaus unter den schmalflügeligen den beiden früh- fliegenden Arten, noctula und Leisleri, am nächsten. Das Verhältniss der Länge des 5. zu der des 3. Fingers stellt sich wie 10 zu 15 und zur ganzen Flügellänge wie 10 zu 29. Die Flugweite misst 27,9—29 cm. bei einer Länge des Leibes von 5,4—5,7 cm. Die beiden äussersten Schwanzglieder sind mit der Schwanzflughaut nicht verwachsen. Das Spornbein trägt aber eines der Charakterzeichen der Gruppirung, nämlich den Spornbeinlappen. Ahnlich der rauharmigen kennzeichnet diese Fledermaus der tief unter den Mundwinkel verlaufende Aussenrand und der auffallend vorspringende, am Kiel sich abrundende Innenrand am Grund der Ohren. Das auffälligste Unterscheidungsmal ist aber die Farbe des Thieres, wovon es auch seine Benennung erhalten. Es erscheint zufolge der zwei- fachen Färbung der meisten Haare auf der Oberseite wie bereift, indem. die Farbe am Grund der Haare dunkelbraun, die Haarspitzen weisslich sind, 186 Die Handflatterer. Chiroptera. diejenigen der Unterseite hingegen noch entschiedener weiss hervortreten sodass der Bauch graulichweiss, besonders aber Kehle und Aftergegend, wo- selbst das Haar einfarbig weiss oder weissgelb, sehr gegen die Färbung des Rückens absticht, was diese von allen andern Arten unterscheidet. Je höher weiss Kehle und After erscheinen, mit um so älteren Exemplaren hat man es zu thun; denn die jungen Thiere sind durchgängig weniger hell gezeichnet. Vermöge ihrer schmalen, langen Flügel entwickelt sie ein gutes Flug- vermögen. Man beobachtet ihren hochgehenden Flug schon frühe Abends, wo sie sich um die ragenden Baumwipfel gewandt und rasch umhertummelt. Sie ist ein Waldgebirgsthier und bewohnt vielfach Felsen- und Baumritze; jedoch zeigt sie sich auch um die menschlichen Wohnstätten, lebt in Thürmen, alten Mauern und auf Dachböden der Häuser, woselbst sie sich unter Ihres- gleichen in die feinsten Spalten und Ritze verkriecht, als eine rauhe Art aber nur einen kurzen, halb unterbrochenen Winterschlaf besteht. Ihre Verbreitung ist eine grosse, sowohl in horizontaler als verticaler Richtung. Man findet sie in unseren Gebirgen über 600 Meter hoch, während sie in den Alpen noch weit höher geht. Sie zieht sich aber im Winter aus der Höhe in die Vorberge und Ebenen, um dort zu überwintern. Obgleich an einem und demselben Orte nichts weniger als häufig, ist ihr Vorkommen doch in den meisten Ländern der gemässigten. Zone der alten Welt nach- gewiesen. Die Weibchen erscheinen regelmässig mit zwei Jungen. DienordischeFledermaus. V. Nilsonmn. Die am Grunde getrennten Ohren sind kürzer als der Kopf, ihre Deckel, nach oben stumpf abgerundet, neigen sich mit den nach innen gebogenen Spitzen vorwärts und tragen am Grunde des Aussenrandes einen Zahn. Das Spornbein erscheint mit einem ganz schmalen Lappen, aus der Schwanz- flughaut ragen die beiden letzten Glieder des Schwanzes hervor. Ihre Flügel sind im Vergleich mit denen der gemeinen Zwergfledermaus und der rauhhäutigen Fledermaus etwas breiter; in dieser Hinsicht — könnte man sagen — nähert sich die nordische Fledermaus der Gruppe der breitflügeligen Vespertilionen. Allein sie trägt in dem Vorhandensein eines wenn auch nur unbedeutenden Spornbeinlappens, sowie ganz besonders in den dieken Ohren und Flughäuten den Charakter der Vesperugo-Sippe. Ihre Körperlänge beträgt 5,7 cm. und die Flugweite 26 - 27,3 cm. : Ihre Leibesfarbe zeigt oben ein dunkles Braun, nach unten fahlgelb verlaufend. Ein eigenthümlich goldener Schimmer der Rückenhaare kenn- zeichnet sie vor allen andern einheimischen Arten. Die Flughäute und Ohren sind abstechend schwarz oder schwarzbraun gefärbt. Diese Art geht am weitesten in Europa nach Norden, in Russland bis tief in den Ural; in den gemässigten Ländern lebt sie nur im Gebirg. Ihre Die Handflatterer. Chiroptera. 187 südlichste Grenze in unserem Vaterlande ist Oberbaiern. In den niederen Strichen Mittel- und Süddeutschlands scheint sie nicht vorzukommen, und ist sie auch auf unsern südlichen Gebirgen höchst selten anzutreffen. Sie liefert unter unsern Fledermäusen den sichtbarsten Beweis des Wanderns. Bla- sius hat sie in Russland beobachtet. Er traf sie im Frühling und Vor- sommer daselbst niemals im Norden, den sie erst im August heimsucht. Blasius gibt ihre Wanderstrecken bis zu einer Ausdehnung von zehn Breitegraden an. Ihr gewandter Flug geht ziemlich hoch und ruhig schwebend bei der Wanderung. Kurz nach dem Scheiden der Sonne bemerkt man sie schon ihr Jagdrevier durchfliegen, das auf Waldblössen und Schneissen, auch auf Städte und Dörfer sich erstreckt. Ihre Schlupfwinkel sind enge Ritze in Gebäuden an geschützten Orten. Merkwürdig erscheint bei dieser am weitesten nach Norden vorrückenden Art ihre Empfindlichkeit gegen Wind und Nässe, überhaupt gegen unfreundliches Wetter. B. Allgemeine Kennzeichen der Familie Vampire oder Blattnasen. Phyllorhina s. Istiophora. Es kennzeichnen sich die zu dieser Gruppe gehörigen Vertreter haupt- sächlich durch häutige Gebilde auf der Nase, durch Nasen-Aufsätze, welche zwar in den verschiedenen Arten abändern, sich aber im Allgemeinen als charakteristische Kennzeichen erweisen. Wir können uns über das Wesentliche der Familie nur kurz verbreiten, weil — wie schon oben im allgemeinen Theile über die Handflatterer angedeutet wurde — blos zwei Vertreter einer Sippe gleichsam als Ausläufer der Familie unser heimisches Gebiet in ihrem Vorkommen berühren, im strengsten Sinne also heimisch verbreitete Arten nicht sind. Alle Blattnasen sind südliche Thiere, die meisten Tropenbewohner; ausserhalb der Wendekreise nimmt die Zahl der Arten schon bedeutend ab. Demzufolge sind sie äusserst zarte, empfindliche Thiere, die eine wechselnde Temperatur nicht vertragen können. Ihre Nahrung besteht in den weicheren Arten von Insecten, nicht in solchen mit starkem Torax und harten Flügel- decken; auch lieben sie die Larven der Kerbthiere, besonders die sie in den Wunden und Beulen des von Insecten befallenen zahmen Viehes aufsuchen. Doch erweisen sich die Blattnasen auch als Blutsauger, indem sie den von ihnen angefallenen Theil leicht zerbeissen und aus der Wunde das Blut saugen. Nur die grössesten Vertreter aus den Sippen dieser Familie werden aber durch dies Blutsaugen den Thieren lästig, in seltenen Fällen dem Menschen. Auch unsere beiden vorzuführenden Arten saugen das Blut kleinerer Wirbelthiere. Es sind die kleine und grosse Hufeisennase. Beide gehören zu der Sippe Rhinolophus, welche sich kennzeichnet durch ihre häutigen Nasengebilde in Hufeisen- und Kammform, sowie durch dreigliederige Zehen und die sehr zugespitzten, getrenntstehenden Ohren ohne Tragus, 188 Die Handflatterer. Chiroptera. Die grosse Hufeisennase. Rhinolophus ferrum equinum. Der Kopf bietet bei dieser und der nachfolgenden Art das Auffallendste, Charakteristischste. Er sieht auf dem Scheitel wie aufgetrieben oder ge- schwollen aus. Der Nasenrücken trennt sich durch eine tiefe Einbucht von der Stirne und bietet ein sehr kurzes Nasenbein, das sich in dem schon er- wähnten Aufsatze auffällig macht. Dieser überzieht das Gesicht von der Stirne bis zur Spitze der Schnauze. Der erste von den drei Theilen des- selben, das Hufeisen, liegt über der Schnauze, geht beiderseits in abge- platteten Bogen um die Nasenlöcher bis unter die engstehenden Augen. Der mittlere Theil, der Sattel oder Längskamm, ist eine wulstige Erhöhung mit einer sattelförmigen Vertiefung in der vorderen Hälfte und einem hervorragenden Ende, das sich an den dritten oberen zwischen den Augen sich erhebenden Theil, die Lanzette, schliesst. Sie erscheint unten als ein durch eine erhabene Mittelkante markirtes Hautgebilde, das beider- seits der Kante je drei zellige, durch schmale Querleisten geschiedene Ver- tiefungen besitzt und in ein ausgespitztes Ende verläuft. Das sehr zuge- spitzte, völlig 2 cm. lange Ohr hat keinen Tragus, dafür aber bildet eine tiefe Embuchtung unterhalb der Mitte seines Aussenrandes einen Lappen am Grunde, welcher an der Ohröffnung vorsteht. Die Ohrmuscheln ent- halten je bis ein Dutzend Querfalten und einen bogigen Kiel an der Innen- seite. Die langen Hinterfüsse sind mit der Seitenflughaut bis zur Fusswurzel verwachsen und der kurze Schwanz ganz mit der Periscelis. Die grosse Hufeisennase stellt sich als ein breitflügeliger Handflatterer dar, der auch keinen Spornbeinlappen trägt. Ihre zarten, nackten, hellen, nur an den Bauchseiten feinbehaarten Flughäute haben eine Spannung von 31,5 bis über 34 em., während die Länge des Körpers 5,7 bis 6 em. beträgt. Das Verhältniss der Länge des 5. Fingers zum 3. ist das gewöhnliche der Breitflügler (10 zu 12) und das des 5. Fingers zur ganzen Flügellänge stellt sich durch die Proportion 10 zu 25 dar. Das Haar ist länglich und fein, oben rauchfarben, zuweilen mit röthlich-braunem Schimmer, unten gelblich weiss. Die Jungen sind mehr aschgrau. Am einzelnen Haare hat man 1100 Glieder gezählt, wovon ein Drittel charakteristisch. Die grosse Hufeisennase ist unter ihren Sippenverwandten die grösseste, von welcher bisjetzt, einschliesslich ihrer und der folgenden, 4 Arten be- kannt sind. Sie kommt spät Abends zum Vorschein und flattert schwerfällig und ziemlich niedrig im Gärten, um alte Mauern und Schlösser herum. Sie schnappt vorzugsweise weiche Insecten, wie Nachtschmetterlinge und Zwei- flügler. Auch ist sie am Wilde herumflatternd und dieses ansaugend beob- achtet worden. "Es scheint, als wenn das Blutsaugen bei ihr und ihren Ver- wandten eine untergeordnete Rolle in ihrer Lebensweise spielte, der Insecten- fang hingegen die Haupternährung bildet. Die Handflatterer. Chiroptera. 189 Ihren Winterschlaf hält sie mit der folgenden Art in der charakteris- tischen Einhüllung ihrer Leibestheile, nur an den Zehen der Hinterbeine unter Ihresgleichen frei hängend. Tief in Gängen und Gewölben von alten Burgen und Höhlen trifft man sie. Ihr Winterschlaf beginnt im Spätjahr und endigt schon frühe. Trotz ihrer Zartheit geht sie hoch, bis 1509 Meter in den Alpen. Sie ist aber diesseits derselben wenig verbreitet und ihr Auftreten in Deutschland ein sehr seltenes und vereinzeltes. Als die nörd- lichste Grenze ihres Verbreitungskreises gibt Koch Thüringen an. Der Süden und zwar die Mittelmeerländer und das mittlere Asien bis Japan hin sind ihre eigentliche Heimath. Die kleine Hufeisennase. Rh. Hipposideros. An dieser Art wiederholt sich in kleinem Massstabe der Kopf mit seinem Nasenhautgebilde von der grösseren Verwandten, wie denn überhaupt das ganze Thier, einige kleine Unterschiede ausgenommen, ein verkleinertes Bild der vorhergehenden Art genannt werden kann. Ihre Flügel sind noch etwas breiter, als die der grossen Hufeisennase, während der vordere Rand des Hufeisens gekerbt, der der grösseren aber glatt erscheint. Die normale Färbung ist im Ganzen bei dieser Art im Vergleich zur grossen Hufeisen- nase heller, in’s Fahle spielend. Wie ihre Verwandte die grösste Art der Sippe Rhinolophus vorstellt, so repräsentirt diese die kleinste. Ihre Körper- länge beträgt nur 3,6 bis 4,2 cm. Vermöge ihrer verhältnissmässig kurzen und breiten Flügel flattert diese Art langsam und wenig gewandt umher. Wie die Vorige beginnt sie erst mit der Dunkelheit ihren Ausflug, nachdem sie eine Zeit lang vorher schon in den Gewölben und Gängen ihrer Zufluchtsorte herumgekreist. Diese sind die bei der grossen Hufeisennase erwähnten Verstecke. Auch die Nahrung hat sie mit der Letzteren gemein. Interessant ist die Beobachtung von Kolenati, dass die gemeine Fledermaus (V. murinus) von der kleinen Hufeisennase an den Flughäuten angesaugt wird. Dasselbe soll sie an zahmem Federvieh thun. Ihr Verbreitungskreis ist ein weit nördlicherer, als derjenige der grossen Art, indem sie von der Nord- und Ostsee bis an’s Mittelmeer, vom äussersten Westen Europas bis nach Kaukasien anzutreffen ist. Es fällt die ungemeine Wachsamkeit und Vorsicht bei der kleinen Huf- eisennase auf. Ihrem Aufenthalte kann man sich in ihrer Sommerruhe kaum nähern, ohne dass sie erwacht. Selbst in der Ruhe wendet sie den Kopf, ähnlich wie die Vögel, hin und her, um zu sichern. Koch beschreibt sie als äusserst munter und niedlich, indem sie sich öfters leckte und putzte und ein zutrauliches Wesen annähme. Ihr Winterschlaf wird als sehr veränder- lich, individuell verschieden geschildert. Koch will die Männchen als im Allgemeinen länger der Winterruhe hingegeben beobachtet haben, als die 190 Nager. Rodentia. Weibchen. Auch selbst während des Winterschlafs zeigen sich die einzelnen Individuen verschieden. Während manche anhaltend schlafen, verändern andere beständig ihre Schlafplätze oder schwärmen in den Räumlichkeiten ihrer Verstecke umher. Die 'Thierchen sind sehr erregt und an ihren Na- sengebilden, sowie am ganzen Körper sehr empfindlich, also dass eine un- sanfte Berührung ihnen schon schadet. Aber auffallender Weise bemerkt man bei dem zärtlichen Thiere keine sonderliche Empfindlichkeit gegen Wind und Nässe; weshalb es bei regnerischem und windigem Wetter nicht ausfliest. Il. Ordnung. Nager. Rodentia. Allgemeines über die Nager. Im Allgememen lässt sich sagen, dass die Nager sich der ausgedehn- testen Verbreitung erfreuen und alle Erdtheile sie herbergen, dem Klima zum bewundernswürdigen Trotz, sobald dieses nur noch das Vorkommen der Pflanzen gestattet. Blasius stellt ihnen das Zeugniss aus: „Mitten im ewigen Schnee und Eis, wo stellenweise noch ein warmer Sonnenstrahl nur auf wenige Wochen ein kurzes und kümmerliches Pflanzenleben hervorlockt, auf den stillen, einsamen Schneehöhhen der Alpen, in den weiten, öden Flächen des Nordens findet man noch Nager, welche nicht nach einer schöneren Sonne sich sehnen. Aber je reicher und üppiger die Pflanzenwelt, desto bunter, mannigfaltiger wird das Leben dieser Thierordnung, welche kaum ein Fleck- chen Erde unbewohnt lässt.“ Hiermit ist wahrlich genug gesagt über die Bevorzugung dieser Thiere, sich selbst bis zur äussersten Grenze der Exi- stenzmöglichkeit wenigstens durch einzelne Arten vertreten zu lassen. Und wie der Verbreitungskreis der Nager ein weit umfassender ist, so stellt sich ihr Wesen und Wandel, ihre Lebensweise in mannigfaltigen Ver- schiedenheiten, in wahrer Vielseitigkeit dar. Untersuchen wir die Aufent- haltsorte, so ‘begegnen wir droben in luftiger Höhe und im Innern der Bäume meisterhaften Kletterern, drunten auf der Erde und unter der- selben vorzüglichen Gräbern, in Flüssen und Teichen tüchtigen Schwim- mern. Wir sehen äusserst finke, gewandte, muntere, lebensfrohe und geschmeidige Wesen die anmuthigsten und unterhaltendsten Bewegungen ausführen, während Andere ein trägeres Wesen an den Tag legen. Dort gefällt uns die schlanke Gestalt, hier missfällt uns der plumpe Körper- bau. An dieser Art nehmen wir strenge Absonderung der Individuen, ja sogar gegenseitige Befehdung und nur Verträglichkeit der Geschlechter, so - lange die Paarung währt, und der Familien bis zur erreichten Selbststän- digkeit der Jungen wahr; an jener Art ist die Geselligkeit hervortretend und Nager. Rodentia. ol dann auch wieder innerhalb der friedlichen Nachbarschaft doch der ent- schiedene Hang des Einzelnen zur Begründung einer eignen Hauseinrich- tung. Obgleich die Meisten von den Nagern mit scharfen Sinnen begabt sind, stehen sie doch geistig den Raubthieren nach. Mit grosser List und bewundernswerther Überlegung führen sie keine Thaten aus, wie so manche der Letztgenannten. Vorzugsweise nähren sie sich von pflanzlichen Stoffen von der Wurzel bis zur Spitze, vom jungen Knospentriebe bis zur Frucht, von Knollen, Kräutern, Gräsern, von der Rindenschale bis zur Holzfaser. Aber auch thierische Kost wird nicht von ihnen verschmäht, wiewohl sie im Allge- meinen gerade keine förmliche Jagd machen auf kleine Säugethiere und Vögel oder auf Kerbthiere. Einige von ihnen wetteifern in der Baukunst mit den Vögeln, andere zeigen ihre Kunst in der Formung unterirdischer Röhren und Kesselwohnungen. Eine nicht geringe Artenanzahl sammelt Wintervorrath in die bereitete Wohnung ein und bringt die Winterzeit im Innern der- selben im Erstarrungszustande, in tiefem Schlafe zu. Die Vermehrungsbe- fähigung ist bei vielen Arten staunen- und zu Zeiten grauenerregend, und weil die Nager den allerschädlichsten Thieren zugezählt werden müssen, so liegt der Mensch in fortwährendem Kampfe mit denjenigen Arten, welche seine Erzeugnisse in verwüstender Weise angreifen. Bei allen Massregeln aber, welche die menschliche Gesellschaft zur Zeit aussergewöhnlicher Vermehrung derselben angewendet hat, und bei aller Feindschaft, mit welcher ihnen von Verfolgern unter den Raubthieren zugesetzt wird, ist es immer wieder die Natur selbst gewesen, welche durch Witterungseinflüsse und entstehende Seuchen der Vermehrung Einhalt gebotund die normalen Verhältnisse wieder herstellte. Hinsichtlich der Ursachen solcher Vermehrungserscheinungen hat es bis jetzt die Forschung noch nicht zu erschöpfenden Erklärungen ge- bracht. Das hervorragendste Unterscheidungsmerkmal der Nager trägt die Ein- richtung des Gebisses. Es fehlen die Eck- und Lückenzähne, und an der Stelle der Schneidezähne stehen im Unter- und Oberkiefer je zwei grosse Nagezähne, von denen das obere Paar immer stärker als das untere ist. An der Wurzel sind die Nagezähne drei- oder vierkantig, bei den einzelnen Arten theils flach, theils gewölbt, hier mit Furchen versehen, dort glatt, in Färbung wechselnd zwischen Weiss, Hellgelb und Rothgelb. Die Beklei- dung der nach vorn gekehrten äusseren Fläche dieser Zähne besteht in hartem Schmelz, der sich oben zuspitzt oder zum meiselartigen, schneidigen Rand gestaltet. Die Form ist eine bogenartig gekrümmte. Die oberen und unteren Paare schleifen sich gegenseitig zu immer neuer Schärfe durch Auf- einanderreiben ab, und ihre Abnutzung wird stets ersetzt durch das uner- schöpfliche Nachwachsen, welches von dem Nachschub des Erzeugungskeimes in der Zahnwurzel tief in der Wurzelhöhle des Kiefers bewerkstelligt wird. Die Backenzähne, deren Anzahl in jedem Kiefer mindestens zwei und höch- 192 Nager. Rodentia. stens sechs beträgt, haben gewöhnlich Schmelzleisten oder Schmelzhöcker. Charakteristisch ist die Eimrichtung der Unterkiefer, welche bei dem Nage- geschäft sich vor- und rückwärts bewegen können. Ebenso fällt die Beweg- lichkeit der unteren Nagezähne in die Augen, welche sich während des Nagens seitlich auseinanderschieben und auch der Bewegung der unteren Kinnlade nach vorn und zurück folgen. Das Gebiss befähigt die Nager zu ausserordentlichen Kraftleistungen und führt ihre Bemühungen zu gross- artigen Erfolgen. Das Nagen ist ihnen Bedürfniss, und wenn diesem Be- dürfniss nicht Genüge geschieht, so wachsen die Nagezähne so weit über die Grenze des Gewöhnlichen hinaus, dass eine weitere Ernährung des Thieres unmöglich oder wenigstens in hohem Grade erschwert wird. Die gewissen Nagern eigenthümlichen Backentaschen stehen mit den Innenseiten der Lip- pen in Verbindung und gehen bis zur Schultergegend. Sie werden durch einen Muskel beim Füllen mit Nahrungsvorrath geöffnet. Unter den zur Familie der Hörnchen (Sciurina) gehörenden Tag- hörnchen (Sciuri) führen wir nur unser Eichhörnchen (Sciurus vul- garis) als die einzige einheimische Art eingehend dem Leser vor; alle Arten dieser Gruppe stimmen in Ansehung ihres Körperbaues und ihres Wesens und Wandels in höchst auffallender Weise überein, und dieses Thierchen darf als Urbild gelten. Das Eichhörchen misst mit dem 20 cm langen Schwanz ungefähr 40—50 cm in die Länge und 10 cm in die Höhe. An dem hasen- ähnlichen Kopf sind vor allem die hervorstehenden grossen Augen und die mit Pinselbüscheln hervortretendem im Winter als im Sommer versehenen grossen Ohren auffallend. Die Vorderbeine stehen an Länge den Hinter- beinen bedeutend nach; die Vorderpfoten sind mit vier Zehen und einem Daumenstummel, die Hinterpfoten mit fünf Zehen versehen, die Fusssohlen nackt. Der schlanke Leib trägt im Sommer braunrothe Oberfärbung, die nach den Seiten des Kopfes hin in’s Graue spielt, und weisse Unterseite. Im Winter ist der Haarpelz der Oberseite durchgängig mit Grau unter- mischt. Es kommen nicht selten schwarze, nur sehr selten dagegen weisse und gefleckte Spielarten vor. ‘Der Schwanz, welcher nur bei Spielarten zu- weilen in der Farbe abändert, trägt die Färbung der Oberseite des Leibes und ist zweizeilig und sehr buschig. Das Gebiss ist einer genauen Beach- tung werth. Die Backenzähne der oberen Kinnlade haben stumpfe Quer- höcker. Vor denselben stehen zwei keilförmig zugespitzte Nagezähne. Der Unterkiefer ist beiderseits mit vier Backenzähnen versehen, neben welchen die beweglichen Nagezähne hoch hervorragen, die sich beim Zernagen von Schalen seitwärts auseinanderschieben und mit dem Kiefer vor- und rück- wärts bewegen, wodurch das Eindringen der Nager in die Ritze der Nuss- schalen von der Seite ermöglicht und das Zerbrechen erleichtert wird. Die Bewegungen der Nagezähne und Kiefer sind beim Nagen äusserst schnell, und eine Nuss wird unzählige Mal um sich selbst gedreht. Nager. Rodentia. 193 Die Nahrung des Eichhörnchens kann eine vielfältige genannt werden Vorzugsweise hält es sich an die verschiedenen Nadelholzsamen, aber auch an Knospen und junge Triebe. Weiterhin verzehrt es Nüsse, Beeren, Bucheln, Eicheln und gewisse Pilze. Junge Vögelchen und Vogeleier sind im Be- reiche seines Wandels nicht sicher vor ihm; ja Gelegenheit, Erfahrung und individuelle Neigung gestalten esnicht selten zu einem sehr gefährlichen Vogel- nestplünderer. Auch Insekten werden von ihm nicht ganz verschmäht. So verzehrt es im Mai gar nicht selten Maikäfer. Dadurch, dass das Eichhörn- chen die Gipfel- und Seitentriebe junger Fichten- und Föhrenschonungen in grosser Anzahl abbeisst, wird es für die Forstkultur ein schädlicher Be- wohner der Wälder. Obendrein zernagt es auch die Stämmchen der Fich- ten, Föhren und Lärchen spiralisch oder im Rechtecksform, und dies ge- schieht hauptsächlich im Vorsommer, wo es an Sämereien des Waldes fehlt. Fragen wir nun, warum es diese Stämmchen so gerne ringelförmig schält und so die Ursache zum Absterben derselben gibt, so finden wir die Ver- suchung und Anlockung hierzu in dem zwischen der Rinde und dem Holz zur Bildung der Jahrringe sich ansammelnden verdickten Safte, Campium genannt. Grosse Haufen von einjährigen Trieben der Fichten findet man ferner an vielen Stellen des Waldes, wo die Eichhörnchen sich aufhalten, und in den Morgenstunden kann man sich überzeugen, dass diese sogenannten „Absprünge“ nicht von dem Kreuzschnabel bewirkt, auch nicht von heftigem Winde herabgepeitscht werden, wie man mancherseits annimmt, sondern von ihm, dem verderblichen Nager, herrühren. In unseren deutschen Forsten unternehmen die Eichhörnchen nur ge- ringere Streifereien und Vereinigungen an besonders ergiebigen Nahrungs- plätzen. Grössere Wanderungen und Zusammenrottungen kommen in Deutsch- land nicht vor. Dagegen berichtet Radde über ziemlich regelmässige jährliche Wanderungen vieler Eichhörnchen in Russland nach den Orten, wo die Zirbelkiefern in grosser Menge vertreten sind und reiche Zapfen tragen, deren Samen von den Thieren geliebt wird. Wir wollen dem Leser unsere eingehenden Beobachtungen über den Familiennestbau des Eichhörnchens nicht vorenthalten, denn die Kunstfertig- keit des allein bauenden Männchens ist so bewundernswürdig, dass wir keinen Augenblick darüber zweifelhaft sind, dass die Art und Weise, wie das Thier verfährt, ein lebhaftes Interesse erwecken wird. Es entspricht der säuberlichen Haltung des Eichhörnchens, dass es im Bereiche der mannig- fachen Stoffe, die ihm der Wald zur Bereitung des Nestes bietet, wählerisch und aussuchend verfährt. Die feuchten Erdmoose liebt es nicht, sondern es begibt sich an die trocknen Stellen der Felsen und Bäume und löst von Steinen und Asten das Astmoos und öfters auch Bartflechte. Beladen mit grossem Bündel dieser Baustoffe eilt es hauptsächlich in den Frühstunden des Tages dem erwählten Nistplatz auf dem Astquirl eines Nadelbaumes zu. A. u.K. Müller, Thiere der Heimath. 13 194 Nager. Rodentia Diese Bündel werden sorgfältig verarbeitet durch die fingerartigen Zehen der Vorderfüsse und durch die Speichelbenetzung und die Formung zu Kugelballen mittelst des Mundes. Auf einer Unterlage von dürren Reisern fügt nun das Eichhörnchen diese Ballen drückend und glättend ein und reiht so die Stoffe ‘aneinander, im Mittelpunkte der Nestperipherie sitzend und seinen eignen Körper als Maassstab gebrauchend, und bildet nach und nach eine diehte und dieke Wandung um sich herum. Die Kugelgestalt des Nestes formt sich nach oben ein wenig oval. Die das Nest umgebenden Äste und Zweige werden oft geschiekt.mit in die Wohnung eingeflochten, und zum Schluss umgibt der Baumeister dieselbe gerne mit dürren Reisern. Das Innere erscheint gar sorgfältig geglättet und zart geebnet, wozu bisweilen Schafwolle sehr gute Dienste leistet. Ein Eingangsloch ist gegen Osten oder Südosten gerichtet, welches rund geformt und schön geglättet wird. Nicht wenige Eichhörnchen verwenden auch den Bast der Eichen und Aspen, der fein zertheilt und fest eingepolstert wird, zur Bekleidung der Innenwand. Wenn das Thier ein Elsternest zur Grundlage seiner Wohnung wählt, dann belegt es den Lehmboden desselben mit Moos und Flechten und baut in der bereits beschriebenen Weise die Mooswohnung über sich in Eiwölbung auf. Da es gern die einmal errichtete Wohnung jährlich wieder benutzt und aus- bessert, so wird das Nest nach und nach so fest und seine Masse so zusam- mengedrückt, dass sie nur mit Mühe entwirrt und zerzaust werden kann. Die Eichhörnchennester, welche in hohlen Bäumen stehen, sind von geringerem Umfang, ebenso die Sommer- und Schlafnester, die sich gewöhnlich in mehr- facher Anzahl im Aufenthaltsbereiche des Thieres befinden. Jene beschrie- benen schöngebauten, dauerhaften Nester dienen zur Winterwohnung und zur Geburtsstätte der Jungen. Werfen wir nun beobachtende Blicke in das Wesen und den Wandel des munteren Bewohners unserer Wälder und führen wir uns sein Bild zu den verschiedenen Jahreszeiten im Freien vor. Noch sind die Bäume kahl, und ihre nackten Wipfel werden vom Früh- lingssturm gepeitscht. Noch hat sich unser empfindliches Eichhörnchen vor dem tobenden Wetter in das warme, beschirmte Winternest geflüchtet. Da hat es noch manche Sturmnacht und manchen Regentag zu harren, die das kaum begonnene heitere Spiel der Liebe unterbrechen. Jetzt liegt es zu- sammengerollt in seinem kugeligen Bette, der luftigen und doch so warmen Wiege, und lässt sich schaukeln wie ein verzognes Kind und einwiegen in die Träume von dem, der mit Macht zur Herrschaft heranzieht und auch seine Seele bereits in den Zauberkreis seines Wirkens gezogen hat, Wer nicht vertraut ist mit dem Leben dieses beweglichen, ewig heitren Thierchens der ahnt nicht, dass in dem sturmgepeitschten Neste da droben auf der Fichte oder der Buche ein reizendes, allerliebstes Naturkind schläft, das von Zeit zu Zeit erwacht und sein Köpfchen mit den grossen lebhaften Augen Nager. Rodentia. 195 und den stehenden Büschelohren hervorstreckt, um hinaus, hinauf und hinab zu schauen. Nach wem? Wer kann es ergründen? Vielleicht nach dem Wetter, vielleicht nach dem Weibchen, um das es gestern unter stillerem Himmel zärtlich zu werben begonnen — vielleicht auch nach den Neben- buhlern, die ihm den Weg kreuzten und jetzt wieder bei der Erinnerung die Kampfeslust wecken. Oder wer weiss, ob nicht der Hunger seine Abneigung, zur Sturmeszeit sich heraus zu wagen, besiegt und sein Verlangen nicht nach dem Astloch da drüben steht, in welchem es Nüsse, Bucheln und Eicheln eingetragen hat? Verweilen wir noch ein wenig hier in gedeckter Stellung, um die Ursache seines Erscheinens zu erfahren. Die Heftigkeit des Sturmes hat nachgelassen, und der Märzhimmel schimmert mit blauer Luft durch die Wipfel der Bäume. Sieh’ da! Das Eichhörnchen ist zur Hälfte hervorge- kommen; mit gestreckten Vorderläufen steht es in gehobner Stellung auf einem Aste, den das Nest begränzt. Regungslos bleibt es einige Secunden in dieser Stellung, dann schnellt es mit einem kleinen Aufschwung den Hin- terleib mit dem zweizeilisen, bebuschten Schwanz (Fahne) hervor. Nun be- ginnt das Putzgeschäft. Die Hinterfüsse ausgebreitet, den Schwanz im Bogen und fächerig längs dem gekrümmten Rücken in die Höhe gestellt, den Vorderleib erhoben und den Kopf etwas gesenkt, entwickelt es mit den Vorderpfoten eine Geschäftigkeit, die an die drolligen Aeffchen der zoologi- schen Gärten und Menagerien erinnert. Von den Ohren bis an die Nase wird gekämmt, gebürstet, gekratzt und geglättet. Die langen Finger mit den scharfen Nägeln vertreten den Kamm, und Beine und Pfoten die Bürsten. Das ist eine Rührigkeit, Beweglichkeit und Geschmeidigkeit der Glieder, eine so anmuthige Komik in Stellung und Haltung, dass einem das Herz im Leibe lacht und man sich nicht satt sehen kann. Offenbar edler und schöner in Gestalt und Haltung erscheint es jetzt, wo es in gestrecktem Galopp über die Aste läuft, und Erstaunen erfasst uns, während es einen weiten Bogen- satz nach unten ausführt, dessen Ziel uns erst bekannt wird, indem es einen Zweig des nächsten Baumes greift und durch eine schwunghafte Wendung in das Innere des Geästes vordringt. Weiter geht es auf und nieder in kleinen Umwegen unverkennbar einem bestimmten Ziele zu. Scharf haken sich die Nägel in die Rinde der Stämme ein, wenn es abwärts klettert oder rutschend mit Geklapper aufwärts steigt. Fest tritt es den Ast, von dem es einen srossen Bogensprung unternimmt, leicht fliegt es in hüpfendem Sprung, wenn es eine Strecke dahinläuft. Plötzlich macht es einen Halt und richtet seine Aufmerksamkeit nach oben. Dort steht ein anderes Nest, noch höher und luftiger, als das erste. Im Nu ist es oben angelangt, und nun beschnuppert es mit dem Näschen die Wand des Nestes, dann guckt es hinein und verschwindet bis auf die Hälfte des Schwanzes. Aber heftig prallt es zurück und nimmt eine gestreckte Stellung auf Schrittweite vom Neste ein. Zögernd und doch voll Leben und sichtbarer Erregtheit versucht es von Neuem einzuschlüpfen. 13* - 196 Nager. Rodentia. Da fährt prächtig in heftigem Andrang ein zweites Eichhörnchen aus dem Neste hinter ihm drein und folgt ihm jagend von Ast zu Ast. Das Paar hat das Spiel der Paarung begonnen. Das Männchen naht und flieht, murkst und pfeift, rennt und duckt sich nieder, schmeichelt und dringt heftig auf das Weibchen ein. Dieses wehrt ab und lockt wieder an, thut gleichgiltig und sucht zu gefallen, geht von den Ausserungen augenblicklicher Zornes- aufwallung zu wiederkehrender guter Laune über. Das Springen und Jagen geschieht so hastig, dass wir kaum den Wendungen zu folgen und unser Entzücken über das ebenso gewandte als schöne Naturspiel nicht zurückzu- halten vermögen. Diese Baumhewohner sind auf den schwanken Zweigen daheim, wie wir auf dem festen Boden. Doch siehe, der Himmel verfinstert sich, und mächtiger zieht wieder der Sturm heran. Das Eichhornweibchen lauscht, ihm wird unheimlich, und schnell kehrt es unter sein Schutzdach zurück. Das Männchen will ihm nach — da kracht mahnend ein dürrer Ast in der Nähe und scheucht es m das Astloch einer alten Eiche. Kurz war das Spiel des anmuthigen Paares, kurz, wie der Sonnenblick vom Himmel. Auf unseren Sommergängen stossen wir auch auf die Tummelplätze der Eichhörnchen und fragen uns unwillkürlich: Was mag aus dem mun- teren Eichhornpaar geworden sen? Hat der Edelmarder das eine oder andere erschlichen ? Oder hat er auf die Fliehenden eine Hatze unternom- men und sich das schwächere Weibchen zum Opfer ersehen? Ist ein be- fiederter Räuber unter die selbstvergessenen, glücklichen Thiere gestossen, und haben sich die Räuberfänge in den Leib des sonst ihnen durch Aus- weichen hinter Stämme und Aste glücklich entronnenen Flüchtlings ge- graben? Aber was schaut dort aus jenem Astloch der alten Eiche, in welches bei dem Märzsturm das alte Männchen floh? Ein Miniaturbild von ihm, ein Söhnchen oder Töchterchen der Alten, ganz das Kind seiner Eltern. ‚Seine Art des Umsichblickens, Herausfahrens, Niedersetzens und Putzens ist die ihrige; sein Temperament, sein neckendes Spiel mit den da und dort zum Vorschein kommenden Geschwistern, wie erinnert das an die unterhaltende Liebenswürdigkeit der Eltern. Seine „Männchen“, die es macht, seine Kreuz- und Quersprünge, seine Geschäftigkeit beim Öffnen einer Frucht, sein trotziges Aufstampfen, wenn die Geschwister es necken und stören — alle diese Ausserungen der lebendigen Triebe zeigen uns, dass es ein Kind des Augenblickes ist. Nur tritt der Unterschied im Klettern gar deutlich zwischen ihm und den in’s Spiel der Jugend eingreifenden Eltern hervor. Diese bekunden ihre volle Meisterschaft, während die Kleinen sich noch vielfach unbeholfen zeigen. Aber in der Nachahmung der trefflichen Führerin blickt die Gewissheit durch, dass aus den lernbegierigen, aufge- räumten Schülern selbst bald Meister sich entwickeln. Werden die Jungen des späteren „Satzes“ mit denen des früheren nur erst veremigt, dann treten Nager. Rodentia. Kehl diese jetzt noch unfertigen Turner ganz anders auf. Bis dahin haben sich ihre Muskeln und Sehnen kräftiger entwickelt, und der Schauplatz ihres Thuns und Treibens hat sich erweitert. Sie sind unter der Zeit der Tren- nung von der Mutter auf selbstständiges Handeln angewiesen; sie lernen die Schlupfwinkel genauer kennen, mit einem Wort, sie orientiren sich. Zur Doppelfamilie vereinigt, gehen alte und junge Eichörnchen der reichen Erntezeit entgegen. Der Spätsommer und der Herbst nahen. Es zeitigen die Nüsse, ihre Lieblingsspeise, die Bucheln und Eicheln, die mancherlei Früchte, deren Kern herausgeschält und geöffnet wird. Jetzt gehen die Wanderungen an nach den Nussbäumen der Gärten vom Walde aus über Bäume und Sträucher, und im Gezweig knackt und raschelt es, und die Schalen fallen zur Erde, und droben sitzt das rothe Schelmehen und nascht und freut sich, wie der Vogel im Hanfsamen. Zuweilen kommt es zu Boden, auf den eine Nuss herabgerollt ist; schnell erfasst es sie und eilt auch hier in gewandtem Galopp dem Stamme wieder zu. Es hat dich erblickt, der du es anschauend mit den Augen verfolsst. Wie es sich jenseits der Aste kletternd zu verbergen weiss und jetzt hier und einen Augenblick nachher mehrere Schritte weiter oben mit dem Köpfchen hervorlugt! Es hilft Dir kein Laufen um den Stamm herum. Dort liegt es platt auf dem Aste — das siehst Du an der überhängenden Fahne — oder die Krone des Baumes birgt in der höchsten Höhe seinen schlanken Leib. Das Laub fällt raschelnd von den Bäumen. Der Hochwald entfaltet den Reiz seines Spätherbstkleides. Es ist, als werde der alternde Geselle kindisch und wolle mit bunten Farben seine Runzeln und Blössen decken. Aber nein! in diesem Roth und Gelb leuchtet ein elegischer Ernst, und drunter blickt hier und da das Grün noch durch, als wolle der welke Greis sagen: so war ich einst, und so bin ich jetzt. O traurige Wandlung! Die dich in deiner Frühlingsschöne aus weiter Ferne, vom Heimweh getrieben, "aufsuchten, die Sänger alle, die du gastlich aufgenommen, sie sind fortge- zogen. Der Himmel entzieht dir mehr und mehr den huldvollen Blick, nur spärliche Tage noch spinnen ihre Silberfäden um dein alterndes Haupt, und das Gold der Abendsonne verklärt es nur zuweilen noch. Der Winter naht. Unruhe und Sorge hat sich der Thierseele bemächtigt. Auch das Eichhörnchen ist aus seinem sorgenlosen Behagen geweckt. Es hört den Sturm heulen, den Regen fallen, es wird empfindlich berührt von dem kalten Duft und Reif des Morgens und Abends. Sein Leib schreckt zusammen vor der strengen Miene der Witterung. Auch seine Seele erbebt im Gefühle: dir droht Gefahr. Längst hat es begonnen, von Ahnungen bewegt, in die Höhlungen der Bäume, unter Steine und selbstgegrabne Löcher am Boden, in die Nester der Krähen und Elstern Vorräthe anzusammeln, um zur Zeit der Entbehrung den Hunger stillen zu können. Auch vor Kälte suchtes sich zu schützen. Es zieht sich allein oder in Begleitung mehrerer Kameraden in sein Nest zurück und verstopft 195 Nager. Rodentia. den Ausgang, der dem Wetter ausgesetzt ist, sorgfältig. Tagelang verweilt es hier in behaglicher Ruhe, bis der Hunger es weckt und an das Licht herausführt, wo es die hängengebliebenen Bucheln und Zapfen pflückt und aus den heimlichen Speisekammern und Speichern die Früchte seines Fleisses hervorholt. Bald aber wird ihm die Ernährung unter dem Druck der eisigen Kälte und bei der Tiefe des lange verweilenden Schnees immer schwieriger und mühsamer. Die Noth ist da in ihrer furchtbaren Gestalt. In der Schlafkammer lauert der Hunger mit weckender Pein, draussen scheucht das Schneegestöber es in das Lager zurück, und den Edelmarder selüstet es nach seinem Fleisch. Hier und dort stürzt entkräftet ein nach- barlicher Genosse seiner einstigen Spiele hinab in den Schnee und stirbt. Es rafft alle seine Krärte zusammen und durchsucht die zugänglichen Stellen unter den dicht zusammengedrängten Fichtenzweigen, überall, wo es die Er- fahrung einen kleinen Beitrag zur Fristung des gefährdeten Lebens ver- muthen lässt, scharrt und untersucht es. Kümmerlich schlägt es sich durch den strengen Winter, bis endlich unter gewaltsamem Einbruch der Wetter- schläge oder unter der allmäligen Wirkung der Sonnen- und Luftwärme Eis und Schnee zerrinnen und der Frühling wiederkehrt. Alles Leid der bittern Noth ist vergessen, in der Seele unseres wie neugebor'nen Eichhörchens lebt und webt es in Lust und Liebe. Freue dich nur und treibe dich spielend und springend im prächtigen Walde um- her; nur möchten wir dir, wenn du es begreifen und deiner Naschnatur widerstehen könntest, zurufen: schone die jungen Blüthen und Nadeltriebe, nach denen du so gerne im Mai deine langen Finger ausstreckst und deren du mehr in kindischem Übermuth zu Boden wirfst, als zu Mund führst. Hüte dich, dass dir im Beschützer des Waldes kein überlegenerer Feind er- steht, als im.Edelmarder. Verdienst du doch wegen deiner überall schäd- lichen Bethätigung in Wald und Gärten die ernstlichste Verfolgung! Zur Familie der Hörnchen, Sciuri, gehören die Murmelthiere, Arctomys, welche als die nächststehenden Verwandten der Präriehunde gelten. Die hervorragenden Merkmale der Murmelthiere bestehen in der ge- drungenen Gestalt, dem kurzen Schwanz, den kleinen Augen und kurzen Ohren, sowie in dem oben platten und zwischen den Augenhöhlen einge- senkten Schädel. Von Backentaschen ist nur eine Andeutung vorhanden. Auch in der Zahnbildung tritt ein Kennzeichen auf, indem der erste obere einwurzelige Backenzahn auf seiner Oberfläche nur halb so gross als die andern erscheint. Das eigentliche Murmelthier, Arctomys Marmota. Die Länge beträgt einschliesslich des 11 cm. langen Schwanzes 62 em,, die Höhe 15 cm. Der mit längeren Grannenhaaren versehene, dichte, wollige Pelz ist ober- seits des Körpers schwarzbraun; nur auf dem Hinterkopf und dem Scheitel Nager: Rodentia. 199 mit weisslichen Punkten versehen, im Nacken, an der Schwanzwurzel und an der ganzen Unterseite tritt die dunkelröthlichbraune Farbe auf, Schnauze und Füsse sind rostgelblichweiss, die Beine, Hinterbacken und Bauchseiten in’s Hellere übergehend. Die Spielarten sind entweder völlig schwarz oder ganz weiss oder auch weiss gefleckt. Die Verbreitung ist nur auf Europa beschränkt. Hier bewohnt es vor- zugsweise die Alpen, Pyrhenäen und Karpathen. Seinen Aufenthalt nimmt es in der Nähe der Gletscher und geht nur bis zum Holzgürtel herab. Freie Plätze, welche an Felswände grenzen, und enge Schluchten liebt es vor allem, denn es flieht die störenden Erscheinungen und ist ein Feind des menschlichen Verkehrs und Treibens.. Dabei wählt es als sonnebedürftiges und sonneliebendes Thier die Ost-, Süd- und Westabhänge. Keineswegs sind die genannten Gebirge aber, wenn auch die haupt- sächliche Heimath, doch nicht die einzigen Wohnplätze des Murmelthiers’ Es kommt nach A. J. Jäckel auch in den bayerischen Alpen und zwar gar nicht selten vor. Unser Gewährsmann sagt, dass es auf der Ost- und Westgrenze dieser Alpen, im Berchtesgaden’schen und im Algäu daheim sei und bis zu einer Höhe von 18,000 Meter eine Menge von Bergen in hohen, sehr rauhsteinigen Lagen, welche Sand und Schotterunterlage haben, be- wohne Auch von Kobell bestätigt das nicht seltne Vorkommen des Murmelthiers in den bayerischen Alpen. Er schätzt die Zahl derjenigen in den Heidelanger Bergen auf der Blättelealp und Wängenalp auf 200 bis 300, ein Revierförster Schemminger die auf der Blättele-, Blatten- und Wängen- alpe lebende Anzahl auf 500 bis 600. „In den Oberstdorfer Bergen“, sagt Jäckel, der uns alle diese Angaben im Jahre 1366 im Zoologischen Garten berichtet, „beläuft sich ihre Zahl auf ungefähr 100 Stücke, und hat sich das Thier in neuerer Zeit allenthalben in unserem Hochgebirge, sowohl im Berchtesgaden’schen, als auch im Algäu, durch Hege bedeutend vermehrt“. „In der Wartei Vordereck,“ führt Jäckel ausdrücklich an, „hausen die Murmelthiere auf der nördlichen Seite des Göhlstein (Ofneralpe), im Revier Königsee am Hochbrett (im Alpl, Krautkocherleiten und Mairbach), am Jenner (Krautkocher, Mitterkocher), am Schneibstein (Königsthal). Von hier an- fangend werden beinahe in allen Bergen bis zur Grenze Murmelthiere an- getroffen. Anfangs Oktober 1840 schoss von Koboll ein Murmelthier am Funtufer an der Grenze des steinernen Meeres, einige andere bei Falleck, wo man es die Kommattenbretter heisst. Dort sind nach seiner Versicherung weitum die meisten, und ist dieser Platz, eine Art von Kar, durch die wundervolle Kräutervegetation merkwürdig; denn man befindet sich in einem wahren Hochlandsgarten, wuchernd von Enzian, Meisterwurz, Almanharnisch, Hirschwurz und wie die aromatischen Kräuter alle heissen“ Striker weist nach, dass das. Thier ehemals auch in den Vogesen lebte. Über die Bezeichnung des Murmelthiers in Bayern sagt Jäckel: „Im 200 Nager. Rodentia. Berchtesgaden’schen wird es allgemein Mankei, Mankerl, das Männchen Bärl, Mankeibär, das Weibchen Katz oder Mütterin, der Balg Häutl oder Schwartl, das Fett Schmalz, im Allgäu das Thier Murmentl genannt.“ Brehm oibt an: „Die Römer nannten dieses Thier Alpenmaus, die Savoyarden nennen es Marmotta, die Engadiner Marmotella, die Deutschen, beide Namen um- bildend, Murmelthier. In Bern heisst es Murmeli, in Wallis Murmentli und Mistbellerie, in Graubünden Marbetl oder Murbentl, in Glarus Muck.“ Die Nahrung des Murmelthieres besteht, wie bereits aus der Angabe v. Kobells ersichtlich ist, vorzugsweise aus saftigen Alpenkräutern. Es verzehrt von den Pflanzen auch sehr gerne Wurzeln. Die Lieblingspflanzen sind nach Brehm’s Angabe Schafgarbe, Bärenklau, Grindwurzel, Löwen- maul, Klee und Sternblumen, Alpenwegerich und Wasserfenchel, doch be- gnügt es sich auch mit dem grünen, ja selbst mit dem trocknen Grase, welches seinen Bau zunächst umgibt. Sein Gebiss ist sehr scharf und ge- eignet, in kurzer Zeit das kürzeste Gras abzuweiden. Man betrachte nur, um die gründliche Wirkung des Gebisses zu erklären, die Einrichtung des- selben. Da stehen vorn in den beiden Kinnladen zwei meisselförmige Schneidezähne, dann folgt die grosse Lücke zwischen diesen und den mit höckerigen Riemen versehenen, in die Quere stehenden Backenzähnen — das Thier bewegt den Unterkiefer von hinten nach vorn —, und bei dem allem entwickelt es eime grosse Emsigkeit und Beweglichkeit der Kaumuskeln. Es nimmt die abgeweidete Nahrung zwischen die Vorderpfoten, indem es sich auf die Hinterbeine setzt und emporrichtet, um sie dann zwischen den Zähnen zu zermalmen. Sonst ist das Thier nicht flüchtig und in seinen Bewegungen keineswegs anmuthig. Der Pelz hängt schlaff herunter, und der Gang des Thieres ist watschelnd. Nach Tschudi kommen zuerst vorsichtig die alten Murmelthiere aus der Röhre des Baues, nachdem sie nach allen Seiten hin gesichert haben, laufen eine kleine Strecke bergauf, schlagen einen Kegel und weiden alsdann mit grosser Schnelligkeit. Ihnen folgen später erst vertrauensselig die Jungen, um auf freien Plätzen sich zu sonnen und mit einander zu spielen. Aber die Wachsamkeit ist ihnen allen angeboren. Die erfahrenen Alten halten treulich Wache, und bei der geringsten verdachterweckenden Erscheinung ertönt ein lauter Pfiff oder ein Kläffen, und im Nu ist die ganze Familie unter der Erde verschwunden. Übrigens leben die einzelnen Paare während der kurzen Sommerzeit ihres Wohngebietes für sich getrennt in den Bauen. Zum inneren wenig ge- räumigen Aufenthalt führen Gänge von verschiedener Länge, von einem bis zu vier Meter, und diese haben wieder Seitengänge und Fluchtlöcher. Der geringe Durchmesser der Röhren bewirkt nicht selten eine bedeutende Ab- reibung des Pelzes auf dem Rücken des Thieres. Bei der Herrichtung der Wohnungen gräbt das Murmelthier nur mit einem Fuss und schafft nur einen Theil der losgescharrten Erde zur Röhre hinaus, während der grössere Nager. Rodentia: 201 Theil festgestampft und geglättet wird. Sehr gerne lest es die Ausgänge unter Steinen an und sorgt in der Nähe derselben in den Gängen für kleine Löcher, um sich nöthigenfalls zu verstecken. Im April und Mai findet die Vereinigung der Geschlechter statt. Die Tragzeit des Weibchens dauert sechs Wochen, und die Anzahl der Jungen eines Wurfs beläuft sich auf zwei bis vier Stücke. Die Klemen wagen sich erst in’s Freie, wenn ihr Wachsthum ziemlich vorgeschritten ist. Von der Sommerwohnung unterscheidet sich die weiter unten im Gebirge allherbstlich bezogene Winterwohnung. Diese graben sie ungefähr bis zu an- derthalb Meter unter der Rasenfläche. Die Röhrenausgänge sind nur faust- gross. Vor Eintritt des Winterschlafs verstopfen sie sorgfältig die enge, zum Kessel führende Röhre mit Heu, Erde und Steinen von innen. Der sogenannte Zapfen ist ungefähr ®ı bis 1 Meter lang mit Steinen, Sand und bindender Erde ausgemauert, und wahrscheinlich verwendet das Thier hierzu auch seinen Speichel. Nach Verlauf der Röhre bis zu mehreren Metern Länge kommt eime Stelle, von wo aus zwei Gänge sich fortsetzen, von denen der eime nur eine geringe Strecke weit in gleicher Höhe führt und zur Absetzung der Losung dem Thiere dient oder das Material zur Ausmauerung des Zapfens liefert. Der andere Zweig erhöht sich allmälig und führt zu dem geräumigen Kessel, der eine backofenförmige Einrichtung hat und mit kleingebissenem, weichem, dürrem Grase ringsum angefüllt ist. Schon im Monat August haben die Murmelthiere dieses Material bereits auf den Weiden abgebissen und so lange liegen gelassen, bis es trocken geworden, worauf sie es im Maul in den Kessel schleppten. Hier im Kessel liegt die Familie, oft 15 Stück an der Zahl, ein jedes zusammen- geringelt, den Kopf an dem Schwanze in tiefem Erstarrungsschlafe. Die Untersuchungen des Chemikers Regnault in Paris an Murmel- thieren sind in der Abhandlung über den Winterschlaf bereits mitgetheilt worden. Schon im Spätsommer, mehr aber noch im Herbste, setzt das Murmel- thier viel Fett an, wodurch es in den Stand gesetzt wird, den Winter in seiner unterirdischen Wohnung zu überstehen. Mit dem ersten Froste hört es auf, Nahrung zu sich zu nehmen, nur trinkt es viel, entleert sich und geht mit den Kameraden zum Schlafgemach ein. Durch die Vermauerung mittelst der bereits erwähnten Stoffe schliesst es die äussere Luft ab, so dass die Wärme auf circa 8 bis 9 Grad Reaumur erhalten wird. Es ist erklärlich, dass es im nächsten Frühjahr, wenn es erwacht und das Winter- quartier verlässt, sehr abgemagert erscheint. Anfänglich dient den Hungrigen überwintertes Gras, das sie oft weite Strecken von ihrem Bau an vom Winde schneefrei gefesten Stellen der Berge aufsuchen müssen, zur Nahrung, und erst beim Erscheinen der jungen Alpenpflanzen gelangt es wieder durch Zuführung kräftigerer Nahrung zur rüstigen Körperbeschaffenheit. 202 Nager. Rodentia. Bei der grossen Wachsamkeit und scheuen Vorsicht, die dem Murmel- thiere eigen ist, erfordert seine Erbeutung auf Jagdgängen Mühe und List. Gehör, Gesicht und Geruch sind scharf, und darum nimmt es den heran- schleichenden oder anstehenden Schützen leicht wahr. Hierzu kommt, dass seine Flucht in die Baue ausserordentlich schnell von Statten geht, so dass der gewandteste Schütze oft nicht zum Schuss kommt. Lohnender ist das Ausgraben der Winterbaue, allein dieser Art der Erbeutung des Thieres steht mit Recht das Verbot entgegen, um es ver dem Loose der Ausrottung zu bewahren. Eine dritte Art der Nachstellung ist das Stellen von Fallen, die nur für die alten, nicht für die jungen Individuen eingerichtet werden. Von dem Murmelthiere ist nur das Fleisch verwendbar, das jedoch vorher abgebrüht und geräuchert wird, um es geniessbar zu machen. Als Unterfamilie der Hörnchen gelten mit den Murmelthieren und An- deren die Ziesel (Spermophilus), welche die kleinste Art bilden und ihren Vertreter in Deutschland durch den gemeinen Ziesel (Spermophilus Citillus) finden. In seiner Erscheinung erinnert derselbe lebhaft an den Hamster, dem er an Grösse ungefähr gleichkommt. Aber seine Gestalt ist schlanker, als diejenige des Hamsters, sein Kopf feiner, seine Bewegungen sind flinker und geschmeidiger, so dass diese ihn wieder dem Erdeichhorn näher stellen. Offenbar gehört er mit Recht zu der Familie der Murmel- thiere, mit denen er seine Verwandtschaft in allen Stücken zu erkennen gibt. Ehe wir dies hauptsächlich durch die Lebensweise nachweisen, schildern wir seine Färbung, nachdem wir zuvor noch zur Darstellung seiner Gestal- tung hinzufügen, dass seine kurzen, wie abgestutzt aussehenden Ohren nur wenig aus dem Pelze hervorragen und er mit Backentaschen zur Anhäufung von Nahrungsmitteln ausgerüstet is. An dem röthlichgelben, mit Braun untermischten Vorderkopf zeichnen sich die lichten Augenkreise ab. Merk- würdig ist die verschiedene Färbung der oberen und unteren Vorderzähne, jene sind nämlich gelblich, diese weisslich. Die rostgelbe Unterseite des Körpers geht am Hals in das Weissliche über, während die gelbgraue Ober- seite rostgelbe Wellen und Fleckchen in regelmässiger Zeichnung trägt. Die rostgelben Füsse haben hellgelben Verlauf nach den schwarzen Krallen. Gewisse Abweichungen in der Färbung kommen vor, immer aber sind die Jungen heller. Der Aufenthalt des Ziesels beschränkt sich auf bebaute Felder und aus- gedehnte Grasflächen, die arm an Bäumen sind. Die Bedingungen seines Vorkommens sind weiterhin in trocknem Boden und in der sandigen, mit Lehm als Bindemittel vermischten Art desselben gegeben. Diese Erforder- nisse hängen mit der Anlegung der unterirdischen Baue zusammen, welche der vortreffliche Gräber von Jahr zu Jahr durch neue Gänge erweitert. Ob- gleich er ein gesellig lebendes Thier ist, so verfügt doch jeder einzelne erwachsene Ziesel über emen von ihm selbst angelegten Bau, und diese Nager. Rodentia. 203 Eigenthümlichkeit veranlasst natürlich in Gegenden, wo er in grosser Menge vorkommt, eine mit empfindlichen Nachtheilen für den Ackerbau verbundene Unterwühlung der Felder. Jedes Jahr gräbt sich der Ziesel eine neue Röhre in Verbindung mit dem ursprünglichen Bau, und wenn er stirbt, und ein anderer seine Wohnung einnimmt, so setzt dieser die Arbeit in derselben Weise wie sein Vorgänger fort. Hiernach lässt sich das Alter des Baues, keineswegs aber dasjenige des jeweiligen Inhabers desselben bestimmen. Stets legt das Männchen seinen Bau flacher, also näher der Erdoberfläche an, als das Weibchen, welches überhaupt unternehmender und so zu sagen männlicher als jenes aufzutreten scheint. Die von dem Männchen gerühmte Sanftmuth und Friedlichkeit theilt das Weibchen weniger, denn letzteres wehrt sich gegen den Angreifer gern mit tüchtigem Umsichbeissen. Der Kessel des vom Zieselweibchen angelegten Baues liegt ungefähr einen bis anderthalb Meter tief und hat einen Durchmesser von etwa 30 em. und eine eirunde’ Gestalt. Die Auspolsterung besteht nur aus Heu. Dieser Kessel steht mit der Erdoberfläche blos durch eine gewöhnlich in vielen Krümmungen und eine Strecke sehr flachlaufende Röhre in Verbindung. Vor der Mün- dung derselben liegt als deutliches Kennzeichen ein Haufe ausgeworfener Erde. Nach Ablauf eines Jahres bleibt die alte Röhre unbenutzt liegen und zur Seite wird eine neue eingerichtet. Die neue Röhre wird im Herbst bis in die Nähe der Erdoberfläche ausgeführt und im Frühjahr bis in’s Freie fortgesetzt. Übrigens sind kleine Nebenröhren zum Zwecke der Einsammlung und Aufbewahrung von Wintervorrath angebracht, zu denen im Herbste vor Eintritt des tiefen Winterschlafs und im Frühjahre nach dem Erwachen das Thierchen von dem Kessel aus sich begibt, um von den aufgestapelten Früchten zu zehren. Ausser Hülsefrüchten und verschiedenen Getreidearten dienen dem Ziesel Kräuter, Wurzeln, Beeren, Gemüse, ja theilweise auch Mäuse und kleine Vögel zur Nahrung. Nach Hörnchenart setzt sich der Ziesel auf das Hintertheil und führt mit den Vorderpfoten die Nahrung zum Munde. Ebensolche Stellung nimmt er an, wenn er sich putzt und be- leckt. Reinlichkeit ist eine seiner hervorragenden Eigenschaften, die er namentlich nach gehaltener Mahlzeit bekundet, zumal wenn er ein junges Vögelehen oder eine Maus verzehrt hat. Die für den Winter eingesammelten Vorräthe werden in den Backentaschen zu Bau getragen. In nicht geringem Grade finden die Plünderungen der Fruchtfelder in Gegenden statt, wo es viele Ziesel gibt, und wir haben es darum als ein Glück für den Ackerbauer jener Gegenden zu betrachten, dass dem Thiere in den Mardern, Iltissen, Wieseln, Katzen und Raubvögeln viele und gefährliche Feinde erstehen und selbst dem Menschen es nicht schwer fällt, es mit Fallen zu fangen oder mit Hacke und Schauffel den Bau zu öffnen, um zu dem vorsorglichen Haushalter zu gelangen. Anhaltende starke Regengüsse im Spätherbste ver- anlassen das Eindringen des Wassers in die Tiefe des Baucs, der zwar von 204 Nager. Rodentia. dem Thierchen verstopft wird, aber nicht in so nachhaltig engem Verschluss, dass gegen solche Einflüsse der Schläfer hnlänglich geschützt wäre, die zu- weilen einer grossen Menge der Höhlenbewohner den Tod bringen. Im Sommer droht sogar durch Platzregen den Familien Zerstörung. Ende April oder im der ersten Hälfte des Mai bringt das Weibchen im Kessel fünf bis acht Junge zur Welt, die, äusserst zärtlich gepflegt und ernährt, schnell heranwachsen und unter der Aufsicht und dem Schutz der Mutter ausgehen, sobald sie befähigt sind, sich von den zärteren Bestandtheilen der Kräuter und Gemüse zu ernähren. Da der Ziesel erwiesenermassen der Regel nach Mitte oder Ende April erst aus seinem lethargischen Winterschlafe erwacht, so ist es doch unbe- greiflich, wie erstlich das Weibchen so frühe schon Junge bringen, zum Andern aber ein notorisch so abgemagertes und herabgekommenes Thier, wie der männliche Ziesel nach der langen Wintererstarrung, sogleich beim Erwachen in die Säfte und Kräfte erfordernde Ranzzeit treten kann. Die Thatsache, die wir beim Dachse festgestellt haben, dass derselbe im October, seiner Fettzeit, kurz vor der Winterruhe sich fortpflanze, wird ‘aller Wahr- scheinlichkeit nach auch beim Ziesel, dem Siebenschläfer und vielleicht den Haselmäusen obwalten. Einen Anhalt hierfür hat Fr. Tiemann in Breslau an seinem drei Jahre gefangen gehaltenen Ziesel und an zwei Sieben- schläfern gefunden. Er berichtet hierüber im Heft No. 4 des „Zoologischen Garten“ von 1867 Folgendes: ... „Der October rückte heran, und mit ihm trat ein bewegteres Leben bei unserem Ziesel, ebenso bei den Myoxus ein und hielt mehr oder weniger 14 Tage vor. (Etwa 14 Tage später trat der Winterschlaf ein. Die ge- ringere Fresslust und grössere Trägheit der Thiere während dieser letzten Zeit schreibe ich eines Theils der Abspannung nach der Ranzzeit, andern Theils der grossen Fettigkeit derselben zu.) Der Ziesel verliess viel öfter sein Lager als in der Vorzeit, die Myoxus durchrannten ihr Bauer mit unglaublicher Schnelligkeit und brachen öfters durch, als dies früher der Fall gewesen war. Wenn auch der Ziesel bis dahm sehr zahm war, so liess er sich doch nur ungern greifen, und er musste, um dies zu ermöglichen, stets in die Enge getrieben werden. Jetzt war die Sache eine andere. Er versuchte allmälig weniger zu entfliehen, und es schien ihm ein auffallend wohliges Gefühl zu verursachen, wenn man gewisse Körpertheile berührte und streichelte; er kam sogar gegen den 20. October auf mich zugelaufen und legte sich mit seiner Bauchseite auf meine belederten Fussspitzen. Dasselbe Benehmen hat sich in dem darauf- folgenden Herbste und zwar zur selben Zeit wiederholt. Die Myoxus waren bis dahin unbändig und bissig, ungestraft von ihrer Seite blieb auch nicht die leiseste Berührung; auf ihren Fluchtversuchen mussten sie vermittelst Netz oder Handtuch eingefangen werden, indem es bei einem unvorsichtigen Nager. Rodentia. 205 Ergreifen stets tiefe und schmerzhafte Wunden für den Empfänger absetzte. Ich versuchte daher Anfangs, sie an einigen Körpertheilen vermittelst einer Feder oder eines Stäbchens zu berühren; sie duldeten dies, ohne darauf wie früher loszufahren; nach und nach drückten sie sogar die Genitalgegend gegen die Drahtstäbe ihres Bauers und duldeten die Berührung derselben mit dem Finger unter sichtbarem Wohlgefallen. Auch schienen die Hoden strammer zu sein als vordem. Bei den Myoxus habe ich aber noch einen weiteren Grund dafür, dass die Ranzzeit „vor“ dem Eintritt des Winter- schlafes und nicht nach demselben fällt. Der Ziesel, wie auch die beiden Myoxus, waren männlichen Geschlechts. Der erstere war zur Einsiedelei verdammt, die beiden letzteren theilten ein Bauer und lebten recht brüderlich miteinander. Gegen October nahm aber ihr gutes Einvernehmen ein Ende, und Hader und Zank brachen in einer Weise aus, die mitunter blutige Köpfe hinterliess. Diese Zwistigkeiten nahmen in dem darauffolgenden Herbste einen so bedenklichen Charakter an, dass ich eine Trennung der Brüder für geboten erachtete. Leider erwies sich diese Vorsichtsmassregel als zu spät. Denn der eine verlor in Folge erhaltener Kopfwunden ein Auge, der zweite erblindete aus demselben Grunde vollständig. Ich hatte die Thiere täglich vor Augen, habe aber zu keiner andern Zeit eine Unverträglichkeit bei einem oder dem andern wahrgenommen.“ Tiemann beruft sich nun auf die von uns aufgestellten Ansichten sc. beigebrachten Thatsachen über die wirkliche Ranzzeit des Dachses und glaubt mit vieler Wahrscheimlichkeit annehmen zu dürfen, dass dies auch auf den besprochenen Ziesel und die Siebenschläfer volle Anwendung fände, da in der Fülle der Körperkraft der Paarungstrieb eher erwachen würde als im März oder April, wo die Thiere, wenn die Witterungsverhältnisse überhaupt ein so zeitiges Erwachen aus ihrem lethargischen Zustande gestatten (!), ganz abgemagert und entkräftet seien. Es könnte gegen diese sachliche Annahme höchstens engewandt werden, dass eine so lange Tragzeit (Mitte November bis Mitte April, also 5 Monate) bei den Thieren im Hinblick auf andere Nager eine auffallende Ausnahme bildete. Aber die Schläfer treten ja ohnedies schon durch ihren langen Winterschlaf in einen ganz besonderen abnormen Zustand, ihren Ordnungs- und Sippenverwandten gegenüber, einen Zustand, welcher auf das ganze Leben und so auch auf die Paarungsperiode etc. einen tiefeingreifenden Ein- fluss üben kann. — Übrigens bleibt die Frage so lange eine offene, bis ganz bestimmte Beobachtungen an diesen Thhieren, wie von uns an dem Dachse, beigebracht sind. Bis zum eintretenden Herbste bleibt die Ziesel-Familie in dem Bau gemein- schaftlich verbunden, während ihre Ausgänge die einzelnen Glieder nach und nach mehr zerstreut; doch bleibt auch ausserhalb des Baues ein einigendes Band, namentlich wenn die Gefahr die Warnung veranlasst, welche in einem 206 Nager. Rodentia. durchdringenden Pfiff ihren wohlverstandenen Ausdruck findet. Eilend nehmen die Glieder der Familie Zuflucht in dem Bau, und die Nachbarn lassen sich nicht minder solche Warnrufe zur Berücksichtigung dienen. Die stark bewohnten Familienbaue geben sich namentlich durch einen beis- senden Geruch zu erkennen, welcher von dem Harn herrührt, welchen die einzelnen Glieder der Familie am Eingang der Röhre absetzen. Eine sehr merkwürdige Eigenschaft des Ziesels erwähnt Herklotz in der Vorliebe für glänzende Gegenstände, wie z. B. Porzellanscherben, Glas- und Eisen- stückchen, welche in dem Baue unter dem Heu gefunden werden und von dem Thierchen mittelst der Zähne und Vorderpfoten in die Tiefe befördert werden. Über das Betragen des zu Tag tretenden Ziesels im Vorsommer be- richtet der genannte Beobachter eingehend Folgendes: „Der Geruch hat zehn bis zwölf bewohnte Baue erkennen lassen, in deren Nähe wir uns lagern. Kaum zehn Minuten währt es, und in der Mündung einer Röhre erscheint ein äusserst liebliches Köpfchen, dessen klare Augen unbesorgt ins Grüne spähen; der übrige Leib folgt, unser Thierchen setzt sich auf, macht ein Männchen, vollendet seine Rundschau, fühlt sich sicher und geht an irgend welches Geschäft. Binnen wenigen Minuten ist gewiss die ganze Gesellschaft am Platze, und nunmehr hat das Auge volle Beschäftigung. Einige spielen, andere putzen sich, Einige beknappern eine Wurzel, Andere treiben sonst etwas. Da streicht ein Raubvogel vorüber: ein gellender Pfiff, jeder rennt seinem Fallloche zu, stürzt sich kopfüber im dasselbe, und Alles ist in den Röhren verschwunden. Doch nur geraume Zeit, und das alte Spiel beginnt von. Neuem. In seinen Bewegungen ist der Ziesel ein kleines 'Murmelthier, kein Hörnchen. Er läuft huschend über den Boden dahin, im rascher Folge ein Bein vor das andere setzend, führt selten einen Sprung aus und klettert ungern, obschon nicht ganz ungeschickt, jedoch immer nur nach Art der Murmelthiere, nicht nach Art der Eichhörnchen. Auch seine Stellung beim Sitzen, sein Männchenmachen und endlich seine Stimme, ein dem Locktone des Kernbeissers täuschend ähnlicher Pfiff, erinnern an jene, nicht an diese. Obgleich der Ziesel sehr misstrauisch und vorsichtig ist, gewöhnt er sich oft an öfters wiederkehrende Störungen, so dass diese ihn schliesslich nieht im Geringsten mehr belästigen. Auf einer Ungarischen Bahn entdeckte ich am Ende einer im Schotter eingebetteten Schwelle eine in den Bahndamm eindringende Zieselröhre, welche mir durch den Geruch verrieth, dass sie bewohnt war. Um mich vollends zu überzeugen, legte ich mich auf die Lauer, und gar nicht lange, so erschien der Ziesel. Eine halbe Stunde später brauste der Zug heran, der Ziesel fuhr in seinen Bau, schaute mit halbem Leibe heraus, liess ruhig den Zug über sich wegrasseln, kam sodann wieder heraus und trieb es wie vorher. Später stiess ich auf einen Zaeselbau unter einer Weichenschwelle: hier kam zur Beunruhigung durch den Nager. Rodentia. 207 Zug noch die, welche durch das Stellen der Weiche verursacht wurde, und gleichwohl liess sich das Thier nicht stören.“ Unter den Bilchen oder Schlafmäusen (Myoxina), die sich im System unmittelbar den Hörnchen anreihen, widmen wir dem Sieben- schläfer (Myoxus Glis) eine genauere Aufmerksamkeit. a Die Bilche stehen zwischen den Hörnchen und Mäusen. Ihr Ausseres und ihr Wesen, auch ihre Lebensweise erinnern lebhaft an die Eichhörn- chen; jedoch ihr Knochenbau gemahnt an die Mäuse. Sie verfallen in einen ausgesprochenen Winterschlaf, und diese Eigenschaft allein schon rechtfertigt ihre Trennung von den beiden genannten Unterordnungen. Sie sind Nacht- thiere, die meist bei Tage schlafen. Das Bild und die Lebensweise unserer einheimischen drei Arten vergegenwärtist uns das Charakteristische der ganzen Unterordnung, in welcher man sie mit andern Verwandten in Sippen vereinigt. Süd- und Osteuropa ist das Vaterland des Siebenschläfers. Am häufigsten finden wir ihn in Ungarn, Kroatien und dem südlichen Russland. Den Norden unseres deutschen Vaterlandes bewohnt er nicht, vielmehr beschränkt er sich bei uns auf Süd- und Mitteldeutschland, und da sind denn seine Lieblings- aufenthalte die trocknen Lagen unserer Buchen- und Eichenwaldungen, wo er die Höhlungen der alten Aste und Stämme und die unterwühlten Baum- wurzeln, sowie die Nester der Rabenvögel bewohnt. Als Nachtthier schläft er des Tags über in seiner dunklen Wohnung, die er, wenn die Boden- beschaffenheit es ihm darbietet, in Fels- und Steingeklüften nicht weniger gerne einrichtet, wie in Bäumen und Erdlöchern. Übrigens haben wir ihn auch am hellen Tage, insbesondere in den Frühstunden, auf Bäumen, Sträuchern und Felsen umherklettern und Nahrung suchen gesehen. Seine Tagstreifereien werden von dem guten Beobachter H. Schacht in Feldrom vollkommen bestätigt. Derselbe sagt: „Der Siebenschläfer ist bei uns ein ständiger Bewohner einer auf der höchsten Bergkuppe belegenen Sandstein- grube, wo er zwischen den Felsspalten und dem Gerölle sehr bequeme Schlupfwinkel findet. Im Sommer theilte mir einer der dort beschäftigten Steinhauer mit, dass sich alle Morgen in einer nur nach einer Seite hin ge- schlossenen Halle ein Siebenschläfer einstelle, einem Eichhörnchen gleich umherspringe und sich an den ausgelesten Brotresten gütlich thue, ja dass derselbe auch schon zu wiederholten Malen von dem an einem Pfosten in einer Höhe von etwa 6 Fuss (= 1,5 m) aufgeknüpften Frühstücke genascht und immer durchgenagt habe bis auf die Butter. - Am andern Morgen be- gab ich mich zur Beobachtung gleich auf die Berghöhe. Die Steinhauer waren schon in voller Thätigkeit und an einem Pfosten der Halle hing im Tuche verborgen ein Frühstück. Als ich näher trat, lugten plötzlich aus der Falte des Tuchs ein Paar lebhafte glänzende Augen, langsam schob sich ein grauer Körper nach und hervorstieg mit lustigen Sätzen der kleine Näscher.“ 203 Nager. Rodentia. Das 'emschliesslich des 13 cm grossen Schwanzes im Ganzen 26 cm lange Thierchen ist ein ebenso fertiger Schlüpfer, als Kletterer und Springer. Davon überzeugen wir uns draussen im Freien am besten, wenn wir in der Abenddämmerung ihm bei seinem Ausgang aus der täglichen Schlafstätte oder bei seiner Verspätung des Morgens nach Sonnenaufgang auf der Rückkehr mit dem Ehegefährten oder einem andern Hausfreund Seines- gleichen unsere beobachtende Aufmerksamkeit zuwenden. Leicht wie das Eichhörnchen bewegt er sich in kleinen Sätzen über die Aste hin, springt auf und nieder in grösseren Sätzen und lässt sich bei Verfolgungen selbst zu verzweifeltem Wurf von der Höhe zur Tiefe bewegen, wo- bei er wenigstens auf dem laubbedeckten Boden und auf dem Rasen keinen Schaden erleidet. In eilenden Sätzen sucht er sich unter schützen- den Gegenständen zu verbergen und zwängt seinen Leib oft mühsam durch enge Löcher. Auffällig erinnert sem Wesen und DBetragen an das Eichhörnchen, wenn er sich auf die Hosen setzt oder Männchen macht und mit den Vorderpfoten eine Haselnuss, eine Buchel, Eichel, Wall- nuss, Kastanie oder auch eine fleischige, saftige Frucht unserer edlen Obst- bäume zu den geschäftigen Nagezähnen führt. Das charakteristische Merk- mal seiner Zahnbildung ist die Gestalt seiner Backenzähne. Zwei grössere stehen in der Mitte und zwei kleinere vorn und hinten, „deren Kaufläche,* wieBrehm sich ausdrückt, „vier gebogene, durchgehende und drei halbe, oberseits nach aussen, unterseits nach innen liegende Schmelzfalten zeigt.“ Unterseite und die Innenseite der Beine zeichnen sich von dem aschgrauen, von dunklerem Farbenhauch überzogenen und nach unten in Graubraun übergehenden Pelz durch glänzendes Weiss ab. Schnauze, ausser einem Theile der graubraunen Oberlippe und dem Nasenrücken, sowie Backen und Kehle bis zu den Ohren sind weiss. Die dunkelgraubraunen Ohren haben helleren Saum, und um die Augen läuft ein dunkelbrauner Ring. Der zwei- zeilige, bebuschte Schwanz hat unten einen weisslichen, der Länge nach laufenden Streifen. Das sind die Kennzeichen des behenden Nagers, der im luftigen Bereiche seimer nächtlichen Streifereien sich ganz anders darstellt, als man es bei seinem Anblick im Zustande überwältigender Schlafsucht vermuthet. Die Sommermonate stellen ihn uns als ein ganz anderes Thier seinem Wesen und Wandel nach dar, als die Wintermonate. Nur anhaltend regnerisches Wetter bannt ihn wohl auch während der Sommernacht in die Wohnung, sonst aber geht er jeden Abend aus, um dem Bedürfniss seiner ausserordentlichen Gefrässigkeit zu genügen, und auf seinen Nachtzügen zeigt er sich keineswegs nur als Früchteverzehrer, sondern auch als ent- schiedener Freund thierischer Kost, so dass sowohl die freibauenden als auch die zu den Höhlenbrütern gehörenden Kleinvögel vor seinen Nach- stellungen nicht sicher sind. Eier und Junge stiehlt er aus den Nestern und frisst dieselben mit Behagen. Bei aller dieser zeitweilen Nachstellung bleibt IE GE, I) 1 h f U - A TEN N \y n , Me A ION IHNEN ZN \) In Di; h Im Siebenschläfer. Nager. Rodentia. 209 jedoch seine vorzugsweise Nahrung die vegetabilische. Namentlich geht er dieser nach dem Erwachen aus seinem Winterschlafe im Frühjahre nach, weil er dann auch der thierischen nicht so habhaft werden kann. Knospen und zartere Rinde von Weich- und saftreichen Hölzern geht er dann be- sonders an. Im Herbste trafen wir ihn mehrmals auf Obstbäumen, wo er mit sichtlicher Gier die saftreichen Früchte verzehrte. Auch Beeren geht er an, so dass er zuweilen in Gegenden, wo er häufig ist, an Dohnen gefangen wird. Eicheln und Bucheln frisst er sehr gerne, sammelt solche auch als Wintervorrath ein. Im südlichen Krain, wo er in grosser Anzahl auftritt, wird er geradezu schädlich, und es sind förmliche Wanderungen nach mast- reichen Orten beobachtet worden. Ein unterhaltender, fesselnder Anblick ist eine ganze Familie Siebenschläfer, wenn man an mondhellen Sommer- abenden das Glück hat, dieselbe an beliebtem 'Tummelplatz beobachten zu können. Die Kleinen, welche in der ersten Hälfte des Juni, drei bis sechs an Zahl, nackt und blind geboren werden, wachsen ausserordentlich schnell heran und werden nur kurze Zeit von der Mutter gesäugt, eine Zeit lang auch noch geführt und angeleitet, dann aber alsbald sich selbst über- lassen. Niemals werden die Jungen im freistehenden Neste geboren (es sei denn, dass unter den Horsten grösserer Vögel geeignete sichere Schlupf- winkel sich befinden) sondern in Höhlungen und Geklüfte. Das Nest selbst bietet keinen Anblick irgend welcher Kunstfertigkeit dar, besteht vielmehr hauptsächlich aus Moos. Ebenso ist sein Winterschlafbett aus weichem Moos bereitet, auf welchem er, mit mehreren seiner Gefährten vereinigt, den Winterschlaf hält, der mindestens 6—7 Monate währt und dadurch seinen Namen Siebenschläfer veranlasste. Übrigens beginnt dieser Schlaf in un- wirthlichen Gebirgsgegenden viel früher als in der Ebene, zuweilen schon bei zeitig eintretender rauher Witterung anfangs September, dagegen in klimatisch günstig gelegenen Gegenden erst mit dem Monat Oktober. Bis zu dieser Schlafzeit nährt und mästet sich das Thier vermöge seiner Ge- frässigkeit in einer Weise, dass es in Fett strotzt. Aber nicht genug, dass sich der vorsorgliche Nager mit ausreichender Leibesfülle für die Zeit der Trägheit ausrüstet; er sammelt auch wie der Hamster eine beträchtliche Menge von Nahrung in die Mauerlöcher, Erdhöhlen, Felsenspalten oder Baumhöhlen, wo er überwintern will. Von diesen Vorräthen zehrt er bis- weilen, denn er wacht, wenn auch selten, aus seinem tiefen Schlafe auf und fühlt dann, wiewohl noch immer einem Halbschlummer hingegeben, sofort das Bedürfniss, Nahrung zu sich zu nehmen. Beim Fällen alter Eichen und Buchen sind schon öfters Sieberschläfer im Winterschlaf entdeckt worden. In eine Temperatur von + 10 bis + 12° R. gebracht, erwachen sie nach und nach zu regerem Leben, zeigen jedoch noch lange das schläfrig müde Gesicht; in einen kühlen Raum versetzt, fallen sie jedoch alsbald in den Schlaf zurück. Unter normalen Verhältnissen, also bei einigermassen ausgespro- A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 14 210 Nager. Rodentia. chenen Wintern schläft er einen ununterbrochenen Winterschlaf im Erstar- rungszustand, welcher bis 7 Monate währen kann. Seine Vorräthe sind dann dem sehr vermagert aus dem Winterschlafe tretenden Thiere eine grosse Nothwendigkeit, und es erholt sich erst nach einigen Wochen wieder zur normalen Leibesbeschaffenheit. Der Gartenschläfer oder die grosse Haselmaus (Myoxus Nitela) sieht in Gestalt und Betragen dem vorhergeschilderten Verwandten sehr ähnlich, auch ist die Grösse nicht viel unterschieden, denn die Länge beträgt 13 bis 14 cm ausschliesslich des 9,5 cm langen Schwanzes. Der oberseits röthlich graubraune, unterseits weisse Kopf zeichnet sich durch die dunkelschwarzbraunen, lebendig blickenden, klugen Augen aus, die von schwarzen Ringen eingeschlossen sind, die in einem unter den Ohren bis zu den Halsseiten laufenden Streifen ihre Fortsetzung finden. Ein schwärz- licher Fleck steht über, ein weisser vor und hinter dem fleischfarbenen Ohre. Die schwarzen Schnurren tragen weisse Spitzen, die oberen Vorderzähne die hellbraune, die unteren die hellgelbe Farbe. Der Schwanz ist an der Wurzel sowohl oben wie unten gelbroth, geht unten aber allmälig in Weiss über bis zur Spitze, wogegen die Oberseite mehr und mehr bis zur zwei- zeilig bebuschten Spitze weisse Ränder zeigt mit immer dichteren Grannen- haaren, welche einen glänzendschwarzen, lanzettförmigen Streifen nach dem Ende des Schwanzes bilden. Ein Bewohner der Gegenden gemässigten Climas, insbesondere auch Deutschlands, zieht er die Gebirge den Ebenen entschieden vor und das Laubholz dem Nadelholz. Gerade in Gebirgsgegenden liebt er es mitunter, auch die Gärten zu besuchen, ja sogar in die Häuser einzudringen und in den Speisekammern die Speckvorräthe, die Butterklösse und Schinken an- zufressen. Dem Obste ist er ein gefährlicher Feind, und stets zeigt er sich in den. Obstgärten als Feinschmecker, der sich die edelsten Sorten und die reifsten, saftigsten Exemplare aussucht. Dabei kommt ihm seine vorzüg- liche Kletterfertigkeit und seine Sprungkraft zu Statten. An Mauern, Spa- lieren und Bäumen klettert er behende nach Pfirsichen, Aprikosen, Pflaumen, Mirabellen und mit grosser Vorliebe auch nach der süssen, saftreichen Rein- claude, um das Fleisch von dem Kerne zu lösen und zu verzehren. Er scheint dieses Steinobst dem Kernobst weit vorzuziehen, wiewohl wir ihn auch auf Birnbäumen und süssen Frühbirnen schmausend gesehen haben. Im Walde nährt er sich wie der Siebenschläfer von Haselnüssen, Eicheln, Bucheln und Strauchfrüchten, und eben so lüstern, wie jener, von Eiern und Jungen Nestvögeln. Der Raub an jungen und alten Vögeln wird durch eine Mittheilung des Baron v. Freiberg im Novemberheft des „Zoologischen Garten“ von 1873 wiederholt bestätigt. Nach der v. Freiberg’schen Mitthei- lung verursachte ein Gartenschläfer empfindliche Verluste unter den Vögeln emer Voliere; alle Getödteten trugen sichtliche Wunden an den Hinter- Nager. Rodentia. 211 köpfen. Die längst als sehr bissig und lüstern bekannte grosse Haselmaus fiel nach des Genannten Angaben in der Gefangenschaft in Nacht und Stille Dohlen und Eichelheher an und überwältigte selbst die Wanderratte durch einen Sprung und Bisse ins Genick. Ganz übereinstimmend und das Feld seiner Räubereien an warmblütigen Thieren noch in erweiterterem Maasse constatirend, beobachtete Jäckel in seiner gründlichen Art das blut- dürstige, gefrässige Thier. Dennoch — so bestätigt der eben Genannte — zieht es das Fleisch von Insecten, wie Larven, Raupen und Puppen von Schmetterlingen, dem Fleische von Wirbelthieren vor. Durch Jäckel's Beobachtungen des Gartenschläfers im Gefangenleben ist auch constatirt, dass derselbe nie Baum- und Strauchrinden anrührt, er also freizusprechen ist von dem ihm forstlicherseits oft zugeschriebenen Benagen der Bäume, welches wir schon längst dem Eichhörnchen zugeschrieben und auch durch Beobachtung bei diesem bestätigt haben. Wir können auf Grund unserer allerdings nur kurzen Erfahrungen an der grossen Haselmaus in der Gefangenschaft constatiren, dass die Neigung, ja Lüsternheit zur Fleischnahrung bei derselben gross ist. Zwei von uns im Spätjahr in emem Moosneste gefangene, bereits im Vorschlafe befindliche sartenschläfer frassen allerlei gekochtes und rohes Fleisch, mit Gier auch gesalzenen Speck. In den ersten Wochen des Mai schreiten die grossen Haselmäuse zur Paarung. Da gibt es oft erbitterte Kämpfe zwischen den eifersüchtigen, erbossten Männchen, die sich auf den Bäumen in rasender Eile verfolgen und so hartnäckig und mörderisch befehden, dass zuweilen der Schwächere getödtet und von dem Sieger aufgefressen wird. In der ersten Hälfte des Juni wirft das Weibchen vier bis sechs nackte, blinde Junge. Die Wiege dieser hülflosen Nachkommenschaft steht in einem alten Eichhornneste oder einem Krähenhorste, seltner in hohlen Bäumen, häufig in einem Amsel- oder Drosselneste, aber auch in einem ganz selbstständig angelegten freistehenden Moosneste, das nicht ohne Kunstgeschick bereitet ist. Wenn ein Vogelnest zur Grundlage der Familienwohnung eingenommen ist, so wird es wohl verschlossen, das heisst zugebaut, und nur ein kleines Schlupfloch offen ge- lassen. Wir schildern in unseren Wohnungen in der höheren Thierwelt (Verlag von Otto Spamer 1869) die Zubereitung einer solchen Wohnung nach eigner Anschauung. „Die Maus bildet den Rand des Vogelnestes mit- telst Moosbüscheln, in welche sie besoaders die gemeine Heidewurzel, auch Halmen, kleines Reisergeniste und dürre Blätter unterflicht, zu einer etwa 10 em hohen Kuppel weiter und lässt über dem Vogelnestrande in der Mitte der Kugel, wie erwähnt, ein kleines Schlupfloch. Das Bauen geschieht von innen heraus, indem sich das Thier, wie beim Eichhörnchen gezeigt wurde, in die Grundlage — hier das Vogelnest — setzt und die durch Zunge, Zähne und Pfoten zubereiteten Baustoffe mittelst Andrückens von Kopf und 14* 212 Nager. Rodentia. Füssen allmälig über sich aufthürmt. Etwaige Ecken an der äusseren Wandung glättet und verflicht die Maus von aussen. Zur inneren Bekleidung wählt dieselbe gewöhnlich Kuhhaare, auch Schafwolle, welche Stoffe sie ziemlich glatt zusammenfilzt. Ein solches vollendetes Nest hat gewöhn- lich 12 bis 17 em im Durchmesser und ist ziemlich rund. Übrigens verpesten es die Mäuse sehr mit ihrem unangenehmen Geruche durch ihre Unreinlichkeit zu dieser Zeit.“ Viel länger als der Siebenschläger säugt die grosse Haselmaus ihre Jungen. Ihre Anhänglichkeit an dieselben ist namentlich in der ersten Zeit sehr gross, denn wenn man sich dem Neste mit Störung naht, funkeln die lebhaften Augen der Alten und zähne- fletschend faucht das erregte, geängstete Thier, ja macht sogar von seinem empfindlich schädigenden Gebiss in der Bedrängniss Gebrauch. Sind die Jungen grösser geworden, so trägt die Mutter ihnen Nahrung von aussen zu und führt sie allmälig auf immer weiter sich ausdehnende Streifzüge aus, bis sie vollkommen selbstständig sich von ihr trennen und eigne Ein- richtungen zu ihrer Sicherheit und Ruhe treffen. Im Herbste schicken sich Alte wie Junge an, für den Wintervorrath zu sorgen, an welchem sie während der Zeit des bisweilen unterbrochenen, überhaupt nicht sehr tiefen Wimter- schlafs zehren. Sie tragen ihn ein in Scheuern, Ställe, Mauerlöcher, Erd- und Baumhöhlen, wo mehrere zusammengerollt bei einander liegen, zu einem Knäuel vereinigt. Über diese Winterwohnung sagen wir in unseren Thierwohnungen : „Meist findet man sie in hohlen Bäumen, aber auch in Mauerlöchern, Heu- schobern ete. Das einzige, welches wir sahen, stand im Wandgefach einer halbzerfallenen Erdhütte, welche Waldarbeiter errichtet hatten. Es wurde von Holzhauern entdeckt, m dem Augenblick, als eme Haselmaus aus dem Neste sprang. Das geräuschvolle Nahen der Arbeiter sprengte eine zweite Maus aus der Wohnung, welch letztere von den Leuten uns überbracht wurde. Das Nest ist bemahe ganz rund bis auf die untere abgeplattete Fläche, welche von den Gefachgerten der Wand einige Eindrücke erhalten. Die Hauptstoffe sind äusserlich Moos, mit Heidewurzeln und dürrem Eichen- und Buchenlaub untermischt; die innere Ausfütterung besteht aus Gras und Schafwolle. Die Wandungen sind bis knapp 4 cm dick, und das sehr dichte Nest misst über 20 em im Durchmesser. Offenbar war es zum Win- terschlaf von den Mäusen gebaut, und möchte dieser nach allen Anzeichen bald eingetreten sein. Übrigens schlafen diese Thiere nach unseren Beob- achtungen auch öfters, besonders in gelinden Wintern, im Holzmehle hohler Bäume, zu einem Klümpchen zusammengeringelt.“ Die unbezweifelte Schäd- lichkeit dieser Nager veranlasst Nachstellungen von Seiten der Menschen. Ausserdem aber werden sie häufig die Beute der Marder, Iltisse, Wiesel, Katzen, des Uhu und der kleineren Eulen. Ganz besonders zu empfehlen sind gute, muthige Katzen. Wer in einem Garten, in welchem Haselmäuse N 7 7 htet. Winternest der grossen Haselmaus, auf einem alten Misteldrosselneste errie Nager. Rodentia. 213 oder Siebenschläfer ihr Wesen treiben, eine Vogelhecke anlegt, muss die sorgfältigsten Vorkehrungen zur Verwahrung vornehmen und darf mit seiner beobachtenden Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Denn es ist erstaunlich, mit welcher Fertigkeit diese heimlichen Thiere sich durchzunagen verstehen und wie sie durch ihre Klettergewandtheit und ihre abenteuerlichen Unter- nehmungen, zu denen die Lüsterhheit sie antreibt, den Vögeln erfolgreich zu Leibe rücken. Rücksichtslos werden die Nester geplündert, ob Eier oder Junge darin liegen; ja den ausgeflogenen Jungen wissen sie auf den Stäben schleichend und durch den Sprung beizukommen. Unstreitig das niedlichste, liebenswürdigste und unterhaltendste Mitglied der Bilche ist die kleine Haselmaus (Myoxus muscardinus — sive Mu- scardinus avellanarıus. Man hat die kleine Haselmaus mancherseits als Ver- treterin einer besonderen Sippe — Muscardinus — aufgeführt und von den offenbar sehr nahe verwandten Bilchen getrennt. Ihre Lebensweise stimmt im Wesentlichen mit den Bilchen überein, nur erweist sie sich in ihrem Wesen und Charakter entschieden anders, friedlich und sanft. Mit Ein- rechnung des 6 cm langen Schwanzes hat die ganze Maus nicht mehr als 14 cm Länge. Sie trägt einen hellfuchsrothen Pelz mit bräunlich-rothem, gleichmässig behaartem Schwanze. Auf Rücken und Schwanz zeigen sich schwarzbraune Grannen, welche das Pelzwerk individuell mehr oder weniger dunkel durchschossen erscheinen lassen. Die langen Schnurrhaare sind eben- falls dunkel gefärbt und stehen strahlig auseinander. Brust und Kehle zeigen ein abstechendes Weiss, ebenso die Zehen der rothen Füsschen. Sie gehört Mitteleuropa an und bewohnt die Ebenen wie die Gebirge, letztere jedoch nicht über 2000 m über dem Meere. Ihr Aufenthalt und Wohnungs- gebiet sind Hecken, namentlich Haselnusshecken und niedriges Gebüsch, be- sonders in Mittel- und Niederwaldungen oder auch in Vorhölzern und Hainen. In kleimen Gesellschaften tritt sie bei ihren nächtlichen Streifereien auf, und an Orten, wo die beliebten Haselnüsse sie anlocken, sieht man nicht selten . mehrere Gesellschaften in losem Verbande zusammen ihr Ernährungsgeschäft betreiben. Die beste Beobachtungszeit ist die Morsen- und Abenddämmerung oder auch die hellerleuchtete Mondnacht; denn das Thier ist vorzugsweise ein Nachtthier, das gewöhnlich den Tag über in seinem Schlupfwinkel schläft. Man stellt oder setzt sich mitten in einen Haselbusch, der von den Hasel- mäusen fleissig besucht wird, und richtet sein Augenmerk auf die Aste und Gezweige, welche sich gegen den hellen Himmel deutlich abzeichnen. Mit wunderbarer Schelliskeit laufen die Thierchen über die Zweige, und in den mannigfaltigsten Stellungen eignen sie sich die Nüsse an. Oft halten sie sich nur mit den Hinterfüssen, während die Vorderfüsse die am Zweig hängenbleibende Frucht erfasst und für das Nagen und Aushöhlen des In- halts den nöthigen Halt bieten. Die feinen Zähne schneiden die Nuss in wahrhaft kunstfertiger Weise an und es genügt eine verhältnissmässig sehr 214 Nager. Rodentia. kleine Öffnung, um die allmälige Entleerung des Kerns mittelst der Zähne zu ermöglichen. So wandert jedes Glied des geschäftigen Völkchens von einer Nuss zur andern, und das ist ein Knuppern und Knacken und Nieder- fallen der Schalentheile und nicht selten auch der trotz der Vorsicht der Be- handlung doch mitunter vom Zweig sich trennenden, häufig von den Thier- chen aber absichtlich losgerissenen und schliesslich nach der Ausbeutung weggeworfenen Nüsse, dass die Mühe der Beobachtung reichlich gelohnt wird durch das sich darstellende Bild der Anmuth und Rührigkeit. Eine seräuschvolle Bewegung schreckt sie alle blitzschnell auseinander, und kaum gedacht, sind sie verschwunden, das Eine in huschendem Lauf, das Andere durch rasche Sprünge, das Dritte durch einen Sprung aus der Höhe auf den Boden, wo eine Höhle oder ein Steingerölle die Schutzsuchenden aufnimmt. Ist das Nest in der Nähe, so sucht die Haselmaus, wenn nicht der Schreck allzu jäh ist und die Gefahr ihr nicht zu drängend erscheint, dasselbe zu erreichen. Dieses Nest baut sich die Haselmaus oder das Haselmauspaar in dichtes Gebüsch gewöhnlich 1 bis 2 m über dem Boden. Sie benutzt zum Bau des Sommernestes Moos, Grashalmen und Thierhaare. Ganz gegen die Regel ihrer nächsten Verwandten schreitet sie erst im Hochsomurer zur Fortpflanzung, und im Monat August kommen in der warmen, kugelförmig und zierlich gebauten Wohnung drei bis vier nackte, blinde Junge zur Welt. Einen vollen Monat werden die Kleinen gesäugt, auf ihren ersten Ausgängen sorgfältig behütet und geleitet von den Alten und auch später, wenn sie befähigt sind, ihren eigenen Haushalt zu gründen, doch noch zu gemeinschaftlichen Unternehmungen von ihren Führern eingeladen. Die Streifereien, die sich zuerst in geringem und mit der Zeit mehr und mehr in grösserem Abstand vom Neste bewegen, führen endlich zur Trennung, und nun naht der Oktober, wo die einzelnen Individuen der jungen und alten Haselmäuse an Einsammlung von Nahrung in die Winterwohnung denken müssen. Dieses Winternest hat ebenfalls die Gestalt einer Kugel und besteht aus Moos, Blättern, Reisern, Nadeln und Gras. Zusammenge- rollt zur Kugelgestalt, versinken sie in noch tieferen Schlaf, als ihre Ver- wandten, wiewohl sie zeitweise von selbst erwachen und von den Vorräthen zehren. Abweichend von ihrem Verwandten, dem Gartenschläfer, lebt die sanfte friedliche Maus ausschliesslich von vegetabilischer Nahrung. Ausser ihrer erwähnten Lieblingskost, den Haselnüssen, verzehrt sie gerne Bucheln und Eicheln, Welschnüsse, allerlei Obst, Beeren und sehr gerne die Kerne der Apfel und Birnen, auch die der Sonnenblume. Ferner benagt sie bei Mangel an Früchten und Knospen die zartere Rinde der Wald- und Garten- bäume ähnlich wie die Waldwühlmaus (Arvicola glareolus). Die Nage- stellen gehen bis in die Spitzen des Gezweigs, ja sie beschränken sich öfters blos auf zarte Zweige, und ist dieser Umstand grossentheils das Unterschei- dungsmerkmal von dem Zernagen von glareolus, welche meist ununterbrochen Winternest der kleinen Haselmaus. Ninternest. Die kleine Haselmaus, schlafend im \V Nager. Rodentia. 215 von unten bis in die Mitte und weiter die Büsche zernagt. Die Form der Nagestellen ist gewöhnlich die flecken- oder platzweise, geht wohl manchmal auch um den ganzen Zweig herum, in der Regel trifft die Benagung nur eine Seite und oberflächlich. Die kleine Haselmaus geht namentlich gerne alle Weichhölzer, wie Weiden, Haselnuss- oder Hollunderstauden, aber auch gerne die Eschen-, Ahorn- und Buchenpflänzlinge an, doch bei weitem nicht in dem Masse wie Arvicola glareolus. Ihre Nagestellen sind sehr fein ge- zähnelt anzusehen und gehen selten bis auf den Splint, sondern erstrecken sich platzweise auf Oberhaut und Bast. Man liebt in manchen Gegenden, so auch in England, diese niedliche, leicht zähmbare, sanfte und friedliche Maus in der Gefangenschaft zur Unterhaltung zu pflegen, und sie benimmt sich da ganz anders, wie die beiden verwandten Baumthiere, welche Nachts wie rasend im Käfig umherspringen. Auch unterscheidet sie sich von jenen durch ihre Reinlichkeit. Im Spätherbste werden die schlafenden Thierchen häufig zufällig durch Waldarbeiter entdeckt. Im warmen Zimmer und in der warmen Hand beginnt allmälig das Erwachen, welches Dr. Schlegel so anziehend auf Grund eingehender Beobachtungen schildert. „Da sitzt sie, eine Pelzkugel, den Kopf an die Hinterfüsse gestützt, den Schwanz seitwärts über das Gesicht gekrümmt, mit dem Ausdrucke des tiefsten Schlafs im Gesichte, die Mundwinkel krampfhaft auf- und eingezogen, so dass die langen Bartborsten, sonst fächerförmig ausstrahlend, wie ein langhaariger Pinsel über die Wangen hinauf- und hinausragen. Zwischen den festge- schlossenen Augen und dem Mundwinkel wölbt sich die eingeklemmte Wange hervor; die zur Faust geballten Zehen der Hinterfüsse drücken im tiefsten Schlafe so fest auf die Wange, dass die Stelle mit der Zeit zum kahlen Flecke wird. Ebenso drollig wie dieses Bild des Schlafes erscheint das er- wachende Thier. Nimmt man es in die hohle Hand, so macht sich die von da überströmende Wärme gar bald bemerklich. Die Pelzkugel regt sich, beginnt erkennbar zu athmen, reckt und streckt sich, die Hinterfüsse rutschen von der Wange herunter, die Zehen der eingezogenen Vorderfüsse kommen unter dem Kinne tief aus dem Pelze heraus zum Vorscheime, und der Schwanz gleitet langsam über den Leib herab. Und dabei lässt sie Töne hören wie Pfeifen oder Piepen, feiner noch und durchdringender als die der Spitzmäuse. Sie zwinkert und blinzelt mit den Augen, das eime thut sich auf, aber wie geblendet kneift es der Langschläfer schnell wieder zu. Das Leben kämpft mit dem Schlafe, doch Licht und Wärme siegen. Noch ein- mal lust das eine der schwarzen Perlenaugen scheu und vorsichtig aus der schmalen Spalte der kaum geöffneten und nach den Winkeln hin geradezu verklebten Lider hervor. Der Tag lächelt ihm freundlich zu. Das Athmen wird immer schneller und tiefer. Noch ist das Gesicht in verdriessliche Falten gelegt; doch mehr und mehr macht sich das behagliche Gefühl der I Wärme und des rückkehrenden Lebens geltend. Die Furchen glätten, die 216 Nager. Rodentia. Wange verstreicht, die Schnurren senken sich und strahlen ausemander. Da auf einmal, nach langem Zwinkern und Blinzeln, entwindet sich auch das andere Auge dem Todtenschlafe, der es umnachtete, und trunken noch staunt das Thierchen behaglich in den Tag hinaus. Endlich ermannt es sich und sucht ein Nüsschen zur Entschädigung für die lange Fastenzeit. Bald ist das Versäumte nachgeholt, und die Haselmaus ist — munter ? nein, immer noch wie träumend mit den Freuden des nahenden Frühlings beschäftigt, und bald genug gewahrt sie ihren Irrthum, sucht ihr Lager wieder auf und schläft ein von Neuem, fester und fester zur Kugel sich zusammenrollend.“ Dem Vorstehenden mögen sich eimige Erfahrungen an einer kürzlich in unseren Besitz gekommenen kleinen Haselmaus anreihen. In den ersten Tagen des März 1880, als das Wetter sich plötzlich bei Süd und Südwest milder gestaltete, hörte der Eine von uns, in einem Mittelwald- schlage seines Dienstbezirkes beschäftigt, mit einemmale ein feines Piepen unter sich. Ein ihn begleitender Holzhauer machte ihn alsbald auf eine Stelle im Bodenlaube aufmerksam, woher das helle Pfeifen kam. Gleich darauf entdeckte sich ein 85—9 cm. im Durchmesser haltendes kugelrundes Nestchen, das halb in, halb ausserhalb der Erde mit etwas Laub bedeckt angebracht war. Dieses niedliche Nest zeigte in seiner Unterlage eine deutliche Schicht feiner Grashalmen, welche sich ohne viele Mühe gleichsam von selbst von den übrigen Stoffen ablösen liess. Auf diesem wie eine flache rundliche Untertasse geformten Roste war nun das netteste Kugelnmest zu schauen. Es besteht theilweise aus feinzerschlitzten Bastschnüren von Weichholz, theils aus schmalem Bandgrase, welche Stoffe sehr fest und dicht, etwa 1,5—2 cm. dick, mit dem verhärteten, an manchen Stellen wie trockner Schnecken- schleim glänzenden Speichel des Thierchens imeinander verkittet sind. Die Wand des Nestes war damals überall verschlossen; nur machte sich bei gründlicher Untersuchung derselben bald eine Stelle bemerklich, an welcher die Spitzen der Hälmchen und Schnürchen der Stoffe weniger dicht in einem semeinschaftlichen Mittelpunkte sich vereinigten. Diese Stelle liess sich bequem öffnen, wodurch eine im Winterschlafe begriffene und völlig zu- sammengekugelte kleme Haselmaus zum Vorschein kam. Die vier nied- lichen weisslichen Füsschen lagen auf einem Punkte zusammen, und zwischen ihnen stak das Schnäuzchen der Maus, deren leicht bebuschter Schwanz unter dem zusammengezogenen Bauche her bis über die Stirne und den Nacken hinaus dicht angedrückt gerollt war. Reizend sah das in eine kleime nur 3 cm. starke Kugel zusammengeringelte Thierchen aus, dessen lange dunkle Schnurren wegen der runzelig zusammengezogenen Wangen wie kleine zu- sammengelegte Fächer symmetrisch aneinander gedrückt zu beiden Seiten der Flanken lagen. Das Mäuschen war trotz seines kundgegebenen Lebens- zeichens durch Pfeifen noch in Erstarrung und fühlte sich sehr kühl an. In einer luftigen Schachtel verwahrt, wurde es mit nach Hause genommen. N \ ETISE Kleine Haselmäuse, Nager. Rodentia. 217 Der Besitzer liess emen alten Nachtigallenkäfig mit feinem dichten Querge- flechte von Draht herstellen und brachte die Maus sammt dem Neste in den Käfig, legte ausgekörnte Haselnüsse hinein, setzte Wasser im einem Trinkge- schirr in den Behälter und that diesen in ein unerwärmtes Zimmer an eine Stelle, wo die Strahlen der Sonne den Käfig und das Thier nicht berühren konnten. Das Mäuschen lag in tiefem Winterschlafe von da ab bis zum 25. März, an welchem Tage er beim Darreichen von frischem Wasser bemerkte, dass es einige Haselnüsse verzehrt hatte Das Threrchen lag aber wieder in seinem Nestehen zusammengekugelt im Schlafe und hatte — da die übrigen Tage des März unfreundlich und trotz des Sonnenscheins durch einen rauhen Oststrom kalt blieben — das Schlupfloch seines Zufluchtsortes beinahe ganz verstopft und schlief so ununterbrochen bis zum 1. April, von welcher Zeit an es Tags über leiser schläft und stets die Nacht über munter ist. In der Erstarrung konnte man an dem Thierchen mit blossem Auge kein Athmen entdecken, unter dem Vergrösserungsglase aber bald einen auffallend verlangsamten Puls; auch verrieth sich das Athmen innerhalb 3—4 Minuten nur in einem ruckweisen Heben der Flanken, worauf wieder völlige Ruhe eintrat. Dem Thierchen wurde jetzt verschiedenes Futter vorgesetzt. Ausser Haselnüssen bekommt es süsse Mandeln und Welschnüsse, welche, wie die Hasselnusskerne, vorher von den Schalen befreit werden. Die Mandeln nagt es wohl hin und wieder in kleinen Löchern wenig an, die Kost behagt ihm aber nicht absonderlich. Besser geht es schon die Welschnüsse an, besonders wenn die Kerne, eine Zeit feuchter Luft oder Regen ausgesetzt, etwas erweicht oder aufgefrischt worden. Auch süsse Milch säuft es bis- weilen unter schmatzendem Tone. — Auffällig häufig ist seine kleme wurm- oder nadelartige schwarze Losung in 3—8 mm. langen, 1—1,5 mm. breiten, übrigens von Gesundheit zeugenden faeces, obgleich es eigentlich seither nur mässig Nahrung aufnahm. Es verzehrt bis jetzt allnächtlich — wo man es öfters die Nussschalen bearbeiten und auf den Stangen des Käfigs sich herumbewegen, bisweilen auch an der Milch lecken hört — höchstens einen halben Welschnusskern. Der Bällast, welchen es durch Zernagen und Verzehren der häutigen und holzigen Umhüllungen der Hasel- und Welsch- nusskerne und Schalen in seinen Magen bringt, mag wohl zu der quantita- tiven Darmausscheidung hauptsächlich beitragen. Indessen war vom 1. April ab der Käfig an der Wand in der Nähe und beiseite des gegen Osten gehenden Fensters in der Schlafstube neben dem Arbeitszimmer angebracht worden an einer Stelle, wo den Behälter die Strahlen der Sonne einige Zeit in der Frühe treffen konnten. Die Schlaf- stube wurde bislang über Tag gewöhnlich zugehalten, sodass die Ofenwärme aus der Arbeitsstube in das Nebenzimmer nicht eindrang. Nur Abends und Morgens war die Verbindungsthüre beider Zimmer eine bis anderthalb 218 Nager. Rodentia. Stunden offen, und die mässige Ofenwärme gelangte dann auch m das Schlafzimmer. Bei solcher Temperatur — 11—120 R. — blieb die Maus stets in ihrem Nestchen zusammengerollt schlafend, erwachte aber bei leisem Anhauch sogleich, während der Schlaf schon tiefer sich erwies, sobald die frische Luft — wie gewöhnlich — durch’s geöffnete Fenster eindrang. Be- wegte Luft oder sehr windiges Wetter scheut die Maus — Wind ist ihr zu- wider. Am Morgen des 4. April öffnete man das Fenster neben dem Be- hälter; die Luft war sehr bewegt, und der etwas rauhe Wind stiess kräftig in’s Zimmer. Als man nach emiger Zeit einen Blick in den Käfig auf das Nest warf, fand sich dieses nicht allein merklich aus seiner vorherigen Lage gebracht, sodass das bis dahin halb gegen das Fenster gerichtete Ein- gangsloch dem Luftzuge abgewendet war, sondern auch das Nest gänzlich zugestopft. Um zu sehen, wie und auf welche Weise die Haselmaus das Wenden des Nestes, sowie das Verstopfen des Schlupflochs bewirke, wurde das Nest wieder in seine frühere Lage versetzt und das Schlupfloch geöffnet. Innerhalb einiger Minuten bemerkte man eine äusserst rasche Kreisbewegung der Maus im Neste,: wodurch dies in einem Halbkreise der Bewegung seines Insassen folgte und wieder mit semer Öffnung dem durch’s Fenster dringenden Windstosse abgewendet lag. Kaum war das Nest auf diese Weise etwa in einem rechten Winkel umgedreht, sah man die Haselmaus mit Vorderpfoten und Schnauze die Schnürchen und Hälmchen im dünner Lage über sich zu- sammenziehen, wonach sie sich kugelte und den Schwanz m einem Bogen quer über das Gesicht legte. Das Thierchen liegt zusammengeringelt gewöhnlich etwas zur Seite, doch manchmal auch wie Igel und Dachs mit dem Kopfe gerade nach unten gebogen. Der Kopf neigt sich im Schlafe bei jeder Lage des Leibes nach unten, sodass die Ohrmuscheln mit der Partie des Nackens sich etwa in der mittleren horizontalen Ebene der Körperlage befinden. Stets aber zeigt sich das Gesicht resp. der Kopf direct hinter dem Eingange des Nestes, sobald dasselbe im Schatten oder in nicht zu grellem Lichte ge- halten wird. Bisweilen legt die Maus auch von der Seite aus den Schwanz quer über die Stirne, sodass es aussieht, als wolle sie sich die Augen schützen. Trotzdem das Thierchen nun schon vom 1. April, also gegenwärtig 6 Tage, nicht mehr m einem anhaltenden Schlafe begriffen und jede Nacht auch anhaltend wach ist, zeugen seine Bewegungen doch noch von Unsicher- heit und schlaftrunkenem Wesen. Auch ist es sichtlich reizbar — angegriffen. Das merkt man daran, dass es leicht erschrickt und seine Bewegungen noch verhältnissmässig langsam sind. Eigenthümlich erregt es nachgeahmtes mäuseartiges Pfeifen. Sobald man in seiner Nähe diese Laute nachahmt, zuckt es auffallend zusammen; es ruckt mit dem Kopfe, bewegt diesen bei jedem Tone rasch nach unten oder seitwärts, kehrt bei anhaltendem Pfeifen Nager. Rodentia. 219 sogar das Gesicht abseit, zuletzt mit dem ganzen Körper zurückweichend oder sich wendend. Offenbar berühren solche Töne seine Gehörnerven höchst unangenehm, wie dies deutlich seine Bewegungen und Gebärden verrathen. Bis jetzt zeigt sich die Haselmaus nicht zutraulich; von Zahmheit kann ohnehin in den 6 Tagen ihres eingetretenen unterbrochenen Schlafes, sowie bei der dadurch noch beschränkten Beschäftigung mit ihr noch keine Rede sein. Auch ist zu berücksichtigen, dass das Thier nach seiner ganzen Ge- staltung und Haltung ein altes Exemplar ist, das im Vergleiche mit dem v. J. einige Zeit früher von Waldarbeitern gebrachten, aber leider ver- unglückten jungen Männchen doch um Vieles scheuer und misstrauischer ist. Es geräth jedoch neuerdings, gegenüber oder entgegen seinem seit- herigen scheuen und starren Niederdrücken bei Annäherung zuweilen in Affeet, den es durch einen energischen Schwung seines Schwanzes zur Seite oder im die Höhe verräth. Im Ganzen aber beträgt sich das Thierchen nach Art der kleinen Haselmäuse sanft und macht nicht den mindesten Versuch zu beissen, wenn man es angreift; allein es weicht noch furchtsam den wenn auch noch so ruhig ausgeführten Bewegungen aus und drängt sich häufig vor einer Erscheinung in eine Ecke. Nunmehr steht sein Behälter auf einem Bänkel etwa 2,5 Meter vom Schreibtische im Arbeitszimmer, in welchem eine gleichmässige Wärme, welche 14,5—150 R. nicht übersteigt, unterhalten wird. In dieser Temperatur schläft es aber sehr leis und erwacht bei der geringsten Störung. Zeitweilig öffnet es auch die Augen und ändert, wiewohl selten, seine Lage. Im Ganzen schläft es aber den Tag über ruhig. Heute Mittag — den 6. April — während eines längeren Sonnenblickes rückte man seinen Behälter leise so, dass das in seinem Neste Schlafende die Sonnenstrahlen trafen und nach und nach erwärmten. Vorher im Schatten der Stube zählte man an dem Schläferchen alle 3 Secunden unge- fähr einen Pulsschlag; in der Sonne athmete und pulsirte das Thierchen zuletzt so rasch, dass 1,75—2 Pulsschläge und fast ebenso viele Athemzüge in eimer Secunde erfolgten. Dennoch erwachte es nicht von selbst durch die Erwärmung, sondern nur durch eine Berührung des Käfigs; als aber das Nest betastet wurde, lief es heraus, verfügte sich jedoch alsbald wieder in dasselbe. Den unmittelbar einfallenden Sonnenstrahlen sowohl, als der srellen Helle durch starkes Reflexlicht weicht es mit dem Gesicht aus, in- dem es sich in semer Lage wendet, sodass es zuletzt der Lichtseite den kücken kehrt. Heute Abend ist es seit 8 Uhr sehr munter und rumort an den Nüssen, nachdem es zwischen das Drahtgitter geklemmte Birnschnitten mit den Kernen sogleich behaglich angenommen und in etwa 2 Meter Entfernung von dem Beobachter bei Lampenschein verzehrt hatte. 220 Nager. Rodentia. Jetzt, wo im Garten die Blüthendolden des Spitzahorn (Acer platanoides) zum Vorschein kommen, reicht man der Haselmaus allabend- lich einige Dolden in den Käfig, die es gerne annimmt. Schon vorher nagte es das Herz der angeschwollenen Knospen des Spitzahorns, sowie des eschenblätterigen (A. Negundo) also heraus, dass die Schuppenhüllen stern- förmig auseinander standen. Merkwürdig, dass es die Rinde selbst der zar- testen Zweige von Weichhölzern und Ahornen, Eschen u. dergl. nicht benagt. Die Haselnüsse in der Schale benagt es wohl auch und sogar in vereinzelten tiefen Bissen, allein zum Offnen schickt es sich nicht an; wes- halb ihm die Schale der Nüsse stets zerschlagen wird. Regelmässig gegen 128 Uhr Abends erwachte es den ganzen Monat April hindurch. Oft sitzt es, bis zu den Vorderfüssen ausserhalb des Schlupflochs seines Nestes vor- gerückt, bei einbrechender Dämmerung aber mehrere Minuten unbewesglich, bis es langsam aus seinem Behälter hervorkommt. Es trägt beim Laufe den Schwanz wagerecht gestreckt über dem Boden hin. Sobald es sich nieder- setzt, legt es den Schwanz sogleich gekrümmt zur Seite. Gerne verweilt es auf den Springhölzern des Käfigs. Es dauert gewöhnlich ziemlich lang, bis es sich an das Benagen seines Futters nach seinem Erwachen begibt. Ein auffallendes vernehmliches Geräusch in raschem klopfendem Tempo verkündigt das Nagen. Dasselbe gewahrt man bei harten Gegenständen wie Haselnusskernen, Knospen u. dergl. m., in trichterförmigen Löchern, so dass es aussieht, als bohre das Thierchen die Gegenstände an. Nach dieser Wahrnehmung ist es erklärlich, wie es z. B. in der Natur die halb reifen noch weichen Haselnüsse in ihrem Stande an den Zweigen aushöhlt Eine Eigenheit das Thierchens ist ferner, dass es die Haselnusskerne regel- mässig in seinen Wassertrog schleppt. Des andern Morgens finden sich Schalen wie Überbleibsel von Kernen stets im Wasser des Behälters. Es scheint sonach, dass die Maus die Kerne vorzugsweise gerne in eingeweichtem Zustande benagt und verzehrt. Vielfach bemerkt man die Maus an dem Trinkgeschirr, in dessen Wasser sich — wie erwähnt — öfters die Schalen und Überreste der über Nacht senossenen Nusskerne vorfinden. Sein Nagen währt oft Stunden lang, weshalb neuerdings vor diesem anhaltenden Tremuliren die Thür des Schlaf- zimmers zugehalten. werden muss. Übrigens ist nicht das geringste Be- nagen an dem Holze bemerklich. Auch noch niemals haben wir irgend einen Versuch an dem Thiere wahrgenommen, sich durch die Drähte zwängen noch viel weniger durch Nagen an einer Stelle Befreiungsversuche anstellen zu wollen. Es beträgt sich vollkommen eingewöhnt in seinem Behälter. Der Biber (Castor Fiber). Die Familie Biber, Castor, oder der Schwimmfüsser, Palmipedia, ragt unter den Nagern durch ganz besondere Ausprägung hervor. Da unser Biber. Nager. Rodentia. 221 Biber und der Amerikanische die ganze Familie repräsentiren, so bedarf es einer besonderen Hervorhebung der Merkmale der letzteren nicht. Die Grösse des alten Männchens beträgt 75—95 cm., die Schwanzlänge 30 cm., die Höhe am Widerrist ebenfalls 30 cm. Die Gestaltung des Leibes ist eine plumpe und kräftige, vorn weniger dick, als hinten. Der an der Rumpfgrenze breite, nach vorn schmaler werdende Kopf hat platten Scheitel und kurze, stumpfe Schnauze. Die unter dem Pelz fast ganz versteckten Ohren sind länglich rund, klein und kurz, aussen wie innen behaart; eng an den Kopf angelegt, verschliessen sie die Gehörgänge beinahe völlig. Die kleinen Augen haben eine Nickhaut, die Nasenlöcher wulstige Flügel und sind verschliessbar; die breite Oberlippe ist in der Mitte gefurcht und nach abwärts gespalten, die Mundspalte klein. Der Hals ist dick und kurz, der Rücken gewölbt, der Bauch hängend; die kurzen, starkmuskeligen Beine, von denen die vorderen etwas kürzer, als die hinteren, sind, haben Füsse mit fünf Zehen, von welchen die hinteren bis zu den Krallen mittelst breiter Schwimmhäute verbunden sind. Der 20 cm. breite Schwanz erscheint nur am Grunde zu einem Drittel vollbehaart, im Übrigen bedecken ihn perga- mentartige, sechseckige kleine Schuppen oder Hautplättchen, zwischen denen einzelne Haare stehen, die steif und rückwärts gewendet sind. An der Wurzel erscheint der Schwanz gleichsam als verlängerter, fortgesetzter Leib, so wenig scharf löst er sich vom Körper. Nach der Mitte zu ist seine Ge- stalt plattgedrückt, gestreckt oval, zu beiden Seiten scharfkantig, erst an der Spitze wird er stumpfrund. Die dichten, Hlockigen, seidenartigen Woll- haare sind untermischt mit hervorragenden dünnstehenden, glänzenden, borstenartigen Grannen, die übrigens am Kopf und Unterrücken viel kürzer sind. Die Oberseite des Pelzes ist dunkel kastanienbraun, wenig oder mehr in’s Grauliche spielend, die Unterseite erscheint heller, ihr Wollhaar ist an der Wurzel silbergrau, nach der Spitze hin gelblichbraun. Von dem Körper stechen die dunkler gefärbten Füsse ab. Die nackten Schwanztheile zeigen ein bleichschwärzliches Grau mit bläulichem Anhauch. Weit aus dem Kiefer hervor ragen die grossen Nage- oder Vorderzähne des Gebisses. Sie sind vorn Nach, glatt, im Querschnitt fast dreischneidig, seitlich meiselförmig. Die beiderseits in der oberen und unteren Kinnlade befindlichen 4 Backen- zähne haben oben aussen drei, innen eine, unten dagegen aussen eine und innen drei querlaufende Schmelzfalten. Das ganze, aus zwanzig Zähnen bestehende stahlfeste Gebiss spielt in’s Gelbliche. Öl- und Stickstoff finden sich beim Biber nicht wie beim Dachse in eimer Drüse vor, sondern in gesonderten Säcken. Nach Ratzeburg hat der Biber ausser den zwei faustdicken Kastorsäcken noch zwei gleich grosse Drüsensäcke, in welchen bienhonigähnliches Öl abgesondert el Erstere Säcke, welche im Gegensatz zu den letzteren — den unteren — die oberen senannt werden und in der Aftergegend und der Harnröhre sich befinden, 222 Nager. Rodentia. sind innerlich mit einer blätterigen und faltigen Schleimhaut versehen, die, vorzüglich beim Männchen, oft bis zu einem halben Pfund schwer ist und das sogenannte Bibergeil absondert, welches in frischem Zustande im einer zähen, schleimigen, gelblich gefärbten Masse besteht, in getrocknetem aber die dunkelrothbraune Farbe erhält, als festes Gefüge erscheint, unangenehm riecht und sehr bitter schmeckt. Ratzeburg meint, durch die besondere Lagerung der Absonderungsdrüsen in der Gegend des Afters und der Ge- schlechtstheile finde eine Entleerung ihrer Stoffe leicht statt. „Dies geschieht, ähnlich wie bei den Vögeln, durch die sogenannte Kloake, die allgemeine Offnung, in welcher Mastdarm und Geschlechtsorgane in ihren Ausmündungen im unteren Theile der Bauchhöhle zusammenfliessen und die Drüsenaus- scheidungen schon durch den Druck beim Lösen (Kothentleerung) bewirkt werden. Diese Ausscheidung, welche besonders in der Begattungszeit her- vortritt, dient zur Anlockung der Geschlechter.“ Die Verbreitung des Bibers erstreckt sich gegenwärtig noch über alle zwischen dem 33. und 68. Grad nördlicher Breite liegenden Gegenden von Europa, Amerika und Asien. In letzterem Erdtheile lebt er viel zahlreicher, als in Europa, wo er auf Österreich, Russland und Scandinavien beschränkt ist, in Deutschland aber an der mittleren Elbe nur noch angetroffen wird. In srosser Zahl bewohnt er die Ströme Mittel- und Nordsibiriens und die Flüsse, die in’s Kaspische Meer sich ergiessen. Audübon gibt im Jahre 1849 an, dass in Amerika das Vorkommen des Bibers nur noch, ausgenommen wenig bebaute Gegenden der Vereinigten Staaten, auf Labrador, Neufundland, Kanada und einzelne Gegenden der Staaten Maine und Massachussets re- ducirt sei. Man unterscheidet den Kanadabiber (Castor canadensis) von dem Europäischen. Jener ist von diesem unterschieden durch die mehr gewölbte Gesichtslinie des schmäleren Kopfes und durch die dunklere Pelzfarbe. Brehm sagt über das Vorkommen und die Lebensweise des Bibers Folgen- des: „Der Biber lebt gegenwärtig meist paarweise und nur in den stillsten Gegenden zu grösseren oder kleineren Familien vereinigt. In allen be- völkerten Ländern haust er, wie der Fischotter, meist in einfachen unter- irdischen Röhren, ohne daran zu denken, sich Burgen zu bauen. Solche fand man aber in neuester Zeit an der Ruthe, unweit der Stadt Barby, in einer einsamen, mit Weiden bewachsenen Gegend, welche von einem nur sechs bis acht Schritte breiten Flüsschen durchströmt wird und schon seit den ältesten Zeiten den Namen Biberlache führt.“ Oberjägermeister von Meyerinck, welcher viele Jahre dort die Biberansiedelungen beobachtete, sagt Folgendes darüber: „Es wohnen jetzt (im Jahre 1822) noch mehrere Biberpaare in Gruben, welche einem Dachsbau ähnlich, dreissig bis vierzig Schritte lang und mit dem Wasserspiegel gleichhochlaufend sind und auf dem Lande Ausführungsgänge haben. In der Nähe der Gruben errichten % Nager. Rodentia. 223 die Biber sogenannte Burgen. Sie sind 2,5—3 Meter hohe, von starken Knüppeln kunstlos zusammengetragene Haufen, welche sie an den benach- barten Bäumen abbeissen und schälen, weil sie davon sich äsen. Im Herbste befahren die Biber die Haufen mit Schlamm und Erde vom Ufer des Flusses, indem sie diese mit der Brust und den Vorderfüssen nach dem Baue schieben. Die Haufen haben das Ansehen eines Backofens und dienen den Bibern nicht zur Wohnung, sondern zum Zufluchtsorte, wenn hoher Wasserstand sie aus den Gruben treibt. Im Sommer des genannten Jahres, als die An- siedelung aus fünfzehn bis zwanzig Jungen und Alten bestand, bemerkte man, dass sie Dämme warfen. Die Ruthe war zu dieser Zeit so seicht, dass die Ausgänge der Röhren am Ufer überall sichtbar wurden und unterhalb derselben nur noch wenige Üentimeter tief Wasser stand. Die Biber hatten eine Stelle gesucht, wo in der Mitte des Flusses ein kleiner Heger war, von welchem sie zu beiden Seiten starke Reiser in’s Wasser warfen und die Zwischenräume mit Schlamm und Schilf so ausfüllten, dass dadurch der Wasserspiegel oberhalb des Dammes um 30 cm. höher stand als unterhalb desselben. Der Damm wurde mehrere Mal weggerissen, in der Regel aber die folgende Nacht wieder hergestellt. Wenn das Hochwasser der Elbe in die Ruthe hinaufdrang und die Wohnungen der Biber überstieg, waren sie auch am Tage zu sehen. Sie lagen alsdann meist auf der Burg oder auf den nahe stehenden Kopfweiden.“ Nach einer im Berliner Tageblatt im Jahre 1878 gegebenen Mittheilung kommt der Biber ober- und unterhalb der Stadt Wittenberg in der Elbe seit einigen Jahren wieder häufiger vor. „Seine Einwanderung scheint aus dem nahen Herzogthum Anhalt erfolgt zu sein, wo in der Nähe von Wörlitz seit längerer Zeit einige Familien unter behördlichem Schutze lebten. Gegen- wärtig befindet sich in der Nähe des Dorfes Wartenburg eine aus vier Paaren bestehende Bibercolonie, die sich am sogenannten „alten Streng,“ einem Wasserrisse, der mit der Elbe in Verbindung steht, etablirt hat. Zwischen hier und Kleinwittenberg lebt gleichfalls eine Familie, und auch weiter stromabwärts sind einige Biberbaue mit Bewohnern aufgefunden worden. Die Thiere scheinen sich demnach in der Gegend zu gefallen, und in der That finden sie nicht nur in den Weidichten und Erlengebüschen, welche den Strom und seine Beigewässer hier und da säumen, reichliche Nahrung, sondern sind auch bisher ganz unbehelligt geblieben.“ In unseren „Thierwohnungen“ berichten wir über die Kunstfertigkeit der Biber nach den glaubwürdigsten Schriftstellern also: „Die Wohnungen der Biber sind immer oberhalb des Dammes, womöglich an der Südseite von Inseln in der Nähe ihrer Ufer, aber auch inmitten eines Stromes ange- legt. Ihre Wände erscheinen bis Ya Meter dick und diejenigen im Strome besonders stehen wie auf einem Pfahlwerke oder einer rostartigen Unterlage die zugleich den Fussboden der Burg bildet. Sie sind, je nachdem ein oder 294 Nager. Rodentia. mehrere Paare Biber darin hausen, von verschiedener Grösse. Die innere Einrichtung der Biberburg ist dem besonderen Kunsttriebe des merkwürdigen Thieres angemessen. Der Fussboden soll nach Einigen öfters mit Rasen, Ästen von Buchsbaum, grünen Tannen und vielen anderen Baum- und Straucharten, nach Andern wieder mit femen Holzspähnen belegt und sehr reinlich gehalten werden. Gegen die Wasserseite hin enthält die Wohnung eine Art Luftloch, hoch genug angelegt, um es vor Verstopfung und Zer- störung durch hochgehendes Eis zu behüten. Nach Büffon und Andern sollen die Biber zur Winterzeit die Stelle am Luftloche oder sogenannten Fenster abschüssig oder abhängig machen dadurch, dass sie die Pfähle oder Holztrümmer, worauf dasselbe ruht, schräg abbeissen und einen Ausgang unter dem Eis im Wasser herstellen. Neben dem gewöhnlichen Aufenthalts- raume liegt noch eine eigene Vorrathskammer, in der sie bedeutende Vor- räthe (oft Karrenladungen gross) von Rinden des sogenannten Biberbaums, von Eschen, Weiden, Espen, allerlei Wurzelwerk von Calmus, Seerosen, auch Schilf ete. ansammeln. Bei allzu hochgehender, in das Innere der Wohnungen dringender Fluth muss zuweilen auch wohl der Sorgliche durch ein in die Kuppel der Burg gebrochenes Fluthloch enteilen. Ebenso wissen die klugen Thiere auch bei besonders strengen Wintern dem Andrange des Eises zu entgehen, indem sie, wenn dasselbe bis auf das Wasserbett gefriert, es zer- nagen und sich unter demselben im dem Schlamme Gänge graben. Die meisten Wohnungen werden mehrere Jahre benutzt, und öfters reihen junge Biber an die Burg der Eltern oder umgekehrt die letzteren neue Wohnsitze an die älteren, der Nachkommenschaft eingeräumten, solche mit einander in Verbindung setzend. So entstehen nicht selten kleine Dörfer oder An- siedelungen der ewig Rührigen, immer aber nur da, wo ganze Gesellschaften von Bibern an Damm und Burgen arbeiten. Schwindet vor dem klaren Blick des wahren Forschers auch vieles Fabelhafte hinsichtlich des Kunsttriebes des Bibers, so kann er doch nicht umhin, beim Anblick seiner zwar rohen, aber doch im Verhältniss zu (dem Thiere riesenmässig aufgeführten Wasserbauten über die Klugheit und Be- triebsamkeit dieses Nagers zu erstaunen. Es ist nicht zu leugnen, dass ein gcwisses gemeinschaftliches, fast bienenartiges Zusammenhalten und Wirken bei einer Bibertruppe waltet. Wir begegnen hier nicht einem blossen Zu- sammenrotten, wie wir es bei so vielen gesellis lebenden Thieren finden, nein! die Verbindung gründet sich auf einen bestimmten Zweck, der durch merkwürdige Mittel erreicht wird. Dieser Zweck ist kein anderer, als die betreffende Wasserfläche auf einen gewissen Raum in einer bestimmten mitt- leren Höhe zu erhalten: denn der Biber ist vorzugsweise ein Wasserthier. Das, was er zu Wasser erreichen kann, bewirkt er gewiss auf diesem Wege, und alle seine baulichen Anlagen zielen darauf hin, dies Element seinen Absichten und Neigungen dienstbar zu machen.“ y Nager. Rodentia. . 225 Dr. Fitzinger beschreibt die Höhlungen der Biber, welche in einem Gartenteiche gehalten wurden, als schräg nach oben gehende anderthalb "bis vier und einen halben Meter lange Röhren, die gegen zwei Meter unter dem Wasserspiegel am Teichufer beginnen und zu einem in mehrere Kammern sich theilenden Kessel führten. ‚Sie hatten nur den einen Ausgang unter Wasser, keinen zu Tag gehenden auf dem Lande. Sobald das Wasser stieg, errichteten die Biber sofort oberhalb des ursprünglichen Baues Gänge; fiel aber der Wasserstand, so führten sie mehr in der Tiefe Gänge aus, in der Absicht trocken zu wohnen. Grosse Reinlichkeit zeichnete sämmtliche Baue aus, denn die Thiere setzten ihre Losung nur im Wasser ab. Der Boden des Kessels war mit zerbissenen Holzspänen und Splint belegt. Während der Nacht schleppten sie Rinde von Eschen und Weichhölzern in ihre Vor- rathskammern, so sich mehrere Tage mit Nahrung versorgend. Was die äussere Gestaltung der sogenannten Biberburgen anlangt, die von Meyerin’k backofenförmig nennt, so lässt sich darüber Wood folgendermassen hören: „Die Burgen sind fast kreisrund von Gestalt und gleichen sehr den wohlbekannten Schneehäusern der Eskimos, da sie oben sewölbt und ungefähr halb so hoch, als weit sind, indem die mittlere Höhe 34 Meter und der Durchmesser über anderthalb Meter beträgt. Dies sind die inneren Ausdehnungen; das äussere Mass ist wegen der bedeutenden Dicke der Wände viel grösser. Diese Wände werden beständig durch Schlamm und Zweige verstärkt, so dass sie während der strengen Fröste fast so hart wie fester Stein werden.“ Nach von Meyerink’s Berichten verlassen die Biber die Burgen kurz nach Sonnenuntergang, pfeifen laut und fallen mit Geräusch in’s Wasser. „Sie schwimmen eine Zeit lang in der Nähe der Burg, gegen den Strom so schnell, als abwärts, und je nachdem sie sich sicher glauben, kommen sie entweder mit Nase und Stirn, oder mit Kopf und Rücken über das Wasser empor. Haben sie sich gesichert, so steigen sie an’s Land und gehen fünfzig Schritte und noch weiter vom Flusse ab, um Bäume zur Asung oder zu ihren Bauten abzuschneiden. Sie entfernen sich von der Burg schwimmend bis eine halbe Meile, kehren aber immer in derselben Nacht zurück. Auch im Winter gehen sie des Nachts ihrer Nahrung nach, verlassen jedoch zu- weilen acht bis vierzehn Tage die Wohnung nicht und äsen sich mit der Rinde der Weidenknüppel, welche im Herbst im die Gruben getragen werden.“ Führen wir noch Brehm’s Beobachtungen an gefangenen Bibern an, die er durch die Anlagen von Geschleifen zum Erbauen von Burgen ver- anlasste. „In den letzten Nachmittagsstunden erschienen die mit der Örtlich- keit vertraut gewordenen Biber ausserhalb ihres Baues, um zu arbeiten. Eingepflanzte Stämme wurden lose hingeworfenen Schösslingen vorgezogen und stets gefällt. Zu diesem Ende setzt sich der Biber neben dem betreffen- A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 15 226 \ Nager. Rodentia. den Bäumchen nieder und nagt ringsum so lange an einer bestimmten Stelle, bis der Baum niederstürzt, wozu bei einer acht Centimeter dieken Weide oder Birke fünf Minuten erforderlich sind. Nunmehr packt der Biber den gefällten Baum an seinem diekeren Ende mit den Zähnen, hebt den Kopf und watschelt vorwärts. Bisweilen sieht es aus, als wolle er die Last über den Rücken werfen; doch geschieht dies niemals. Ist der Schöss- ling leicht, so trägt ihn der Biber ohne Aufenthalt dem Ziele zu; ist die Last schwerer, so bewegt er sie absatzweise, indem er das aufgeladene Holzstück mittels eines kräftigen Ruckes des Kopfes vorwärts zu bringen sucht. Astreiche Schösslinge werden vor dem Wesschleppen genau be- sichtigt, unter Umständen getheilt, hindernde Aststummel weggeschnitten, alle Holzstücke aber zunächst in’s Wasser geschleppt und hier entrindet oder für spätere Zeiten aufgespeichert. Erst nachdem der Knüppel geschält worden ist, verwendet der Biber ihn zum Bauen, holt ihn aus dem Wasser heraus, schleppt ihn nach der nächsten Burg und bringt ihn hier unter. Von einer regelmässigen Anordnung der Bauhölzer lässt sich nichts wahrnehmen. Den Bedürfnissen wird in überlester Weise abgeholfen, an eine regelmässige Schichtung und Ordnung der Baustoffe jedoch nicht gedacht. Einige Knüppel liegen wagerecht, andere schief, andere senkrecht; einzelne ragen mit dem einen Ende weit über die Wandungen der Burg vor, andere sind gänz- lich mit Erde überdeckt; es wird auch fortwährend geändert, vergrössert, verbessert. Meine Pfleglinge scharrten sich zunächst ein muldenförmiges Loch vor dem Ende des Geschleifes aus, bildeten aus der losgekratzten Erde ringsum einen festen, hohen und diehten Damm und kleideten den Boden der Mulde mit langen, feinen Spänen aus, welche eigens zu diesem Zwecke zerschleisst wurden. Nunmehr erhielt die Mündung des Geschleifes eine Decke aus Astwerk; sodann wurde der hintere Theil der Wände erhöht und ebenfalls mit einem Kuppeldache überdeckt und, als auch dieses vol- lendet war, das Ganze mit Erde gedichtet. Alle erforderlichen Dichtungs- stoffe, als Erde, Sand, Lehm oder Schlamm, werden in verschiedener Weise, jedoch immer nur mit dem Maule und den Händen bewegt und ausschliess- lich mit letzteren verarbeitet. Rasenstücke oder fette, lehmige Erde bricht der Biber ballenweise los, indem er Hände und Zähne benutzt, packt den Klumpen mit den Zähnen, drückt von unten die Hände, mit dem Handrücken nach oben gekehrt, dagegen und watschelt nun, auf den Hinterfüssen gehend zeitweilig mit der einen Vorderpfote sich stützend, bedächtig der Baustelle zu; losere Erde oder Sand gräbt er auf, scharrt sie auf ein Häufchen zu- sammen, setzt beide Handflächen hinten an dasselbe und schiebt es vorwärts, erforderlichen Falls mehrere Meter weit. Der Schwanz wird dabei höchstens zur Erhaltung des Gleichgewichtes, niemals aber als Kelle benutzt. Wie bei den meisten Thieren ist das Weibchen der eigentliche Baumeister, das Männchen mehr Zuträger und Handlanger. Beide arbeiten während des Nager. Rodentia. DD ganzen Jahres, jedoch nicht immer mit gleichem Eifer. Im Sommer und im Anfang des Herbstes spielen sie mehr, als sie den Bau fördern; vor Eintritt strenger Witterung dagegen arbeiten sie ununterbrochen während der ganzen Nacht.“ Fitzinger schildert das Betragen zur Paarzeit als sehr possirlich. Diese trat Ende Februar bei den von Exinger beobachteten Bibern ein und wurde durch häufiges Grunzen, das wie „Gurn“ oder „Gorn“ lautet, an- gekündigt. „Nachdem das Männchen sein Weibchen rasch im Wasser ver- folgt und dasselbe einige Zeit theils auf der Oberfläche, theils unterhalb des Wassers umhergetrieben hat, erheben sich beide plötzlich gegeneinander gewendet, halbleibes senkrecht über den Wasserspiegel, wobei sie sich mit den Hinterfüssen und dem wagerecht von sich gestreckten platten Schwanze im Wasser erhalten; hierauf tauchen sie unter und schwimmen dem Lande zu, das Weibchen wirft sich auf den Rücken, und das Männchen legt sich über dasselbe hin, dass die Unterseiten beider Thiere sich gegenseitig decken. Auch hierbei werden die zärtlichsten Liebkosungen nicht gespart; dann gleiten beide wieder in's Wasser, tauchen unter, schwimmen am entgegen- gesetzte Ufer an’s Land, schütteln das Wasser vom Körper ab und putzen sich sorgfältig.“ Nach emem Berichte über das vom Fürsten Schwarzenberg zu Rothenhof in Böhmen gehaltene Bibergehege, welchen Dr. F. Schlegel in Breslau im „Zool. Garten“ von 1865 mittheilt, „erfolgte die Begattung in aufrechter Stellung.“ Das Männchen hielt mit den vorderen Tatzen den Hals des Weibehens umschlungen, Brust auf Brust; sie wird häufig auch auf dem Wasser vollzogen. Die Paarungszeit fällt je nach dem Aufenthalte des Bibers in die Mitte oder den Ausgang des Winters. Nach mehrwöchentlicher Tragzeit wirft das Weibchen im Bau. zwei bis drei behaarte, aber blinde Junge, welche jedoch nach acht Tagen die Augenlider öffnen und der Mutter in’s Wasser folgen. Wie verschieden übrigens die Setzzeit, natürlich der früh oder spät eintretenden Paarungszeit entsprechend, eintritt, geht aus Eymouth’s Mit- theilung hervor, dass er dieselbe erst im April und Mai, ja sogar, und zwar spätestens am 10. Juli stattfinden sah. Auf dem Schwarzenberg’schen Bibergehege schwankte die Wurfzeit zwischen April und Mai, der späteste der beobachteten Termine war der 10. Juni. Es werden nach der oben erwähnten Mittheilung 1, 2 oder selten 3 Junge auf einen Wurf geboren. Diese Beobachtungen sind indessen an gefangen lebenden Bibern gemacht worden. Die Nahrung der Biber besteht in erster Linie in Rinden und Blättern von Bäumen, unter welchen sie die Weide allen andern vorziehen. Ausser- dem dienen aber auch Birken, Eschen, Espen und Pappeln, seltener Erlen und Eichen zur Nahrung. Sie äsen zuweilen auch Gras, das sie bündel- 15* 228 Nager. Rodentia. weise mit den Vorderpfoten zusammendrücken und dann mit den Zähnen abbeissen. In der Gefangenschaft gewöhnt man sie an Obst und Gelbe- rüben. In der Ruhe legt der Biber den Schwanz unter den Leib. Auf der Seite liegend, erscheint er zusammengerollt; auf dem Bauche ruhend, streckt ‘er den Körper lang aus. Gerne nimmt er auf längere Zeit eine senkrechte Stellung ein, wobei er auf den Hinterfüssen und der Schwanzspitze ruht. Nur in Hast und Eile springt der Biber in plumpen Sätzen, sonst geht er mit ungleichmässiger Bewegung, einen Fuss vor den andern setzend. Der Sturz in's Wasser bei Schrecken oder Angst ist mit Geräusch begleitet; im Zustande der Gemüthsruhe taucht das Thier leise ein. Beim Schwimmen ist die Stellung nach hinten abfallend, so dass der Schwanz unsichtbar wird und nur die Nasenlöcher, Augen und Ohren. sowie der Mittelrücken aus dem Wasser hervorstehen. Die Spitze des Schwanzes stellt er zuweilen in schiefer Richtung empor, wenn er regungslos auf den Wellen dahingleitet. Die Hinterfüsse fördern das Thier durch Stösse, der etwas schief gedrehte Schwanz dient als Steuerruder und wird zeitweise auch stossweise bewegt. Das Untertauchen im Wasser währt oft zwei volle Minuten. Der Biber ist der Schwimmkunst Meister. Dies und sein Kunstsinn zeichnen ihn vor allem aus. Von seinen Sinnen gelten als die ausgebildetsten der Geruch- und Gehörsinn. In Anbetracht des Verstandes steht er offenbar unter den Nagern obenan. Die eigentlichen oder langschwänzigen Mäuse (Murina). Die eigentlichen oder langschwänzigen Mäuse (Murina) zeichnen sich durch folgende Merkmale aus. Zunächst sind am Kopfe die hervorragenden Ohren, die heraustretenden runden, grossen, schwarzen Augen, die spitze, mit Schnurren besetzte Schnauze und die gespaltene Oberlippe charak- teristische Kennzeichen. Das Bemerkenswerthe der Zahnbildung dieser Nager sind die drei stumpfhöckerigen Backenzähne zur Rechten und Linken der Kiefer, welche nach der Grösse von vorn nach hinten folgen. Die Vorderfüsse haben vier, die Hinterfüsse fünf Zehen, erstere anstatt der fünften eine Daumenwarze. Der körperlange Schwanz ist beschuppt und nur hier und da mit lichtstehenden straffen Haaren versehen. Während bei den Ratten eine mehr plumpe Gestalt hervortritt, ist bei den Mäusen die nettere, eben- mässigere Körperbildung vertreten. Unsere beiden deutschen Rattenarten sind nicht zu verkennen und bedürfen kaum einer näheren äusseren Be- schreibung. Im Allgemeinen sei gesagt, dass die Hausratte, Mus Rattus, ungefähr 34—85. ctm. Gesammtlänge einschliesslich des 13—19 etm. langen Schwanzes hat. Ihre Farbe ist oberseits bräunlichschwarz, unterseits mehr in’s Graue spielend. Die Wanderratte dagegen, Mus decumanus, misst sammt dem etwa 18 etm. langen Schwanze in ihrer Gesammtlänge 42 etm. Nager. Rodentia. 229 und hat bei braungrauer Oberseite und grauweisser Unterseite eine viel häufiger vorkommende Abänderung der Färbung, indem die Oberseite bald in’s Lehmgelbliche, bald in’s eigentliche Grau übergeht. Wir wollen die beiden Ratten ihrem Wesen und Wandel nach neben- einander schildern. Die Wanderungen des nordischen Lemming mögen immerhin aus der Thatsache zeitweiser ausserordentlicher Vermehrung und der damit zusammen- hängenden Nahrungsnoth oder aus emem Vorgefühl des Thieres von besonders strengem Winter erklärt werden; erschöpft sind hiermit die Ursachen des auffallenden Unternehmens nicht, ja, wir behaupten, dass der tiefste, eigent- liche Grund Räthsel ist und bleibt. Ist uns doch in der Geschichte der Menschen eine treffende Parallele in den Völkerwanderungen gegeben. Wer sagt uns, was plötzlich die Hunnen aus Asien trieb nach den wirthlichen europäischrn Ländern? Und wer weist den nordischen Lemming an, nach jahrelangem Still- und Gewohnheitsleben mit emem Mal aufzubrechen und schaarenweise die hohe Gebirgskette der scandinavischen Alpen herab zu wandern, um nach Verlauf einiger Monate wieder den Rückzug anzutreten? Nicht zur Genüge erklärt ist auch die Ursache der Verbreitung der Wanderratte, die erst seit Anfang des vorigen Jahrhunderts in Europa sich eingebürgert hat und heute bereits Weltbürger genannt werden kann. Will man äussere Veranlassungen als einzige Beweggründe anführen, welche den Aufbruch aus Indien oder Persien, der wahrscheinlichen ursprünglichen Heimath der Wanderratte, zur Folge hatten, so darf dieser Behauptung billig die wohlbesründete Vermuthung entgegengestellt werden, dass gleiche oder ähnliche Verhältnisse früherer Zeiten uns nicht die Wanderratte nach Europa sebracht haben. Unleugbar hat der menschliche Verkehr zur Verbreitung der Wander- ratte wesentlich beigetragen, namentlich ist sie auf Schiffen anderen Welt- theilen und einsam gelegenen Inseln zugeführt worden. Überall, wohin sie kam und die Hausratte.vorfand, kam sie mit dieser in den Kampf auf Leben und Tod. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, dass diese beiden nächsten Verwandten sich nicht miteinander vertragen. Die Wanderratte bleibt un- erbittlicher, gehässiger Feind der Hausratte, welche sie vermöge ihres kräf- tigeren Körperbaues, sowie der übertreffenden Grösse und Kamptestüchtigkeit verdrängt. Ein Bewohner der unteren Hausräume, der Keller, Ställe, Winkel, Kanäle und unterirdischen Gewölbe sonstiger Art, nöthigt sie die ihr aus- weichende Hausratte, mit hochgelegenen Räumen allein vorlieb zu nehmen; aber auch dorthin folgt sie ihr, um den Vernichtungskampf zu Ende zu führen, so dass jetzt nur noch spärliche Wahrnehmungen von unserem ursprünglichen europäischen schwarzen Nager gemacht werden. Noch in unserem Knabenalter, also vor 40 bis 45 Jahren, haben wir die Hausratte in grosser Anzahl beobachtet. Sie war damals neben der weniger zahlreichen 230 Nager. Rodentia. Wanderratte plagender Hausgenosse der Seminaristen in ihren kaserneartigen Wohnungen in der Burg Friedberg in der Wetterau. Die Vorräthe, welche diese mit aus den Ferien von Hause brachten, wurden grossentheils eine Beute der Ratten, welche, Kisten, Kasten und Schränke durchnasten. Nach erquiekendem Sommerregen sahen wir öfters Dutzende von Haus- ratten auf den Dächern jener Wohnungen versammelt und mit sicht- lichem Behagen an Plätzen, wo in Vertiefungen etwas Regenwasser stehen geblieben war, den Durst löschen. Das war ein lebendiges Durcheimander welches sich in gruppenweisen Knäueln gipfelte und in wilde Flucht sich‘ auflöste, wenn der kühne Kater aus einer Dachluke in schön ausgeführtem Bogensatz unter die schwarze Menge sprang und eine quiekende Beute mit den scharfen Krallen und Zähnen packte, um ihr das Genick durchzubeissen. Mehrere der Fliehenden, die sich zur Kantel vorgedrängt hatten, um zu trinken, stürzten in Folge des jähen Schrecks kopfüber hinunter auf das Pflaster des Seminarhofs und verschwanden, oft schwer verletzt, in den Kellerlöchern. In den unteren Räumen lernten wir damals schon die Wander- ratte kennen. Sie hauste in Kellern, Winkeln und den mit grossen Stein- platten belegten küchenartigen Räumen, in welche sie durch einen Abzugs- kanal des Gossensteins eindrang. Da zerrten sich oft mehrere, um Abfälle streitend, umher, und immer waren es die alten überlegenen Individuen, die den jüngeren, schwächeren die Brocken entrissen, wesshalb letztere sich stets unter solchen Umständen beeilten, mit ihrem Antheil davonzulaufen. Die Begegnung mit der Hausratte, die hier häufig stattfinden musste, endete aber, wenn nicht mit zeitiger Flucht dieser todfeindlich Verfolgten, stets mit wüthender Zerfleischung. Wie verabredet, fielen mehrere Wanderratten über eine Hausratte her, das Geschrei der Misshandelten lockte andere in der Nähe befindliche Wanderratten herbei, und wenn sie auch nicht alle Antheil an dem Morden nahmen, so sahen doch die Unthätigen mit zustimmender Miene dem Kampf zu oder gaben zu erkennen, dass sie sich gleicher Thaten, wie ihre Gefährten, rühmen konnten. Ein Zerfleischen bei lebendigem Leibe ist dieses Morden, denn während der Hauptkämpfer seinen überwundenen Gegner am Hals oder im Genick fasst, beissen und reissen die Gehilfen an allen Theilen des Körpers. Die Leiche wird von den Siegern unter gegen- seitigem Gezänke nach längerem Hin- und Herzerren in irgend einen Schlupf- winkel geschleift, wo sie bis auf Knochen und Balg aufgezehrt wird. Das Feld muss stets dem Stärkeren und Intelligenteren geräumt werden — sehr bemerkenswerth, dass wir in der Folgerichtigkeit dieses Wahrheits- satzes dieselben Belege, wie in der Thier-, so auch in der Menschenwelt, haben. Unstreitig ist das Loos der Hausratte allmälige gänzliche Ausrottung, Untergang, wie dasjenige überwundener oder überflügelter Völkerstämme. Und dieses hätte das ganze Heer der ursprünglichen Feinde in hundert- fachem Massstabe unserer Hausratte nicht bereiten können. Nur ihre Nager. Rodentia. 231 erbarmungslose Base sollte berufen sein, das grausame Werk der Ver- nichtung auszuführen, weil diese sie in allen Rattenthaten übertrifft. Die Macht der höheren Begabung kommt zur Geltung, zum Siege, zur Herr- schaft. Wohl ist die Hausratte ein trefflicher Nager, aber die Wanderratte nagt noch hartnäckiger, ausharrender, erfolgreicher. Die Hausratte ist mit guten Sinnen ausgestattet, aber ihrer Feindin Gehör- und Geruchsinn über- bietet an Feinheit und Schärfe den ihrigen. Wer wollte unserer schwarzen Unterdrückten Fertigkeit im Klettern, Springen, Schlüpfen,, Entrinnen, Schwimmen absprechen? Doch die graue Tyrannin thut es ihr auch hierin zuvor. An senkrechten Wänden, wenn sie nur rauh sind und dadurch Halt bieten, klettert sie empor; auf Bäumen sucht sie die schlafenden Vögel zu beschleichen uud wittert die auf den Zweigen oder im Höhlungen stehenden Nester aus, vorzüglich da, wo Garten- oder Parkbäume dicht an alten Mauern und Gebäuden stehen. Wie stark und plump sie auch gebaut ist, sie weiss sich doch durch verhältnissmässig enge Löcher zu zwängen und dieselben in kurzer Zeit nagend zu erweitern. Bei Verfolgung versteht sie es, sich durch rasch ausgeführte Wendungen der Gefahr zu entziehen. Im Wasser bewegt sie sich fast so geschickt wie auf dem Lande. Sie durch- rudert kräftig und behende unsere Bäche, Flüsse und Teiche, taucht, lange den Athem haltend, gleich einem wirklichen Wasserthier, und läuft sogar auf dem Grunde der Gewässer ganze Strecken weit dahin. Gar oft flüchtet sie auch deshalb in der Bedrängniss vom Lande in’s Wasser, ja sie unter- nimmt sogar, nach wohlverbürgten Berichten, auf Teichen und Bächen An- griffe auf junge Entchen, welche sie unter die Wasserfläche zieht und ersäuft. Ihre List ist verbunden mit Kühnheit, die wir zornentrüstet Frechheit und Unverschämtheit nennen; letztere steigert sich im Bewusstsein ihrer Veremigung mit Vielen Ihresgleichen. Solche Massen können unter Umständen selbst kleinen Kindern gefährlich werden. Ist nur erst der Anfang von einer raub- sierigen, gefrässigen alten Ratte gemacht, so folgt dreist und hastig das ganze langschwänzige Volk dem Beispiele nach. In unserem Elternhause erlebten wir einen Fall, dass die Ratten den Gänsen im Stalle die Augen ausfrassen und die Füsse annagten. In Alsfeld zogen sich die Ratten in Menge nach den in einer Kiste im leeren Stalle der Pfarrhofraithe gehaltenen französischen Kaninchen, nagten die Stäbe der Vorderseite durch, frassen die neugeborenen Jungen und zuletzt auch noch die alte Kaninchenmutter. Dass die Ratten in den Speck der lebendigen Mastschweine Löcher fressen, ist eine längst bekannte Wahrnehmung, die von Landwirthen gemacht worden ist. Küche, Keller, Vorrathskammer, Speicher, Schränke und andere Ge- mächer sind vor diesem Diebsgesindel nicht sicher. Ihre ausgedehnte Ver- mehrung ist in Wahrheit eine Plage für Haus und Hof, Stadt uud Land. Einzelne Orte, deren Lage ihrer Neigung entspricht und die reichliche Nahrung bieten, werden vorzugsweise von ihnen heimgesucht, so vor andern 232 . Nager. Rodentia. die Brauhäuser, Mehl- und Fruchtniederlagen und die Ökonomiegebäude. In einer Brauerei Alsfelds vermehrten sich die Ratten bedenklich, so dass der vortreffliche Pinscher des Brauers unaufhörlich Jagd auf sie machen musste. In dem Garten des Nachbars schichtete er die getödteten Ratten zu förmlichen Leichenhügeln auf. Ein guter Pinscher vermag nach und nach gründlich zu säubern, wenigstens den Vermehrungsstand der Ratten wohl- thätig niederzuhalten. Wir haben s. Z. dem wackern Moreau, dem glatt- harigen englischen Pinscher eines Bäckers zu Friedberg in der Wetterau, ein Denkmal gesetzt, durch Meldung seiner Thaten in der illustrirten Zeit- schrift „Daheim“. Dieser Pinscher legte sich wie die beste Katze auf die Lauer, liess eine ganze Rattenfamilie geduldig aus ihren Schlupfwinkeln hervorkommen, ehe er mit einem Satze sich vor das Eingangsloch der Ratten warf und nun einer nach der andern zum Loche Flüchtenden mit ein paar Bissen und schliesslichem Schütteln den Garaus machte. Paris hat die Bravour der Rattenpinscher in seinen wimmelnden Rattenherbergen zur (renüge erkannt; aber freilich wo die Vermehrung der Ratten eine so ungeheure Ausdehnung gewinnt, wie dort, gibt es überhaupt kein Radikal- mittel zu ihrer Vertilgung. Selbst auf Schiffen hat man sich vergebens in Anwendung von Mitteln erschöpft, die Rattenplage loszuwerden; die Thiere trotzten vermöge der ihrer Art einzig eignen Zähigkeit, obgleich reichlich gezehntet, dem Pinscher, der Katze, dem Schwefel, dem Kohlengas, den Giften und den schlau ersonnenen Fallen. Sie reisten wie „blinde Passagiere“ mit und hatten neben dem Logis auch noch die Kost frei. Überall fühlen sie sich heimisch und bürgern sie sich em. Wenn grössere Wärme während der Ruhe und des Schlafs noth thut, dem sie sich m den Stunden nach Mitternacht und den grössten Theil des Tags hingeben, so bereiten sie sich gemeinschaftlish Nester, in denen sie sich gegenseitig erwärmen. Da sie in der weitesten Bedeutung Allesfresser sind, so steht ihrer Verbreitung auch in Bezug auf Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses kein Hinderniss im Wege. Wie die Wanderratte im Kampfe mit der Hausratte Wuth und Bosheit zeigt, so treten diese Eigenschaften auch im Vertheidigungszustande über- legenen Feinden gegenüber hervor. Es sind immer nur auserlesene Katzen, welche alten Wanderratten mit wirklichem Jagdeifer nachstellen; bei weitem die meisten halten sich in respectvoller Entfernung von ihnen; selbst tapfere Hunde können Narben von Rattenbissen an Lefzen und Schnauzen aufweisen, von denen sie die Festgebissenen klagend abschüttelten, um des Vortheils Meister zu werden. In gefährliche Wuth geräth die Rattenmutter, wenn sie mit ihren Jungen in Bedrängniss kommt, die sie womöglich durch Weg- schleppen im Maul zu 'retten sucht. Wir selbst haben als Knaben die Bosheit einer Rattenmutter kennen gelernt, als eine unterwühlte Steimplatte von einem Maurerjungen aufgehoben wurde, unter der ein Nest mit jungen = /) — I! = z N Ze\ aImBRgL FE 7770027, VW, / VI WB, /] { /,, UN? = Hausmäuse. III | SUINNUNNNNNNNNSSN \ RR Nager. Rodentia. 2 233 ‚Ratten sich befand. Die Haare sträubend, setzte sie sich zur Wehr und sprang im nächsten Augenblick dem Buben auf die Brust, der sie ver- zweiflungsvoll mit den Händen abschlug und zur Flucht nöthiste. Eine merkwürdige, noch nicht gründlich erforschte Erscheinung im Familienleben der Haus- und Wanderratte ist der sogenannte Rattenkönig. Junge Ratten wachsen mit den Schwänzen gleichsam zusammen und werden von der Alten mühsam mit herbeigeschleppter Nahrung versorgt. Die Schwänze haben da, wo sie mit emander verwachsen sind, Eindrücke, und wenn man sie mit Gewalt trennt, erscheinen die Einschnitte behäutet, was für den Umstand spricht, dass die Vereinigung in zartester Jugend durch Ausschwitzung klebriger Substanz bewerkstelligt wird. Es ist wahrscheinlich, dass dieser höchst interessante, wiewohl ekelhafte Auftritt häufiger sich ereignet, als man bei den vereinzelten Entdeckungungen annehmen zu dürfen glaubt. Das Loos dieser unentdeckten Rattenkönige ist gegründeter Ver- muthung nach kem anderes, als frühzeitiges Zugrundegehen, denn die Ver- sorgung mit Nahrung von Seiten der alten Ratten währt naturgemäss gewiss nur eine beschränkte Zeit hindurch, dann sterben die Jungen Hungers, oder es stirbt vielleicht nur eins und das andere von ihnen und wird von den alten Ratten ohne Zögern aufgefressen, alsdann aber auch höchstwahrscheinlich die ganze zusammenhängende Kette der noch lebenden Mitglieder des Rattenkönigs. Die Hausmaus. Mus Musculus. Einer näheren Beschreibung bedarf es gewiss nicht, um eine getreue Vorstellung dieses allgemem bekannten Bewohners unserer Häuser zu geben; durch häufig wiederholte Anschauung steht ihr Bild lebendig vor Aller Augen. Überall schliesst diese Maus sich eng an die Menschen an und theilt mit ihm seine Niederlassungen. Auf den Bergen, wie in den Niede- rungen wohnt sie mit ihm uuter emem Dach und lässt sich von seinen Vorräthen nähren, als ob sie ein verbrieftes Recht dazu habe. Unter den Dielen und Steimplatten, hinter Schränken und sonstigen Möbeln, in 'unter- höhltem Gemäuer, in Löchern der Wände und Erde, in Kisten und Kasten, Schubladen und unter angehäuften Geräthschaften, mit emem Worte in Verstecken aller Art, sobald dieselben nicht allzufeucht gelegen sind, herbergt die Hausmaus, und mit bewundernswürdiger Fertigkeit und zäher Ausdauer weiss sie sich vermöge ihrer unermüdlichen Nagezähne Zugang zu bahnen zu den Speisevorräthen der sorgsamsten Hausfrau und zu der Bibliothek des vorsichtigen Gelehrten. Dort in der Speisekammer zehrt sie am Speck, Fleisch, Brot, Mehl und vorzüglich auch an den ihr zugänglichen Süssig- keiten, die sie m Gestalt von Flüssigem mit sichtlichem Behagen schlürft ; hier auf dem Fruchtboden schrotet sie die Getreidekörner; und unter Büchern und Heften richtet sie empfindliche Zerstörungen an. Die aufge- hängten Säckchen, in denen Dürrobst aufbewahrt wird, sucht sie zu erklettern 234 Nager. Rodentia. oder durch Sprung wie durch Fallenlassen von einem Standpunkt über denselben zu erreichen. In Vogelkäfige und Vogelhecken dringt sie ein, um Hanf- und sonstige Samenkörner oder auch Ameisenpuppen anzugehen. Dabei verunreinigt sie das Futter der Vögel mit ihrem Urin, der dieselben alsbald nach dem Genuss tödtet. So erscheint das an sich sonst friedliche Thierchen wirklich als lästiger Feind der Menschen, die ihm neben Katzen, Eulen, Mardern, Wieseln und Iltissen eifrig nachstellen. Unterhaltend ist es, das Thun und Treiben der kleinen näschigen Nager zu beobachten. Vorsichtig lugt die Maus aus ihrem Schlupfwinkel, ehe sie sich heraus- wagt; schnüffelnd wendet sie das Näschen oder hebt es empor, und nachdem sie sich vollständig gesichert glaubt, schleicht sie hervor, setzt sich dann oft auf die Hinterbeine und putzt mit den Vorderpfoten ihr Gesicht. Nun rückt sie allmälig voran, prüfend und suchend oder auch rasch über eine Blösse hinüber laufend, um ein beliebtes Plätzchen zu erreichen. Eine kleine Störung führt sie plötzlich in die Höhle zurück. Vorzüglich ist sie Nachts thätig im Nagen und Nahrungsuchen, aber auch bei Tag ist sie oft munter und wandelt auf diebischen Wegen umher. Den Fallen gegen- über verhält sie sich nicht immer ohne Misstrauen, namentlich wenn die Erfahrung sie gewitzigt hat, und die Vorsichtigsten sind stets die alten Exemplare. Eine ausserordentlich rasche Vermehrung macht sie dem Menschen doppelt lästig. Die Ausdehnung dieser Vermehrung hängt übrigens von der Gunst der Witterungsverhältnisse des Jahres ab. Eine Muttermaus wirft 22 bis 24 Tage nach der Paarung zwischen 4 und 8 Junge. Dies ge- schieht ungefähr 6mal im Jahre. Die Jungen selbst werden sehr bald zeugungs- fähig, so dass die im Sommer geborenen im darauffolgenden Frühjahre zur Paarung schreiten. Die Wiege des Wurfs ist ein in ausgehöhltem Boden oder in verborgenem, gutverdecktem Winkel stehendes Nest aus Federn, Stroh, Papierschnitzeln, Lümpchen und dergleichen Stoffen. Am 13. Tage öffnen die Kleinen erst die Augen. Unter zärtlicher Mutterpflege wachsen sie rasch heran und trennen sich sehr bald von ihrer Pflegerin. Ein Nest mit enem Wurf Mäuse wird durch das Piepen der Insassen ver- rathen. Dieses Piepen mag schon manchen ungeübten, oberflächlichen Be- obachter zu der Annahme verleitet haben, es sei dies eine Art Gesang. Auch eimzelne Mäuse sollen als Sänger entdeckt worden sein. Wir halten aber diese Töne für unbedeutendes Gezwitscher, so lange wir uns durch eignes Anhören nicht eines Andern überzeugen. Sicherlich ist eine soge- nannte Singmaus nicht mit emem Kanarienvogel oder gar mit einem Sprosser zu vergleichen. Nager. Rodentia. 235 Die Waldmaus. Mus sylvaticus. Diese nahe Verwandte der Hausmaus theilt mit dieser viele Eigenschaften, unterscheidet sich von ihr aber durch etwa 2 Ctm. überragende Grösse und die Farbe, welche auf der Oberseite des Körpers bei jungen Exemplaren graugelb, im zweiten Lebensjahre rothgelblich bis braungelblich, auf der Unterseite ausschliesslich der Füsse und Zehen weiss erscheint. Wiewohl diese Maus den Namen Waldmaus darum mit Recht verdient, weil ihr Aufenthalt vorzugsweise dem Walde anghört, so schliesst diese Bezeichnung doch nicht aus, dass sie zeitweilig und nach obwaltenden Umständen ausserhalb des Waldes und selbst in den Wohnhäusern, Scheuern, Kellern und Stallungen angetroffen wird. Diese sucht sie im Winter auf, wenn es im Walde unwirthlich wird und an Reichthum der Nahrung gebricht. Ihr Bestreben ist jedoch auffallender Weise darauf gerichtet, sich in die hoch- gelegenen Räume auf Böden und Wohnstätten unmittelbar unter dem Dach zu begeben, wobei natürlich vorauszusetzen ist, dass die wesentlichen Bedingungen der Ernährung gegeben sind. Wir wissen uns sehr wohl aus den Jahren unserer Jugendzeit zu erinnern, wie diese Springer mit Leichtigkeit in Bogensätzen die Treppen hinauf sprangen und dabei Beweise ihrer Behendigkeit gaben. Unsere Kanarienvögel mussten wir in der Vogelstube stets mit Sorgfalt vor ihren Angriffen wahren, denn wir machten die Erfahrung, dass sie m der Dämmerungsstunde und Nachts die geschätzten Vögel auf ihren erreichbaren Sitzen anfiel und. tödtete, das Fleisch bis auf Knochen und Federn verzehrend. Auch im Freien liebt sie thierische Nahrung, welche in jungen Vögeln, Kerbthieren, Würmern und kleinen Schnecken hesteht. Vorzugsweise aber nährt sie sich von Früchten der Getreide- und Obstsorten, sowie besonders von Eicheln, Bucheln und Nüssen, verschiedenen kleineren Sämereien, Würmern und Insectenlarven. Hin und wieder, wohl nur im Nothfall, geht sie die Rinde zarter junger Bäumchen an. Namentlich benagt sie die jungen Eschen in Kämpen und jungen Hegen, besonders gerne Heisterpflanzen. Sie nagt hoch hinauf bis im die Zweige, sodass die Pflanzen ganz kahl erscheinen. Bis mehrere Meter Höhe geht ihre Benagung. Wir trafen diese Maus neben der glareolus schon vor Jahrzehnten in einigen Revieren der Wetterau und des Vogels- bergs, später im ehemaligen Hessischen Hinterlande beim Nagegeschäft und schossen einmal eine während ihres Frasses mit einer harten Lettkugel durch ein Blasrohr. Ihr Benagen des Rindenkörpers ist jedoch zum Glück nicht tiefgehend, indem es blos die Epidermis mit der Rindensubstanz, nicht aber den Bast trifft, ein Umstand, der die von ihr vorzugsweise befallene Esche mit der bedeutenden Reproductionskraft leicht und ohne besonderen Schaden sich wieder überwulsten lässt. Die Verwundungen der Waldmaus verrathen sich in zur Achse des Stämmchens schräg stehenden, bald viereckigen, bald 936 Nager. KRodentia. dreieckigen, bald länglichen Streifen, in welchen rinnenartig oder flecken- weise verschont gebliebene kleine Stellen der äusseren Rinde sichtlich bleiben. Die freigenagten Stellen legen den Bast in von den Zähnen be- wirkten seichtwellenförmigen oder runzeligen oder flachen Furchen blos. Übrigens sorgt sie für die Zeit des Mangels durch Anhäufung von Vor- räthen in ihrer Behausung und an sonstigen heimlichen Plätzchen, an denen sie zeitweilig zehrt. Die Vorliebe für Näschereien theilt sie mit der Haus- maus, und darum mögen sich die Hausfrauen bei Aufbewahrung ihrer Delikatessen und eingemachten Süssigkeiten, sowie des Dürrobstes stets vorsehen. Die Vermehrung der Waldmaus steht derjenigen der Hausmaus bedeutend nach. Der Wurf findet nur zwei bis drei Mal im Jahre statt und besteht aus zwischen vier und acht schwankender Anzahl von nackten, langsam sich entwickelnden Jungen. Während die Waldmaus durch ganz Europa und Mittelasien verbreitet ist, beschränkt sich der Aufenthalt der Brandmaus (Mus agrarius) auf einen weit geringeren Verbreitungskreis. - In ihrer Körpergrösse der Hausmaus gleich, zeigt sie auf der Oberseite ein Röthlichbraun, das in der Mitte des Rückens ein schwarzer Längsstrich durchzieht, während die Unterseite weiss absticht. Besonders häufig kommt sie in Mitteldeutschland vor, und ausser der ausgedehnten Ackerflur bewohnt sie den Waldsaum und die lichten Gebüsche und begibt sich im Winter in die Gehöfte, Dörfer und selbst in die Häuser der Städte. In den Getreide- feldern wohnt sie oft in grossen Schaaren, und gerade Getreidekörner sind ihre Lieblingsspeise. Sonst theilt sie die Nahrung im Wesentlichen mit der Waldmaus, vermehrt sich jedoch stärker als diese, mdem sie alljährlich viermal dieselbe Anzahl von Jungen wie jene wirft und ihre Jungen rascher zur Fortpflanzungsfähigkeit sich entwickeln. Die Zwergmaus. Mus minutus. Diese ausserordentlich: niedliche, lebhafte, anmuthige und gewandte Maus ist das kleinste Glied ihrer Familie. Der Schwanz bildet fast die Hälfte der ganzen 13 Ctm. betragenden Länge des Thierchens, dessen Ober- seite sammt Schwanz die roth- oder braun- oder hellgelbe Farbe trägt, während die Unterseite mit den Füssen sich blendend weiss abzeichnet. Der kleine Kopf mit spitzer Nase zeigt grosse vorstehende schwarzbraune Augen, die Schnauze viele kleine Schnurrhaare Die Ohren sind kurz, die Vorderfüsse klein mit einem Daumenansatz, wie beim Eichhörnchen, ver- sehen und die Zehen langnägelig, geeignet zur Umklammerung der Stengel und Zweige und zum händeartigen Gebrauch beim Fressen. Im Gegensatz zu den vierzehigen kurzen Vorderfüssen sind die fünfzehigen .Hinterfüsse länger und stärker. Den langen Wickel- und Greifschwanz gebraucht das Thierchen mit wahrer Geschicklichkeit zum Klettern. Das leichte Gewicht des Körpers verbunden mit den zu Gebote stehenden Kletter- und Halte- Nager. Rodentia. 257 werkzeugen befähigen die Zwergmaus, an dünnen Stengeln und an Halmen emporzuklettern, wenn diese sich auch zur Erde beugen. In Getreidefeldern, im Schilf-, Binsen- und Rohrwald, in Feldgebüsch und Gestrüpp bewährt die gewandte Turnerin ihre Kletterkunst. Wohl lebt sie den Sommer über mit der Wald- und Feldmaus in den Getreidefeldern, als ihrem Lieblings- aufenthalt in Rücksicht ihrer Ernährung und Fortpflanzung, aber im Winter wird sie Mitbewohnerin der Diemen, namentlich der mit Hafer gefüllten, ferner der Scheuern und überhaupt der Ökonomiegebäulichkeiten, theils aus einem Antrieb dahin übersiedelnd, theils auf den Erntewagen eingeführt. Viele Zwergmäuse überwintern indessen draussen im Felde in ihren Höhlungen, in die sie während der Spät-Sommerzeit Getreide- und Samenkörner einge- tragen haben, um für die Monate des Mangels zu sorgen. Hier schlafen sie wohl während der Winterzeit oft lang und tief, allein es tritt kein eigentlicher Winterschlaf im Zustande der Erstarrung ein. Aus den Sümpfen ziehen sich die Zwergmäuse im Herbste an trockne Lagen zurück, den warmen Schutz suchend, nachdem sie im Sommer gerne auch das Wasser besuchten und hier als gute Schwimmer und Taucher sich bewährten. Was aber diese interessanten Thierchen vor Allem auszeichnet, ist ihre Meister- schaft im Nestbau. Zur Seite der Rohrsänger, die als hervorragende Künstler im Nestbau gelten, kann die Zwergmaus sicherlich einen Vergleich zu ihrer Ehre und Gunst aushalten. Ihr fehlt der geschäftige Schnabel, ihr mangeln die Flügel des Vogels zur Verarbeitung des Materials und zur Formirung des Nestes; aber dafür, gebraucht sie die spitzen Zähnchen und durchsägt die Schilfblätter der Länge nach, bis jedes derselben vielmal zerschlissen ist. Dann flicht sie die einzelnen Theile zu einem engver- schlungenen Zopf und umgibt mit also geformtem Material das Nest zu einem sinnigen Geflechte.e Am Rohre klettert sie hinauf zu den Ahren, schneidet sie mit den scharfen Zähnen ab und trägt sie dem Neste zur Verarbeitung und Einfügung zu. Gleicherweise benutzt sie die Kätzchen und Blüthenrispen, um die Wohnung auszufüttern. Wenn das Thierchen zu bauen beginnt, so holt es sich Riedgras- und Schilfblätter, schneidet daraus der Länge nach dünne lange Schnüren mit den Zähnen, schlingt alsdann dieselben um mehrere bei einander stehende Schilf- oder Rohrstengel, um ein Gerippe für den gewölbten Nestbau herzustellen. In andern Fällen werden die zerschlitzten Bänder mit ihren Spitzen überemander in oberer Wölbung verflochten. Dieses Gerüste wird mit immer neuen Schnüren durchflochten, so dass schliesslich die nöthige und beabsichtigte Dichtigkeit des Geflechtes erzielt ist. In sichtbarem Einverständniss leisten sich Männchen und Weibchen gegenseitig Beistand, und es springt die praktische Ausnutzung der pflanzlichen Umgebung in die Augen. Die wagerecht abstehenden Rohr- blätter werden zu einer passenden Grundlage erwählt, und von dieser ver- diehteten Grundlage aus bauen. die Mäuse senkrecht aufwärts an die Bogen- 233 Nager. Rodentia. krümmungen der überhängenden Rohrstengel. Mitten zwischen diese kunst- vollen Verbindungen hinein arbeiten die geschickten Flechter immer feiner ° zerschlitzte Bänder unter Auswahl des zartesten Materials bis zur Vollendung der äusseren 5 ÜÖentimeter dicken Wandung. Nun gilt es, die niedliche Wohnung mit weichen Stoffen auszupolstern. Zu diesem Zweck holen sich die Baukünstler Kolbenwolle, zarte Rispenblüthen, weiche Kätzchenwolle der Weiden, um sie zu zerzupfen und mit dem Speichel des Mundes unter Bei- hülfe der Vorderfüsse anzukleben und anzudrücken. So entsteht das voll- endete stumpfovale Nest von 9—10 Oentimeter Durchmesser, welches theil- weise auf der beschriebenen Grundlage in Schilf oder Gras ruht, theilweise als hängender Ball erscheint. Wir haben aber auch Nester der Zwergmäuse an Büschen und Stauden, namentlich auch an Distelstauden frei angehängt gefunden und daraus doppelte Ursache zur Bewunderung des Kunstgeschicks der Thierchen entnommen. Dieselben ändern oft sichlich im Umfange ab, und wir haben deren auch von merklich kleineren Dimensionen als die der obenangegebenen grösseren Nestform gefunden. Sich der Örtlichkeit anbe- quemend, überwindet hier die Zwergmaus die grösseren Schwierigkeiten durch Anheftung dickerer Bänder aus Riedgras und der Bastschnüre von Stauden. An diesen Schnüren wickeln sich die Schwänze der Mäuse fest, um dieselben kreuzweise in Bogen an die Zweiggabeln mit den unteren Enden anzuheften. In das entstehende Hängegeflecht schlingen die Baumeister nun neue Bänder in schiefer und wagerechter Richtung kreisförmig herum. Aus der nächsten Umgebung ziehen sie Zweige oder Gräser oder Stauden an den Bau heran und flechten diese in denselben ein, um ihn mit der Umgebung möglichst conform in der Erscheinung der Farbe zu machen und überhaupt das Geheimniss ihrer ehelichen Einrichtung möglichst zu bewahren. Im Getreidefelde findet man das Zwergmausnest gewöhnlich an mehreren Weizen- oder Roggenhalmen ebenfalls als Hängenest angeheftet. Zur Seite des Nestes ist eine Öffnung zum Aus- und Einschlüpfen gelassen. In den meisten Fällen steht das Nest mehr unter als über halber Meterhöhe über der Erde. Das Weibchen wirft zwei- bis dreimal Junge, das erstemal 6—10, bei den späteren Würfen weniger, welche mit grosser Zärtlichkeit gepflegt und behütet und unter Anleitung der erfahrenen Führerin eines Tags aus dem Neste geführt und mit der Aussenwelt bekannt gemacht werden. In den ersten Tagen sieht man die niedlichen Kleinen an den in die Wandung des Nestes gezogenen Stauden- und Grasstengeln auf- und ablaufen. Das ist der erste Weg des kleinen Klettervölkchens aus dem Haus und wieder zurück. Unterrichtet im Schlüpfen und Klettern wie im Aufsuchen der Nahrung, die neben vegetabilischen Erzeugnissen auch aus kleinen Kerb- thieren besteht, trennen sie sich von Mutter und Nest, sich da und dorthin zerstreuend und sich auf die Grundlage ihrer eignen angeborenen Gewandt- heit und Geschicklichkeit verlassend. Ihre ersten Bauversuche stehen jedoch Nager. Rodentia. 299 der Kunstfertigkeit der alten Meister wesentlich nach, und der Kenner weiss sehr gut ihr Nest von dem der bejahrten Künstler zu unterscheiden. Die Familie der Hamstermäuse, Cricetus, ist gekennzeichnet durch die meist plumpe Gestalt, die grossen Backentaschen und durch drei Backenzähne in Ober- und Unterkiefer, sowie einen kurzen behaarten Schwanz. Als hervorragender Vertreter dieser Familie gilt unser Gemeiner Hamster, Üricetus frumentarius, ein dickleibiger, plumper, kurzschwänziger, aber schön gezeichneter Geselle, von 30 Ctm. Länge, einschliesslich des Schwänzchens. Auf braungelbem Grunde ist die graue Farbe untermischt, der weisse Mund und die gelben Flecken an den Halsseiten und auf der Brust, sowie die schwarzen Beine mit den weissen Füssen stechen auffallend zur Gesammtkörperfarbe ab. Die Behaarung ist glänzend, dicht anliegend, und die Grannen verursachen den sräulichen Schimmer. Ein Bewohner Mitteleuropa's und des nördlichen Asiens, meidet er die Gebirge und gräbt seineBaue in sandigen oder lehmisen Boden der ergiebigen Fruchtfelder. Begeben wir uns an einen solchen Bau zur Frühlingszeit. Die Märzsonne scheint klar und warm auf das Feld, und unter ihrer belebenden Wirkung weben Tausende von Spinnen feine Fäden über das Land. Eben kehrt eine singende Lerche von ihrer Himmelsreise zurück und stürzt sich in das zarte Grün der aufstrebenden Saat. Auf einem Hüsel frischer Erde hat sie sich niedergesetzt: im Feuer der Lust und Liebe sträubt sie die Holle, und beim Anblick des in ihrer Nähe weilenden piependen Weibchens lüftet sie ein wenig die Schwingen und richtet die stolz gewölbte Brust empor. Plötzlich erschrickt sie, flattert ein wenig in die Höhe und setzt sich einige Meter weiter mit glatt angelegtem Gefieder und hochgehobenem Köpfchen seitwärts auf eine Scholle. Am Hügel regt sich’s, und ein weisslicher Schimmer leuchtet uns in das forschende Auge, immer deutlicher tritt der Kopf eines Hamsters hervor, der die Umgebung witternd prüft und endlich ganz aus der Tiefe heraufsteigt und mehrmals den Pelz derbe ausschüttelt. Doch fühlt sich der erst gestern an die Ober- welt emporgedrungene Winterschläfer noch keineswegs vollkommen sicher. Die neugierig und raubvogelartig über ihm flatternde Lerche ist ihm keine willkommene Erscheinung, weil er lieber unbemerkt die sich verjüngende Oberwelt betreten möchte. Deshalb hebt er sich, auf die Hinterschenkel srstützt, mit ziemlich krumm gehaltenem Rücken und lose herabhängenden Vorderpfoten, von denen die eine merklich höher aufgerichtet ist, als die andere, und prüft nochmals die Umgebung in weiterem Umkreis. Kein Feind lässt sich hören und sehen. Unser Hamster fühlt sich nun sicher und behaglich. Wie zwinkert und blinzelt er mit den Augen, in die der 340 Nager. Rodentia. grelle Schein der Sonne und der blendende Glanz der beleuchteten Erd- gespinnste fällt! Dieser schöne, helle, jedes Fleckchen am sonst so säuberlich gehaltenen Pelz zeigende Tag ladet den eigensinnigen, Ordnung und Rein- lichkeit liebenden Nager zum beliebten Putzgeschäft em. Die Vorderpfoten greifen bis zu den Muschelohren zurück und fahren von da mehrmals über das Gesicht hin, und nachdem dieses gehörig durchfest und geglättet worden, übernimmt die Zunge die Reinigung der erreichbaren Pelztheile, ja selbst die Zähne dienen an wirren Stellen als Kamm. Nach vollzogener Reinigung wird nochmals scharf gesichert, dann sinkt der Vorderleib zur Erde herab, auf welche der Bauch schleppend niederhängt und das kurze, kegelförmig zugespitzte Schwänzchen nachschleift. So schreitet der derbe Bewohner der Flur dahin, die übrigens zierlichen Füsse in regelmässigem Schritt vor- einandersetzend. Mit sichtlichem Wohlgeschmack . verzehrt er junge Pflänz- chen, benagt er die junge Saat; oder er durchwandert die Furchen der frisch besäeten Acker und liest die Körner sorgfältig auf, um sie in den Backentaschen anzusammeln und in den Bau zu tragen, in welchem er als vorsorglicher Haushalter schon seit mehreren Wochen von den im Herbste aufgespeicherten Vorräthen gezehrt hat. Von ohngefähr kommt ihm eine Maus in die Quere. Schneller, als man seinem Körperbau und Gang nach vermuthen sollte, fährt er hüpfend drauf los und zerbeisst der quiekenden Beute den Kopf. Elegant sind freilich diese Sprünge nicht; wie wäre das auch möglich bei so kurzen Beinen und solch schlotterndem Leibe? Seine träge Natur lässt ihn den Mäusefang auch gerade nicht häufig betreiben. Kommt ihm ja doch hier ein Amphibium, dort eine glatte Raupe, da ein Käfer, anderswo ein hülfloser Vogel in den Weg, die er ohne besondere Mühe und List sich aneignen kann; ist ihm doch der Tisch den ganzen Sommer hindurch mit den mannigfaltigen Früchten des Feldes besetzt. Mitten in der Mahlzeit hat der behagliche doch seine Vorsicht nicht versäumt. Sein misstrauischer Sinn ist auf den ersten Ausgängen weit veger, als auf späteren, wenn die Saat emporgeschossen ist und das Dunkel der deckenden Feldgewächse in vielen Fällen Schutz und Zuflucht über der Erde gewährt. Regungslos hat er sich hinter eine Scholle gedrückt, dort fliegt in mässiger Höhe über dem Felde daher ein Bussard, einer seiner gefährlichen Feinde. Die Gefahr geht glücklich vorüber. Aber diese sollte nicht die einzige sein, die ihm auf seinem Frühlingsgange begegnet. Wir wissen nicht, was dem Hermelin in den Sinn gekommen, was ihm drunten im Kanal keine Ruhe liess, den es sonst nur selten am Tage ver- lässt. Was treibt das gewandte, geschmeidige, in flinken Bogensätzen längs dem Raine dahineilende Räuberchen an? Jetzt stutzt es und macht ein Männchen, dann setzt es die niedlichen Vorderfüsschen auf einen Stein und reckt den Hals aus. Flugs springt es vom Raine weg in eine Furche auf ‘[dureyp ut Jo)sWrey WOUT9 JUL [OsaIM SOSToA) "[9SseH) AOYOSL] UL AISUY ISUIY Nager. Rodentia. 241 den Bau des Hamsters zu. Auf demselben angekommen, untersucht es mit dem Näschen den Ort, guckt in gestreckter Stellung in den Bau, springt sehr erregt rings um die Röhre herum, verlässt dann eilend wieder die Stätte und verfolgt den Pfad, auf welchem der Hamster vorhin in das Feld gegangen. In der Hast rennt es gegen den Hamster an. Mit hohem Satz prallt es zurück. Der Hamster springt fauchend ebenfalls nahezu einen halben Meter hoch, und nun stehen sich die Todfemde kampfbereit gegen- über, das Wiesel angriffslustig, der Hamster zur Vertheidigung bis auf’s Ausserste gerüstet. Das Wiesel springt zur Rechten und Linken, gerade über den Hamster weg, um ihn seitwärts oder von hinten anzufallen; dieser dagegen richtet seine Zähne und Krallen je nach den Wendungen des Feindes und sucht das Hintertheil möglichst dicht unter den Leib zu schieben, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten und um so schneller mit dem Vordertheil herumfahren zu können. Der viel gewandtere und ausdauerndere Räuber ermüdet durch seine Kreuz- und Quersprünge den plumpen Nager nach und nach so, dass der Sprung in den Nacken, oder an den Hals ge- lingt, und der Hamster, wenn auch nicht ohne manchen abwehrenden Biss und Krallenschlag angebracht zu haben, unter dem blutdürstigen Wiesel stirbt. Kürzere Zeit währt der Kampf, wenn ein solches altes grosses Wiesel einen weiblichen Hamster angreift, der länger im Winterbau verweilt und erst zu Anfang des April sein Fallloch öffnet. Aber nicht bloss im Freien stellt ihm dieser Räuber nebst dem Iltis nach, sondern beide folgen ihm auch unter die Erde, um ihn da zu erwürgen. Zur Zeit der Paarung, gegen Ende April, nehmen die Vertheidigungs- kämpfe des Hamsters oft einen viel hartnäckigeren Charakter an, weil da das Paar auf’s Friedlichste vereinigt ist und ächt gattenpflichtmässig sich in der Bedrängniss beisteht. Aber nur der Trieb des beginnenden Familien- lebens ist's, unter dessen beherrschender Wirkung der Unfriede der Hamster unter sich verschwindet und an die Stelle der bis zum Mord und Auffressen sich steigernden Einzel- und Massenraufereien der zärtlichste Verkehr tritt, welcher in seinem harmlosen Fortgang nicht selten nur durch männliche Nebenbuhler unterbrochen wird, die des Gatten Bosheit und Mordsinn wecken. Nach einigen Tagen des friedlichen Verkehrs im Bau des Weibchens tritt der besänftigende Trieb wieder zurück, und der gegenseitige Hass bemächtigt sich beider Geschlechter, ein Hass, der im wahren Sinne des Worts tödtlich ist, d. h. oft tödtlichen Erfolg hat, indem das schwächere Weibchen unter der erbittertsten Misshandlung von Seiten des Männchens trotz aller heftigen Gegenwehr Leib und Leben lassen muss. Aber auch das Weibchen beträgt sich seinerseits zänkisch und herrisch. Anfänglich hegt und pflegt es zwar die Jungen mit mütterlicher Sorgfalt, nur darf keine ernstliche Gefahr der Behausung nahen, kein mörderischer Feind in dieselbe eindringen, sonst verlässt es die Kleinen niederträchtig feige, um selbst mit heiler Haut A. u K. Müller, Thiere der Heimath. 16 242 Nager. Rodentia. davonzukommen. Jene Mutterliebe aber währt nicht lange, und wenn einmal die jungen Nager nach Verlauf weniger Wochen die Fruehtkörner fertig genug zwischen die Pfoten nehmen und zum Mäulchen führen und Löcher in die Erde wühlen können, dann murrt und knurrt die im Herzen erkaltende Hausmutter und stösst ihre Kinder von sich, versperrt ihnen den Zugang zur Geburtsstätte und zwingt sie so, auf die Oberwelt verwiesen, dem an- geborenen Triebe des Grabens Genüge zu thun und jedes für sich seinen eignen Bau auszuführen. Und im Graben sind schon diese Kleinen rüstig, wie viel mehr sind es die Alten. Die Krallen der Vorderläufe scharren eilig, bei erhöhtem Eifer sogar in raschem Wirbel. Was sich an losge- scharrter Erde zwischen Vorder- und Hmterfüssen anhäuft, schleudern letztere weit hinter sich. Ist der Hamster tiefer in die Erde emgedrungen, so schiebt er das Losgescharrte haufenweise im Rückwärtsgehen herauf. Er arbeitet nach einem gewissen Plane, der von einigem Kunstsinn zeugt und von Zweckmässigkeitsrücksichten in Ausführung gebracht wird. Da ist das Schlupfloch, welches in eine nach der Wohnkammer schräg hinablaufende Röhre führt und dem Hamster nicht nur emen bequemen Ausgang gewährt, sondern auch ein allmäliges Hervorkommen gestattet; jenseits, ungefähr zwei Meter davon entfernt, ist dass Fallloch angebracht, das zuerst von oben senkrecht hnabgeht, dann schräge und zuletzt bis zur wagerechten Richtung verläuft. Bei Überraschung feindlicher Angriffe lässt er sich da bineintollen wenn er keine Zeit gewinnen kann, das Schlupfloch zu erreichen. In der Tiefe liest die eirunde Wohnkammer, deren Wände geglättet sind, und deren Boden mit feinem Stroh ausgepolstert ist. Hier ruht und schläft der Gesättigte. Eine oder mehrere Fruchtkammern von eirunder Gestalt stehen durch Röhren mit der Wohnkammer in Verbindung. Sie sind jene Diebs- höhlen, in welchen der Hamster den Wintervorrath aufspeichert und ihn nicht selten bis zu 60 und mehr Pfund anhäuft. In der Nähe des Baues zeigt sich der Hamster gewöhnlich muthiger und angriffislustiger, als von jenem entfernt. Beim Anblick verdächtiger Erscheinungen lässt er sich zwar eilig in das Fallloch nieder, aber es komnit auch öfters vor, dass er sich vor der Röhre Menschen und Hunden fauchend zur Wehr setzt. Uns sind als Knaben die Hamster in den Feldgärten unserer Heimath wüthend nach den Beinen gefahren, wenn wir uns ihren Bauen näherten. Sie marschirten uns gerade entgegen und waren sicher, uns in die Flucht zu schlagen. Grosser Schrecken ergriff sie aber stets, wenn sich ein Raubvogel zeiste oder von den lärmenden Bachstelzen in der Luft und den sich in die Hecken stürzenden Sperlingen angezeigt wurde. Entweder eilten sie unter die Erde oder sie verbargen sich irgendwo über der Erde. Die Schleichwege, welche durch das Getreide, den Flachs und die Erbsen sich hnschlängeln und immer breiter getreten werden, sind Zeugen der täglich sich wiederholenden Diebereien. Bis zu 9 Neuloth Gewicht vermag Nager. Rodentia. 245 der- Hamster den Vorrath in seinen Backentaschen anzuhäufen. Die Ähre oder die Schote gleitet, von den Pfoten zum Munde geführt, durch die Zähne, wird ein paar Mal hin und her gedreht und allemal in die Tasche zur Rechten oder Linken ausgeleert. Schwer beladen wackelt er seinem Bau zu, den er den ganzen Sommer über mit Erbsen, Leinsamen, Korn, Weizen und anderen Hülsen- und Getreidefrüchten versieht, während das Weibchen erst nach dem zweiten Wurf sich beeilt, den nöthigen Vorrath einzutragen. So geht es fort bis zum Oktober. Die Felder stehen leer, und der Wind fegt kalt über die Stoppeln. Die Zeit der Einkehr in die Winterbehausung ist gekommen. Eines Tages nimmt er für dieses Jahr Abschied von der Oberwelt. Er schliesst den Eingang zu seiner Behausung mit Erde, welche er von der Kammer aus in dichten Massen bis zum Rande des Lochs anhäuft, und verrammelt den Zugang durch das Fallloch auf gleiche Weise von innen. In der Vorrathskammer füllt er sich noch gehörig den Bauch, dann lest er sich in der Schlafkammer auf seinem Polster auf die Seite, rollt sich zu- sammen, so dass der Kopf zwischen den Hinterbeinen ruht, und verfällt nun dem Winterschlaf. Doch wird aus manchem kaum begonnenen Winterschlaf ein ewiger Schlaf, denn der erzürnte Bauer zieht mit Hacke und Schaufel zu Felde und bricht in die Diebshöhle ein, wo er die Früchte seines Fleisses je nach der Zeit des Einsammelns aneinandergereiht und auf dem Faulbette den wohlhäbigen Dieb selbst findet. Eimige Schläge auf die Stirne tödten den Schläter und rächen an ihm die Unthaten des Sommers. Die Schaufel aber hebt geschäftig die unterirdischen Schätze heraus und füllt den Sack des pfiffigen Bäuerleins, das zuletzt dem getödteten Hamster auch noch den bunten Rock auszieht, um ihn zu verwerthen, und den Leichnam alles Schmuckes bar mit Erde zu bedecken. Die Wühlmäuse oder die kurzschwänzigen Mäuse. Arvicolina. In vieler Hinsicht stimmen diese kurzschwänzigen Mäuse mit den vorher geschilderten, den langschwänzigen, überein; denn auch sie nälmen sich von allerlei Vegetabilien, insbesondere Körner- und Knollenfrüchten und ver- schmähen dabei die animalische Nahrung nicht; auch sie sind in ihren Be- wegungen annähernd wie jene rasch und flink; auch sie leben in Höhlungen, die bei Einigen sehr flach, bei Anderen vertiefter und künstlicher angelegt sind. Als Schwimmer zeichnen sie sich vortheilhaft aus, was namentlich von denjenigen unter ihnen gilt, die im Wasser vorzugsweise leben. Der Schaden aber, den sie dem Menschen zufügen, übertrifft den der echten Mäuse be- deutend. Die unterscheidenden Merkmale dieser Familie treten bei aller Achn- lichkeit mit den langschwänzigen Verwandten doch sehr auffällig hervor; sie erscheinen plump von Gestalt, mit dieckem Kopf und kurzen, im Pelz versteckten Ohren, welche durch häutige Klappen vor dem Eindringen von Wasser und Erde verschlossen werden können. Für den Forscher sind aber namentlich 16* 244 Nager. Rodentia. die ihnen eigenthümlichen drei Backenzähne für ihre Kennzeichnung ‘von besonderer Bedeutung. Dieselben haben nämlich keine eigentlichen Wurzeln und bestehen aus mehreren prismatischen Platten, die in der Mitte etwas ge- knickt sind und zwischen denen seitlich Rinnen herablaufen. Auch das ver- engte Stirntheil des Schädels und der sehr abstehende Jochbogen sind charakteristische Merkzeichen. Wir beginnen mitder Wasserratte, Arvicola amphibius, welche von uns längst als eine selbstständige Art von der Reut- oder Schärrmaus auf Grund lang- jähriger Beobachtungen der Lebensweise Beider unterschieden worden ist. Je nach dem Alter und Geschlecht misst diese Ratte 21 bis 24 Ctm., den etwa ein Dritttheil der ganzen Körperlänge ausmachenden Schwanz mitge- rechnet. Ihre Färbung ist schwarzgrau, nach unten und an den Spitzen der Haare gelblichgrau, am Bauch und der Kehle weissgrau. Die Schnauze ist fleischfarben, die vordere Zahnreihe braungelb. Diese Färbung scheint die normale zu sein, sie ist wenigstens von uns als die bei weitem vorherrschende stets erkannt worden, soviel Uebergänge in’s Hellere und Dunklere auch vorkommen. Ihre Verbreitung ist eine sehr umfangreiche, und man kann nicht sagen, dass sie die Ebene dem Gebirge zu ihrem Aufenthalte vorziehe. In den Forellenbächen, den Fischteichen, den sumpfigen Gräben, wie in den kleinen und grösseren Flüssen und Kanälen fühlt sie sich heimisch. Nir- gends aber wird sie fern den Gewässern gefunden werden. Ihre Baue gräbt sie sich am Ufer der Bäche, Flüsse, Teiche und Kanäle selbst und zwar immer so, dass die Röhre von der Landseite in gesenkter Richtung läuft und halb über, halb unter dem gewöhnlichen Wasserspiegel ausmündet. Vom Wasser aus steigt die Ratte bogenförmig ins Ufer hinauf in einen geräumi- gen Kessel, der ein mit Binsen, Moos und Grashalmen gepolstertes Nest von Halbkugelform enthält. Doch zuweilen baut auch die Wasserratte nach Art der Zwergmaus ein kugeliges Nest im Schilf ungefähr einen bis anderthalb Meter über der Spiegelfläche des Wassers oder in dichtem Gestrüpp am Ufer. Blasius erwähnt die kugelrunde Form eines solchen Nestes. Der während des Sommers bis m den Herbst hinein einige Mal wiederholte Wurf bestehtaus drei bis sechs kahlen, blinden Jungen, denen grosse Zärtlichkeit der Mutter zugewendet wird, so dass bei nahender Gefahr oder bei wesentlichen Störungen die Kleinen von der besorgten Alten im Maul an sichere Orte getragen werden. Wir haben beim Fischen zur Abendzeit eine in’s Netz schwimmende Wasser- ratte gefangen, die ein Junges im Maule davonzutragen im Begriffe war. Wüthend vertheidigte sie ihren Schützling gegen unseren auf sie eindringen- den Hühnerhund. Das Eheleben der Wasserratte bietet manche anmuthige Scene dem Beobachter dar. In der Abenddämmerung, wo das rege Leben dieses Nagers beginnt, umkreist und umtanzt, hochaufgerichtet wie ein Wassertreter, das Männchen sein Weibehen und sucht sich durch solches possirliche Gebahren Nager. Rodentia. 245 die Gunst des Weibchens zu erwerben. Bald dreht und wälzt sich der zärt- liche Gatte zur Rechten oder zur Linken, bald rudert er der ausweichenden Gattin lebhaft erregt nach und vergisst auf diese Weise oft sich selbst und die Sorge um die sonst so ängstlich gewahrte Sicherheit. Nicht minder unterhaltend und von zärtlicher Familienneigung zeugend sind die Spiele, welche die Mutter mit den Kleinen bei ihren abendlichen Ausgängen be- treibt. Hier sieht man sie zu mehreren auf einem Häufchen im Wasser unter und über einander purzelnd und huschend vereimigt, dort eilen mehrere der Führerin nach, welche eine Beute sich angeeignet hat und neckend dieselbe den Jungen vorenthält. Dann sammelt sie mit eigenthümlichem, leisem Lock- ton an vertrautem Plätzchen im Schilf oder Rohr, das von den Ratten zur Tafel ausgetreten ist, die Kleinen und legt ihnen die Leckerbissen in Gestalt von Fröschen, Krebsen oder auch Uferschnecken, Würmern und Kerbthieren vor. Den Krebs weiss sie so zu packen, dass die Scheeren ihr nichts anzu- haben vermögen. Sie fasst ihn von hinten oder in der Mitte und nagt ihn von unten an. Oder wenn Alte und Junge zusammensitzen und die herzu- getragenen Knollengewächse und Gemüse oder Wurzeln und markige Rohr- stengel verzehren, so sieht man sie auf den Hinterbeimen aufgerichtet sitzen, die Vorderfüsse handartig gebrauchen und die Köpfe beim Nage- geschäfte bald nach dieser, bald nach jener Seite wenden, um vor Allem das Beliebteste auszuwählen. Solche Plätze, wie sie Ch. L. Brehm als Tische schildert auf umgeknickten Rohrstengeln, wenig über dem Wasserspiegel erhaben, aus grünem Seggengras in einer festen, dichten Masse, oben abgeplattet, sind auch die Sammelorte der benachbarten Paare, welche hier gemeinschaftliche Mahlzeiten halten, das Putzgeschäft ver- richten und nach vollzogener Sättigung zusammengekauert neben und unter- einander der Ruhe pflegen. Verfolgt man aufmerksam die beliebten Gänge der Wasserratten, die namentlich unter den hohlen Uferwänden und der Deckung von dichten Büschen und Baumwurzelausschlägen hinziehen, so entdeckt man auch hier plattgetretene Plätze, die es verrathen, dass sie zu regelmässigen längeren Aufenthaltsorten der Thiere dienen. Ihre Lüsternheit lässt sie auf ihren Entdeckungs- und Untersuchungsausgängen, die im Schilf und auf dem Boden des Ufers stehenden Vogelnester nicht schonen. Eier und Junge raubt sie daraus, und wenn sie einmal gekostet hat, so untersucht ihre Nase das Jagdbereich mit ganz besonderer Vorliebe für den zerstören- den Eingriff in das Eheheilisthum der in ihrer Nähe befindlichen Nistvögel. Im Herbste sammelt die Wasserratte Nahrungsmittel in ihre Uferhöhlen ein und plündert dabei in empfindlicher Weise die an den Ufern gelegenen Garten- striche und Gemüseländer. Während der Winterzeit schläft sie viel und tief, ohne in den Frstarrungszustand zu fallen. Bei milder Witterung erwacht sie, zehrt an den Vorräthen und wagt auch einen kurzen Ausgang. Grosse Ueber- schwemmungen zurW interzeit verursachen eine empfindliche Störung unter den 246 Nager. Rodentia. Wasserratten; sie müssen aus ihren Höhlungen heraus und Zuflucht nehmen auf erhöhten Plätzen, wo man sie bei solcher Bedrängniss zuweilen in sicht- lich übelbefindlichem Zustande niedergekauert sitzen sehen kann. Die Scher-, Schärr- oder Reutmaus. Arvicola terrestris. Schon gewisse äussere Gestaltungszeichen der Schermaus und ihre Färbung im Vergleich zur Wasserratte sichert ihr das Recht einer beson- deren Art. Offenbar ist sie kleiner und kurzschwänziger als die sehr ver- wandte Wasserbewohnerin. Während die Wasserratte dunkel bis zum Schwärzlichen gefärbt erscheint, zeigt die Schermaus bei aller Neigung zu Abänderungen nach der helleren oder dunkleren Färbung hin doch immer das Charakteristische des röthlichen oder gelben Schimmers der Oberseite und das Hellere des Bauchs und der Kehle. Wohl ist auch sie keime be- hende Läuferin, aber doch kommt sie rascher: von der Stelle als die Wasser- ratte. Sie entzieht sich durch Kreuz- und Quersprünge dem hinter ihr her- drängenden Verfolger, so dass immerhin ein geschickter Rattenfänger, wenn er nicht einigermassen weites Feld hat, sich beeilen muss, um sie zu fangen. Ein weiterer unverkennbarer Unterschied zwischen den beiden Arten offen- bart sich in der Verschiedenheit der Anlegung der Höhlungen. Die Scher- maus legt ihre Baue stets in trocknem Gelände an, selbst in der Nähe oder dicht an den Ufern der Gräben, Flüsse und Teiche, und diese Baue münden nicht an der Uferwand nach dem Wasser zu. Sie meidet überhaupt das Wasser und den Sumpf und kehrt sich dem trocknen, bebauten Lande mit entschiedener Neigung zu. Wie sollte auch die bis hoch in’s Gebirge fern von allem Gewässer hmaufgehende Schermaus ein und dasselbe "Thier mit der vorher geschilderten Art sein, die so sichtlich an das Wasser gebunden ist und hier colonienweise, also gesellig lebt, mithin auch nach dieser Rich- tung mit der grösstentheils mehr einzeln auftretenden. Verwandten nichts semein hat! In der Heimath unseres Vaters befänd sich ein zur Pfarrei gehöriger Feldgarten in der Nähe eines Mühlgrabens, wo die Schermaus zahlreich vertreten war, aber niemals im Wasser von den sorgfältig bemühten Beobachtern gesehen wurde. Endlich stellt sich auch dieForm der Baue bei der Schermaus wesentlich anders dar als bei der Wasserratte Der Bau, in welchem das Nest nach Art der Feld- und Hausmäuse angelegt ist, besteht unter einem ausgeworfenen, stärkeren Erdhügel in einem runden Kessel, zu dem mehrere Gänge führen. Das Nest selbst enthält Moos, Gras, Stengel und Stroh in fein zerschlitztem Zustande oder auch sehr feine Wurzeln. Sehr gerne wählt das Thier Stellen unter Hecken und Büschen, sowie unter Hügeln und Rainen, vorzüglich auch unter Baum- und Strauchwurzeln zur Nestanlage. Die Wurzeln werden zernagt, so weit zur Anbringung des Nestraums Platz nöthig ist. Es wird gemeiniglich über halb metertief in der Erde unter den angegebenen natürlichen Schutzmitteln angelegt. Wir fanden Nager. Rodentia. 247 es immer mit seinen Hauptröhren in beträchtlicher Tiefe, sogar öfters unter dem Niveau der Maulwurfsgänge, einmal 1 Meter tief. Aber auch die letzteren benutzt nicht selten die Wühlerin. Hier wirft dann das Weibchen mehrmals im Jahre zwei bis sieben Junge, die zunächst mit treuer Hin- gebung gesäugt und später im Dunkel ihrer Wiege mit herzugetragenen Getreidekörnern, Knollengewächsen, Gemüsen, Hülsefrüchten, Obstbaum- früchten und Wurzeln versorgt werden. Bei dem Ausgang nach den Quellen soleher Nahrung, behauptet die Schermaus immer grosse Vorsicht und Be- hutsamkeit. Da, wo viele Paare die Gegend bevölkern, können die Zer- störungen in den Gemüsegärten und Getreidefeldern sehr fühlbar werden. In hervorragender Weise sind Schwarzwurzel- und Spargelbeete durch diese Nager gefährdet. Nicht anders ist's im Walde, in den Forstgärten und Kulturen. Wie viele Pllänzchen zerstört die schädliche Wühlerin, insbesondere des Ahorns und der Eiche, durch das ewige Nagen, welches in horizontaler Richtung geschieht und eine Fläche hinterlässt ähnlich dem Ergebniss einer Säge! Mit stets tief eingreifendem scharfen Biss nagt sie meist unter dem Wurzelstock die jungen Holzpflanzen ab, insbesondere die Eichen, in Saat- schulen und jungen Schonungen bis zu kräftiger Heisterstärke (3—4 cm.), sodass die Stämmchen meist noch gerade im Boden stehen bleiben, in der Vegetationszeit dann als traurige abgestorbene Gerten erscheinen. Auch oberhalb des Wurzelstocks greift sie die Pflanzen an, unter welchen sie auch die jungen Buchen wählt. Die Abschnittfläche der Schermaus an den Stämmchen unterscheidet sich von den durch die Erdmaus (A. terrestris) verursachten convexen Abbisse durch mehr hohle, concave Form. In vielen hevieren verursachte sie schon erheblichen Schaden. Sie kann jungen Schonungen und Pflanzbeeten in Forstgärten empfindlich zusetzen, namentlich auch dadurch, dass ihre Verwüstungen oft in einemfort gehen und so ganze Flächen im Umkreis von einem Morgen verwüsten. Alle diese Zerstörungen fallen in die Zeit der Nacht, des frühen Morgens und des Abends, sehr selten in die eigentliche Tageszeit. Wir kommen nun zur Beschreibung der Taggänge im Gegensatz zu den erwähnten Hauptgängen, den sichtbaren Unterhöhlungen, welche die Schermaus, viel seichter wie der Maulwurf, oft grosse Strecken weit wühlt und durch welche ebenfalls den Gärten Schaden erwächst. Diese im Kreuz und Quere, oft auch geradeaus weithin laufenden Gänge legt die Schermaus in der lockeren Ackerkrume an, in welcher die meisten Kulturgewächse ihre Wurzeln verbreiten. Da sich das Thier stets an der Oberfläche hält, so drückt sie die Erdfläche über sich in die Höhe, so dass der Gang eine Wölbung nach oben erhält. ‘Wenn nun der Boden spröde ist, so springt er hier und da in kleine Risse und zerbröckelt sich, wodurch dann Offnungen in den Gängen entstehen. Von den Maulwurfsgängen unterscheiden sich die Gänge der Schermaus dadurch, dass sie viel mehr als jene hin und her 248 Nager. Rodentia. ziehen und dass die Auswürfe von grösseren Schöllchen begleitet sind. Wenn man diese unterirdischen Streifereien verfolgt, so wird man sich bald über- zeugen, dass dieselben nach dem eigentlichen Leben der Pflanzen, ihren Wurzeln, gerichtet sind und ganze kostbare Pflanzenbeete verwüsten. Es erscheint darum die Schermaus als weitaus schädlicheres Thier, als die Wasserratte, welch letztere ausser den bereits erwähnten Schäden, welche sie den nahegelegenen Gärten- und Ackererzeugnissen durch Frass und den Teichen durch Unterwühlen ihrer Ufer beibringt, keine weiteren Nachtheile menschlichen Interessen und Einrichtungen verursacht. Kein Wunder, dass der Schermaus dann auch mit Gewehren, Fallen und Hunden der Krieg erklärt ist. Am erfolgreichsten bewähren sich die Schnell- und Zangenfallen, mit welchen die Maulwürfe gefangen werden. Ein Schermausfänger in Alsfeld räumt mittelst der Zangenfallen ganz erstaunlich unter den verhassten Nagern auf. Diese Fallen werden in die von der Wühlerin stets innegehaltenen Gänge gestellt, nachdem man sie vorher mit einer Lockspeise, emem Stück- chen Gelberübe, Schwarzwurzel und dergleichen versehen hat. Sobald die Schermaus anbeisst, wird sie von den zusammenschlagenden Zangen gepackt und getödtet. Auf Grund der Wahrnehmung, dass die Schermaus weder frische Zugluft, noch Licht in ihren unterirdischen Gang eindringen lassen mag und dass sie zur Abwehr derselben die entstandenen Öffnungen in kurzer Zeit wieder verschliesst, empfiehlt A.M eier den Gebrauch des Gewehrs unter nachbezeichneten Umständen: „Man öffnet den bewohnten Gang (man überzeugt sich von dem Bewohntsein dadurch leicht, dass man etwa am Tage vor der beabsichtigten Jagd die vorhandenen Gänge hin und wieder etwas Öffnet und dann am folgenden Tage nachsieht, wo die gemachten Löcher wieder geschlossen sind; dort sind die Gänge bewohnt) mit einem Stock oder Spaten so weit, dass das Thier sichtbar werden kann, wenn es zur Verschliessung der Omas kommt; zugleich fühlt man mit emem Reis oder Gertchen (nicht mit der Hand), welehe: man möglichst wenig berührt hat, in den Gang, um sich zu überzeugen, dass man nicht gerade eine a Biegung getroffen hat, in elchen Falle man das Loch gleich wieder zuwirft und ein neues macht, weil man sonst die dann leicht unbemerkt zurückweichende Reutmaus wohl fehl zu schiessen pflegt. Nun stellt man sich mit Berücksichtigung des Windes und überhaupt mit Vorsicht beobach- tend und schussfertig in die Nähe der gemachten Gangöffnung, bis die Reutmaus erscheint und zuerst vorsichtig aus dem Loche sieht — diesen Augenblick muss man zum Schiessen benutzen. Die günstigste Tageszeit ist, weil die Reutmäuse dann in Bewegung sind und nicht vielleicht eben an einem entfernteren Punkte ruhen, früh Morgens und gegen Abend, be- sonders die letztere Zeit. Nicht selten kommt die Maus kaum eine Minute nach Öffnung des Ganges zum Vorschein, und kann man kurz nach einander mehrere ne, ohne allzu vieler Geduld zu bedürfen.“ Nager. Rodentia. 249 Die Waldwühlmäuse bilden eine besondere Gruppe unter den Wühlmäusen. Wir schildern die in unseren Laubwaldungen, an Waldrändern und in busch- und bosquetreichen Gärten sich aufhaltende Waldwühl- maus (Arvicola glareolus). Nicht immer lebt diese Maus in Gesellschaft von Ihresgleichen, sondern mischt sich nicht selten unter die. Waldmäuse und auch unter Feldmäuse, mit diesen letzteren die Anrichtung des Schadens in den Feldern in gleichem Maasse theilend. Ihre Hauptbeschädigungen aber sind den jungen Schonungen der Wälder zugewendet, denn sie zernagt, zumal wenn ihre Art sich bedeutend vermehrt, die zarte Rinde der Pflänz- linge und auch der schon älteren Buchenrauschen. Wir sagen in unserem Buche über „die einheimischen Säugethiere und Vögel nach ihrem Nutzen und Schaden“ Folgendes, was sich auf das Zernagen der Rinde seitens dieser Maus bezieht: „Obgleich die Feldmaus in Schaaren auch in die Vorhölzer und Waldungen einbricht und da oft genug den forstlicherseits so gefürchteten Mäusefrass in grossem Massstabe verursacht; so ist doch diese Art der Urheber solcher Zerstörungen nicht allein. Die Waldwühlmaus sowie die unter den lang- schwänzigen Mäusen genannte Waldmaus helfen getreulich die Unbilden an den jungen Hegen, besonders dem Buchen- und Hainbuchenholze verrichten. Wie sich die Wühlröhren der gemeinen Feldmaus aber von denen ihrer Verwandten durch die vielen schadenbringenden gossenartigen, oben offenen Gänge an den Übergangsstellen von einer zur andern Röhre unterscheiden, so. ist die Art des Zernagens an dem Holze von der Feldmaus verschieden von dem der Wald- und Waldwühlmaus. Die Feldmaus nagt nach unseren vielfältigen Beobachtungen im Forstreviere Bingenheim in der Wetterau nur schmale Ringe oder Platten unmittelbar am Wurzelstock oder doch nicht weit darüber; während die Waldmaus, sowie die Waldwühlmaus weit höher an den Stämmchen hinauf Rinde und Holz zernagt. Wir kamen zuerst hinter die Thäter, als wir in einem Mäusejahre auf gedachtem Revier in unserer Nähe Mäuse von Buchengehölz in ziemlicher Höhe herabspringen sahen und bei näherer Auskundschaft uns bald überzeugten, dass es Waldwühlmaus und Waldmaus waren. Von nun an forschten wir dem Treiben dieser Arten genauer nach und überzeugten uns, wenn auch bei dem verdeckten, heimlichen Wandel der Thiere mit nicht geringer Mühe davon, dass der Frass derselben nicht allem viel höher als der der Feld- mäuse an dem Holze hinaufsing, sondern dass das letztere auch mitunter bis in das Gezweig hinauf absatzweise zernagt wurde. Besonders ist es frech aufgeschossenes Jungholz an den Rändern von Lichtungen und Blössen oder Waldwegen, das die beiden gedachten Arten angehen. Ihre Zer- störung trifft aber mehr ganze Gerten und Büsche, besonders Vorwuchs und Stockausschlag, und erstreckt sich nicht auf so viele Stämmchen, wie der Frass der Feldmäuse, welche nur in der beschriebenen Weise den Wurzel- 1) 50 “ Nager. Rodentia. knoten zernagen, um sodann in rascher Folge benachbarte Stämmchen in gleicher Weise anzufallen; so dass sich also der Frass der Feldmaus doch räumlicher und bedeutender gestaltet, als der der beiden andern Mäuse. Hauptsächlich geschieht dieser Schaden im Winter gegen das Frühjahr.“ Das Benagen der Waldwühlmaus erstreckt sich wesentlich auf den Rinden- körper, nicht aber auf den Splint oder das Holz. Die Verwundung ist ein glattes Schälen bis auf die jüngsten Holzringe, und die Zahnspuren verrathen sich in feinen Rissen. Ihr Schälen ist gefährlicher und unterscheidet sich wohl von dem viel seichteren, den Bast verschonenden Nagen der Waldmanus. Ausser Hainbuchen und Rothbuchen geht die Waldwühlmaus auch besonders gern die Lärche an. Diese — namentlich die verpflanzten in bodenver- wachsenen Stellen — benagt sie bis in die Spitzen der Zweige. Es kommt ihr dabei das vortreffliche Klettervermögen sehr zu statten. Blankenburg gibt an, dass er sie auf einer Lärche in einer Höhe von 26 m. gesehen habe. Diese Maus von 10 Ctm. Körper- und zwischen vier und fünf Otm. Schwanzlänge hat eine ‚braunrothe Oberseite, die nach den Flanken herab ins Graue spielt und eine weisse Unterseite, welche Farbe auch die Füsse theilen. Sie klettert an Bäumen und Stauden, sowie in dem Gezweig mit Gewandtheit hinauf und herunter und bedient sich bei der Flucht sehr gerne der Sprünge. Ihr Nest biingt sie in Büschen unweit des Bodens an, und dieses baut sie mit abgenagten Fasern des Holzes und Grashalmen, zum Aussentheil gröbere, zum inneren Ausbau feineres Material wählend. Sie wirft vier bis acht nackte, blinde Junge zu drei bis vier verschiedenen Malen während des Jahres. Bis zur Selbstständigkeit ihrer jedesmaligen Nachkommenschaft ist sie dieser treue Führerin und Versorgerin. Ausser Pflanzennahrung geht sie vorzugsweise gerne Eier und Nestjunge der Klein- vögel im Walde an. Die Gruppe der Feldmäuse, Arvicola, vertritt die weithin ge- fürchtete, zu Zeiten unsäglichen Schaden verursachende Feldmaus, Arvicola arvalis s. arvensis. Auf die 14 Ötm. betragende Gesammtlänge kommen drei Utm. Schwanz- länge. Auf der Oberseite bis zu den stets helleren Flanken herrscht die graue Grundfarbe mit gelblichem Schimmer, während die Unterseite weisslich mit rostfarbenem Anhauch erscheint, der übrigens an den Füssen nicht vor- handen ist. In Nordeuropa ist sie theilweise, in Mitteleuropa durchgängig vertreten, ebenso erstreckt sich ihre Verbreitung über den westlichen Theil von Nord- und Mittelasien. Wenn sie auch die Ebenen den Gebirgsgegenden vorzieht, so ist sie doch keineswegs ein Feind der letzteren, sondern auch da häufig anzutreffen. Im Ganzen kann man allerdings sagen, dass sie die weitgedehnten Felder und Wiesengründe vorzugsweise zu ihrem Aufenthalt wählt und da hauptsächlich auch in überhandnehmender Vermehrung ge- deiht. Ob sie gleich auch feuchte Länderstriche neben dem trocken gelegenen Nager. Rodentia. 251 Ackerland bewohnt, so legt sie doch ihr Nest an trocknen Plätzen an. Das- selbe besteht in allerlei Genist unter der Erde, und es führen mehrere seichte Gänge zu ihm. Die Eingänge der Höhlungen sind ausserhalb durch nieder- getretene, schmale, gossenartige Pfädchen mit einander verbunden. In die Wohnungen sammeln die Feldmäuse zu ihrer Versorgung in Zeiten des Mangels Getreidekörner und Sämereien ein, von denen sie so lange zehren, bis die allgemeine Noth sie zur Wanderung nach benachbarten Länder- strichen treibt. Und diese Wanderung findet in sogenannten Mäusejahren schaarenweise und oft urplötzlich statt. So haben wir grosse Gesellschaften Feldmäuse im Jahre 1859 in der Heimath unseres Vaters vom linken Ufer der Nidda über den Fluss schwimmen und sich über Wiesen und Felder des rechten Ufers verbreiten sehen, und zwar in so ungestümer Weise, dass in wenigen Tagen das vorher vom Mäusefrass ziemlich verschont ge- wesene Feld nunmehr in kurzer Zeit umfangreichen Schaden litt. Die Feld- maus ist stets, so lange ihr die Bedingungen zum Wohlsein und Behagen gegeben sind, munter und lebendig, und zwar zur Tageszeit wie während der Nacht. Sie gehört zu den Allesfressern. Was auf dem Felde wächst, möchten wir sagen, wird von ihr angegangen, die Früchte und Sämereien, die Gräser, Kräuter, Beeren, Rüben und Knollengewächse. Die Halmen beisst sie ab, damit die Ahren niederfallen und sie so zur Frucht gelangen kann. Und wenn sie in die Scheuern und Keller eingeführt wird, auf Ernte- wagen, oder sich freiwillig im Herbste dahin schutz- und nahrungsuchend begibt, so setzt sie ihre schadenbringenden Eingriffe in die eingesammelten Erträgnisse daselbst fort. Sie schädigt unaufhörlich auf dem Boden der Cultur den Ernteertrag. Die Jahre, in welchen gewisse Gegenden und Länderstriche von der Mäuseplage schwer heimgesucht wurden, sind nicht vergessen; was sich der persönlichen Erinnerung im Laufe der Zeit ent- zogen hat, ist von den Vertretern der Wissenschaft verzeichnet worden. So liegen aus den Jahren 1813 und 1814 Berichte aus England vor, wo die Feldmäuse in den Waldungen unter ein- und zweijähriger Baumsaat ausgedehnte Verwüstungen anrichteten. Sie schälten nicht blos die Rinde von den Pflänzlingen ab, sondern zernagten auch die Wurzeln schon statt- lich herausgewachsener Eichen und Kastanien, die in Folge dessen abstarben, Ihr Schaden in den jungen Gerten- und schwachen Stangenhölzern ist gross und empfindlich, weil diese Maus continuirlich Staude um Staude, Stange für Stange anfällt und so ganze Strecken Holz auf’s Empfindlichste be- schädigt. Sie benagt und ringelt die Holzpflanzen hauptsächlich über dem Wurzelstocke etwa spannenhoch aufwärts; höher greift sie nicht als schlechte Kletterin. Ihre Verwundungen kennzeichnen sich in plätzweise dicht neben eimander stehenden, bis in das junge Holz gehenden Nagefurchen, also dass die Schälfläche durch das häufige Stehenbleiben von Rindenstückchen zwischen den Zähneeinschnitten bunt oder geschäckt erscheint. Bei grasigem, 252 Nager. Rodentia. kräuterbedecktem Boden treibt sie ihr Zerstörungswerk mit Vorliebe; hier beisst sie auch die jungen Holzpflanzen, namentlich den Buchenaufwuchs dicht über der Erde in convexen, kegeligen Abschnitten ab. Viele — wohl die meisten Stämmehen ringelt sie ganz, und diese sterben unbedingt ab; aber auch die halbgeringelten gehen nach und nach ein. Sehr naiv sind die Versuche mancher Forstwirthe gewesen und werden wohl auch hin und wieder noch heut zu Tage aufgefrischt, die Mäuse durch Schweineeintrieb zu decimiren oder zu verjagen. Das letztere hat oft mehr geschadet als genützt: denn man trieb ausserhalb der Hegen befindliche Mäuse nicht selten in Schonungen vor den Schweineheerden her und brachte die Oalamität so erst recht in die jungen Hölzer. Blasius hebt den in den zwanziger Jahren mehrfach vorgekommenen empfindlichen Schaden durch Mäuse am Niederrhein hervor und schildert die damalige Vermehrung derselhen als eme wahrhaft schreckenerregende. Wenn im Jahre 1822 in Zabern binnen 14 Tagen 1,570,000 Stück, in Amts- bezirken der Wetterau Hunderttausende ebenfalls in wenigen Wochen ge- liefert wurden, ohne dass dadurch die unabsehbare Masse sich merkbar verminderte; wenn ferner im Herbste des Jahres 1856 nach Mittheilung von Lenz in Folge der ausserordentlichen Zunahme von Mäusen in emem Um- kreise von 4 Stunden, zwischen Erfurt und Gotha, nahezu 12000 Acker Land umgepflügt werden mussten: so haben wir wahrlich alle Ursuche, auf Mittel zu sinnen, um solche Landplage ferne zu halten oder doch wenigstens nach Kräften zu vermindern. Die Gründe der ungewöhnlichen Vermehrung der Mäuse in gewissen Jahren hat man bis jetzt nur ungenügend erforscht. Im Allgememen lehrt die Erfahrung, dass hauptsächlich die Gunst der Witterung der Fortpflanzung und Ausbreitung der Mäuse Vorschub leistet. Nässe und Kälte können selbstverständlich ihrer Existenz nicht förderlich sein, während Wärme und Trockenheit als Grundbedingung ihres Gedeihens sich erwiesen haben. So lange die Fortpflanzung dieser Nager die normalen Linien nicht überschreitet, fällt es nicht schwer, die ihre Vermehrung fördernden oder hemmenden Umstände zu entdecken, die vorzugsweise in den während des Jahres herr- schenden Witterungsverhältnissen zu suchen sind, wobei wohl zu berück- sichtigen ist, dass nicht blos der Sommer, sondern auch der vorausgehende Winter erwogen sein will. Aber in sogenannten Mäusejahren entzieht sich die eigentliche Ursache der seltsamen Erscheinung noch immer der Berech- nung und dem Scharfsinn des Forschers. Da ist die Erklärung nicht ge- geben mit dem Hinweis auf das Wetter, wenn dasselbe auch für die Mäuse, wie gemacht, erscheint, denn nach sorgfältig angestellten Beobachtungen übertrifft sogar nicht selten die Witterung eines Jahres bezüglich des die Vermehrung der Mäuse fördernden Charakters zur Zeit, wo eine Überhand- nahme nicht stattfindet, diejenige eines Mäusejahrs. Ebenso wenig, als die Nager. Rodentia. 258 plötzliche massenhafte Anhäufung der nordischen Lemminge und ihr Auf- bruch zur Wanderung erschöpfend erklärt werden kann, wird Jemand im Stande sein, genügende Gründe des wuchernden Mäusestandes anzugeben. Gerade so erstaunt fragend, wie vor der Erscheinung des zahllosen Auf- tretens der die Nadelholzwaldungen überziehenden und verheerenden Nonnen- raupe im gewissen Jahren, stehen wir vor der Milliardenzahl der Mäuse. Vorzugsweise sind es die getreidereichen Ebenen, welche von dem Feld- mäusefrass zu leiden haben. Übrigens findet man die Massen nicht gleich- mässig über die Felder verbreitet, sondern je nach der Beschaffenheit des Bodens und dessen Lage, sowie nach der Art der angebauten Feldfrüchte mehr oder weniger angezogen. Mit der Überhandnahme geht die Unruhe, der Kampf um Dasein und Unterhaltung und die Neigung zur Wanderung Hand in Hand, so dass plötzlich in den von Mäusen bisher nur wenig heimgesuchten Feldern unzählige auftreten. Diese Wanderungen finden im Nachsommer und Herbst statt, und selbst Flüsse sind kein wesentliches Hinderniss der Ausbreitung, sie müssten denn allzu breit und reissend sein. Während des Sommers hielten sich die Familien stiller im deckenden Schatten der Felderzeugnisse, an die Scholle der engeren Heimath gefesselt. Dem beobachtenden Auge verborgen, wucherte die Fortpflanzung hier in zu- nehmender Progression, denn die vier bis acht Jungen eines Wurfs wurden schon nach Verlauf weniger Monate zeugungsfähig, und das Vorwalten der weiblichen Mäuse, von denen die alten sechs Mal im Jahre werfen, förderte um so mehr das Steigen der Nachkommenschaft. Erst nach der Ernte konnte man daran denken, dem Feinde mit seinen zahlreichen Colonnen zu Leibe zu rücken und zu Vertilsungsmitteln zu schreiten, die sich leider sämmtlich als unzureichend erwiesen. Was hätte auch während des Sommers geschehen können, wo überall die Producte der Felder und Wiesen ein- greifenden Massregeln gegen die Mäuse hinderlich waren? Nun berieth man sich, nahm Erfahrung und Wissenschaft zur Hülfe, experimentirte und stellte in landwirthschaftlichen Vereinen und Versammlungen die Mäusefrage als eine der wichtigsten und brennendsten in den Vordergrund. Wie ernst man auch verhandelte, wie sorgfältig die Vertilgungsmittel in Berathung gezogen wurden, man fühlte allerwärts die menschliche Ohnmacht. Einst war es der Staat, der durch Ausschreibung von Lieferungsgesetzen glaubte den Sieg über das Heer der kleinen Nager davontragen zu können. Nun sieht Jedermann ein, dass Selbsthülfe geboten ist, aber freilich, der Einzelne kann nichts ausrichten, wenn der Grenznachbar sich ihm nicht anschliesst, ja eine ganze Gemeinde leistet immer nur Unzulängliches, wenn nicht die Nachbar- semeinden mit ihr sich zu gleicher Thätigkeit und gleichen Opfern ver- binden. Gerade die wirksamsten Mittel scheitern an der Scheu vor der Höhe des Kostenbetrags, so die Anwendung von Dampf und Rauch, um die Insassen der Gänge zu ersticken. Während im Jahre 1573 in Rheinhessen 254 Nager. Rodentia. die eine Gemeinde Tausende von Thalern im Kampf gegen die Mäuse opferte, schreckte die andere vor der Aufbietung solcher Kosten verur- sachender Arbeitskräfte zurück. Hier redet natürlich die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse oft ‚das entscheidende Wort, öfters aber noch die Energielosigkeit und die Neigung zu halben Massregeln. Während von nicht Wenigen die Vergiftung der Mäuse befürwortet wurde, widersprachen sich die Vertheidiger dieser Massregel in so fern, als sie mit den Mäusen auch den Feinden derselben, den Krähen, Bussarden, Katzen, Füchsen, Iltissen und Mardern, deren Schonung man fordert, theilweise den Tod dictirten. Denn diese Räuber fressen, einige von ihnen die durch Gift völlig getödteten. andere die durch die Wirkung desselben im Sterben begriffenen Mäuse und fallen als Opfer in zweiter Linie. Die Gefahren, welche mit der ausge- dehnten Anwendung von Gift zur Vertilgung der Mäuse auf dem Felde verbunden eind, dürfen nicht gering geachtet werden, wenn erwogen wird, welche hervorragende Rolle Unvorsichtigkeit und Zufall m der Welt spielen Immerhin wirksam, wenn auch unzureichend, haben sich die Falleruben und das Eingraben von Töpfen erwiesen. Wahre Herbergen der Mäuse sind die Raine, Eisenbahndämme, Hohlwege und die mit Gras überwachsenen Furchen. Solche Orte smd bei der Ungunst der Witterung Zufluchtsstätten grosser Schaaren. Aber auch die mögliche theilweise Wegräumung der- artiger Schutzmittel dieser Feinde des Ackerbaus kann nicht als Radikal- mittel erscheinen, und es wird überhaupt menschliche Kunst und mensch- licher Scharfsinn in Unternehmungen gegen die riesenhaften Heermassen voraussichtlich immer nur Unvollkommenes leisten. Verschwindend, wie der Erfolg der Thätigkeit der Menschen, war stets auch in Mäusejahren die Hülfe derjenigen Thiere, welche sich als Vertilger der Mäuse einen achtunggebietenden Namen erworben haben. In Normal- jahren greifen diese Nützlichen viel wesentlicher in den Haushalt der Natur ein, aber was sind sie im Stande, gegen Unzählige zu leisten? Der Magen ist in aussergewöhulichen Zeiten eben nicht grösser, als in gewöhnlichen, ihrem Vermögen sind unter allen Umständen gewisse Grenzen gesetzt, wie- wohl ihnen in Mäusejahren die Gelegenheit zum Rauben natürlich weit günstiger ist. Der Nutzen unserer mäusefeindlichen Raubthiere ist unter allen Umständen zu schätzen, aber man hat ihn, namentlich in dem letzten Jahrzehnt, in derselben Weise überschätzt, wie man dies in Hinsicht der Insektenfresser unter den Vögeln gethan. Es ist eigenartig, dass man im blinden Eifer für einmal zu Schutzempfohlenen erklärte oder mit dem Bann belegte Thiere sich der Nothwendigkeit überhoben fühlt, eingehende Unter- suchungen über sie anzustellen und so deren Lehensweise vorurtheilslos auf den Grund zu kommen. Es mag Vielen unwahrscheinlich klingen, wenn wir behaupten, dass die völlige Schonung aller Feinde unserer Mäuse nicht ausreichen würde, Mäuse- “ Nager. Rodentia, 255 jahre zu verhüten, noch weniger während letzterer der ungeheueren Anzahl der verheerenden Nager wesentlichen Abbruch zu thun. Und doch ist es nicht anders. Man muss nur im Auge behalten, dass sich die bereits er- wähnten Raubthiere selbst bei sorgfältigstem Schutz über gewisse Grenzen hinaus nicht stetig vermehren würden, die ihnen die das Gleichgewicht immer am sichersten herstellende Natur gezogen hat. Es gibt besonders günstige Jahre auch für die Vermehrung der Füchse, Marder, Wiesel ete., allein Krankheit und Seuche führt gar bald die überschreitende Menge in und unter die Grenzen des Gewöhnlichen zurück. Und diese allwaltende Für- sorge der Natur, welche ausgleicht und Ausnahmeerscheinungen durch das Gegengewicht der Regel in ihren Wirkungen wieder herabdrückt und ab- schwächt, fordert unsere Bewunderung und unseren Dank. Nachdem sich die Kräfte der Menschen und Thiere gegenüber den Millionenzahlen der Mäuse als ohnmächtig erwiesen, kommt die Natur mit der wirksamen Waffe der Elemente und corrigirt sich gleichsam selbst. Starke, anhaltende Regen- süsse und Kälte lichten die Reihen der Feinde alsbald unverkennbar, und der Hungertyphus vollendet das wohlthätige Werk der Massenvernichtung. Der Ernst der Sache erfordert freilich auch Schonung der treuen Gehilfen der Landwirthe. Unter den befiederten Mäusefeinden stehen die Bussarde, Eulen und Krähen oben an. In der Säugethierwelt bethätigen neben dem Fuchs die Wildkatze, die Wiesel, die beiden Marder, der Iltis und die Hauskatze grosse Liebe zum Mäusefang. Auch die Ringelnatter bekundet ihre Tüchtigkeit im Mäusefrass. So ganz ohne Nutzen jedoch für den Ackerbau scheinen die Mäuse . nicht zu sein, denn die unterirdischen Gänge lockern den Boden und er- leichtern den Zutritt der Feuchtigkeit. Auch will man neuerdings entdeckt haben, dass sie das Fleisch der Engerlinge lieben. Während man. bisher diese rühmliche Eigenschaft an dem Maulwurf, der Spitzmaus, dem Dachs und einigen Rabenvögeln so hoch gepriesen, zeigte sich durch Versuche im Gefangenleben der Feldmäuse, dass sie pflanzliche Nahrung verschmähten, so lange ihnen Engerlinge geboten waren. Es ist dies durchaus keine be- fremden Erscheinung, weil ja Fleisch, Speck und andere thierische Be- standtheile zur Lieblingskost der Mäuse gehören und Raubthaten an Säugern und Vögeln im Gebiete der Nagethierwelt nicht ausgeschlossen sind. Denken wir nur an das Eichhörnchen. Was will aber dieser geringe Nutzen der Mäuse sagen gegen den Schaden, den sie z. B. im Jahre 1872 in den Marsch- und Moorlanden, in den Rheinlanden, in den Ebenen Leipzigs, in der Wetterau und andern Gegenden angerichtet haben? Keim, Wurzel, Halm, Rinde, Blatt und Frucht verfielen den unermüdlichen Nagezähnen. Nach (dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft und Erfahrung sibt es keinen ne Rath, als den, getrost der Natur zu überlassen, was Menschen und Thiere nicht vermögen, ohne dabei Kopf und Werkzeug ruhen zu lassen. 256 Nager. Rodentia. Die Erdmaus. Arvicola agrestis. Die Färbung dieser Wühlmaus ähnelt derjenigen der Waldwühlmaus. Die Oberseite trägt die dunkelschwärzlichgraubraune, die Flanken zeigen eine etwas hellere Färbung, die Unterseite nebst den Füssen die grauweisse. Der Schwanz ist ebenfalls zweifarbig, oben dunkelbraun, unten grauweiss. Das Gebiss kennzeichnet Brehm folgendermassen: „Der erste untere Backenzahn hat auf der Kaufläche neun Schmelz- schlingen, aussen fünf, innen sechs Längsleisten, der zweite fünf Schmelz- schlingen und aussen und innen drei Längsleisten, der dritte endlich sechs Schmelzschlingen und aussen und innen vier Kanten.“ Das Zwischenscheitelbein ist an den Seiten ziemlich rechtwinkelig abgeschnitten; das Ohr beträgt ungefähr !/s der Kopflänge und ragt nur wenig aus dem Pelz hervor. Der Verbreitungskreis der Erdmaus erstreckt sich über Scandinavien, Dänemark, Britannien, Norddeutschland und Frankreich. Zum Aufenthalt dient ihr der Wald, buschreicher Landstrich; an Gräben und Dämmen siedelt sie sich gerne an und ist von Blasius in wasserreichen Gegenden in Ge- sellschaft mit der Wasserspitzmaus- angetroffen worden. Sie nährt sich vorzugsweise von Pflanzensubstanzen, aber auch von Insecten und deren Larven. Wurzeln und Rinden der Bäume, Büsche und Sträucher werden von ihr benagt und die reifen Früchte angegangen. Als die kräftigste unter den kleineren Wühlmäusen, nagt sie mit derben, scharfen Bissen bis in den Splint die Holzpflanzen an. Ihre Zahnfurchen gehen fast horizontal und in langen Zügen am Holze her; sie nagt auch eine Strecke an den Stämmchen hinauf, denn sie kann trotz ihrer scheinbaren Plumpheit klettern. Wenn sie an dem Eingang ihrer Höhlenröhre sich zeigt — und dies geschieht öfters auch am Tage — erkennt man in ihr im Vergleich mit ihren kleineren Verwandten sehr bald einen plumpen, unbeholfenen Nager, der sich weder durch raschen Lauf noch auch durch irgendwelche gewandte Bewegung der Verfolgung zu entziehen vermag. Dies tritt natürlich in ihrem Wandel entfernter von den Erdhöhlen noch deutlicher hervor. Im Ver- kehr mit Artverwandten zeigt sie sich harmlos und verträglich, gegen die Erscheinung des Menschen ziemlich misstrauenslos, keineswegs wenigstens so scheu, als ihre Verwandten. Ihre Fruchtbarkeit ist beträchtlich, denn das alte Weibchen wirft drei- bis viermal im Jahre, die paar erstenmal 6 bis 7, zuletzt 4 bis 5 Junge, welche rasch heranwachsen. Das runde Nest findet man unter Grasbüscheln an seichter Höhlenstelle. Allgemeines über die Unterordnung Hasen. Leporina. Die zur Ordnng der Nager gehörende Unterordnung der Hasen ist durch ihre ausgeprägten Eigenthümlichkeiten sowohl ihrer äusseren Kenn- Nager. Rodentia. 257 zeichen, als auch ihrem Wesen und ihrer Lebensweise nach höchst interessant. Vor Allem nehmen sie durch die Einrichtung ihres Gebisses geradezu eine Ausnahmestellung unter den Nagern ein. Sie besitzen nämlich zwei stumpfe, stiftartige Schneidezähne, die hinter den Nagezähnen stehen. Die in jedem Kiefer zu fünf oder sechs an Zahl vorhandenen Backenzähne sind aus je zwei Platten zusammengesetzt. Der Schädel ist langgestreckt und der Kopf trägt seiner Länge gleichkommende breite Ohren, m der Waidmannssprache Löffel genannt, und grosse, klotzend hervortretende Augen. Die tief ge- spaltenen Lippen, dick und sehr beweglich, tragen derbe, lange Schnurren. Die Körpergestalt stellt sich als gestreckte dar, und das Thier ist stark überbaut, das heisst, die Vorderläufe sind bedeutend kürzer, als die Hinter- läufe, wodurch die Schnelligkeit des Laufes und die Sprungtüchtigkeit be- dingt ist. Die Vorderpfoten sind fünf-, die Hinterpfoten vierzehig. Der Balg besteht aus starker Haut mit wolliger Haarbekleidung. Pflanzen bilden die Nahrung, darunter, ausser den weicheren Theilen der Holzgewächse, die zarten Blätter der Feld-, Wiesen- und Waldkräuter, aber auch die Rispen und Ahren der Feldgewächse. Unter den Sinnen nehmen Gehör und Geruch eine hervorragende Stellung em. Ihrem Charakter sind entschieden Feigheit und ängstliche Bedachtsamkeit auf ihre Sicherheit eigen, und hiermit steht die geringe Sorgfalt und nachlässige Pflege, welche die Hasenmutter den Jungen zu Theil werden lässt, nicht im Widerspruch. Wohl aber ist die boshafte Art, mit welcher der männliche Hase oder der Rammler die jungen Häschen behandelt, die er mit den Vorderpfoten schlägt, eine dem sonstigen furchtsamen Wesen weniger entsprechende Erscheinung. Die Ver- mehrung ist eine starke, da die Hasen mehrmals im Jahre setzen und zwar 1 bis 3, sogar bis 6 und bis 11 Junge. Unser Hase. Lepus vulgaris. Die Gesammtlänge unseres Hasen beträgt 75 Ctm., seine Höhe am Widerrist 30 Ctm. Die Färbung ist eine ächte Erdfärbung, oberseits braun- gelb und schwarz gesprenkelt, am Halse dunkler gegrundet und heller über- haucht, am Hintertheil bei noch hellerem Überhauch grau grundirt, unter- seits weiss. Im October härt sich der Hase und wird dunkler und glänzender, überhaupt intensiver in der Färbung, als im Sommer, und man sagt alsdann, er habe „Währung.“ Zuerst bildet sich die Härung im Herbste auf dem Rücken, und es sticht die Sommerwolle in den Seiten dann sehr gegen das auf dem Rücken schon vorhandene, anfangs noch kurze und einfarbige Winterkleid ab. Allmälig überzieht sich Kopf, Hals, Flanken und Bauch mit der Winterwolle Der Winterbalg ist erst im November vollständig Im Allgemeinen sind die Häsinen, namentlich was das Sommerkleid, welches durch abermalige Härung im Frühjahre gebildet wird, anlangt, heller gefärbt, als die Rammler. Der nur 8 Utm. lange Stummelschwanz oder die Blume A. u. K. Müller, Tbiere der Heimath. I 358 Nager. Rodentia. ist oben schwarz, unten weiss und nach oben über den Rücken gekrümmt. Der Pelz oder Balg besteht aus kurzer, dichter, stark gekräuselter Grund- wolle, welche von Grannenhaaren überragt wird, die sich ebenfalls em wenig kräuseln. Sein Verbreitungskreis erstreckt sich über Mitteleuropa und einen ge- ringen Theil Westasiens. Zum Aufenthalte für ihn und zu semem Gedeihen sind die von ihm geliebten fruchtbringenden Getreideebenen und die Vor- berge oder Ausläufer waldiger Gebirgsgegenden die geeignetsten. Namentlich erwünscht sind ihm Wiesengründe, die an Felder grenzen und Wiesenthäler, welche an Wälder stossen. Je älter der Hase wird, desto wählerischer zeigt ersich in der Annahme seines Lagerplatzes. Dies gilt hauptsächlich vom alten Rammler. Es mag dies seinen Grund in der durch die Schule der Erfahrung gesteigerten Vorsicht haben und in der Neigung, sich mehr abzusondern. In den ausgedehnten Ebenen tritt indessen diese Eigenthümlichkeit weniger auffallend hervor, als in der Gebirgsgegend. Das Lager des Hasen ist je nach dem Boden und der unmittelbaren Umgebung seicht oder tief, und es lässt sich nur im Allgemeinen als eine mehr oder weniger ausgescharrte, gestreckt ovale Erdvertiefung bezeichnen, die nach hinten breiter und tiefer, als vorn ist. Am flachsten ist sie hinter Felsgestein und am Fuss von Baumstämmen, am tiefsten auf Sturzäckern, die lehmhaltigen Boden haben. Bei Schnee findet man den Hasen oft gänz- lich im Lager überdeckt und nur em kleines Luftlöch verräth dasselbe dem Auge. In solchen Fällen haben wir mehrmals auf der Suche mit dem. Fusse wie mit einer Schaufel den hoch von Schnee überwehten Hasen aus dem Lager geworfen und dem eiligst Davonrennenden den Schuss hinter die Löffel gegeben. Im Lager liest der Hase gewöhnlich mit nach vorn ausgestreckten Vorderläufen, auf welchen der Kopf mit den auf den Vorder- rücken gelegten Löffeln ruht, und mit unter den Leib geschobenen Hinter- läufen. Auf gänzlich falscher Beobachtung beruht die Annahme des Dietrich ausdem Winkel, dass der Hase im Sommer das Gesicht nach Norden, im Winter nach Süden wende. Vielmehr richtet er sich theilweise nach dem Winde, theilweise auch nach dem Terrain, indem er scharfem Winde das Gesicht zukehrt, damit die Luft ihm nicht empfindlich zwischen die Wolle blase. Am Berghange liegt er meist den Kopf zu Thal gekehrt im Lager, sowie er denn, hinter Stämmen gedrückt, stets denselben das Hintertheil zukehrt. Stets auch sucht er sein Lager möglichst unter Wind, d.h. vor Wind geschützt, zu wählen, sobald derselbe ihm empfindlich wird. Je nach der Jahreszeit und der Witterung birgt sich der Hase an verschiedenen Plätzen. Im Sommer liegt der Feldhase im Getreide und in sonstiger Urescenz. Bei Regen meidet er die durchnässten Kleeäcker entschieden und sucht lieber die Acker der Halmfrüchte auf und überhaupt Plätze, wo die Nässe durch die pflanzliche Umgebung weniger zurückgehalten wird. Im Nager. Rodentia. 259 Herbste liebt er vorzugsweise zur Zeit der Hühnerjagd die Kartofteläcker, auch in Rüben-, Kraut-, Klee- und Hülsenfrüchteäckern trifft man ihn an nicht weniger in trocken gelegenen Wiesen oder auf Haiden und Wach- holderstrecken. Ehe im Spätherbste die Sturzäcker beregnet und wieder getrocknet sind, lagert er mit Vorliebe auf Stoppelfeldern und in den von Gras überschatteten tiefen Furchen. Den Winter über zieht er jedoch die Sturzäcker allen übrigen Lagerplätzen vor; diese Acker müssen aber erwähnter- massen schon eine Zeit lang der Witterung ausgesetzt gewesen sein: denn niemals liegt er auf frischer Stürze. Der Waldhase wählt im Sommer der Asung wegen die den Fruchtfeldern oder Wiesengründen nahe gelegenen Vorhölzer. Im Winter geht er in Dickichte und tiefer in den Wald. So sehr der theilweise im Walde, theilweise im Felde liegende Hase im Spät- herbst das fallende Laub hasst und meidet, so wenig kehrt sich der auf den Wald hauptsächlich angewiesene Gebirgshase darum, wiewohl auch er die stilleren Plätze, namentlich Blössen im Walde um diese Zeit aufsucht. Die Witterung hat ebensowohl Einfluss auf die Wahl seiner Lagerstätte, als auf sein Verhalten im Lager. Stürmisches, regnerisches Wetter treibt ihn aus dem Holze, und er liest dann im Felde, aber dann wach und beim geringsten Anlass, mit offnen Augen, rege werdend oder aufstehend In gleichem Grade rege wird er bei umschlagender Witterung, welche er einen Tag vorher schon durch sem frühes Aufstehen aus dem Lager vor Jäger und Hund dem Kundigen anzeigt. In seinem Lager ruht oder schläft der Hase während des Tages, und erst gegen Abend verlässt er sein Lager, um zur Asung zu rücken, in welches er erst vor Tagesanbruch wieder einfährt, nachdem er erst den waidmännisch so benannten Wider- gang gemacht hat, d. h. eine Strecke auf seiner eignen Spur zurück- gegangen ist und dann in der Nähe des Lagers verschiedene Sätze waidmännisch Absprünge — vorwärts und zur Seite und endlich bis zum Lagerplatz ausgeführt hat. Der Busch- oder Waldhase rückt Abends zu Feld und Morgens vor oder unmittelbar nach Sonnenaufgang wieder zu Holze. Er ist's, der zwar im Walde gesetzt (geboren) ist, aber zeitweise semen Aufenthalt mit dem Felde vertauscht, veranlasst durch anziehende Asung oder durch Witterungsverhältnisse. Der Gebirgshase äst sich vor- züglich mit Waldwiesen- und Waldwegkräutern und wird oft erstaunlich stark (gross) oder schwer. Obgleich nun der Hase vorzugsweise Nacht- thier genannt werden muss, so geht er doch auch zur Tageszeit nicht selten auf Asung. Zur Zeit der Paarung oder zur Rammelzeit bemächtigt sich seiner aber eine grosse Unruhe, die ihn aus dem Lager auch während des sonnenhellsten Tages scheucht und bald hier, bald dort, sein Lager vorüber- gehend bereiten lässt. Die Nase dicht über der Erde, sucht der Hase oder Rammler die Häsin auf. Unermüdlich verfolgt er sodann die Aufge- fundene, und muss sich gewöhnlich erst im Kampfe mit zudringlichen Neben- 17* 260 Nager. Rodentia. buhlern der Minne Sold erringen. Die gegenseitigen Schläge, welche sich die eifersüchtigen Rammler mit den Vorderpfoten bei aufgerichtetein Körper ertheilen, sind durchaus nicht unschuldiger Natur und keine Spielerei oder Neckerei, sondern recht boshafte Rauferei, wobei die Wolle davonfliest. Übrigens muss die Häsin in Folge der derben Zärtlichkeit des Rammlers ebenfalls Wolle lassen, die an den Rammelplätzen zu finden ist. Die Rammel- zeit beginnt zu sehr verschiedener Zeit, der Regel nach anfangs März oder Ende Februars. Bei günstiger, sehr gelinder Witterung fängt sie schon viel früher an. Die Häsin geht 4 Wochen trächtig und setzt zuerst ein bis zwei, zum zweiten Mal drei bis fünf, das dritte Mal zwei bis drei, das vierte Mal zwei Junge. Selten kommt ein fünfter Satz vor, der in den September fällt. Gewöhnlich werden die Häschen in Feld oder Wald in einer einfachen Ver- tiefung gesetzt, hier auf einer Unterlage von etwas Stroh oder Laub, dort auf dem nackten Boden. Indessen haben wir auch die Jungen sorgfältig zugedeckt im Laube, in Haide oder Moos gefunden. Die Häsin zeigt wenig Anhänglichkeit an ihre Jungen, wiewohl es an Beispielen einzelner Aus- nahmen nicht fehlt, von denen wir nachher ein solches mittheilen werden. Schon nach 6 bis 3 Tagen sind sich die Kleinen selbst überlassen, und dazu trotz ihrer Zartheit befähigt, da sie mit offnen Augen und in Vergleich zu andern Säugethieren ziemlich ausgebildet zur Welt kommen. Die Häsin säugt sie dann nur noch zuweilen, nachdem sie mittelst Klapperns mit den Löfteln die Begehrlichen anlockt, unstreitig von dem gebieterischen Triebe gedrängt, der sie belästigenden Muttermilch los zu werden. Eine von uns öfters wahrgenommene Erscheinung ist die mit tödtlichem Erfolg begleitete Milchzersetzung solcher Häsinnen, deren Satz alsbald nach der Geburt zu Grunde geht. Daher der auffallende Mangel an Häsinnen in den Jahren, in welchen der erste Satz der Ungunst der Frühjahrswitterung zum Opfer wird. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass der Hase in manchen frucht- baren Ebenen mit mildem Klima ungebührlich gehegt wird und zu grossen Massen sich vermehrt, deren Schaden den Gross- und Kleinbauer empfindlich trifft. Solche Zustände sind mit den jetzigen Uulturverhältnissen unvereinbar. Wir haben unsere Anschauungen hierüber in unserem bei Ernst Keil in Leipzig erschienenen ’ Buch über „Nutzen und Schaden der einheimischen Säugethiere und Vögel“ ausgesprochen. „Dass dieser Schaden gerade an den besten Feld- und Gartenerzeugnissen in hasenbevölkerten, mit wenig oder keinem Walde versehenen Feldebenen kein eingebildeter zu nennen ist, wird jedem, der in dieser Angelegenheit tiefer schaut, klar bewusst sein. Der Hase geht nach unseren eingehenden Beobachtungen die besten zartesten Futtergewächse gerade in ihrer Entwicklung, wie Klee, Gelberübe, Diekwurz und Kohlraben, vorzüglich auch Gemüsearten und ebenso die jungen ausge- pflanzten Gewächse an. Er äst die Ahren der Gerste und die Rispen des Hafers sehr gerne, und wird durch seine oft weite Strecken durch’s Getreide gehenden Nager. Rodentia. 261 Pfädchen eder Steige mittelst Abbeissens und Niedertretens der Halmen recht nachtheilis. Dieser Schaden kann bei grosser Vermehrung sehr em- pfindlich Platz greifen, während er bei mässigem Hasenstande, wie ihn ge- wöhnlich unsere vaterländischen Gegenden aufweisen, nicht erwähnenswerth ist. Hier wendet sich aber auch das Nachtheilise unseres Thieres; denn dasselbe liebt es, näschig, wählerisch und unruhig, wie es ist, hier und da nur Weniges zu äsen, nie einzeln und an einem und demselben Orte länger sich zu verweilen, wodurch das Zerstörende seiner Lebensweise sich nicht etwa auf emen Acker, auf eine Urescenz u. s. w. beschränkt, sondern als die örtlich verschwindende Wirkung von einem Wenigen über weitere Strecken sich darstellt. Den oft sehr ärgerlichen Zerstörungen, welche Hasen an jungen Kernobststiämmen durch Zernagen der Rinde verursachen, lässt sich von vorsorgender Hand durch Umfriedigungen und zweckmässiges Verbinden begegnen. — Lassen wir also einer mässigen Hasenbevölkerung srossmüthig den kleinen Zehnten in Flur und Wald. Die thierische Mitwelt um uns her hat denn doch das Recht, wenigstens ihren Arten nach mässig fortzu- bestehen, wenn es anders noch eine Natur geben soll, mit welcher der Mensch in lebendiger Beziehung auf der Mutter Erde nach wie vor stehen soll. Das Leben unseres Nagers ist ja auch eine ununterbrochene Kette der Drang- sal, der Noth und des Leidens. Schickt doch das ganze Heer unserer ein- heimischen Räuber unter Säugern und Vögeln die Spione, Schleicher, Wege- lagerer und Raubmörder hinter dem Wehrlosen her, das stille Eden seiner Fluren und Wälder in einen Plan der Bedrängniss und des Todes umzu- wandeln; jagt doch die Reihe der Hunde, vom krummläufigen, langsamen Dächsel an bis zum. hochläufigen, schlanken, sturmflüchtigen Windhunde den schnellsten Renner der Fluren und Wälder zu Tode. Und wo selbst die Ausdauer und Flüchtigkeit des Hundes nicht ausreicht, wo der Spürsinn, die List und die Mordgier der Raubthiere, wo die Unwetter und Geschicke der Natur unseren Bedrängten verschonten, da hält der Mensch mit seiner tausendfachen Pein und List zum Verderben des Armsten noch seine Mittel bereit. Als das grausamste und zugleich hinterlistigste Raubthier verurtheilt er den Leidgeborenen auch noch zum Strange. Er schleicht wie der Mörder bei Nacht und Nebel in den Wald und lest in den Pass die scheussliche Drahtschlinge. Diess thut natürlich nur der Wilderer, nicht der Waidmann. Lassen wir die mannigfachen Gefahren, welche unseren Hasen von seiner Geburtsstätte an durch’s Leben bedrohen, in der Schilderung des Lebenslaufes eines vom Geschick besonders begünstigten Individuums an unseren Augen vorüberziehen. Scharf bläst der Wind aus Nordost. Hier fegt er einen Acker rein vom Schnee, der während der verwichenen Nacht gefallen ist, dort häuft er ihn in Tiefungen, Gräben und Hohlwegen zu be- trächtlicher Höhe an. Das begonnene Frühlingsleben ist wieder einge- schlummert. Sperber, Habicht und Wanderfalk halten reiche Ernte unter 262 Nager. Rodentia. den Schaaren der Lerchen, Finken, Ammern und Sperlinge. Ihr Auge ist diesen beschwingten Bewohnern des Feldes und der Gärten zugewendet und übersieht das heimliche Plätzchen am Raine, wo ein junges Häschen Schutz gesucht hat, das zur Zeit gesetzt wurde, als laue Lüfte das Leben der Keime weckten und unter dem strahlenden Sonnenhimmel die ersten Triller der aufstrebenden Lerchen erschallten. Fürwahr, „die Natur hatte ihm bei seiner Wiege Freude zugeschworen“, denn das Familienleben der frühesten Kindheit zog wie goldner Morgen vorüber. Dem Gesäuge entwöhnt, an dem es seine erste Nahrung suchte, bot ihm bald das zarte Grün der frühentwickelten Saat die erste Asung, und die Milde der Witterung förderte sem und der Geschwister Wachsthum. Bald wusste unser unerfahrener Bewohner der Flur sich schon gar wohnlich einzurichten. Sein Lager war geborgen, bald dort hinter der Scholle des Ackers oder dem Stein unter Wind, bald hier im Gras am Raine, wo wir ihn jetzt zur Hälfte von einer leichten Windwehe überdeckt finden. Noch ist die Noth nicht gross, wenn auch der rauhe Nord- ost empfindlich zwischen die Wolle seines zarten Balges fegt, sobald er mit dem Einbruch der Nacht an den Gewannen hinläuft, um mit dem windenden Näschen die Asung des heimischen Ackers auszuwittern. Aber wehe dem armen Kleinen, wenn ringsum in Nähe und Ferne alles Grün hochbedeckt ist und das Scharren nach der verborgenen Saat und das Vorliebnehmen mit rauherer, bisher verschmähter Asung nicht mehr durchhilft. Und wenn auch Hunger und Frost ihm nicht den Tod brächten, aus den Lüften droht Ver- derben, wenn am Tage der „bellende Magen“ den Gequälten aus dem Lager treibt; aus dem Walde führt das nächtliche Dunkel den schleichenden Fuchs, der dem „hoppelnden“ Häschen auf der Fährte folgt, ihm den Wind abge- winnt und in ungeahntem Sprung den kleinen Trompeter packt und würgt. Aber zum Heile des bedrohten Lebens schlägt über Nacht der Wind um, der Schnee löst sich auf in feinen Regen, und am Morgen liegt die Flur prangend vor unseren Augen. Die Aprilsonne blickt verstohlen unter den eilenden Wolken hervor, unter ihnen flattern, steigen auf und schweben hernieder die singenden, zankenden und einander jagenden Lerchen. Warm und satt schläft unser Häschen im Lager. Der Frühling feiert seinen vollen Einzug. Von Tag zu Tag ragen Saat, Gras, Kräuter und Klee mehr und mehr über das stille Geläufe des Häschens empor. Im Dufte der Blumen und Blüthen, unter dem Wellenschlag der Gräser und Halmen, im Vollgetön der jubelnden Kehlen und im Genusse der leckersten Asung wächst der junge „Lampe“ heran zum Hasenjüngling. Er ist nach des Waidmanns treffender Sprache „halbwüchsig“. Nun wird ihm der Schauplatz seiner Kindheit zu enge. An stillen, warmen Abenden, wenn das Gold der unter- gehenden Sonne Bergkuppen und Wolken umsäumt und der Thau die Flur feuchtet, steht er aus seinem Lager auf und rückt dem nicht fern gelegenen Feldweg zu. Hier macht er sein burschikoses Männchen, so kühn und Nager. Rodentia. 263 anscheinend selbstbewusst, als sähe er auf alle Bewohner der Flurwelt von oben herab. Nach kurzem Putzgeschäft wird noch einmal prüfend das Näschen gehoben, und nun springt er wie ein tollkühner Knabe kreuz und quer auf dem staubigen Wege dahin. Glauben sollte man, er wolle um die sanze Welt rennen. Doch hundertfünfzig Schritte vom Anlauf entfernt, macht er schon Halt, führt einige elastische Sätze aus, kehrt um und rennt auf die vorherige Weise im Staubwirbel wieder zurück. Die alte Scholle fesselt ihn noch immer, wie denn der Hase überhaupt sein Leben lang gerne weilt, wo er gesetzt ist. Wieder rennt er davon, wieder kehrt er an der- selben Stelle um. Zum dritten Male macht er an der Grenze halt, aber in dem Augenblick, wo er einen übermüthigen Luftsatz ausführt, schnellt aus dem vorstehenden Grasbüschel des Grabenrandes ein braunrothes Thierchen hervor, das jedoch zu allem Glück zu kurz springt und dem feige die Löffel nach hinten lesenden Häschen in blutdürstiger Erregung einige Schritte weit folgt und dann zur Seite des Weges im Dunkel der Saat verschwindet. Renne nur in solcher gedemüthigten Haltung davon, wehrloser junger Lampe, lasse dein Herz unter der Nachwirkung des grossen Hasenschreckens aus- toben; du bist fürwahr ein bevorzugtes Kind unter Tausenden deiner Brüder und Schwestern, auf welchen grosses wie kleines Wiesel den mörderischen Raubritt ausgeübt haben! Der entronnene Pflegesohn des Feldes nimmt zu an Stärke, wie an Lebenserfahrung. Die Gewitter der Gefahr ziehen sich öfters über ihm zusammen, aber es schlägt entweder gar nicht oder nur in semer Nachbar- schaft ein. Zur Seite sind ihm Stiefgeschwister von der Mutter gesetzt. Langsam kommt der Schwarze vom Walde herübergezogen, der immer wache, raub- und mordsüchtige Kolkrabe. Über der Geburtsstätte der Stief- seschwister unseres nun mehr vom halbwüchsigen Häschen zum Dreiläufer herangewachsenen, zieht er seine Kreise, dann stösst er wuchtig herab, mit der erprobten Klinge, dem derben Schnabel, ausholend. Aber die diesmal auf- opferungsfähige Hasenmutter hat sich mit dem aufgerichteten Vordertheil ihm entgegengestellt, um die bedrohten zusammengekauerten Jungen hinter sich in ihren Schutz zu nehmen, Bei jedem Stoss, den der Räuber ausführt, bei jedem Hiebe, der auf die hilflosen Häschen abzielt, schlägt sie mit den Vorderläufen, wie der Trommler die Schlägel im Wirbel nach dem Raben. Dieser richtet im Gefühle seiner Kraft und im Bewusstsein seiner bei ähn- lichen Fällen errungenen Erfolge jetzt seine Angriffe auf die Vertheidigerin der ausersehenen Opfer. Die Stösse folgen rascher aufeinander, der eine und andere Schnabelhieb trifft den Kopf des Hasen, dieser wird linde davon betäubt, erlahmt in seinen Schlägen und weicht endlich der Gewalt, auf seine eigene Rettung bedacht. Gierig fällt der Räuber über die Häschen her, tödtet mit wenigen Schnabelhieben eines derselben und trägt es dem Walde zu. Nach einiger Zeit kommt er zurück und holt sich das zweite Häschen; 264 Nager. Rodentia. scharf hat er den Sitz desselben im Gedächtniss behalten. Das Dritte allein vermochte sich durch Verkriechen im Klee seinen Späherblicken zu ent- ziehen. Aber nun kommt der Landmann mit der Sense und beginnt zu- fälliger Weise gerade da den Klee zu mähen, wo sich das zarte Thierchen verborgen hat. Die Sense trifft den Kopf, und aus ist's mit dem ganzen Satz. Und wie ist's wohl der rechten Schwester unseres begünstigten Hasen ergangen? Gleich ihm bei den mancherlei Drangsalen des Hasenlebens glücklich davongekommen, wurde sie inmitten des kräftigen Emporwachsens ein Opfer des Hagels aus dem mörderischen Rohre des Jägers. Zum Ver- derben der Hasenjungfer sollte gerade ein Kindlein in der nahen Stadt ge- tauft werden oder Hochzeitsgäste wurden zum Mahle geladen. In sommer- licher Abendstille des Riedes schlich ein Schütze, der sich bei so ausseror- dentlichem Anlass vielleicht an das bestehende Jagdgesetz und die Schon- zeit des Wildes nicht kehrte, durch die Furchen der Fruchtäcker. Da wollte es das Spiel des Zufalls, dass Brüderchen Lampe von dem Heran- pürschenden Wind bekam und in das Getreide flüchtig ward, die Schwester dagegen nichts ahnend im Dämmer der Halmen den weissen Klee des schmalen Gräbchens zwischen Weizen und Korn sich wohlschmecken liess, Wohl sah die Aufmerksame eine Bewegung des sich verrathenden Jägers. aber die Neugierde der Jugend liess sie ein wenig zögern und emen Kegel schlagen, indem sie sich hoch auf ihren Hinterläufen aufrichtete. . Im Feuer des Schusses sank sie zusammen, das letzte Kleeblättchen vom Geäse noch zwischen den Nagern haltend — es war kein vierblätteriges! Sollen wir noch von anderen Drohungen im Angesichte, im Kücken oder zur Rechten und Linken unseres Dreiläufers berichten? Wir wollen schweigen von dem derben Prügel des Landmannes, der ihm, dem allzusehr Haltenden die beigezogenen Löffel streifte, schweigen von ihm, dem beinahe Ausgewachsenen, als er vor dem Hühnerhunde aus dem Kartoffel- acker aufstand und die Mündung der sicher gehobenen Doppelflinte schon auf ihn gerichtet wurde. Der Ruf des Jagdpächters: „keine Hasen schiessen !“ erreichte rechtzeitig das Ohr des rücksichtsvollen Schützen und der Zeigefinger, welcher sich eben krümmen wollte, streckte sich wieder vor dem Drücker der Flinte. Auch jenes Tages wollen wir nur vorübergehend erwähnen, an welchem der Schäfer im Wilddiebsgelüste die Schafherde aut dem Stoppelacker im Kreise um ihn herumtrieb, um schliesslich die ominöse Schippe zu geübtem Schlag über seine „klotzenden“ Augen zu schwingen, wie aber diesmal der junge tölpelhafte Schäferhund den mörderischen Plan vereitelte. Oder sollen wir erzählen von dem ergötzlichen Auftritt zwischen einem, erst im reiferen Alter in den Dienst Diana’s getretenen, mit Hinter- ladungsapparaten zum Überfluss ausgerüsteten Schützengecken und zwischen unserem Glückskind der Fluren, hinter dem her der laufende Sonntagsjäger zweimal Doppelschüsse abfeuerte, über die unser Lampe erstaunt einen Nager. Rodentia. 265 „Kegel schlug“? Nur des Wintertreibens gedenken wir noch, wo die Schützen herangezogen waren, gefolgt von dem Volke der Treiber. Hun- derte von Hasen sind schon erlegt, da und dort „reitet“ ein angeschossener umher. Eben soll die Abtheilung vorgenommen werden, welche den ge- pflügten Acker einschliesst, auf dem heute unser Bekannter liest. Einer der auf ihre Posten befohlenen Treiber geht hart an diesem Acker her, so dass der Hase vor ihm aufsteht, in Folge des lauten Geschreis mehrerer Treiber aber nach Art der Hasen durch die Treiberlinie zurückgeht und weit hinüber einer bereits abgetriebenen Gemarkung zuläuft. So entgeht er nun der grosseu Schlacht, welche seinen Nachbarn geliefert wird; in flottem Rennen flieht er an den angeschossenen Standesgenossen vorüber, ohne Ahnung, dass auch ihn um ein Haar ein gleiches Loos ereilt hätte. Das Kaninchen. Lepus cuniculus. Wiewohl das Kaninchen zur Familie der Hasen gezählt wird, lassen sich doch wesentliche Unterschiede zwischen ihm und den eigentlichen Hasen nachweisen; der kürzere Kopf mit den ebenfalls kürzeren Ohren (Löffeln), die Hinterläufe von geringerer Länge und der schlankere Körper von ge- ringerer Grösse oder Stärke stellen dasselbe unserem Hasen nach. Auch vermag es in Folge seiner Gestaltung dem Hasen in der Geschwindigkeit des Laufens oder Rennens nicht gleichzukommen und die weiten Bogensätze nicht auszuführen, dagegen erscheint es in seinem Rennen auf kurze Strecken in den Bewegungen zur Rechten und Linken, in seinem flüchtigen Aus- weichen und Verbergen, in seinem häufigen Hakenschlagen unstreitig seinem Vetter überlegen. Darum gehört auch ein sicherer, geübter und resoluter Schütze zum Erlegen eines flüchtigen Kaninchens, zumal wenn Schlupfwinkel oder Röhren des Baues nahe sind, so dass das Thierchen nur eine kleine Strecke weit sichtbar ist. Die Grundfarbe des Kaninchens ist grau und spielt auf der Oberseite ins Graubraune, am Vordertheil in’s Röthlichgelbe, an Flanken und Schen- keln in’s Hellrostrothe, an Bauch, Innenseiten der Läufe und an der Kehle in's Weisse, während der Vorderhals rostroth ist. Der Verbreitungskreis erstreckt sich über Süd- und Mitteleuropa. Das ursprüngliche Vaterland ist unstreitig der Süden, uud als südländisches Kind kommt es darum bei semer Verpflanzung in den Norden nicht fort. Die wahren Aufenthalte des Kaninchens bilden die hügeligen und san- digen Gegenden, die reich an Schluchten, Klüften und buschreichem Unter- wuchs sind. Laub- und Nadelholzbestände herbergen es, und seine unter- irdische Wohnung wird am liebsten an Südost- und Süd-Hängen angelegt, weil das 'Thierchen sich den warmen, sonnigen Lagen seiner Natur nach zuwendet. Die höhren sind einfach, gewöhnlich seicht und höchstens 60—75 em. tiefgehend, auch meist nur m Winkeln laufend; es kommt aber 266 Nager. Rodentia. vor, dass mehrere Kaninchenfamilien sich in der Anlage ihrer Baue durch- kreuzen, so dass die Ansiedelung in unterirdischen Zusammenhang kommt. Eine Kammer liegt tiefer unten, und von ihr steigen die Röhren aufwärts zu Tage. Die einzelnen Paare bewohnen abgesondert ihre Wohnungen, und die Familie hält sich auch ausserhalb des Baues besonders innig zu- sammen, wenn auch die Ansiedelung eine noch so zahlreiche ist und der ge- sellschaftliche Verkehr häufig durcheinander wogt. Indessen haben die grösseren oder Haupt-Baue gemeiniglich zwei und mehr Stockwerke. Ausser den verzweigten Hauptbauen gibt es auch noch Noth-, Neben- oder Spiel- baue von geringerem Umfange, weniger Tiefe und Bedeutung. Das weib- liche Kaninchen, waidmännisch die Kaninchen-Häsin genannt, setzt seine Jungen nach dreissig Tagen in dem mit semer Bauchwolle gepolster- ten Kessel einer besonderen, von ihr sehr heimlich gehaltenen Röhre, in welchem dieselben drei bis vier Wochen verweilen, von der Mutter sorgsam gesäugt und sogar von dem Vater, dem Kaninchen-kRammler, behütet werden, der den Kleinen mehr durch seine ungestümen Zärtlichkeitsbe- zeugungen, als durch Bosheit schaden kann. So oft die Alte, Morgens und Abends zur nächsten Asung auf Schonungen oder das Feld rückend, den Bau verlässt, verstopft sie behutsam den Eingang der Röhre mit Erde. Später nach dem Ausgehen der Jungen präsentiren diese sich dem Vater der wie die Mutter dann sehr anmuthig und possirlich mit dem kleinen niedlichen Volke vor dem Baue spielt. Dies geschieht namentlich Morgens und Abends, auch bei stiller heller Witterung an Nachmittagen zum beson- deren Ergötzen des Beobachters. Die Flüchtigkeit des 'Thiers auf kleinen Strecken wird hier schon dem aufmerksamen Auge auffällig, welche Eigen- schaft, verbunden mit dem öfteren äusserst gelenken Wenden und Drehen beim Rennen nach verschiedenen Richtungen hin, als das sogenannte „Haken- schlagen“ sich bekundet. Trotzdem das Kaninchen den grössten Theil seines Lebens in semem Baue unter der Erde zubringt, liegt es doch an stillen, sonnigen Tagen wie der Hase auch auf Haiden, bebuschten Wüstungen jungen Hegen, im Geklüfte und auf alten Stein- und Sandgräben ausserhalb der Baue, jedoch nie weit von denselben, im Lager, woselbst es bei der Suche mit dem Vorstehhunde erlest werden kann. Sowie es sich aber ın diesem oberirdischen Verhalten nach dem Wetter richtet, ebenso ist sein Wandel unter der Erde ein der Witterung angepasster. Der erfahrene Waidmann weiss dies wohl und richtet seine Jagden mit dem Frettchen je nach dem herrschenden Wetter em. Ist das letztere hell, ruhig und trocken, so steckt das Thier hoch im Bau, also in den Nebenröhren, nahe den Aus- gängen, während es um so tiefer in die Erde geht, je trüber, stürmischer und regnerischer der Himmel ist oder in nächster Zeit sich gestalten wird Steckt das Kaninchen in den unteren Etagen des Baues, dann springt es vor dem Frettchen sehr schwer oder gar nicht, das letztere hat dann leichte Nager. Rodentia. 267 Mühe, die sich vor ihm drückenden Kaninchen im Genick zu würgen (todt zu beissen), oder, wenn es dazu nicht kommen kann, die stillhaltenden Thiere am Rücken oft ganz kahl zu kratzen und zu beissen. Der Jäger verschwendet in solchen Fällen vergeblich Zeit und Geduld mit Abwarten an dem Baue. Anders ist es hingegen, wenn die Kaninchen bei günstigem Wetter hoch stecken; alsdann springen sie sehr gerne und rasch vor dem kaum geschlüpften Frettchen. Doch kommt es auch vor, dass hochsteckende Thiere sich von dem Frettchen am Eingang der Röhren packen lassen, wobei sie der Jäger nicht selten mit der Hand greifen und herausziehen kann. Wenn die Kaninchen springen wollen, stampfen sie in den oberen Röhren vernehmlich mit den Hinterläufen, eine Eigenheit, die sie im Aflekt oder in Gefahr stets bekunden. Der auf dem Bau Stehende vernimmt beim Frettiren deutlich dies Poltern der Thiere und kann die anstehenden Schützen durch Zuruf aufmerksam machen. Zählebig, wie das Thier ist, will es gut getroffen sem; angeschossene, namentlich hinten verwun- dete Exemplare suchen sogleich und gewöhnlich mit schrillen Lauten klagend nahe Baue, um zu schlüpfen und daselbst sich meist so fest zu stecken, dass sie sich vom Frettchen eher würgen lassen, als dass sie springen. Man muss dann nach dem Angeschossenen ebensowohl, als nicht selten nach dem Frettchen graben, das sich beim Würgen der Kaninchen durch Aussaugen von deren Schweiss (Blut) berauscht und in Folge dieses Rausches wie alle Marderarten oft genug im Baue dem Schlafe verfällt. Eine Ausnahme hiervon machen — wie wir uns durch häufiges Frettiren in der Gegend Darmstadt’s zur Genüge überzeugten — die Frettchen amerikanischer Rasse indem beiihnen die Eigenschaft vorherrscht, dass sieim Baue gar nicht oder höchst selten schlafen, sowie überhaupt in der Tiefe nicht lange ver- weilen. Das für die Kaninchenjagd nothwendige Thier aus der Familie der Marder oder besser der Wiesel (Mustela) ist nun das von den Naturforschern oft besprochene, bald als eigene Art, bald als blosse Spielart des Iltis hin- gestellte Frett. Unseren Augen präsensentirt es sich unzweifelhaft als ein vom Iltis abstammender, durch Züchtung in der Gefangenschaft allmählich herausgebildeter oder verzärtelter Weissling (Kakerlak). Das zeigt seine zwar iltisartige, aber viel hellere Färbung, zeigen seine rothen Augen und die offenbare Weichlichkeit, wo nicht Kränklichkeit seines ganzen Wesens, sowie endlich die sprechende Thatsache, dass es sich nirgends als ein wild- lebendes Thier findet.. Nie sieht man es die charakteristischen, raschen, kräftigen Wellensprünge der Marder und Wiesel, höchstens einmal in einem matten Bogen, gewöhnlich aber in trippelndem, etwas unsicherem Gange mit hochgewölbtem Rücken, seine eigenthümlichen Bewegungen ausführen. Die weiblichen Exemplare durchstöbern die Kaninchenbaue meist emsiger und sründlicher als die männlichen. Das viel schwächere (kleinere) weibliche 268 Nager. Rodentia. Frett aber kann sich gegen einen zuweilen im Kaninchenbaue steckenden und dasselbe anfallenden Iltis nicht so entschieden und erfolgreich wie das männliche Frett vertheidigen. Auch ein hin und wieder in der Kaninchen- burg hausender Fuchs wird dem schlüpfenden Frettchen gefährlich, weshalb der vorsichtige Waidmann, bevor er seinen kleinen Gehülfen unter die Erde lässt, die Röhren auf dem zu frettirenden Bau gründlich nach der etwaigen Anwesenheit des rothen Freibeuters untersucht. Da, wo Kaninchen nicht häufig sind, ist zum Frettiren em Vorstehhund .von entschiedenem Vortheil. Dieser wird bei einiger Erfahrung auf jedem nicht zu ausgedehnten Bau und, falls die Kaninchen hoch stecken, die Insassen „markiren“ (stehen). Auf Bauen, worauf der Hund vor den Röhren nicht markirt, frettirt man nicht. Je grösser die Vermehrung der Kaninchen wird, desto vertrauter zeigen sie sich in ihrem Wandel und desto häufiger verlassen sie am Tage ihre Bawe. Sonst ist der Abend und der frühe Morgen die Zeit, wo das Thier- chen den Bau verlässt, um zur Asung zu rücken. Vorsichtig erscheint es an der Röhrwandung, sichert und rückt dann langsam aus der Röhre in’s Freie. Aber auch da sind Gehör und Nase hervorragend zur Sicherung thätig. Die Familie folgt dem erfahrenen Führer zuversichtlich und ver- traut zur Asung, dienicht verschieden ist von der des Hasen. Ganz besonderes Vertrauen geniessen die alten Rammler, welche als die Familienhäupter aus- gezeichnet werden. Ein anmuthiges Bild stellt sich dem Beobachter dar, wenn die alte Kaninchenmutter mit ihren Jungen zur Asung und zum Tummelplatz rückt. Sie bildet stets den Mittelpunkt aller Unternehmungen, alles Ge- bahrens und aller Interessen. Durch sie werden den Kleinen die beliebtesten Nahrungsquellen erschlossen, Unterweisungen im Aufsuchen der saftigen und zarten Urescenz ertheilt und ihre Sinne zum Gebrauche ihrer Sicherheit durch Anleitung, Vorbild und Warnung frühzeitig geschärft. Droht Gefahr, welche die Kleinen vielleicht zu spät wahrnehmen würden, die aufmerksame und besorgte Familienmutter gibt das Zeichen zur Achtsamkeit und rechtzeiti- gen Flucht. Mit den Hinterläufen stampft sie‘zu diesem Zweck den Boden und bewegt augenblicklich ihre Schützlinge zum schattenhaften Verschwin- den im Diekicht und unter der Erde. Das Warnungszeichen wirkt aber auch über die Grenzen des eignen Familienkreises hinaus und wird von Nachbarn wohlverstanden und respectirt. Nach Pennant setzt das Kaninchen im Jahre durchschnittlich sieben Mal, und wenn man seiner Berechnung nach von den vier bis zwölf Jungen, die einen Satz bilden, die Durchschnittszahl S annimmt, so beträgt die Nachkommenschaft binnen 4 Jahren 1,274,840 Stück. Der erste Satz fällt, entsprechend der bei günstiger Witterung schon im Februar, bei ungünsti- ger im März beginnenden Rammelzeit, in die letzten Tage des März oder in die erste Hälfte des April. Wesentlichen Unterschied ver- anlasst hierin aber auch das Klima. Im Süden tritt Rammel- wie Satzzeit Nager. Rodentia. 269 natürlich früher, als im weiter nördlich gelegenen Gegenden ein. Noch im Oktober kommt ein Satz zur Welt, und solche Spätlinge bleiben m der kör- perlichen Entwicklung erfahrungsmässig gegen Glieder eines Satzes vom Vorsommer zurück. In südlichen Gegenden werden die jungen Kaninchen, die im Frühling gesetzt sind, schon nach fünf Monaten, in nördlicheren Ge- genden nach acht Monaten fortpflanzungsfähig .Dadurch steigert sich natür- lich die Vermehrung in sehr beträchtlicher Weise, und in den zur Vermeh- rung günstig gelegenen Orten entsteht in gewissen Jahren, wo die Beding- ungen zur Fortpflanzung der Kaninchen besonders gegeben sind, eine wahre Calamität für die Interessen der Pflanzenkultur. Denn der Schaden, welchen das Kaninchen anrichtet, ıst viel verheerender, als der des Hasen, weil er sich auf einen weit geringeren Umkreis beschränkt und namentlich die jungen Baumpflanzungen durch die Liebhaberei des Nagens an der Rinde der Ver- wüstung preisgegeben sind. Wir schildern den Schaden, welchen eme Ka- ninchenansiedelung verursacht, in unserem Buch von den nützlichen und schädlichen Thieren (Verlag von Ernst Keil, Leipzig) in folgenden Worten: „Dieser überaus schädliche Nager äussert sich ausser seinem Raube an allem Wachsthume des Feldes und Waldes bedeutend nach zwei Seiten hin, einmal seines örtlichen, so sehr gedrängten Vorkommens, zum andern seiner nachtheiligen Wühlereien als Erdhöhlenbewohner wegen. Er ist bei seiner platzweisen Asung viel beharrlicher, als der Hase. Dadurch dass das Ka- ninchen nicht weit von seinem Bau in die Felder rückt, wird es den von ihm angegangenen Fluren viel sichtbarer nachtheilig, als sein Verwandter. Noch mehr gilt dies von seinen Zerstörungen im Walde, von welchen jeder aufmerksame Forstmann beredtes Zeugniss ablegen kann. Von der Hollun- derstaude bis zu den edelsten Forstgewächsen hin verfällt das junge Wachs- thum, besonders die Rinde, im Forste seinen ewig beweglichen Nagezähnen. Was das Eichhorn auf den Bäumen, das ist das Kaninchen auf dem Boden, den es colonieweise nach allen Richtungen unterhöhlt und hierdurch allein schon den Waldbeständen, namentlich dem Nadelholze auf sehr lockerem Boden Schaden verursacht. Dass einem solchen Thiere aller Orten gebührend nachgestellt wird, ist begreiflich, und wenn man den Schaden eines Kaninchens im Jahre auf 1 Louisd’or berechnet hat, so mag dies nicht übertrieben befunden werden.“ Mit Erfolg stellen ihm ausser dem Menschen mit dem geschilderten Frett- chen, Uhu, Marder, Iltis, Wiesel und Fuchs nach. Der Uhu ergreift es nit seinen furchtbaren Fängen auf Wegen, Blösen und Asungsplätzen und trägt es vom Boden durch die Luft zum Walde, Marder, Iltis und Wiesel dringen im seinen Bau em und morden es da, und der Fuchs beschleicht und überrascht es durch den Sprung aus dem Hinterhalt. An stillen Som- merabenden steht der Jäger am Waldsaume in der Nähe der Ansiedelung an und erlegt zuweilen mehrere der zu Felde oder Wiese rückenden Kanin- I70 Insectenfresser. Imsectivora. z chen mit einem Schuss. Auch lässt sich bei hellem, stillem Wetter, wo- selbst die Thiere ausser Bau sind, das Kaninchen auf kurze Strecken treiben und vor die Schützenlinie bringen. III. Ordnung Inseetenfresser. Insectivor: Liehrbegriffliches über die Insectenfresser. Ehe wir zur eingehenden Schilderung des Wesens und Wandels unserer Spitzmäuse übergehen, wird es zur nöthisen Belehrung dienen, wenn wir srundzügliche Bemerkungen über die Ordnung der sehr merkwürdigen In- sectivora vorausgehen lassen, zu welcher diese Thiere gehören. Früher vrechnete man die Tnkenesser in der Säugethierwelt zu den Raubthieren, indem man der Ähnlichkeit in der Zanlduns allein Rechnung trug. Ein genauer Vergleich der Gestalt und Grösse ihres Wesens und ihrer Be- wegungen zeigte jedoch, dass sie hierin weit mehr von den Raubthieren ver- schieden sind, als von den Nagern. Somit war der Weg gewiesen, ihnen in emer besonderen Ordnung eine Zwischenstellung zu le wonach. sie den Übers sang bilden von den Raubthieren zu ieh Nagern. Die hervor- ragendste Bis Senthiunlichleit welche die Insectivora een wird von ei rl Vogt in folgender Darstellung anschaulich gemacht: „Ein Blick in den Seofneren Rachen eines Kerfjägers überzeugt uns unmittelbar, dass diese Thiere nur Fleischfresser sein können, noch fleischfressender, wenn man sich so ausdrücken darf, als Katzen und Hunde, welche das System vor- zugsweise Fleischfresser nennt. Die beiden Kiefern starren von Spitzen und geschärften Zacken; dolchähnliche Zahnklingen treten bald an der Stelle der Eckzähne, bald weiter hinten über die Ebenen der Kronzacken hervor; scharfe Pyramiden, den Spitzen einer auf zwei Reihen doppelt geschärften Säge ähnlich, wechseln mit Zahnformen, welche den Klingen der englischen Taschenmesser nicht ‚unähnlich sind. Die ganze Einrichtung weist darauf hin, dass die Zähne dazu bestimmt sind, selbst hartschalige Insekten, wie Käfer, zu packen und zu halten. Diese Charaktere Kon nicht trügen, denn, wie Savarın, der berühmte französische Gastronom, den Satz auf- stellen konnte: „Sage mir, was du issest, und ich sage dir, was du bist“ so kann man auch von den Säugethieren sagen: Zeige mir deine Zähne, und ich sage dir, was du issest und wer du Bist, Der Kerbihierteke kaut und mahlt nicht mit seinen Zähnen; er beisst und durchbohrt nur. Seine Zahn- kronen werden nicht von oben her abgerieben, sondern nur geschärft durch das seitliche Ineinandergreifen der Zacken des Gebisses.. Man nehme sich Insektenfresser. Insectivora. Drei nur die Mühe, das Gebiss eines kleinen Nagers, z. B. einer Ratte, mit dem- jenigen eines Maulwurfs zu vergleichen, und das unterscheidende Gepräge beider wird mit grösster Bestimmtheit in die Augen springen. Das Gebiss einer Spitzmaus, zu den Massen desjenigen eines Löwen vergrössert, würde ein wahrhaft schauderhaftes Zerstörungswerkzeug darstellen.“ Das Schlüsselbem ist bei den grabenden Insektenfressern besonders ausgebildet, entgegengesetzt den Raubthieren, bei denen dasselbe entweder sehr unvollkommen vorhan- den ist oder fehlt. Alle Inseetenfresser sind Sohlengänger, d. h. sie treten bei ihrem vielfach langsamen Gange mit ihren nackten, höchstens von steifen Haaren umgebenen Sohlen auf. Der Charakter des Seelenlebens dieser Thiere prägt sich aus in einem boshaften, mürrischen, misstrauischen, mehr oder weniger stumpfen und ein- samen Wesen. Dabei sind sie ausserordentlich rührig und ausdauernd in der zur Herrichtung entsprechender Aufenthalte und genügender Ernährung nothwendigen Arbeit. Viele sind ganz vortreffliche Gräber unterirdischer Gänge und Wohnungen, andere meisterhafte Schwimmer und Taucher. Ver- hältnissmässige Riesenstärke und damit verbundene Raub- und Mordgier, von leicht zur Wuth gesteigertem Muthe begleitet, erheben dieselben selbst zu gefährlichen Feinden mancher sie an Grösse übertreffender Säugethiere, beispielsweise vieler Nager. Ihre Hauptthätigkeit richten sie aber auf die Vertilgung von Würmern, Schnecken und Insectenlarven, sodass sie als treft- liche nutzenbringende Gehülfen des menschlichen Trachtens und Wirkens in der Werkstätte der Natur erscheinen. Gerade die Thätigsten unter ihnen nach dieser Richtung hin sind auch während des ganzen Jahres wach und fallen nicht wie Einige in ihrer Ordnung zur Pflanzenkost neben der Fleischnahrung Geneigten in einen Winterschlaf. Die Verbreitung der Kerbthierräuber ist auf die gemässigten Länder der Erde und da auf die wasserreichen Gegenden unter den Wendekreisen ausgedehnt. Sie leben in feuchten Waldungen und dorn- wie buschreichen Wiesenthälern, Gärten und Pflanzungen mit grosser entschiedener Vorliebe. Was nun insbesondere die Familie der Spitzmäuse anlangt, so möge das Allgemeine der Kennzeichnung in Folgendem gegeben sein. Sie sind mit den Fledermäusen die kleinsten der Säugethiere und tragen ihren Namen mit Recht, da sie in Gestalt und Wesen an die Mäuse erinnern. So namentlich im Hinblick auf die Anzahl, angedeutete Form oder Entwick- lung der mittleren Schneidezähne, auf das Skelet und sonstige anatomische Eigenschaften. Besonders auf die Eigenschaft, Structur und Färbung der mittleren Schneidezähne bildet die Systemkunde die Sippen der Spitzımäuse- Der mit sammtartigem Pelz überzogene Leib ist gestreckt, der lange Kopf, dessen Wangen Borstenhaare tragen, endigt in eine Rüsselschnauze; das sehr scharfe Gebiss entspricht als Mordwerkzeug ihrem ungeheueren Muth und grausamen Blutdurst. Zwar befähigt, sich selbst wenigstens Hlache DD Inseetenfresser. Inseetivora. unterirdische Wohnungen zu graben, nehmen sie doch in der Regel vor- lieb mit vorgefundenen Höhlungen anderer kleiner Wühler und Gräber. Entschiedene Feinde des Lichtes, hausen sie hauptsächlich mordend in der Tiefe im Dunkel der Erde und dem Gestein. Ihre verkümmerten Augen zeigen sich höchst empfindlich gegen die Wirkung der Sonnenstrahlen Keineswegs verkümmert erscheinen dagegen die übrigen Sinne. Namentlich sind Geruch- und Gehörsinn scharf; davon überzeugt man sich, wenn man die witternde Nase im Thätigkeit oder die T'hierchen bei dem geringsten Misstrauen erweckenden Geräusch aufhorchen sieht. Eine vorzügliche Schwimmerin ist die Wasserspitzmaus, die ausser Würmern, Schnecken, In- sekten, kleinen Säugethieren und Vögeln auch Fische und Fischbrut ver- zehrt. Durch die an der Schwanzwurzel befindliche Drüse, welche Moschus- geruch ausscheidet, sind die Spitzmäuse den Raubsäugethieren widerlich und werden desbalb von ihnen todtgebissen, nicht aber verzehrt. Die Eulen dagegen verzehren sie. Sie leben vielfach auch unter sich in Feindschaft und bekämpfen sich nicht selten bis zum Morden und Auffressen. Die Sippe der Waldspitzmäuse, Sorex, kennzeichnet sich durch das Auftreten von Lückenzähnen m der oberen Kinnlade und von zwei gezähnelten, an der Spitze bräunlichgelb gefärbten Vorderzähnen im der unteren Kinnlade. Die obere Kinnlade weist zwei zweispitzige Vorder- zähne auf. Die gemeine oder Waldspitzmaus. Sorex vulgaris. Im Walde, droben im Gebirg, auf Höhen wie in den Niederungen, tief in einsamen Districten sowohl, als auch an den Waldrändern; in Feld und Gärten, zumal in Parkanlagen, finden wir dieses schlankgestaltige, schön sefärbte Räuberchen. An 6 Ctm. lang, wozu noch das 4 Ctm. messende Schwänzchen kommt, macht es auf den ersten Anblick gewiss nicht den Ein- druck eines teuflischen Mörders. Aber näher betrachtet, schliessen wir aus der lebhaft bewegten, fortwährend thätigen Rüsselnase und aus dem bereits als furchtbare Mordwafte geschilderten Gebiss der Spitzmäuse überhaupt auf die Wahrscheinlichkeit umfassender Gewaltthaten, die durch Beobach- tungen des Wesens und Wandels des winzigen Thieres bestätigt werden. Schon als Knaben fanden wir Gelegenheit, durch eigene Anschauung diese Riesen an Muth, Kraft und Blutdurst in Zwergestalt kennen zu lernen. Wir standen an einer Feldhecke in der Nähe des Waldes und schnitten uns Dornstöcke. Plötzlich huschte Etwas vor uns her im lichten Dorngrstrüppe und richtig, wir sahen jetzt in eiligen Sätzen eine Spitzmaus unter das Ge- stein sich flüchten. Wir verhielten uns ruhig und wurden alsbald von emer zweiten Spitzmaus überrascht, welche zur Seite aus dem Laubboden hervor- kam. Erst hob sich das dürre Laub, ohne dass das Thier sichtbar war, dann aber kam der Rüssel mit den weisslichen Lippen unter den schwarzen j Insektenfresser. Insectivora. 273 Schnurren zum Vorschein. Immer mehr theilte sich das Laub, und mit einem Ruck schnellte sich die ganze Gestalt des Thierchens hervor. Wie schimmerte der zarte Sammtpelz bald rothbraun, bald schwärzlich, während die hier und da sichtbar gewordene Unterseite des Körpers trübweisslich abstach, wenn sich die Spitzmaus aufrichtete und mit den braunen Pfoten das Gesicht putzte. Einen Nachtschmetterling, der sich eben auf dem Moose, aus der Puppe gekrochen, unbeholfen fortbewegte, packte sie in raschem Zufahren und frass ihn sofort vor unseren Augen auf. Da erschien nicht ferne von der Stelle, wo die erste Spitzmaus verschwunden war, wieder eine Rüsselschnauze — wahrscheinlich kehrte die Verscheuchte, nun wieder Vertraute zur Oberfläche zurück. Der Falter war eben gänzlich aufgezehrt, als die hinzugekommene Spitzmaus feindlich die andere, etwas schwächere anfıel. Diese setzte sich zur Wehr, und im Nu wälzten sich Beide balgend und piepend umher. Kaum konnten wir warnehmen, welche der kämpfenden Wütheriche oben oder unten war. Die ausserordentlich gewandten Be- wegungen liessen den ganzen Vorgang als eine in sich selbst verschlungene und in ihren Theilen mit Schnelligkeit sich bewegende Masse erscheinen. Dabei blieb der Schauplatz ein beschränkter. Endlich sahen wir, dass die eine Spitzmaus siegte. Sie hatte sich im Nacken der schwächeren fest- gebissen und sog ihr nun mit unverkennbarer Gier das Blut. aus. Hätten wir nicht mit Stöcken dreingeschlagen, wir würden sicherlich im weiteren Verlauf der Mordgeschichte gesehen haben, dass die siegreiche Spitzmaus die besiegte aufgezehrt hätte. In diesem einen Beispiel ist uns ein ge- treues Bild der unbändigen Wuth, Mordsucht und heissblütigen Gier der Waldspitzmaus gegeben, zugleich aber auch ihre Unverträglichkeit mit Ihres- gleichen dargestellt. Nur zur Zeit der Paarung leben die Paare durchaus fried- lich zusammen, ausserdem aber bekämpfen sie sich gegenseitig, wo sie sich begegnen. Sobald die Paarzeit vorüber ist, trennt sich das Weibchen vom Männchen und bereitet sich später in heimlichem, unterirdischem Gang oder Winkel ein Nest von Laub, Grashalmen, Moosbündeln und abgebissenen Pflanzenstengeln und füttert dieses mit weicheren kleinzerbissenen Stoffen aus. Sehr häufig bringt sie das Nest in Mauerlöchern und Felsenspalten an. In dieser Zurückgezogenheit säugt sie die fünf bis zehn Jungen nicht lange Zeit und behandelt dieselben nach kurzer Zeit der anleitenden Be- gleitung in die Umgebung der Geburtsstätte erst gleichgiltig und dann sogar mit drohenden Feindseligkeiten, sodass diese sich von ihr trennen und auch untereinander das geschwisterliche Band lösen. Merkwürdig und diesen un- bestrittenen Beobachtungen entgegengesetzt sind Erfahrungen, wie sie Car- trey gemacht hat. Derselbe sah, wie ungefähr hundert Spitzmäuse, in Ge- sellschaft vereinigt, pfeifend und, soweit er beobachtete, friedlich verkehrend hin und her liefen. Unstreitig trat diese Erscheinung in einem Jahre auf, wo die Spitzmäuse sich ungewöhnlich zahlreich vermehrt hatten. Es gibt A. u. K. Müller, Thiere der Heimath, 18 274 Insektenfresser. Insectivora. nämlich auch unter den Spitzmäusen sogenannte Mäusejahre. Über die Bedingungen, unter welchen sie sich in so ungewöhnlicher Weise vermehren lassen sich ebenso wenig untrügliche Merkmale und Regeln bezeichnen, wie bei der Vermehrung der Feldmäuse. Sicherlich aber morden sich gerade bei wuchernder Überhandnahme die Spitzmäuse untereinander ganz besonders häufig, weil da die Begegnung vielfältiger ist und die Veran- lassung zu Streit öfter wiederkehrt. Was sich an kleinen Thieren in ihrem 'Ernährungsbereich regt, der kriechende Wurm, die aus ihrem Gehäuse ent- schlüpfte Schnecke, der laufende Käfer, die sitzende Fliege, der flatternde Schmetterling, das hülflose, dem Nest entfallene Vögelchen, die in ihren Gängen aufgesuchte und verfolgte Maus: sie alle sind mit dem Tode be- droht von dem Gebiss der Spitzmaus. Die Maus in ihrer Höhle sucht zwar der Drängerin zu entfliehen, aber List und Schnelligkeit, Muth und Heiss- sier gelangen zum Ziel. Die geängstete Maus fährt zwar in verzweiflungsvoller Flucht aus dem Höhlengang zu Tag, aber siehe, die Spitzmaus sitzt fest auf ihr wie der beste Reiter im Sattel und saugt ihr das Blut aus den Wunden der Genickbisse. Dann verzehrt sie das Fleisch bis auf die Knochen, denn die Gefrässigkeit der Spitzmaus ist wahrhaft erschreckend Sie verspeist täglich an Nahrung das Gewicht ihres eignen Körpers. Ganz erklärlich ist es daher, dass sie nicht lange ohne Nahrung zubringen kann, sie verhungert, derselben baar, in wenigen Stunden. Sobald wir als Knaben Spitzmäuse in dem Meisekasten fingen, fanden wir sie todt darin, wenn wir auch erst vor zwei oder drei Stunden nach dem Mehlwurm gesehen hatten, den wir als Lockspeise für Zaunkönige angebracht hatten. Ebenso leicht erstarren die Thierchen in kalten Nächten oder am frühen Morgen im Spät- herbste oder Winter, wenn sie in engen Räumen gefangen sitzen, welche ihnen keine genügende Bewegung gestatten. Vor Allem aber begehren sie fortwährend Befriedigung ihrer. Fressbesier. Lenz hat in Kisten Spitz- mäuse mit Fliegen, Mehlwürmern, Regenwürmern und dergleichen in reichem Maasse gefüttert und gefunden, dass sie fast gar nicht zu sättigen waren. „leh musste jeder fast täglich eine ganze todte Maus oder Spitzmaus oder ein Vögelchen von ihrer Grösse geben. Sie fressen, so klein sie sind, täg- lich eine Maus auf und lassen nur Fell und Knochen übrig. So habe ich sie oft recht fett gemästet; lässt man sie aber im Geringsten hungern , so sterben sie. Ich habe auch versucht, ihnen nichts als Brot, Rüben, Birnen, Hanf, Mohn, Rübsamen, Kanariensamen etc. zu geben, aber sie verhunger- ten lieber, als dass sie anbissen. Bekamen sie fett gebackenen Kuchen, so bissen sie dem Fett zu liebe an; fanden sie eine in einer Falle gefangene Spitzmaus oder Maus, so machten sie sich augenblicklich daran, selbige aufzufressen.“ Insektenfresser. Insectivora. 2719 Zu derselben Sippe zählt auch noch die keineswegs bei uns seltene Zwerg-Spitzmaus, Crocidura pygmäus s. minutus. Diese kleinste Spitzmaus ist oberseits dunkelgraubraun, zuweilen schwärzlich, unterseits weisslichgrau, an den Flanken brandfuchsig oder auch brandgrau, der fleischige Schwanz dicht- und kurzhaarig von rundlicher oder vierkantiger Form. Ihre Verbreitung erstreckt sich nach Norden hin bis zum 60° N. Br., nach Süden bis in die nördlichen Gegenden der Mittelmeerländer, in den Alpen bis zur Höhe von über 1500 Meter. Ihr Aufenthalt sind feuchte Orte, die durch reiches Wachsthum Schatten gewähren, seien es Gärten, Parkan- lagen, Gräben, kleine Bäche, Teichränder oder Waldsäume Wir nahmen sie öfters in der Nähe eines von Gebüsch der verschiedensten Holzarten um- wachsenen Teiches unserer alten Heimath auf feuchtem Laubboden wahr, wo wir sie zu verschiedenen Malen auch in Meisenkasten fingen, die Mehl- würmer als Köder enthielten. Die Thierchen können nicht lange hungern und dürfen eben so wenig längere Zeit der kalten Morgen- oder Abendzeit ausgesetzt sein, denn sie erstarren dann leicht. Häufig fanden wir auch Morgens von Katzen todtgebissene Exemplare auf den feuchten, schattigen Wegen des tiefgelegenen Parktheils. Lebensweise und Fortpflanzung weichen von denjenigen der vorhergehenden Art nicht ab. Die Feldspitzmäuse, Crocidura, unterscheiden sich von den Waldspitzmäusen durch das Gebiss, welches 28 bis 30 weisse Zähne zählt; es stehen nämlich, unterschiedlich vom Gebiss der Waldspitzmäuse, im Oberkiefer drei oder vier einspitzige Zähne. Die unteren Vorderzähne sind auch ungezähnelt und der Oberkiefer zeigt nur drei Lückenzähne. Die Hausspitzmaus, Sorex sive Crocidura araneus. Ihre Länge beträgt 11,5 Ctm. einschliesslich des 4,5 -Utm. langen Schwanzes. Die Oberseite ist durchweg von braungrauer Färbung, die Unter- seite von hellgrauer, wobei zu bemerken ist, dass beide Färbungen m einander übergehen. Die Lippen und Füsse sind bräunlichweiss. Die obere Seite des Schwanzes zeigt Hellbraungrau, die untere Graulichweiss. Im ersten Lebenssommer erscheint die Oberseite des Thierchens schwärzlichgrau. Das Gebiss zählt 23 Zähne. In Europa geht die Verbreitung über die südlichen, westlichen und mittleren Länder, über Theile des russischen Nordens; auch im nordöstlichen Sibirien ist sie heimisch. Wir dürfen uns auf das, was sie von der Waldspitzmaus unterscheidet, beschränken, denn die Übereinstimmung in Charakter, Wesen und Lebens- 18* 276 Insektenfresser. Inseetivora. weise ist gross, sodass eine eingehendere Schilderung nur Wiederholung des über die Waldspitzmaus Gesagten wäre. Zunächst weicht sie von der Waldspitzmaus durch die Wahl ihrer Aufenthaltsorte ab, indem sie sich im Walde nicht heimisch zeist. Wohl trifft man sie an Waldrändern und in Hecken und Dornrainen in der Nähe des Waldes an, aber sie ist ihrer Neigung nach entschieden an das Feld gefesselt. Hiermit steht ihr häufiges Vorkommen in Feld- und offnen Haus- gärten in Verbindung, und ihr Name Hausspitzmaus rührt von ihrem häufigen Besuch der Häuser und ihrem Aufenthalt m Gebäuden überhaupt, vorzüg- lich in Ökonomiegebäuden her. Wer hätte nicht schon in Gewölben, Küchen Speisekammern und Kellern, Ställen und Scheunen diese Spitzmaus beo- bachtet? Hier ım der Umeebiug von Menschen zeigt sie sich als Näscherin und Diebin, indem sie See Fett, Öl, Fleisch und Dergleichen mehr an- seht. Hier wie im Felde oder Garten pflanzt sie sich in dunklen, ver- borgenen Winkeln und Höhlungen fort, den Witterungseinflüssen gemäss natürlich im Felde nur in der Sommerzeit, in den Wärme und Schutz bietenden Häusern dagegen auch zur Herbst- und Winterzeit. Die Jungen, fünf bis zehn an der Zahl und blindgeboren, sind auf allerlei zufällig dar- gebotenen und zur Nestunterlage herbeigeschafften weichen Stoffen gebettet und wachsen ausserordentlich schnell heran, so dass sie nach Verlauf von anderthalb bis zwei Monaten als ausgewachsen zu betrachten sind. Ihre Raubfertigkeit wetteifert dann täglich mehr mit derjenigen der alten Spitz- mäuse. Besonders regsam zeigen sich die Spitzmäuse Morgens und Abends. Unaufhörlich sind sie da im Freien auf Kerfjagd und Verfolgung von Schnecken und Würmern bedacht. Selbst kleine Nager und hülflose Vögel- chen verfallen ihrer Raubgier. Die zu dieser Sippe gehörige Feldspitzmaus, Crocidura leucodon, ist eine seltene Spitzmaus in unserem Vaterlande Wenigstens kommt sie in vielen Strichen gar nicht vor, und da, wo sie auftritt, ist sie nie häufig Sie misst etwas über 10 cm, wovon auf den dieht und kurzbehaarten, da- zwischen mit einzelnen langen feineren Haaren versehenen Schwanz 3,4 cm. kommen. Ihre Hauptfarbe besteht oben in einem gesättigten Schwarzgrau, von dem die weissliche Unterseite scharf absticht. Sie geht nicht weit nach Norden, sondern ist auf Mitteleuropa ange- wiesen. In Deutschland sind ihre Lieblingsaufenthalte fruchtbare, mässig feuchte Feldlagen und Gärten. Der Wald ist nicht ihr Aufenthalt. Ihre Lebensweise und ihr Betragen stimmt mit dem ihrer Verwandten überein; weshalb sieh auf ihre Aufzählung beschränkt werden kann. Die Wasserspitzmaus, Ürossopus foediens. Die Sippe Wasserspitzmanus, Ürossopus, vertritt unsere Wasser- spitzmaus in ausgesprochenster Weise. Hier treten als Kennzeichen die Insektenfresser. Insectivora. DIN unteren Vorderzähne ohne Zähnelung und mit gefärbter Spitze, sowie vier obere Lückenzähne, an den Füssen Schwimmborsten auf. Was die Waldspitzmaus unter der Erde und zur Zeit auch über der Erde ist, das ist die Wasserspitzmaus zu Wasser und zu Land — eine furchtbare Mörderin kleiner Thiere. Ja, die. Wasserspitzmaus übertrifft an Unternehmungssinn und bewundernswürdigem Muth bei Weitem noch ihre Verwandte. Ihre Länge überragt ebenfalls, freilich nur um wenige Utm. diejenige der Waldspitzmaus. Auch die Farbe unterscheidet sich von der rothbraunen Base durch den schwarzen, im Winter besonders glänzenden Sammtpelz der Oberseite. Die Unterseite ist entweder ganz weiss oder schmutzigweiss oder theilweise mit grauschwarzen Flecken untermischt. Einer recht genauen Betrachtung ist der eigenthümliche Pelz werth. Die dicht zusammenstehenden Haare lassen nämlich keine Durchnässung der Haut zu. In der sehr dichten Stellung und Bildung der Haare des Pelzes staut sich die Luft, und es entsteht so eine Luftschicht, welche unzählige kleine Bläschen erzeugt. Diese Bläschen glänzen in schönem Schimmer, wenn das Thierchen, von den Strahlen der Sonne beleuchtet, dahinschwimmt. An den Hinterfüssen befinden sich borstenartige Schwimmhaare, welche willkürlich von dem Thiere kammartig entfaltet und zusammengelegt werden können. Werden sie entfaltet, so stehen sie am Fusse nach rechts und links wie Kammzinken wagrecht hervor und bilden ein vortreifliches Ruder zur Fortbewegung im Wasser; zusammengelegt hindern sie den Lauf des Thierchens nicht und sind vor Abnutzung geschützt. Der Aufenthaltsort der Wasserspitzmaus erstreckt sich wohl auch nm die Ebenen, wo sie in Teichen, die von Wassergräben gespeisst werden, zuweilen in starker Vermehrung beobachtet wird; aber das Gebirg mit seinen klaren Bächen und Flüsschen ist unstreitig die beliebte Heimath der reines, fliessendes Wasser und sandigen oder kiesigen Boden liebenden Wasserbewohnerin. In unseren Forellenbächen des Vogelsbergs ist die Wasserspitzmaus in grosser Anzahl vertreten. Steine bis zu mächtigen Fels- blöcken ragen aus dem stellenweise sehr seichten Wasser hervor und an den Ufern bieten wildverschlungene Wurzelausschläge der Erlenbäume sehr geeignete Schutzstätten. Hier unter diesen natürlichen Schlupfwinkeln wohnen viele Wasserspitzmäuse lieber, als in selbstgegrabenen Uferhöhlen. Solche fehlen indessen auch neben den erwähnten Deckungsmitteln nicht. Gräbt sich das Thierchen aber selbst seine Höhle, dann sorgt es für einen Ausgang unter und unmittelbar über dem Wasser und liebt es überhaupt, mehrere Ausgänge, auch nach der Landseite, anzulegen. Während des Tages schläft oder ruht gewöhnlich die Spitzmaus in dieser Höhle oder in einem Höhlengang, welcher mit der von der Natur gebotenen Schutzstelle von ihr verbunden wurde. Die Nähe von Mühlen, Wasserfällen, Wehren und Fisch- teichen sind ihr willkommen. Fliesst ein Bächlein oder ein Mühlgraben 278 Insektenfresser. Insectivora. durch ein Gehöfte oder ein Dorf, so wird sie durch das Getümmel der Menschen und Thiere nicht abgehalten, sich in das bewegte Treiben der Welt zu begeben. Ob auch Gänse und Enten plätschern und das Wasser in Aufregung versetzen, ob Pferde und Kühe zur Tränke oder Schwemme geführt werden, sie weiss diese Störungen als gefahrlose zu erkennen und treibt sich oft am hellen Tage auf dem Wasser umher, theils in behaglichem Hinlungern, theils in der Absicht, auf Raub auszugehen. Wir beobachteten einst am frühen Morgen alsbald nach Sonnenaufgang an einem Karpfenteiche, der von einem Mühlgraben gespeist wurde, das Thier bei einer seiner ver- wegenen Räubereien. Die ersten Strahlen der eben über dem Berge am östlichen Horizonte emporgestiegenen Morgensonne fielen durch die das Teichufer umstehenden Bäume und beleuchteten in hellen Streifen den Wasserspiegel. Junge Bachstelzen wurden munter und zirpten futterverlangend den Alten entgegen, die ihnen das Frühstück, in Fliegen und Libellen be- stehend, zutrugen. Auf einem alten Weidenstumpfe sass ein kurzschwänziges Junges, welches nar unbehilflich im Flug sich fortzubewegen vermochte und um das die Elternliebe besonders besorgt zu sein schien. Eben um- tanzte rüttelnd und Bogen beschreibend die Mutter das durch die Warnungs- rufe zum regungslosen Sitzen mit glattgelegtem Gefieder bewogene mause- federige Vögelchen. Da sahen wir ein kleines schwarzes Ding aus dem Uferversteck über dem Baumstumpf in einem kleinen Bogensprung herab- fahren, und in dem nächsten Augenblick flogen unter dem Geschrei des gepackten Vögelchens Federn davon. Allen das Bachstelzchen entrann nach der Wasserseite zu und vermochte sich wohl eine kurze Strecke über dem Wasserspiegel zu halten, dann aber fiel es nieder und lag mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Teich. Da hörten wir einen Plump in's Wasser, und siehe da, das schwarze Ding, eine Wasserspitzmaus, setzte seine Verfolgung fort; die Morddürstige war vom Baumstumpf hintendrein in den Teich gesprungen und schwamm nun gerade auf das Bachstelzchen los. Wie ruderten so emsig die beiden Hinterfüsse! Wie eine plattgedrückte Walze sah die Schwimmerin aus. Jetzt tauchte sie unter, den zankenden und über ihr rüttelnden Bachstelzeneltern ausweichend; im nächsten Augen- blick aber kam sie mit der Rüsselschnauze wieder hervor, ihren Weg fortsetzend. Ein Streifen zog sich eilend über den Wasserspiegel hin, jetzt nur noch einen halben Meter von dem Vögelchen entfernt, und jetzt hat die Mörderin ihr Ziel erreicht. Im Nu greift der geschäftige Rüssel, am Vögelchen aufsteigend, über dessen Rücken hinauf; mit den Vorderfüsschen auf den Vogelrücken kletternd, beisst sich die Wasserspitzmaus im Nacken und am Hals fest. Ein kurzes Umherwälzen, Flattern und Klagen erfolgt, ein Verschwinden bis zur Hälfte und Wieder-Emportauchen, dann wird das Opfer stille, und die Spitzmaus zerrt und zieht die Beute nach dem Ufer hin. Am Baumstumpf angekommen, schleift sie das getödtete Vögelchen Insektenfresser. Insectivora. 279 aufs Trockne und verschwindet mit ihm, unter sichtlieher Anstrengung es nach sich ziehend und halb rückwärts halb seitwärts unter einen vorspring- enden Stein sich bergend. Mit dieser einen Beobachtung haben wir viele Eigenschaften der Wasserspitzmaus zugleich kennen gelernt, vor Allem aber ihren grausamen Mordsinn, ihre Kühnheit und ihre Schwimmfertigkeit. Aber wir wenden einer andern Wasserspitzmaus unsere Aufmerksamkeit am Teiche zu, die in anscheinend friedlicher Absicht über die Spiegelläche langsam dahertreibt. Still wie ein Blüthenkätzchen liegt sie auf dem Wasser und gibt sich nur zeitweise einen Ruderstoss mit den Hinterfüssen. Wie friedlich und liebenswürdig erscheint uns das Thierchen! Aber nun richtet es sich auf und reckt den Vorderleib in die Höhe und mit einem Satz fährt es in die Luft, eine dicke Fliege haschend, dann taucht der niederfallende Körper mit dem Rüssel zuerst wieder unter. Eine neue Erscheinung lenkt und fesselt das Auge. Dicht am Ufer läuft unter dem hellen, durchsichtigen Wasser an seichter Stelle eine Wasserspitzmaus auf dem Grunde, als ob sie auf trocknem, freiem Boden wäre. Dort steigt sie in die Höhe und rasch träufelt das Wasser vom Pelz, der in glitzernden Luft-Bläschen glänzt. Dort schemt der Gegenstand ihres Zieles zu sein. Denn eben rudert sie in einigen kräftigen Stössen nach emem kleinen Karpfen, der an der Wasser- oberfläche in träger Ruhe die Kiemen weit öffnet und wieder schliesst. Sollte man es von dem kleinen, schwarzen Bündel denken, dass er sich an Fische wage, die fünf- und zehnfach grösser, als er, sind? Richtig, dort sitzt der kleine Teufel auf dem Kopf des davonschiessenden, sich wälzenden und plätschernden Karpfens, fest wie ein Kosacke auf dem Pferde. Das Wasser zieht weite Kreise um den Kampfplatz, der Schlamm wird aufgerührt, und es wogt herüber und hinüber, so dass es dem Blick unmöglich wird, Gegen- stände im Wasser zu erkennen. Allmälig wird es wieder ruhig, das Wasser klärt sich, und am Ufer sehen wir einen kranken Karpfen, offenbar den von der Spitzmaus mörderisch angefallenen, in die Höhe steigen. Doch die Spitzmaus ist abgeworfen und lässt sich nicht mehr sehen. Am Kopfe des Fisches aber entdecken wir Stellen, an denen Blutstropfen zum Vorschein kommen. Ein zur Stelle gebrachtes Netz wird vorsichtig hinter dem Karpfen eingesenkt und dann rasch an’s Ufer gezogen. Der gefangene Karpfen zeigt verschiedene Wunden am Kopf und em gänzlich zerbissenes Auge. Wohin wohl die Spitzmaus gekommen sein mag? Wahrschemlich hat sie der Fisch abgewälzt. Wir können aber die Mittheilung machen, dass wir in emem kleimen Gartenbassin das Skelet eines Karpfens von mehreren Pfund Schwere beim Reinigen des Grundes aus der Uferhöhlung gezogen haben, worauf ein anderes Skelett mit dem Gebiss in die Augenhöhlen- knochen des ersteren eingegraben, sass — das Knochengerüste einer Wasser- spitzmaus. Wie erklären wir diese höchst merkwürdige Erschemung? Wahr- scheinlich war der grosse Karpfen nach vergeblichen Entledigungsversuchen 280 Insektenfresser. Insectivora. mit dem verbissenen Räuber unter die Uferwand geschlüpft und starb da sammt der festgebissenen Wasserspitzmaus. Nach Jahren glückte es uns durch einen Zufall, dass der alte Gärtner, der zugleich Fischer war, uns zur Entdeckung herzuruft. Dem Schwager des Einen von uns sind zu verschie- denen Malen in dem Brunnentroge Flusstische, namentlich Schleien und Barsche, von Wasserspitzmäusen getödtet worden. Sie waren der Augen und des Gehirns beraubt und zeigten an Kopf und Rücken angefressene Theile. Diese Wahrnehmung stimmt überein mit der Berichterstattung Chr. L. Brehms. Er erzählt: „Ein Gutsbesitzer zog in semem Teiche schöne Fische und hatte im Herbste 1829 in dem Brunnenkasten vor semen Fenstern, welcher wegen des zufliessenden Quellwassers niemals zufriert, mehrere Karpfen gesetzt, um sie gelegentlich zu verspeisen. Der Januar 1830 brachte eine Kälte von 22% und bedeckte fast alle Bäche dick mit Eis; nur die „warmen Quellen“ blieben frei. Eines Tages fand der Besitzer semes Brunnens zu seinem grossen Verdrusse in seinem Rohrtroge einen todten Karpfen, welchem Augen und Gehirn ausgefressen waren. Nach wenigen Tagen hatte er den Ärger, einen zweiten anzutreffen, der auf ähnliche Weise zu Grunde ge- richtet worden war, und so verlor er einen Fisch nach dem andern. Endlich bemerkte seine Frau, dass gegen Abend eine schwarze „Maus“ an dem Kasten himaufkletterte, im Wasser umherschwamm, sich einem Karpfen auf den Kopf setzte und mit den Vorderfüssen festklammerte. Ehe die Frau im Stande war, das zugefrorene Fenster zu öffnen, um das Thier zu ver- scheuchen, waren dem Fische die Augen ausgefressen. Endlich war das Öffnen des Fensters gelungen, und die „Maus“ wurde in die Flucht getrieben. Allein kaum hatte sie den Kasten verlassen; so wurde sie von einer vorüber- schleichenden Katze gefangen, dieser wieder abgenommen und mir über- bracht. Es war unsere Wasserspitzmaus.“ Es ist erklärlich, dass bei Eintritt strenger Kälte in gewissem Grade Nahrungsmangel unter den Spitzmäusen eintritt, und sie daher zu solchen vermessenen Raub- und Mordunternehmungen vorzugsweise geneigt sind. Ein reizendes Spiel entwickelt sich in den Monaten April und Mai vor den Blicken des Beobachters, wenn die sich paarenden Wasserspitzmäuse in neckender Verfolgung begriffen sind. Das flüchtende Weibchen spielt Versteckens, kriecht in Maus- und Maulwurfslöcher, unter Steine, Wurzeln, Laub, hintendreimn jagt das Männchen nach. Wieder weicht das Weibchen ihm aus, indem es sich in’s Wasser wirft, eme Strecke auf dem Grunde hinläuft und an einer jenseitigen Stelle des Bachs an das Ufer steigt. Aber das Männchen richtet sich empor und lauscht und verfolgt die Richtung, welche die Fliehende genommen hat. So geht das Spiel fort, oft stunden- lang mit geringen Unterbrechungen, welche dem Ernährungsbedürfniss ge- widmet sind. Hier wird ein Insekt aufgenommen oder eime Larve, dort ein Wurm hervorgezogen, eine Schnecke, ein Frosch, eine Eidechse erbeutet. Insektenfresser. Insectivora. 281 Oder es wird dem Krebs zu Leibe gerückt, dessen Panzer das Gebiss am weicheren Unterleibe zertrümmert, um an das Fleisch zu gelangen. Begegnet der Wasserspitzmaus eine Feld-, Wald- oder Hausmaus, so wird sie ohne Weiteres angefallen, todtgebissen und aufgefressen. In den Ufergängen, welche die Wasserspitzmaus sich gegraben hat, oder auch in benutzten vorhandenen Höhlungen bereitet die mütterliche Fürsorge einen Kessel, der mit Moos und Grashalmen ausgepolstert wird. Hier ist die Wiege der in der Mitte des Mai’s zur Welt kommenden, fast nackten, fleischfarbenen Jungen, die stumpfnäsig eimen Gegensatz bilden zu den rüsselschnäuzigen Alten. Nach zärtlicher Pflege, welche die Kleinen einige Zeit in der Erde als hilflose Thierchen geniessen, werden sie heraus- geführt auf den Rasen und in das Laub, wo die Spiele beginnen. Die zu dem 'Tummelplatz aus den Gängen führenden Pfädchen sind im Gras auf- fallend niedergetreten. Aber auch mit dem Wasser werden die Jungen sehr bald vertraut gemacht und in den Künsten des Schwimmens und Tauchens, wie in der Fertigkeit des Raubens und Mordens geübt und ausgebildet, an- fänglich von der Mutter geleitet, bald aber als selbstständige Abenteurer und Strassenräuber zu Wasser und zu Lande auftretend. — Die Mitglieder der Familie Igel, Aculeata, zeichnen sich durch einen mit Stacheln oder mehr und weniger starken, steifen Borsten besetzten kücken aus. Es sind Sohlengänger, deren niedere Füsse und Beine schmächtig zu nennen sind. Der Körperbau ist unbeholfen, plump. Der Schwanz er- scheint entweder sehr kurz, als ein Stummelschwanz, oder ist nur rudimentär angedeutet. Der in eine rüsselförmige Schnauze gedehnte Kopf hat ent- wickelte, zuweilen grosse Ohren. Unter den wenigen Sippen, in welche die Familie zerfällt, beschäftigt uns die der Stacheligel, Erinacei. Ihr Rücken ist, im Gegensatze zu denjenigen der Borstenigel, mit Stacheln bewehrt und mit einem Mechanis- mus zum Einkugeln des Leibes versehen, dessen Einrichtung wir bei dem einheimischen Vertreter dieser Sippe betrachten werden. Das Gebiss ist im Wesentlichen das der Insectenfresser. Es ermangelt eigentlicher Eckzähne und trägt in den Vorderzähne-Reihen zwei mittlere längere Schneidezähne. Es sind vorzugsweise nächtliche Thhiere, deren Hauptnahrung aus Würmern, Inseeten, Lurchen, kleinen Säugern und Vögeln besteht. Der Boden ist ihr . Bereich, auf welchem sie eine wesentlich nützliche Bethätigung bekunden. Ihre geistigen Befähigungen sind ihren körperlichen angemessen: gering. Sie halten einen unterbrochenen Winterschlaf in zusammengerolltem Zustande in meist selbst verfertigten Zufluchtsstätten. Unser Igel. Erinaceus europaeus. Dort liegt auf dem Stoppelacker am Feldrain eine eirunde Stachel- kugel. Wir treten hinzu und, ohne Gewaltmittel in Anwendung zu bringen, 282 Insektenfresser. Insectivora. streichen wir die Menge starrender Stacheln von vorn nach hinten, fassen, so geschützt vor Verletzung, den Stachelklumpen und tragen ihn auf eine überhängende Felsplatte. Es vergeht eine Zeit von zehn Minuten, ehe ein leises Zucken an dem Panzer sichtbar wird, dann aber streckt sich unter mehrmals wiederholtem Rucke zu gleicher Zeit der vordere und hintere Theil desselben, und vorsichtig prüfend taucht zuerst eine rüsselförmige Schnauze und alsdann das finster blickende Gesicht hervor. Ist es wirklich drohender Zorn, unheilverkündender Rachegedanke, der in dem faltenreichen Gesichte geschrieben steht? Wie doch die äussere Miene täuschen kann! Der entrollte Igel lässt das Auge prüfend in die Umgebung blicken und trollt dann linkisch dem Rande der Platte zu. Täppisch poltert er hinunter, aber, im Nu wieder zusammengerollt, fällt er als Kugel zu Boden, ohne im Mindesten sich weh zu thun. Fällt er doch von hohen Mauern nieder, ohne sich zu beschädigen. Eine so merkwürdige Einrichtung, welche das Thier plötzlich in eine gänzlich veränderte Gestalt umzuwandeln vermag, verdient genauere Unter- suchung und Betrachtung. Ein stark entwickelter Hautmuskel, welcher theils als Fortsetzung der dicken Faserschicht des Hinterkopfs erscheint, theils an dem Nasen- und Stirnbeine entspringt, umgibt gürtelartig die beiden Seiten des Igelleibes. Das nach hinten zu beiden Seiten seiner Seitenab- schnitte breit verlaufende, am Bauche dick, nach dem Rücken zu dünn werdende Muskelband hängt mit der Haut des Stachelpanzers von dessen Ursprung am Bauche bis zum Rücken zusammen. Die Seitenhälften des Muskels verbinden sich auf dem Stummelschwanze des Igels miteinander. Sobald er nun den Muskel zusammenzieht, wird der Panzer verkürzt und seine Stacheln richten sich folgerecht empor. Es tritt zugleich die Mithülfe von zusammenziehenden Bauchmuskeln hinzu, sodass die Panzerhaut gleich einem Strupfbeutel die am Bauche vereinigten Füsse sammt Kopf und Schwanz umhüllt. Nur in der Mitte des panzerlosen Bauches bleibt eine kleine, schmale Naht. Durch die Thätigkeit dieser Muskelpartieen bewirkt der Igel das Zusammenrollen der Stachelhaut. Beim Entrollen derselben sind zwei Muskelpartieen thätig, die vordere, welche in strahlig auf der Rücken- seite verlaufenden Muskelbündeln der Haut über Stirn- und Nasenbein, wie an den Ohrmuscheln und am Halse inserirt sind und durch Zusammenziehen das Vordertheil, die Kapuze, entrollen, und ein hinteres Muskelpaar, welches in den mittleren Schwanzwirbeln seinen Ursprung hat, an der Bauchseite sich verlaufende Fasern aufnimmt und in den Rückenrändern des grossen Hautringmuskels endigt. Aufgerollt und gestreckt steht ein plumpgestaltetes, ohne das 2,5 cm messende Stummelschwänzchen 30 cm Länge und etwas über 12 em Höhe einnehmendes Thier vor uns mit gelbröthlich grauem Kopfe und glänzend Insektenfresser. Insectivora. 2853 schwarzen Augen, schwarzbraunen Beinen, weissgrau grundirter und röth- lichgelb überflogener Brust- und Bauchpartie und mit Stacheln bewaffnet, deren Grund und Spitze braun, deren Mitteltheil aber gelblichweiss erscheint und die ihrer Länge nach abwechselnd feingefurcht und mit erhabenen Leisten versehen sind. Wir gönnen dem geharnischten Harmlosen seine Freiheit und ertheilen ihm unbedenklich Absolution in Hinsicht auf seine vereinzelten Angriffe auf Vogelnester am Boden und junge Häschen im Grase oder auch auf seine Mordversuche im Hühnerhofe, wo er erfolglos unter die ihren Augen kaum trauenden und ob der Verwegenheit langhälsig staunenden Hennen springt und dieselben zum erschreckten Auffluge ver- anlasst, kleine, von der Henne abgetrennte Küchlein jedoch unbarmherzig raubt und verzehrt. Die Raubthaten des Igels an jungem Hofgeflügel und an erdständigen V ogelnestern beruhen hauptsächlich auf individueller Neigung, welche durch Gelegenheit, zufällige Entdeckung und Erfahrung zur Aus- kundschaftung führt. Es ist uns übrigens ein in dem Gasthaus zur Krone in Alsfeld vorgekommener Fall bekannt, wo ein Igel am Abend eine alte Henne anfıel, die mit ihren Jungen sich noch ausserhalb der Nachtherberge umhertrieb. Er warf die klagende Henne auf den Rücken und würde sie ohne Zweifel getödtet haben, wenn nicht der Besitzer des Gartens zur Rettung herbeigeeilt wäre, bei dessen Annäherung sich der Mörder sogleich zusammenrollte. Wir sehen dem Sohlengänger unter der Zusicherung unseres unwandelbaren Protectorats wohlwollend nach und suchen ihn zu gelegener Zeit wieder auf. Wo sind sie, die einsamen Plätzchen alle an den Waldrändern, an Dornrainen, in heckenreichen Feldgärten, in kleinen Feldgehölzen und in Parkanlagen, wo auf unseren Beobachtungsgängen und Ständen der Igel uns Blicke thun liess in seinen Wandel, sem Wesen und Familienleben? Wir belauschen das Thier an einem Augustabende am Rande eines Hages. Ein Rascheln auf dem Laubboden lenkt unser spähendes Auge nach jenem aufgeschichteten Heckenreisig im Gebüsche. Dort regt es sich an mehreren Stellen und deutlich tritt zunächst ein alter Igel in den Abend- sonnenschein. Die Nase gesenkt und nach allen Richtungen hin Blätter, Wurzelausschläge, bemooste Steine und Vertiefungen beschnüffelnd, rückt er dem zwischen Bosquetpartieen sich hinschlängelnden Wege näher. Da gewahrt er eine Maus. Wie eine Bildsäule steht er stille, mit gespanntem (rehöre und haftendem Blicke, bis die Beute nur noch einen halben Meter von ihm entfernt ist. Dann springt er, rascher zufahrend, als das seither beobachtete täppische Auftreten vermuthen lässt, der im Zickzack aus- weichenden Maus behende nach und hält im nächsten Augenblicke den quiekenden Nager zwischen den Zähnen. Nun raschelt es lebhafter im Laube und auf einen leisen Murkston der Igelmutter kommen hintendrem fünf halbwüchsige Igelchen, von denen die beiden Vordersten sich über die ent- 284 Insektenfresser. Insectivora. gegengebrachte Beute hastig, aber keineswegs friedlos herstürzen. Während diese die Maus zerreissen, mischen sich die drei nachkommenden Geschwister unter die Schmausenden. Unterdessen hat sich, von sichtlicher Unruhe ge- trieben, die Igelmutter wieder nach dem Platze hegeben, wo sie soeben die Maus gefangen. Das Rüsselscheibcehen ist emsig thätig und wühlt jetzt im Laube am Rande des’ Weges; unter der Beihilfe der scharfnageligen, gra- benden Füsse hebt sich die Erde und jetzt erfolgt ein zufahrender Ruck des Vorderleibes und dann wird das Quieken einer Maus hörbar. Wirklich eine zweite Maus hängt zwischen dem Gebisse des Räubers und ist zu Tage gefördert. Das Verkriechen im seichten unterirdischen Gange hat ihr nicht geholfen; der aufmerksame Igel hatte sie beim Fange ihrer Gefährtin be- merkt, und darum trieb ihn der Eifer sogleich zur Fortsetzung der Jagd. Diesmal wird die Maus von den gleichzeitig der Mutter entgegenkommenden Jungen verzehrt. Da knackt unter unseren Füssen ein dürres Reis, und wie ein elektrischer Schlag durchzuckt es die Panzermuskeln der Igelfamilie, und da liegen sechs zusammengerollte Kugeln vor uns. Noch weichen wir nicht vom Platze und stehen regungslos. Nach wenigen Minuten entrollt die Alte ihren Stachelmantel, und vertraut folgen ihrem Beispiele die Kleinen, die erst seit Kurzem befähigt sind, den Mantel über die verletzbaren Kör- pertheile zu ziehen, der Familienwohnung zutrippelnd. Hier wurden indessen die Jungen nicht zur Welt gebracht. Ihre Geburtsstätte war ein seit Jahren unterhöhlter Hügel, ungefähr hundert Schritte von dieser Wohnung entfernt, mitten im Gestrüppe, Gestein und Genist. Dort hatten wir die tagalten Kleinen entdeckt. Beim Untersuchen der Wohnung hörten wir die ängstlich besorgte Mutter ein trommelartiges Knurren ausstossen, ähnlich wie es der Dachs hören lässt. Die nackten Jungen mit verschlossenen Ohren und Augen konnten kaum 7 Ctm. lang sein, und die in weichzelliger, dehnbarer Hautlage steckenden weissen Stacheln waren eben im Durchbrechen. Das Nest, welches äusserlich aus einer festeren Laub- und Moosschicht bestand, war inwendig mit femeren Gras-, Genist- und Moosstoffen ausgelegt. Wir griffen zur Schonung der Jungen sehr behutsam in das Familienheiligthum ein und entfernten uns alsbald wieder, nachdem wir die äussere Ordnung hergestellt hatten. Nach einigen Tagen sahen wir zum zweiten Male nach den Igeln und fanden die Stacheln derselben schon ziemlich weit der Haut entwachsen. Acht Tage später zeigte sich uns das Nest leer. Nach längerem Suchen fanden wir die ganze Familie hier in neu errichtetem, aber sehr lose und nach- lässig geformtem Nachtlager. Die besorgte Alte hatte ihre Jungen in Sicher- heit gebracht, unzweifelhaft im Maule hierhergeschleppt. Sehr rührig war die Pflegerin, die mehrere Wochen alten Kleinen mit von aussen zugetragener Nahrung zu versehen, obgleich ihnen das Gesäuge noch lange nicht entzogen wurde. Hier wurde Puppe, Käfer, Schnecke und Wurm erbeutet, dort nach Insektenfresser. Insectivora. 285 Engerlingen und Mäusen gewühlt, dort endlich Grille, Heuschrecke, Eidechse und eime Blindschleiche gefangen. Bei allen diesen Unternehmungen offen- bart sich ein scharfer Geruch- und Gehörsinn. Unter treuer Mühewaltung, Pflege und Anleitung bis zum Herbste gelangen die jungen Igel zur voll- kommenen Selbstständigkeit und gehen nun getrennt ihre Wege. Nimmt man im Verhältniss von Alt und Jung und im geschwisterlichen Verbande nur Friedfertigkeit wahr, so findet man ein rühmliches Gegenstück auch im Verhältniss der beiden Geschlechter zu einander, zur Zeit der Werbung und Paarung. Zwar legt der Regel nach jedes stachelbewehrte Individium der Igelsippschaft sein eigenes Nest an, aber es sind Fälle be- obachtet worden, dass das Paar ein und dieselbe Wohnung in Zärtlichkeit theilte. Immer aber kommen Beide, wenn sie auch getrennt wohnen, häufig an stillen Plätzen auf nächtlichen, wie auch auf Tagausgängen zusammen. Hartnäckige, erbosteRaufhändel und schneidigeLiebesduelle zwischen borstigen Nebenbuhlern haben wir niemals gesehen, wohl aber stundenlanges Jagen bei den Paaren wahrgenommen, wobei ein förmliches Grunzen häufig hörbar wurde. Bei der Begattung legt sich das Weibchen, ähnlich wie das des Bibers, auf den Rücken. Oft findet man Weibchen, welche den Sommer über, umgeben von Männchen, ohne Nachkommenschaft bleiben; sie sind einjährige Igel, welche, noch nicht fortpflanzungsfähig, in Abgeschiedenheit und Abneigung gegen Geselligkeit ihren Haushalt eingerichtet haben und beim Begegnen von Ihresgleichen so fremd erscheinen, wie Nachbarn in grossen Städten, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, dass sie neben einander, vielleicht unter emem Dache wohnen. In gewissen Jahren treten die Igel viel zahlreicher auf, als in andern. Wesentlichen Einfluss auf ihr Gedeihen hat der Charakter des Winters, zumal des Spätherbstes. Treten strenge Nachtfröste bei vorausgegangener Nässe frühzeitig ein, so sterben die jungen Igel in grosser Anzahl. An einem Octobermorgen fanden wir nach scharfem Nachtfroste auf dem Wege zwischen emem Bach und dem von ihm gespeisten Teich sechs junge Igel an den Bosqueträndern starr hingestreckt. Diese Thiere sind gegen Kälte ausserordent- lich empfindlich. Wohl ihnen darum, wenn sie zeitig als gutgenährte, fett- strotzende Schläfer sich winterlich einrichten! Zu diesem Zweck tragen sie Laub, Moos, Heu und Stroh in Menge ihren geschützten Schlupfwinkeln zu und geben diese Stoffe im Innern eine sorgfältige Polsterwandung. Nach Lenz wälzt sich der Igel und spiesst die Stoffe massenhaft an seine Stacheln, um dann beladen der Wohnung zuzuwandeln. Wie entledigt sich das Thier aber nun des von seinen Stacheln aufgespiessten Laubes? Darüber gibt Lenz keine Auskunft. Es ist zu vermuthen, dass dies durch Abstreifen am Gestrüppe und Gezweige der Hecken und Gebüsche unweit der Igel- wohnung geschieht. Hier hält er einen tiefen Winterschlaf, aus welchen ihn 286 Insektenfresser. Insectivora. erst die Märzluft weckt. Übrigens erwacht er zuweilen, bei gelindem Wetter, auch im Wintermonaten. Nirgends findet man indessen diese Angabe in den naturgeschichtlichen Werken; selbst in den besten und neuesten fehlt diese Beobachtung. Mitten im Januar haben wir die Spur eines Igels, welcher in dem Nothbau emes Dachses tief unter einer verzweigten Baumwurzel sein Winternest angelest hatte, von der Röhre aus in eme Wiese und an den das Thal durchfliessenden Bach verfolgt. Hin und zurück gingen so viele Spuren, dass ein breites Pfädchen getreten war und uns anfänglich die Vermuthung nahe lag, es habe hier ein Iltis seinen regelmässigen Ausgang. Ein Durchschlag vor dem vorliegenden Dächsel förderte den zusammengerollten Igel sammt dem Neste zu Tage. Trotz einer langsam schmelzenden Schneedecke herrschte damals eine ungewöhnlich milde Witterung anhaltend vierzehn Tage lang. Dieses eine Beispiel lässt den allgemeinen Schluss zu, dass der Igel, wenn auch in einen wirklichen Winterschlaf vertieft, doch vom Witterungsemfluss zum zeitweisen Erwachen und nächtlichen Ausgang veranlasst wird. Wenn dies in der Nähe des am nordwestlichen Abhang des Vogelsberges gelegenen Alsfeld sich ereignet hat, wie vielmehr lassen sich ähnliche Erscheinungen in milder gelegenen Gegenden der Ebene erwarten! Des Mäuse- und Rattenfanges wegen suchen Hausbesitzer Igel einzu- fangen und setzen sie m Keller und Kammern. Möglich, dass das nächtliche Gepolter, welches das Thier im Hause verursacht, zur Entstehung mancher Spukgeschichte Anlass gab. Einen Weinrausch bringst man dem Igel als Mittel der Zähmung hier zu Lande nicht bei, wie dies denen empfohlen wird, welche mit ihm in ein intimes Verhältniss treten wollen. Es bleibt bei der Einkerkerung, wo ihm keine Nahrung gereicht wird, er vielmehr zu dem ewigen Kampf mit den nagenden Plagegeistern verurtheilt ist. Natürlich stirbt er hier Hungers, wenn er nicht zu seinem Glück emen Ausweg im’s Freie finde. Zum Maus- und Rattenfange im Hause ist eine Hauskatze ungleich mehr werth, als der langsamere Igel, und man sollte dem Harmlosen die Freiheit lassen, statt kurzsichtig und grausam ihn in der Einkerkerung verschmachten zu lassen. Im Freien ist der Schauplatz seiner immerhin mässig nutzbringenden Thaten. Gefrässig von Natur, zieht er Fleischnahrung der übrigens nicht unbeliebten Obstnahrung entschieden vor, und dies treibt ihn auch ebenso zur Jagd auf Kerbthiere, Schnecken, Würmer und Mäuse, als zum gelegentlichen Raube von erdständigen Vogel- nestern und kleineren jungen und unbehülflichen Vögeln an. Zur Bewältigung selbst gefährlicher, boshafter Thiere betritt er aber doch als wahrhaft ritter- licher Streiter den Kampfplatz. Dies beweist seine Jagd auf die ihm liebste Beute, die Kreuzotter, deren Gift ihm merkwürdiger Weise nicht schadet, wenn ihm auch wüthende Bisse in die Lippen und die Zunge beigebracht werden. Insektenfresser. ° Insectivora. 287 Die glänzenden Siege, welche der Igel in den Kisten des Naturforschers Lenz im Kriege mit Hamstern und Kreuzottern erfochten hat, machen ihn würdig, dass man ihm, statt ihm mit dem Stock mordend in die Weichtheile zu stossen oder ihn, in Lehm gewickelt, am Bratspiess des Zigeuners über ein höllisches Heidenfeuer zu halten, den Lorbeer auf seine Stacheln steckt und ihn mit heiler Haut überall seine harmlosen Wege gehen lässt. Hören wir aber, da uns hierin die eigene Beobachtung abgeht, wie sich der Tapfere nach Lenz rühmenswerth im Kampfe mit der wohlbe- waffneten Otter benahm. „Am 30. August,“ sagt Lenz, „liess ich eine grosse Kreuzotter in die Kiste des Igels, während er ruhig seine Jungen säugte. Ich hatte mich im Voraus davon überzeugt, dass diese Otter an Gift keinen Mangel litt, da sie zwei Tage vorher eine Maus sehr schnell getödtet hatte. Der Igel roch sie sehr bald, erhob sich von seinem Lager, tappte behutsam bei ihr herum, beroch sie, weil sie ausgestreckt dalag, vom Schwanze bis zum Kopfe und beschnupperte vorzüglich den Rachen. Sie begann zu zischen und biss ihn mehrmals in die Schnauze und in die Lippen. Ihrer Ohnmacht spottend, leckte er sich, ohne zu weichen, behaglich die Wunden und bekam dabei einen derben Biss in die herausgestreckte Zunge. Ohne sich beirren zu lassen, fuhr er fort, das wüthende und immer wieder beissende Thier zu besehnuppern, berührte sie auch öfters mit der Zunge, ober ohne anzubeissen. Endlich packte er schnell ihren Kopf, zermalmte ihn, trotz ihres Sträubens, sammt Giftzähnen und Giftdrüsen zwischen seinen Zähnen und frass dann ruhig weiter bis zur Mitte des Leibes.“ Von einer andern Otter erhielt derselbe Igel zehn Bisse m die Schnauze. Dennoch wich er nicht und besiegte die Wüthende. „Seitdem“, so berichtet Lenz weiter, „hat der Igel oftmals mit demselben Erfolge gekämpft, und dabei zeigte es sich, dass er den Kopf jedesmal zuerst zermalmte, während er dies bei giftlosen Schlangen ganz und gar nicht berücksichtigte.“ Familie Mulle oder Würfe. Talpina. Die Glieder dieser Familie haben eine so eigenthümliche Gestaltung, dass sie mit anderen Thieren nicht verwechselt werden können. Sie ver- breiten sich über ganz Europa, grösstentheils über Asien, das südliche Afrika und Nordamerika. Der walzige, fast formlose, Körper ist mit glänzendem, dichtem Pelze bedeckt, ihre Gliedmassen sind auffallend kurz, an den Vor- derfüssen mit sehr kräftigen Krallen versehen. Als vollkommene Erdthiere meiden sie das Licht; ihre Augen sind sehr klein und verkümmert, bevor- zugt erweist sich aber der ausserordentlich scharfe Witterungssinn, der sein Organ in einer langen rüsselförmigen Schnauze hat, und das ebenso feine Gehör, dessen Organe sehr klein und im Pelze versteckt sind. Die ganze Stärke des Körpers concentrirt sich im Vorderbau desselben, dessen Brust- 288 Insektenfresser. Insectivora. gerippe mit dem auffallenden Brustbein seines Gleichen in der Säugethier- welt sucht. Das schmale Schulterblatt zeigt sich unverhältnissmässig lang, das Schlüsselbein ebenso lang, während der breite Oberarmknochen mit dem kurzen, derben Unterarm den Gegensatz bildet zu den langen oberen Gliedern. Diesem colossalen Vorderskelet gemäss ist die an dasselbe sich anschliessende Muskulatur, wodurch sich sozusagen eine lebendige Grab- maschine herstellt. Alle Mitglieder der Familie durchgraben deshalb die Erde in Gängen und werfen Erdhaufen auf, woher ihr Name. Verschiedene Arten fertigen planmässig verzweigte Baue. Nur in diesen vermögen sie sich — wie bei ihrem Grabgeschäft — mit Fertigkeit zu bewegen, an der Oberfläche dagegen nicht sonderlich schnell. Ihre ungeheure Gefrässigkeit treibt sie zu fast unausgesetzter, keinen Winterschlaf zulassender Thätigkeit, die sich in ökonomisch nützlicher Weise bewährt. Sie erweisen sich im Nothfalle in Anbetracht der ungeheuren Schaufelkraft ihrer Vorderfüsse als gute, dauerhafte Schwimmer. Die Stimme ist auf quiekende und zischende Laute beschränkt. Ihre geistige Entwickelung steht auf keiner so niederen Stufe, als man gewöhnlich annimmt; aber ihre Gefrässigkeit und ihr Tem- perament lassen vorzugsweise nur die widerlichen Charakterausprägungen von Zanksucht, Bissigkeit, Wuth, Raubsucht und Grausamkeit zum Vorschein kommen. Die Fruchtbarkeit ist eine mittlere. Unter den wenige Arten zählenden Sippen haben wir es mit derjenigen der Maulwürfe, Talpae, zu thun, deren Kennzeichen der Hauptrepräsen- tant der Sippe, unser gemeiner Maulwurf, in sich vereinigt. Der Maulwurf. Talpa europaea. Da hängen die armen Maulwürfe in den Drahtschlingen an den aufge- schnellten Stöcken auf den Wiesen, eine prahlerische Schau dem spazierenden Gemeinderathe, auf dessen Geheiss die Flurschützen und Maulwurfsfänger besoldet werden ob der Vertilgung des Erdwühlers mit diesen und andern Fallen! Da hängen die Erdrosselten zum Hohn der Wissenschaft und der Erfahrung, die nun schon seit Jahrzehnten mit sprechendem Zeugniss in Schrift und Wort dem Publicum das verfolgte 'Thier gegen die Unwissen- heit,. Kurzsichtigkeit und die Vorurtheile vergeblich in Schutz nimmt. Aber man verschliesst in Ungläubigkeit sein Ohr den eindringlichsten Vorstellungen, welche den nützlichen Maulwurf aus dem Bann rücksichtsloser Verfolgung zu befreien bestrebt sind. Anstatt für das Geld der besoldeten Vertilger der Maulwürfe Wieseneggen anzuschaffen und in Gebrauch zu setzen, wie England mit dem besten Erfolge und in richtiger Erkenntniss des Nutzen bringenden Thieres nun schon längere Zeit thut, um damit die Maulwurfs- haufen auf den Wiesenflächen auszubreiten und mit dieser anerkannt lockeren und fruchtbaren Erde zu düngen: verschliesst man sich in einer schwer zu begreifenden Zähigkeit gegen eine vernünftige, landwirthschaftliche Cultur- ZEN RN 9 IE, Der Maulwurf. a RR Insektenfresser. Insectivora. 289 massregel, fängt den Maulwurf nach wie vor, lässt aber die Hügel in altem Schlendrian und empörender Gleichgültigkeit unausgebreitet den Wieswachs empfindlich beeinträchtigen. Man versündigt sich so an einem 'Thiere, das die der Landwirthschaft schädlichsten Kerfe rastlos im Dienste der Mensch- heit vertilst, um sodann auch noch eime Unterlassungssünde dadurch zu begehen, dass man sich nicht einmal bequemt, die Wiesen zu verebnen. Kein Wunder, dass vielfach tauben Ohren gepredigt wird! ‚Wenn immer noch theilweise Vorstände von Gemeinden sich der Belehrung und besseren Einsicht verschliessen und nach wie vor dem Wohlthäter des Landwirthes, dem unablässig zu seinem Vortheil in der Erde schaffenden Maulwurfe Ver- folgung und Tod bereiten, was kann da von der urtheilslosen Menge er- wartet werden ? Haben wir doch schon selbst Lehrer mit der Hacke auf ihre Wiesen und Acker wandern und daselbst sich auf die Lauer stellen sehen, um den Maulwurf bei seinem Wühlgeschäfte aus der Erde zu hacken und zu tödten! Das mögen im Ganzen Ausnahmen sein; allein diese einzelnen Vorkomm- nisse lassen den Schluss zu, dass es mit der Aufklärung über die heimischen Thiere und sogar über die verbreitetsten noch sehr schlimm beschaffen ist. Es lässt sich ja nicht leugnen, dass die zur Zeit des Sommers in den Wiesen aufgeworfenen Maulwurfshügel, die man wegen des vorgeschrittenen Graswachsthums nicht mehr ohne Benachtheiligung des letzteren zu ebenen vermag, für die Sense des Mähers ein sehr unangenehmes Hinderniss sind, aber dieser immerhin empfindlich berührende Umstand berechtigt doch den Wiesenbesitzer nicht, um solchen Nachtheils willen der unberechenbar grossen Dienstleistungen uneingedenk zu sein, die diesem Erdthier die Landeultur verdankt. Es verlässt auch erfahrungsmässig die Strecke Landes, woselbst es unter den Erdkerfen und Würmern aufgeräumt hat und Nahrungsmangel eintritt, um sogleich einem anderen Jagdreviere sich zuzuwenden. Wendet man also zur rechten Zeit die Wiesenesge auf den vom Maulwurf heimge- suchten Strecken der Wiesen an, so wird man über Unebenheiten beim Mähen nicht viel zu klagen haben. Ein unablässiger Mahnruf der Thierkundigen an die öffentlichen Organe, an die Staatsbehörden und die gesetzgebenden Kammern ist nothwendig, damit die Regierungen den Schutz der anerkannt nützlichen Thiere endlich entschiedener als seither in die Hand nehmen! Wir üben nur eine längst erkannte freudige Pflicht, über das verkannte Thier in seiner Unscheinbar- keit, aber mit der gleichwohl ausserordentlichen Bethätigung in seinem Lebenslaufe wiederholt Zeugniss abzulegen. Der Maulwurf ist ein vollkommenes Erdthier; das zeigt sich in seiner ganzen körperlichen Bildung. Bevor wir semen merkwürdigen Wandel unter dem Boden schildern, wollen wir die Gestalt und Einrichtung seines Körpers einer eingehenden Betrachtung unterwerfen. A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 19 290 : Insektenfresser. Insectivora. Nehmen wir von einem der gleichsam zur Schau gestellten Galgen in den Wiesengründen einen gefangenen Maulwurf. Der Getödtete nützt denn doch noch zur Untersuchung, und dieses hebt das Unberechtiste und Grausame seines Wegfanges wieder theilweise auf, indem sie uns Kenntniss seines Körpers und dieser Aufklärung über seine Verrichtungen im Leben verschafft. Fürwahr! Der äussere Anblick des Thieres ist kein einladender, vielmehr ein abschreckender. Ausgenommen sein sammtweicher, schön schwarzglänzender Pelz, berührt unser Auge nichts Angenehmes. Der ganze Leib ist missgestaltet, plump, formlos. Kaum ist em Übergang von Hals zwischen Rumpf und Kopf zu bemerken, sowie denn die kurzen Beine scheinbar ohne Gelenke von dem plattkegelförmigen unmodulirten Leibe abstehen. Aber wohl sind diese Körperformen einer näheren Untersuchung werth. Zuerst das mächtig aufgebaute Vordertheil. Der ohnedies schon zugespitzte kegelförmige Kopf verlängert sich noch zu einer Rüsselschnauze. Diese wird von einer Knochenverlängerung des Nasenbeines oder eimem sogenannten Vornasenbein unterstützt und gefestigt, sodass dieselbe wie ein Bohrer beim Durchwühlen der Erde sich einsticht. Als ein starker Ver- mittler dieser zugespitzten Kopftheile und dem sogleich zu beschreibenden mächtigen Brustkörper tritt der kurze, dicke mit mehreren verwachsenen derben Wirbeln versehene Hals auf. Wie bei allen Grabthieren findet sich auch an dem Maulwurfe das Schlüsselbein ausserordentlich stark und breit ausgebildet. Daneben fällt das ohnedies schon derb angelegte Brustbein durch einen merkwürdigen kantigen Aufsatz, dem Kamme, in die Augen. Es erinnert diese Bildung des Brustskelets lebhaft an dasjenige des Vogel- leibes. Wie der Kiel oder Kamm bei dem Vogel eine breite Anheftungs- fläche der starken Muskulatur der Flügel bietet, so schliessen sich die kräftig entwickelten Muskeln des Vordertheils beim Maulwurf an die Seiten- flächen des Kammes an. Als ein ganz analoges drittes Gebilde treten die zwei bedeutenden Schulterblätter zu den beiden erwähnten Körpertheilen hinzu mit ihrer unverhältnissmässigen Länge gegen die kurzen Oberglieder der im Leibe versteckten Beine. An deren unteren Gliedmassen fallen die schaufelförmigen Riesenpfoten auf, welche seitwärts des Leibes abstehen und nach aussen gerichtet sind. Durch diese eigenthümliche Bauart richtet sich das verhältnissmässig ungeheure Vordertheil auf, gegen welches der hintere Theil des Körpers wie verkümmert absticht. Dies wird von den schlankeren, mehr ebenmässig geformten Hinterbeinen getragen, deren Zehen mit mässigen Nägeln versehen sind und womit das Thier auch gerade oder senkrecht auf die Sohlen tritt. Das Gegentheil bilden die fünfzehigen handförmigen Vorderpfoten. Neben ihrer seitlichen und nach aussen gerichteten Stellung sind ihre Zehen auffällig, von welchen die mittlere, längste freisteht, die beiden äusseren Paare aber mit Spannhäuten unter einander verbunden sind. Die verkommenen Augen liegen als fast mikroskopische Pünktchen in den Insektenfresser. Insectivora. 291 Kopfhaaren versteckt, können aber durch einen höchst merkwürdigen Muskel vorgeschoben werden. Eine ebenso interessante Einrichtung hat der Gehör- gang. Ihm mangeln die Ohrmuscheln, er kann jedoch von den im Pelze verborgenen Ohrenrändern verschlossen werden. Wie Alles an dem nur 12—14 cm langen Erdbewohner mit dem Stummelschwänzchen einer näheren Betrachtung würdig und durch diese erst unser Interesse in hohem Grade erregt, so auch die bemerkenswerthe Bildung und Stellung des Pelzes. Das Mikroskop zeigt uns das einzelne Haar desselben an der Wurzel dünn, gegen die Mitte dicker werdend und nach der Spitze zu wieder sich verjüngend. Diese Gestaltung sowie die Stellung der kurzen schwarzbläulichen oder schwarz- bräunlichen Haare verursachen emmal den schillernden Metall-Glanz, für's Andere die geschmeidige Eigenschaft des Pelzes, nach jeder Richtung dem Drucke oder Striche nachzugeben, also in keinem eigentlichen Strich zu stehen. Die Eigenschaft der Haare bewirkt, dass sich keine Erde und keine Feuchtigkeit zwischen den Pelz und auf die Haut setzen kann. Der Maul- wurf sieht in Folge dessen stets glatt, rein und glänzend aus, so viel er auch in den verschiedensten Erdarten herumwühlen mag. Mit einem so gestalteten Knochenbau, solchen Gliedmassen und so eigenthümlicher Körpergestaltung ausgestattet, entfaltet sich aus dem an- fänglich nur oberflächlich betrachteten unförmlichen Körperklumpen bei näherer Betrachtung und Untersuchung ein Thier, wie geschaffen zum Durch- wühlen und Unterhöhlen des Erdreich, Wir nannten andern Orts den Maulwurf eine lebendige Wühllocomotive. Und als eine solche bethätigt sich denn auch das merkwürdige Wesen. Unser Maulwurf ist sozusagen fast ausschliesslich auf ein unterirdisches Leben angewiesen. Sein Erscheinen an der Oberwelt beschränkt sich nur auf kurze Zeit, ist beinahe zufällig und geschieht meist nur bei Nacht in der eifrigen Jagd nach Regenwürmern und Kerfen, wenn sich dieselben aus ihren Gängen an die Erdoberfläche begeben. Wie seine Gestaltung und körperliche Bildung merkwürdig, so sind seine Lebensbethätigungen, sowie das Kunstwerk, das sein Fleiss und seine ungemeine körperliche Stärke und Ausdauer gründen, erstaunlich und in hohem Grade fesselnd. Wir müssen seine Heimath, das Erdreich, aufdecken, um die erstaun- liche Arbeit des ‚herkulischen Thieres in der Zwerggestalt ihrem ganzen Umfange und ihrer Einhelligkeit nach kennen zu lernen. Da dringen wir denn zuerst in die Tiefe, worin das Allerheiligste des Maulwurfs sich be- findet, seme Burg. Den Mittelpunkt derselben bildet eine kegelförmige, S—10 em weite Vertiefung, eine Kammer, worin sich das Lager befindet. Den Kessel umgibt m einem Umkreis von 20—25 em eine runde Galerie, ein Gang auf gleicher Höhe mit dem Kessel. Über dieser Galerie befindet sich gleichlaufend mit derselben eine zweite kleinere, in welche von der 19 292 Insektenfresser. Insectivora. unteren meist drei Gänge in schräger Richtung münden, während aus der oberen Galerie zwischen den drei angeführten Gängen fünf und mehr in die untere f£ R N R fX 2 NR Null) j) Perspeetivischer Aufriss einer Maulwurfsburg. Die hell gehaltenen Partien bedeuten die fünf Gänge von einer Galerie in die andere, die dunkleren die drei Gänge aus der oberen Galerie in den Thurm oder Kessel. Galerie führen. Der Baumeister kann also in,seinen Kessel nur dadurch, dass er zuerst aus der unteren Galerie durch eine der schrägen Röhren in \ Insektenfresser. Insectivora. 295 die obere steigt und von dieser durch die nach unten laufenden Röhren in's Innere gelangt. Aber der auf seine Sicherheit bedachte Gnome hat sich auch gleichsam noch eine Hinterthüre in einem geheimen Ausgange offen gelassen, für den Fall ihm von oben Gefahr drohe. Sobald er sich fallen lässt aus seiner Kammer, nimmt ihn eine darunter befindliche Röhre auf, welche nach unten führt, um sodann allmälig bogenförmig wieder etwas nach oben in einen breiten Gang einzumünden, welcher nichts anderes ist, als die gangbarste Strasse zu seiner Burg, der sogenannte Laufgraben. Noch aber hat der Künstler seinem Sicherheitsgefühle in der Anlage von Schlupfgängen bei drohender Gefahr eine weitere Concession gemacht, indem er aus der unteren Galerie zwischen den von den oberen herabführenden Gängen mehr als ein halbes Dutzend Noth- und Fluchtröhren in wagerechter, strah- lenförmiger Richtung gräbt, welche aber alle in einer gewissen Entfernung zum Laufgraben einbiegen. Der Letztere, aufgedeckt, zeigt eine Röhre von 8 cm. Durchmesser an seiner breiteren Seite, denn er ist plattförmig. Seine Wände sind sehr glatt und zeugen von dem unausgesetzten Besuche des Burgherrn. Die Röhre verlängert sich eine geraume Strecke von der Burg ab, bis sie sich in die flacheren Gänge des eigentlichen Jagdgebiets des Maulwurfs verzweigt. Dieses Jagdrevier erstreckt sich bisweilen über eine !/ı Hectar hal- tende Fläche im Umkreise. Hier ist nun der Tummelplatz, das Feld für die eigenste Bethätigung des Thieres. Rastlos führt den Maulwurf sein aus- gezeichneter Spürsinn neben seinem femen Tastwerkzeuge, dem Rüssel, nach allen Richtungen an die Lagerstätten der Kerflarven und Regenwürmer, seiner Lieblingsnahrung. Mit dem Rüssel wie mit einer Schraube in das Erdreich sich bohrend, helfen die scharfen Schaufeln seiner ungeheueren Pfoten das wuchtige Vordertheil mit dem leichten Hintertheile fortwühlen, einem Schraubendampfer im Wasser nicht unähnlich. So folgt dieses be- wegliche Wühlthier allen Gängen der Kerfe und Würmer bald in die Tiefe, bald im die Höhe, kreuz und quer.. Es ist begreiflich, dass dem Wühlen- den die theilweise rückwärts geschaufelte, theilweise mit dem Körper an die Wandungen allerseits angepresste Erde ein Hinderniss bildet für den be- quemen Lauf m den Gängen seines Jagdgebietes. Deswegen stösst er von Streeke zu Strecke die bekannten Erdhügel empor, nichts anderes als das Riesenwerk des unbändigen Vordertheils, das den locker durchwühlten Erd- schutt in den Röhren emporschafft. Man denke sich nur die oft nasse oder feuchte, das Vielfache des Körpergewichts übersteigende Erdmasse über dem Zwerge und die Wucht und Entschiedenheit, mit welcher der im Dunkeln Schaffende die oft 15—20 cm. hohen Hügel aufwirft! Mit dieser Riesenkraft im Einklange steht die Ausdauer und Schnellig- keit des Maulwurfs unter der Erde. Auf dem platten Boden über dem Erdreich kommt er schlecht vorwärts; aber wie anders unter der Erde! ' Sollte man es meinen: er wühlt sich durch lockeres, leichtes Erdreich, z. B, 294 Insektenfresser. Insectivora. durch Sandboden, beinahe mit der Geschwindigkeit eines langsam schwim- menden Fisches; sein Lauf, womit er die Laufröhren bei Schreck durch- flieht, kommt dem Trabe eines Pferdes gleich, Man hat durch eine sinn- reiche Vorrichtung die Bewegung des Maulwurfs in seinen Gängen gemessen, indem in bestimmten Abschnitten mit Fähnchen versehene Strohhalme in den genau vorher entdeckten Laufgraben gesteckt wurden, worauf man durch Trompetenstösse in die Röhren den Maulwurf aus seinem Jagdge- biete durch den -Laufgraben in die Burg scheuchte und an den von dem flüchtenden Thiere umgestossenen Fähnchen die Schnelligkeit seiner Fort- bewegung der Zeit und dem Raume nach genau ermittelte. Die Nahrung des Maulwurfs besteht einzig und allein aus thierischen Stoffen, niemals aus pflanzlichen. Gründliche, zahlreiche Versuche mit ge- fangen gehaltenen Thieren haben das auf das Sprechendste dargethan. Wie angedeutet, bilden Regenwürmer und Engerlinge seine Lieblingsspeise. Ausserdem verzehrt er alle möglichen Kerfe und Weichthiere, sowie er denn alles Lebende, das ihm an zu Bewältigendem in seinem Bereiche auf- stösst, ohne Weiteres angreift. Frösche, Eidechsen, Schlangen und Mäuse überfällt er in und über der Erde und zerfleischt sie mit seinem Zackengebiss. Eine ungeheuere Fressgier treibt das Thier zu ewiger Jagd unter der Erde an, so dass es täglich zu seimer Sättigung eme Masse braucht, die so ziem- lich seinem Körpergewichte an Schwere gleich kommt. Man denke sich die Menge Regenwürmer und Engerlinge, welche der ungemein bewegliche und ausdauernde Nimmersatt täglich verschlingt! Wir lassen hier Beispiele sprechen, führen Zahlen auf, die bekanntlich beweisen. In unserer Mono- graphie über schädliche und nützliche Säugethiere und Vögel haben wir folgende Versuche zusammengestellt: „Nach Weber im Zürich frassen 2 Maulwürfe in 9 Tagen 841 Engerlinge, 195 Regenwürmer, 25 Raupen und 1 lebende Maus mit Haut, Haaren und Knochen, also in einem Tage zu- sammen durchschnittlich 53 Engerlinge, Regenwürmer und Raupen, die Be- standtheile der Maus nicht mit gerechiiet. Nach Lenz frass ein Maul- wurf u. a. in 24 Stunden zuerst eine grosse Blindschleiche bis auf den Kopf, die Rückenwirbel, den Schwanz und einige Hautstücke, sodann die Weich- theile einer Gartenschnecke, drei Schmetterlingspuppen und zuletzt noch eine Ringelnatter bis auf den Kopf, Schwanz und das Rückenskelet. Über- einstimmend hiermit sind die von Dr. Neuffer, Secretair des landwirth- schaftlichen Vereines in Esslingen (Württemberg), im illustrirten Monatshefte für Obst- und Weinbau mitgetheilten Versuche über in Kisten gehaltene Maulwürfe, nach welchen ein einziger Maulwurf in der ersten Nacht 47 Stück Engerlinge, im 24 Stunden durchschnittlich 60 — 70 Stück verzehrtee Man beobachtete 6 Maulwürfe, die man in eine grosse mit drei Fuss Erde ange- füllte Kiste gethan hatte. Mehrere Pfund Engerlinge und Regenwürmer waren nach Verlauf einiger Stunden von den Maulwürfen aufgefressen, und Insektenfresser. Insectivora. 295 als den Thieren keine Nahrung mehr gereicht wurde, begann ein Jagen und Sichbekämpfen unter denselben, einer biss den andern todt bis auf den Stärksten, der am nächsten Morgen, allein übrig, an Hunger starb. — Bei allen diesen Versuchen muss man aber in Betracht ziehen, dass die gefangenen Thiere in ihren engen Behältern den grossen Theil ihrer Rührigkeit und Arbeit in der Freiheit entbehrten und also auch ihr Körper nicht den Aufwand an Nahrung wie bei ihrem Schanzgeschäft im freien Raume bedurfte. Nach unseren Erfahrungen säubert der Maulwurf 1/s Hectar Wiesen- oder Acker- fläche vollständig von allen Kerfen und Würmern innerhalb vier bis fünf Tagen, unter allen Umständen aber in emer Woche. Sodann sucht er sich vermöge seines scharfen Witterungssinnes sogleich ein anderes Revier zum Jagen. Es hören also in dem verlassenen, vollständig von Larven und Würmern gereinigten Gebiete alle Wühlereien auf. Der ewige Appetit treibt den Jäger in seinem Jagdreviere hin und her, sodass er bei Tage in vier und mehr regelmässigen Zeitabschnitten, Morgens bis gegen 10 Uhr, Mittags um 12 Uhr, Nachmittags gegen 5 Uhr und auch Abends um 7 Uhr seine Rührigkeit bekundet im Aufwerfen von Haufen. Diese Lebendigkeit unterstützt eine ungemeine Verdauungskraft und beide erzeugen stets neue Fresslust, wodurch sich der Nimmersatt kaum ein paar Stunden Ruhe in der Nachmittagszeit gönnt, die er in seinem Kessel schlafend verbringt. Hauptsächlich ist er in der Nacht thätig, und strebt da auch in der hitzigen Kerf- und Würmerjagd über die Erde. Selbst im Winter sehen wir ihn in voller Thätigkeit. Unter der Eis- und der Schneedecke macht er sich sicht- bar durch Gänge und den Aufwurf seiner Hügel. Er ruht nimmer und macht in dieser seiner unausgesetzten Bethätigung von den Vertretern der meisten Sippen unter den Insektenfressern eine Ausnahme, welche Winters mehr oder weniger einem periodischen Schlafe verfallen. Der Rührigkeit des Jagens gesellt sich nun noch die Sorge und das Bedürfniss, die Gänge ' der Burg zeitweilig auszubessern, sowie regelmässig aus den Röhren des Jagdgebiets die gelockerte Erde auszuschaufeln und aufzustossen. So be- währt sich der Wandel des Maulwurfs als ein fast ununterbrochenes Schaffen und Schanzen unter der Erde. „Das Thier“ — sagen wir in unserer oben angeführten Monographie, „wählt im Ganzen mehr fruchtbaren, fetten, feuchten (nicht nassen) Boden, besonders Wiesen und Weiden, Gemüse- und Gartenland; öde Steppen und Striche scheint es zu meiden. Auf trockenen Wiesen, an Rainen wird es besonders häufig angetroffen, und gerade da stecken bekanntlich die Enger- linge. Einige Schriftsteller haben sich zu beweisen bemüht, dass der Maul- wurf gerade solche trockene sandige Striche, in welchen erfährungsmässig die Engerlinge entständen, meide; allein diese Behauptungen entbehren des Thatsächlichen. Das Thier sucht nach unseren vielfältigen Beobachtungen und Untersuchungen gerade die von Engerlingen bevölkerten Strecken ver- 296 Insektenfresser. Insectivora. möge seines untrüglichen Witterungssinnes mit Sicherheit auf, und sollte es sich, wie nicht selten, deshalb auf die Wanderung begeben. Eine solche Wanderung geschieht hauptsächlich des Nachts, auf der er freilich oft den Klauen des Waldkauzes verfällt.“ Auch den unablässigen Minirer im Dunkel der Erde erreicht die Minne und in keinem geringen Grade. Wie er oft grosse Wanderungen zu Land und Wasser seiner Lieblingsnahrung wegen unternimmt, so veranlasst ihn die Drängerin und Treiberin Liebe zum Aufsuchen einer unterirdischen Huldin, welche aber thatsächlich viel seltener ist, als der männliche Be- werber. Zur Frühlingszeit setzt es, der derben ungestümen Natur der Streiter gemäss, oft harte Sträusse unter den männlichen Maulwürfen, die zuweilen blutig und tödlich für den unterliegenden Theil enden. Vom Mai bis in den Vor- sommer hinein legt der Maulwurf seine Familienwohnung in Gestalt eines mit einem Polster von Moos, Blättern, Stroh, Gras und Würzelchen ausge- legten runden Lagers an, und setzt dasselbe durch mehrere Gänge mit seinem Jagdgebiete in Verbindung. Sowie seine Burg ist auch das Lager der Familienwohnung verborgen in einer gewöhnlichen Tiefe von 1a Meter unter dem Schutze von Bäumen, Sträuchern und Mauern errichtet. Im Mai und Juni entstehen in diesem Lager 3—D nackte, blinde und höchst unbehülfliche junge Maulwürfe von der Grösse starker Bohnen. Anfangs nur langsam sich bis zur Halbwüchsigkeit entwickelnd und in der Burg unter der treuen Fürsorge und Pflege der Mutter verweilend, wachsen sie später unter dem Zutragen reichlicher Nahrung von Seiten der Eltern schneller. Gegen den Herbst versuchen sie sich in den ersten Bohr- und Wühlsgeschäften, in welchen sie erst im zweiten Jahre die Meisterschaft erreichen, die sie be- fähigt, statt der erstjährigen flachen Röhrenbereitung in der lockeren Erd- schicht, die Burgen in der Tiefe anzulegen. Ueberschauen wir den ganzen Lebenslauf des Thieres vorurtheilslos nach allen Seiten hin, so müssen wir bestätigen, dass sich dasselbe riesen- mässig in der Jagd nach Kerfen bethätigt und gerade der Vertilgung der den Gewächsen aller Art so schädlichen Maikäferlarven und Regenwürmer ausnehmend obliegt. Diese sichtliche Nutzen bringende Eigenschaft wird viel- fach verkannt, theils aus Unkenntniss, theils im einseitigen Hinblick auf die Beeinträchtigungen seiner Wühlereien gerade in der oberen fruchtbaren Erdschicht der Ackerkrume. Der gerecht und vorurtheilslos Abwägende zieht zwar die zerstörenden Wirkungen im Gefolge der Maulwurfsjagden in Betracht und spricht der Schonung und Hege des Thieres nicht überall das Wort; aber er gibt dem unschätzbaren, im Dienste der Feldwirthschaft unablässig Thätigen überall da freies Geleit, wo seine Wühlereien einmal weniger das Wachsthum beeinträchtigen, zum Andern der fleissige Gutsbe- sitzer diese Beeinträchtigungen durch zeitiges Auseinanderbreiten und Ver- eggen der Gänge und! Hügel vor der emporschiessenden Crescenz wieder auf- Insektenfresser. Insectivora. 297 heben kann. Der Maulwurf wird also im Kunst- und Gemüsegarten oder im Grabland nicht zu dulden sein, während ihm eine humane, umsichtige Thierpflege und Wirthschaft freien Spielraum auf Wiesen, Feldern und im Walde lassen sollte Für Verhütung einer übermässigen Vermehrung der Maulwürfe sorgt die überall ausgleichende Natur. Sie sendet ihre Wasser- fluthen den bedrängten Erdgnomen auf den Fersen nach und sie schickt das Contingent der Tag- und Nacht-Raubvögel, des Fuchses, Wiesels, der Marder, des Iltisses und Igels und besonders des Storches in’s Feld um seine Reihen zu lichten. Gönnen wir also, eben so gerecht als liberal abwägend, dem Unab- lässigen das Feld seiner Thätigkeit in Wiesen, Auen und Feldern! Der Dachs. Meles vulgaris. Wir kommen zu dem volksthümlichen und doch noch mehr durch die Fabel als durch die unmittelbare Beobachtung bekannt gewordenen heimi- schen Thiere, unserem Dachs. Er zählt im System der Thierkunde unter die Raubthiere und erscheint neuerdings unter dem Rahmen derselben in der Familie der wieselartigen Thiere. Sein Gebiss, zwar ziemlich noch die allge- meinen Kennzeichen der Raubthiere tragend, zeigt jedoch m den Höcker und den stumpfen Fleischzähnen bei breitgeformten Mahlzähnen-eme Hin- neigung zur pflanzlichen Nahrung an, was wir in dem Lebenslauf des Thieres auch bestätigt finden werden. Seine Gestaltung sowohl als die An- deutung zu einer rüsselförmigen Schnauze, und noch mehr seine Lebensweise weisen dem Dachs aber entschieden mehr eine Stellung unter den Insekten- fressern an. Er nähert sich den igelartigen Thieren auffallend. Linne stellte ihn und seine Verwandten zu den Bären. Dieser grosse Naturforscher scheint uns naturgemässer verfahren zu sein, als manche neueren Naturkun- digen, welche den schläfrigen, zu Fettansatz geneigten, schwerfälligen ent- schiedenen Insectenfresser zu den Wieseln gruppirt haben. Wir reihen das Thier als ein Übergangsglied von den eigentlichen Raubthieren zu den Insectenfressern an die letzteren an. Lassen wir das todte System und das Thier, sich lebendig in seinem Wandel bethätigend, auf die Schaubühne treten. Die Junisonne tritt eben hinter die waldigen Berge. Ein Dachsbau an einem Hange des Buchengehaues liegt vor uns. In dem Kessel der Tiefe dieses Baues hat eine Dächsin bereits im Februar ihre 3—5 blinde Junge, das Geheck, auf einer Ausfütterung von Moos, Gras, Laub u. dgl. m. ge- bracht, um sie als wärmebedürftige Nachkommenschaft ihrer ebenfalls frosti- sen Eltern schützlich zu betten. Da drunten bot dem Geheck die sorgsame Mutter das Gesäuge das ganze Frühjahr hindurch. Erst die Wärme des Vorsommers trieb die weissgrauen derben T'hhierchen auf den Bau, vor dessen 298 Insektenfresser. Insectivora. Röhren oder Ausgängen der plattgetretene Boden den Tummelplatz ihrer plumpen Spiele zeigt, wo sie sich über einander wälzen in bärenartigen Umarmungen. Gegenwärtig sind die jungen Dächschen nur halbwüchsig und sie folgen allabendlich der Mutter aus dem Bau zur Weide auf Saat- plätze, Waldwiesen, Triften und immer weiter auf’s Feld. Die Abendzeit ist noch nicht herangerückt, in welcher ‘die Alte mit dem Geheek ausgeht, und wir benutzen die Zwischenzeit, dem Leser über die Einrichtung des Dachsbaues, der in der Fabel erwähnten Burg Malepartus, nach unseren vielfältigen Ermittelungen beim Aufdecken so mancher dieser unterirdischen Wohnungen eine kleine Vorlesung zu halten. Als vorherrschender Höhlenbewohner lest der Dachs womöglich regel- mässig an Morgen- und Mittagsseiten heimlicher Waldorte, namentlich in von Waldwiesen, Triften und kleimen Feldstücken durchzogenen Vorhölzern seine oft sehr umfangreichen Baue unter der Erde an. Der ganze Bau be- steht nun aus mehr oder weniger gewundenen zahlreichen Gängen oder köhren, welche Hauptröhren sind, wenn sie unmittelbar in die Tiefe zu einer erweiterten Stelle, den Kessel, führen: hingegen verzweigen sich die Hauptröhren untereinander mittelst Nebenröhren, und dann bestehen noch Luftröhren, welche der Dachs zur Einführung frischer Luft senk- recht von oben in die Tiefe des Baues führt. Sogleich bemerkt der auf- merksame Blick, dass emige Röhren auf dem Baue sehr stark von den In- sassen benutzt werden. Diese geglätteten Eingänge nennt der Waidmann gangbar oder befahren, und wenn vor den Röhren frische Erde bis zu einem oft ein drittel Meter hohen Haufen liest, wie wir es auf dem Baue hier vor uns im Gehaue sehen, so sagt man waidmännisch: Der Dachs hat ausgeführt oder den Bau gereinigt und erweitert. Die Tiefe der Baue, sowie die Anzahl der Röhren ist sehr verschieden und richtet sich nach der Bodenbeschaffenheit und auch nach dem Umstande, ob ein alter oder jüngerer Dachs der Baumeister ist. Gewöhnlich gehen die Röhren bis in eine Tiefe von 1 bis 1,5 Meter, und wir haben Baue in Feldhölzern der Wetterau gekannt, welche aus mehreren Dutzend Ausgängen bestanden, wo- selbst mit der Zeit eine wahre Siedelimg von Dächsen -Bau an Bau reihte, welche fast alle mit einzelnen Röhren durcheinander verbunden waren. Solche umfangreiche Baue werden Hauptbaue genannt zum Unterschiede von Nebenbauen oder Noth- und Fluchtröhren, meistens Anlagen von Jüngeren Dächsen, welche nur wenige Ausgänge, zuweilen nur eine einzige Röhre haben. Die Hauptbaue dienen in der Regel zu Familienwohnungen und zum Winteraufenthalte älterer Dächse, die Nebenbaue aber zum Über- wintern der von den Alten vertriebenen jungen Dächse. An steilen Hängen liegt der Kessel zuweilen 3—-4 Meter tief unter der Erde und ist zur Wurf- zeit die Kinderstube. Der Reinlichkeit liebende Dachs legt neben dem Kessel einen förmlichen Abtritt und zu Zeiten auch eine Vorrathskammer Insektenfresser. Insectivora. 299 an. Auf den erwähnten Ansiedelungen bestanden viele Kesselsysteme, d. h. es wohnten verschiedene Dächse neben einander, welche alle in dem Kessel eines bestimmten Baues abgesondert lebten, deren Röhren sich in einem Umkreis von 50—60 Metern verzweigten. Es ist von Interesse, den Dachs bei seinem Grabgeschäfte zu beobachten, und wir hatten mehrmals das seltene Glück, dem Gnomen bei seiner Kraft und Ausdauer erfordernden Arbeit zuzusehen. Er gräbt die Erde kreuzweis mit seinen stark nägeligen Pfoten, mit welchen er, so lange er noch ober- flächlich arbeitet, die losgekratzte Erde erst mit den Vorder-, sodann mit den Hinterläufen hinter sich schleudert. Mehr in die Tiefe gedrungen mit der Anlage der Röhre, schiebt er mit seinem breiten Hintertheile den ange- häuften Schutt der Röhre rückwärts hinaus. Besondere Mühe und Arbeit verwendet er auf Formgebung und Ausstattung des Kessels. Zur Anlage desselben kommt er beim Graben einer neuen Burg erst nach Wochen. Die durch Graben, Schaufeln und Glätten gehörig ausgeweitete Stelle versieht er im Spätherbste mit einer Auspolsterung von Laub, Moos, Gras und Farrenkräutern, welche Stoffe wir ihn auf die umständlichste und oft possier- lichste Weise in den Bau schaffen sahen. Er bringt auf ebenem Terrain gewöhnlich dieses Material mit den Vorderpfoten unter Bauch und Hinter- läufe, so beladen, rückwärts schreitend nach der ersten Röhre, dreht er sich dann um und schiebt die abgelegten Stoffe mit dem Vordertheile vor sich den Bau bis zum Kessel hinunter. An abhängigem Boden verfährt er an- ders, indem er das vorher zusammengescharrte Laub zwischen die armartig zusammengehaltenen Läufe bringt und damit rücklings nach einer Röhre des Baues rutscht. Das Herbeischaffen der Stoffe, die Auspolsterung des Kessels besorgt der heimliche Waldbewohner in mehreren Nachmittagen, und der so mit einem Schlafpolster versehene Bau ist dann waidmännisch „an && 10 WR Nicht immer indessen hält er sich in den Bauen auf; oft und sehr gerne wählt er Felsengerölle, Steinspalten und Geklüfte und mehr als man seither angenommen ein einfaches Lager in Dickichten, um daselbst, wie in seinen selbst verfertigten Bauen, Tags über zu schlafen und nur Abends in der Dämmerung, gegen den Herbst hin immer später in der Nacht, sem Lager zu verlassen und vor Tag wieder zu demselben zurückzukehren. Nur im Sommer und gegen den Herbst hin verlässt der Dachs manchmal auch am Tage Bau oder Lager. Besonders die Dächsin oder Fäh lässt sich zur Zeit ihrer Jungenpflege im Vorjahre und Sommer öfters bei Tage sehen, bei plötzlichem Begegnen von Mensch oder Thier in der Nähe ihres Baues bolzenförmig den Pelz oder die Schwarte sträubend und brummend auf ihre Begegnung losfahrend. — Ein Gepolter, das eben aus dem Bau im Buchengehau zu uns herüber dringt, verräth uns jetzt bei eintretender Dämmerung, dass die Dächsin in 300 Insektenfresser. Insectivora. einem der Ausgänge den Staub von der Schwarte schüttelt und im Begriff ist auszugehen. Richtig! Da taucht ihr weisser Kopf leise wie die helle Bergkappe eines Gnomen aus einer der befahrenen Röhren — nun ist alles wieder verschwunden. Doch gleich wieder reckt sich’s zum Ausgang heraus — der weisse Dachskopf mit den zwei von der Schnauze durch die Augen laufenden schwarzen Streifen schaut heraus und sichert mit der scharfen Nase und dem Gehöre. Jetzt hebt sich das Vordertheil sachte heraus, und das Thier sichert nach allen Seiten entschiedener. Es ist die alte Dächsm. Das gewahren wir an der gestreckten Gestalt und der weisslichen Grundfär- bung unter den grau, weiss und schwarz melirten Grannen. Im Gegensatz zu dem derberen, gelblichgrau grundirten männlichen Dachs oder Rüden, gibt sich in der Dächsin ein Thier von der Grösse eines starken Spitzpom- mers kund. Diese lockt nun mit einem murksenden Laute Eins um das Andere des Gehecks aus dem Bau herauf. Hier und da taucht ein weisses Blässchen nach dem andern aus den Röhren und erscheint auf der Ober- welt. Schon ist die Alte im Schatten des Gehaues auf einem der stark aus- getretenen Pfädchen oder Steige, welche vom Bau nach verschiedenen Richtungen in das Holz sich verlieren. Jetzt trollt das erste Dächschen der Mutter auf dem Steige nach, einige Minuten darauf bedächtig das zweite, bis in längeren und kürzeren Zwischenräumen das ganze Geheck den Steig entlang nach der Weide passirt. Immer entfernter hören wir das behagliche Schnalzen und den grunzenden Ton der Dahinwandernden. Jeden Augen- blick fesselt das bewegliche Treiben der Familie den Beobachter. Alt und Jung sind ganz dem Ernährungsgeschäft hingegeben. Eben hat die Alte dem herbeikommenden Geheck hier einen reichlichen Fund unter einer Laub- schicht des Bodens aufgedeckt, die sie mit ihrer etwas aufgebogenen mus- kulösen Schnauze gehoben und mit den breiten Vorderpfoten dann umge- wendet hat. Wie fahren die Dächschen nach den blosgelegten Kerflarven, Käfern und Schnecken! Jetzt hat die Fähe einen Engerlings- oder Regen- würmergang entdeckt und stösst die langen Nägel einer ihrer Vorderpfoten in den Gang, mit emer tremulirenden Bewegung des Laufes hier und dort hegenwürmer aus der Erde hervorscheuchend, die im Nu erhascht sind. Nun sticht sie mit den Nägeln trichterförmige Löcher in die Gänge der Larven und Würmer, um blitzschnell einen Engerling oder Wurm hervorzu- langen. Oder sie gräbt tieferen Gängen der Larven mit ihren scharfen Pfoten in die Erde nach, stets Uontrole haltend mit der Nase, mit der sie die Sitze der Larven und Würmer ausspürt. Ebenso seltsam als anziehend ist die Art, wie sie die Beute unter die Kleinen vertheilt. Auf ihren unter die Keulen geschobenen Hintersohlen aufgerichtet, reicht sie mit ihren Pfoten ahwechselnd dem einen und andern ihrer sich zudrängenden Nachkommen- schaft einen Kerf, einen Wurm, eine Nacktschnecke oder einen sonstigen Leckerbissen. Von Zeit zu Zeit schickt sich die scharfwitternde Schnauze Insektenfresser. Insectivora. 301 an, die Schlupfwinkel der Insecten auszumachen, und in ruckweisen Stössen wendet das bewegliche muskulöse Organ hier die leichten Blätter- und Ge- nistschichten, dort einen lockeren Überhang im Rasen um, hier wieder folgt es geschäftig nachziehend dem Gang eines Wiesengräbchens, dort end- lich stürzt die zum sofortigen Dienste stehende Pfote einen Stein, ein Rasen- stück oder emen Maulwurfshaufen um. Das Zufahren der stets um die Alte sich drängenden Kleinen ist belebend und ergötzlich zugleich. Dabei trommelt’s und schnalzt’s, murkt's und schmatzt’s von allen Seiten bei dem be- weglichen Thun und Treiben der harmlosen Waldbewohner, die durch ihren allabendlichen Besuch solcher Orte, wie Saaten und Pflanzungen in den Waldungen, ihre Nützlichkeit im Forsthaushalte deutlich genug be- währen. Insecten sind indessen nicht die ausschliessliche Nahrung des Dachses. Schon in den Angaben der Ernährung dieses Thieres begegnet der Ver- traute Zweifeln über die richtige Beobachtung desselben. Nach den meisten Lehrbüchern der Thierkunde soll der Dachs Eicheln und Bucheln fressen. Wir haben die Magen einiger Dutzend erlegter Dächse zu jeder Jahreszeit, namentlich aber im Herbste sogleich nach der Thiere Erbeutung (ehe noch die auch nach dem Verenden noch fortwährende Verdauung eine genaue Untersuchung vereitelt) auf ihren Inhalt untersucht, fanden aber keine Spur von den erwähnten beiden Waldbaumfrüchten. Faustdicke Klumpen Regen- würmer, Nacktschnecken, Käferreste, die Köpfe von Engerlingen oft in be- deutender Zahl, zerkautes Wildobst und Zwetschen entdeckten wir zur Herbstzeit regelmässig in fast allen Dachsmagen. Diese Thiere und Stoffe bilden auch des Dachses Hauptnahrung neben Mäusen und kleineren Säuge- thieren, Eidechsen, unseren einheimischen Schlangen, der Kreuzotter und Ringelnatter, sowie den Waben von Hummeln und Wespen und allem ihm zugänglichen Obste, vorzüglich Weinbeeren. Die Waben gräbt das Thier auf Waldwiesen und Haiden tief aus der Erde, und den dadurch entstandenen kautenartigen, fusstiefen Plätzen begegnet man oft im Nachsommer und Herbste Auch liebt der Dachs die saftigen Kolben des unreifen Welschkorns ungemem. Diese zieht er wie die Weintrauben mit seinen starken Vorderpfoten sammt den Stengeln nieder und wird hierdurch im Felde und den Weingärten unge- mein schädlich. In Gegenden des Weinbaues, in welchen er sich sehr gerne hält und stark vermehrt, kann er deshalb nicht geduldet werden. Anders verhält sich sein Wandel in anderen Gegenden. Denn überblickt man die Bestandtheile seiner Hauptnahrung, so bewährt er sich zu der grössten Zeit des Jahres und in den meisten Gegenden als ein dem Wald- und Feldbau überwiegend nützliches Thier. Schon sein nächtlicher Pass (Gang) nach Wiesen, Triften, Feldern und Waldeulturplätzen und mehr noch die Zeichen, welche er dort in seinen triehterförmigen, 3 — 4 cm. breiten Bohrlöchern und aufgehobenen Stellen des Bodens beim Erbeuten von Kerfen in jeg- 302 Insektenfresser. Insectivora. licher Gestalt und Regenwürmern hinterlässt: Dies Alles ist beredtes Zeugniss für seinen harmlosen, vorwiegend Nutzen bringenden Lebens- wandel. Man sollte meinen, dass das Thun und Treiben unseres Waldthieres dem Auge des Forstmannes nicht verborgen geblieben sein müsste. Aber die Kenntniss über des Thieres Wesen und Wandel liegt auf dieser Seite noch vielfach im Unklaren. Haben sich doch gerade bei den Jägern und Forstmännern so manche Irrthümer und Vorurtheile in der Lebensgeschichte „Grimmbarts“ erhalten. Wir werden diese Irrthümer gelegentlich der Schil- derung seines Lebenslaufes aufdecken. Das Geheck wird in der beschriebenen Weise von der Dächsin bis zum Herbste geführt. Mit der Erziehung und der Anführung desselben hat der männliche Dachs nichts zu thun. Derselbe lebt indessen auf einem einsamen Bau oder in einem Steingerölle, allnächtlich seinen Pass haltend zur Weide in Wald und Feld. Je mehr gegen den Spätherbst, desto später verlässt er Abends den Bau und desto früher kehrt er zu demselben wieder zurück. Ende Oktober schon geht er erst gegen Mitternacht aus und fährt in den Bau schon wieder zwischen zwei und drei Uhr im der Nacht ein. Im October ist seine Fettzeit, und von Mitte dieses Monats an, ganz entgegen der seitherigen Lehre der Naturkundigen, beginnt seine Begattungs- oder Ranzzeit. Dies soll nach Angaben in allen Naturgeschichten Ende November oder im December stattfinden, zu einer Zeit also, wo das so sehr frostige T'hier, bei weitem nicht mehr so fett und kräftig von Leib, bereits dem Schlafleben im Kessel seines Baues verfallen ist und thatsächlich da- selbst auch tagelang ununterbrochen schläft. Nein, um diese Zeit ruht der Dachs, nach vollbrachter Ranzzeit im October, auf seinem Moospolster in der Tiefe seines sehr trockenen und warmen Baues auf der Einmoosung des Kessels! Den Kopf zwischen die Vorderläufe gedrückt und das Hinter- theil beigezogen, liegt er, ähnlich dem zusammengerollten Igel, auf der Stirne und den Sohlen und Fersen seiner Hinterläufe, einem oft unterbrochenen Winterschlafe verfallen. Er bedarf zu dieser Zeit äusserst wenig zu seinem Lebensunterhalte, obgleich er sich bei mildem Winterwetter aus dem Bau heraus spürt an emen Bach oder einen Graben, woselbst er getrunken, und an Wiesen und Saatplätzen, auf welchen er nach Nahrung gestochen oder die erwänten Löcher mit den Nägeln gebohrt und Blätter und Boden mit Nase und Pfoten umgestülpt hat. In strengen Wintern hält er sich an den eingetragenen Vorrath im Winkel seines Baues, in dem er auch an beson- derer Stelle seine Loosung absetzt, während er Sommers hierzu flache Nebenröhren oder Vertiefungen und Löcher auf dem Bau benutzt. Wenn wir bei G.L. Hartig sogar noch lesen, dass der Dachs bei kurzen Wintern deshalb den Bau nicht verlasse, „weil ihm alsdann sein ge- sammeltes Fett, das er sich selbst aus dem Afterbeutel saugt, hinreicht, um ‚Insektenfresser. »Insectivora. 303 sein träges Leben ohne_weitere: Nahrung |bis dahin (Ausgangs Winter) zu erhalten“: — so ist es begreiflich, wie Irrthümer, Fabeln und Vorurtheile von Buch zu Buch, namentlich der Jagdschriftsteller, wanderten. Freilich hat die neuere Forschung die eben erwähnte Ansicht bereits in das Reich der Fabeln verwiesen; aber selbst thierkundliche Werke der Gegenwart haben sich von so manchen irrthümlichen Überkommenheiten in der Lebensge- schichte unseres Thieres noch nicht befreit. Schon früher sprachen wir uns über die wahre Bedeutung der Fettdrüsen des Dachses folgendermassen aus „Dieses Saugloch ist, wie Ratzeburg richtig bemerkt, nichts anderes als eme Drüse, ein Absonderungsorgan, welches, nach unserer Meinung, nur ausgeschiedene Stoffe enthält, die zur Ernährung des ausscheidenden Körpers gewiss nicht mehr dienen können. Dasselbe finden wir bei der Drüse des Iltıs, in besonders starkem Grade bei der Zibethkatze, dem Biber und an- dern Nagern. Die Annahme Ratzeburg’s scheint richtig, wonach die Ausscheidungen der Drüsen — da sie hauptsächlich zur Ranz- oder Be- Sattungszeit, Ende December und Anfangs Januar, hervortreten — zur An- lockung der Geschlechter m dieser Zeit dienen. Oel und Stinkstoff sind beim Dachse Ausscheidungen emer Drüse in der sogenannten Tasche oder dem Saugloche und sondern sich durch den Druck beim Lösen (Kothent- leerung), auch durch Reiben an Steinen, Wurzeln und anderen Gegen- ständen ab.“ Wir ergänzen oder berichtigen diesen Ausspruch heute nur dahin, dass die gelblich-klebrigen Ausscheidungen der Drüse ganz besonders im October, nicht aber im December oder gar Januar, verbunden mit einer sehr eigen- thümlich-starken Ausdünstung beim Dachse hervortreten, analog unseren Beobachtungen an dem Verhalten des Thieres im October, wo offenbar die Ranzzeit eintritt und im welchem Monate wir das Thier auch in einem Falle dem Triebe haben folgen sehen. Bei der Schilderung unseres Fuchses finden sich noch einige Irrthümer über Dachs und Fuchs besprochen, und hoffen wir die Lebensgeschichte dieser beiden volksthümlichen Thiergestalten von so manchen abenteuer- lichen und ungereimten Zügen befreit und ein naturwahres Bild nach unseren Jahrzehnte langen Beobachtungen und Untersuchungen an demselben ent- worfen zu haben. 304 Raubthiere. Carnivora. IV. Ordnung. Raubthiere. Carnivora. Allgemeines über die Raubthiere. Der Verbreitungskreis der Raubthiere ist ein sehr umfassender und hängt auf’s Engste zusammen mit der ausserordentlich grossen Familien- und Artenzahl der zu dieser Ordnung gehörenden Thiere Entsprechend der weiten Verbreitung über die Erde hin, stellt sich die Mannigfaltigkeit des Aufenthaltes und der wiederum dem letzteren angemessenen Befähigung dar. Die verschiedensten Himmelsstriche weisen sie nach, in Gebirgen und Ebenen, in Wald, Feld, Dorf und Stadt sind sie heimisch. Auf den Bäumen, den Mauern und Häusern bewähren die trefflichsten Kletterer ihre Fertig- keit, auf dem Boden schnellfüssige Läufer, unter der Erde rüstige Gräber, im Wasser hervorragende Schwimmer. Ihr Wandel gehört der Verborgen- heit und der vorsichtig-scheuen, von dem Triebe der Selbsterhaltung ge- suchten Zurückgezogenheit an, wenn auch Auftritte der dreistesten Kühnheit und Thaten der Öffentlichkeit nicht selten sind. Im Ganzen gehört ihr Wandel hauptsächlich der Nacht an, aber auch der Tag, welcher die Ruhe- und Schlafzeit der Raubthiere ist, führt sie zu Unternehmungen heraus, zu- mal in Fällen des Nahrungsmangels. Man hat die Wahrnehmung gemacht, dass diejenigen Raubthiere, welche am Tage sich gerne im Freien umher- treiben, im Allgemeinen heiteren Sinnes sind und zur Geselligkeit hinneigen, während die mehr den Charakter der Nachtthiere sich bewahrenden Glieder ein finsteres, unfreundliches und ungeselliges Wesen zeigen und als die grössesten Egoisten erscheinen. Alle sind indessen mordsüchsig, blutdurstig und grausam, die Einen allerdings mehr, als die Andern. Diese Eigen- schaften begleiten und spornen fördernd ihre Bestrebungen an, sich Raub zuzueignen. Das Verhalten hierbei ist nun aber ebenfalls wieder sehr ver- schieden. Hier ist's die List, welche im Hinterhalt oder auf Schleichwegen zum Ziele führt, dort ists der im Bewusstsein der Stärke unternommene offne und gewaltsame Einbruch oder Angriff, welcher die Beute sichert. Hier tritt mit der Schlauheit feige Furcht und ängstliche Bedachtsamkeit auf eigne Sicherheit in Verbindung, dort gesellt sich zur offnen That grossartige Kühnheit und furchtbare Wuth. Zur Ausführung der Pläne und Sicherung der Erfolge sind den Raubthieren meistens durchgängig scharfe Sinne gegeben; als die ausgebildetsten derselben müssen jedoch Ge- hör und Geruch betrachtet werden. In Bezug auf das Familienleben herrscht bei ihnen die Vielehe vor. Nur ei sehr wenigen Arten hält sich der Vater zur Familie, sich der Anleitung der Jungen mit der Mutter in beschränk- tem Masse annehmend. Jedenfalls aber löst sich das Band zwischen Männchen und Weibchen bei Eintritt des Winters, und wenn dasselbe Paar Raubthiere. Carnivora. 305 im darauffolgenden Jahre sich wieder vereinigen sollte, so beruht diese Erscheinung immer nur auf Zufälligkeiten, nicht aufirgend welcher bewährten Neigung vom vorhergehenden Jahre. Die Jungen der Raubthiere werden blind und hilflos geboren und bedürfen einige Zeit der sorgfältigen Pflege und Beschützung seitens der Mutter. Was die äussere Gestalt anlangt, so liegt eine kennzeichnende Grund- form bei aller Mannisfaltigkeit der Unterschiede vor. Die Gliedmassen stehen immer in gehörigem Verhältniss zu einander und dem Leibe. Der bald plump, bald schlank und feingebaut erschemende Körper zeichnet sich stets durch kräftigen Bau der Muskeln und Knochen aus und vermag sich leicht zu bewegen. Das Gebiss ist vollständig, kraftvoll durch seme Stärke und seine tief eingetriebenen Wurzeln und durch die wirksamen Beiss- muskeln der Kiefern. Besonders stark sind die Eck-, Fang- oder Hunds- zähne, die gleich neben den Schneidezähnen auftretenden langen kegel- förmigen Gebilde. Sie dienen dazu, den Raub festzuhalten. Die charakte- ristische Zahnform ist aber der Reiss- oder Fleischzahn (dens secto- rius), in der Reihe der Baekenzähne (dentes 'molares) der erste nach den Lücken- oder falschen Backenzähnen, (d. molares spurüi), ein hervortretender, grosser gezackter Zahn zu beiden Seiten jeder Kinnlade; in der oberen meist mit einem inneren Höckeransatze (gradus). Diese Zähne dienen hauptsächlich zum Zerreissen oder Zerfleischen der Beute, woher ihre Benennung. Die Kau- oder Mahlzähne (d. molares tritores) sind durch ihre Zacken und Spitzen ebenfalls von grosser Wirksamkeit und Bedeutung. Jemehr die spitzige Zackenform auf der Kaufläche der Mahlzähne vor- herrscht, also dieselben als Zackenzähne (d. cuspidati) auftreten, desto entschiedener lebt das Thier von Fleischnahrung ; während vorherrschende Höckerbildung oder das Vorhandensein von Höckerzähnen (d. tuber- culati) auf eine minder ausschliessliche Fleischnahrung und einen weniger scharf ausgeprägten Raubsinn hindeutet. Die mittelgrossen Füsse tragen fünf- oder vierzehige Krallen, die bei den Katzen eingezogen werden können, bei den andern Raubthieren dagegen immer frei hervorstehen. Ein starker Beugemuskel streckt das im Zustande der Ruhe und beim Gehen aufrecht- stehende und durch zwei dehnbare Bänder aufrechterhaltene letzte Zehen- slied der Katzen und schiebt so die Krallenwaffe vor. Obgleich dieses Ver- inögen des Vor- und Zurückziehens der Krallen dem Haupttheile der Familie eigen, so besitzt diese Eigenschaft doch ein kleiner Theil der Vertreter nicht oder nur in emem unvollkommenen Grade. Die Zunge ist bei den Katzen mit Zungenzähnen oder Stacheln bewaffnet, die beim zermalmen der Speise den Kiefernzähnen Hülfe leisten. Bei einigen andern Raubthieren nimmt die Nase die Rüsselform an und dient alsdann zum Wühlen und Stechen im Erdboden. Bei den zum Graben besonders tüchtigen Arten sind die Füsse immer auffallend kurz, diekgliederig und durch Muskelkraft bevorzugt. A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 20 306 Raubthiere. Carnivora. Die von der Natur am meisten bevorzugten in Rücksicht auf Vollendung des Körperbaus sind unstreitig unter den Raubthieren die Katzen (Felidae). Die in Deutschland vertretenen Katzenarten sind nur der sehr selten gewordene Luchs und unsere Wildkatze. Allgemein Lehrbegriffliches über die Familie der Katzen, Felidae. Unter den Krallenthieren stehen als die hervorragendsten und vollen- detsten ohne Zweifel die Katzen oben an. Leib und Glieder erscheinen in einem Verhältniss zu einander, welches das schärfste kritisirende Auge für Formengestaltung wohlthuend berührt und den Eindruck des Harmonischen macht. Die Übereinstimmung der Arten und Sippen durch die charak- teristische Grundform ist grösser als bei anderen Thiergruppen. Wenn auch die Abweichungen in Einzelheiten bei der einen oder andern Sippe und Art immerhin die vortheilhafte Wirkung des Gesammteindrucks zu beeinträch- tigen vermag, der Katzenleib ist und bleibt hervorragend in seiner Stellung ‚als ein schönes Thiergebilde der Natur. Vom Wirbel bis zur Sohle sind die Formen edel. Zu dem schön runden Kopf tritt der starke Hals in das richtige Verhältnits, so dass jener nicht zu auffallend und plump gegen diesen absteht, ein Gleiches nehmen wir im Verhältniss des Halses zum Leibe wahr, und die Beine entsprechen durch ihre mässige Höhe und Dicke wiederum der Leibesgestalt. Abgesehen davon, dass der lange Schwanz ein sprechendes Zeichen der Gemüthsbewegungen des Thieres ist, trägt er ‚auch nicht ‚wenig zur Verschönerung der ganzen Erscheinung bei. Und dasselbe gilt von dem vielfach bunten, schönen, weichen Felle, welches er- fahrungsmässig in seiner Färbung mit dem Aussehen der Umgebung des ständigen Aufenthaltes seines Trägers in merkwürdiger Übereinstimmung sich befindet. An den kräftigen Branken ist das letzte Zehenglied aufwärts gebogen, in Folge dessen es beim Gehen gar nicht den Boden berührt. Hierdurch wird von der Natur dieses äusserst wichtige Glied vor Schaden bewahrt und sein bestimmungsgemässer Gebrauch gesichert. Denn auf ihm sitzen die vorzüglichsten Waffen in Gestalt von ebenso starken als scharfspitzigen Sichelkrallen. Die aufrechte Stellung des in Betracht kommenden Zehen- gliedes wird durch ein oberes und ein seitlich sich befindendes dehnbares Band bewirkt; herniedergezogen wird es dagegen durch den bedeutenden Beugemuskel, dessen Sehne sich unten ansetzt und den Fuss in die stramme gestreckte Lage zieht. Das leise Auftreten der Katzen hängt zusammen mit den weichen Ballen, die häufig auch noch behaart sind, das Fehlen der Krallenabdrücke bei der Fährte ist in dem erwähnten Aufrechtstehen des letzten Zehengliedes ur- sächlich begründet. Raubthiere. Carnivora. 307 Ausser der geschilderten Waffe, welche die Tatze darbietet, bewährt sich als solche das Gebiss, welches aus 30 Zähnen, nämlich 6 Vorderzähnen und einem Reisszahne nebst zwei Lückenzähnen oben wie unten, sowie zwei Backenzähnen oberseits und einem solchen unterseits, besteht. In diesem wirksamen Gebiss ragen die Reisszähne in ihrer etwas gekrümmten Kegel- gestalt als gewaltige Vernichtungswerkzeuge hervor. Die Kauzähne des Ober- und Unterkiefers greifen mit ihren scharfen Spitzen und Zacken genau in eimander, die Schneidezähne endlich zeichnen sich durch ihre geringe Grösse aus. Als drittes Waffenwerkzeug kann gewissermassen auch noch die mit Stacheln besetzte Zunge gelten, welche bei grösseren Katzen, namentlich beim Löwen durch wiederholtes Belecken die nackte Haut eines Menschen blutig ritzt, aber auch den zum Zermalmen der Speise wegen ihrer Zacken und Spitzen wenig geeigneten Kauzähne zu Hülfe kommt. Was die Bewegungen der Katzen anlangt, so dürfen wir diese als sehr sewandte bezeichnen, sei’s nun in Ansehung des Schleichens oder der m Bogensätzen ausgeführten Sprünge oder des Kletterns, das nur von den meisten grösseren Arten nicht ausgeführt zu werden vermag. Blos das Gehör ist unter den Sinnen wahrhaft ausgezeichnet, das Gesicht mindestens mehr als mittelmässig zu nennen, sicherlich aber in seiner Anlage mehr für die Nähe, als für die Ferne berechnet. Bei den grösseren Arten ist der Augenstern rund, im hohen Aftekt sogar kreisförmig, bei den kleineren dagegen elliptisch und sehr dehnbar. Dies nimmt man im Vergleich seiner Erscheinung während des Tages mit derjenigen zur Nachtzeit deutlich wahr. Im Sonnenlicht erschemt er nur als schmaler Spalt, während Nachts, zumal wenn Leidenschaft und Aufregung wirksam sind, die Gestalt desselben sich beinahe zur Kreisform dehnt. Wie auf den Raubzügen hauptsächlich der Gehörsinn die Katzen leitet, so dienen ihnen die am Maule befindlichen Schnurren als Tastwerkzeuge. Ebenso unzweifelhaft erscheinen auch die Pfoten als Tastwerkzeuge neben ihrer Bestimmung als Fangwerkzeuge oder, wie beim Löwen, als Schlagwaffe. Die Nerven der Katzen sind überhaupt höchst feinfühlig. Nur vertragen die Geruchsnerven einen sehr starken Kitzel. Das sieht man an der Vorliebe unserer Hauskatze für Baldrian, den die anderen Thiere hassen. Der Charakter der Katzen ist je nach den vorkommenden Arten wohl verschieden. Hier zeigt sich uns beim Löwen stolzer Muth -und vornehme Haltung bei aller Wildheit und Blutgier, dort beim Jagdleoparden auffallendes sanfteres Wesen, hier wieder mit Falschheit gepaarte List und Grausamkeit bei unserer Katze, sehr oft aber auch treue Anhänglichkeit an den Menschen, ihren Herrn sowohl, wie inniges Zu- sammengehen und Zusammenhalten mit andern ihr zugesellten Thieren. Es treten bei den meisten Katzen im Allgemeinen die edleren Geisteskräfte vor den niederen zurück, sie stehen also in dieser Hinsicht auf einer Mittelstufe. 20* 308 Raubthiere. Carnivora. Der Verbreitungskreis erstreckt sich über die alte Welt und Amerika. Das Gebirg wie die Ebene, die Wüste und die Steppe, wie die Schilf- und Sumpfgegend, das Feld wie der Wald, letzterer jedoch entschieden vor- zugsweise, ist ihre Heimath. Die klemeren Arten hausen in hohlen Bäumen, in Diekungen, Felsengeklüfte, Höhlungen und Bauen, die andere Thiere nicht bewohnen, die grösseren im Gebüsch und zwar im dichten und un- durchdringlichen mit besonderer Vorliebe. Sie gehen Nachts auf Raub aus, während sie Tags an ihren verborgenen Plätzen ruhen und schlafen. Sie nehmen ihren Raub aus allen Classen der Wirbelthiere, am meisten aus derjenigen der Säugethiere. Man kann sagen, dass Rauben und Morden ihnen Genuss und Bedürfniss, Blutdurst ihnen als unaustilgbarer Zug an- geboren ist. Ja selbst das Quälen der Opfer muss wenigstens unserer Hauskatze Befriedigung und Wohlbehagen gewähren. Hinsichtlich der Vermehrung herrscht die Regel, dass die weibliche Katze mehrere Junge wirft, in seltneren Fällen beschränkt sich jedoch die Zahl auf ein Junges. Die männliche Katze kümmert sich um ihre Nachkommenschaft nicht, sondern nur die Mutter. Sie pflegt, nährt und beschäftigt anleitend und erziehend das Geheck und beschützt und vertheidigt es gegen feindliche Angriffe selbst mit Aufopferung ihres eignen Lebens. Die Sippe der Luchse, Lynx, unter welcher Europa und auch unser Vaterland einen Vertreter hat, besitzt zwar auch noch das charakteristische Vermögen der wahren Katzenarten in den Pfoten, die Krallen in eine Hautscheide gänzlich zurückzuziehen ; aber sie unterscheidet sich von den andern Sippen ganz besonders durch einige eigenthümliche, auf den ersten Blick kennbare äusserliche Formen, nämlich durch die Haarbüschel an den Ohrspitzen und den kurzen nur etwa kopflangen Schwanz. Der Luchs, Felis lynx, war in früherer Zeit, ein in den deutschen Wäldern nicht selten vorkommendes Jagdthier. Hierüber geben Berichte aus dem vorigen und dem Anfang dieses Jahrhunderts noch hinlängliche Beweise. Aus den Baierischen Alpen, dem Thüringer Walde, vom Harze und aus Westphälischen Gebirgswaldungen ist uns Kunde geworden von dem Auftreten dieses durch Stärke, Raubtüchtigkeit und Schönheit ausge- zeichneten Grossräubers. In den deutsch-österreichischen Ländern und den an Russland grenzenden preussischen Provinzen kommt ‘er noch immer all- jährlich in einzelnen Erscheinungen vor. Aber mit Ausnahme von Ost- sibirien und Scandinavien tritt sein Vorkommen schon seit langen Jahr- zehnten äusserst rasch zurück. Ein Feind der Waldeultur sehtzersihr überall aus dem Wege und zieht sich zurück in dichte entlegene Waldungen, in wildverschlungene , schwer zugängliche Gehölze grosser, tiefer Wälder. Felsengeklüfte liebt er zu seiner Deckung und Sicherheit vorzugsweise. Raubthiere. Carnivora. 309 Diese eigensinnige, wählerische Neigung zur urwaldartigen Umgebung ent- spricht seinem ungeselligen, in sich gekehrten Wesen. In den meisten Fällen wird er allein angetroffen und nur auf den nächtlichen Raubzügen einigt er sich zuweilen mit Andern Seimesgleichen. Eine merkwürdige Erscheinung, die übrigens seiner Klugheit und seiner misstrauischen Vorsicht vollkommen angemessen ist, offenbart sich in Fällen solcher gemeinschaftlichen Jagd- unternehmungen und wird uns in einem Beispiele sehr anschaulich gemacht, das Frauenfeld erlebt und in folgenden Worten mitgetheilt hat: „Bei der ersten Entdeckung der Spur dieser Thiere waren nur zwei Fährten sichtbar, sodass wir anfangs auch blos zwei Luchse beisammen vermutheten, ja später zeigte sich gar nur eime einzige Spur, in der alle vier einer in des andern Fusstapfen traten. Auf einer Wiese im Walde, wo sie nach Raub ausgespäht zu haben schienen, ehe sie auf dieselbe heraustraten, zeigte sich die Spur von dreien, und erst auf einer lichten Stelle im Walde, wo sie ein Reh überraschten, fanden wir, natürlich mit immer grösserem Erstaunen, dass ihrer vier beisammen waren; denn erst dort hatten sie sich alle getrennt, und der eine, unzweifelhaft der vorderste, hatte dieses Reh in zwei gewaltigen Sprüngen erreicht. Unmittelbar nach dem übrigens verunglückten Jagd- versuche waren die Luchse mit schwach geschränkten Schritten wieder ruhig und nach einer kurzen Strecke abermals in einer einzigen Spur fort- gezogen.“ Die Gestalt des Luchses ähnelt im Allgemeinen der der Wildkatze; doch ist sein ganzer Körperbau kürzer, gedrungener, derber, die Läufe aber länger und der langbehaarte Schwanz oder die Ruthe viel kürzer und breiter, nur 20—25 cm lang. Der dicke Katzenkopf hat grosse, feurige Augen und in den mit 5 cm langen, steifen schwarzen Haarbüscheln endi- genden Ohren oder Gehören und dem an den Wangen sitzenden lang zu- gespitzten Barte eine charakteristische Decoration. Die Hauptfarbe des Oberkörpers besteht im Sommer in einem fuchsartigen Gelbbraun, das im Winter mit Weiss und Grau überflogen ist. Auf dieser individuell sehr ver- änderlichen Grundfärbung stehen mehr oder weniger dunkelbraune, schwarze Flecken und ringförmige undeutliche Zeichnungen. Das weiche Haar steht dicht und ist im Winter am längsten und dichtesten; die Spitzen sind ab- wechselnd weiss und schwarz gefärbt. Kehle, Bauch und Innenseite der Läufe erscheinen gelblichweiss. Die Ruthe hat eine breite schwarze Spitze, die Blume; der übrige Theil davon ist auf der oberen Seite undeutlich geringelt. Wie angedeutet, ändert die Luchsfärbung nach Jahreszeit, Alter und Geschlecht, sowie nach der Örtlichkeit schr ab. Ein vollkommen aus- gewächsener Luchskater erreicht die Grösse eines Hühnerhundes und hat ein Gewicht von 25 bis 355 kg. Man rechnet den Luchs im Hinblick auf seine Stärke und Wehrhaftigkeit zur hohen Jagd. Der Luchs ist ein ächtes Nachtthier und geht erst nach Einbruch der 310 Raubthiere. Carnivora. Dunkelheit von seinem Versteck aus auf die Jagd nach Thieren. Den ganzen Tag über liegt er in seinem verborgenen Lager, entweder in einer Felskluft oder in Dachsbauen oder in dunklen Dickungen, besonders des Nadelholzes. Ehe er aber vor Tagesanbruch in die Dickung eingeht, sucht er gemäss seiner Vorsicht durch weiten Sprung vom Lichten in's Dunkel sich zu werfen, um seine Fährte zu verbergen. Dass er bei der Wahl des Aufent- haltsortes Wälder bevorzugt, die von Thieren stark bevölkert sind, ist eine naturgemässe Folge seiner Raub- und Mordgier, welche weit über sein Er- näbrungsbedürfniss hinausgeht und ihn dem Jagdbeständer wie dem Besitzer von Schaf- und Ziegenheerden tief verhasst macht. Seine leibliche und seelische Begabung fördern seine Erfolge ungemein, wiewohl bei der grossen Anzahl der Raubunternehmungen auch nicht selten Misserfolge eine sehr erklärliche Erscheinung sind. Es vereinigen sich in ihm viele Eigen- schaften zur hohen Begabung. Vor Allem ist sein Gehörsinn zur unge- meinen Schärfe und Feinheit ausgebildet, und der zu Hülfe tretende Gesichts- sinn mag kaum einen geringeren Grad der Vorzüglichkeit eimnehmen, Wäre der Geruch in gleicher Weise ausgezeichnet, so könnte es kein ge- fährlicheres Raubthier geben. So aber verräth sich ihm die Beute fast nur durch Geräusch und Sichtbarwerden. Zu den beiden genannten scharfen Sinnen kommt eine unvergleichliche Meisterschaft im Schleichen und ein im Augenblick des von glühender Leidenschaft gespornten Angriffs hoch- gesteigertes Sprungvermögen. Aber noch nicht genug. Auch die Geduld, mit der er im Hinterhalt lauert, hilft ihm den Erfolg sichern, sowie seine Ausdauer auf seinen Raub- und Streifzügen. Sem Gang ist katzenartig, Schritt vor Schritt zieht er schnürend seine Perlenschnurspur, die sich durch ihre Grösse und runde Form unverkennbar verräth. Wiewohl das Thier schembar derb auftritt und den Eindruck der Plumpheit macht, weiss es doch unhörbar leise sich der ausersehenen Beute zu nähern. Mit ausser- ordentlicher Sicherheit schlägt der Luchs mit der Tatze nach der erschreckt fliehenden Beute, und rasch führt er dieselbe, wenn sie klein ist und an den scharfen Krallen hängt, zum mordenden Gebiss. Hat er im Sprung ein grosses Thier erreicht, so sitzt er festgekrallt im Nacken desselben und gebraucht sein wirksames Gebiss, um den Mord zu vollziehen. Manchen kühnen Ritt muss er da durch dichtes Gebüsch unternehmen, namentlich wenn das mit Wuth durch das Dickicht rennende Wildschwein sich seiner zu entledigen trachtet. Oft krallt er sich so fest, dass er selbst Mühe hat, sich wieder loszumachen. Bricht er in Schaf- oder Ziegenheerden ein, so „reisst“ er unersättlich mordsüchtig em Stück nach dem andern, das eine völlig tödtend, das andere tödtlich verletzend. Dann erst leckt er mit Wohl- behagen das Blut des Opfers und begnügt sich mit Lieblingsstücken des Fleisches, nie sich den Magen überladend, sondern sich als Feinschmecker in den Schranken der Mässigkeit haltend. Seine Angriffe geschehen eben- Raubthiere. Carnivora. all sowohl aus der Höhe, von überhängenden Baumästen und Felsblöcken aus, wie vom Boden. Dort liegt er stundenlang auf der Lauer, um dem Reh oder einem sonstigen grösseren Jagdthier auf dem Wechsel in den Nacken zu springen, hier schleicht er dem auf dem Wandel befindlichen oder im Asen begriffenen kleineren Thier, vorzüglich dem Hasen, möglichst nahe genug, um gleicher Erde den todtbringenden Sprung ein- oder mehrmals hintereinander auszuführen. Frauenfeld erzählt em Beispiel letzterer Art. „Ein Hase, auf den vier Luchse stiessen, musste von einem derselben schon weit wahrgenommen worden sein; denn wohl an hundert Schritte sah man keine einzelnen Tritte, sondern war nur eine breite, gezogene Furche sicht- bar, welche der vorderste, vielleicht vorausgeeilte, beim tief gedrückten Schleichen im Schnee gebildet haben musste. Zwischen ihm und dem Hasen war ein mehr als meterhohes Gehege, und noch beiläufig zwölf Schritte von diesem Hage entfernt, wagte er den Sprung darüber hinweg nach dem Hasen, den er jedoch nicht erreichte, da sein Sprung, obwohl gut zwanzig Schritte weit, beinahe eine Klafter zu kurz war.“ Aus dem Harz wird uns ein günstigerer Erfolg der Jagd eines Luchses auf einen Hasen berichtet. „Der Hase hatte am Rande einer jungen Tannendickung, welche an eine grosse Blösse stiess, gesessen. Der Luchs war in dem Dieckichte, wahr- scheinlich unter Wind, an ihn herangeschlichen; der Hase aber musste solches noch zu früh bemerkt haben und war möglichst flüchtig über die Blösse dahingerannt. Dem ungeachtet hatte ihn der Luchs ereilt und zwar durch neun ungeheuere Sprünge von durchschnittlich je 3!Ja Meter. Das Raubthier hatte also sem Wild förmlich gehetzt und diesem, wie aus der Fährte ersichtlich, alles Hakenschlagen, sein gewöhnliches Rettungsmittel, nichts genützt. Man fand nur die Hintertheile des armen Lampe noch vor.“ Bei solcher Raubtüchtigkeit ist es begreiflich, dass der Luchs einen Hochwild- und Rehwildstand in unübersehbarer Weise schädigt, denn dem grossen Wilde vermag er von den Bäumen aus viel leichter beizukommen, als dem Kleinwilde, auf das er sicherlich öfters Fehlsprünge und Fehlhetzen unternimmt. Übrigens erstreckt sich seine Raubthätigkeit nicht blos vom Hochwilde bis zur Maus herab unter den Säugethieren, sondern auch unter den Vögeln vom Auerhuhn bis zu den kleinen Waldsängern, Spechten und Meisen. Seine Sinnesschärfe leistet diesem Grossräuber aber nicht blos die besten Dienste zur Erreichung seiner Jagdziele, sondern auch zur Wahrung seiner eignen Sicherheit. Sein untrügliches Gehör verkündet ihm von Ferne schon die nahende Gefahr und die Erscheinung des vonihm sehr gefürchteten Menschen. Selbst im Zustande tiefer Ruhe und des Schlafes während der Morgen- und frühen Mittagsstunden hält sein Gehör sich wach, und das leichteste verdachterweckende Geräusch hat eine Hebung des Kopfes und eine Wendung des Blieks nach der Gegend des Geräusches hin zur Folge, 312 Raubthiere. Carnivora. Von der Fortpflanzung des Luchses fehlt es ungenügender Erforschung und Beobachtung wegen an zuverlässigen und gründlichen Berichten. Selbst Noleken und Frauenfeld können uns hierüber nichts mittheilen. Der Meinung der neuesten Kenner des geheimnissvollen Wandels dieses Räubers nach, zieht sich das Weibchen zur Zeit des „Wölfens“ oder „Werfens“ in die allerundurchdringlichsten Urwaldistrikte zurück. Nolcken glaubt, dass die Luchse ihre Jungen in alten Fuchs- oder Dachsbauen erziehen, dass aber auch manches „Geheck“ (waidmännisch die Nachkommenschaft) in den unzugänglichsten Stellen morastiger Urwälder jeder Nachsuche spotten mag. Wahrschemlich sind die Angaben richtig, dass zur Zeit der Ver- eimigung beider Geschlechter im Januar und Februar, der Ranzzeit, die Luchskater sich aus Eifersucht hartnäckig bekämpfen und dabei lautes Geschrei hören lassen, wie dies ja im Kleinen bei unseren Hauskatern wahrzunehmen ist, und dass zehn Wochen nach der Paarung das Weibchen in tiefen Höhlen unter Felsen oder in Dachsbauen zwei bis drei Junge zur Welt bringt. _ Ebenso wahrscheinlich wird es sein, dass das Familienleben die grösste Ähnlichkeit mit dem der Wildkatzen hat und die Pflege und Erziehung der Jungen bei diesen verwandten Katzenarten in seinem Verlauf im Allgemeinen übereinstimmend sei. Die Nachstellungen, die dem Luchs drohen, wo er nur die Aufmerk- samkeit der Jäger auf seine Spur gelenkt hat, sind mancherlei Art. Von Kobell erwähnt, dass er nicht schwer mit dem Tellereisen, an welchem ein Köder befestigt ist, gefangen wird und dass, wenn das Eisen nur eine Vorderbranke gefasst habe, das wüthende Gebaren des Gefangenen Zeugniss ablege von seiner Gefährlichkeit in solcher bedrängnissvollen Lage Von Kobell berichtet, dass die „Reize“, namentlich der Rehruf, den Luchs an- lockt. Über Treibjagden gibt Noleken eingehende Schilderungen, die wir nachstehend anführen wollen. „In den meisten Fällen ist es leicht, den Luchs zu kreisen; doch hat dies auch manchmal seine Schwierigkeiten. Er schleicht gern auf stark zertretenen Hasenwechseln, wo seine Spur oft nur schwer zu erkennen ist, liebt befahrene Wege zu begehen und wirft sich von ihnen aus mit ge- waltigen Sprüngen in ein Dickicht hinein, sodass man seine Spur plötzlich verliert. Beim Treiben selbst hat man ganz anders zu verfahren als beim Fuchstreiben. Nur wenige Thiere lassen sich selbst durch eine geringe Treibwehr leichter treiben als der Fuchs, kein einziges aber schwerer als der Luchs. Dies begründet sich auf das durchaus verschiedene Wesen dieser Thiere. Der Luchs ist ein scheues und vorsichtiges Raubthier, besitzt aber in hohem Grade jene Ruhe und jene besonnene Geistesgegenwart, welche allen Katzen eigen zu sein scheint. Er meidet den Menschen, fürchtet jedoch keinen Lärm. Daher kommt es, dass er sein Lager häufig hart an einem vielbefahrenen Wege aufschlägt. Man kann daher, wenn man nur vermeidet, Raubthiere. Carnivora. 313 in die Dickung einzudringen, alle lichten Theile getrost abschneiden, denn man macht ihn durch solche Kleinigkeiten gewiss nicht rege. Aber man muss über eine grosse Menge Treiber verfügen, sonst nimmt das Verstecken- spielen kein Ende, und wen man nicht zu Gesicht bekommt, ist der Luchs. Selbstverständlich hängt dies von der Örtlichkeit ab. Befinden sich Dick- ungen im Rücken der Schützen, hängen dieselben vollends durch einen mehr oder weniger breiten Streifen, m welchem dann unfehlbar der Wechsel zu suchen ist, mit dem Dickicht des Treibens zusammen, so ist Hoffnung da. Ist letzteres dagegen inselartig von lichtem Walde umgeben, oder gar von Flächen umschlossen, so ist meist alle Mühe vergebens. Der Luchs lässt die Treibwehr sehr nahe heran, merkt sich die Zwischenräume und bleibt ruhig liegen. Muss er aber heraus, so eilt er durchaus nicht schnurstracks davon, sondern überlegt, horcht, vermeidet den einzelnen Treiber, duckt sich in einen der Zwischenräume und lässt die Treiber vorbei. Man muss daher nach misslungenen Treiben mit bereit gehaltenem Schlitten so rasch als möglich wieder kreisen; denn der Luchs geht am Tage nicht weit und kann gekreist und getrieben werden, so lange es hell ist. Ein zweiter oder dritter Trieb bietet manchmal mehr Aussicht als der erste, imdem der Luchs seine Nothschlupfwinkel leichter verlässt, als seine Lagerplätze. Die Schützen müssen besonders aufmerksam sein, wenn die Treibwehr schon beinahe durch ist; denn kommt der Luchs, so erscheint er meist so spät als möglich. Er kommt im Dickichte fast immer im Schritte, katzenartig geschlichen, gewöhnlich unhörbar und schlägt sehr leicht und blitzschnell um. Bemerkt er den Jäger oder hat er sonst Misstrauen, so springt er so unvermuthet und blitzschnell über den Schussraum, dass man nicht zum Schusse kommt, geht dann aber bald darauf, wenn er den gefährlichen Ubergang bewerkstelligt hat, meist wieder langsamer und minder vorsichtig seines Weges fort. Die Jagd mit dem Koppelhund ist sicherer und an- ziehender als die Treibjagd. Der dazu nothwendige Hund muss ein guter, möglichst starker und rascher Hasenhund sein; besitzt er noch dazu die Eigenschaft, dazwischen still zu jagen, so erfüllt er alle zur Luchsjagd nothwendigen Bedingungen. Hauptsache ist jedoch die Schnelligkeit; denn mit einem langsamen Schnüffler ist nicht viel zu machen. Ein guter Hund, welcher einigemal den Luchs gejagt hat, wird so fest, dass er sich durch keine Hasenspur mehr stören lässt. Hat man einen Luchs gekreist, so be- setzt man die muthmasslichen Wechsel mit Schützen, lässt den Hund an der Leme bis zum Lager führen und dort frei jagen. Es kann sodann der Luchs dem Schützen auf dem Wechsel vor den Lauf kommen, sich irgendwo dem Hunde stellen oder zu Baum gehen, und so in beiden letzten Fällen dem Jäger verhältnissmässig leicht zur Beute werden, da ihn der heissere, wüthende Standlaut des Hundes verräth. Bei strenger Kälte oder wenn der Schnee sehr trocken ist, jagt übrigens der Hund sehr schlecht und verliert 314 Raubthiere. Carnivora. häufig die Spur. Doch auch bei günstigen Verhältnissen geht die Jagd nicht immer gleich gut. Der Luchs versteht sich auf „Haken“, „Widergänge“ und „Absprünge“, läuft auf den Stämmen halbumgestürzter Bäume dahin, die ganze Länge des Baumes durchmessend und schliesslich mit gewaltigem Satz seitwärts in die Büsche sich schlagend, und wendet noch unzählige an- dere Kunststücke an, um den Hund zu täuschen. Einem langsamen Rüden gegenüber gelingt ihm dies in den meisten Fällen, auch wenn er selbst nicht eben rasch ausschreitet. Letzteres thut er überhaupt nur, wenn ihm ein rascher Hund auf den Fersen ist und ihn sehr beschäftigt; denn vor einem langsamen beeilt er sich durchaus nicht: ist er sich doch seiner überlegenen Kraft und seiner furchtbaren Waffe wohl bewusst und vermeidet den Hund eigentlich nur des lieben Friedens willen. Blos vor einem raschen Hunde entschliesst er sich in der Regel, die Dickung zu verlassen. Hört man den Hund Standlaut geben, so beeilt man sich, pürscht sich aber vorsichtig an ihm an, um ihn nicht zu verscheuchen, falls er sich auf den Boden ge- stellt haben sollte. Hat er gebaumt, so fängt man vor Allem den Hund ein und schiesst erst dann, um den Hund zu verhindern, den vielleicht noch nicht ganz todten Feind anzupacken und sich grösserer Gefahr auszusetzen“. Zur Beleuchtung des Lebensbildes vom Luchse möge das, was O.v. Loe- wis in No. 4 des VII. Jahrganges der Zeitschrift „Der Zoologische Garten“ von 1866 so fesselnd über einen gezähmten Luchs mittheilt, hier ergänzend eine Stelle finden. „Wenige Monate genügten“ — so theilt der Genannte mit — „diesem jungen Thiere, seinen Namen „Lucy“ genau unterscheiden zu lernen; unter vielen Hundenamen, die auf der Jagd von mir genannt wurden, fand er den seinen präcis heraus und leistete mit musterhaftem Gehorsam dem Anrufe Folge. Seine Dressur war ohne alle Mühe eine so feine geworden, dass er in der wildesten, leidenschaftlichsten, aber verbotenen Jagd nach Hausge- flügel oder Schafen inne hielt, falls mein drohender Zuruf ihn erreichte, sich beschämt zu Boden warf und nach Art der Hunde Gnade für Recht erwar- tete. Die Bedeutung des Flintenschusses für Befriedigung seines Appetits lernte er rasch kennen“ (dasselbe haben wir an einer zahmen Hauskatze beobachtet); „war er zu weit fort, um die rufende Stimme zu hören, so ge- nügte das Knallen des Gewehres, ihn in angestrengter Eile herbeizuführen. — Besonders wesentlich zur Anerkennung seines Reflexions-Vermögens war mir auch die Art seiner energischen Jagden nach Hasen und Tauben, deren Fleisch er als Kenner gar wohl zu würdigen wusste. Lucy machte freiwillig, sogar mit Liebhaberei, alle Herbstjagden, mir auf dem Fusse folgend, mit. Stand ein armer Hase vor uns auf oder ge- langte sonst einer, von der Meute gejagt, in die Nähe, so begann die hitzigste Parfoce-Tour, und trotz seiner unbeschreiblichen Aufregung bei solchen Gelegenheiten behielt er stets so viel Überlegung bei, um das Ver- Raubthiere. Carnivora. 52) hältniss seiner Geschwindigkeit und Ausdauer zu der des Hasen, scheinbar wenigstens, zutreffend abzuschätzen; denn nur, wenn letzterer ihm entschie- den überlegen war, folgte er der so oft beschriebenen, den Katzenarten eigen- thümlichen, abweichenden Weise des Jagens, welches bekanntlich in nur wenigen, aber gewaltigen Sprungsätzen besteht; waren aber die Kräfte gleichartiger, dann jagte er durch dick und dünn, über Zäune und Hecken fort, wie ein Windhund dem Wilde folgend, und das Resultat war dann oft- mals ein günstiges. Nachdem er häufig bei mordlustisen Sprüngen nach am Boden sitzenden Tauben leer ausgegangen war, änderte er wohlweis- lich den Angriffsplan und sprang nicht mehr dem’ Sitzplatze des beflügelten Zieles zu, sondern fing nunmehr, durch einen tüchtigen Satz sich in die Höhe werfend, mit richtig eintreffender Berechnung die leckeren Tauben auf ihrem luftisem Flusgwege mit scharfer Kralle ab. ... . Er hörte nur auf meines Bruders oder auf meine Stimme und be- wies auch nur Zurückhaltung und Achtung uns gegenüber. Fuhren wir beide auf einen Tag in die Nachbarschaft, so konnte Niemand „Lucy“ bän- digen; denn wehe jedem unbewachten Huhne, jeder sorglosen Ente oder Gans! Beim Dunkelwerden kletterte er dann auf das Dach des Wohnhauses, wo er, an eimen Schornstein gelehnt, seine Ruhe hielt; rollte spät Ahends oder in der Nacht der Wagen vor die Haustreppe, so- war das Thier in einigen Sätzen von dem Hausdache hinab auf das der Treppe gesprungen; rief ich nun seinen Namen, so schwang das anhängliche Geschöpf sich eilig an den Säulen hinab und flog in weitem Bogensatze mir an die Brust, um meinen Hals seme starken Vorderläufe schlagend, laut schnurrend, mit dem Kopfe nach Art der Katzen sich an mich stossend und reibend; dann folgte er uns in die Stube, auf einem Sopha, Bette oder am Ofen sein Nachtquar- tier aufschlagend. Mehrere Male theilte er mit mir das Lager und verur- sachte einmal seinem Herrn, quer über dessen Halse liegend, beunruhigende Träume und Alpdrücken. Einst mussten ich und mein Bruder eine ganze Woche abwesend sein. Der Luchs ward unterdessen menschenscheu; laut schreiend suchte er uns mit grosser Unruhe, und schon am zweiten Tage aus- wandernd, wählte er einen nahegelegenen Birkenwald zu seinem Aufenthalte, ohne Nahrung aus der Küche zu erhalten. Nur des Nachts kehrte er noch auf seinen gewohnten Platz am Schornsteine des Wohnhausdaches zurück. Seine Freude bei unserer nächtlichen Rückkehr nach so langer Trennung kannte keine Grenzen. Wie ein Blitz flog er vom Dache hernieder an meinen Hals — bald meinen Bruder, bald mich in seinen innigen Liebkosungen fast erdrückend. Von Stund’ an kehrte er zu seiner gewohnten Lebensweise zurück, gab Abends wieder hinter dem Rücken meiner uns vorlesenden Mutter auf dem Sopha lang ausgestreckt daliegend, gemüthlich schnurrend, gähnend oder tüchtig schnarchend, allen Gästen ein seltenes, äusserst interes- santes Schauspiel ab. 316 Raubthiere. Carnivora. Sein Ehr- und Schamgefühl war ebenfalls nicht unbedeutend entwickelt. Aus den Fenstern des Gutsgebäudes beobachtete ich eine eigenthümliche, das Gesagte darthuende Scene. Der grosse Teich war im November mit einer Eisdecke belegt — nur in der Mitte war für die Gänseheerde ein Loch ausgehauen worden, welches von der schnatternden Schaar durchaus dicht besetzt war. Mein Luchs erblickt sie mit lüsternen Augen. Platt an das Eis gedrückt, schiebt er sich nun rutschend weiter heran, mit seinem Schwänzchen vor Begierde hastig hin- und herwedelnd. Die wachsamen Nachkommen der Capitolserretter werden unruhig, recken die Hälse bei der drohenden, nahenden Gefahr; jetzt duckt sich unser Jagdliebhaber, und wie ein Schleudergeschoss fliegt mit gespreizten Branken im Bogen mitten in die erschreckte Sippe der grimme Feind, nicht ahnend, auf welch trügeri- schem Elemente die heissersehnte Beute ruhet. Statt aber mit jeder Tatze eine Gans zu erfassen — klatschte der Luchs in’s kühle Nass, denn alles Federvieh war hurtig zum Loch hinausgesprungen oder geschwind unterge- taucht. — Jetzt gab ich die auf dem spiegelhellen Eise glitschenden, ver- wirrten Gänse verloren auf, — aber statt nun leicht Herr über die armen Vögel zu werden, schlich triefend, mit gesenktem Kopfe, Scham in jeder Be- wegung zeigend, mitten durch die wehrlosen Gänse, nicht rechts, nicht links schauend, der Luchs sich fort, und verbarg sich auf viele Stunden an irgend einem einsamen Platze. Hunger, Jagdlust und angeborene Blutgier konnten die Beschämung über den verfehlten Angriff nicht unterdrücken. Was konnte ihn auch sonst vom blutigen Vorsatze abbringen? Der nasse Pelz ist doch einem solchen Räuber nicht allzusehr hinderlich !“ Es wird doch bei diesem Begegnisse dem „empfindlichen“, wie die meisten Katzen Nässe scheuenden Luchse das kalte Bad die Hauptabkühlung seiner Jagdleidenschaft benommen haben; das Gefühl der Scham und Ver- legenheit, wenn überhaupt vorhanden, kam erst hinterher. „Bei der diesem Luchse stets gewährten freien Bewegung war er immer munter ausdauernd und zum Spiele aufgelegt gewesen. Er war dabei durch- aus Feinschmecker, indem er gern nur frisches Schlachtfleisch, Wildpret und Geflügel entgegen nahm . . .“ „Der originellste Charakterzug an „Lucy“ war aber der glühende Hass gegen die verwandte Hauskatze. — Bis Winters Anfang waren alle Katzen auf dem Panten’schen Gehöfte (v. Loewis Landgut in Livland) ausgerottet; mit grässlicher Wuth wurden sie zerfleischt. Eine einzige, sehr beliebte Katze blieb von den Hofleuten in der Gesindeherberge sorgfältig geschützt, längere Zeit unversehrt. Der Luchs durfte nie dort hinem, und die Katze wurde nie herausgelassen. Eines Tages bemerkte ich den Luchs unweit dieses Hauses auf einem grossen Haufen Feldsteine (Findlimgsblöcke) zu- sammgekauert liegen. Kein Rufen, kein Locken konnte das sonst so ge- horsame, gern gesellige Thier entfernen. Mit einer Geduld und Ausdauer, ‚Artist. Anstv.h.lischer, Lassel. Wildkater. Raubthiere. Carnivora. Sn die man an dem stets unruhigen, beweglichen Geschöpfe nicht wahrgenom- men, verharrte dasselbe auf seinem Posten. Schon fürchtete ich ein Un- wohlsem, da auch ein kleiner, sonst sehr gemiedener Regen den Luchs nicht zur Veränderung seiner Stellung brachte, und legte mich auf das Beobachten — als plötzlich nach stundenlangem Lauern unser Luchs wie ein Blitz her- niederfuhr; ich hörte ein entsetzliches Geschrei, und hinzueilend fand ich die letzte der verhassten Katzen zerrissen, unter des Luchses furchtbaren Krallen zuckend.“ — Am Schlusse dieser so interessanten Schilderung hören wir noch, dass das Thier von seinem Besitzer an einen Andern verschenkt, von diesem einem Menagerie-Inhaber verkauft wurde, aber auf dem Transporte in einem Holz- käfig durch Rütteln einige scheinbar unbedeutende Stösse bekam und an diesen den Tod fand. Aus dieser Thatsache schliesst v. Loewis, dass der Luchs ein sehr empfindliches Thier sei, und bestätigt dies auch noch schliess- lich durch einen Fall, in welchem ein von der Meute verbellter gebaumter erwachsener Luchs von einem v. Walter auf Schloss Ermes durch einen Kugelschuss in die untere Kinnlade erlegt wurde. Der Schuss hatte den jähen Tod des Thieres durch Gehirnerschütterung zur Folge, eine Bestäti- gung des in den Ostseeprovinzen von allen Jägern festgestellten Erfahrungs- satzes, dass kein wildes Thier so leicht im Feuer selbst einer gewöhnlichen Schrotladung bliebe, als der Luchs. Auch erfahren wir von dem Be- richterstatter, dass bei seinem (weiblichen) Luchse eine Ranzzeit scheinbar niemals bemerklich gewesen, auch Bosheit oder Wildheit, mit Ausnahme bei der Fütterung, nie hervorgetreten sei. Mit diesen geschilderten Charakterzügen des gezähmten Luchses stim- men im Wesentlichen die vorher von anderen Autoren mitgetheilten des Thieres im Freileben überein. Die Wildkatze. Felis catus. Der Unterschied zwischen der Wildkatze und der zahmen Katze fällt entschieden in die Augen. Unsere Wildkatze hat man mit unserer und einigen fremden Hauskatzen zur Vertreterin einer Sippe Wildkatze, Catus, erhoben. Die Wildkatze ist grösser, ihre Gestalt gedrungener, der Kopf plumper, der Leib dicker, der durchweg reich behaarte Schwanz stärker, kürzer und am Ende nicht dünner, als an der Wurzel. Die Be- haarung zeichnet sich durch Weichheit aus, die Schnurrhaare sind stärker, das Gebiss derber und schärfer. Während bei der männlichen Wildkatze oder dem Wildkater der Balg helleres oder dunkleres Grau zeigt, er- scheint er bei der weiblichen oder der Wildkatze gelblich. Von der Grund- farbe heben sich vier Schädelstreifen von schwarzer Zeichnung ab, von welchen die beiden mittleren sich auf dem Rücken zu einem von da über den Schwanz oder die Ruthe laufenden breiteren Streifen vereinigen. 318 Raubthiere. Carnivora. Querstreifen von weniger entschiedenem Schwarz laufen vom Rücken herun- ter über die Flanken, ebenso schmücken dunklere Querstreifen die Läufe, während auf dem Bauch schwarze Flecken stehen. Gleichmässig abstehende Ringe umgebenden Schwanz von der Wurzel bis zum Ende, wo sie am dunkel- sten werden. Die Wildkatze ist ungefähr SO cm lang, ausschliesslich des 30 em langen Schwanzes, und bis zu 42 cm hoch, also von der Stärke eines Fuchses, nur von etwas gedrungenerem Leibesbau. Im Allgemeinen erscheint diese Katze als feiges, die Gefahr fliehendes und auf Sicherheit ängstlich bedachtes Thier, das nicht einmal zur Ver- theidigung seiner bedrohten Jungen den Muth hat; allein im der eignen Be- drängniss stürzt sie sich selbst dem überlegenen Feind entgegen und übt, einmal zur Verzweiflung gebracht, boshafte Rache aus. Ausschliesslich ist es der alte Kater, der nicht selten, wenn er auch nur in seiner Tagesruhe gestört wird, den Angriff auf den Feind unternimmt, die weibliche Wild- katze dagegen und auch der jüngere Kater vertheidigen sich nur in der äussersten Bedrängniss nachdrücklich. Auf ihren geheimen Raubgängen ist die Wildkatze darum schwer zu belauschen, weil sie als Nachtthier sich den beobachtenden Blicken zu entziehen weiss. Dennoch verräth sie sich in mondhellen Nächten, sowie Morgens und Abends in der Dämmerung dem scharfsichtigen Beobachter. Ihre Natur weist sie hauptsächlich zum Schleichen und zu plötzlichem Sprung aus dem Hinterhalt an. Sie lauert mit grosser Geduld, und wenn der Angriff misslingt, so lässt sie lieber sogleich von der Verfolgung ab, als dass sie sich auf oflene Jagd einliesse. Ihre stärksten Seiten sind leises Auftreten, geräuschloses Durchkriechen der Schlupfwinkel, unbewegliches, bildsäulenmässiges Verharren in sprungbereiter Stellung. Wie kämpft die Klugheit und List mit der vorandrängenden Leidenschaft! Ihr Feuer blitzt aus dem gelben „Gesichte“ (Augen), leises Zittern bemächtigt sich der Glieder, der Schwanz windet sich, übrigens vom Leibe gegen das ausersehene Opfer hin gedeckt, immer beweglicher hin und her, der Körper presst sich wie Gummi zusammen, um plötzlich in freigelassener Masse auf das Ziel in hohem Bogensatz loszuschnellen. Bewundernswürdig ist die Sicherheit des Sprungs, welcher auf richtiger Berechnung der Entfernung sowohl, wie auf Schätzung der Entrinnungsfähigkeit des Raubgegenstandes beruht. Erfahrung vermag da eine grosse Ausbildung zu bewirken, so dass der Sprung nach behutsamen und zugleich gewandten Thieren nicht auf den Flecken ihres Sitzes oder Standes, sondern auf die Stelle gerichtet wird, welche die Fliehenden im nächsten Augenblick einnehmen werden. Und geht der Sprung auch fehl, so langen doch die Vorderpfoten mit solcher Behendigkeit zu, dass mancher Vogel im Auftlug noch dem Tatzenschlag in rasender Eile verfällt. Was die Erfahrung und Übung hierin ausrichtet, erkennt man augenblicklich, wenn man jüngere Wildkatzen im Vergleich zu den alten rauben sieht. Grösseres und stärkeres Wild, z. B. Rehkälbchen, welche Raubthiere. Carnivora. 319 stattlich dahinschreiten, werden nur von alten Katzen angegriffen, die sich ihrer Kraft bewusst sind und die Schule der Erfahrung durchlaufen haben. Mit der Erfahrung wächst die List, Verschlagenheit und Ausdauer. Die Wahl der Lauerplätze, das Auskundschaften der zu berücksichtigenden Beute, die Berücksichtigung der Eigenthümlichkeiten des Thieres, seiner für den Raubanfall günstigen oder ungünstigen Eigenschaften, kurz die Benutzung der in den Kreis der Berechnungsmöglichkeit des Räubers fallenden Um- stände geben ihm eine durch die Summe der Erlebnisse herangebildete see- lische Befähigung. Die Wildkatze ist ein durchaus ungeselliges Thierr. Von Meyerink erinnert sich nicht gehört zu haben, dass man zwei Wildkatzen zusammen gesehen hätte. Auch die Jungen trennen sich bald von der Alten und rauben vereinzelt. Beide Geschlechter vereinigen sich im Februar. Nach neun- wöchentlicher Tragzeit wirft das Weibchen in einem verlassenen Dachs- oder Fuchsbau, in einem hohlen Baum oder einer Felsspalte fünf bis sechs Junge, die blind zur Welt kommen. Wenn die Alte ihnen das Gesäuge entzogen hat, so versorgt sie dieselben mit Mäusen, Bilchen, Maulwürfen, jungen Eich- hörnchen, jungen Häschen, Kaninchen und Vögeln. Wie schon Eingangs dieser Schilderung erwähnt ist, vertheidigt sie ihre bedrängten Jungen nicht. Lenz berichtet, dass drei Wildkatzen von Rattengrösse in einem erweiterten Kaninchenbau aufgefunden wurden, die sich durch ihr Miauen verrathen hatten. „Als der Entdecker sie in seinen Ranzen gesteckt hatte una weg- ging, sah er die Alte in seiner Nähe mit gespitzten Gehören umherschleichen; sie ging aber ganz leise und machte keine Miene, ihn anzugreifen. Merk- würdig war das wilde Naturell dieser kleinen Bestien; sie kratzten, bissen, fauchten mit entsetzlicher Bosheit. Vergeblich wurde alle mögliche Mühe angewandt, sie zahm zu machen und gut zu verpflegen. Sie wollten weder fressen noch saufen und ärgerten und tobten sich zu Tode.“ Nach der Untersuchung, die Zelebor mit der Losung der Wildkatze, die an Bauen gesammelt worden war, vornahm, fanden sich Knochen- überreste und Haare von Marder, Iltis, Herınelin und Wiesel, Hamster, Ratte, Wasser-, Feld- und Waldmäusen, Spitzmäusen und einige kleine Reste von Eichhörnchen und Waldvögeln. Es kommt natürlich auf die Gegend an, welche der Wildkatze zum Aufenthalte dient, ob von diesen oder jenen genannten Thieren mehr oder weniger ihr zur Beute werden. Mäuse sind jedenfalls die Hauptnahrung der Wildkatze. Hat doch Tschudi die Über- reste von 26 solcher Nager in emem Wildkatzenmagen gefunden. Obgleich weniger werthvoll, ziert die Wildkatze die „Strecke“ auf der Jagd ihrer Seltenheit wegen mehr noch als der Fuchs. Von grossem Inte- resse ist darum die Erbeutung derselben für den Jäger. Wir wollen Erleb- nisse aus unserem eignen Jägerleben zum Zweck der genaueren Kenntniss des Wesens und Wandels der Wildkatzen in Nachstehendem mittheilen. 320 Raubthiere. Carnivora. Es war in den ersten Tagen des Monats November. Kalte Regentage und stürmische Nächte waren ihnen vorausgegangen. Von Bäumen und Büschen wurde derb das vergilbte Laub geschüttelt, sodass der anstehende Schütze nunmehr tiefer in die Laubholzbestände blicken konnte. Der Frost der jüngst verwichenen Nacht hatte die Pfützen der Waldwege mit dünner Eisdecke überzogen, und nur auf dem freien Plan, den die Strahlen der Morgensonne beschienen, war der Reif verschwunden. Klarer Himmel, unbeweste Luft — welche vertrauenerweckenden Umstände und Aussichten auf eine erfolg- reiche, ergiebige Jagd! Schweigend nahte sich die Schützengesellschaft einer jungen Buchenhege, von welcher derjenige Theil im Halbkreis umstellt wurde, der vor allem den Anlauf der Füchse m sichere Aussicht stellte. Mein Stand war der letzte auf dem rechten Flügel. Die Treiber hatten sich jenseits aufgestellt und trieben nun das Wild mit Hilfe der Dächsel der Schützen- linie zu. Das Felsgestein, welches den vor uns liegenden Waldkopf umgab bot dem Fuchs und der Wildkatze em beliebtes Bergungsmittel, besonders da in der Nähe Fichten- und Kiefernbestände sich befanden, welche der letzteren vorzugsweise willkommen sind. Jetzt gab ein Dächsel laut. Hier fiel ein Doppelschuss, dort ein einfacher, dort endlich feuerten Nachbarn 'ge- meinschaftlich ab. Schon waren mir die Treiber ganz nahe gerückt, und ich dachte längst nicht mehr an ein günstiges Loos am verlorenen Posten. Da sah ich plötzlich im Buchenbusch Etwas auf mich zuschleichen; mit scharf blickendem Auge und gespannter Erwartung folgte ich der Wendung des Thieres zur Rechten. Es raschelte leise im Laub, ein Zweig am Rande des Dickichts bewegte sich zur Seite, und der dicke Kopf einer Wildkatze mit funkelndem Gesichte tauchte auf. Das Getöse hinter ihr kümmerte die Schlaue weniger, als das Misstrauen sie lenkte, ob wohl vor ihr die Luft rein sein möchte, zumal da die Schüsse sie offenbar schon vor weiterem Vorangehen und rascherer Flucht hinlänglich gewarnt hatten, und das Laut- geben der Hunde sie obendrein zum Entschlüpfen auf Nebenpfädchen ver- anlasst haben mochte. Doch jetzt übersprang sie mit hohem Satz den Graben, stutzte einen Augenblick und setzte mit geschwungener Ruthe über die Schneisse. Am Rande des gegenüberliegenden Dickichts gab ich ihr den Schrotschuss auf das Blatt. Gleich darauf gab in der Nähe ein Dächsel laut, der ihre Spur aufgefunden hatte und über die Schneisse hin folgte. Zu meinem Erstaunen verstummte er jenseits nicht, sondern die Jagd zog weiter in's Dickicht hinein, bis ich ihn endlich „standlaut“ hörte. Auf dem Platze angelangt, fand ich die Katze in einem dichten Dornbusch. Wüthend warf sie ihre glühenden Blicke bald auf den Dächsel, bald auf mich. Zischend und schäumend fuhr sie auf ersteren los, hob die scharfkrallige Tatze und schlug nach dem Zurückweichenden, aber unter der Wirkung der tödtlichen Schusswunde zuckte sie kramphaft zusammen. Ein zweiter Schuss hinter das Gehör streckte sie völlig nieder. Raubthiere. Carnivora. 321 Höchst selten mag es einem Jäger gelingen, an einem Tage oder gar in einer Stunde zwei alte Wildkatzen zu erlegen. Eine bestellte Treibjagd wurde eines Morgens des Sturmes und der zeitweise eintretenden Regen- süsse halber aufgegeben. Dafür besuchte ich mit zwei Jagdgenossen und in Begleitung eines Dächsels und eines langhaarigen Hühnerhundes die Fuchsbaue. Anfangs hatten wir keinen Erfolg, dagegen desto besseren auf dem Bau eines steilen Abhanges in einem Kiefernhochwalde Wir mochten etwa noch 40 Schritte von der ersten Röhre entfernt gewesen sein, als sich der Dachshund von der Leine losriss und voran auf den Bau lief, wo er auch sogleich „schlüpfte“. In den nächsten paar Secunden sprang jenseits aus der Röhre eine Wildkatze, der ich mit der eiligst von der Schulter ge- gerissenen Flinte einige Schrote beibrachte, so dass sie, im raschen Laufe gehemmt, eine Kiefer zu erklettern strebtee Mein ihr nacheilender „Reno“ aber fasste sie in dem Augenblick, wo sie den ersten Sprung an den Stamm zum „Baumen“ ausführte und würgte sie. Kaum hatten wir den Bau er- reicht, so sprang vor dem Dächsel die zweite Wildkatze, welche sogleich freiwillig „baumte“ und trotz mehrerer „Anschüsse“ von Seiten meiner Gre- fährten bis zu einer kaum schussgemässen Höhe emporkletterte. Ein zweiter Schuss aus meiner Doppelflinte hatte Erfolg. Heftig schlug sie zu Boden aber das zählebige Thier sprang wieder auf, rannte der nächsten Röhre zu und verschwand. Ein Durchschlag wurde für nöthig gehalten, um der Beute habhaft zu werden. Längst war unterdessen die Katze „verendet“. Das Paar bestand aus einem Kater und einer Kätzin. Der stärkste Wildkater, welcher uns je zu Gesicht kam, und der am Widerrist eine Höhe von 43 em mass und ein Gewicht von nahezu 9,5 Klgr. hatte, wurde auf einem Dachsbau unweit Alsfelds erlegt. Der Jäger hatte sich vor einbrechender Dämmerung, den Wind sorgfältig berüccksichtigend, leise an den Bau angeschlichen und hinter dem Stamm einer Buche gut ge- deckt angestellt. Noch fiel ein glänzender Schein des Abendhimmels auf die Feste Malepartus — da funkelte schon das rothgelbe Katergesicht aus dem Dunkel einer Röhre unter verzweigten Wurzeln hervor. Nachdem der Kater gesichert hatte, stieg er vollständig aus der Röhre und wollte eben das Lösungsgeschäft beginnen, als er im Feuer zusammenbrach, aber im Todeskampf wüthend sich wälzte, mit den Tatzen schlug, mit den Zähnen Laub und Reissig fasste und in den Bau zurückklettertee Am nächsten Morgen wurde der nahe an dem Ausgang der Röhre verendet liegende Kater mittelst eines Hakens herausgezogen. Von kaum geringerer Grösse und Schwere war ein in der Nähe Gladen- bachs erlegter Wildkater. Derselbe lag ausgestreckt auf dem Aste einer alten Eiche über dem standlauten Dächsel. Mit vorgebeugtem Kopf ver- folgte die geängstigte Bestie die Bewegungen der Feinde Auf den Schuss fiel er zu Boden, von ‚mehreren Dächseln überfallen. Aber da kehrte ihm noch A. u.K. Müller, Thiere der Heimath. 21 322 Raubthiere. Carnivora. einmal die Lebenskraft auf kurze Zeit zurück und mit einem Schlag spaltete er dem einen Dächsel den Behang, mit einem zweiten brachte er dem andern eine tiefe Wunde über dem Auge bei, dass beide wimmernd und heulend zurückwichen. Der ohnmächtige Kater erhielt nun den zweiten Schuss. — Es erscheint uns geboten, unsere Hauskatze in Rücksicht auf ihre Verwilderung und ihre m Folge dessen verübten Mord- und Raubthaten an Vögeln, Vogelnestern und jagdbaren Thieren nicht ganz zu übergehen, zu- mal weil wir im zweiten Buche unseren edlen Sängern ein warmes Schutz- und Schonungswort reden werden. Wir suchen in Nachfolgendem beher- zigenswerthe Winke zu geben und verbreiten uns zunächst über die An- schauung, welche wir uns m Bezug auf den umbildenden Einfluss des An- schlusses an den Menschen und sein Hauswesen seitens des T’hieres im Laufe unübersehbarer Zeiträume, sowie der Rückkehr in Wildniss und Freileben gebildet haben. Wie das wilde Thier im gezähmten Zustande unter dem Einflusse menschlicher Behandlung an seiner Eigenartigkeit verliert und eine gewisse Anderung mit Beibehaltung der charakteristischen Grundeigenthümlichkeiten wahrnehmen lässt; so erkennen wir auch eine theilweise Annäherung und Rückkehr zum ursprünglichen Wesen und Leben, wenn eines unserer zahmen Thiere verwildert. Was eine unübersehbare Periode der Vergangenheit be- wirkt hat, das kann die verschwindend kurze Lebenszeit eines Thieres nicht verwischen, und es kann hier nur von Andeutungen die Rede sein, welche uns zu dem Schlusse berechtigen, dass bei verwilderten T’hieren unter der Voraussetzung ununterbrochener Verwilderung die Nachkommenschaft einer fernen Zukunft sich von Generation zu Generation dem Urtypus mehr nähern würde. Am langsamsten scheint diese Rückkehr zur Ursprünglichkeit in der äusseren Form und Gestaltung, in den sichtbaren Unterscheidungsmerk- malen von ehedem und jetzt, am schnellsten in der Lebensweise und der sensuellen Begabung stattzufinden. Man nimmt bei verwilderten Katzen einen unverkennbaren Unterschied im Vergleiche zu den an Haus und Hof gefesselten zahmen Katzen wahr, theils in Rücksicht der Grösse des Kör- pers, der Stärke und Ausbildung der Gliedmassen, der Gewandheit in Aus- führung von Unternehmungen, theils aber vorzugsweise in der Wildheit der Natur und der Schärfung der Sinne, wie in der Kühnheit der Raubthaten. Mit dieser Verwilderung betritt unsere Hauskatze ein anderes Gebiet des Wirkens und der Lebensweise, auf dem sie zwar der Hauptsache nach das bleibt, was sie war, aber auf sich selbst num angewiesen, Zögling ihrer Erfahrungen und der dargebotenen Gelegenheiten und Umstände wird. Ihre Stellung zum Menschen, ihr Verhalten und ihre Leistungen gegenüber seinen Forderungen, eingedenk des guten Rufs der Hauskatzen wegen ihres wesent- lichen Eingriffs in das schädliche Heer der belästigenden Nager, wird von Neuem geprüft werden müssen, und zwar vorurtheilslos, frei von Voreinge- Raubthiere. Carnivora., 323 nommenheit und Nachbeterei. Und man täusche sich doch nicht in dem Glauben, das Richterwort über den Nutzen oder Schaden unserer T'hiere sei endgültig gesprochen. Wer an exakte Forschung nicht gewöhnt ist, der kann sich kaum einen Begriff machen von der Schwierigkeit der Beurthei- lung der Thiere in ihrem Verhältniss zu den mannigfaltigen Interessen der Menschen, und gar leicht wird er versucht, mit Geringschätzung von Arbeiten zu reden, deren Werth er nicht versteht, weil er ihnen seine warme Theil- nahme nicht zuzuwenden vermag, im wie hohem Grade sie auch allgemeine Aufmerksamkeit verdienen. Vorurtheil, Wahn, Täuschung — sie sind die rechten Kinder der Oberflächlichkeit, des Mangels an Untersuchungstrieb, des Festhaltens an dem Autoritätsglauben. Gelegenheit und Erfahrung bedingen in hohem Masse das Verhalten und die Unternehmungen vieler Thiere. So auch würde man sehr irren, wenn man die Katze ihrer Unentbehrlichkeit wegen als Hausgenosse der Menschen für unbedingt nützlich erklären und ihr uneingeschränktes Walten und Hausen auf ihren Raubzügen gestatten wollte In unzähligen Haus- haltungen sind die Katzen angewiesen, sich ausserhalb zu ernähren, und man hält sie daheim in der Absicht an Nahrung knapp, um sie zum eifrigen Mäusefang zu zwingen. Thorheit! denn der hungernden Katze wird Ge- duld und Ausdauer zum Lauern an den Löchern und sonstigen Verstecken der Mäuse fehlen und ihr Sinn hauptsächlich auf Naschen und Stehlen ge- richtet sein, nur um den Ernährungstrieb zu befriedigen, der, unbefriedigt, nothwendig Unruhe, Hast und Zugreifen des Aufgefundenen und Dargebotenen zur Folge haben muss. Eine Katze von zuverlässiger Abstammung, ausgestattet mit den wünschenswerthen Anlagen einer ächten Katzennatur, fängt Mäuse, um in erster Linie den Trieb zu dem mit listigen Unternehmungen verbun- denen Raubfange zu befriedigen. Diese 'Thätigkeit nimmt das Thier, mit allen seinen Sinnen in Anspruch und übt auf das Seelenleben desselben einen überwältigenden Reiz aus, steigert mit der Leidenschaft zugleich ihm den Genuss, Erst in zweiter Linie steht das Behagen am Schmause. Wir kannten viele Katzen, die unmittelbar nach der Küchenmahlzeit statt zur Ruhe auf die Lauer sich begaben und stundenlang unverdrossen auf das Erscheinen von Ratten oder Mäusen warteten, ja, die em halbes Dutzend Mäuse fingen, ohne auch nur eine einzige derselben nach vollzogener Tödtung anzurühren. Das ist seelische Leidenschaft, Jagdeifer, oder Raub-Passion. Unsere Hauskatze muss entschieden vor Verwilderung, ja, selbst vor periodischer Entfremdung vom Hause bewahrt bleiben, sonst fühlt sie sich nur wohl draussen in Gärten, Wiesen und Feldern. Sehen wir uns zunächst einmal nach ihrem Hausen im Garten um. Mit Spannung folgt sie dem Wandel der Vögel. Erfahrung belehrt sie über die Eigenthümlichkeiten derselben; sie lernt ihre Schwächen und Stärken, die Mittel und Wege zu ihrer Erhaltung, Sicherheit und Rettung kennen; sie 21* 324 Raubthiere. Carnivora. zieht Schlüsse aus ihren Tönen, ihrem Fluge, ihrem Wesen und Benehmen; sie fühlt aus allen diesen Ausserungen den Seelenzustand, in welchem sich die Thierchen befinden, heraus, ihre Furcht, ihre Angst, ihre Verlegenheit, Verzweiflung und Besorgniss um Nest und Brut. Da darf eine Maus den Weg kreuzen, die vogellüsterne Katze sieht ihr entweder im Kampfe mit vorübergehender Unschlüssigkeit in der Wahl nach, oder sie verfolgt nach rasch vollzogenem Fange ihren ursprünglichen höheren Zweck, die getödtete Maus zur Seite legend. Was hilft nun die List der ihrem Naturtriebe folgenden Grasmücke, welche sich zur Rettung der Brut in der Absicht, den Feind abzulenken, zur Erde niederfallen lässt und in täuschender Ver- stellung die mühsam dahimflatternde Flügellahme darstellt? Die Katze hat das schon öfters gesehen, und ihre misslungenen Sprünge nach der trefflichen Schauspielerin haben sie bereits von der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen überzeugt. Eingedenk so mancher glücklichen Entdeckung, späht und lauscht sie umher. Zuweilen führt das Auskundschaften auf den nächststehenden Büschen und Stauden zum Ziele, sicherer aber das zurückhaltende Lauern. Denn entweder kehren die Eltern bald mit Futter zur Brut zurück, oder diese letztere verräth durch Locken den Stand des Nestes, und nun hat die Katze nur zu prüfen, wie sie zum Sitz der ausersehenen Opfer gelangen kann. Hier erreicht sie durch Klettern die auf Büschen und Bäumen stehenden Nester; dort weiss sie durch einen Sprung Nest und Inhalt mit sich hinabzureissen. Hier greift sie mit der Pfote möglichst tief in den Staarenkasten hinein; dort fängt sie auf der Lauer die Ernährer vor der Offnung weg, sodass die Insassen jämmerlich verhungern oder, wenn sie Hügge genug sind, futtergierig schreiend hervorlugen und sich von der Mörderin ergreifen lassen. Gelungene Unternehmungen reizen und treiben zu neuen an, und da die Vogelbeute für den Katzengaumen eime wahre Leckerspeise ist, so wird der Sinn der also lüstern gewordenen Katze mit aller Entschiedenheit und Bevorzugung auf solche Raubzüge hingelenkt. Die Folge ist empörend ge- nug, denn die Verheerungen sind oft der Art, dass fast kein einziges Vogel- nest in den Gärten den Sommer hindurch verschont bleibt, die von Katzen beschlichen und ausgespürt werden, ausgenommen diejenigen Nester, welche auf äusserst schwanken Zweigen und in den unzugänglichen Kronen der Bäume angebracht sind oder in engen und tiefen Höhlungen stehen. Den Erdnistern geht es in Feld und Wiese nicht besser, womöglich noch schlimmer, denn die Katze nimmt zu wie an Alter so an Schlauheit und erspriesslicher Ausnutzung ihrer im Gedächtniss haftenden und Neigung wie aktuelle Richtung bestimmenden Erlebnisse und Erfahrungen. Hier er- weitert sich der Kreis ihrer Raubthaten, und Übung mit Erfolg führt sie vom Kleinen zum Grossen, von der Lerche zum Rebhuhn, von der Maus zum jungen Hasen. Da ist es nicht blos die brütende Wachtel, das brütende Raubthiere. (Carnivora. 325 Rebhuhn, die sie über dem Neste fängt, sondern ihr Verstand leitet sie zu weit bewundernswürdigeren Ausführungen fein ersonnener Thaten. Das allabendliche Locken der zerstreuten Hühnerketten weckt ihren Unter- nehmungsgeist. Sie hat das Aufstehen der jungen Hühner in der Dämmerung gesehen und das „Einfallen“ derselben in ihrer Nähe begünstigte einen Sprung nach einem derselben. Nun steht die Kenntnissreiche zur Dämmer- zeit mit gespanntem Gehör und geschärftem Gesicht an den Plätzen, wo die Hühner sich zusammenrufen oder „einzufallen“ gewohnt sind. Gelegen- heit macht Diebe — Übung macht den Meister — Erfahrung bildet aus und um! Unsere verwilderte Katze fängt nun lieber Hühner, Wachteln, Lerchen und Wiesenschmätzer, als Mäuse. Aber noch nicht genug. Es rede das Räuberleben eines alten Katers, den wir genau kannten, und der weniger verwildert, als vielmehr periodisch der Heimath entfremdet war. Eines Morgens sehen wir ıhn mit einem jungen Häschen vor der Thür seines Herrn auf das Öffnen derselben warten. Unverschrt liefert er die Beute der heraustretenden Magd ab, und der Hausbesitzer versichert, dass dies der fünfte Hase in der zu Ende gehenden Woche sei, den ihm der Kater gebracht habe. Zur Erläuterung dieses Auftritts möge die genügend verbürgte und sicher festgestellte Beobachtung dienen, dass Katzen, welche nicht gänzlich dem Hause entfremdet sind, den grossen Raub nach Hause schleppen. Ver- wilderte Katzen dagegen, die sich von Haus und Hof ganz und gar entfernt haben und eigentlich nirgends daheim sind, thun dies selbstverständlich nicht, sondern verzehren auch den grösseren Raub an sicherm Ort. Vor- zugsweise sind es übrigens die starken alten Kater, welche sich sowohl durch Mannisfaltigkeit der Raubthaten, wie auch durch regelmässiges Heim- tragen der grösseren Beute auszeichnen. Solchen Ausschweifungen unserer Katzen muss Einhalt gethan werden, und wie sehr wir einerseits dem nützlichen Walten unserer Hauskatzen unsere. volle Anerkennung zollen, so entschieden sprechen wir uns gegen Duldung verwilderter und ausgearteter Katzen aus. Doch die Verhütung der genannten Übel für die künftige Generation der Hauskatzen ist die beste Empfehlung, die wir geben können, und folgende Regeln mögen als Schutz- mittel gegen bödettendere Ausschreitungen len. Vor Allem gebe man der Katze von früher Jugend an, wie dem Hunde, eine vernünftige Dressur, die sich streng an die Prinzipien der allmäligen Entwickelung und Ausbildung der thierischen Anlagen anschliesst, und die Sonderheiten der Rage, wie der individuellen Begabung in Rechnung bringt. Der Umgang mit Menschen fördert an sich schon seelische Billa wie viel mehr aber wird das Thier darin wachsen, wenn dieser Umgang zur förmlichen Erziehung sich gestaltet! Wer mit Geduld und Umsicht sich der Mühe einer solchen durchaus nicht zeitraubenden Erziehung seiner Katze 326 Raubthiere. Carnivora. widmet, der findet in der Artung des Zöglings bald Lohn. Die Kleine muss nach und nach an den Anblick der Vögel m Käfigen gewöhnt, ja, in ein gewisses Freundschaftsverhältniss zu denselben womöglich versetzt werden, und das gelingt durch Verbringung in ihre Nähe unter Aufsicht und Be- wachung des Verhaltens der Katze, das stets m die nöthigen Schranken gelenkt werden muss. Unvergesslich bleibt in unserer Erinnerung das Verhältniss, in welchem eine Katze mit einem Staar und einem Rothkehlchen in der Stube lebte. Sie frassen alle drei zusammen aus einem Napfe, und nie unterstand sich die Katze, auch nur eine drohende Miene gegen die Vögel anzunehmen. Mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit wich sie den Neckereien des Staars und seinen zweitweise nach ihr gerichteten Schnabelhieben aus; ihr Gewissen liess die Kleinodien ihres Herrn gleichsanı als heilig gesprochene und dem Kultus der häuslichen Neigung geweihte Wesen vor ihren Augen er- scheinen, und diese Würdigung des herrschaftlichen Vertrauens auf Ver- läugnung und Zurückdrängung des Naturtriebes war der Sieg, mit welchem eine ebenso einfache wie vortreffliche Erziehung triumphirte. Ist die Katze mit dem Vogel in der Stube vertraut geworden, dann trägt man sie zu Nestern, lehrt sie da Entbehrung, Zurückhaltung, Selbst- beherrschung, Schonung, schärft ihr das Gewissen, sodass sie nach und nach die freilebenden Vögel ebenso respektiren wird, wie die gefangenen. In gleicher Weise verfährt man, um die Katze vor dem Raube an jungen Hasen zu bewahren. Hierzu eignen sich junge Kaninchen, die man unter strenger Aufsicht in ihre Gesellschaft bringt. Der Erfolg dieser Erziehungs- mittel wird überraschen. Die Katze ist bildsamer und lenkbarer, als man im gewöhnlichen Leben glaubt; schon ihr scharfer Orts- und Orientirungs- sinn, der sie befähigt, mehrere Meilen weit den Rückweg zur Heimath zu finden, giebt ihr das Gepräge eines höher begabten, intelligenten Thieres. Verhätschelung muss natürlich der Erziehung fern bleiben, sie gehört ja auch nicht zu ihr, sondern zur Verziehung. Eine zweite Grundregel, welche die Katze vor Ausschreitung bewahrt und Entfremdung wie Verwilderung verhütet, ist die Einrichtung einer täg- lichen zur bestimmten Zeit wiederkehrenden Fütterung. Endlich machen wir noch auf einen Umstand aufmerksam, der viele unserer Katzen im Winter zur Vogelräuberei führt, nämlich das Ansammeln der Vögel an Gebäuden und in der Nähe von aufgeschichtetem Holz, von wo aus die Katzen im Sprunge aus dem Hinterhalt die Futtersuchenden überlisten. Deshalb füttert man die Vögel an möglichst freigelegenen Plätzen, natürlich auch mit Berücksichtigung des Schutzes vor Habichten und Sperbern. Diese Massregel empfiehlt sich hauptsächlich bei tiefem Schnee und hartem Frost, weil da die Vögel matt und dreist sich der Gefahr aus- setzen. Ein von Schnee entblösster, sodann durch Hecksel belegter und mit Raubthiere. Carnivora. Sal Dornreisig bedeckter Platz, der dazwischen mit ausreichendem und der Er- nährungsweise der zusammengeschaarten Vögel entsprechendem Futter bestreut ist, wird so zur doppelten Rettungsanstalt für die bedrängten Standvögel. Allgemeines über die Familie der Hunde. Canina. Es smd meist Weltbürger, Thiere deren Vielseitigkeit ihnen gestattet, unter den verschiedensten Verhältnissen zu leben. Den Lichtpunkt der ganzen Familie bildet unser unschätzbarer zahmer Hund, der den Inbegriff aller Eigenheiten, gleichsam die körperliche und geistige Signatur ihrer Ver- treter trägt. Von ihm verlaufen sich die Züge mehr oder minder glänzend und treffend wie Strahlen auf die näheren oder entfernteren Trabanten aus dem Centrum Hund, canis. Wohl finden wir den Wiederstrahl dieses und jenes Zuges von unserem treuen Hausthiere bei diesem und jenem Sippen- Vertreter der Familie; bei keinem aber die Summe von Intelligenz und die Vielseitigkeit des Wesens wie bei jenem. In der Ordnung der Raubthiere steht die Familie der Hunde derjenigen der Katzen in Bezug sowohl auf die Einhelliskeit der Formen im allen Sippen, als auch in Ansehung der harmonischen Gliederung und Gestaltung des Katzenkörpers an sich nach; an geistigen Eigenschaften und Vielseitig- keit des Charakters werden die Mitglieder der letzteren von denen der ersteren bei weitem überragt. Der Hund ist und bleibt mit seinen nächsten Verwandten das am geistigsten entwickelte Thier, und ihm gebührt vorzugs- weise die Bezeichnung „Menschthier“. Aber auch der Körper der hundeartigen Thiere ist nichts desto weniger ein ebenmässig gebildeter. Das Skelet baut sich in kräftiger, etwas derber Form auf. Ebenso kräftig ist das Gebiss, welches zwar alle Zahnarten der Raubthiere aufweist, das aber, mit demjenigen der Katzen verglichen, weniger auf ausschliesslich thierische Nahrung deutet. Die Höckerbildung tritt in zwei Backenzähnen hinter dem Reisszahne auf, die heisszähne haben nicht die Grösse und Schärfe und die Kauzähne sind mehr stumpfe Mahl- zähne als die entsprechenden im Katzengebiss. Schon hierdurch bekundet sich sprechend der mindere Blutdurst und die viel weniger allgemein aus- geprägte Mordgier der Hunde gegenüber dem unverbesserlichen Räuber- und Zerstörungstypus in der Katzenfamilie. An den ‚gestreckten Schädel reihen sich ebenso längliche Kiefern. Ver- kümmert tritt gegen das ausgebildetere der meisten Katzen das Schlüsselben zurück, ein Zeichen, dass die Vertreter der Hundefamilie ihre Vorderglied- massen zum Greifen und Klettern nicht gebrauchen können. In Ansehung ihrer Leibesgrösse bilden die Hunde nur Thiere von mitt- lerer Statur. Diese ist eher mager, als fleischig oder fett, der Rumpf, pro- portionirt und an den Weichen eingezogen, ruht auf mageren mittelhohen oder hohen Läufen mit verhältnissmässig kleinen Pfoten, mit welchen der 328 Raubthiere. Carnivora. Tritt auf den Zehen erfolgt (Zehengänger). Der Kopf ist im Verhältniss zum Körper klein, zugespitzt und läuft in eine stumpfe feuchte Nase aus. Der Hals erscheint dem Kopfe gemäss mittelstark, der Schwanz bald kurz, bald lang und vielfach stark behaart. Die Vorderpfoten weisen fünf, die hinteren nur vier Zehen auf. Wie die Augen gegenüber denjenigen der Katzen bedeutend grösser und lichtempfänglicher, so sind die übrigen Sinne der Hunde hervorragender und schärfer, als die der Katzen. Vorzüglich gilt dies vom Witterungs- sinne, dem bewundernswerthen Organe, womit der zahme Hund dem Men- schen so Ausgezeichnetes leistet und was so manche andere Sippen der Familie ebenfalls bevorzugt. Das Gehör ist gleichfalls gut ausgebildet und verschafft ja unserem Haushunde die gerühmte Eigenschaft der Wachsam- keit. Wie schon angedeutet, ist das Hundeauge dem Lichte zugänglicher und darum, namentlich bei Tage, schärfer, als das der Katzen. Der Ausdruck des Gesichts ist bei dem eigentlichen Hunde aber der Spiegel seiner Seele. Freundlichkeit, Offenheit, Gutmüthigkeit und Geist spricht aus seiner Tiefe. Die dem Hunde am nächsten stehenden Sippen kennzeichnet ein schlauer, mitunter verschmitzter, jedenfalls aber geweckter Blick, welcher sehr absticht von dem tückischen, unheimlichen, lauernden, trotzig-wilden der Katzen. Hund und Katze — wir stellen beide unwillkürlich bei unserer Betrachtung immer wieder in Vergleich, einander gegenüber — schon das Sprüchwort begreift einen strengen Gegensatz in sich. Wie sich die Urtypen beider Familien, unser treuer „Philax“ und unser Schleicher „Hinz“ feindlich gegen- überstehen auf ihrem Lebensgange, so auch bilden sie schneidige Oontraste dem Thierpsychologen in den Grundzügen ihrer Charaktere. Das Naturell des Hundes ist Frohmüthigkeit, ihm entsprosst die muntere Laune und die Gutmüthigkeit, ihm enthebt sich der opferwillige Muth und die unbegrenzte Anhänglichkeit an den Herrn; die Katzennatur neigt zum mürrischen, verstockten Wesen und sie erzeugt die Falschheit und Tücke. Der Hund kann freudig jauchzen; die Katze nur verdriesslich miauen. Sie liebt nur das Haus aus Gewohnheit; der Hund hängt mit seelischer Liebe an seinem Herrn. Wie der Hund sich an der Hand des Menschen vom grauen Alterthume her als sein treuester, ausdauerndster Begleiter zu dem höchststehendsten Thiercharakter emporgeschwungen; so ist den tiefer stehenden Sippen der Familie wenigstens List und Schlauheit, ein sprechender Grad der Über- legung im Thun und Treiben zueigen. Der wildlebende Hund handelt mit Vorbedacht, mit Argwohn und bekundet Verstand in allen Handlungen; Fuchs und Wolf sind, der erste die schlaue und thierische Berechnung selber, der letztere klug, vorsichtig, wachsam und wie der Wind flüchtig der Gefahr entgehend. Mit dem geistigen Wesen harmoniren die körperlichen Eigenschaften. Br . H N N UN, I Vi . 7 Yyy jr WM m N) N 5 Wol Der Raubthiere. Carnivora. 329 Gehen den hundeartigen Thieren die aalgleichen, elastischen Windungen des Katzenleibes auch ab; ermangeln sie auch der streckbaren scharfen Krallen zum Greifen und Reissen, sowie der Gabe des Kletterns und der Fertigkeit in Ausführung einzelner mächtiger Sprünge: in der Schnelliskeit des Laufes, im Erhaschen der Beute, im Schwimmen und Tauchen und vor Allem in der Ausdauer jeglichen Vollbringens übertrifft der Hund die Katze bei weitem. Die vorherrschende Nahrung der Hundefamilie ist die thierische, be- sonders das Fleisch der Warmblütigen. Alle Mitglieder, unsere hochstehenden Genossen im Haus, Hof, Feld und Wald nicht ausgenommen, huldigen jedoch auch der üblen Neigung zur Aasnahrung. Viele Arten reihen sich an die Allesfresser, wie denn unser Hund und der Fuchs fast Alles verzehren. Herrschend in der Familie ist die Geselligkeit, namentlich bei der Jugend, die sich durch muntere Launen im ergötzlichen Spiele auszeichnet. Der Wandel ist theils en der Dämmerung und der Nacht hingegebener; theils den Tag suchender. Die Dämmerungs- und Nachtthiere bergen sich Tags über hier in selbst gegrabenen oder fremden Bauen unter der Erde, in Felsen- und Baumhöhlen, dort in Dickichten der Wälder oder in mit Gras und Schilf bewachsenen Strecken der Haiden und Steppen, um bei Dämmer- schein oder im nächtlichen Dunkel gar mannigfach jagend sich umherzu- treiben und mit Tagesanbruch wieder in ihre Verstecke zurückzuziehen. Alle hundeartigen Thiere leben in Polygamie, so viel auch in den meisten naturgeschichlichen Werken das Gegentheil angeführt sein mag. Unser zahmer männlicher Hund zeigt uns den ererbten Urzug der Familie noch heute sprechend, dass er kein zärtlicher Vater ist, ja dass er die Jungen geflissentlich meidet und dass ihm sowohl, als der Hündin eine besondere Neigung zu ständigem Eheleben gänzlich mangelt. Ganz dasselbe ofien- baren dem aufmerksamen Blicke Fuchs, Wolf, Schakal und andere Sippen- vertreter. Die Fruchtbarkeit ist eine hervorragende Sie hält sich gewöhnlich über dem Niveau der mittleren und berührt manchmal die höchste Potenz in der Säugethierwelt. Der Wurf oder die Nachkommenschaft schwankt zwischen 4 und 20, während 6 Stück die Durchschnittszahl vertreten. Wesen und Wandel aller Glieder der Familie in Betracht genommen, so bekunden sie sich, alle zwar dem Räuberleben hingegeben, doch im Allge- meinen als Thiere, deren Nutzen so ziemlich den Schaden, den sie stiften, aufhebt. Zieht man jedoch die grossen Vortheile, welche der Menschheit durch die unablässigen Dienstleistungen unseres zahmen Hundes erwachsen, in Rechnung, dann wendet sich ein überwiegend Theil Nützlichkeit auf Seite der Familie, von welcher wir zwei Sippen vertretende Arten unseres heimischen Bodens näher betrachten wollen. Zwei sprüchwörtlich gewordene Thiergestalten, die beide sich den Rang der grösseren Popularität nach verschiedenen Richtungen hin streitig machen, sind Wolf und Fuchs. Beide schon dem 330 Raubthiere. Carnivora. lallenden Kinde in Bild und Wort vorgeführt, beide geläufig in Jedermann’s Munde und beide in ihrem Wesen und Wandel — noch so wenig bekannt! Der Wolf, Canis lupus. „Der Wolf kommt!“ so rief die deutsche Amme dem schreienden Kind entgegen, das vor dem Namen des bekannten Popanz aus dem Märchen athemlos mit Schluchzen innehielt. Wir könnten uns mit diesem Ausrufe an so viele Erwachsene und dazu Gebildete wenden, selbstredend nicht in dem Sinne der Amme, sondern in dem Rufe der Mahnung, das Thier einmal mit uns einer eingehenden Betrachtung zu unterwerfen. Schon ist es unseren Blicken fast in allen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes entrückt; nur in dem äussersten Osten hat es sich spärlich vor der gänzlichen Aus- rottung noch erhalten, und m den Grenzstrichen unseres wiedergewonnenen deutschen Bodens, in den Vogesen und letzten Ausläufern der Ardennen, kommt es wieder in Sicht. Gewiss ist es von Interesse, diesen in die ent- ferntesten Winkel der Gebirgswildniss zurückgedrängten bösen Feind der Menschheit und der friedlichen Thierwelt aus der halben Vergessenheit, der er verfallen, wieder, wenn auch nur der Beschreibung nach, in’s leben- dige Dasein zu ziehen. Zu seinem äusseren lebensvollen Anblick verhilft uns schon die natur- getreue und bildende Hand unseres Künstlers. Unser beschreibendes Wort soll mit Anknüpfung an die Illustration nur begleitend und ergänzend das Thier einführen, in dessen Gestaltung sich sein Inneres um so leichter und lebendiger verwesentlichen kann. Das ist unser verwilderter Hund — ein vermagerter Schäferhund! — so denken wir beim ersten Anblick des Bildes. Wir hätten Recht, wenn wir nicht vielmehr den Abriss des nächsten Verwandten unseres liebgewor- denen Haushundes betrachteten. Alles, was wir an dem Wolfe sehen, ist ein bizarres, verwüstetes Bild unseres freilich durch lange Cultur geläuterten braven Hundes. Wir müssen uns hüten, in den Fehler mancher Natur- forscher zu verfallen, die bald den Wolf, bald den Schakal für den Stamm- vater unseres Hundes erklärt haben. Der Wolf ist unstreitig das dem Hunde, namentlich den urwüchsigsten Charaktertypen, wie Schäferhund und Spitz- pommer, am nächsten kommende Thier der Wildniss und gehört deshalb auch als naher Verwandter in eine und dieselbe Sippe mit dem Hunde. Allein wir finden bei eingehender Vergleichung eben so viele wesentliche Unterschiede als übereinstimmende Merkmale. Die letzteren sprechen sich in der runden Pupille seiner Augen aus, in seinen dem Spitzpommer ähn- lichen aufrecht stehenden Ohren (Gehören), seinem Gebisse, in dem an den Weichen eingezogenen Leibe und den mageren Läufen, wie wir dies auch bei dem Schäferhunde in geringerem Grade wahrnehmen. Die Unter- schiede bekunden sich in dem sehr schiefen Stande der Wolfsaugen, in Raubthiere. Carnivora. 331 seiner abgeflachten Schädelbildung, in der mehr spitz zulaufenden, fuchs- artigen Schnauze und den länglich-schmalen Pfoten, in welchen die Mittel- zehe viel weiter vorragt, als bei dem Hunde. Auch trägt er die buschige Ruthe nie wie der Hund nach oben gerichtet und geringelt, sondern lässt sie eingeklemmt oder beigezogen in einem kleinen Bogen hängen. Sein „Sommerbalg“ ähnelt sehr dem des Fuchses. Die Grundfarbe ist röthlich, hin und wieder an Stirne, Wangen, Schnauze, Keulen und Schenkeln mit Grau durchschossen. Der Winterbalg färbt sich mehr fahlgelbgrau mit schwarz überlaufenen Spitzen. Die Fxtremitäten des Kopfes, die Schenkel und der Bauch sind weisslich untermischt. Diese weisse Mischung mit längeren, dichteren Haaren herrscht bei dem Wolf des Nordens vor, während die Exemplare der südlicheren Striche der schwarze Anhauch mit kürzerem Haarwuchse kennzeichnet. Der Balg des Wolfes unterscheidet sich wesent- lich von dem aller Hunde darin, dass er stets eine Grundwolle besitzt, über welcher das längere Haar sich verbreitet. Dies ist am Halse und über den Rücken her bis zu den halben Rippen herab rauh, struppig und stehend, am längsten am Bauch, den Schenkeln und der buschigen, mittellangen Ruthe. Das ausgewachsene männliche Thier erreicht die Grösse eines mittelwüchsigen Fleischerhundes. Seine Gestaltung ist aber viel schlanker und magerer. Dennoch erreicht ein sehr starker alter Wolf ein Gewicht von 40 bis 45 ke. Auffallend stark ist das Vordertheil des Wolfes, namentlich der kurze, derbe Hals mit dem breiten Nacken und Oberkopfe. Hingegen ist das Hintertheil schwach. Mit diesem „schränkt“ er, d. h. er schwankt im Schritt und Trabe rechts und links mit der Spur, in welcher er im Allgemeinen bei den angegebenen Gangarten wie der Fuchs regelmässig schnürt oder eine Pfote vor die andere in ziemlich gerader Richtung setzt. Beim Schritt und Trabe zieht er auch das Hintertheil stark bei, wodurch, verbunden mit dem Einklemmen der Ruthe, eine eigenthümliche, halb schiebende, halb schwankende Bewegung entsteht, dass man glaubt, das Thier sei lendenlahm. Das Kreuz ist auch offenbar die schwächste Stelle des Wolfs, und ein starker Mann vermag denselben mit. einem derben Knüppel durch einen Schlag auf’s Hintertheil zu lähmen. Im Vordertheile besitzt das Thier aber eine unbändige Stärke, und es ist im Stande, mit sichtbarer Leichtigkeit einen Hammel oder Rehbock im Rachen davonzutragen. Seine Sinne sind sehr scharf und unterstützen seine Vorsicht und Klugheit ebensosehr als seine hervortretende Raubgier. Zufolge dieser würgt der Wolf bei weitem mehr Raub, als er zu seiner Sättigung bedarf. Er ist im Stande in fünf bis zehn Minuten ein Dutzend Schafe zu würgen. Vom Raube ergreift er gewöhn- lich nur ein Stück, um es m das nächste Dickicht zu tragen und dort anzureissen oder zu zerfleischen. Er ist ausserordentlich heisshungerig und vielgefrässig und vermögend ein Schaf mit einemmale bis auf die 332 Raubthiere. Carnivora. Ln} Knochen zu verzehren. Gesättist, löst er sich an der Stelle des Anrisses, vergräbt Überbleibsel vom Raube wie der Hund im Boden und „steckt sich“ dann, sobald er sich sicher glaubt, in der Regel in der nächsten Diekung bis zur Nacht, in welcher er gewöhnlich weiter „streicht“. Er ist überhaupt ein wahrer Landstreicher, bleibt im einer Gegend nie lange und wandert über Nacht meilenweit in andere Striche. Neben seiner Raubgier ist wohl Feigheit der hervortretendste Zug bei dem Thiere. Nur in äusserster Noth bei Verfolgung oder bei plagendem Hunger wandelt sich sein ge- wöhnliches Wesen vollständig um. Er lest sein feiges Wesen zugleich mit seiner ungemeinen . Vorsicht ab und schemt sich plötzlich seiner Unbändig- keit bewusst. In solchen Lagen und Zeiten höchster Bedrängniss wird er gefährlich und greift blindlings grössere Thiere und den Menschen an. Gerade zur Zeit der Noth, im Winter, schlagen sich die Wölfe zu Rotten von gewöhnlich 5—10 und mehr Stück zusammen und werden in dieser Gemeinschaft um so gefährlicher. Hunger und starke Kälte presst ihnen ein widerliches Heulen aus. Eine Rotte jagt gemeinschaftlich und unver- kennbar planmässig. Die Art und Weise, wie der einzelne Wolf sowohl, als eine Rotte beim Raube angreift, ist interessant und wirft ein scharfes Streiflicht auf das Wesen des Räubers. Die Schlupfwinkel des Woltes sind einsame, wilde Gebirgswälder, auch ausgedehnte Brücher, Moore und Steppen mit schwer zugänglichem Terrain oder weitgedehnte Forste. Schluchten, Felsengehänge und verwachsene Dickichte besucht er vorzugsweise, namentlich die Wölfin zur Zeit der Wolf- oder Ranzzeit. Diese fällt gewöhnlich in den Januar oder Februar; ihre äussersten Grenzen fallen zwischen die letzte Hälfte des December und das Ende des Februar. Die Wölfin „geht dick“ (ist trächtig) etwas über 100 Tage nach eimer individuellen Wolfzeit von 14 Tagen. Sie giebt Ver- anlassung zu erbitterten oft tödtlichen Raufereien und Kämpfen unter den ergrimmten Wölfen. Ende März oder Anfangs April geworfen oder gewölft, bleiben die vier bis acht Jungen oder das Gewölfe 12—14 Tage blind und saugen sechs Wochen an der Mutter, die sie nach und nach an ihre Hauptnahrung, an Fleisch von allen möglichen Thieren, gewöhnt. Ihr Versteck sind die Winkel düsterer Wälder, Felsenschluchten, erweiterte Fuchs- und Dachs- baue, zuweilen selbstgegrabene kurze Baue, hohle Bäume, sowie hohle felsige Ufer, nicht selten auch ein mit Geniste aller Art versehenes Lager auf der Erde im dichtverwachsenen Holze oder auf den Erhöhungen und Inseln der Brücher und Moore. Von hier aus unternimmt die jetzt mehr denn je herumstreichende Wölfin ihre Raubzüge, immer dabei aber ihr Gewölfe scharf im Auge behaltend. Der geringste Verdacht macht sie besorgt, und sie trägt eines um das andere ihrer Nachkommenschaft im Rachen zu einem anderen Verstecke. Sie wird von guten Beobachtern als treue Mutter und Raubthiere. Carnivora. 333 muthige Vertheidigerin ihres Gewölfes geschildert. Wie die Fabel beim Fuchse sich von schreibseliger, schlechtprüfender Feder zur andern fort- geerbt hat, die Füchsin raube nicht in der Nähe ihres Gehecks (Nach- kommenschaft); so paradirt noch heute dieselbe Behauptung von der Wöltfin. Diese aber verlässt die Jungen in den ersten Tagen nach dem Wölfen gar nicht; einige Tage darauf entfernt sie sich nur auf kurze Zeit zum Reissen von Beute für sich, kann also schon deswegen, weiter aber auch aus Besorgniss vor dem das Geheck in erster Zeit bedrohenden Wolfe keine entfernten Streifzüge unternehmen. Der alte Wolf betheiligt sich nie an der Pflege und Erziehung der Jungen, und diese sind bei ihrer Erstarkung nach den ersten Monaten auch vor ihm schon sicherer. Die Wöltfin hat keine leichte Arbeit, ein halbes Dutzend Junge täglich zu befriedigen. Sie wird dreist, verwegen und streift nun in die Nähe menschlicher Wohnstätten, ebenso kühn als verschlagen ihren Raub reissend, der aus kleinem und mittelgrossem Hausvieh, wie Hühnern, Enten, Gänsen, jungen Schweinen, Lämmern u. s. w. besteht. Ist das Geheck drei Monate alt, so begleitet es schon die Alte auf ihren Streifereien. Sobald sie diese beginnen will, gibt sie den Nach- kommen das Zeichen zum Aufbruch durch Geheul, welches in höheren Tönen von dem Geheck im Chore sogleich beantwortet wird. Hierdurch wird ein eigenthümliches Concert von einigen Minuten Dauer hörbar. Nolde knüpft an diese Eigenthümlichkeit die Beschreibung einer Jagdmethode in Kurland in der leider eingegangenen Zeitschrift „Aus Wald und Haide“, welche wir im Vertrauen auf den Autor nicht anstehen hier auszüglich. wiederzugeben. Einige revierkundige Jäger schicken sich durch behutsames Aufstellen in Wäldern, wo sie erfahrungsmässig Wolfsgehecke vermuthen, in mehreren Nächten hinteremander an, aus dem Geheul der zum Streifen aufbrech- enden Wolfsfamilie deren Aufenthaltsort zu erforschen. Zum näheren Be- stätigen des Wolfsnestes wählen alsdann die Jäger die Beobachtungs- Punkte in engerem Kreise, um durch gemeinschaftliche Aufmerksamkeit von verschiedenen, immer aber noch vorsichtig eingenommenen Ständen den Sitz der Wölfe mit möglichster Sicherheit zu erlauschen. Die Wölfin nämlich lässt ihr Geheul zuerst in der Nähe des Nestes, dann in Intervallen immer entfernter davon vernehmen, bis es in weiter Ferne verhallt. Nun ahmt einer der Anstehenden das Geheul der Wölfin täuschend nach, worauf das Geheck antwortet und sein Versteck den Lauschenden verräth. Nach diesem Ausmachen des Wolfssitzes wird gewöhnlich alsbald eine Treibjagd am vorgerückten Morgen veranstaltet, wobei die Schützen die von den Wölfen betretenen Pässe (Pfade), kurländisch die Traden benannt, be- setzen, entweder die alten Traden oder die Wege, welche von dem ur- sprünglichen Wohnsitz der Wolfsfamilie auf einen in der Regel später gewählten Schlupfwinkel führen, oder die Wassertraden, d. i. die zum 334 Raubthiere. Carnivora. Wasser führenden Pässe Auf diese los treiben die Treiber mit oder ohne Hunde die Wölfe in geschlossenem Treiben, das sich an beiden Flügeln an die Schützenlinie anlehnt, zum Schuss. Der junge Wolf wächst bis in’s dritte Jahr, mit welcher vollkommenen Ausbildung er erst fortpflanzungsfähig wird. Der Wolf scheint durch- schnittlich nicht älter als unser Hund zu werden. Viele verkommen in strengen Wintern augenscheinlich; auch herrschen Seuchen und andere Krankheiten unter ihnen: denn der erfahrene Wolfsjäger begegnet nicht selten sehr elenden und kranken Individuen während und Ausgangs des Winters. hegelmässig raubt der Wolf, als ein ausgeprägtes Nachtthier, im Dunkel der Nacht oder bei der Fackel des Mondes. Der auf seinem Streifzuge begriffene einzelne Wolf kreist im Schritt oder Passe (Trabe) gewöhnlich in grossen Bögen umher. Er schleicht um die Hürden, Viehweiden und die Dörfer, stets die Bedachtsamkeit selber und die bewährten Prüfsteine seiner Sinne in Thätiskeit. Der Wind und der Schall sind ihm Compass. Die untrügliche Nase im Nachtzuge und das Gehör gespitzt, sucht er die Gelegenheit zum Raube. Hier nimmt er eme Fährte auf, die er gleich dem besten Hunde wie an einer Schnur verfolgt, um vorerst durch Schleichen in die Nähe des verfolgten Thieres zu kommen, das er, endlich sichtig, durch einige Sätze oder durch Nachrennen zu packen sucht. Springt und packt er fehl, oder wird das Wild vor ihm flüchtig, haltend und erhascht es auch, sobald es nicht flüchtiger ist als er. Bequemer für ıhn als der Raub von Wild ist das Reissen des zahmen Viehs. Seine Verheerungen in den Schaf- und Ziegenherden, sowie an den Kälbern sind bekannt; weniger wohl die Angriffe auf älteres Rindvieh und Pferde. Die dann verfolgt er es oft an- Hirten der ungarischen und russischen Steppen, sowie die der Hochlande in Skandinavien wissen viel zu erzählen von seinen Unthaten. Er umkreist die Weideplätze und sucht mit Vorsicht das Jungvieh der Rinderherden oder die Fohlen des Pferdetrupps zu überfallen, die sich aus dem Umkreis der Weideplätze hin und wieder herausgewagt oder verlaufen haben. Wie der Wind hängt er dem Opfer an der Kehle und rasch ist es abgewürgt. Pferden und älterem Rindvieh, sowie Hirschen springt er in’s Genick, um dem Huftritt der ersteren und dem Gehörn der letzteren zu entgehen. Doch greift er solch erwachsenes Weidevieh nur, vom Hunger geplagt und meist nur unter 'Seinesgleichen zusammengerottet, an. Die Steppenpferde und das Rindvieh kennen ihren Feind genau und zeigen sein Nahen durch lautes Gewieher bezüglich Brüllen an. Aber das angegriffene Vieh sammelt sich nicht, wie vielfach noch irrthümlieh berichtet wird, zu Hauf mit den Köpfen zusammen, um sich durch Ausschlagen mit den Hinterbemen gegen den Wolf zu vertheidigen, sondern Pferd, Ochse und Kuh dringen rasch dem Raubthier entgegen, die Pferde, um es mit ihren Vorderbeinen zu schlagen, Raubthiere. Carnivora. 335 das Rindvieh, um es mit den Hörnern in die Flucht zu treiben. Dem Elchwilde wird der Wolf nach Marggraf besonders im dichteren Stangen- holze gefährlich. Eine Rotte von 10 bis 12 Wölfen sucht das Wild in solches Holz zu jagen, denn ein Rudel wehrt sich mit Erfolg gegen die Dränger. Ein alter starker Wolf packt dann ein Stück am Lauscher und hält, indem er sich seitwärts mit semem Leibe und den Läufen um die Stangen wirft, das Gepackte selbst in der stärksten Flucht fest, wodurch es der nacheilenden Rotte zum Raube wird. — Auch bei hohem Schnee unterliegt dies mächtige Wild den Rotten. Es sinkt vermöge seiner Schwere bis an den Leib auch im gefrorenen Schnee, während dagegen die leichteren Wölfe die Schnee- kruste trägt. Sie haben dann leichten Raub an dem Wilde, das sie rasch überholen und im tiefen Schnee stellen. Der Elch kann dann seine ent- schiedensten Waffen, die Vorderläufe, nicht gebrauchen — sie sinken in den Schnee, und das Geweih wehrt nur nach vorn und neben die Dränger, nicht aber nach hinten ab; der Elch kann sich auch nicht schnell drehen und wird von den ihm in’s Genick springenden Wölfen niedergezogen und gerissen. Auf Steppen und Haiden suchen zusammengerottete Wölfe Wild und zahme Thiere in Bögen zu umgehen. Sie jagen das in Sicht Kommende von verschiedenen Seiten an und treiben es sich gegenseitig zu, um es damn, umkreist, zu packen. Gewöhnlich aber geht einer der Wölfe z. B. einem angeregten (aufgetriebenen) Hasen, Reh oder Fuchs auf der Spur nach, während die andern der Rotte zu den Seiten desselben jagen. Auch vertheilt sich die Rotte nicht selten auf Gestellen und Wegen vor emem Walddickicht, in welchem em Wolf auf der Fährte dem Wilde folgt und es vor die An- stehenden bringt. Auf diese Weise verfällt selbst der flüchtige Hase dem Wolfsrachen, und auch der Fuchs entgeht in räumlichen Waldungen oder im Freien selten einer Rotte Wölfen. — Selbst dem Menschen werden die xotten gefährlich, doch nur in der äussersten Noth und in zahlreicher Rotte. Das oft erzählte Anfallen der mit Pferden bespannten Schlitten wird von guten Gewährsmännern, welche Russland kennen, in der Regel für eine von Anekdotenhaschern beliebte Fabel gehalten. Überfällt ja einmal eine Rotte in der äussersten Noth eine Anzahl Menschen, dann sollen die sonst so feigen Wölfe selbst durch die sichtlichsten Wirkungen des Feuerrohrs in ihren Reihen nicht zur Flucht zu bewegen sein. Es bedürfe einer bedeutenden Gegenwehr, um eine im Winter ungewöhnlich zahlreiche Rotte Wölfe sieg- reich abzuschlagen. Nach dem Reissen ihres Raubes verzehren sie jedesmal auch ihre von Menschen oder von Ihresgleichen im Streit um die Beute ge- tödteten Kameraden; sowie denn kranke Exemplare stets eine Beute der unsauberen Sippschaft ihrer Brüder werden. Die Erwähnung dieses wider- lichen Charakterzuges bringt uns zur Mittheilung der gleich hässlichen Ver- wilderung des männlichen Wolfes. Die Wölfin verbirgt nämlich auf’s Sorg- 336 Raubthiere. Carnivora. fältigste ihr Gewölfe vor dem Wolfe: denn dieser frisst es auf, sobald er es unbewacht entdeckt. Es ist einleuchtend, dass ein solch unablässiges und zu Zeiten gefähr- liches Raubthier die Plage und der Schrecken aller Nomadenvölker sein muss. Dass der Wolf sich mit der Cultur schlechterdings nicht verträgt, beweist eben sein gänzliches Verschwinden in allen bevölkerten Ländern mit geordneten Zuständen. In unserem Vaterlande ist er ausgerottet, aus- genommen in den erwähnten wenigen Landstrichen an den beiden Grenz- marken des deutschen Reiches, deren Terrain- und Oulturverhältnisse es dem scheuen Thiere einigermassen ermöglichen, eine kurze Spanne Zeit dort noch raubend zu hausen. Aber es kostete lange Zeit unablässiger Mühe und beharrlicher Ausdauer, bis wir des grausamen Drängers unserer nützlichen Hausthiere und des heimischen Wildes ledig wurden. Nur die Überlieferung wirft noch das düstere Schattenbild des wüsten abenteuerlichen Recken der Gebirgswälder in unsere gelichtete, gewerbe- rauschende Gegenwart. Die Zeiten sind vorüber, wo der Wolf wirklich allabendlich gekommen, um das Vieh und das unbewachte Kind aus Haus und Hof zu rauben; es sind selbst die Zeiten plötzlicher Einwanderungen vorüber, in welchen aus Grenzländern die ungebetenen furchtbaren Gäste herüberstreiften in die heimischen Fluren. So die Rotten, welche dem Rück- zuge des französischen Heeres aus Russland folgten, mit dem Menschen- Elende des Krieges auch noch Bedrängniss und Schaden der friedlichen Thierwelt zu bringen. Der Wolf existirt für unser Vaterland fast nur noch im Märchen. Wie Märchen und Sagen klingen denn auch noch die Schilderungen der Wolfsjagd zu uns. Wohl war er eines der eifrigst verfolgten Jagdthiere in unseren Gauen und Wäldern. Unsere Jägerei zählte ihn in Anbetracht seiner Stärke und Wehrhaftigkeit zur hohen Jagd, und wir werden emige Betrachtungen der Wolts-Jagd und dem Wolfs-Fange widmen. Schon längst war er mit dem braunen Bären in allen Oulturländern für ein gemein- schädliches Thier erklärt, für das keine Schonung bestand und das Jeder auf seinem Eigenthum erlegen kann. Mit allen Waffen und todtbringenden Mitteln erklärte man dem Erzfeinde unserer friedlichen, nutzbringenden Hausthiere den Krieg. Der Jäger und seine Hunde hatten schweisstriefende Arbeit, um des ebenso scheuen und unsteten, als in Bedrängniss und beim Kampfe gefährlichen Gegners Meister zu werden. Hohe Schussgelder, Be- lohnungen und Prämien halfen die ohnedies anreizende Wolfsjagd noch mehr beleben. Sobald sich ein einzelner Wolf oder eine Rotte Wölfe in einem Reviere spürte, war ebenso rasch als still die deutsche Waidmannschaft im Holze, die über Nacht sich Gesteckten einzukreisen. Dies war bei einem frisch gefallenen Schnee oder einer Neuen, auch überhaupt bei älterem Schnee . N HN VEEIEEG.4 N EHEN M chs. Der Fu De = Raubthiere. Carnivora. 337 zwar keine grosse Kunst, verursachte aber nichts desto weniger Mühe und Erfahrung: denn der. Wolf oder die Rotte war Nachts oft weite Strecken im Umkreis auf Raub umher gestrichen, ehe sie sich mit Tagesanbruch in einer Diekung gesteckt. Gewöhnlich verdeckten die hinter einander passi- renden Wölfe einer Rotte ihre Spuren, indem sie, ähnlich dem Schwarzwilde, nacheinander genau in die Spur des vorderen traten. Bei mangelndem Schnee aber mussten Hunde zur Bestätigung der Wölfe genommen werden, welche beim Umkreisen eines Waldortes die Spuren der in eine Diekung passirten Wölfe anzeigten oder zeichneten. Dies thaten die meisten Hunde aber nicht, und man gebrauchte hierzu ganz besonders ge- eignete Wolfshunde, welche die Spur des Wolfes anfielen (annahmen) und den Räuber auch verfolgten und beherzt mit Isegsrimm den Kampf bestanden. Es ist nämlich eine Thatsache, dass, so eifrig die Hunde die Spur eines Bären anfallen, viele beim Wittern emer Wolfsspur mit ge- sträubten Haaren zurückweichen. Sobald das Treiben, worin Wölfe bestätigt waren, oder worin man deren vermuthete, die Schützen umstellt hatten, ging die Treiberwehr ge- räuschlos, um Wölfe in benachbarten Dickungen nicht rege zu machen (aufzuscheuchen), nach den vorstehenden Schützen zu durch die Diekung, um die darin steckenden Wölfe in’s Feuer zu bringen. Stets hält der Wolf wie der Fuchs das diekste Holz und kommt, bei dem geringsten Geräusch hinter sich frühe rege, auf dem Fuchspass dem anstehenden, sich ruhig verhaltenden Schützen angelaufen, der ihn mit sehr grobem Hagel, Posten (Kartätschpatronen), oder mit der Kugel erlegt. Das Treiben war die gewöhnlichste, fast ausschliesslichste Jagd in Deutschland. Ausserdem schoss man das Thier auch noch auf sogenannten Luderplätzen an einem gefallenen Stück Vieh, aber nur dann mit Erfolg, wenn der Wolf, von Hunger geplagt, seine übliche Vorsicht, den Platz vor seiner Annäherung zu umkreisen, unterliess, oder der Jäger einen auf einem nahen Baum angebrachten Hochsitz oder eine Schiesshütte benutzte, um unbemerkt den anschleichenden Wolf zu erlegen. In den Steppen Süd- Russlands jagt man noch jetzt den Wolf auch mit Windhunden oder Bracken und zu Pferd, bei welcher Jagd Strecken von ein Dutzend Meilen im Um- fange von Abtheilungen berittener Jäger mit Koppeln von Jagdhunden und „Stricken“ von Windhunden zum Jagen genommen werden. Es sind diese Jagden nichts anderes als grosse Kesseltreiben, mittelst welcher die rege gemachten Wölfe nach einem bestimmten Mittelpunkt von einer jedesmaligen Koppel Bracken oder einem Strick Windhunden gehetzt und genommen (ergriffen) oder durch die Hatzpeitsche der Jäger mit kräftigen Hieben über die Nase getödtet werden. Der Kreis von berittenen Jägern und Hunden schliesst sich immer enger, und selten ist es den so zusammengetriebenen Wölfen möglich, daraus zu entkommen. Gelingt dies auch hin und wieder A.u. K. Müller, Thiere der Heimath. 22 338 Raubthiere. Carnivora. einem oder dem andern, so rennt er dem Reserve-Kreis von Jägern und Hunden an, welcher für solche zurückgehenden Wölfe dem vorderen in etwa einer halbstündigen Entfernung folgt, wo der Wolf dann weiter gehetzt wird. Auch das sogen. Berlinereisen und das Tellereisen von einer zur Stärke des Thieres im Verhältniss stehenden Grösse und an emer Kette befestigt, sowie mit einem sich leicht einhakenden Anker versehen, endlich die viel- genannte Wolfsgrube waren oft Berückungsmittel für den Räuber, dessen Lüsternheit und Raubsinn die sprüchwörtliche Vorsicht und Klugheit nament- lich beim Eisen übertäubten. Um die Grube herum war ein Besteck von einen Meter hohen Dornen angebracht. Der Wolf wurde mittelst Ge- schleppen von Thiereingeweiden, welche man von verschiedenen Seiten bis zur Grube an einem Seile oder einer Wiede auf der Erde herschleifte, angelockt und bewogen, über die Dornhecke nach einem lebenden Schafe oder einem sonstigen Köder (Kirrung) zu springen, welcher auf einer breiten runden Scheibe angebunden oder befestigt war, die an einer mitten aus der Grube hervorragenden Stange angebracht wurde. Die Grube war mit zwei an der Stange in Angeln gehenden Fallthüren verschliessbar. Diese wurden fängisch gestellt (zum Falle nach unten durch eine Vor- richtung lose in der Höhe gehalten) und mit Reisern, Laub, Erde und Moos bedeckt. Bei dem Sprung des Wolfs nach dem Köder trat dieser auf eine der Fallthüren, die dann nach unten zufiel, wodurch der Räuber in die etwa 3-4 Meter tiefe und im Quadrat ebenso weite Grube stürzte Eine will- kommene, mit Jubel begrüsste Beute für die am Morgen Herzugeeilten — der Wolf in der Grube! Der Fuchs. Canis vulpes. Da steht er, der Mephisto unserer Wälder, auf dem Schleichgange seines Sommerlungerlebens; der alte Fuchs oder Rüde (Männchen), abgetrennt und unbekümmert um das Geheck oder die Nachkommenschaft, deren Pflege und Führung er, der egoistischste, treuloseste Familienvater, der sorgenden, opferwilligen Füchsin oder Fäh überlässt. Dem weichen Moospolster auf einsamem Steingeröll oder der Diekung entstiegen, schleicht er seinen Pass oder Gang, den arbeitenden Kopf voller Pläne der Beein- trächtigung fremden Eigenthums. Es ist em alter geriebener Gold- oder Birkfuchs. Das zeigen uns seine helle Grundfärbung unter dem grau- weiss bereiften Rücken, die gelbrothen Schultern und der gleichgefärbte Oberhals, die weisse Kehle und der weisse Bauch, die schwarzen Läufe, sowie vor Allem die charakteristische Endspitze der Ruthe, die weisse Blume. Er ist der Bruder des waidmännisch von ihm unterschiedenen Brandfuchses, der wie mit Asche oder Kohlenstaub übersprengten Varietät, bei welcher Rücken und die meist unbeblümte Ruthe schwarz, Kehle und Bauch aber aschgrau oder bläulichgrau überlaufen erscheinen. Raubthiere. Carnivora. 339 Wo sollen wir anfangen und wo enden mit der Schilderung dieses interessantesten heimischen Thiercharakters?! So viel besungen und be- schrieben in Sage, Gedicht und Schilderung, gleich verhasst und verdammt von dem einseitigen Jäger und Bauer, gelitten und theilweise gewürdigt von dem vorurtheilsloseren Thierkundigen, ist und bleibt er in Vielem, ja, in seinen wichtigsten Lebensverhältnissen noch ein Unbekannter. Gerade von der Seite, die ihn am besten kennen sollte, dem Jäger und Mann des Waldes, wird er theilweise noch heute durch die trübe alle des Überkommenen be- schaut. Wer sollte es denken, dass der Forst- und Waidmann besonders die Lebensgeschichte unseres Waldthiers Reinecke am meisten mit Sagen- haftem und Unwahrem ausgeschmückt! Das sogenannte Jägerlatein wuchert noch jetzt auf dem Lebenspfade unseres Freibeuters, dem wir mit klarem, vorurtheilslosem Blick der Beobachtung nun zu folgen uns bemühen wollen. Wir nannten unser Thier den treulosesten, egoistischsten Familienvater, stracks entgegen so vielen Behauptungen von Autoren, namentlich der Jagd- schriftsteller. Die Jäger sind Leute theils von reger Phantasie, theils starre Anhänger von Überkommenheiten; beide aber müssen der objectiven Ruhe, der eineeötlheilien Aufmerksamkeit und dem Überblick bei der Forschung weichen, sobald es gilt, dem Wesen und Wandel eines Thhieres nachzuspüren, es gleichsam -im innersten Winkel seines Treibens zu belauschen. Wie steht es aber mit der Kenntniss der beiden hervortretendsten Epochen im Leben unseres Helden, dem Eheverhältniss und der Vaterschaft? Schlagen wir en Buch der Thierkunde auf, da präsentirt sich uns der Fuchs in einem idealen Bilde, wie es nie und nimmer in der Wirklichkeit vorhanden. „Fuchs und Füchsin“ — so sprachen wir uns schon vor Jahren solchen Fabeln gegenüber aus — „finden sich wie zwei getreue Seelen in einem Ritterromane; letztere wählt im Frühjahr einen angemessenen, selbstgegrabenen Bau, einen hohlen Baum oder ein Felsengerölle u. dgl. m., um ihre Jungen zu werfen. Und nun folgt ein rührend musterhaftes Eheleben, das man mancherseits so weit gegangen ist, als für das ganze Leben bestehend zu bezeichnen. Der treue Herr Gemahl versorgt die (wahrscheinlich von den betreffenden Einehe-Gläubigen als sehr schwache Wöchnerin gedachte) Frau Füchsin mit Leckerbissen, die er ihr tagtäglich bis zur Genesung vom Wochenbett echt hausvi Then vor den Bau or in das innerste Gemach der Feste Malepartus zuträgt. Wir empfangen in solchen Schilderungen ein eheliches Normalbild von Monsieur Reinecke, das „manchen unserer modernen Eheherren“ — wie ein gegen die Fuchsmonogamie aufgetretener erfahrener Jäger treffend bemerkt — „beschämen könnte, welche nur hie und da der lieben Ehegattin einen Wochenbesuch abstatten“. Schon Altvater Brehm hatte Recht, wenn er, auf Beobachtungen ge- stützt, behauptet, dass bei allen T’hieren, mit Ausnahme der meisten Vögel, nicht die geschlossene Ehe, sondern die Venus vulgivaga herrsche' und bei 22* 340 Raubthiere. Carnivora. keinen sich der Vater um seine Kinder bekümmere. Aber ungehört blieb dieser im Allgemeinen richtige Ausspruch. Und so sehen wir sich in den Angaben über die Monogamie und das ganze Eheleben des männlichen Fuchses gleichsam eine gewisse Zoologen-Orthodoxie entfalten, ein Stück heiliger Überlieferung in den Bereich der Naturkunde gebracht, das sich zäh und fest, wie nur je ein Glaubenssatz oder eine Überlieferung der Kirche, in dem Schriftthum der Naturbeschreibung bis hierher behauptet hat. Lichten wir diesen Schleier auf Grund gewissenhafter, nüchterner Er- mittelungen, die sich freilich nicht auf bequemen Spaziergängen darbieten. In den stillen Dämmer der Dickung, in die Nacht der Haine, ın die Ein- samkeit der Halden und Waldhaiden muss Fuss und Auge gewendet, stunden- und tagelang gelauscht werden auf einen geheimen Zug des Thiers, dessen Charakteristik sich nach und nach auf dem Grunde der Beobachtung zum leibhaftigen geistigen Bilde abhebt. Eine Haupteigenschaft steht sogleich im Vordergrunde dieser geistigen Charakteristik: der Fuchs lebt nie im Monogamie, überhaupt in keinem Eheverhältniss mit der Füchsin. Wohl schlägt er sich in der „Ranzzeit“ zu derselben, aber er verlässt sie auch wieder: denn er ist ein wahrer Vaga- bund auch in der Liebe. Wir haben es in so manchen Fällen selbst gesehen, dass bei den Liebeswerbungen’'und den Kämpfen um die Füchsin das Recht des Stärkeren gilt. Dieser (gewöhnlich der grössere) beisst regelmässig in harten Kämpfen den Nebenbuhler, deren nicht selten noch andere sich zugesellen, ab und erntet allein der Liebe Lohn. Den ganzen Februar durch währt die Ranz- oder Fuchszeit. Während dieser steckt gewöhnlich die Füchsin mit einem oder mehreren Bewerbern bei Tage im Bau. Eine eigenthümliche durchdringende Ausdünstung macht sich dann bei den . Füchsen in dieser Periode bemerklich. Der erregte Fuchs folgt der Spur der Füchsin auch den Tag über mit ganz besonderen, dem Pfauenschrei ähnlichen Lauten, die etwa mit den Sylben „Grau“ oder „Griau“ zu ver- gleichen sind. Eim bedeutungsvoller Ton ist noch der ungefähr mit „Gock“ oder „Grock“ zu bezeichnende, dem Rufe des Kolkraben nicht unähnlich. Der Fuchs beantwortet diesen Laut und kommt auf die Nachahmung des- selben sehr gerne angelaufen. Ganz insgeheim wählt sich die Füchsm nach der Fuchszeit ihren Auf- enthalt. Niemals sahen wir den Fuchs dann in ihrer Begleitung. Eben so verborgen hält die Wöchnerin die Geburtsstätte ihrer Nachkommenschaft. Für denFuchsvater gibtes keine Familie. Das zeigt sprechend sein tadelloser Sommerbalg gegenüber dem von unablässiger Jungenpflege abgenutzten der Füchsin. Die Einsame hat sich schon vorher ein ganz verborgenes Plätzchen auserkoren, viel häufiger, als man gewöhnlich annimmt und merkt, eine Baum- oder Felsenhöhle, einen Reiserhaufen, ja zuweilen ein blosses Versteck auf dem Boden einer Diekung. Wählt sie einen Bau, Raubthiere. Carnivora. 341 dann ist sie unbekümmert darum, ob er tief oder seicht, ob er ein soge- nannter Haupt- oder Noth- und Sommerbau, ob er im Feld oder Wald gelegen ist. Sie wählt ihn meist da, wo sich ihr ein bequemes, er- giebiges Jagdrevier darbietet, und jagt und raubt gerade in der Nähe ihres Baues, wenn gleich heimlich und vorsichtig, am meisten, wenn ihr Geheck noch klein ist, um sich nicht weit von demselben zu entfernen, auch wieder ganz entgegen den Behauptungen so vieler Nimrode und diesem Glauben beimessender Schriftsteller, die Meister Reinecke in Verbreitung der Fabel, er raube nie in der Nähe seines Aufenthaltes, eine Vorsicht und Überlegung am unrechten Orte zuschreiben — eine falsche, dem Naturell und den zeit- weiligen Lebensverhältnissen des Thieres ganz zuwiderlaufende Erfindung. Sobald die Füchsin Mutter ihrer hoffnungsvollen Nachkommenschaft ist, tritt sie aus der Sphäre ihrer gewöhnlichen Eigenheit. Anfangs zwar walten ihre Begleiter, Vorsicht und Scheu, noch vor, immer mehr verlieren sich diese aber mit dem Stärkerwerden des Gehecks, so dass sie sogar um der lieben Kindersorge willen, aller sonstigen Scheu baar, in der Nähe ihres Aufent- halts kommende Hunde förmlich anfällt und sogar verjagt. Mehrmals ist dies einem unserer tapfersten Dachshunde begegnet, der unter dem sprechenden Zeichen der Verwirrung und des Entsetzens, mit der Ruthe unter den Hinterläufen, das Weite suchte vor einer vom Bau ihn verfolgenden Füchsin. Auch sind wir noch eingedenk des Falles, wo die Füchsin vom entlegenen Bau ihr Geheck in einen Reiserhaufen dicht an ein Walddorf brachte, um von da aus die frechsten Räubereien an dem Federvieh der nahen Höfe nur um so bequemer auszuführen. Am wenigsten von Aussehen gekannt sind neugeworfene. oder nur einige Tage alte Füchschen. Nur 14—15 cm an Leibeslänge messend, zeichnen sie ein dicker, breitschnauziger Kopf mit auffallend dieker Zunge, kurze, tief an Kopf und Hals stehende, hart anliegende, dicht verschlossene drei- eckige Ohren und zugeklebte Augen aus. Auch die Farbe ist sehr eigen- thümlich: im ersten Stadium der Geburt an dem glatten, kurzen, anliegenden Balge braungrau, mehr oder weniger in’s Rauchfarbene spielend; die Stirne trägt einen fahlen Anflug, während das Rüthchen eine weisse Spitze und das Brustbein einen kleinen weissen Fleck zeigt. Schon einige Tage später erscheinen die Kleinen flock- oder rauhhaarig, mit sichtlicher feiner Grundbehaarung einer im Ganzen mehr in's Graue gehenden Färbung versehen. Ihre Entwicklung geht äusserst rasch von Statten. Zwar bleibt das graugelbe, wollige Völk- chen in den ersten Wochen mit dieckem Kopfe und gleicher Schnauze den Eltern im Gesichtsausdruck noch wnähnlich: die Augen haben noch nicht den schiefen Stand und den grüngelben Schimmer wie die der Alten; sie sind noch blaugrau gewässert und gerade geschlitzt. Doch schon in der dritten Woche nach Entwicklung der Schneidezähne, Eckzähne und der heisszähne kommt der Typus des Fuchsgesichtes mit sich zuspitzender 342 Raubthiere. Carnivora. Schnauze und desgl. Ohren und der Beweglichkeit der Gliedmassen zum Vor- schein, und das frühere dem Hundetypus sich nähernde Aussehen ist total verschwunden. Das Geheck wächst unter vielfältig schon beschriebenem Spiel auf dem Bau rasch heran und wird im Sommer von der rührigen Alten in die deckende Flur und Haide geführt. Jetzt haben sich die Köpfe der halbwüchsigen Füchschen fein zugespitzt und die Gaunergesichtchen mit den schiefstehenden Augen und der senkrecht geöffneten Pupille werfen das grüngelbe Licht; auch der Balg (Pelz) gleicht jetzt dem der Alten. Öfters schon viel früher machen sie eine Reise von einem Schlupfwinkel zum andern im Rachen der Alten, wenn es dieser an einem Orte nicht geheuer scheint. Bis zum Herbste geleitet und geführt, tritt sodann das Geheck schon selbst- ständig auf; zwar hält es sich immer noch zusammen in einer Dickung, doch drängt sich im jedem einzelnen der Geschwister das Wesen der Selbst- ständigkeit mehr in den Vordergrund, bis der Winter endlich den ausge- prägten Reimecke über den Schnee dahintraben sieht. Verfolgen wir das Thier nunmehr in seinem Wandel. Haben wir doch jetzt den doppelten V ortheil,dass wir sein Gebahren, selbst wenn es unserem Auge körperlich entzogen, aus der sprechenden Zeichenschrift seiner Spur heraus- lesen können. Wie sein Charakter entschieden, so prägt sich in der Spur des Fuchses auch eme eigenthümliche Bestimmtheit aus. Im Schritt und Trab, regelmässig einen Lauf vor den andern setzend, drückt Pfote um Pfote jene gerade Linie in den Schnee aus, welche der Waidmann so be- zeichnend das Schnüren nennt. An der Röhre (Ausgang) des Baues kündet sich schon das ungleich schnellere Heraustreten des Fuchses im}Ver- gleich mit dem bedächtigen des Dachses. Hier vor der Röhre hat er ge- sichert, bevor er im leisen Trabe waldaus gegangen. Dort am Trauf des Waldes stand er abermals still; da hat er gleich einem Hündchen auf den Keulen gesessen und wohl den Plan für semen beginnenden Raubzug ent- worfen. Nun zieht die Spur im Zickzack, wie das Thier gerade seine Sinne leiten ; jetzt schnürt sie gerade auf einen bebuschten Feldraim los. Richtig hat der Schlaukopf den Rain unter Wind (dem Winde entgegen) abge- sucht — und hier plötzlich ist er im Schritt zusammengefahren ob des „Aufstiebens“ emes „Volkes“ Rebhühner, die neben der Hecke zusammen- gekauert die Eindrücke ihres „Gestöbers“ (Ruheplatz und Losung) zurück- gelassen. Wie mag er den „Dahimstreichenden“, lüstern und um ein gut Theil Vorsicht reicher, nachgeblickt haben! — Keine hundert Schritte weiter bemerken wir die Abdrücke neuen Handelns des fahrenden Raubritters. Aus der niederen Höhle eines alten Wildbirnstammes wusste er den Zehnten zu ziehen: — das lassen die zerstreuten Federn des Feldsperlings sehen, der in dem Loche zum letzten Male übernachtet. Aber dort auf jenem Raps- acker hat er seine Meisterschaft und zugleich seine Nützlichkeit für die Land- und Forstwirthschaft bewiesen. Denn in mancher Furche manifestirt Raubthiere. Carnivora. 343 sich der Mäusefang in der charakteristischen Spur der Luftsprünge, die der Emsige hier und dort den ganzen Acker entlang ausgeführt, um im Nu eine Feldmaus, welche die feine Fuchsnase unter der Schneedecke ausge- wittert, in die kalte Welt heraufzuziehen und mit ein paar Bissen dem hungernden Magen zu übergeben. Hierher, auf den nächtlichen Plan des unermüdlich Mäuse zehntenden Fuchses, tretet, ihr Widersacher und Ver- folger, die ihr das Thier in ewigen Bann eurer Vorurtheile gethan, zollt ihm wenigstens Anerkennung, wenn ihr ihm nicht Absolution geben wollt beim Anblick dieser ebenso still als fördernd bewirkten Thaten! Wie hier den wandernden Fuchs auf den Schneefeldern des Winters Tags und Nachts, so des Sommers in den Wiesengründen und Furchen der Felder die für das (reheck rastlos sorgende Füchsin — beide arbeiten sehen kann sie die Menschheit zu ihrem Nutzen. Aber der verblendete Bauer und der einseitige Jäger vergessen nur zu leieht in dem Schrei des Haushuhns oder dem Klagen des Hasen, welche der rothe Räuber erhascht, die vielfältigen Wohlthaten, die dasselbe Thier auf einem und demselben Zuge in seinen stilleren Mäuse- jagden ausübt. Diese aber stellen es geradezu als einen der Thätigsten in die ersten Reihen seiner Mäuse vertilgenden Thierbrüderschaar, wie Katze, Wiesel, Iltis, Eule, Bussard, Rabe und Würger. Denn nach der Sättigung raubt der Fuchs, wie die Wiesel, aus Vergnügen die Mäuse noch fort. Nicht immer erfolgreich gehen die nächtlichen Streifzüge des Fuchses von Statten. Der strenge Winter mit seinem tiefen Schneegewande reckt ihm oft die Öde, Einsamkeit und Trostlosigkeit kahler Feldstrecken ent- gegen. Da steht der Hungernde mit eingezogenen, leeren Flanken, durch das kurze Gebell mit der heulenden Schlussstrophe seine Tage der Noth ver- kündend. Aber unser Held verzagt nicht so leicht. Wie alle aus der Familie der Hunde kann er die Entbehrungen, die Hunger und Kälte auferlegen, zäh ertragen. Jetzt erkürt er sich das Dorf oder die Meierei zum Bereiche seiner Thaten. Von der nächsten Höhe aus sichert er nach den Hofraithen und wahrt die Stunde, wo der verhasste Hofhund den tiefsten Schlaf um Mitternacht schläft. Dann schleicht er, ein Schatten der Nacht, von Haus zu Hof, von Hof zur Truhe. Jede Lücke des Zaunes weiss er noch vom Sommer her und benutzt sie gewiss zum Einbruch. Wehe dem Federvieh, dessen Stallung nicht gehörig verwahrt ist! Jede Nachlässigkeit der Bäuerin bestraft der wachsame rothe Schleicher. Die witternde Nase und die nach- helfende Pfote erweitern die Ritze der schlecht oder liederlich verwahrten Thür zur Spalte, die Spalte sprengend zum Eingang, und die letzte zappelnde Gans oder das letzte schreiende Huhn kündet dem erwachenden Schläfer im Bette, dass die Strafe über seine Sorglosigkeit gekommen. Was hilft all’ das Gebell dem Kettenhunde — der Schlaukopf Fuchs weiss ihn gebannt an die Hütte — was gilt der nachgeworfene Besen oder die Mistgabel aus der Hand des fluchenden Bauern dem durch den lückigen Zaun dahimfliehenden 344 e Raubthiere. Carnivora. Schalk, der aus dem ersten Hinterhalt heraus alsbald wieder sinnend lauert, um die vorher hier und dort verschleppte Beute zu verscharren oder in den sicheren Gewahrsam seiner Burg zu schaffen? — Hier in der Feste Male- partus liegt er nach solchen ergiebigen Raubzügen oft lange und tief schlafend. Da sind wir nun gerade am rechten Orte angelangt, um die noch jetzt cursirende Cardinal-Fabel über unser Thier aufzudecken, dem alle erdenk- lichen Schelmstreiche und Gaunereien aufgerechnet zu werden pflegen; das, wie Sir John Falstaff witzig, auch Andere witzig gemacht und durch seine Schalkhaftigkeit vielleicht ursprünglich einen anonymen schriftstellernden Schalk veranlasst hat, das Märchen zu erfinden: Meister Reinecke vertreibe den Spiessbürger „Grimmbart“ dadurch aus seiner unterirdischen Burg, dass er seine Losung und seinen übelriechenden Harn in und vor dieselbe absetze, ja dass er den grimmen Einsiedler sogar hmausbeisse. Der thatsächliche Beweis, dass den Dachs die Witterung des Fuchses und seine Losung gar nicht besonders anficht, liefert schon die unumstössliche Wahrnehmung, dass in vielen Fällen der Dachs gerade gangbare (bewohnte) Fuchsbaue im Herbste aufsucht und darin sein Winterquartier aufschlägt und dass ferner umgekehrt kaum ein Hauptdachsbau gefunden wird, in welchem nicht zu Zeiten der Allem sich bequemende Lumpaei-Vagabundus Fuchs mit den oberen Stockwerken vorlieb nähme und wohlweislich unangefochten dem viel stärkeren Schläfer Grimmbart das Faulbett im Kessel (die geräumige Stelle im unteren Stockwerke) überliesse. Wie den Hund, so glaubte man auch den Fuchs zeitweilig von der Tollwuth befallen. Aber die Krankheit des wilden Thieres ist, ausweislich der Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts angestellten sorg- fältigen Beobachtungen und anatomischen Untersuchungen bei Saulgau im Württembergischen, mehr eine Seuche, die Verrücktheit oder Wahnsinn er- zeugt, als die wirkliche Tollwuth. Denn von solch kranken Füchsen ge- bissene Thiere und Menschen sind niemals von Tollwuth befallen worden, und ausserdem hat auch der verrückte Fuchs nicht wie der tolle Hund ein abgemagertes, verstörtes Aussehen, sondern ist meist sehr fett und bei gutem Balg. Merkwürdig ist die Weise, wie nicht selten diese Krankheit endet, indem der davon befallene Fuchs sich in Gewässern förmlich ersäuft, oder sich kraft einer actenmässig amtlich bewiesenen Thatsache gleichsam er- hängt. Diese ist folgendermassen beschrieben. „Der Fuchs hing mit der Ruthe noch 11g Fuss über der Erde und hatte sich fest an emem quer über den Weg hängenden Kiefernast eingebissen — oder eigentlich so sehr ver- bissen — dass er, selbst verendet — ohne den Ast mit abzuhauen — nicht losgemacht werden konnte. Alle übrigen Nebenäste von gleicher und niederer Höhe waren sehr verbissen und sowohl davon, als von dem so sehr ver- tretenen und verkratzten Boden konnte man deutlich abnehmen, dass dieser Raubthiere. Carnivora. 345 Fuchs eine längere Zeit nach diesen Asten beissend, gesprungen sein müsse, bis er endlich an dem stärkeren hängen blieb. Ubriens war am Baume selbst nichts bemerkbar, was den Fuchs sonst — wie z. B. etwa eine Vogel- schneisse (Dohne!) — hätte reizen können. Er erhing sich also in einem wuthähnlichen (verückten) Anfall oder weil er sonst Lust dazu hatte, viel- leicht lebenssatt (?) war, aus freien Stücken.“ — Der Schlaf unseres Waldburschen ist nichts weniger als leise. Oftmals trifft ihn über diesem der Hagel des buschirenden Schützen, ja sogar hin und wieder der Knüttel des Treibers im Lager. Aber unerquicklich, von unruhigen Träumen durchzuckt, mag er den beutelos von den Winter-Streif- zügen müde und hungriger als zuvor Heimkehrenden fliehen. In solchen Lagen fasst der Rastlose nicht selten den Entschluss zum Wandern vom Gebirge zur Ebene, vom Norden zum Süden. Mit dem untrüglichen Com- pass der schärfsten Sinne versehen, mit dem sich allen Örtlichkeiten anbe- quemenden Naturell begabt, schlägt der sonst Ungesellige sich auch wohl in solchen Zeiten zu Seinesgleichen, ea das Schlaraffenland frem- der Jagdgefilde durchjagend, aber nach einer guten Beute, oder auch noch während des Raubes schon im Streite mit dem Gesellen, diese lose Ver- brüderung aufgebend. Kein Wunder, wenn die Sonne des Nachwinters oder des Frühjahrs den vielgewanderten Fuchs-Odysseus in der Glorie seiner Meisterschaft bescheint, den, vielleicht um ein Glied seines Laufes ärmer, aber an Erfahrung um so reicher, kein „Eisen“ (Falle) mehr berückt, der, durch den Hagel des vorstehenden Schützen gewitzigt, hier dem lärmenden Treiben jetzt recht- zeitig den Rücken kehrt, dort lange vor Ankunft dem Vogelsteller die Drosselbraten aus den Schlingen der Dohnenschneisse raubt; hier wieder, statt die offene Strasse des bekannten Passes zu den beunruhigenden Bauen zu wandern, den heimlichen Pfad zu einer Feldrainhecke einschlägst, oder das luftige, aber sichere Lager auf schiefem Baumstrunke dem wärmeren, doch durch den Dächsel des Waidmannes ungleich unsicheren in den Röhren eines Hauptbaues vorzieht. Und in dieser Meisterschaft mag er sich noch einmal zeigen in einem Bravourstück, das einst ein vielerfahrener Jäger und Naturbeobachter aus den im Schnee zurückgelassenen Spuren des kühnen Abenteurers erforschte, und das eben so sehr den herausfordernden Muth, als die Gegenwart des Geistes und das überlegte Handeln unseres Helden in Verlegenheit und Noth beurkundet. „An einer schroffen, von oben aber zugänglichen Felsenwand steht der „Horst“ (Nest) eines Uhus zwischen Wurzeln und Lohden einer Eiche. Auf dem Horste sitzt der Uhu brütend. Da schleicht sich’s über den Felsen rothschimmernd daher im ersten Dämmer des Märzmorgens. Jetzt tritt's in's Lichte: — hart über den Felsen schlottert Reinecke dahin, emem halb- gelähmten Thiere ähnlicher, als dem gewandten, elastischen Räuber. Aber 346 Raubthiere. Carnivora nun fängt die scharfe Nase einen Luftzug auf, und wie durch einen Zauber strecken sich alle Gliedmassen des Thieres. Rasch fährt der Kopf herum zur Seite, woher die Witterung vom Winde getragen wird, der eine Vorder- lauf bleibt gehoben zum Schritte, wie er war, und der ganze Körper spannt sich, wie gebannt, zur Bildsäule. Nur die feuchte Nase arbeitet windend und die schiefen Mongolenaugen mit dem eigenthümlich senkrechten Pupillen- streifen sprühen lebendiges Feuer. Unser Waldräuberhauptmann hat den Horst unter sich gewittert, und sein lüsternes Auge wird nun den brüten- den Uhu darüber sichtig. Schnell ist dem kühnen Gedanken des Freibeuters der Körper dienstbar: das Hintertheil zieht sich zum Sprunge ein und im nächsten Augenblicke fährt der Fuchs auf den Uhu zu. Aber dieser durch sein leises Gehör von der Anwesenheit semes vierfüssigen Nebenbuhlers unterrichtet, wirft sich blitzschnell herum auf den Rücken und packt mit einem seiner „Fänge“ (Krallen) die Schnauze des Fuchses, diese mit derber Urkraft zudrückend. Wie vom Hagel getroffen, bäumt sich der überraschte und in seiner Hauptwaffe wehrlos gesetzte Fuchs. Fort springt, tanzt, wälzt sich der Gepackte. Es entspinnt sich der interessanteste seltenste Kampf zwischen den beiden Waldräubern, von denen einer um den andern indianer- artig im bunten wirren Knäuel bald oben, bald unten erscheint. So geht's eine Zeit lang im Wirbel fort. Nichts lässt Reinecke unversucht: jetzt schlägt er trommelnd mit den Vorderläufen auf den Uhu los, nun wälzt er sich seitwärts hin und her, um sich im nächsten Augenblick vom Rücken fischartig wieder auf die Läufe zu schnellen, jetzt schlägt er mit hochgeschwungener Lunte (Schwanz) verzweifelt kopfüber Räder wie ein Bajazzo. — Alles vergeblich: die Krallenfaust des Uhu sitzt ihm an der Hauptwehre wie ein Maulkorb. Da plötzlich hält der Fuchs einen Augenblick ein im Kampfe: — die Über- legung siegt über die blinde Leidenschaft der Wuth und der Verzweiflung und der rege Fuchskopf verschafft sich triumphirend emen Ausweg aus der drängenden Noth und Pein, aus welchen ihn der ringende Körper nicht zu bringen weiss. Stracks rafft der Fuchs sich auf zum Rennen in das nächste Dickicht und, kaum einige Meter in dessen verschlingender Verzweigung, streift er die gewaltige Fessel an dem federzerreissenden Gehölze ab. Be- freit, entnüchtert sucht er die Dämmerung seines Schlupfwinkels auf, weiser und klüger als seine ränke- und raufsüchtigen Namensvettern auf den Hoch- schulen, die Runzelschrift der Erfahrung auf seiner Schnauze ausheilend.“ Die Familie der Marder oder Wiesel. Mustelae. Die äussere Gestaltung der Marderarten ist trotz mannigfacher Ab- weichungen bezüglich des Körperbaues, der Fuss- und Gebissgestaltung sehr charakteristisch, denn die durchgehenden Kennzeichen sind der langge- streckte, mit feinem, vielfach kostbarem Pelze geschmückte Leib und die verhältnissmässig sehr niedrigen Beine, deren vier- oder fünfzehige Füsse Raubthiere, Carnivora. 347 Krallen besitzen, die im Gegensatz zu denen der Katzen nicht eingezogen werden können. Die schlanke und zugleich muskulöse Gestaltung befähigt sie, mit ausserordentlicher Gewandtheit und Schnelligkeit sich zu bewegen; die Einen sind vorzügliche Schwimmer, die Andern treffliche Kletterer und Springer, die Dritten Schlüpfer, wie dies bei den Einzelschilderungen der deutschen Mitglieder dieser Familie nachgewiesen werden soll. Zu diesen körperlichen Befähigungen, die von scharfen, gleich hoch ausgebildeten Wahrnehmungsorganen begleitet und unterstützt sind, gesellt sich wohl ent- wickelte geistige Befähigung. List, Klugheit, Vorsicht und Misstrauen bilden den Grundcharakter, und diesen Eigenschaften zur Seite steht gleichwohl Verwegenheit in Raubunternehmungen, Muth und verzweiflungsvolle Ver- theidigungsbereitschaft m der Bedrängniss und eme bewunderungswürdige Selbstbeherrschungs- und Enthaltsamkeitskraft bei einzelnen Arten neben einem hinreissenden Blutdurst. Der Raubanfall ist jäh, heftig und lüstern grausam. Diese Raubmörder sind dagegen von den zärtlichsten und sanf- testen Trieben gegen ihre pflegebedürftigen Jungen erfüllt, die blind ge- boren werden und sich sehr geraume Zeit an das mütterliche Gesäuge halten. Die Mutterliebe überwindet in Fällen der Gefahr und Bedrängniss für die Jungen .die sonst so stark hervortretende misstrauensvolle Behutsamkeit und lässt das ängstlich besorgte Weibchen die eigene Gefahr verachten, um die Kleinen im Maule einem sicheren Orte zuzutragen. Die Nahrung dieser Thiere besteht in erster und hauptsächlichster Linie in lebenden Klemthieren der Säuger und Vögel, der. Amphibien und Fische, die sie sich mit List und Fangfertigkeit anzueignen wissen. Dabei tritt das unverkennbare Wohlgefallen an dem Rauben und Morden hervor, welches das Ernährungsbedürfniss in vielen Fällen überschreitet. Hierdurch mehren sie natürlich den theilweisen Schaden, welchen sie dem Menschen in seinen Interessen zufügen, aber auch den bei manchen Arten weit überwiegenden Nutzen. Die durchaus schädliche Art wird durch den unter den Fischen des Süsswassers wahrhafte Verheerungen anrichtenden Fischotter vertreten. Ihre körperliche und geistige Befähigung schützt sie vor Ausrottung ihrer Arten, wie sehr ihnen auch aus Vergnügen und Gewinnsucht nachge- stellt werden mag. Ihre Verbreitung ist eine sehr umfassende, sie erstreckt sich mit Ausnahme Australiens über alle Erdtheile. Gebirge wie Ebenen, Waldungen wie Parkanlagen und Gärten, Remisen, Feldhecken, Steinbrüche und Felsengruppen wie Steingerölle, Flüsse, Teiche, Kanäle, Gräben und Schlupfwinkel der mannigfachen Gebäulichkeiten der Städte, Dörfer und Gehöfte dienen dieser oder jener Art zum Aufenthalte. Mögen Andere den Edelmarder als den eigentlichen Repräsentanten, als das vorzüglichste Mitglied der Familie der Marder bezeichnen, wir stellen das Wiesel als das vielseitigste Mitglied oben an und erkennen in der Be- nennung der Familie nach diesem die richtige Schätzung des grossen Linn &, 348 Raubthiere. Carnivora. Wir haben es mit zwei Arten der Wiesel zu thun, nähmlich mit dem srossen Wiesel oder Hermelin, Mustela erminea, und dem kleinen Wiesel, Mustela vulgaris. Sie sind zwar die kleinsten der Marderarten, aber dennoch die Musterbilder. Freilich Eins fehlt ihnen, was vorzüglich den Baum- und Steinmarder auszeichnet, die Kletterfähigkeit in ausgedehn- tem und ausgebildetem Massstabe. Dafür aber sind sie desto bessere Schwimmer und übertreffen sie die beiden Marder an Vielseitigkeit der Lebensbethätigungen. Zunächst erscheint ihr Körperbau als urbildliches Muster. Ihre Gestalt ist die gestreckteste, biegsamste, geschmeidigste, so dass man sie fügsam aalartig nennen darf, welche Vergleichung denn auch durch die Bewegungen der Thiere als besonders zutreffend bestätigt werden. Der kleine Kopf mit den kurzen, muschelartigen Ohren ist nicht viel dicker als der muskulöse Hals, und wenn dieser durch eme Ritze, Spalte oder ein Loch gezwängt wird, schiebt sich auch der ganze Leib hindurch, wodurch eine grosse Meisterschaft im Schlüpfen gegeben ist. Eine grosse Kraft drückt sich in dem breiten Rücken und Nacken aus, und die verhältnissmässig sehr kurzen Beine vermögen durch ihre Schnellkraft das Thier bedeutende Sprünge auszuführen. Eime bewundernswürdige Eigenthümlichkeit bekundet sich ferner in der Einrichtung des Wieselrachens, der so weit von dem Thiere geöffnet werden kann, dass Ober- und Unterkiefer rechtwinklig von eman- der abstehen. Dieses Vermögen befähigt das Wiesel, den Raub weit und tief in den Rachen zum Fortschleppen zu nehmen und unsere Hühner- und Enteneier trotz ihrer Grösse im Verhältniss zu dem kleinen Räuber nicht etwa zwischen Unterkiefer und Kehle, sondern ebenfalls im Rachen zwischen den nadelspitzen, in die körnige Kalkschale sich eindrückenden Eekzähne wegzutragen. Neben der bevorzugten Gestaltung der Körpertheile zeichnet die Wiesel die Mannigfaltigkeit ihrer Aufenthaltsorte aus. Hier sind es buschige, steimige Raine, gestrüppreiche Abhänge, Steinbrüche und Steinhaufen, wo sie sich wohnlich einrichten, dort wühlen sie ihr Versteck in Kanälen, unter Brücken, breiten Stegen, in Mauerlöchern, Thurmspalten und alten zerfalle- nen Gebäulichkeiten nahe der Erde, oder unter aufgeschichtetem Holz und Strohbündeln. Ob ‚gebirgiges, ob ebenes Terrain, ob trocknes Hügelland oder wasserreiche Niederung — das Wiesel findet sich ein und bewohnt unterirdische Verstecke vom Bau des Fuchses herab bis zu den Löchern der Wühlmäuse und Iuftige Freistätten, vom Neste des Eichhörnchens bis zu dem der Haselmaus, in welchen beiden wir das grosse Wiesel angetroffen haben. Die Thiere, welche es sich zur Beute ausersehen hat, verfolgt es mit unermüdlicher Ausdauer unausgesetzt wach und rege, erfinderisch und kühn, überlegen im Plan und der vielseitigen Art der Ausführung. Zwerge von Gestalt, sind sie Riesen in der That. Wir werden sie genauer kennen lernen, wenn wir sie einzeln nach einander betrachten und auf ihrem Wandel Raubthiere. Carnivora. 349 begleiten. Man kann*die Wiesel von den Mardern sippenweise trennen, mit vollem Rechte aber von den plumpen, langsamen und schläfrigen, auch bei weitem nicht so geistig geweckten Iltissen, die manche Naturforscher zu den Wieseln stellen. Die Wiesel sind die schlanksten, gestrecktesten und zugleich klemsten Glieder der Familie Ihr Schädel ist verglichen mit dem der Marder schlanker, nicht breiter als der muskulöse Hals. In ihrem Gebiss finden sich oben beiderseits 2, unten 3 Lückenzähne und sehr entwickelte Reiss- zähne. Die Haare des Pelzes erscheinen kürzer als bei den Vertretern der übrigen Sippen. Die Wiesel sind Zehengänger und haben wenig behaarte Sohlen. Das grosse Wiesel oder Hermelin, Mustela erminea, ist im Winter anders als im Sommer gefärbt. Zur ersteren Jahreszeit trägt es einen weissen Pelz, mit schwefelgelbem Überhauch an Bauch und Schwanzwurzel. Nur die Schwanzspitze zeichnet sich in schwarzer Farbe ab. Im Sommer dagegen sind nur Bauch und Innenseite der Beine weiss, während der Ober- körper bis zur schwarzen Schwanzspitze sich in’s Rothbraune kleidet. AIl- jährlich findet eine zweimalige Härung statt, im Frühjahr und Spätherbste. Beide Härungen oder Färbungen erstrecken sich über den ganzen Körper, sie sind wie am Vogel eine vollständige Mauser. An eine Bleichung oder plötzliches Umfärben älterer Haare oder des ganzen Pelzes im Spätherbste — wie mancherseits behauptet wird — ist nicht zu denken: denn jedes neue Haargebilde ist nach unseren gründlichen Untersuchungen und Wahrnehmungen an freilebenden und gefangen gehaltenen Exemplaren schon in der Haut weiss. Der Winterbalg ist dichter und langhaariger als der Sommerpelz. Oken erwähnt Fälle von schwarzen Hermelin- schwänzen mit weissen Spitzen. Die Länge des Hermelins beträgt ein- schliesslich des 5 bis 6 em langen Schwänzchens 32 cm. Den kleinen Säugethieren und Vögeln, den Fischen, Fröschen, Eidechsen, Blindschleichen und Ringelnattern, den Krebsen und vielen Kerbthieren steht das Hermelin als gefährlicher Feind gegenüber. Bald eignet es sich die Beute auf der Lauer an, indem es plötzlich mit flinkem Bogensatz aus dem Hinterhalte hervorsetzt und fest zupackt, dass an Entrinnen nicht mehr zu denken ist, bald kriecht es in die verborgensten Schlupfwinkel, um hier die Thiere abzuwürgen, bald klettert es an Stauden, Bäumen und Mauern empor um an freistehende oder in Höhlungen angebrachte Nester zu gelangen. Die Eier und Jungen raubt es besonders häufig den auf den Boden oder niedrig in’s Gebüsch oder in Steinhaufen bauenden Vögeln; aber auch die Nester auf den Zweigen und in Baumhöhlen und Staarenkasten sind zum Theil nicht sicher vor dem kleinen Auskundschafter. Den Krebs holt es aus den Uferhöhlen, die Wasserratte verfolgt es durch die Wasserpflanzen in ihre Ufergänge oder sucht es darin auf, um mit ihr den Kampf aufzu- 350 Raubthiere. Carnivora. nehmen und ihr den Garaus zu machen. Dem Maulwurf und der schädlichen Scherrmaus kriecht es in ihren Gängen nach und schleppt sie aus der Tiefe herauf an’s Tageslicht, und gleich einem Hühnerhunde, der emen Hasen apportirt, trägt der kecke, muthige Sieger mit stolz erhobenem Köpfchen, die verhältnissmässig so schwere Scherrmaus nach einem verborgenen Plätz- chen zur Tafel des Schmauses. Dem Geflügel, den Tauben und Hühnern, unter ihnen gerne den jungen, springt es in den Nacken, an die Kehle und mordet als echter Blutsauger über Bedürfniss.. Die Eier holt es, wenn ihm der Zu- gang offen bleibt, ziemlich regelmässig aus den Hühnerställen und Tauben- schlägen, schneidet mit seinen scharfen Zähnchen Löcher in dieselben und säuft sie mit Wohlgeschmack aus. Kleinere Thiere, wie Mäuse und kleine Vögel, verzehrt es gewöhnlich ganz, grössere nur zum Theil. Fische schneidet es hauptsächlich an den Rückentheilen an. Die Kerbthiere er- hascht es mit Sprüngen, trennt den Panzer vom Fleische und frisst nur letz- teres. Dem Hasen springt es in den Nacken und reitet auf ihm, dem ver- zweiflungsvoll erst gerade aus und dann in Kreislinien Rennenden, so lange umher, bis er unter ihm verendet. Blut und Theile am Kopf und Rücken geniesst es davon, während das Andere liegen bleibt. Alte erfahrene Wiesel lauern in den Getreidefeldern und Gärten im Sommer mit grosser Vorliebe jungen und alten Hasen auf. Mehrere Chausseesteinhauer waren in der Nähe Alsfelds schon etlichemal gegen Abend durch das Klagen eines Hasen aufmerksam gemacht worden, ohne dass sie in den Haferacker sich begeben mochten, aus welchem in einer Entfernung von zwei bis dreihundert Schritten die Klagetöne herüber schallten. Einer der Arbeiter theilte seinem Vater daheim mit, was er wahrgenommen, und dieser begab sich andern Abends an Ort und Stelle. Aber erst am dritten Abende vernahm er die Klage- töne eines Hasen. Eilig lief der Bauer der Richtung zu und sah, näher gekommen, in immer enger gezogenen Kreislnien die Haferhalmen sich be- wegen. Auf einmal ward es stille, und nach wenigen Augenblicken des Suchens fand er einen alten Hasen zuckend am Boden. Als er ihn aufheben wollte, kam unter demselben das Schwänzchen eines grossen Wiesels zum Vorschein. Sofort tritt der derbe Bauer auf den Hasen, um das Wiesel zu erdrücken. Er lässt seinen Fuss so lange mit dem ganzen Gewichte seines Körpers auf dem Halse des Hasen ruhen, bis das Schwänzchen des Wiesels kein Zeichen des Lebens mehr verräth. Kaum aber lüftet er den Fuss, so springt taumelnd der kleine Mörder unter dem „verendenden“ Hasen hervor und stellt sich ihm fauchend gegenüber. Nun schlägt er ihm noch glücklich init seinem Hackenstiel, welchen er seinem herbeieilenden Sohne entreisst, auf das Köpfchen und rächt somit völlig das Opfer. Die Untersuchung am Hasen ergibt, dass die kleine Wunde vom Biss des Wiesels am Halse kaum bemerkbar ist. Der durchdringende Geruch des Hasen in Folge der Umarmung von Seiten des Wiesels hätte uns fast bewogen, den zu uns kommenden Raubthiere. Carnivora. 351 Bauer davonzujagen. Zur Stelle geführt; überzeugten wir uns von den Spuren der Mordscene, und bei dieser Gelegenheit fanden wir in dem Hafer- acker und theilweise in dem darangrenzenden Graben fünf getödtete, vor- zugsweise am Kopf und Hals angefressene Hasen. Mit Ausnahme eines einzigen waren es junge Hasen, sogenannte halbwüchsige und Dreiläufer. Alle waren noch ziemlich frisch. — Die Kaninchen verfolgt das Wiesel in und ausserhalb ihrer Baue, und selbst den starken bissigen Hamster greift es verwegen und todesmuthig an, der ihm übrigens zuweilen tödtliche Wunden beibringt. Die Schilderung des Hamsters enthält einen solchen Kampf des Wiesels. Neben der Raubgier des Wiesels tritt seine Geistesgegenwart scharf hervor, wenn es sich um Selbsterhaltung handelt. Dies zeigt sich bei seinen Entrinnungsversuchen in der Gefahr und wird ausserdem durch ein höchst merkwürdiges Erlebniss eines Wiesels mit einem Weih bestätigt. Das von dem Weih ergriffene und emporgetragene Wiesel biss, unter den Fängen des Raubvogels sich emporwindend, diesem die Halsader durch, sodass er, das Opfer fahren lassend, todt zur Erde niederfiel. Dem blut- dürstigen Räuber fehlt es indessen auch nicht an einer gewissen Neigung zu Neckereien und wohligen Spielereien, die seine Hochlaunigkeit bestätigen. So erzählt der Oberförster Nördlinger folgende ergötzliche Scene, die sich vor seinen Augen zwischen einem Hermelin und zwei Krähen entwickelte und abspielte. „Das Wiesel hatte in dem Strassengraben seinen Zufluchtsort. Mit Blitzesschnelle fuhr es heraus, raschelte durch das welke Laub, welches den Boden theilweise bedeckte, und führte einen Scheinangriff auf einen Raben aus. Es zwang diesen, sich etwas über den Boden zu erheben, und führte, sich hin und her werfend wie ein Fisch auf dem Lande, die gewand- testen und tollsten Sprünge aus, bei denen eben so oft der weissgelbe Bauch als der braune Rücken zum Vorschein kam. Dann kehrte es wieder zum Graben zurück, jedoch nur, um sogleich wieder den Vorderleib herauszu- strecken und auf dem Tummelplatz zu erscheinen. Oder es blieb auf der Strasse sitzen, den nun erfolgenden, offenbar eben so wenig ernst gemeinten Angriff der Krähe zu erwarten, die den Kopf vorstreckend auf das Wiesel zutrabte, aber das flinke Thierchen eben so wenig erreichte, als es diesem nachher wieder gelingen mochte oder im Sinn lag, seine Turngeschicklichkeit wirklich an dem kräftigen Schnabel einer oder gar der beiden Krähen zu prüfen. Das Wettspiel dauerte mit vielen Abwechslungen von beiden Seiten in der geschilderten Art zehn Minuten lang fort, bis es von meinem Dachs- hunde gestört ward und die Krähen veranlasst wurden aufzufliegen.“ Es scheint diese Spielerei zwischen Krähe und Wiesel nicht selten vorzukommen, denn neuerdings ist ein ganz ähnliches Beispiel, als das eben erzählte, in der Nähe Alsfelds vorgekommen. Auch die zärtlichen Triebe verleugnet das Hermelin nicht zur Zeit der 352 Raubthiere. Carnivora. Paarung und Jungenpflege, welch erstere bei uns in den März fällt. Sein Familienleben bietet anmuthige Auftritte dar. Die Tragzeit währt fünf Wochen und die Zahl der Jungen schwankt zwischen drei und sieben. Es scheint, als ob die einjährigen Hermelime weniger zahlreiche Nachkommen- schaft erzeugten. Das Geheck kommt in unseren Strichen Ende Mai oder in der ersten Hälfte des Juni in emem hohlen Baum oder sonst einem gut verborgenen Schlupfwinkel in Haus und Hof zur Welt. Mit hingebender Treue säugt die Mutter ihre Jungen lange Zeit und versorgt sie später mit Mäusen, die sie ihnen, wie die Mutterkatze ihren Jungen, lebendig zu Spiel und Fangübungen bringt. Vor der Geburtsstätte werden oft recht ergötzliche Spiele ausgeführt, wobei die Mutter die Anleitung gibt und sorglich Wache hält. Da wir den Kampf des Wiesels mit dem Hamster gelegentlich der Schilderung des Letzteren darstellten und sein Verfahren bei der Erbeutung des Hasen in dieses letzteren Lebensgeschichte anschaulich beschrieben worden ist; so beschränken wir uns zum Schluss auf die Erzählung von Erlebnissen, bei welchen wir die Raub- und Mordthaten des grossen Wiesels im Wasser an der Wasserratte wahrhaft zu bewundern Gelegenheit hatten. An eimem Abende, als wir dem Fischfange an der Nidda in der Wetterau oblagen, bemerkten wir plötzlich, wie sich die Schilt- und Rohrstengel am Bachufer, von unten angestossen, in schmalem Streifen auffallender Weise vom Ufer nach der Mitte des Flusses hin bewegten, und eifrig rudernd er- schien im offnen Gewässer eime alte Wasserratte. Offenbar war ihr Sinnen und Trachten dem Suchen nach Nahrung zugewendet: das sahen wir an der gehobenen, schnüffelnden Nase und dem sorgfältigen Untersuchen der Wasserpflanzen. Jetzt schwamm sie, halb sich von der Strömung treiben lassend, dem jenseitigen Ufer zu. Aber kaum dort im Schilfe angelangt, fuhr sie jäh erschreckt mit Geräusch herum und kehrte eilends wieder zum diesseitigen Ufer zurück. In demselben Augenblick erschien drüben auf einem Ufervorsprung, in raschen Bogensätzen in's Wasser fahrend, ein Her- melin. Schnell hatte es das Schilf durchschwommen, mit hochgehobenem. lüstern witterndem Näschen durcheilte es das offine Wasser und verfolgte die Ratte auf ihrer Flucht unter die breiten Blätter der Wasserrosen. Hier lag die Ratte im Wasser, nur die Schnauze am Rande eines Blattes hervor- streckend, in der Absicht, den Feind von ihrer Spur abzulenken und im Verfolgungseifer an sich vorbeieilen zu lassen. Das Wiesel war in der That bereits einige Meter weit über diese Stelle hinaus geschwommen, in seinem Gebahren unverkennbar ofienbarend, dass es mit äusserst erregtem Wesen etwas Verlorenes suche. Plötzlich aber kehrte es um, zog einen weiten Kreis, den Windzug geschickt benutzend, der seinem witternden Näschen das Versteck der Ratte verrathen sollte. Aber kaum war ihm die Absicht gelungen, da floh auch schon in ängstlicher Ahnung und im be- unruhigenden Gefühl der feindlichen Annäherung die Ratte durch das Schilf Raubthiere. Carnivora. 353 und verschwand am Ufer. Das Wiesel folgte dem Zug der Ratte mit scharfen Sinnen, und nach kurzem Hin- und Herprüfen auf der Spiegelfläche am Ufer verschwand es in der Höhle, in welche eben die Ratte geschlüpft war. Stille herrschte in Wasser und Schilf, doch war es uns, als sei aus dem unterirdischen Gang ein feiner quiekender RKlageton zu unserem Ohr gedrungen. Da nahmen wir an der Mündung der Röhre eine anfangs kleine, aber immer stärker werdende Bewegung der Wasseroberfläche wahr, kleine Bläschen entstanden, es trübte sich vom aufgewühlten Schlamm das Wasser, und dieses schlug Wellen, und hervor wälzte sich ein lebendiger Klumpen, der sich nach und nach deutlicher erkennen liess und nach verzweiflungs- vollem Kampf in sich selbst als zwei in einander verschlungene 'Thiere darstellte, von denen das Wiesel als Sieger oben sass und dem besiegten Opfer im Nacken die feinen Zähne an den Sitz des Lebens eingehauen hatte. In triumphirender Haltung drängte es die sterbende ‚Ratte dem Ufer zu, schleifte sie auf das feste Land und zog sie immer weiter längs dem Ufer hin unter eine dunkle Wölbung, wo es seinen Blutdurst stillte und die be- liebtesten Fleischtheile vom Kopf und Rücken unter vernehmlichem Krachen zermalmter Knochen verzehrte. Das kleine Wiesel oder das Heermännchen. Mustela vulgaris. Ein nur 20 cm langes Thierchen, von welchem Mass das Schwänzehen 4,5 cm einnimmt, verspricht dem ersten Anscheine nach gewiss keime grossen Heldenthaten als Räuber, und doch leistet es im Rauben und Morden so erstaunlich Anerkennenswerthes, übertrifft es die Erwartungen derer, die seine geheimen, blutdürstigen T’haten nicht kennen, in grossartigem Mass- stabe. Und in der That! betrachtet man den Gliederbau des Heermännchens genau, so findet man hier schon einigermassen den Schlüssel zu seiner aussergewöhnlichen Begabung und Leistungsfähigkeit. Vom Kopf bis zum Schwanze ist das Thierchen fast gleich dick, und durchweg muskulös bei aller Feinheit der Gliedmassen. Wie feurig leuchten auch seine schiefen Mongolenäuglen! Welche Unternehmungslust und Entschlossenheit prägt sich in seiner Haltung aus, wenn es auf seinem mordsinnigen Pass plötzlich innehält und ein „Männchen macht“, indem es sich auf die Sohlen der Hinterbeine setzt und, mit der Wurzel des wagerecht abstehenden Schwänz- chens sich unterstützend, hochauf richtet! Dabei geben die langen Schnurren und die Borstenhaare über den Augen dem Teufelehen ein burschikoses Ansehen. Die Färbung ist eine zweifache, nämlich auf der Oberseite röth- lichbraun, auf der Unterseite wie den Innenseiten der Beine weiss. Im grossen Ganzen theilt es mit dem grossen Wiesel den Aufenthalt, nur ist sein Leben und Wirken noch mehr der Tiefe, dem Boden, angehörig. Zu klettern vermag es nur sehr unvollkommen. Auch bewegt sich sein Räuber- leben in engeren Grenzen, aber dafür gibt es sich dem Mäusefang in einer A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 23 354 Raubthiere. Carnivora. so leidenschaftlichen Weise hin, dass es alle Beachtung und Schonung ver- dient. In sogenannten Mäusejahren räumt es unter den Feldmäusen ganz besonders auf, wiewohl da auch seine schätzenswerthe Beihülfe zur Ver- tilgung dieser schädlichen Nager eben so verschwindend sich erweist, wie diejenige anderer Mäusevertilger. Zu solchen Zeiten wird es von einer wahren Wuth befallen, die sich ausschliesslich dem Morden der Mäuse zuwendet und dem Mörder gleichsam Hören und Sehen benimmt. Im Taumel springt es unter der Schaar der überhandgenommenen Feldmäuse umher und würgt unzählige nur aus Mordlust, wenn die Sättigung durch Blut- und Fleischgenuss längst vollzogen ist. Die Erfahrung lehrt, dass m den Mäusejahren die kleinen Wiesel sich in den heimgesuchten Feldern in grosser Menge einfinden. Auf grossem Irrthum aber beruht die Meinung, dass sich die Thierchen in solchen Jahren in ungewöhnlicher Anzahl in Folge der reichlichen Nahrung, vermehrten. Keineswegs ist dies der Fall, sondern die auffällige Erscheinung der grossen Anzahl von Wieseln ist vielmehr die Folge von Ansammlungen derselben in den beutereichen Länderstrichen aus denjenigen Gegenden, die von den Mäusen verschont geblieben sind. Wir nehmen ja auch wahr, dass mit der Wanderung der Mäuse die Wiesel verschwinden und sich den Wandernden anschliessen, um in andern Feldern den Mäusemord fortzusetzen. Ausser den Feld-, Haus- und Waldmäusen stellt das kleine Wiesel auch den Wühlmäusen nach. Es begibt sich in die Gänge der Schermaus und des Maulwurfs und würgt diese, ja es bindet sogar, freilich zuweilen zu seinem Nachtheil, mit dem Hamster an. Wir werden nacher die von Lenz angestellten Versuche bezüglich dessen mit- theilen. Seiner gestreckten Gestalt und ausserordentlichen Geschmeidigkeit verdankt es das Vermögen, den Mäusen unter der Erde zu folgen und da sie zu erwürgen. Aber auch Frösche, Eidechsen, Schmetterlinge und Käfer fängt das finke Heermännchen, und lässt sich das Beste der Beuten wohl- schmecken. Keimen Augenblick sieht man das huschende, hüpfende, krie- chende und schlüpfende Räuberchen unthätig; nach ausgeführtem Plan sinnt es neuen Entwürfen nach. Zuweilen hält man es für gänzlich harmlos, während verborgen in ihm der Mörder lauert. Im Hühnerhof treibt es sich nicht selten anscheinend in freundschaftlichem Verkehr mit dem Federvieh umher. Kaum dass die Sperlinge und Goldammer auf der Miststätte Notiz von ihm nehmen. Im Nu aber packt es ein junges Hühnchen, erwürgt es im Genick und schleppt es hinter einen Holzstoss oder unter den Kanal. Die stillen Plätze zieht es freilich den belebten zur Ausführung der Mord- gedanken vor. Da, wo die jungen Hühnchen, Entchen oder Gänschen sich von Haus und Hof entfernt haben und dem Gebiete seines täglichen Hausens sich nahen, wiederholt es fortlaufend seine Raubthaten und beutet die günstige Gelegenheit gründlich aus. Es ist kaum begreiflich, wie das winzige Heer- männchen Tauben und Hühner von ansehnlicher Grösse so weit fortzu- Raubthiere. Carnivora. 355 schleppen vermag. Wir haben eben erst geraubte junge Hühner, der Blut- spur nachgehend, in Feldgärten aufsuchen wollen, fanden sie aber nicht. Das Heermännchen, das wir erst beim Aufpassen später als Raubmörder ertappten, hatte die Vermissten weit fort in Sicherheit gebracht. Wie das Federvieh, so haben die kleinen Vögel, die auf der Erde nisten oder in niedere Hecken bauen, vor dem Heermännchen sich zu hüten. Lerchen, Ammern, Rothkehlehen, Grasmücken, Wiesenschmätzer und Steinschmätzer, sie alle werden zuweilen vom kleinen Wiesel in ihren Nestern überfallen und sammt der Brut gemordet. Im Monat März paaren sich die kleinen Wiesel und im Mai oder Anfangs Juni wirft nach fünfwöchentlicher Tragzeit das Weibchen drei bis acht blinde Junge in irgend einer unterirdischen oder einer Baum-Höhle oder in einem gut verborgenen Winkel auf nestartigem Lager, welches von Laub, Stroh, Heu und dergleichen bereitet ist. Sobald die Kleinen genügend herangewachsen sind, bringt ihnen die Alte lebendige, matt gewürgte Mäuse, und wenn die kleine Schaar im hellen Sonnenschein vor der Geburtsstätte im Freien spielend beschäftigt ist, so bietet dieses Treiben ein reizendes Schauspiel. Zuerst treten die Kleinen behutsam und ängstlich sichernd aus dem Schlupfwinkel hervor, zögernd der Mutter folgend, die längst ausge- macht hat, dass die Luft rein ist. Hier dringt ein vorwitzig Näschen, dort ein ganzes Köpfchen, hier wieder ein Heermännchen zur Hälfte hinter einem Stein, einer Wurzel, einem Schollen oder aus einer Erdvertiefung hervor. Allmälig werden sie vertrauter, beschnüffeln sich gegenseitig und steigen auf den Hinterfüssen sich erhebend aneinander in die Höhe. Mit dem Vertrauen kehrt die Lust zum Spiel und behaglichen Umherspringen ein. Sie necken sich gegenseitig, winden sich wie Schlangen durcheinander, quieken leise, wenn Eins das Andere derb behandelt, stieben weit auseinander und nähern sich wieder jagend und haschend. Die Alte begibt sich nicht ohne Auf- merksamkeit auf die Jungen auf den Mäusefang in der Nähe, und bald kehrt sie zurück mit einer lebenden Schermaus. Den Kleinen wird die Beute vorgeworfen, anfänglich stutzen sie und nähern sich misstrauisch dem plumpen, matt gewürgten Nager. Da fährt die Mutter zu und leitet sie an, die Beute zu fassen. Nun werfen sie sich, ermuthigt und den mordsüchtigen Teufel in sich spürend, über die Schermaus zerrend und würgend her, sich bestrebend, sie nach der Verborgenheit zu ziehen, wobei ihnen die Alte behülflich ist. Droht den Jungen Gefahr, so vertheidigt die Mutter sie tapfer und todesmuthig gegen Hunde, denen sie sich an die Schnauze hängt, und selbst gegen Menschen. Sind die Jungen noch klein und in die Höhle gebannt, so trägt die Alte sie bei Gefahr und Unsicherheit im Rachen an bergende Zufluchtsorte. Hören wir nun die Mittheilung des trefflichen Forschers Lenz. „Zu einem alten Wiesel, welches mit andern Thieren schon ganz ge- 23* © 356 Raubthiere. Carnivora. sättigt war, setzte ich einen Hamster, welcher es an Körpermasse wohl dreimal übertraf. Kaum hatte es den bösen Feind bemerkt, vor dem es wie ein Zwerg vor einem Riesen stand, so rückte es im Sturmschritte vor, quiekte laut auf und sprang wunaufhörlich nach dem Gesichte und Halse seines Gegners. Der Hamster richtete sich empor und wehrte mit den Zähnen den Wagehals ab. Plötzlich aber fuhr das Wiesel zu, biss sich in seine Schnauze ein, und Beide wälzten sich nun, das Wiesel laut quiekend, auf dem mit Blute sich röthenden Schlachtfelde. Die Streiter fochten mit allen Füssen; bald war das leichtgebaute Wiesel, bald der schwere, plumpe Hamster obenauf. Nach zwei Minuten liess das Wiesel los, und der Hamster putzte, die Zähne fletschend, seine verwundete Nase. Aber zum Putzen war wenig Zeit; denn schon war der kleine, kühne Feind wieder da, und wupp! sass er wieder an der Schnauze und hatte sich fest eingebissen. Jetzt rangen sie eine Viertelstunde lang unter lautem Quieken und Fauchen, ohne dass ich bei der Schnelligkeit der Bewegungen recht sehen konnte, wer siegte, wer unterlag. Zuweilen hörte ich zerbissene Knochen knirschen, die Heftigkeit, mit der sich das Wiesel wehrte, die zunehmende Mattigkeit des Hamsters schien zu beweisen, dass jenes im Vortheil war. Endlich liess das Wiesel los, hinkte im eine Ecke und kauerte nieder, das eine Vorder- bein war gelähmt, die Brust, welche es fortwährend leckte, blutig. Der Hamster nahm von der andern Ecke Besitz, putzte seine angeschwollene Schnauze und röchelte. Einer seiner Zähne hing aus der Schnauze hervor und fiel endlich gänzlich ab; die Schlacht war entschieden. Beide Theile waren zu neuen Anstrengungen nicht mehr fähig. Nach vier Stunden war das tapfere Wiesel todt. Ich untersuchte es genau und fand durchaus keine Verletzung, ausgenommen, dass die ganze Brust von den Krallen des Hamsters arg zerkratzt war. Der Hamster überlebte seinen Feind noch um vier Stunden. Die Schnauze desselben war zermalmt, ein Zahn ausge- fallen, zwei andere wackelig, und nur der vierte sass fest. Übrigens sah ich nirgends eine Verletzung, da ihn das Wiesel immer fest an der Schnauze gehalten hatte.“ Zum Schlusse theilen wir noch eine Beobachtung an dem kleinen Wiesel gelegentlich eines Ansitzes auf wilde Kaninchen an einer Waldhaide mit, woselbst diese allabendlich in das anstossende Feld zur „Asung“ rückten. Schon eine Weile fesselte uns das Treiben eines grossen Würgers am nahen Dornraine. Eben flatterte er wieder von dem Schwarzdorn auf über den Kleeacker hin und hob sich plötzlich senkrecht etwa zehn Meter in die Höhe, um sein „Rütteln“ zu beginnen, das heisst: er hielt sich flatternd halbe Minuten lang an einer Stelle in der Luft über einer gewissen Stelle. Der Vogel wendet diese Eigenthümlichkeit mit einigen Raubvögeln bei seinem Fang auf Kerbthiere, Lurche und Mäuse an. Sobald er eine Beute unter sich gewahrt, stürzt er auf sie herab, um sie mit Schnabel und Raubthiere. Carnivora. 357 Klauen sofort zu fassen. Mehrere Käfer und eine Eidechse sind von ihm auf diese Weise schon erbeutet. In seinen Klauen hat er die Letztere zu den Käfern auf die Dornhecke getragen und an einem der spitzen Dorne daselbst aufgespiesst. Jetzt fuhr er mit einemmale wieder schief herunter an den Rain, aber noch einige Fuss von der Erde schreckte er zurück, sein eigenthümliches Geschrei „Gäh“, „Gäck“ ausstossend. Auf dem Steinge- rölle des Raines sahen wir jetzt Etwas sich mausartig regen. Sonderbar, dass der Würger nicht anpacken will. Wiederholt fährt er auf den Punkt los, wendet aber hart über ihm sogleich um. Plötzlich erschien statt der ver- meintlichen Maus das niedliche Köpfchen eines kleinen Wiesels mit dem grauweissen Schnäuzchen, den breiten Muschelohren und den kleinen leb- haften Augen: ein lebendiges Spitzbubengesichtehen. Nun schob sich dem langen weisskehligen Hälschen ein eben so schlanker Leib in gelenker, bogenförmiger Windung aus einer engen Steinritze nach. Es war unser Heermännchen. Der Schlaukopf hatte die bespickte Tafel des Würgers wahrgenommen. Aber eben, als er den Dorn hinaufkletterte, stösst wieder- holt auf ihn der zänkische Würger. Wie ein Gedanke flüchtig, springt dem Schreier der kleine Teufel mit einem Luftsatz entgegen, und um ein Haar war der Vogel erfasst. Die Zähne des Wiesels packten nur den äussersten Theil des scheckigen Schwanzes des Würgers, von dem in krei- senden Bogen die Federn zur Erde fielen. Der verblüffte Vogel sucht mit gestutztem Steisse das Weite, um sein Steuer ärmer, dafür an Erfahrung reicher Die bespickten Dorne sind im Nu von dem erorbernden Schalk gesäubert, und der kleine Wicht, von dem Genusse des Raubes angeregt, schlägt sich, wohllaunig, wie der spielende Wind, bald da, bald dort hin. Hier befragt er ein Mausloch oder einen frischen Maulwurfshaufen nach der Anwesenheit seiner Insassen, dort wird er unter dem Blatt einer Staude un- sichtbar; hier wieder untersucht er vorwitzig den vom Grünspecht ange- bohrten Ameisenhaufen. Alles dies anscheinend nur wie unbewusst, im Spiele — „instinktmässig“ nach der begriffslosen Sprache der Herren Zweck- mässigkeitslehrer, aber dennoch nicht bedeutungs-, nicht willenlos: denn eben sagt uns das emsig „windende“ Näschen am Mausloch, jetzt das auf- merksame Horchen des seitwärts geneigten „Gehörs“ am Hügel des Maul- wurfs, und hier wieder das Hervorziehen einer Schnecke unter der Staude, dort endlich das Ausbeuten des Nestes von Ameisenlarven, die der Gras- specht in seinem Tunnel blosgelegt, den steten Verkehr zwischen der Auf- nahme der Sinne und der Arbeit des Kopfes in unserem Thierchen, das durch solche lebendige Folge von Wollen und Vollbringen immermehr unser Interesse erregt. Aber plötzlich lenkt ein leises Poltern unsere Aufmerksamkeit auf die Waldhaide. Dort sitzt ein Kaninchen bildsäulenartig. Es hat uns wahr- genommen und stampft von Zeit zu Zeit mit den Hinterläufen vernehmlich 358 Raubthiere. Carnivora. den Boden. Wir.stehen ausser Wind und regungslos. Vertraut geworden, rückt das Kaninchen endlich mit seinem eigenthümlich rollenden Gang, eine kleine graugelbe Kugel, in die Flur. Hier und dort folgt jetzt ein und das andere Kaninchen aus den in der Haide verborgenen Röhren der Baue. Aber unser Wiesel? Wohl hat es sie alle im Auge, aber besonders das niedliche Pärchen halbwüchsiger Geschwister dort am Wege, wo der Feld- rain endet. Halb spielend äst sich das vertraute Paar im heimlichen Dämmer des Ährenwaldes am Klee des Weges. Sie ahnen nicht, die still vergess- lichen Kinder des Waldes, die Nähe ihres gefährlichen Feindes. Sie sehen nicht, wie er, immer lüsterner, „einen Kegel macht“ (sich gänzlich aufrichtet), ihre Stelle genau auszukundschaften und den Wind ihnen abzugewinnen; sie „vernehmen“ nicht, wie er sich jetzt in leisen Bogenwindungen aufrafft, gedeckt vom Gras und Gestrüppe des Raines. Schlaff und wie leblos ruhen der Kaninchen „Löffel“ (Ohren) halb im Nacken, halb zur Seite, ein Zeichen, dass sie, behaglich in sich versunken, in ihrer Unerfahrenheit dahinträumen. Wie ein spielendes Lüftchen im Laube hat sich das Heermännchen dem äsenden Paar genaht; jetzt trennt es nur noch das letzte Klettenblatt des Raines von seinen Opfern. Doch nun reckt der Kaninchenbruder die Löffel. Hat er das letzte Rascheln des Räubers im Laube vernommen ? Wohl erbte er ein Gehör, das leiseste, von den Alten, er besitzt die elter- liche Mitgift der feinen Nase, und diese bekommt nun „Wind“ von dem unerklärlichen und doch so verdächtigen Etwas. Ein Gefühl der Unsicher- heit gesellt sich zu der regen Kaninchenfurcht und in jähem Satz springt das Waldbrüderchen abseits aus der gefährlichen Nähe des Lauernden, der sich in demselben Augenblicke aber auch wie ein rother Federball an den Hals des unglücklichen Kaninchen-Schwesterchens wirft. Verzweifelt klagend rennt dieses, den kecken Reiter auf seinem Halse, hinüber nach dem Bau, in dessen Röhre sein Angstgeschrei verhallt und in der es der kleine Wütherich durch Zerbeissen der Halsader und Aussaugen des Blutes tödtet. — Der Edel- oder Baummarder. Mustela martes. Die Marder, Martes, erweisen sich gegenüber den Wieseln zwar noch als gestreckte, aber weniger schlanke, mehr kräftige Thiere. Ihr Schädel ist platt, hinten etwas breiter als der der Wiesel, die Läufe stärker und kürzer, der Reisszahn ist breit und sehr entwickelt, das Gebiss hat beiderseits oben drei, unten vier Lückenzähne, die Reisszähne in der oberen Kinnlade in der Mitte und vorn einen Höckeransatz. Ihr dichtes Pelzwerk ist kostbar. Die Sohlen sind mehr oder weniger behaart. Der schön gefärbte, mit glänzendem, dichtem und weichem Pelz ge- schmückte Edelmarder misst eine Länge von 85 cm, den 30 cm langen Schwanz mitgerechnet. Die Oberseite trägt schönes Dunkelkastanienbraun mit Ausnahme der helleren Stirne, Wangen und Schnauze, gleiches Dunkelbraun der Schwanz. N Sm) = = we DR N NUN wu u Ri v N N N N RI UND RN N ON RN N NEE N Ama AN AN URN N N N N \ Di N Edelmarder. Raubthiere. Carnivora. 359 und die Läufe. Seiten und Bauch spielen in's Gelbliche. Über Kehle und Unterhals verbreitet sich ein hell abstechendes Dottergelb, welches bei be- jahrten Männchen besonders lebhaft ist. Der Verbreitungskreis erstreckt sich über die nördliche Erdhälfte, und sein Aufenthalt sind die Laub- und Nadelwälder. Die finsteren Fichten- und Tannenorte er vorzugsweise liebt, und hier haust er in den Nestern der Eichhörnchen und der Tauben, sowie in den Horsten der Raubvögel, Kolkraben und Krähen, aber auch in den Höhlungen alter Buchen und Eichen. Zuweilen kommt er auch in die Scheuern einsam gelegener Gehöfte und bereitet sich da im Stroh und Heu sein Lager. Zusammengeringelt mit angelegtem Schwanz schläft er im den Nestern ohne sich Unterlage zu bereiten und im den Baumhöhlen auf dem losgelösten Holzmehl. Anders ist es mit seinem zur Fortpflanzung er- wählten Lager, welches er in den Höhlungen mit Moos, Grashalmen und Wurzelfasern sich bereitet. Früher als der Steinmarder schreitet der Edel- marder zur Fortpflanzung. Ende Januar oder Anfangs Februar beginnen die Werbungen der Männchen um die Weibchen, wobei oft hartnäckige Kämpfe zwischen den nebenbuhlerischen Männchen entstehen, die mit der Besiegung des schwächeren Kämpfers enden, bei gleich starken Individuen aber häufiger wiederholt und unter langdauernder Unentschiedenheit zu Gunsten desjenigen Theils ausfallen, der den meisten Muth und die kühnste Entschlossenheit behauptet. Ende März oder Anfangs April wirft das Weibchen drei oder vier Junge, die es mit grosser Liebe hest und pflegt und auf ihren Aus- gängen später als Führerin und Lehrmeisterin begleitet. Wir sahen eine Marderfamilie eines Tages im Tannenhochwalde am sonnenhellen Mittage zu behaglichem Spiele aus ihrem Schlupfwinkel hervorkommen und er- götzten uns lange an dem munteren Spiel, welches auf den Asten, an den Stämmen auf und nieder und vielfach auch auf dem Boden seinen unge- störten Fortgang nahm. Plötzlich sahen wir die Alte ein junges Eichhörnchen verfolgen. Die Jagd ging von Ast zu Ast, von Baum zu Baum auf und nieder. Dabei sprang der Plan unverkennbar in die Augen, dem Geheck oder den Jungen das ängstlich fliehende Hörnehen zuzutreiben. Nun rückte die Alte ihm so dicht auf den Pelz, dass dieses einen wahren salto mortale in die Tiefe zu Boden unternahm. Der Räuber hinter ihm drein, packte das quiekende Thierchen, tödtete es jedoch nicht, sondern lockte mit eigen- thümlich murksendem Tone die mordlustigen Jungen herbei, dann liess er das mattgedrückte Hörnchen los, und die verständigen Jungen hatten nun leichte Mühe, es zu fangen. Durch unser störendes Dazwischentreten er- schreckt, stiebte die ganze Familie auseinander, dass Opfer sich selbst überlassend. Einen kühneren, gewandteren Räuber zu Baum kann man sich nicht denken, als diesen Marder. Hier sehen wir ihn kletternd die Vogelnester auswittern, um den brütenden Vogel zu erhaschen und die Eier ihres Inhaltes 360 Raubthiere. Carnivora. zu berauben ; dort beschleicht er die schlafenden Täubchen, deren eines er im Sprung mit den Zähnen packt, während er mit den Vorderpfoten ge- schickt den schwanken Zweig zu erfassen weiss, um sich den gewaltigen Sprung in die Tiefe mit der Beute zu ersparen, der übrigens ohne Nachtheil geschehen kann. Dort ist er dem wechselnden Wild, einem Rehkälbchen, ja im Winter selbst einem Schmalreh, in den Nacken gesprungen, mit dem Reisszahn Stücke Haut in der Zerfleischungswuth abstreifend, mit denen er sich, von dem verzweiflungsvoll davonrennenden Thier abgeworfen, ge- wöhnlich begnügen muss. Hier dringt er in das dem Walde nahe gelegene Pachtgehöfte ein und wüthet im Hühnerstall oder Taubenschlag mit uner- sättlichem Blutdurst. Des andern Morgens folgt der erzürnte Pächter seiner Spur, welche durch streckenweit geschleppte Hühner- oder Taubenleichname bezeichnet ist, und findet den vom Blutgenuss, wie man sagen könnte, Be- rauschten, unter der Macht überwältigender Schlafsucht zur Flucht Unfähigen bisweilen in einer Feldhecke. Er ist fast nur zur Nachtzeit auf semen Raub- zügen anzutreffen, denn am Tage schläft er von dem anbrechenden Tage an, wo er in sein Lager eingeht bis zur eintretenden Nacht. Obgleich sich seine Raub- und Mordthaten mit entschiedener Neigung dem Eichhörnchen, den Bilchen und Mäusen zuwenden, so sind doch die Vögel des Waldes von der brütenden Auerhenne bis zum Zaunkönig und Goldhähnchen nicht sicher. Er kommt den Entdeckten durch schattenhaftes Schleichen und ge- wandtes Springen und Klettern bei. Am glänzendsten aber zeigt sich seine Kraft, Ausdauer, Sprung- und Klettergewandtheit bei der Verfolgung des alten Eichhörnchens. Dieses hetzt und verfolgt er nicht selten am hellen Tage von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig. Jetzt birgt sich das ge- ängstete Thierchen hinter einem dicken Knorren eines Astes, hinter welchem es jedoch von dem aufmerksamen Späher im nächsten Augenblick hervor- gescheucht wird, dann läuft es ausweichend um den Stamm und die dieken Aste herum, oder es springt in weitem Bogensatz von der Spitze des Baums nach den überragenden Zweigen eines Nachbarbaumes, die schwanken Zweig- spitzen mit seinen Fingern erfassend. Es hilft nichts, der Blutdurst treibt den Verfolgern zu gleich bewundernswürdigen Sprüngen und anderen Kraft- anstrengungen an. Von der Höhe zur Tiefe, von der. Tiefe zur Höhe, geradeaus oder im Kreise herum, immer weiter geht die Jagd, bis das Eichhorn nach und nach unter dem Einfluss angstvoller Verzweiflung und äussersten Kraftaufwandes ermattet und seine Sprünge erlahmen, sein Athmen schwerer und schwerer wird und endlich es den Nacken beugen muss unter dem wüthenden Anfall des überlegenen Feindes. Doch kommt es sicherlich nicht selten vor, dass ihm das gejagte Eichhorn durch einen Sprung ent- rinnt, den er nicht nachzumachen wagt, weil ihm jenseits keine genügende Grundlage im Gezweige geboten ist, oder indem er einen Fehlsprung thut, der ihn in die Tiefe zu Boden wirft, von dem aus es ihm alsdann nicht Raubthiere. Carnivora. 361 gelingt, die sich eilends verlierende Spur des Flüchtlings wieder aufzufinden. Die meisten Eichhörnchen und Bilche werden von ihm auf der Lauer und schleichend erbeutet. Mitten im heiteren Spiel und Putzgeschäft oder beim Schmaus der Nüsse und Baumknospen fährt der Wütherich unter sie und packt sich sein Opfer. Lauernd überlistet er auch den Hasen auf seinem Wechsel,- und dem Rehkalb springt er von überhängendem Baumast in den Nacken. Solche Thaten werden uns von dem königlich sächsischen Oberförster Schaal in der Forst- und Jagdzeitung mitgetheilt. Zweimal wurden diesem Gewährs- mann Rehkälbcehen gebracht, welche schwere Beiss- und Reisswunden an sich trugen an Kopf und Hals, so dass ihnen mit dem Genickfänger der Genickfang gegeben werden musste Wir führen einen Bericht des Ge- nannten zum weiteren Belege der Angabe an, dass der Edelmarder solche verwegene Mordthaten unternimmt. „Am 16. Juli, bei Anfang der hohen Jagd pürschte ich auf dem sogenannten Sohlenwege im Wirthschaftsbezirke Kuppe, und hörte plötzlich ganz in meiner Nähe, in einer lichten, bis drei Ellen hohen Fichtenpflanzung, ein Rehkalb ganz entsetzlich klagen. Ich sprang sofort zu und sah, wie ein starker Edelmarder das Kalb am Halse gepackt hatte, dasselbe aber nicht erhalten konnte, sondern von ihm von einem Ort zum andern geschleppt wurde. Nun erst, als ich bis zum Zu- sreifen nahe war, gewahrte mich der Marder und ergriff die Flucht, die ihm auch gelang, da ich mit Kugelgewehr bewaffnet war und in dem dichten Fichtenzeuge fehlte. Das Rehkalb war noch wenig verletzt, aber genau an der Stelle des Körpers und auf ähnliche Weise, wie die früher aufgefundenen; es wurde von mir aufgehoben und dort wieder freigegeben, wohin ich das Mutterreh bei meiner Annäherung hatte flüchten sehen.“ Ahnliche Auftritte werden von dem preussischen Oberförster Dr. Kogho berichtet. Mit ziemlicher Sicherheit fängt man den Edelmarder in der Brechfalle, deren Stellvorrichtungen denen der sogenannten Studentenfalle ähnlich sind, deren niederschlagender mit dieckem Stein beschwerter Triangel aber in solcher Höhe angebracht sein muss, dass kein Fuchs an den Köder gelangen kann. Vorher „kirrt“ oder lockt man den Marder mit einem „Geschleppe“ von frischem Hasengescheide an, das man streckenweit bis zur Stelle, wo die Falle gestellt werden soll, auf dem Boden hinschleift. Der Marder läuft an der zur Falle führenden Stange hinauf und wird beim Anbiss von dem niederfallenden Triangel erdrosselt. Sehr anziehend, aber mühsam ist das Ausspüren des Edelmarders bei frisch gefallenem Schnee. Der Jäger tritt die Spur aus, was in der Jägersprache durch Ausgehen ausgedrückt wird, und verfolgt so dieselbe bis zu dem Orte, wo der Marder gebaumt ist. Gar oft aber liebt es der Marder, weite Strecken fortzubaumen, ehe er in den hohlen Ast einer Eiche oder Buche oder in ein Eichhorn- oder 362 Raubthiere. Carnivora. Vogelnest eingeht. Der Verfolger muss dann im Kreise einen grossen Distik abspüren, um zu bestätigen, ob das Thier in demselben eingegangen oder weiter gewechselt ist. Die von den Ästen und Zweigen durch die Sprünge des Marders zu Boden gefallenen Schneebällchen oder Moos- klümpchen geben oft die einzigen Anhaltspunkte zur Verfolgung. Doppelt lohnend ist aber unter solchen Umständen auch das Ausmachen. Oft ge- nügt ein Schlag an den Ast, um den Marder aus der Höhle zu scheuchen oder ein Rütteln an den Bäumen im Stangenholz, um sein Hervorschnellen aus dem Neste der Krähe oder des Eichhorns zu bewirken. Ein sicherer Schuss holt ihn dann aus der Höhe herab. Die in früher Jugend eingefangenen Edelmarder werden ausserordent- lich zahm. Ritter von Frauenfeld gibt an: „Ich habe einen Edel- marder gesehen, welcher meinem Bruder auf dem Wege von Tulle nach Wien auf eine Entfernung von mehreren Meilen durch den Wald von Dorn- bach wie ein Hund auf dem Fusse folgte. In Wien schlug er seine Wohnung in einem Holzschuppen auf und bereitete hier sich ein Lager auf einem ungeheueren Haufen von Hühner- und Taubenfedern, den Beuteresten der Thiere, welche er auf seinen nächtlichen Wanderungen erjagte. Des Morgens kam er vom Hofe herauf in die im ersten Stockwerke gelegene Wohnung, wo er durch Kratzen und Scharren Einlass verlangte. Er bekam allda seinen Kaffee, den er ausserordentlich liebte, spielte und neckte sich mit den Kindern in der launigsten Weise herum und liebte es unendlich, wenn ihm verstattet wurde, dass er eine Stunde im Schoosse ruhen und schlafen durfte. Und Grischow erzählt: „Ein Baummarder war so zahm, dass ich ihn auf den Arm nehmen und streicheln durfte Die Taschen meines Vaters untersuchte er stets auf das Genaueste, weil er gewohnt war, in ihnen Leckerbissen zu finden; und kroch er gern zwischen Armel und Arm, um sich zu wärmen. Ein schwarzer Affenpinscher spielte so gern und so hübsch mit ihm, dass man wahre Freude an den Thieren haben musste. Beide jagten sich unter lautem Bellen des Hundes wie ein Affe auf dem Rücken des Bären; gefiel der Reiter dem Hunde nicht länger, so wusste er ihn schlau dadurch zu entfernen, dass er soweit lief, bis die Leine, an welche der Marder gefesselt war, diesen herabriss. Mitunter er- zürnten sich Beide ein wenig; dann schlüpfte der Marder in eine kleine Tonne, und der Hund wartete, vor dieser stehend, bis sein Spielgefährte wieder guter Laune war. Lange währte es nie, bis der Marder, schelmisch sich umsehend, hervorkam, dom Hund eine Ohrfeige versetzte und damit das Zeichen zu neuen Spielen gab.“ Der Steinmarder. Mustela foina. Von dem Edelmarder unterscheidet sich der Steinmarder durch die ge- ringere Grösse, die etwas kürzeren Läufe, den längeren Kopf und die Insektenfresser. Insectivora. 365 hellere Pelzfarbe, namentlich aber die weisse Kehle. Die Gesammtlänge beträgt ungefähr 70 cm, der Schwanz nimmt etwas mehr als den dritten Theil dieser Gesammtlänge ein. Im Uebrigen sind beide Arten einander so ausserordentlich ähnlich, dass am Abend gar leicht eine Verwechslung des einen mit dem andern stattfinden kann. Der Steinmarder ist ein treuer Bewohner der Gebäulichkeiten, in welchen Stroh, Heu, Gerümpel und man- cherlei Schlupfwinkel und Bergungsmittel seiner Sicherheit Vorschub leisten. Altes, verfallenes Gemäuer, Burgen und Burgruinen werden mit Vorliebe von ihm besucht. An alterthümlichem Gemäuer wollen wir ihn jetzt einmal zunächst auf seinem abendlichen Ausgang beobachten. Ein stilles, heimliches Plätzchen des Parks, das von einer vier Meter hohen Mauer begrenzt wird, die mit alten Stämmen und Scheuern in Ver- bindung steht, gewährt uns durch das Gebüsch und den Stamm einer mächtigen italienischen Pappel, die etwa fünfzehn Schritte von der Mauer entfernt steht, eine gute Deckung. Wir haben sorgfältig die Richtung der nur leise ziehenden Luftströmung geprüft und uns von unserer günstigen Stellung auch in dieser Hinsicht vollkommen überzeugt. Die Dämmerung beginnt schon unter den belaubten Büschen, während droben auf den Kronen der Bäume und auf den weissen Wölkchen am Himmel der Wiederschein des glänzenden Sonnenuntergangs noch ruht. Der Mond steht hoch am Himmel; seiner leuchtenden Scheibe fehlt nur noch wenig vom Vollmond. Allmälig dringen unter dem Rücktritt des Tageslichtes die Mondstrahlen durch die Öffnungen des Laubdunkels, zahllose Sterne tauchen auf, und bald hüllt sich die ganze Umgebung in den Mantel einer zauberhaften Mondnacht ein. Die unbeschatteten Dächer und Mauerflächen springen klar und deutlich in die Augen. Das Gebell eines wachsamen Pommers der allabendlich mehrmals die Runde macht und seinen Gang vom Hofe aus durch die Strasse jenseits der Mauer genau bis zu einem steinernen Pfosten ausdehnt, dünkt uns zu unserem Zweck so unschädlich, dass wir uns in unserer Erwartung nicht stören lassen. Auch die Gesänge vorüber- ziehender Burschen vernehmen wir ohne Bedenken. Langsam zieht der Rauch des Schornsteins auf einer Hütte durch die Bäume des Gartens dahin. Plötzlich ruft die Eule und weckt uns aus träumerischem Sinnen. Dann wird’s wieder stille. Gedämpft nur erreicht ein kurzes Gebell aus der Hütte des Pommers unser Ohr. Jetzt fallen einige Bröckchen und Steinchen von der Mauer zu Boden. Aus dem Schatten blinkt uns unter dem überragen- den Dach eines Holzschuppens etwas Weisses entgegen; die Erfahrung lehrt uns, dass es die weisse Kehle eines Steinmarders sei, der erst misstrauisch vom Versteck aus sichert, mit der Nase, dem Gesicht und Gehör gleich thätig. Nun fährt er mit einigen leichten Sätzen hervor und setzt sich frei auf die Mauer wie ein Eichhörnchen. Hinter ihm her eilen drei Junge und drücken sich verzagt möglichst nahe an die Mutter an, die wir sogleich als solche 364 Raubthiere. Carnıvora. an der geringeren Grösse und schwächeren Gestalt in Vergleich zum Vater erkannt haben. Diese putzt mit den Vorderpfoten geschäftig das Gesicht, kratzt sich hinter dem Gehör, beisst an Leib und Flanken nach quälenden Schmarotzern, reckt und streckt sich der ganzen Länge nach mit etwas gelüfteter Ruthe und gibt damit den Kleinen ein Beispiel des Sicherheits- sefühls und Behagens, welches die treueste Nachahmung findet. Nach einigen Minuten wandelt die Alte etwas abwärts auf emem schmalen Mauer- vorsprung mehrere Schritte weit nach Art der Katzen, einen Fuss vor den andern setzend. Hinterdreim folgt das junge Volk. Unter dem Schatten eines Haselbuschs verschwindet die Führerin, und nun hören wir den leisen Sprung derselben in das dürre Laub auf dem Boden. Die jungen Marder beugen sich vor und schauen verlangend hmab, aber zögernd kehren sie um und springen unruhig und leise murksend auf der Mauer hin und her. Die Alte schwingt sich wieder aufwärts und zeigt den Jungen einen be- quemeren Weg an emer Hollunderstaude von der Mauer hinunter. Diese folgen ohne Zagen, aber kaum ist das letzte Junge unten angekommen, so erscheint die Lehrmeisterin schon wieder oben und lockt die Kleinen hinauf. Ihre Anleitungen nehmen immer grössere Ausdehnungen an. Auf der Mauer springt sie zwanzig bis dreissig Schritte vorwärts, führt dann einen Seiten- sprung aus auf einen überhängenden Ast oder einen nahestehenden knorrigen Stamm, kehrt um, überspringt die mit geschwungenen Rüthchen folgenden Jungen, rennt wie besessen hin und her oder dreht sich an einer breiten Stelle der Mauer im Kreise um sich selbst, indem sie die lange Ruthe in sekrümmter Lage schleifen lässt und die Spitze zwischen die Zähne nimmt. Oder sie legt sich gestreckt auf die Mauer, als wolle sie auf Beute lauern bis die Kleinen ihr nahe sind und durch eine gewandte Ausweichung zur Seite und einen hohen Satz wieder nach einer andern Richtung hin gelenkt werden. Immer reger, lebendiger und geschickter wird das Spiel. An Stauden und Bäumen auf und nieder, über Dach und Mauer auf und ab führen die Wege. Hier ist eine Mauerspalte, dort eine Baumhöhle die zum Aus- und Einschlüpfen dient, und immer ist's das Dunkel des deckenden Dachs, welches die Familie von Zeit zu Zeit aufnimmt und auf kurze Zeit gänzlich unseren Blicken entzieht. Des Spielens und Unterrichtens endlich müde, nimmt jetzt die Mutter eine ernste, bedächtige Haltung an; in ihr regt sich das lüsterne Verlangen nach Beute. Oder vielleicht hat ihr scharfes Gehör das Pfeifen sich verfolgender Mäuse vernommen, vielleicht auch wittert das feine Näschen die schlafenden Sperlinge im dichten Gebüsch unweit der Mauer. Oder der Sinn steht ihr nach dem Ufer des Bachs, der den Park zum Theil durchfliesst; oder nach dem Teich, wo die Frösche Concert halten, und, die heranschleichende Räuberin nicht ahnend, den Sommernachtstraum der Lurchenliebe träumen. So führt sie denn die be- fähigsten jungen Räuberchen auf Raub aus, lehrt sie schleichen, mit Vorsicht Hausmarder mit Geheck. a B2 5 Raubthiere. Carnivora. 365 und Wachsamkeit die Sinne ebensowohl zu ihrer eigenen Sicherheit, wie zum Verderben der ausersehenen Opfer gebrauchen. Das Nest des Gold- ammers oder des Erdsängers sammt dem brütenden Weibchen am Boden oder im niedrigen Gebüsch, das knuppernde Mäuslein im Laube, das ausser- halb des Hühnerstalles auf dem Aste eines Strauchs oder Baumes schlafende Huhn, die jungen Häschen, welche im Bereiche der nächtlichen Raubzüge des blutdürstigen Mörders gesetzt worden sind: sie alle sind in Gefahr, dem Sprung und tödtlichen „Riss“ zum Opfer zu fallen. An den Fröschen müssen unter Anleitung der Alten die Jungen oft längere Zeit Sprung- und Fangübungen vornehmen; ihnen zerkauen sie gierig die Schenkel. Kommt der beeren- und früchtenreiche Herbst heran, so finden wir alte und junge Marder auf der Suche nach den niedergefallenen Früchten, ja sie klettern selbst auf die Bäume und suchen sich das reifste Obst aus. In der Frühe lässt sich zuweilen ein säumiger Nascher von einem vorüberwandelnden Menschen überraschen. Wird er des Unwillkommenen von Weitem gewahr, so springt er vom Baume herab auf gewohntem Pass dem Schlupfwinkel zu; den Blicken des Nahegekommenen aber sucht er sich durch Nieder- drücken an den Ast und Verbergen der Ruthe zu entziehen. In solchen Fällen haben wir ergötzliche Ansprachen an den spitzbübischen Obstdieb gerichtet und uns an seiner Verlegenheit geweidet. Was hätte er in solchen Lagen für ein Loch gegeben, durch welches der Kopf gegangen wäre! Denn wo der Kopf durchdringt, da geht der Rumpf und Alles, was drum und dran hängt, auch hindurch. Das blöde Geblinzel, das Suchen mit dem nickendem Kopfe nach einer Vertiefung oder Höhle, das Verlangen, durch einen kühnen Meistersprung der vermeintlichen Gefahr zu entgehen, und dann wieder das Aufgeben jedes verwegenen Planes und die fuchsartige Demuth und ein Ausdruck des Selbstbedauerns, dem nur die Worte noch fehlen — alle diese Erscheinungen und Auftritte folgen rasch vor des Beob- achters Augen. Besteigt man den Baum, so flüchtet der Marder aufwärts, oft bis in die Spitzen der Gezweige oder die Krone des Baumes: hart be- drängt, lässt er zorniges Murren hören, ähnlich dem Katergeknurre, erbost, zeigt er das Gebiss. : Doch fährt er nicht zu, selbst wenn man ihm mit dem Gesicht nahe zu Leibe rückt. Erst ein starkes Rütteln oder ein Schlag bringt ihn zum verzweiflungsvollen Sprung abwärts. Entweder wirft er sich geradezu im Bogensatz mit ausgebreiteten Läufen zu Boden, oder er springt von Ast zu Ast und scheut sich dabei gar nicht, die Schultern oder den Rücken, ja sogar den Kopf des Drängers als Stufe zum Hinabspringen zu gebrauchen. Solche verzweiflungsvolle Sprünge unternimmt er besonders zur Nachtzeit, wenn er vor dem Hunde, dem Pommer, dem Pinscher oder dem hierzu abgerichteten Hühnerhunde gebaumt ist und dieser ungeduldig auf seine Herabkunft wartet, während ein gewandter Kletterer ihn dem Rachen des Harrenden zuzutreiben strebt. Gute, durch langjährige Übung zu Vor- 366 Raubthiere. Carnivora. theilen im Fangen geübte Hunde fassen den herabspringenden Marder in dem Augenblick, wo er die Erde berührt und tödten ihn durch emen derben Biss und durch heftiges Schütteln in wenigen Secunden. Solche Meister im Würgen sind gewöhnlich auch zuverlässig auf der Suche. Durch viele andere in Kreuz und Quere ziehende Fährten hindurch wird die Marder- oder Iltisspur sicher verfolgt. Von den Gebäuden aus beginnt in weiten Kreisen die Nachtsuche nach Wiesen, Gärten, Gräben, Bächen und Feldern hin. Flüchtet die Beute in Kanäle oder Erdröhren, so hilft in vielen Fällen die Beigabe eines Dächsels, zuweilen ist jedoch ein Verkeilen der Öffnungen und ein Durchschlag nöthig, der auf den nächsten Morgen verschoben wird. Baumt der Marder an Bächen oder Flüssen auf einen Weiden-, Ulmen- oder Pappelbaum, so wird sein Sprung vom Baum herab, wenn nur irgend mög- lich, dem Lande zu gerichtet werden; nur mit. Widerstreben wirft er sich wohl dann und wann einmal in’s Wasser. Der Iltis dagegen thut dies in solchen Fällen meistens, und die Jagd wird alsdann doppelt anziehend. Nicht immer geht das Würgen ohne empfindlichen Biss selbst für den tüch- tigsten Hund von Statten. Alte männliche Marder besitzen Kraft- und Zorneswuth genug, um sich wenigstens für den ersten Augenblick mit Erfolg zu wehren. Ein gewandter Sprung oder eine geschmeidige Wendung nach der Schnauze des Angreifers ‚presst diesem nicht selten lauten Schmerzens- schrei und Geheul aus. Da bedarf es oft eines kräftigen Schüttelns, um des festgebissenen, wuthentbrannten Raubthiers los zu werden. Dann aber wehe ihm! Zwischen den wohlhewaffneten Kiefern des Hundes kracht das Knochengerüste des sich aalartig windenden Vorderleibes, und der Druck trifft sicher den Sitz des sonst so zähen, aber nun rasch endenden Lebens. Je weiter der Herbst vorrückt, desto unfriedlicher wird das Geheck der Marder unter sich und desto mehr suchen sie eine Begegnung oder eine gegenseitige Durchkreuzung ihrer Raubpläne zu vermeiden. Namentlich sind es die alten Marder, welche streng ihre Pässe einhalten und von Ge- nossen Ihresgleichen reinhalten. Mit der Vereinsamung in der Lebensweise vermehrt sich die Vorsicht des Marders, mit dem Eintritt der Winterstrenge und der kärglicheren Nahrung aber auch seime List und Kühnheit. Die Noth lehrt ihn über Pläne sinnen und brüten und zwingt ihn zu gewalt- sameren Unternehmungen. In Hühnerställe und Taubenschläge bricht er ein, wenn es gilt, durch Klettern und Springen oder durch Kriechen und Einzwängen des Leibes oder auch durch Beseitigung des Ziegels eines fehlerhaften Daches und Erweiterung eines Lochs mittelst Beissens und Kratzens das Ziel zu erreichen. Ein furchtbarer Schreck ergreift das Ge- flügel, im Taumel der Verzweiflung flattert, gackert oder schreit und piept das arme Federviehvolk; mit rasender Mordgier und unersättlichem Blutdurst haust dagegen der Räuber unter den entsetzten Opfern, bis der letzte Schrei verstummt und der Fuss des letzten sterbenden Huhns nicht mehr zuckt. Raubthiere. Cornivora. 367 Was entrinnen kann, stürzt hinaus in die Nacht, um an irgend einem Plätzchen Schutz zu suchen. Welche Verheerung aber ringsum im Hühner- stall! Alle Hühner und mit ihnen der stattliche Hahn liegen gemordet am Boden. Überall Blut und ausgerissene Federn. Todtenstille herrscht. Nur ein leises Rascheln verräth das einzige überlebende Wesen — es ist der Mörder selbst, den der Hausherr glücklich überlistet hat. Oben am Dach hat sich der Eindringling krampfhaft angeklammert. Im Schein der Laterne funkeln die kleinen Augen, in denen der Ausdruck der Mordlust noch nicht erloschen, aber derjenige der Furcht und Angst immer mehr die Oberhand gewinnt. An der Schnauze hängen noch Federchen, an der weissen Kehle kleben frische Blutflecken, die verrätherischen Zeichen der Schuld. Ein wohlgezielter Schlag auf den Vorderkopf, in gerechter Entrüstung geführt, betäubt und wirft ihn zu Boden. Entkommt er aber der Nachstellung nach solchen Blutthaten, so trifft man auch ihn nicht selten am darauffolgenden Tage, wie den Edelmarder, im Zustande überwältigender Schlafsucht an, die ihm nicht einmal gestattet, der plumpsten Verfolgung zu entgehen. Aber ob auch vom Munde des Landmanns und des Feinschmeckers der Marder als Hühner-, Tauben- und Eierdieb verwünscht wird, wir reden, abgesehen von seinem Nutzen als Mäuse- und Rattenvertilger, mit einer gewissen Achtung von dem kühnen Raubthiere. Es liegt geistige Geweckt- heit bei aller Verschmitztheit in dem gewandten Turner, in dem leicht- füssigen Springer, in dem hochstrebenden, über Hindernisse wegsetzenden Thiere. Die Anmuth der Bewegungen, die Lebendigkeit und Raschheit des Temperaments, die Eigenheit, sich säuberlich zu halten und selbst das weisse COhemisettehen zu schonen, das er mit der Zunge nur zum Theil zu belecken vermag — wie wendet ihm dies alles unser Wohlgefallen zu! Bei der schlanksten Taille erscheint er naturwüchsig und muskelkräftig vom Kopf bis zur Sohle. Was er thut, vollbringt er mit Kraft und Energie bei aller Geschmeidigkeit und Feinheit seines Wesens. Wenn er an der Wand, am Baumstamm oder Dachgiebel emporklettert, schlägt er derb die Krallen ein, dass es klappert und Bröckchen oder Rindenstückchen hier und da sich lösen, wenn er durch ein enges Loch kriecht, arbeitet er mit Kraft und weiss er den Leib zu dehnen und zu wenden, sei’s zur Seite oder nach oben. Nichts Halbes, Unsicheres, Kleimliches und Gewöhnliches hat Theil an seiner Natur, er ist äusserlich und innerlich geharnischt, eine durchaus ritterliche Natur, wenn es gilt zu rauben und zu morden. Den Feinden gegenüber beherrscht Klugheit seine Festigkeit, die übrigens in der Be- drängniss wieder zur Geltung gelangt und dem ungeschickten und unvor- sichtigen Angreifer furchtbar werden kann. Und liegt nicht eine unläug- bare Poesie in seinem geheimnissvollen nächtlichen Wandel? Als flüchtiger Schatten eilt er vorüber, Nacht, Mondschein und Phantasie lassen den Raub- ritter grösser und flüchtiger erscheinen. Und wenn der erste Schnee (eine 368 Raubthiere. Carnivora. Neue) die Abdrücke semer unverkennbaren Sprünge, wobei er immer zwei und zwei Pfoten neben einander und die hinteren meist genau m die Spur der vorderen setzt, dem sie austretenden Waidmanne verräth: welch’ ein Reiz liegt dann in der Verfolgung der verrätherischen Zeichen! Leichter auszumachen, als der Absprünge und längeres Fortbaumen zu seiner Sicher- heit anwendende Edelmarder, treibt ihn öfters der Schlag wider den Stamm oder Ast aus dem Eichhorn-, Krähen- oder Elsternest oder die Axt den Fest- steckenden aus der hohlen Eiche, dem anstehenden Schützen zum Schuss oder dem wachehaltenden Hunde zum wüthenden Empfang. Ende Januars oder Anfang Februars beginnt die Paarung der Marder. Es geht etwas vor in seiner Seele, was ihm den täglichen Schlaf in seinem Schlupfwinkel beunruhigt. Träume durchzucken ihn und erpressen ihm zu- weilen wahrhafte Seufzer. Wie ihm vorher der bellende Magen zuweilen am Tage aus dem Versteck zum Umherschleichen im Dunkel der Scheuer und des Stalles hervortrieb, so schnellt ihn jetzt häufiger der Paarungstrieb vom Lager empor, und die windende Nase, sonst so lüstern nach der Spur der Mäuse und des Geflügels, folgt dem von der Nacht her heimlich ge- flüchteten Weibchen. Seiner Spur geht er dann manchmal selbst über die von der Sonne hell beschienenen Dächer und Mauern nach. Aber hält ihn auch Vorsicht und Scheu hinter Dach und Fach zurück, so regt ihn der Abend desto eifriger an, der ihn auf kürzestem Wege zum Weibchen führt. Doch nicht wie ehedem sehen wir den kühnen Räuber mit gewaltigen Bogen- sätzen herausfahren, nachdem er durch Sichern die Luft rein gefunden; nein, langsam schleicht oder trollt er dahin wie die Katze, wobei er die Nase senkt und die Ruthe auf dem Boden nachzieht. Je wärmer die Fährte wird, desto rascher eilt er voran. Stolz hebt er in der Nähe des Weibchens Hals und Kopf, die Ruthe schlägt Bogen und Wellen, die Läufe strecken sich und heben den schlanken Leib höher, die Grannenhaare stellen sich auf dem Rücken, alles an dem T'hiere ist Sprung und Leben. Das Weibchen dagegen erscheint in gleichgiltiger Haltung, es sei denn, dass es in eiligen Sprüngen ernstlich oder. scheinbar und neckender Weise entflieht. Selbst bei erhitzten Kämpfen der Nebenbuhler sitzt es behaglich zusammengekauert und verfolgt, in Anschauung versunken, den Verlauf des ritterlichen Zahn- und Krallengefechtes, Das zum Sprichwort gewordene Dachmardergeschrei der sich den Balg zerfetzenden Kämpen scheint wenig innere Aufregung bei ihm zu bewirken; der Ausgang wird von ihm mit aller Geduld abge- wartet, und seme Gunst wird immer dem Sieger zugewendet. Sieger wird aber stets der alte, stärkere Marder bleiben über den jüngeren und schwächeren. Aber hartnäckig und bis auf’s Äusserste bekämpfen sich die ebenbürtigen Männchen, nicht selten ihrer mehr als zwei auf einmal. Bald bilden sie einen diehten Knäuel, der sich hinwälzt, bald trennen sie sich wieder, um von Neuem sich anzufallen. Mit durchdringendem Geschrei empfängt der Raubthiere. Carnivora. 369 Eine den Biss des Andern und sucht ihn mit einer flinken Wendung zu erwidern, einerlei, welches Glied des Leibes ihm zwischen die Zähne kommt. Wir sahen einst geraume Zeit drei Marder am Tage sich auf dem Gebälk an einer alten Mauer in der Burg Friedberg raufen, bis endlich einer der Kämpfenden vom Balken herunterfiel und den zweiten eine Strecke mitriss, also dass dieser schwebend an der Kehle des dritten so lange hing, bis dem festgekrallten oben sitzenden endlich keine andere Wahl blieb, als sich mit dem Nebenbuhler die bedeutende Höhe von zehn Meter niederfallen zu lassen. Der Fall ernüchterte und trennte die Raufbolde. Der März bringt den Ausfall der Winterhaare mit sich, der Balg zeigt hier und da schon kahle Flecken, und dem daran zausenden Händler Israels bleiben einzelne Haare oder auch grauweisse Unterwolle zwischen den Fingern zurück, so dass er in den bezeichnenden Ausruf ausbricht: „Der hat Märzwasser gesoffen“. Ende April oder Anfangs Mai bringt das Weibchen Junge zur Welt. Längst schon hat es sich von der Begleitung des Männchens befreit. Es geht mit dem Gedanken um, der zukünftigen Nachkommen- schaft eine geeignete Geburts- und Pflegestätte zu bereiten. Gewöhnlich ist es die Scheune, welche der Marder hierzu erwählt, oder ein Stall, wo er im Stroh, Heu oder m sonstigem wärmegebendem Stoff eine Höhle und am Ende derselben ein Lager fertigt, das er rund zu formen weiss und gern mit Federn, Wolle und Haarwerk auslegt. Hier ist die Geburtsstätte von drei bis fünf Jungen, welche nach einiger Zeit ihres Wachsthums den Schlaf der menschlichen Hausbewohner durch ihr Geschrei bei Nacht sehr zu stören und zu kürzen vermögen, namentlich in denjenigen Nächten, wo die Alte ihnen das „Gesäuge“ zu entziehen beginnt und sie zum Raub innerhalb des noch beschränkten Tummelplatzes, dem Gebäude, anweist. Die Liebe der Mutter gibt sich bei Gefahr, die den Kleinen droht, namentlich wenn sie noch hilflos sind, in rührender Weise kund. Wie die Mutterkatze schleppt sie ihre Jungen von den ihr verdächtig gewordenen Orten im Maule weg. In emer Scheune aufgescheucht, trug eine Mardermutter eines ihrer Jungen fliehend mit sich fort, und nachdem sie es anderwärts in Sicherheit gebracht hatte, kam sie trotz der anwesenden Menschen wieder, um die übrigen Jungen zu holen. Im Walde kommen selten Fälle vor, dass Junge in hohlen Eichen oder Buchen entdeckt werden. Der Steinmarder ist und bleibt ein treuer Bürger der Dörfer, Gehöfte und Ackerbau treibenden Städte und hört lieber den Hahn im Hofe krähen, als den Nordwind im Forste brausen. Ob auch die menschliche List fort und fort darauf bedacht ist, ihn zu täuschen und zu berücken, und Hunderte, ja Tausende alljährlich im Winter das zarte, warme Röckchen hergeben müssen; er weiss durch bewundernswürdige Schlauheit und durch Feinheit der Sinne seine Art vor gänzlichem Ver- tilstwerden zu bewahren. A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 24 370 Raubthiere. Carnivora. Hinsichtlich der Nahrung bemerken wir noch, dass wir Steinmarder gefangen haben, in deren Mägen und Losung wir halbverdaute Erbsen und Leinsamen fanden. Diese Früchte eignen sich die Marder in den Okonomie- gebäuden an, und wir sind auf Grund vielseitiger Erfahrung zu der Ansicht gekommen, dass die erwähnte Pflanzenfrüchtekost nicht zur seltensten Nahrung dieser Räuber gehört. Die sicherste Fangeinrichtung ist diejenige mittelst der Tellerfalle, welche bei Schnee auf den Sprung des Marders gestellt wird, oder mit dem Schwanen- hals, der übrigens sorgfältig mit feiner Mauererde bedeckt werden muss, wenn man im Freien ihn anbringt, und mit femer Spreu oder mit Klee- samen, wenn er unter Dach gestellt wird. Ein Hühnerei an weissem Faden ist der Köder, die Kirrung oder Körnung. Nur dann, wenn es ge- lungen ist, den Marder durch freigelegte Eier vertraut zu machen, wird er ohne besondere Mühe überlistet. „Verzweiflungsvoll“ — so schildern wir im unseren Thierwohnungen — „sind oft die Sprünge des Marders, um aus der Bedrängniss zu entkommen. In eimem Gartenhause, das rings an den Fenstern mit gut schliessenden Läden versehen war, und dessen etwa drei und einen halben Meter hohe Stubendecke in der Mitte eine runde Öffnung von einem halben Meter Durchmesser hatte, die auf einen kleinen Boden führte, auf den von aussen ein Marder mit Leichtigkeit an einzelnen Stellen des durchlöcherten Dachs gelangen konnte, trug sich folgendes Ereigniss zu, welches von der Schwung- kraft dieses Thieres den augenfälligsten Beweis liefert. Der Besitzer des Gartenhauses fand eines Morgens bei seinem Eintritt sämmtliche Fenster- scheiben zerbrochen und bedeutende Schweissspuren (Blutspuren) an einzelnen Glasscherben untermischt mit Haaren eines Marders. Die Wände des Zimmers waren an vielen Stellen bis zur Decke zerkratzt, und deutlich sah man, dass viele misslungene Kletter- und Springversuche gemacht worden waren, ehe das verzweifelte Thier glücklich das Ziel erreichte. Offenbar war der Marder in der Nacht vom Boden heruntergesprungen, und da kein anderer Weg zur Befreiung führte, selbst das Fenstereinrennen der Läden wegen nicht half, so musste der Eingang auch zum Ausgang gewählt werden.“ Die Sippe Iltis, Putorius, weist gegenüber den Wieseln und Mardern die am wenigsten schlanken und geistig begabten Glieder der Familie auf. Ihre Stinkdrüsen sind noch mehr entwickelt, als die der Wiesel und Marder, und machen sich durch einen viel widerlicheren, durchdringenderen Geruch bemerkbar. Der Iltis ist träg und langsam, viel weniger sprungfähig als seine erwähnten Verwandten. Sein Klettervermögen steht weit hinter dem der Marder und übertrifft auch das der Wiesel nicht. Die Haare des Pelzes stehen dicht und die Grannen sind lang. Sein Gebiss ist das der Wiesel. ni schläft tiefer und anhaltender als seine Verwandten, namentlich im N inter. Raubthiere. Carnivora. arall Der Iltis. Mustela putorius. „Vom Pferd auf den Esel“ entspricht ungefähr unserem Übergang vom Marder zum Iltis. Obgleich die Verwandtschaft eine innige und nahe zwischen beiden Räubern ist, so unterscheiden sie sich doch dem Wesen und Charakter nach in mehr als einer Beziehung. Wie Gestalt und Haltung des Marders schön und edel, so sind seine Räuberthaten, wenn auch mit spitzbübischer Schlauheit und mörderischer Grausamkeit gepaart, doch Zeug- nisse einer höher angelegten Natur. Kühnheit, Verwegenheit und eine heissblütige Hingabe an den Augenblick des Raubanfalls, Gewandtheit und bewundernswürdige Schnelligkeit bei Ausführung der Pläne, andererseits aber auch wieder eine mit immer wacher Vorsicht verbundene Selbstbe- herrschung und Enthaltsamkeit bilden Grundzüge im Leben und Wandel des Marders. Ob er sich gleich zuweilen am Genusse des Blutes seiner Opfer berauscht, so ist er doch durchaus nicht gefrässig zu nennen, ja, wir dürfen ihn im vieler Beziehung sogar einen Feinschmecker nennen, der manches Gericht an sich vorübergehen lässt, um die Süssigkeiten der Leckerbissen zu kosten. Welch eine niedere Natur ist hingegen der Iltis! Während der edle Vetter Dächer und Bäume erklettert und Aink und lustig dahin springt, schleicht mit gekrümmtem Rücken und tief gehaltenem Kopf der träge Stänker im Winkel und auf der Miststätte umher und füllt sich den Wanst mit allerlei Abfällen, die ihm in den Weg kommen. Zwar weiss er die Maus oder die Ratte am Loch zu erlauern und geschickt durch einen Sprung zu erhaschen, aber dieser Sprung ist lange nicht so kraftvoll und schwunghaft wie derjenige seines Verwandten, sein Zufassen ist plumper, derber, boshafter, sein Kampf mit einer widerstandsfähigen Beute trotz der guten Waffen mühsamer und einem wirren Balgen ähnlich. Im Tauben- oder Hühnerstall mordet er nicht in grossen Zügen, sondern er packt sich ein Opfer und schleppt es an einen sicheren Ort, um es in aller Ruhe zu verzehren und von da aus von Neuem den Angriff wie ein räuberischer Kosacke zu unternehmen. Sein Blick ist nicht weitgehend, er überschaut kein grösseres Feld der Unternehmung, und wie ihm, — dem sich stets im Niedern haltenden, — das Fern- und Hochsitzende entgeht, so verbirgt sich ihm die entferntere Gefahr. Was seinen Sinnen in der Nähe als drohend und feindlich erscheint, hat der begabtere Vetter längst geahnt; seine lang- same Flucht sticht gar unvortheilhaft ab gegen die weiten Sprünge und das schattenhafte Entschwinden des Letzteren. Dem Sangumiker steht hier der Phlegmatiker in allen Stücken gegenüber, der oft mehrere Tage an- dauernd auf dem Faulbett schläft und an zusammengetragenen aufgehäuften Beuteresten zehrt. In hohlen Eichen hat man nicht selten einen grossen Korb voll eingesammelter Frösche und Mäuse im Neste des Iltis gefunden. Der Unterschied der beiden in Vergleich gebrachten Räubernaturen 24F 372 ö Raubthiere. Carnivora. wird unzweifelhaft lebendig hervortreten, wenn wir den Iltis auf seinem Wandel begleiten. . In emem Stalle hat er sich, eingehüllt in wärmende Stoffe, vorzugsweise sein Lager erwählt. Heu und Stroh der Umgebung tragen die Spuren seiner Unsauberkeit, seiner Mahlzeit und Losung (Ent- leerung). Der Geruch verkündet seine Anwesenheit, um so mehr, wenn Frau Rätzin mit einem halben Dutzend kleiner, kurzruthiger Jungen ihr Wesen treibt. Mit besonderer Vorliebe wird ein Ausgang nach derjenigen Seite hin eröffnet, wo es Abends am ersten still und sicher ist. Denn der Sprung von der Mauer herab und das Niederklettern am Eckpfosten ist dem Faulpelz zu unbequem. Er ist zufriedener, wenn er auf dem Boden bleiben kann. Darum kriecht er auch lieber durch die Löcher eines Bretter- zaunes oder einer Mauer, als dass er darüber hinstiege, ja seine niedere Natur hält ihn so hartnäckig in der Tiefe zurück, dass er sich durch Verstopfen der gewohnten Schlupflöcher ganz und gar von beliebten Orten vertreiben lässt. Seine Verlegenheit wächst mit jeder Minute, wenn er einen bequemen Durchgang sucht und nicht finden kann; zögernd läuft er an Gebäuden und Mauern hin und her und entschliesst sich zu grossen Umwegen, um nicht klettern und springen zu müssen, wozu ihm keineswegs das Vermögen, wohl aber die Lust fehlt. Kann er das Ziel semer Wanderung unter der Erde durch einen Kanal erreichen, sicherlich benutzt er diesen Weg, sei er auch noch so übel riechend und nass. Im Kanal bietet sich ihm ja neben der Sicherheit die Gelegenheit, irgend ein Aas aufzufinden oder eine Ratte, eine Maus, eine Kröte zu fangen. Diese dunklen, schmutzigen Wege lernt das Geheck schon frühe kennen. Sie sind neben den Orten über der Erde in der Nähe der Geburtsstätte die Tummelplätze seiner Spiele und ersten Mordübungen. Aber dieses jugendliche Treiben ist nicht das gewandte, leichte, ergötzliche Spiel der Marderfamilie, sondern eben das viel unbe- holfnere und plumpere der die Faulenzernatur schon frühe offenbarenden Rätzchen. Auch die Wachsamkeit und Sorge der Mutter um die langsamen Kleinen lässt trotz ihrer unverkennbaren Liebe zu ihnen Vieles zu wünschen übrig. Am Tage werden diese zuweilen unbewacht von einem vorbeitrollenden Hunde erwürgt oder von dem Knüttel des Bauers erschlagen. An Bächen oder Rainen, wo Gestein und Hecken einigen Schutz gewähren, gräbt sich der Stänker wohl selbst eine Höhle, wiewohl er eine vorhandene vorzieht. Aber das geschieht auch wieder in der Absicht, es hübsch bequem zu haben. Hier umgibt ihn das Lurchengesindel, dem er nachstellt, und die Wasser- ratten wecken seine Kampfeslust, dort lockt ihn das Mäuse- und Hamster- volk zur Rechten und Linken. Da ist es denn sehr unterhaltend für den Beobachter, wenn mit eintretender Dämmerung der Schläfer aus seinem Bau hervorschleicht und sich das nächste Jagdgebiet überschaut, um vor allem seine Person zu sichern. Fühlt er sich von keinem Misstrauen be- schlichen und von keiner Erscheinung bedroht, so schwelgt er wahrhaft in Raubthiere. Carnivora. a1 Behaglichkeit. Er macht sich’s durch Absetzen seiner Losung an einem bestimmten Platze leicht, wirft sich auf den Rasen und wälzt sich bärenhaft, setzt sich auf die Keulen, und putzt sich mit den Vorderpfoten das Gesicht, aber langsam, nimmer mit der Geschäftigkeit einer Maus, eines Eichhörnchens und Marders, kratzt hier und da in stillem Vergnügen an einem Maulwurfs- haufen oder einem Mausloch und macht sich endlich auf den Pass. In der Nähe sieht er ein Mäuslein in’s Loch schlüpfen. Still drückt er sich in’s Gras und wartet mit der Geduld einer Katze. Plötzlich fährt er zu, und richtig, sein Sprung war vollkommen weit und schnell genug, um den klemen Nager in seine Gewalt zu bekommen, den er in das nächste Wiesengräbchen trägt und dort verzehrt. In kurzem Galopp geht es weiter, meist an den Gräben her, das Ufer des Bachs entlang, zuweilen dicht am Wasserspiegel her. Plötzlich macht er Halt, windet sich vorsichtig durch Gras und Gestrüpp und reckt dicht am Ufer den Hals mit dem aufmerksamen Kopf aus. Der Sprung in’s Wasser, das Nieder- und Wiederauftauchen mit dem erbeuteten Fisch — dies alles erfolgt gegen Erwarten schnell, so dass wir bekennen müssen, der Marder thue ihm das nicht nach. Ein dritter gelungener Raub- anfall hebt den verachteten Stänker gleichwohl in unseren Augen. Leise hat sich nämlich der Boden emige Schritte vor ihm gehoben, und die frische Erde kommt zum Vorschein. Wieder schleicht er heran, wartet, bis der Maulwurf den Rüssel, oder die Wühlmaus ihre stumpfe Schnauze zeigt und zieht die lebendige Erdlocomotive sicher und fest an die Oberwelt. Sind wir nun einmal daran, zu loben, was zu loben ist, so bezeugen wir ihm auch, dass es ihm keineswegs an Muth gebricht. Sein Kampf mit dem Hamster beweist dies, mehr jedoch noch seine an Verzweiflung gren- zende Vertheidigung gegen Hunde, wenn er ihnen eine Zeit lang Widerstand zu leisten vermag. Sein Gebiss ist scharf und die Muskeln seiner Unter- kiefer erstaunlich stark. Auch wollen wir es keineswegs tadeln, dass er im Todeskampf sich einer Waffe bedient, welche er von der Natur nicht umsonst zum Gebrauch erhalten hat und gerade durch ihre Scheusslichkeit ihn nicht selten rettet. Die stinkende Flüssigkeit seiner Afterdrüsen lässt er nämlich fahren, vor der schon mancher Hund in Ekel sich augenblicklich abwandte und im Selbstgefühle seiner Würde den Stänker in das erste beste Schlupfloch entfliehen liess. Bei Schnee und strenger Kälte zeigt uns der faule Stänker auch, dass er hoch oben die Dachgiebel und Bäume besteigen kann. Das Eis liegt auf Gräben und Bächen, und die Frösche haben sich tiefer unter die Erde verkrochen. Der Hunger tritt quälend an den gefrässigen Räuber heran und schärft ihm die Sinne. Der nächtliche Pass seines Raubzugs geht über Dächer und Bäume, und seine Spur führt den Jäger oft sehr weite Strecken. Der Knochen auf der Miststätte wird abgenagt, die Wurstschale ausgewittert, die Thierhäute auf den Böden der Gerber werden angenagt 374 Raubthiere. Carnivora. Jetzt ist die Zeit, wo der Händler nach seinem Balge fragt, dem derben, dichten und schöngefärbten des Alten mit den schwarzbraunen Spitzen und der goldgelben Grundwolle Wer Fallen stellen kann, versucht den Fang. Der Jäger macht das Thier aus und lässt es aus den Höhlungen der alten Weiden, Eichen und Buchen heraushauen, Pommer, Pinscher und Hühner- hunde werden im Dunkel des Abends auf die Suche geführt, und gewöhnlich hilft dem Greehetzten im Freien kein Verbergen unter Brücken und in Kanälen, kein Baumen oder Schwimmen an das jenseitige Bachufer. Fallen jeder Art, eiserne und hölzerne warten seiner mit sicherem Erfolg. Der duftende Hering, der todte Sperling, das Ei, der Fleischbrocken und mancher andere Köder locken ihn an und verführen ihn. Ahnungslos kriecht er in die auf semem Pass gestellte Hohlfalle und tritt das verhängnissvolle Stell- brettchen nieder; ohne Zögern zerrt er an dem Stellbrocken der Tellerfalle. Es ist nicht das harmlose Vertrauen, welches ihm die Gewissheit gäbe, allerwegen unangefeindet zu sein, behüte, der verschmitzte Raubmörder ist sich neben seiner Gewaltthaten- auch seiner Unsicherheit wohl bewusst. Es fehlt ihm vielmehr der Scharfsinn seiner vollkommeneren Verwandten, deren feinere Nase, welche das lauernde Übel unter der lächelnden Adams- frucht herauswittert, dessen schlaue Berechnung und ahnungsvolles Hellsehen, welches durch Erfahrung zu emer unglaublichen Prophetengabe in der be- gabten Thierseele ausgebildet werden kann. Die wilde Wuth ist die bittre Folge seiner Täuschung. Er nagt, reisst und beisst, kratzt und verunreinigt die Hohlfalle, er verschlingt selbst, weniger aus Fressgier, als aus Ingrimm, hastig den Stellbrocken und mit diesem kleine Stückchen Holz, die er los- gebissen hat. In der eisernen Falle beisst er sich die Läufe ab und frisst sie — sein eignes Fleisch. Wehe dem Finger, der ihm zwischen die Zähne kommt! Mit welcher Wucht fasst er fauchend und mit hellkrächzendem oder „keckerndem“ Geschrei den dargebotenen Stock! Man fühlt die derbe Erschütterung im Augenblick des Erfassens durch die Hand beben. Und seine Zählebigkeit! Es ist nicht anzusehen, wie das sich windende und tiefathmende Thier unter den Prügeln unvernünftiger Menschen gegen den Tod ankämpft, wie es nach kurzen Pausen wieder aus der Betäubung er- wacht, die Zähne zeigt und einen Gegenstand sucht, um ihn damit zu packen und wenigstens im Akt der Rache und boshaften Wuth zu verenden. Wenn wir nicht wüssten, dass er die Stinkdrüse als Rettungsmittel zu gebrauchen versuchte, so würde man es als Hohn betrachten können, dass er stinkend von hinnen fährt und selbst seinem kostbaren Pelz durch seine letzte widrige Aufführung einen schwer, niemals ganz zu beseitigenden Geruch hinterlässt. Die Sippe der Fischotter, Lutra, umfasst die Bewohner der süssen Gewässer gegenüber dem Seeotter, welcher eine eigene Sippe bildet. Die ziemlich artenreiche Sippe zählt sehr langgestreckte, plattgedrückte Raubthiere. Carnivora. 37 Körperformen mit platt- und breitschädeligem, stumpf- und breitschnauzigem Kopfe und kurzen fünfzehigen Füssen, zwischen deren Zehen vollkommen entwickelte Schwimmhäute stehen, ferner mit kleinen, vorstehenden Augen, kurzen rundlichen Ohren und langem zugespitztem, am Ende flachgedrücktem Schwanze Die Haare sind kurz, glänzend und steif. Wenig behaart er- scheinen die Sohlen, worauf die Fischotter fast ganz treten. Das Gebiss ist marderartig, hat aber in der Mitte der oberen Reisszähne einen grösseren Höckeransatz und ausserdem einen grossen Höckerzahn in der oberen Kinnlade. In unserem Fischotter finden wir die übrigen Kennzeichen der Sippe völlig vertreten. Der Fischotter, Lutra vulgaris. Was der Edelmarder auf den Bäumen und der Hausmarder auf den Dächern und Mauern, das ist der Fischotter im Wasser. Vor Allem müssen wir die Gestalt und die Werkzeuge, welche das Thier zum Tauchen und Schwimmen so sehr befähigen, genau in’s Auge fassen. Der kleine, platte Kopf ist mit dem dicken, starken Hals in einer Weise verbunden, dass der Übergang kaum merklichen Abstand zeist. Unter dem langen, steifen Schnurrbart befinden sich sehr elastische und muskulöse Lippen, die das Thier unter Wasser eng verschliesst und so dem Eintritt desselben in den Mund wehrt. Die plattgedrückte Form des mit steifem, schlüpfrigem Pelzhaare bedeckten Körpers und der lange, derbe, nach dem Ende zu gleichfalls in Plattform erscheinende Schwanz fallen als weitere charakteristische Merkmale in die Augen. Die verhältnissmässig kurzen Läufe sind kräftig und muskulös gebaut, und deren Füsse mit Schwimmhäuten zwischen den fünf Zehen versehen. Dazu kommt, dass die tief und kurz hinter den Augen sitzenden Ohren durch Klappen gegen das Eindringen des Wassers verschlossen werden können. Was insbesondere die Erleichterung und Verlängerung des Tauchens betrifft, so hat man früher geglaubt, es seien amphibienartige Vorrichtungen der Vorkammern des Herzens, namentlich in der Scheidewand zwischen der linken und rechten Vorkammer das ovale Loch (foramen ovale), die Ursache, denn hiernach könne beim Zurückhalten des Athems das Blut eine Zeit lang aus einer in die andere Kammer strömen, ohne dass es den Weg durch die Lungen zu machen brauche. Die Untersuchungen neuerer Anatomen haben diese Ansicht und Annahme vollständig widerlegt, und selbst der Umstand, dass die Aorta (grosse Schlagader) und die untere Hohlader beim Fisch- otter wie beim Biber erweiterter erscheine, als bei Thieren, die nicht tauchen, ist von Wilbrand nur als Folge des öfteren und längeren Verweilens unter dem Wasser erklärt worden. Übrigens überschreitet die Dauer des Verweilens unter Wasser beim Fischotter nicht die Grenze weniger Minuten. Ungenaue Beobachtungen und die von Vorsicht eingegebene Neigung des 376 Raubthiere. Carnivora. * Fischotters, zum Athemholen nur die Schnauze, obendrein an gedeckten Stellen herauszustrecken, haben irregeleitet und zu sehr übertriebenen An- nahmen geführt. Zu den Schwimmwerkzeugen und dem hervorragenden Vermögen des Tauchens gesellt sich nun noch eme treffliche Ausrüstung zum Fang und Festhalten der glatten, schlüpfrigen Fische m dem Gebiss, welches ähnlich wie beim Dachs, auf den wir hierbei verweisen, in Bezug auf das feste Ein- passen der Köpfe der beiden Unterkieferäste m die Pfannen gestaltet, scharf, stark und fest ist, und dessen vier Eckzähne sowie fünf Backenzähne stark gezackt sind. Daher kommt es, dass die einmal erfassten Fische unmöglich entrinnen können, und wenn Letzteres wirklich zuweilen beim zu kurzen Erfasstsein doch geschieht, ganze Stücke Fleisches zurücklassen müssen. Wie manchen Hecht und wie manche Forelle, die wir gefangen haben, trugen solche Spuren des mächtigen Fischottergebisses an sich. Um die Beschreibung der äusseren Gestaltung und Erscheimung zu ver- vollständigen, bemerken wir noch, dass die Länge ungefähr einen Meter misst, wenn man den vierzig bis dreiundvierzigs cm langen Schwanz einschliesst. Die alten Männchen sind etwas stärker und grösser als die Weibchen. Der dunkelbraune Pelz zieht sich an der Unterseite in’s Lichtbräunliche und an den Kopfseiten in’s Weissgraue, welches bei alten Exemplaren haupt- sächlich hervortretend ist. Die Verbreitung des Fischotters erstreckt sich über ganz Europa und srösstentheils über Nord- und Mittelasien. Sein Aufenthaltsgebiet ist ein ausgedehntes und nimmt grosse Strecken der Flüsse, Seen, Teiche und wasserreicher Gräben ein. Dichte Hecken an den dem Fluss nahegelegenen Feldrainen und buschreiche Waldungen liebt er sehr; ja er unternimmt oft grössere Wanderungen durch die Wälder von einem Flussthal zum andern und wird nicht selten am Tage im Walde im Lager angetroffen. Dass er in manchen Gegenden zuweilen bedeutende Wanderstrecken zurücklegt be- r :htet Jäckel, der uns mittheilt: „Er scheut dabei, um beispielsweise in die Gebirgsbäche des bayerischen Hochlandes zu kommen, selbst hohe Ge- birgsrücken nicht und übersteigt sie mit überraschender Schnelligkeit. Im Steigerwaldrevier Koppenwind hatte ein Paar Ottern einen verlassenen Dachsbau inne, von wo aus der eine in einer Nacht von der rauhen Ebrach durch die Mittelebrach über Mittelsteimnach und Aschbach in die reiche Ebrach nach Heuchelheim wechselte, wie sich durch Verfolgung der Spur bei neugefallenem Schnee zeigte. Aus der Chimseeachen strichen Ottern bis in den Loferbach bei Reit im Winkel, in die in Schwarzachen bei Ruphol- ding, in die Rothe und Weisse Traun. Im Jahr 1850 überstieg nach Be- obachtung des Forstwartes Sollacher von Staudach ein starker Otter bei mehr als anderthalb Meter tiefem Schnee, den felsigen, von Gemsen be- wohnten Siedleckrücken am Hochgerngebirge, etwa 1460 Meter über der E ee 2 = = == = = z : = = x.A.„RBREND’AMOUR N N NRRSON SL A REN, Ü\ GG N N N Ss N N Fischotter, 2 wo Fe BE Raubthiere. (Carnivora. SI Meeresfläche erhaben, um von dem Weissachenthale in das gegenüberliegende Eibelsbachthal auf dem kürzesten Wege zu kommen und in letzterem Bache zu fischen. Er musste hierbei mindestens drei Stunden an dem sehr steilen und felsigen Gehänge aufwärts und dann zwei Stunden ebenso steil abwärts bis zum Ursprung des Eibelsbachs „wechseln“, welchen er bis zu seiner Ein- mündung in Achenfluss ununterbrochen verfolgte.“ Die Fuchs- und Dachsbaue bezieht er gewöhnlich nur in den dem Flusse naheliegenden Waldungen. Obgleich er befähigt ist, sich selbst unter- irdische Baue zu graben, so benutzt er doch mit Vorliebe, die vom Wasser verursachten Uferhöhlungen und gräbt diese weiter aus, mit seinem die Wurzeln zerbrechenden Gebiss den grabenden Füssen zu Hülfe kommend. Seine Höhlungen legt er, nach dem Lande zu aufwärtsgehend, an. Indessen lagert er sehr häufig auf buschigen, dichtbelaubten, am Ufer stehenden Baumstümpfen und unter Wurzelausschlägen, die sich zu hinlänglichem Schutz verbreiten. Diese Erfahrung haben wir in hervorragender Weise an den mit Erlen bewachsenen Gebirgsflüsschen gemacht. Bei Überschwem- mungen schläft er den Tag über gern in dorngestrüppreichen Feldhecken und in solchen befindlichen Fuchsröhren. Auch hölzerne Röhren, die von Flüssen nach Gräben zur Wasserleitung gelegt sind, werden, wenn sie trocken und von Gras überwachsen sind, gerne von dem Fischotter des Tags über zum Ruhen benutzt. Wiewohl Nachtthier, begibt sich der Fischotter doch auch zur Tagszeit öfters auf die Fischjagd, und vorwiegend sind es dann die Morgenstunden, in denen man ihn rege und thätig findet. Wer die Angelfischerei bei ruhigem Ansitz betreibt, hat nicht selten Gelegenheit, den Fischjäger am Ufer mit dem Raub zwischen den Zähnen aussteigen zu sehen. Bei stillem, regungslosem Verhalten gelingt es denn auch dem Be- obachter, durch eigne Anschauung sich van dem ausgebildeten Geschmacks- vermögen des Fischotters zu überzeugen. Dieser schneidet, den Fisch zwischen den Vorderpfoten haltend, die Rückentheile bis zum Schwanz an und läs:* letzteren und den Kopf liegen. Gleichwohl nimmt man bei gutem Glück wahr, dass die Raub- und Mordlust den Räuber antreibt, weit über das Ernährungsbedürfniss hinaus zu rauben, denn häufig, und dies tritt beim Fang weniger schmackhafter Fische hauptsächlich ein, schneidet er die Beute kaum an und fängt sofort eine neue, zumal dann, wenn er vom Ufer aus einen verlockenden Fisch während der begonnenen Mahlzeit wahr- nimmt. Kleine Fische fängt er rasch hintereinander und trägt sie an’s Ufer, nur um immer wieder seiner Mordgier Befriedigung zu verschaffen. Nicht selten verzehrt er dieselben aber auch im Wasser unter Hervorstreckung seines Kopfes über den Spiegel. Die leichte aal-geschwinde und aal-schlüpferige Beweglichkeit im Wasser fördert die Jagd ungemein, so dass er ausgedehnte Verheerungen anstellt, und diese Schäden werden um so empfindlicher, da gerade die edelsten Fische von ihm zum Schmaus ausgewählt werden. Er 378 Raubthiere. Carnivora. schwimmt so rasch, und sein Zufahren ist so blitzschnell, dass die Fische ihm mit grosser Mühe nur zu entrinnen vermögen. Bald beschleicht er die still stehenden Forellen und Hechte, indem er ihnen von unten beikommt, bald schiesst er jäh unter einen Zug gesellig lebender Barsche und Karpfen. Es kommt ihm zu Statten, dass die Fische bei seinem Anblick verwirrt werden, namentlich dann, wenn er mit dem Schwanz an seichten Stellen auf die Spiegellläche schlägt und das Wasser aufrührt. Die Fliehenden suchen unter Uferrainen, Steinen und Wassergewächsen, Wurzeln und in Höhlungen. sich zu retten. Aber der gewandte Fischer holt sie aus dem Versteck hervor oder packt sie mit seinem gewaltigen Zangengebiss, ehe sie ein Bergungs- mittel erreichen. Hierzu kommt, dass er sich den Sitz der Geflüchteten genau merkt und nach und nach einen nach dem andern hervorholt. Nicht immer fischt der Otter allein, sondern bisweilen unternehmen zwei Otter in vollkommnem Eimverständniss und übereinstimmendem Plan Angriffe auf Fische. Dies ist in Flüssen zur Genüge beobachtet worden, die reich an Lachsen sind. Der eine Räuber hält sich bei der Verfolgung über, der andere unter dem fliehenden Lachs, wodurch der Erfolg um so leichter ge- sichert wird. Bei Überschwemmungen jagt der Otter mit bestem Erfolg in den mit Wasser angefüllten Gräben, wohin sich die Fische zurückziehen; auch auf überschwemmte Wiesen und in Tümpel werden bei reissenden Über- schwemmungen Fische an gewissen Stellen aus dem Fluss übergeführt, denen sogleich der mit vorzüglichem Witterungssinn begabte Otter zu Leibe rückt. Gerade unter solchen Umständen sahen wir ihn während der Tageszeit eifrig den Nachstellungen obliegen. Gemeimschaftliche Unternehmungen finden auch zwischen dem alten Fischotterweibchen und ihren schon herange- wachsenen Jungen statt. Sie bilden wenigstens gerne ein familiäres Zu- sammenleben und unterhalten bei zeitweiser Zerstreuung ihrer einzelnen Glieder immer ein vereinigendes Band. Ausser Fischen dienen dem Fisch- otter Krebse, Frösche, Mäuse, Wasserratten und kleine wie grössere, sich in Sumpf und Gewässern aufhaltende Vögel zur Nahrung. Die kleineren in den erreichbaren Ufergewächsen übernachtenden Vögel beschleicht er, die auf dem Wasser umherschwimmenden packt er von unten und zieht sie unter das Wasser. Da dies Letztere möglichst geräuschlos geschieht, so erregt er zum Beispiel unter emem Trupp Enten wenig Aufsehen. Die Arglosen verschwinden plötzlich in der Tiefe. So berichtet Tessin: „In den schönen Gartenanlagen zu Stuttgart sind die Teiche stark mit zahmem und wildem Wassergeflügel, sowie mit Fischen bevölkert. Unter ersteren trieb im Sommer 1824 ein Fischotter seine nächtlichen Räubereien sechs bis sieben Wochen lang, ohne dass irgend eine Spur seiner Anwesenheit bemerkt wurde. Während dieser Zeit wurden alle Entennester sowohl auf dem Lande, als auf den Inseln zerstört und die Eier ausgesaugt, auch die jungen Enten und Gänse schnell vermindert, ohne dass Überreste hier ange- Raubthiere. Carnivora. 379 troffen worden wären, eben so wenig, als man solche von den gefressenen Fischen bemerkte. Dagegen fand man täglich zwei bis sieben alte Enten, von denen nichts als Kopf und Hals verzehrt worden waren, desgleichen stark verletzte Gänse und Schwäne, welche in Folge ihrer Wunden bald eingingen. In einer mondhellen Nacht entschloss sich endlich der in den Anlagen wohnende königliche Oberhofgärtner Bosch, auf dem Platze an- zustehen. Von neun Uhr an bis gegen zwölf Uhr wurde das Wassergeflügel beständig beunruhigt und nach allen Richtungen hin umhergetrieben. Unauf- hörlich tönte der Angstschrei besonders der jungen Enten, und es fing erst an, ruhig zu werden, nachdem sich alle auf das Land geflüchtet hatten. Noch war es nicht möglich, zu entdecken, wodurch das Geflügel so in Angst versetzt worden war, und vergebens versuchte Herr Bosch, dasselbe wieder in den Teich zu treiben. Nach ein Uhr fiel eine wilde Ente in kurzer Entfernung von dem Versteck des Jägers in's Wasser ein. Bald darauf bemerkte dieser im Wasser eine schmale Strömung, welche jedoch kein Geräusch verursachte und das Ansehen hatte, als ob ein grosser Fisch hochginge, nur dass sich die Strömung weit schneller bewegte, als es ge- schehen sein würde, wenn ein Fisch die Ursache gewesen wäre. Als die Ente diese Strömung wahrgenommen hatte, stand sie schnell auf und strich weg. Die Strömung kam Bosch immer näher, und er schoss endlich mit starken Schroten auf sie hin. Nach dem Schusse blieb das Wasser ruhig Bosch nahm einen Kahn, fuhr damit an die Stelle und untersuchte mit dem Ladestock, an dem sich ein Krätzer befand, das Wasser. Er verspürte bald eine weiche Masse, bohrte dieselbe an und brachte einen Fischotter männ- lichen Geschlechts empor. Von nun an hörten alle Verheerungen unter dem Wassergeflügel auf“ Von einem Revierförster Schreck wird berichtet, dass er em Wasserhuhn von einem Otter angefressen fand und mit dem übrig- gebliebenen Theil in der darauffolgenden Nacht den Otter im Eisen fing. Von Jäckel hören wir, dass einem Otter, der ein am Schwanze gepacktes Hofhuhn unter Baumwurzeln am Ufer ziehen wollte, dasselbe wieder glück- licherweise entrissen werden konnte Ein in der Nähe Alsfelds befindlicher Forstwart schoss in kurzer Zeit bei Tage mehrere junge Otter und deren mütterliche Verführerin, während sie Raubanfälle hinter emem Mühlengehöfte am Bach unter Enten wiederholen wollten, von denen sie bereits eine ziemlich grosse Anzahl im Laufe der unmittelbar vorausgegangenen acht Tage gestohlen hatten. Es ist dies ein Beweis, dass der Otter nicht blos im Wasser, sondern auch auf dem Lande raubt. Im Wasser hat der Otter ganz bestimmte Aussteigeplätze — waidmännisch Steige — und Rutschen. Seine Spur ist durch die im Schlamm oder dem, weichen Boden und im Schnee "deutlich sich abdrückende Schwimmhaut leicht zu erkennen. Er setzt wie die Marder bei seinen Bogensprüngen gewöhnlich zwei Pfoten nebeneinander, auch wird im Schnee und aut Sandbänken oft der Eindruck 380 Raubthiere. Carnivora. seines platten Schwanzes (Ruthe) sichtbar, wodurch er die Spur seiner Pfoten verschleift. Regelmässig besucht er auch die fischreichen Teiche vom Fluss aus, und im Winter, wenn dieselben zugefroren sind, genügen ihm die gehauenen Luftlöcher, um von da aus seine Streifzüge unter dem Eis zu unternehmen. Zwischen Wasser und Eis ist immer für ihn genügende Luft zum Athemholen vorhanden. Übrigens braucht er sich nicht weit von den Eislöchern hinweg in den Teich zu begeben, weil die Fische gerne in der Nähe derselben sich aufhalten. Zu jeder Jahreszeit hat man junge Otter entdeckt, und dies mag, wie Martin behauptet, in der eigenthümlichen Gleichmässigkeit der Wasser- temperatur hauptsächlich gelegen sein, welche diese Wasserthiere beinahe zu jeder Jahreszeit zur Fortpflanzung befähigt. Die Hauptpaarungs- oder Ranzzeit aber sind die letzten Tage des Februars und die ersten des März. In den klaren Gewässern sind die possirlichen Werbungen der Männchen um die Weibchen beobachtet worden. Mit hellem Pfiff lockt der Freier die Auserwählte an und umtanzt, umpurzeit, umplätschert sie im höchst auffälliger Weise. Eine sehr bewegliche Rolle übernimmt bei diesem Gebahren die aalartig sieh windende Ruthe. Eifersüchtige Männchen befehden sich zu- weilen recht hartnäckig. Die Geburtsstätte der Jungen ist eine unter dem Wasser befindliche Uferhöhle, die ihre Fortsetzung in einer schief aufwärts steigenden mit einer kesselartigen Erweiterung verbundenen Röhre nimmt, welche letztere gewöhnlich wiederum einzelne zu Tag tretende Luftlöcher hat. Im Kessel kommen die blinden Jungen, drei bis vier an der Zahl, auf einem aus Gras bereiteten Lager zur Welt. Erst m der siebenten oder achten Woche werden die plumpgestalteten, dunkelgefärbten Jungen nach treuer Pflege und Wartung hinaus in das Wasser geführt. Hier leitet die aufmerksame Führerin sie zum Schwimmen, Tauchen und zum Erbeuten von Fischen und anderen ihnen zur Nahrung dienenden Thieren an. Alle diese Anleitungen sind mit lebhaften und den Beobachter ergötzenden Spielen der Famile verbunden. Auf Sandbänken oder auf Flussinseln oder in kleineren Flüssen auf Ufervorsprüngen, die in’s Wasser sich hineinerstrecken, reisst die Mutter den Kleinen die Beute vorzugsweise gerne vor. Nicht selten ereignet es sich, dass sich das eine oder andere Junge zu weit vom Ufer entfernt und von Menschen gefangen wird. Unsere Tante in Höchst a. M. besass zwei Fischotter, welche von Fischern am Mainufer überrascht und eingefangen worden waren. Schon nach wenigen Tagen wurden die kleinen Räuber so zahm, dass sie ihrer Pflegerin die dargereichte Speise aus der Hand nahmen. Romulus und Remus waren die Namen, die ihnen gegeben wurden, und im Laufe der Zeit gewöhnten sie sich an den Klang derselben. Sie hätten durch ihren Apell manchen Hühnerhund gerühmten Ansehens und Rufes beschämen können. Der grosse Hof, der umfangreiche Garten und der Schlossgraben sollten nicht die ausschliesslichen Tummelplätze für Raubthiere. Carnivora. 381 sie sein, sie erhielten "vielmehr zeitweise sogar freien Zutritt zum Main. Remus verunglückte, und Romulus wurde nun doppelt gehütet. Leute, die ihm nicht bekannt waren, durften ihn nicht anfassen. Auch uns war er lange Zeit nicht hold, den Gang durch die Gartenthür versperrte er uns drohend, und stets machte er mit Widerstreben und sichtlichem Arger, sein Gebiss zeigend, Platz. Mit dem Geflügel im Hof lebte er in vollkommnem Frieden, überhaupt war seine Mordlust auffallend zurückgetreten, die bei andern gezähmten Räubern in unbewachten Augenblicken so leicht zum Ausbruch kommt, sicherlich eine Folge davon, dass er mit Milch und Weck aufgezogen worden war. Wir wissen noch genau das Plätzchen im Schloss- graben, wo er begraben liest und mit ihm eine schöne Jugenderinnerung. Wend berichtet von einem gezähmten Fischotter, der auf den Ruf: „Neptun“ Gehorsam zeigte und herbeikam. Er hatte Zutritt zur Küche und lebte mit den Vorsteh- und Windhunden in grösster Freundschaft. Als Fischjäger leistete er die besten Dienste. Nach Richardson lebte ein zahmer Otter mit einer Angorakatze in warmer Freundschaft, die er sogar eines Tags gegen einen Hund tapfer vertheidigte. Sowohl des Pelzes wegen, der hauptsächlich im Schwalmthal des ehemaligen Uhurfürstenthums Hessen von den Bauern zur Verbrämung der Mützen verwendet wird, als auch des unberechenbaren Schadens halber, den er unter den Fischen anrichtet, wird der Fischotter eifrig verfolgt. Aber er ist äusserst schlau und weiss sich den Nachstellungen durch seine scharfen Sinne zu entziehen. Unterhaltend und erfolgreich, aber auch müh- sam und grosse Ausdauer und Erfahrung erfordernd ist die Jagd auf den Otter mit guten Hühner- oder Otterhunden. Das Flussufer wird mit dem Hunde unter gutem Winde abgesucht. An Büschen oder Wurzelausschlägen steht plötzlich der windende Hund vor. Nun naht sich der Jäger vorsichtig dem Platz, theilt die Zweige und untersucht die Stelle. Sobald er des Ötters ansichtig wird, streckt er die sehr kurzläufige Doppelflinte in die Lücke des Gebüschs und schiesst rasch entschlossen den Otter, ehe dieser den Sprung in’s Wasser thut. Oft sitzt aber der Otter lose und nimmt den Hund oder Jäger mit Gehör oder Nase wahr. Dann gilt es, dem trefflichen Schwimmer und Taucher auf seiner raschen Flucht mit scharfsinniger Über- legung beizukommen und ihn entweder, wenn er bei seinem, einen Wasser- strahl hildenden Hochgang die Schnauze zeigt, an nicht zu tiefer Stelle zu schiessen oder sein Aussteigen und Verbergen unter einem andern Busch abzuwarten und auszumachen. Offenbar die allersicherste Art, ihn zu er- legen, ist die geschickte Anbringung von Selbstschüssen. Bornemann in Alsfeld beschreibt diese Jagdart folgenderweise: „Die Stellen, an welchen der Fischotter aus dem Fluss auszusteigen pflegt, werden ausgemacht und von diesen solche gewählt, welche nicht unmittelbar an steilem Flussufer gelegen sind, damit der durch den Selbstschuss getödtete Fischotter nicht 382 Raubthiere. Carnivora. in das Wasser zurückstürze und dadurch den Jägern verloren gehe. An diesen Steigen legt der Jäger seine Selbstschüsse in der Art, dass beim Ent- laden derselben die Fischotter tödtlich getroffen werden. Der Selbstschuss ist ein kurzes Gewehr, in der Regel eine alte, mit weitem Lauf von höchstens einem Meter Länge versehene Reiterpistole und immer mit Stechschloss. Dieses Gewehr wird mit groben Schroten geladen und auf einer Unterlage von Steinen nach dem Wechsel des Otters gerichtet. Das Richten geschieht in der Weise, dass man genau auf den Wechsel ein Stäbehen steckt, die Höhe des Otters auf demselben markirt und das Gewehr sicher auf die Stelle visirt. Ist dies geschehen, so muss der Selbstschuss in der genommenen Schussrichtung so fest gelegt werden, dass ein Anstoss ihn nicht aus der Richtung bringt; dann befestigt man einen Zwirnsfaden von nicht auffallen- der Bdrbe an dem noch nicht eingestochenen Stecher des Gewehrs, zieht denselben durch eine im Bügel ad dem Stecher befindliche Ökune (Öhr) und leitet ihn dann genau an der vorerwähnten Marke des Stäbchens her an ein zweites in derselben Richtung aufgestecktes Stäbchen und befestigt ihn an demselben so, dass er, wenn das markirte Stäbchen entfernt wird, genau die Stelle der Marke einnimmt. Nach diesen Vorrichtungen wird der Selbstschuss nun über Nacht in diesem Zustande liegen gelassen. Diese Art der Erlegung der Fischotter ist sehr sicher, jedoch nur da zu empfehlen wo die Flussufer nieht von Menschen oder Thieren häufig besucht werden, und es darf auch in diesem Falle die Vorsicht nie ausser Acht gelassen werden, den Selbstschuss nach Tagesanbruch abzustechen und ihn Abends erst wieder zu stechen.“ Der Nörz. (Lutra minor.) Man hat den Nörz zum Vertreter einer Sippe erhoben, welche die Be- nennung Sumpfotter, Vison, führt, m welcher auch der von manchen Forschern mit Recht für eine besondere Art gehaltene amerikanische Mink aufgenommen ist. Die Nörze sind Zwischenglieder zwischen den Mardern und den Fischottern Von den letzteren besitzen sie bereits die mit Schwimmhaut versehenen Füsse, welche aber die Zwischenräume der Zehen nicht ganz ausfüllen, sowie die verbreiterte Schnauze und die rundliche Gestaltung der Ohren; während ihre Körperform, sowie ihre Behaarung und das Wesen lebhaft an die Marder erinnern. Der Nörz treibt sich mehr auf sumpfigen, ruhigeren Gewässern umher. Martin berichtet von seinem Vorkommen in den Flüssen und Sümpfen Östeuropa’s und hebt Schlesien, Polen, Galizien und Russland bis zum Ural hervor. Nach Oken fehlt er in Sibirien wegen des Mangels an Krebsen. Fast um die Hälfte kleiner, als der Fischotter, erscheint er nichtsdestoweniger als eben so gefährlicher Räuber, ja er übertrifft sogar seinen Vetter durch die Raubthiere. Carnivora. 383 Mannigfaltigkeit seiner Raubunternehmungen. Mit grosser Lebhaftigkeit und unersättlichem Blutdurst durchzieht er die Gewässer seines Aufenthalts- gebietes und schont neben Ratten und Mäusen; weder Hasen noch Kanin- chen, Fische, Krebse, Frösche, Molche, Schnecken und Muschelthiere, noch auch Vögel von den kleinen Schilf- und Rohrsängern an bis zu den Wasser- und Teichhühnern und den mancherlei Entenarten, denen er im Wasser von unten beizukommen sucht, die Beute unter Wasser zieheud, um sie alsdann dem Ufer zuzutragen und am stillen Plätzchen zu würgen und zu reissen. Wie der Fischotter verzehrt er die schmackhaftesten Theile des Geraubten und lässt den Rest liegen, wodurch natürlich seine Frevelthaten an Umfang bedeutend gewinnen. Dem Ausseren nach stimmt der Nörz überein mit dem Nord-Amerikanischen Mink, und Martin hält letzteren für nichts Anderes als den Europäischen Nörz, und den geringen Unterschied erklärt er durch den Einfluss des Klima’s und der Nahrung. Unser Nörz hat einen kost- baren, mit Grundwolle versehenen dunkelbraunen Pelz, dessen Grannen oder Überhaare einen violetten oder stahlblauen Schimmer zeigen. Die Jäger des nördlichen Deutschlands stellen ihm dieser werthvollen Bekleidung wegen nach, es gelingt jedoch selten, zuweilen bei Gelegenheit der Ausübung der Sumpfgeflügeljagd, ihn zu schiessen, weil er ausserordentlich scheu ist und durch flinkes Entrinnen der Gefahr zu entgehen weiss. Über seine Wohnung berichtet Wildu ngen, dass dieselbe an er- habenen trockenen Plätzen, in Brüchen oder unter Baumwurzeln angelegt werde und in selbstgegrabenen Röhren bestehe. Ende April oder Anfangs Mai werfe das Weibchen blindgeborene Junge Auch Claudius berichtet hierüber: „Der Nörz liebt die brüchigen und schilfreichen Umgebungen von Seen und Flüssen, wo er seine Wohnung, wie der Iltis, auf einer Raupe oder dammartigen Erhöhung im Gewürzel von Erlenbäumen, doch gern in möglichster Nähe des Wassers anlegt und mit wenigen Ausgängen, die nach der Wasserseite münden, versieht. Fluchtröhren nach einer andern Richtung oder gar Gänge nach benachbarten Raupen sind hier nicht anzutreffen. — Nach Hensel, der neuerdings in der Zeitschrift: „Der Zoologische Gar- ten“ Erfahrungen über das frühere Vorkommen des Nörzes an der Oder zwischen Ohlau und Brieg mittheilt, ist der Nörz viel schneller und ge- wandter als der ihm verwandte Iltis, und der Hund hat mehr Mühe, seiner habhaft zu werden, als diesem gegenüber. „Obgleich der Iltis auch das Wasser sehr liebt, aber wohl nicht freiwillig in dasselbe geht, findet man ihn doch auch manchmal weit von demselben entfernt. Der Nörz dagegen ist an das Wasser gebunden und entfernt sich bei seinem nächtlichen Um- herstreifen selbst dann nicht davon, wenn Alles gefroren ist. Seine Spur Ist im Schnee von der des Iltis nicht zu unterscheiden; dass man etwa dabei an ihr einen Abdruck von Schwimmhäuten erkennen könnte, ist eine Illusion. Wie sich die Spur auf feuchtem Boden abdrückt, weiss ich nicht. Ein 384 Raubthiere. Carnivora. Merkmal aber gibt es, an welchem man die Spur des Nörzes von der des Iltis leicht unterscheiden kann, und das ich gleichwohl in der Literatur noch niemals erwähnt gefunden habe. Auch der Iltis gräbt bei tiefem Schnee auf seinem Pürschgange zuweilen unter ihn und holt sich aus der Erde irgend eine Maus hervor. Allein der Nörz vermöge seiner Schwimm- und Tauchfähigkeit geht stellenweise unter den Schnee, um manchmal wohl zwanzig oder dreissig Schritte weit wieder aufzutauchen, ohne dass man bemerken könnte, dass die Witterung irgend eimer gehofften Beute ihn hierzu veranlasst hätte. Er taucht eben unter, wie es auch seine Gewohnheit im Wasser ist. Findet man auf der angeblichen Spur eines Iltis dieses Merk- mal, so ist man sicher, dass man es mit einem Nörz zu thun hat, und kann darnach seine Massregeln treffen.“ Dr. Max Schmidt hat im Zoologi- schen Garten“ einen ziemlich ausführlichen Bericht über den Nörz in der Gefangenschaft gegeben, den wir als sehr werthvoll betrachten und zur Vervollständigung unserer Angaben hier zum grössten Theil aufnehmen. „Die Nahrung des Nörzes besteht in Fleisch und Fischen, zuweilen auch Mäusen, Ratten, Sperlingen, Fröschen, Krebsen. Alles, was man ihm giebt, schleppt er sofort in seine Höhle, um es zu verzehren, und wenn man ihm den Eintritt in dieselbe verwehrt, trägt er das Futter stundenlang im Maule herum. Seine Beute erfasst er immer nur mit den Zähnen, nie mit den scharfen Krallen der Vordertatzen, wohl aber hält er sie beim Fressen mit den Pfoten fest. Er legt sich dabei nicht, sondern duckt das Vordertheil etwas nieder und streckt die auf der Beute stehenden Vorderbeine ein wenig nach vorn. Um das Verfahren des Nörzes gegenüber den verschiedenen, zu seiner Nah- rung dienenden Objekten näher kennen zu lernen, gaben wir ihm zu wieder- holten Malen sowohl lebende als todte Nahrung und haben dabei Folgendes beobachtet. Zuerst wurden drei grosse grüne Wasserfrösche zu gleicher Zeit in den Behälter gesetzt. Zwei von ihnen setzten sich ruhig an den Rand des Bassins, der dritte flüchtete eiligst m das Wasser und reizte da- durch den Nörz, sich seiner zuerst zu bemächtigen. Mit Blitzesschnelle war er hinter seinem Opfer her und schoss mit vorgestrecktem Kopfe und offnen Augen in das Wasser, wo er denn auch den Frosch sofort erwischte und in seme Höhle schleppte. Dort legte er ihn nieder und stürzte sich rasch auf einen der anderen Frösche, die er ebenfalls schnell nach einander in seine Höhle trug. Er fasste diese und alle anderen Frösche, die er später noch bekam, an den Oberschenkeln, die er ihnen sofort zerbiss, und es wird dies wohl kaum Zufall sein können, sondern er beabsichtigt unzweifel- haft, seine Gefangenen dadurch unfähig zur Flucht zu machen. Nachdem er auf diese Weise die Frösche in Sicherheit gebracht hatte, durchlief er seinen Behälter noch einige Male, als wollte er sich überzeugen, ob nicht etwa noch ein solches Thier irgendwo verborgen sei, und ging dabei so gründlich zu Werke, dass er selbst das Bassin nicht undurchforscht liess. Raubthiere. Carnivora. 385 Nachdem er sich hierauf wieder abgetrocknet hatte, ging er zu seinen Fröschen, die er, am Kopf anfangend, eifrigst verzehrte, so dass man das Knacken der Knochen deutlich hörte. Am nächsten Tage wurden lebende Fische in sein Bassin gesetzt, deren Fang ıhm kaum mehr Mühe machte, als der der Frösche. Er verfolgte sie in gerader Linie hinter ihnen herschwimmend nicht nach Art der Fischotter, welche die Fische mittels vielfacher Windungen ihres Körpers in die Enge treibt. Auch die Fische verzehrt er, immer am Kopfe anfangend, wie die Fischotter. Mit lebenden Sperlingen wird er ebenfalls ohne alle Umstände fertig, und namentlich macht ihm der Fang derselben durchaus keine Schwierig- keiten. Aus seiner Höhle lugend, fasst er schnell aber sicher den Vogel in's Auge, den er zu fangen beabsichtigt, dann stürzt er blitzschnell in gerader Linie auf ihn los, und ehe das erschreckte Opfer Zeit hat die Flucht zu ergreifen, haben es die Zähne des Nörzes an der Kehle gepackt. Hat man ihm mehrere Vögel zugleich gegeben, so benützen die übrigen den Moment, wo der erste in die Höhle getragen wird, um ihr Heil in der Flucht zu suchen, und flattern ängstlich so hoch, als der Käfig erlaubt, im Kreise umher. Mit funkelnden Augen blickt der Nörz ihnen nach und war- tet bis einer der Vögel in seine Nähe kommt, und indem er sich schnell am Gitter in die Höhe richtet, fängt er ihn im Flug an der Kehle. Lebende Krebse ergreift er mit den Zähnen quer über dem Rücken, so dass sie ihm mit ihren Scheeren nichts anhaben können, mögen sie im Wasser oder auf dem Lande sich befinden. Aber auch, als ein solches Thier auf den Rücken gefallen war und sich, wenn der Nörz es fassen wollte, mit den Scheeren wacker vertheidigte, wobei er mehrmals in die Nase gezwickt wurde, wusste er sich zu helfen. Er rückte mit vorgestreck- ten Vorderpfoten behutsam gegen den Krebs vor, wobei er mit grösster Geschwindigkeit kratzte, bis er das Thier dadurch umgewendet hatte, worauf er dasselbe ganz ruhig in der beschriebenen Weise am Rücken ergriff. Wenn man ihm Eier gibt, so sucht er dieselben mit den Zähnen zu fassen, was ihm indess meistens nicht gelingt, da sein Maul hierzu nicht weit genug ist, so dass die Zähne von der Eischale abgleiten. Er schiebt als- dann das Ei mit Hülfe der Vorderfüsse und des Kopfes gegen seine Höhle, in welche er es mit den Zähnen und den Pfoten zu heben versucht. Hierbei bricht dann nun meistens die gegen die Felssteine gedrückte Eischale ein, worauf er seine Beute mit den Zähnen fasst und sie in die Höhle trägt. Dort vergrössert er die Öffnung in der Eischale so weit, dass er mit der Schnauze hinein kann und leckt den Inhalt heraus, während er das Ei mit den Vorderpfoten festhält. Maikäfer nahm er anfänglich nur zögernd ent- gegen, fand sie aber, als er sie einmal gekostet hatte, bald so schmackhatt, dass er sie nunmehr mit Begierde verzehrt. Wenn man ihm einen Käfer oO A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 95 386 Raubthiere. Carnivora. gereicht hat, trägt er ihn rasch in seine Höhle, drückt ihn etwas mit den Zähnen zusammen und kommt schnell wieder hervor, um sich nach mehre- ren umzusehen. Die Überreste seiner Mahlzeiten pflegt er über Nacht aus seiner Höhle zu werfen, doch bestehen diese in der Regel nur aus den ungeniessbaren Theilen derselben, also aus Eischalen, Krebspanzern, einem Theil der Haut und der Schuppen, sowie aus den Flossen der Fische, der Haut einer Ratte u.s. w. Es geht aus dem Obigen hervor, dass der Nörz im Verhältniss zu seiner Grösse ziemlich bedeutende Nahrungsmengen zu sich nehmen kann. Seine Losung ist wurstförmig, von grauer, brauner oder schwarzer Farbe, je nach der Nahrung, und wenn er Fische verzehrt hat, ist sie mit den perlmutterglänzenden Partikelchen der Schuppen vermischt. Sie wird im Laufe von 24 Stunden etwa 15 bis 13 Mal abgesetzt und zwar an den äussersten Rand des Käfigs, nie in die Höhle. Das Thier setzt sich dabei nicht nieder, wie andere Fleischfresser, sondern beugt nur die Hinterbeme etwas. Wie die meisten Raubthiere scheint auch der Nörz nur wenig zu trinken und dem entsprechend geringe Urinmengen abzusetzen, und zwar geschieht dies immer gleichzeitig mit der Losung. Dass er badet und im Wasser spielt, wie der Fischotter dies so häufig thut, haben wir, wie bereits erwähnt, noch nicht bemerkt, sondern er geht nur in das Wasser, wenn er eine Beute verfolgt. Der nass gewordene Pelz wird hierauf durch Schütteln so viel als möglich getrocknet, und wenn dies nicht ausreicht, reibt und scheuert sich das Thier auf dem sandigen Boden, wobei es sich zuweilen auf die Seite oder den Rücken legt und sich mit Hülfe der Hinterfüsse vorwärts schiebt, wie dies die Hunde mitunter thun. Über die Art der Bewegungen beim Schwimmen sind wir nicht im Stande etwas mitzutheilen, da unser Exemplar sich dieser Übung nur selten hingibt und sich jedes Mal beeilt, wieder aus dem Wasser zu kommen. Das Gehen geschieht, wie alle seine Bewegungen, rasch und selbst hastig. Er macht kleine Schritte im schnellen Tempo, so dass man bei seinen nie- deren Gliedmassen und seinem langgestreckten schmalen Körper seine be- schleunigte Gangart füglich als Dahinschiessen bezeichnen kann. Diese Art der Ortsbewegung nimmt er hauptsächlich dann an, wenn er einen bestimm- ten Zweck verfolgt,'z. B. einer Beute nachstrebt. Nur höchst selten geht er langsam, wobei er den Rücken oder eigentlich die Lendengegend mässig gewölbt trägt, und die Vorderbeine ohne auffallende Bewegung vorwärts schreiten, während die Hinterfüsse einen mehr humpelnden, zuweilen hüpfen- den Gang annehmen. Den Schwanz trägter dabei ausgestreckt und die Spitze etwas abwärts gebogen. Dass der Nörz klettert, haben wir nicht gesehen, obwohl er sich öfter an emem zu diesem Zwecke in seinem Behälter ange- brachten Bäumchen in die Höhe richtet. Eine besondere Energie entwickelt Raubthiere. Carnivora. 387 er, wenn er mit den Vorderbeinen im Boden gräbt, und er bewegt dabei diese Gliedmassen oft so rasch, dass sich die Umrisse derselben in ähnlicher Weise verwischen, wie dies bei einem rasch laufenden Rade der Fall zu sein pflegt. Den grösseren Theil des Tages bringt der Nörz schlafend in seiner Höhle zu. Er liest dann zusammengerollt, den Kopf zwischen die Hinter- füsse gesteckt und den Schwanz über Hals und Rücken geschlagen. Erst am Abend nach Einbruch der Dunkelheit kommt er hervor und durchstreift seinen Käfig, indem er unruhig hin und her läuft und zeitweise im Boden wühlt. Da aber nicht der Hunger es ist, welcher ihn heraus treibt, sondern er gewissermassen nur seiner früheren Gewohnheit folgt, so fällt dieser Spaziergang nicht selten ganz aus oder wird doch wenigstens sehr ab- gekürzt. Von den Sinnen scheint das Gehör und der Geruch am meisten ent- wickelt zu sen. Wenn er am Tage schläft, lässt er sich nicht leicht stören, trifft aber der Schall eines bekannten Trittes sein Ohr, wenn z. B. sein Wärter sich nähert, so kommt er sofort heraus und sucht nun erst mit der Nase und dann mit den Augen sich über die Person, welche herantritt, zu vergewissern. Die Ohrmuschel ist klein, rundlich, an beiden Seiten behaart und beinahe völlig im Pelz versteckt. Die Augen sind klein, weit von ein- ander stehend, die durchsichtige Hornhaut stark gewölbt, die Regenbogenhaut dunkelholzbraun, die längliche Pupille sehr klem. Sie sind sehr beweglich und erhalten durch alle diese Eigenthümlichkeiten einen lauernden stechen- den Ausdruck. Sie scheinen zum Sehen in der Dämmerung geeigneter als am hellen Tage, denn es ist eben nicht selten, dass der Nörz die ihm hinge- worfene Nahrung nicht sieht, so sehr er sie auch sucht, und sie erst dann findet, wenn er den Geruch derselben bekommt. Beim Wittern streckt er die Nase mit ruckweiser Bewegung in die Höhe, wobei er, vom hellen Licht geblendet, die Augen mehr oder weniger zudrückt. Der nackte Theil der . Nase ist breit, gleichmässig gewölbt, und die engen Nasenlöcher stehen weit von eimander entfernt. Die Haut ist hier durch seichte, vielfach sich kreu- zende Furchen in kleine, rundliche oder fast sechseckige Schildehen getheilt, und mässig feucht. Der Tastsinn scheint vorzugsweise durch die Vorder- pfoten vermittelt zu werden, und wir haben uns überzeugt, dass das Thier mit diesen seine Beute untersucht, besonders geschieht das bei Fischen, ver- muthlich um sich über die Richtung der Schuppen zu vergewissern. Die wohl auch als Tastorgane zu betrachtenden Schnurrhaare sind zwar ziem- lich stark, aber die Hautstelle, auf welcher sie sich befinden, ist nur wenig beweglich, so dass sie gewiss als Sinnesorgane nicht von grosser Wichtig- keit sein können. Seine Stimme, welche bereits erwähnt wurde, lässt der Nörz nur selten hören. Wir bemerkten sie, aber schwächer als in dem genannten Fall, nur, | 23° 388 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. wenn er gegen den vorgehaltenen Finger fuhr, und wenn es ihm nicht ge- lingt, denselben mit den Zähnen zu fassen, so gibt er bei geschlossenem Maule ein Winseln, dem eines jungen Hundes ähnlich, von sich.“ V. Ordnung. Zweihufer. Kuminantia sive Biscula. Unser Hochwild. Wild und Wald — sind nicht beide mit einander verwachsen, ergänzen sie sich nicht gegenseitig? Ohne Wald kein Wild, ohne Wild kein Wald. Dieser entbehrt ohne es seinen lebendig-romantischen Charakter, einen Zug seiner eigensten Poesie. Tragen doch die eigentlichen Riesen unserer Wälder, die Hirsche, in ihrer stolzen Kopfzierde, dem verzweigten Geweih, gleichsam das verkleinerte Abbild des Waldes mit seinen Stämmen und verästelten Kronen. Die Abgeschiedenheit und Stille, die Erhabenheit, wie die Wild- heit und Rauhheit der Wälder, sie hat sich übertragen auf den edlen, maje- stätischen Hirsch und den wilden, wüsten Eber der Dickichte. Zwar steht das Hochwild der Feldeultur feindlich, ja was das Wild- schwein und das Elchwild anlangt, verwüstend gegenüber; doch nur bei zu grosser örtlicher Überhandnahme. Aber Berechtigung zu leben und wenigstens seiner Art nach zu bestehen hat es denn doch in jedes Naturfreundes Augen. Die Stimmen, die sich gegen es mit der Forderung gänzlicher Ausrottung erheben, sind deswegen einseitig, ja unmenschlich und zum Glück für die hochinteressante Grossthierwelt des Waldes noch vereinzelt. Geht doch unsere Culturentwickelung ihren eisernen, unabänderlichen Gang und be- schränkt sie doch schon die Thierwelt Schritt vor Schritt. Ohne dass wir es merken, drängt sie ein Waldthier nach dem andern zurück in die tiefsten Schatten und Dickichte unserer Forste. So das Elchwild. Der „grimme Schelk“ der Nibelungen, der einst den deutschen Urwald bevölkerte, er steht heute gleichsam als eine Thierruine an den Marken unserer deutschen Wäl- der. Bald wird er nur noch in einzelnen Individuen vorhanden und dann seine Art ganz ausgestorben sein, wie so manche andere 'Thierart der Erde auch. Eines Drängens und Treibens nach Ausrottung unseres Wildes be- darf es also gar nicht. Dem Thierfreunde vermindert sich eine Thierge- stalt nach der andern nur zu schnell auf der lebendigen Schaubühne unserer Natur. So lange unser prächtiger deutscher Wald also noch sein ebenso prächtiges Hochwild erzeugt und ernährt, so lange mag das Herz des Natur- und Thierfreundes sich daran erfreuen. Und so soll des heimischen Wildes Abgeworfene rechte Stange eines Bdelhirsches mit ihrer inneren unteren Enndfläche, der,Rose? (Vide Seite 395.) Anfänglicher, nach Abwurf der Stange entstehender Gefäfswulst, nach und nach den Kolben bildend. (Vide Seite 39 ) | Mit Genehmigung der Redaction u. des Verlags dem VI. Jahrgang der N?2, von 1866 der Zeitschrift „Der Zoologısche Garten” BE rn Ve RR N En re & 3 N Da EL SE Der nach'der Mitte der Abwurffläche sich ausbreitende Grefälswulst in fort- schreitendem Gange am vierten bis achten Tag. (VideSeite 394.) Art. Anst.v. Th.Fischer, Cassel. Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 389 Wesen und Wandel hier in unseren Schilderungen denn auch den Raum, der ihm gebührt, einnehmen. Es ist das waidmännisch zur hohen Jagd oder zu dem Hoch- (Grob-) Wild gehörige. Lehrbegriffliches über die Hirsche, Cevvi. Mit Ausnahme des Wildschweins gehört unser Hochwild thierkundlich zur Familie der Hirsche (Cervi) in der Ordnung der Wiederkäuer oder Zweihufer, Ruminantia sive Biscula. Die einheimischen Arten der Hirschfamilie sind das Edel- oder Roth- wild (Cervus Elaphus), das Elchwild (C. Alces), das Damwild (C. Dama) und das Rehwild (C. capreolus). Das charakteristische innere Kennzeichen der ganzen Ordnung sowohl, wie der Hirschfamilie insbesondere, ist ihr zusammengesetztes Verdauungs- organ, der Magen. Er besteht aus vier unter einander zusammenhängenden Abtheilungen. Der äusserste linke Theil, der Wanst oder Pansen (rumen) ist der umfangreichste. Oberhalb desselben zur Rechten liegt der viel kleinere, die Haube oder der Netzmagen (reticulum), so benannt wegen seiner zelligen, Fischnetzen gleichenden Structur der Innenwandung. Neben diesem tritt der ebenfalls nach seinem inneren Gefüge benannte Falten- oder Blättermagen, Psalter, Buch oder Löser (omasus) auf, während den äussersten rechten Theil der eigentliche oder Labmagen (abo- masus) bildet. Der Schlund oder die Speiseröhre mündet gemeinschaftlich in die Stelle, woselbst der Wanst, der Netz- und der Blättermagen an ihrer Grenze zusammentreffen. Durch den Schlund gelangt zuerst die nur grob zerkaute Nahrung in den Wanst oder Pansen. Von da tritt sie stossweise und in kleinen Mengen in den Netzmagen, der dieselbe durch sein maschen- artiges Gefüge zerreibt und mehr einweicht. Bei dem nun entstehenden Wiederkauen kehrt das in den Netzmagen in Form kleiner Kugeln getretene eingeweichte Futter — waidmännisch das Geäs genannt — durch Aufstossen oder Rülpsen in den Mund zurück, um hier abermals zwischen den Mahl- zähnen gekaut zu werden (daher der Name Wiederkäuer), und sodann aus dem Schlund zwischen zwei einen rinnenförmigen Gang bildenden Falten an dem Netzmagen vorbei in den dritten, den Blättermagen, um aus diesem in den Labmagen und weiter in die Gedärme zu treten. In der äusseren Gestaltung hebt sich vor Allem bei unseren Hirschen das Hauptkennzeichen hervor: das dichte, knöcherne Geweih, Gewicht oder Gehörn. Dies sitzt mit den unteren ringförmigen, körnigen Wulsten, den Rosen, auf den beiden Knochenzapfen des Stirnbeins, den Rosen- stöcken, auf. Von den Rosen streben beiderseits die Stangen mit einer Biegung nach aussen aufwärts, um sodann nach jeder Nebenver- zweigung, einem Ende, knieförmig nach hinten und in ihrer oberen Enden- 390 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. verbreitung wieder bogig nach innen sich zu wenden. Nur das männliche Thier, der Hirsch oder Bock, bei unseren einheimischen Arten. trägt das Geweih oder Gehörn. Es wird alljährlich abgeworfen und ersetzt sich wieder nach und nach, oder, wie man sagt, es wird aufgesetzt. Ehe wir den Gang der Geweihbildung näher verfolgen, richten wir vorerst unser Augenmerk noch auf einige andere äussere Kennzeichen der Familie. Die obere wulstige Kinnlade ermangelt der Schneidezähne, die untere besitzt deren 8, während zu beiden Seiten oben und unten 6 Backen- oder Mahlzähne vorhanden sind. Nur beim Edelhirsche besteht von dieser all- gemeinen Regel eine Ausnahme, indem dieser in der oberen Kinnlade beiderseits kleine stumpfe Eckzähne, die sogenannten Gräne oder Haken besitzt. Mit Ausnahme des Rehes haben unsere Hirsche Thränengruben oder Thränenhöhlen, d. h. längliche Vertiefungen abwärts der inneren Augenwinkel, welche eine schmierige Masse, das frühere officmelle Hirsch- bezoar, waidmännisch die Hirschthränen genannt, absondern. Eigen ist den Hirschen auch eine bürst- oder büschelartig behaarte Stelle an der Aussenseite der Hinterläufe etwas unter dem Knie. Der neu geborene oder gesetzte Hirsch hat an der Stelle, woselbst sich später die beiden Stangen entwickeln, welche mit ihren Enden das Geweih bilden, eine haarwirbelartige Andeutung. Erst gegen Ende des Geburtsjahres treten die Rosenstöcke, die Träger der Geweihstangen, als Fortsätze der Stirnbeine erhaben hervor. Der Rosenstock ist mit Haut umgeben und erreicht je nach der Art eine etwas abweichende Höhe. Beim Edelhirsch ist er am höchsten, 4—D cm. Gewöhnlich im achten bis neunten Monate entwickeln sich auf den Rosenstöcken die ersten Anfänge der Geweihbildung. Es sind gestreckte kegelförmige Horngebilde, welche ein wenig nach hinten gebogen erscheinen. Diese ersten Horngebilde werden Spiesse genannt, und das männliche Thier, welches sie aufgesetzt hat, heisst Spiesser, Spiesshirsch. Das mämliche Reh „fegt“ (reibt) diese meist nur knopfartigen Gebilde und wirft sie dann frühzeitig im Jahre ab, um nach semer Jährigkeit die eigentlichen Spiesse aufzusetzen. Beim Hirsch entstehen mit Beginn des dritten Jahres Stangen, an welchen niedrig über der Rose die sog. Augensprossen sich bilden. Die Spitze der Stangen mit diesen Augensprossen bilden ein gabelförmiges Geweih, und der Hirsch heisst jetzt Gabler oder Gabelhirsch. Die Angaben vieler Schriftsteller, als setze der Eichhirsch kein Gabelgeweih auf, da ihm die Augensprossen fehlten, sind nach neueren zuverlässigen Angaben, namentlich von Ulrich, irrthümlich. Im dritten oder vielmehr im Beginn des vierten Jahres setzt der Hirsch ein Geweih auf, an dessen Stangen zwischen den Augen- und Endsprossen je ein mittleres Ende, die Mittelsprossen, entstehen. Nun heisst der Hirsch ein Sechsender oder Sechser. Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 391 Bei dem Reh hat unstreitig mit dieser Formbildung das Gehörn seine volle Entwicklung erreicht, und auch die Geweihbildung des Dam- und Elchwildes weicht nunmehr von der des Edelwildes wesentlich ab. Nur das Geweih des Letzteren behält die angedeutete stufenweise Formbildung im Allgemeinen bei. Der Edelhirsch wird also beim Übergang vom vierten in’s fünfte Lebensjahr en Achtender oder Achter; zwischen dem fünften und sechsten heisst er Zehner oder jagdbar. Bei dieser Ge- weihbildung entsteht in gerade nicht seltenen Fällen, aber unregelmässig neben der Augensprosse die Eissprosse. Ein Jahr später wird der Hirsch en Zwölfer oder stark jagdbarer Hirsch. Die Eissprosse entsteht zwar gewöhnlich ganz nahe über, oder auch halb neben der Augen- sprosse, doch zuweilen erscheint sie auch höher an den Stangen, zwischen Aug- und Mittelsprosse in der Mitte. Dieses Gebilde mag — wie der auf- merksame und erfahrene Waidmann R. von Dombrowski in seinem Werke „das Edelwild“ bemerkt — wohl die Stärke der Augsprossen, dieser eigentlichen Angriftswaffe des Hirsches, vermehren helfen; allem es ist auch als Thatsache zu bestätigen, dass die Eissprossen vielfach gerade stärkeren, älteren Hirschen fehlen. Wie schon bei dem Sechser, Achter und Zehner jedesmal die Stangen, wie von der Mittelsprosse an, so auch von dem neu entstandenen oberen Ende an, eine knieförmige Beugung empfangen, so biegen sich die Enden an den Hauptstangen des Zwölters ebenfalls zurück mit nach innen gerichteter Spitze; hingegen verzweigen sich die aus demselben Punkte entstandenen beiden andern Endsprossen nach vorn und aussen. Diese sich so vertheilenden drei Enden an dem oberen Theile der beiden Hauptstangen bilden die Krone des Zwölfers. Beim Vierzehner oder dem Capitalhirsch tritt ein viertes Ende in die Krone. Die Geweihe der Sechzehner und Achtzehner u. s. w., welche in neuerer Zeit zu den Seltenheiten gehören, vervielfältigen sich entsprechend in den Kronen nach dem angedeuteten forıngebenden Wachsthumsgang. Doch bleibt dieser meist und vorzugsweise der Verzweigung und Vertiefung der Krone zugewandt. Die Krone wird näch ihrer verschiedenen Gestaltung benannt, und man unterscheidet z. B. die Handkrone, woran die oberen Enden fünfendig gebildet sind, während die mehrendigeren Kronen je nach ihrer tiefmuldigen oder aber verbreiterten Form das Kelchkronen- und das Schaufelkronen-Geweih aufweisen. Die angegebene Formbildung des Edelhirschgeweihes ist aber mehr eine ideale im Hinblick auf den regelmässig-stufenweisen Gang. Die Natur bindet sich an keine Schablone, und so weicht auch die wirklich fort- schreitende Formbildung in vielen Fällen von der ideellen ab. Der Gabler setzt nicht selten im dritten Jahre wieder der Form nach Spiesse auf; seine Augsprossen fehlen manchmal und werden durch Gabelenden in der Nähe der Endsprossen der Stangen ersetzt; auch erscheint manchmal die Aug- 392 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. sprosse des Gablers in zwei Enden getheilt, wovon bisweilen das eine der Enden blos angedeutet oder schwach ist. Gleich der Gablerform wird die Form des Sechsers und Achters, ja werden sogar manchmal diese drei zugleich übersprungen, und umgekehrt steht es erfahrungsmässig fest, dass ältere Hirsche in Ansehung ihrer Endenzahl zurückgehen oder, waidmännisch gesagt, zurücksetzen. Als normal in der Natur können unseres Erachtens nur diejenigen Gebilde gelten, welche nachweisbar am häufigsten oder der Regel nach vorkommen. So halten wir die gerade nicht seltene Erscheinung der Eis- sprosse beim Zehner nicht für eine normale Bildung, die das Zehnergeweih charakterisiren könnte: denn es gibt erfahrungsmässig viel mehr Kronen- zehner, d. h. solche, welche zwei Enden neben den Enden der Hauptstangen haben, als Eissprossenzehner. Die Ansicht von Blasius, als sei die Eis- sprosse das Charakteristikon des Zehnergeweihs, steht mit der Wirklichkeit im Widerspruch. Im Hinblick darauf, dass die Eissprossenbildung den meisten Zehnern mangelt und die grosse Mehrzahl der Achter unmittelbar zu Kronzehnern vorschreitet, ferner jene zuweilen frühzeitig vor der Zehner- bildung auftritt und wiederum auch den stärksten Hirschen mangelt: — nach allem diesem kann die Eissprosse als kein wesentliches Gebilde oder wenigstens als keine Normalbildung angesehen werden. Sie ist eher das Kennzeichen einer Race-Eigenthümlichkeit, mit einem Worte das Gegentheil von der Augensprosse, der Mittelsprosse, der Endgabel und der Krone, welche alle die charakteristischen oder normalen Theile der Hirschgeweih- bildung in aufsteigender Linie darstellen. Auch in Bezug auf die gerade Endenzahl der Geweihe ist ein nor- males Prinzip nicht gut aufzustellen, da namentlich in den höheren Stufen der Geweihbildung die ungerade Endenzahl — d.h. der Umstand, dass eine Stange mehr oder weniger Enden zählt als die andere und demzufolge die Hirsche als ungerade Achter, Zehner u. s. w. angesprochen werden — vorzuherrschen pflegt. In der Regel hat neben Klima, Örtlichkeit und Individualität gute reichliche Asung auf die Stärke, Enden- und Formbildung der Geweihe Kmfluss; doch verwenden in manchen Gegenden die Hirsche ihre Nahrungs- säfte eben so sehr auf die Leibesstärke bei zurückbleibender Geweihbildung, als sich in andern Strichen (in hohen Gebirgen z. B.) eine geringe Enden- zahl kundgibt. Auch die Form und die Stellung der Geweihe ist örtlich oft sehr verschieden. Die beiden auffallendsten Typen hinsichtlich der Stellung sind die engstehende oder steile und die breite oder weite Auslage, jenachdem die Stangen und ihre Verzweigungen nahe aneinander stehen oder aber weit von einander abstehen oder ausgelegt sind. Von dem Zeitpunkte an, von welchem sich das Blut nach den beiden Rosenstöcken drängt, ist der Anfang der Geweihbildung zu suchen. Es ist Weitere Entwicklung des Gefäfswulstes Ende der zweiten und der dritten. Woche nach dem Abwurf der Stange. (Vide Seite 39%) Art.Anst.v. Th. Fischer. Cassel. omgenann as dh Die von dem Gefäfswulste nach der a Der sich bildende Augensprosse, b der später entstehen- de Eissprosse mit c der Stange. dritten Woche des Abwurfs der Stange Kolbenbildung Ende der vierten Wo che mit den entstehenden massigen Theilen der Stangen u. den’Augensprossen des (feweihes sowie der Rose durch einen Ringansatz am unteren Theile der Stangen. (Vide Seite 394.) Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 393 bisjetzt der Grund oder die Ursache noch nicht genügend erklärt, wie die Lostrennung der Stangen von den Rosenstöcken beim Abwerfen erfolgt. Das Geweih sitzt mit seinen kleinen Erhabenheiten auf dem Rande seiner unteren Endfläche, der Rose, wird verkittet in den entsprechenden Vertiefungen der Rosenstockfläche, und umgekehrt greifen die kleinen Höcker der letzteren in die correspondirenden Vertiefungen der Rose ein. Es scheint uns, dass nun bei der erhöhten Hautthätigkeit mit Beginn des Geweihwechsels ein ähnlicher Process vor sich gehe, wie bei der neuen Safteirculation und dem Knospentriebe der Pflanzen. Wie hier durch den Andrang des Bildungs- saftes die alten abgestorbenen Blätter abgestossen und die vorgebildeten Lagen in der gemmula (Knöspchen) zur Entfaltung getrieben werden, so dringt der vermehrte Blut- und Säftezufluss zwischen die Zäpfchen der Berührungsflächen von Rosenstock und Rose, wodurch die verhärteten, in- einandergekitteten Flächen erweicht und ihr Zusammenhang ein loser wird. Dieser Flüssigkeits-Erguss findet an dem Hautrande um die beiden erwähnten Flächen statt. Das alte abgestorbene Geweih hemmt, so lange es auf dem Rosenstocke haftet, den Säfteandrang und bewirkt eine Anhäufung, Ver- schlingung und Wulstung der Gefäss-Verzweigungen der äusseren Kopf- schlagader (Carotis externa). Dadurch drängt sich aus dem Hautrande des Rosenstocks durch die jetzt sich erweiternden und verlängernden Schlag- adern-Zweige mit ihren sie umgebenden Venen unter dem alten Geweih ein schmaler ringförmiger Gefässwulst hervor, welcher allmälig die Auflockerung und zuletzt die Loslösung der beiden Stangen bewirkt. Dieser Lymph- und Blutgefässwulst ist die Grundlage der sich von nun an allmälig bildenden Kolben und erhärtet nach und nach durch Ausschwitzung von Knochen- substanz zu der perlenreichen Rose, dem untersten Knochengebilde des Geweihs. Um diese Zeit meidet der Hirsch jeden Anstoss des Geweihs. Das Abwerfen desselben erfolgt nun entweder durch den Druck der Schwere der Stangen, oder es wird durch einen äusseren Anstoss bewirkt. Gewöhnlich fällt erst eine Stange ab, wodurch der Hirsch den Kopf zur Seite neigt; selten erfolgt das Abwerfen beider Stangen zugleich. Es muss den Thieren ein schmerz- haftes oder doch unbehagliches Gefühl erzeugen, was sie durch ihr eigenthüm- liches Benehmen bekunden, sowie neben der schiefen Neigung des einseitig beschwerten Kopfes und dessen Schütteln durch schlaffe Haltung des (rehörs. Nach dem Abwerfen ist der Hirsch muthlos im Gefühle des Verlustes seiner Wehrhaftigkeit, ermattet und ängstlich in dem Bestreben, seine wunden Stellen über den Rosenstöcken vor Berührungen seiner Umgebung zu hüten. Er geht mit gesenktem Kopfe dahin und thut sich an ruhigen Stellen nieder. Bei der ersten Geweihbildung des jungen Hirsches, des Spiessers, fehlt die Rose gleichsam noch ganz, und die Spiesse sitzen auf dem noch er- höhten , verlängerten Fortsatze des Stirnbeins, dem Rosenstocke, auf. Der Letztere nimmt alljährlich an Breite zu und an Höhe ab, indem stets 394 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. die obere Schicht desselben mit den beiden Stangen abgeworfen wird. Die Abwurffläche ist jedoch keine horizontale, sondern neigt sich mehr nach vorn und namentlich seitlich. Diese Neigung bietet — wie R. von Dombrowski in seinem oben erwähnten Werke richtig bemerkt — den nöthigen Raum für die Entwicklung der Rosen und Kronen und vermittelt die Auslage der Stangen. Der anfänglich violettgraue Gefässwulst*) breitet sich immer mehr nach der Mitte der runden Abwurffläche aus, die sich mit einem Schurf überzieht und etwa nach der dritten Woche von dem Gefässgebilde völlig überwulstet wird. Nun bildet sich der mit grauer Basthaut versehene Kolben. Eines- theils nach dem Vorderkopfe hin zeigt er schon deutlich die sich bildenden unteren Enden, die Augensprossen, während anderntheils nach hinten, massig und dick, die Stelle kenntlich wird, aus welcher sich der Haupttheil des Geweihes, die Stangen, entwickeln. Rascher wächst der hellgrau und dicht- behaarte Kolben jetzt in die Breite und Höhe. Beim älteren (stärkeren) jagdbaren Hirsche zeigen sich von nun an neben dem Augensprossen- wulst beiderseits an dem Kolben, nach hinten geschieden zwei Erhabenheiten, wovon der mittlere die Mittelsprossengebilde, der hintere starkknolligere die Entwicklung der Hauptstange mit ihren oberen Enden andeutet. Nach einer weiteren Woche sind die Kolben schon so entwickelt, dass das ganze Geweih m seiner Hauptanlage und Endenbildung durch Abtheilungen und Einschnitte sichtbar wird. Auch die erste Bildung der Rose wird bemerklich in Form eines bläulichen Ringes, welcher sich wulstig um die untere Rand- Nläche des Kolbengeweihes anlegt. Immer deutlicher formen sich die Enden jetzt aus den stumpfen, rundlichen Erhöhungen des Kolbengebildes heraus, indem sich die unteren Enden, wie Augen- und Eissprossen, zuerst ver- ecken, später die oberen Kronenden. Nach genauen Beobachtungen am Edelhirsch in der Gefangenschaft pflegt in der 17. oder 18. Woche in der Regel das Geweih vollständig ausgewachsen oder ausgereckt zu sein. Es hat sich bis dahin das vorher noch mit stark behaartem und weichem, gefässreichem Baste umgebene Geweih allmälig verhärtet und ist jetzt mit dem Bast grösstentheils vertrocknet oder verknöchert. Das Geweih verhärtet oder vereckt von unten nach oben, sodass erst die Rose und unteren Enden, sodann erst die oberen reifen. Im Freien jedoch hat diese Bildung unstreitig einen etwas schnelleren Verlauf. Von nun an, gewöhnlich im Hochsommer, fängt der Hirsch an, wahr- schemlich in Folge eines juckenden Reizes beim Vertrocknen der Basthaut, das Geweih zu fegen, d. h. er reibt den Bast an starkem Gestrüpp und Stangenholz ab. Durch die im der Rinde der Holzarten enthaltene Lohe wird das Geweih vollständig gebeizt und färbt sich, anfangs weissgelb, bis *) Man sehe die entsprechenden Tafeln über die Geweihbildung des Edelhirsches. Fortschreitender (sang der Kolbenbildung Ende der sechsten u. Anfangs ‚ch dem Abwurf der Stangen. (Vide Seite 394.) der achten Woche na n . In der neunten bis in die zwölfte Woche fortgeschrittene Kolbenbildung eines „Vierzehnenders” (Vide Seite 394) ‚Art.Anst.v.'Ih.Fischer, Cassel. + Bd 73 ” R Br 4 Zweihufer. Ruminantia sive Bisceula. 395 aur die stets stark verriebenen und verschlagenen Enden mehr oder weniger dunkelbraun bis in’s Schwarzbraune. Mit dem Gefegtsein ist jedoch das Geweih noch nicht vollständig reif oder verknöchert, wie v. Dombrowski sachgemäss hervorhebt, sondern es zeigt schon unter der Lupe noch eine poröse Substanz im Querschnitte seiner Stangen, von den Rosen bis zu den Kronenden führende Gängehen, welche noch immer von dem Kolbengebilde her die Zuführung der Säfte, wenn auch nun in einem ausserordentlich vermin- derten Grade, vermitteln. Bis zum September hat sich allmälig die poröse Structur und zwar von der Krone und den Enden aus nach unten und innen durch eine vollständige Verknöcherung verdichtet, und nun erst ist das Geweih vollständig gereift zur ebenso gewichtigen als festen Waffe seines Trägers. Bei dem Rehbocke findet eine geringere Wulst- oder Kolbenbildung statt; die Kolben sind schlanker und der Entwickelungsgang des Gehörns ist zwar ganz ähnlich, aber viel rascher als beim Edel-, Dam- und Elchhirsche. Es bekundet eine merkwürdige Eigenheit der Hirscharten mit einjänrigem Geweih, dass das letztere mit den Testikeln oder dem Kurzwildpret in physiologisch-lebendiger Beziehung steht. Verletzungen am Kurzwildpret, besonders aber die Entfernung der Testikeln durch Castriren machen sich stets auch bei der Bildung des Geweihes auffallend geltend. Beschädigungen am Kurzwildpret beeinflussen stets und ständig je nach ihrer Stärke auch die Kopfzierde, die dann Missbildungen mancherlei Art annimmt. Die Geweihbildung, ja selbst das Herauswachsen der Rosenstöcke bleibt aus, sobald die Castration beim Hirsche frühzeitig vorgenommen wird. Während der Geweihbildung ausgeführt, hindert sie die Vereckung des Gehörnes, so wie sie dann, nach dem Ausrecken desselben vollzogen, bewirkt, dass der Hirsch das Geweih nie abwirft. — Auch starke Beschädigungen an köhrenknochen beeinträchtigen die regelmässige Bildung des Geweihes. — Die Sippe eigentliche oder Edelhirsche, Cervus, welcher nur zwei bis drei Arten zugezählt zu werden pflegen, hat ihren Hauptvertreter in unserem Edelhirsche. Als besondere Kennzeichen sind hervorzuheben: das in runden Enden oder Sprossen verzweigte Geweih des Hirsches, von welchen die beiden unteren der formgebenden Enden, wie Aug- und Mittel- sprosse, sowie die oft fehlende Nebensprosse oder Eissprosse nach vorn gerichtet, die Kronenenden aber nach innen und hinten gerichtet sind; eine Haarbürste an der Aussenseite in der Mittenbeugung der Hinterläufe, die deutlichen und tiefen Thränengruben, sowie die Eekzähne — „Haken“ oder „Gräne“ — im Oberkiefer. Das Edelwild. Cervus Elaphus. Wohl verdient er seinen Namen Edelhirsch, der Gekrönte unserer Forste. Er ist die stattlichste, stolzeste und majestätischste T'hierform des Waldes. Bei aller Schlankheit und Geschmeidigkeit seines Leibes und seiner Glied 9 396 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. massen wohnt ihm etwas Gewichtiges, Gebietendes inne, das der Anblick des mit zunehmendem Alter gewöhnlich mächtig verzweigten Geweihes noch erhöht. Das Erscheinen des Waldriesen ist überraschend. Das schönste Urerzeugniss des Waldes tritt in ihm vor uns und bewältigt. So geht es Jedem, der das Thier zum erstenmal erschaut auf den geheimen Pfaden seiner schattigen Heimath, ja so ergeht es selbst dem an sein Erscheinen gewohnten Jäger, so oft er es erblickt. Dem Wesen und Wandel eines so auffälligen Thieres nachzuforschen, ist wohl ebenso interessant als lohnend. Aber es ist äusserst scheu, vor- sichtig und klug, und seine sehr scharfen Sinne unterstützen es in diesen seinen hervortretenden Eigenschaften in hohem Grade Wir müssen Ver- traute und Kenner des Waldes sein, wenn wir das eigentliche Wesen und Treiben seines edelsten Bewohners kennen lernen wollen. Die Kenntniss seines Ausseren verschafft uns schon leichter sein Anblick in den zoologischen Gärten und in den eingefriedigten Thiergärten oder Parks, obschon das Thier uns hier gleichsam aus zweiter Hand und nicht in der Urwüchsigkeit seines fessellosen Freilebens entgegentritt. Der ausgewachsene Edelhirsch misst vom Fuss bis zur Schulter 1,15 bis 1,55 Meter; seine Leibeslänge von der Nase bis zum After oder Waid- loche beträgt 1,65 bis 1,3 Meter bei einem Gewichte von durchschnittlich 150 Kilogr. vor dem Aufbruch oder mit den Eingeweiden. Das weib- liche Thier, Altthier, Stück Wild ist merklich kleiner und bei weitem keine so stolze Erscheinung wie der Hirsch. Dieser ist auf dem Widerrist etwas aufgebaut, sodass er daselbst höher steht als im Kreuz. Sein Vordertheil wächst sozusagen noch durch den langen, schlanken, nach hinten bogig getragenen Hals und das von Jahr zu Jahr immer mehr sich ver- zweigende Geweih, das er beim Durchbrechen des Gehölzes fast wagrecht über den Rücken legt, das er aber im Kampfe mit andern, oder, wenn er einen Hund oder Menschen begehrt (anfällt), zur Erde senkt. Der Kopf ist schön und ausdrucksvoll geformt, indem er, hinten und in der Stirne stark und breit, nach vorn sich länglich verjüngt und in einer zierlichen schwärzlichen Nase und einem feinen Maule oder dem Geäse endigt. Die Ohren, das Gehör oder die Lauscher, sind gestreckt, bis 26 cm lang. Die Beine oder Läufe erscheinen bei aller Muskelstärke schlank, seitlich zusammengedrückt und hoch und tragen einen ebenmässigen Leib, der in der Brust breit, in den Rippen gut gewölbt und gegen das Hintertheil oder die Keulen eingezogen erscheint, während die letzteren ein stark heraus- tretendes Kreuz besitzen. Der Schwanz oder Wedel ist etwas kürzer als die Lauscher, bis 22 cm lang und kegelförmig gestaltet. Das Edelwild bekommt im Spätherbst auf der Haut oder Decke ein kurzes schmutzig- graues Wollhaar mit bräunlichen Spitzen, die Wolle, über der das eigent- liche Haar in längerer Bildung steht. Es härt oder verfärbt sich PIIMTOP H TOSSC) LOYOST I YLaIsuy Isnuy Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 397 zweimal im Jahre, im September und October und im April und Mai. Man nennt diese Epoche die Färbezeit. Das Sommerkleid entsteht nach dem Ausfallen der eben beschriebenen Winterhaare und Wolle und ist in der Hauptfärbung ein Rothbraun, wovon das Wild auch den Namen Rothwild trägt. Die Sommerbehaarung ist viel kürzer, glänzender und steht dünner als die Winterhaare, entbehrt auch der Wolle. Nach Geschlecht, Alter und wohl auch nach Individualität ändert die Sommerfärbung sowohl als das Winterkleid, das in's Dunkelgraubraune übergeht. Vielfach ist der Hirsch dunkler gefärbt als das Thier, namentlich schon mit Beginn der Brunft; auch die jungen Thiere und Hirsche sind gewöhnlich dunkler als älteres Wild. Es kommen hauptsächlich beim Edelwilde zwei Farbenspiele vor. Die gewöhnliche Färbung zur Sommerzeit ist die hellere oder gelblich- braune; daneben erscheinen in einer und derselben Wildbahn (Gehege) und unter anders gefärbten gerudelt auch die etwas dunkler rothbraunen oder brandrothen Hirsche. Die Letzteren haben meist einen dunkelbraunen Streifen vom Nacken über den Rückgrat bis zum Wedel hin. Zu beiden Seiten um den unten gelbröthlich, oben Sommers rothbraun, Winters dunkel- grau gefärbten Wedel trägt das Edelwild einen gelbröthlichen Fleck, den man waidmännisch bald Schild, bald Scheibe, bald Spiegel nennt. Der Bauch und die Innenseite der Läufe sind jederzeit heller gefärbt und die Stirne mit dem Oberkopf und den Wangen gewöhnlich grau. Unter den Mundwinkeln an den Lippen des Unterkiefers befindet sich beiderseits ein kleiner schwarzer Streifen. Manchmal, aber selten, kommen Varietäten in der Färbung vor, wie gescheckte, solche mit weisser Blässe, gelblieh-weisse, silbergraue und ganz weisse, welch letztere theils unvollkommene, theils voll- kommene Albinos, in letzterem Falle mit rothen Augen oder Lichtern, hellgefärbter Nase und hellem Fusse sind. Dieser ist zweispaltig. Die beiden regelmässig schwarzen Theile des gespaltenen Hufes werden in der Jägersprache Schalen genannt. An der Rückseite der Läufe, etwa 6 bis 35 em von den Schalen aufwärts am Fussgelenk, zeigen sich die Afterklauen oder Ober- rücken, kleinere, nahe gegenüberstehende, schwarze, mehr oder weniger abgestumpft-ovale Klauen. Die oben erwähnten Thränengruben treten beim Rothwilde sehr hervor. Es lässt sich denken, dass ein den Jäger so überaus fesselndes Wald- thier zu einer besonderen Beachtung und Betrachtung Anlass gegeben hat. Und in der That! jeder Theil unseres Edelwildes hat seine eigene Benennung, so wie denn über sein Wesen und seinen Wandel die Waidmannssprache ihre Sonderheit und Fülle ausgegossen. Wir können und mögen dieser nicht vorübergehen, im Gegentheil, wir gebrauchen sie und suchen sie zu erhalten kraft ihrer kernigen, ja poetischen Ausdrucksweise. Ist sie doch deutschen Ursprungs und deutscher, ebenso frischer und kräftiger als sinniger An- schauungsweise entsprossen. 398 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. Nicht allein, dass das Edelwild sich vor dem Menschen in den tiefsten Schatten zusammenhängender, meist mässig hoher Gebirgs-Wälder, vorzüg- lich der Laubwälder, zurückzieht, sondern sein Wandel ist auch vorzugsweise ein dem Tag sich entziehender, nächtlicher. Hier in der urheimlichen Waldesstille, in tiefer, entlegener Dickung, entsteht von Mitte Mai bis m den Juni hinein die Nachkommenschaft des Edelwildes, von dem Altthier gesetzt, em Kalb, seltener zwei an Zahl. Ist es ein männliches, wird es Hirschkalb genannt, ist es ein weibliches, heisst es Wildkalb. Vom December an wird das letztere em Schmalthier, das Hirschkalb hingegen en Schmal-Spiesser. Das Schmalthier ist fertig, wenn es bei der nächsten Brunft oder Begattungszeit fruchtbar wird; nach der Befruchtung oder Aufnahme heisst es beschlagenes, später hoch- beschlagenes Altthier, hat es jedoch nicht aufgenommen, G elt- thier. Der Schmal-Spiesser behält seine Benennung bis zum Aufsetzen seiner zwischen 10 bis 30 cm langen, fast geraden Spiesse, wodurch er ein Spiesser wird. Die weiblichen Thiere, im Gegensatz zu dem ge- weihten Hirsche auch das Kahlwild genannt, sind mit dem dritten Jahre gewöhnlich ausgewachsen; die Hirsche aber nehmen an Leib und an Stärke der Gehörne noch bis zum achten Jahre zu und können ein Alter von dreissig und mehr Jahren erreichen. In den ersten paar Monaten, bis in den September hinein, sind die Kälbehen auf rothbrauner Grundfarbe des Leibes weisslich-gelb gefleckt und werden von der Mutter anfangs sehr verborgen gehalten, sorgsam ge- säugt und bewacht und gegen Raubthiere muthig durch Schnellen mit den Vorderläufen vertheidigt. Nach acht Tagen folgen die munteren, zier- lichen Kälbehen schon dem sie durch eigenthümlich leises wie „öhe“ oder „ahe“ lautendes näselndes Aechzen herbeilockenden Thiere auf nahe Lich- tungen und Blössen, später immer weiter zur Weide oder Asung auf Schneisen, Wiesen und Felder. Zur Zeit seiner ersten Kindheit zieht das Kälbehen mit dem Thiere allein von und zu Holz oder aus dem Walde und in denselben wieder zurück; später gegen den Nachsommer hin gesellen oder rudeln sich zu der kleinen Familie andere Altthiere mit Kälbern, Geltthiere und Schmalthiere, auch schwächere Hirsche, wie Spiesser, Gabler und Sechsender. Unter der Führung eines erfahrenen Altthiers zieht nun in der Dämmerung Morgens vor Sonnenaufgang und Abends spät nach Sonnenuntergang, selten bei Tage, das Rudel von oder zu Holz auf die Asung oder von derselben. Es äst sich nach dem Heraustreten aus dem Holze dann bis spät in die Nacht, thut sich dann gewöhnlich nach reichlicher Asung in der Nähe nieder, um wiederzukauen und vor dem Morgengrauen bis zum Tagesanbruche wieder Äsung aufzunehmen. Wo es ungestört bleibt, tritt es hingegen früher des Abends auf die Asung und verweilt auf derselben auch später in den Morgen hinein. Meist folgt dem vorderen Altthier oder Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 399 Kopfthier, vertraut oder durch nichts gestört, in regelmässiger Reihe, ein Altthier um das andere mit seinem Kalbe oder Schmalthiere, während die Hirsche den Schluss des Zuges bilden. Übrigens ziehen die Altthiere nicht zu jeder Zeit voran. Je näher der Setzzeit, also Ende April bis in den Mai hinein, desto mehr halten sich bei Rudeln Kahlwild die Altthiere zurück. In der Regel sieht man die Schmalthiere dann am Kopf des Rudels ziehen, während die hochbeschlagenen (trächtigen) Altthiere zurückbleiben, bis sie sich nach und nach vom Rudel ganz entfernen, um in einer heimlichen Diekung zu setzen. Als Wiederkäuer äst das Edelwild nur Stoffe aus dem Pflanzenreich, so das Kraut, die Halmen, die Stengel, die Blüthen und die Körner aller Feldfrüchte, vorzüglich Wicken, Klee und Hafer, Knollengewächse, wie Kartoffeln, die es mit den Vorderläufen heraus- schlägt, Kohlraben, Diekwurz und Rüben, die Knospen und jungen Triebe der Holzpflanzen; ferner Waldfrüchte, wie Eicheln und Bucheln, wilde Kastanien, das Obst, namentlich Wildbirne und Apfel, auch die Beeren der Eberesche und des Mehlbaums; gerne aber schält es auch die Rinde von Weichholz, wie Weiden und Aspen, auch von Eschen, Ahornen, Buchen, Eichen, Kiefern, Fichten und andern Waldbäumen, wodurch dies Wild der Feld- und Waldwirthschaft schädlich wird. Doch ist das Schälen der Wald- bäume bisweilen örtliche Gewohnheit und Folge mangelnder besserer Asung. Meist sehr vorsichtig tritt das Rothwild bei starker Dämmerung oder erst in der Dunkelheit an den Rand des Holzes und sodann in einzelnen Stücken und zögernd, das den Kopf des Rudels führende Kopfthier voran, in’s Freie. Vorsichtig und schlau wie das Wild, ist sprüchwörtlich. Wird es aber geschont und in Ruhe gelassen, so trollt (trabt) es vertraut auf seinen Wechseln zur Abendäsung. Ganz anders ist sein Verhalten beim Zu-Holz-Ziehen nach der Asung oder das Zurückwechseln von der ersten Morgendämmerung an bis zum Sonnenaufgang, welches behagliche vertraute, durch öfteres Verweilen an verschiedenen Stellen verzögerte Ziehen vom Waidmanne bezeichnend der Kirchgang genannt wird. Bei diesem auf der Frühpürsche (Schleichen am Morgen) oder auf dem Ansitze kann man es am ehesten erlegen. Wo es oft beunruhigt wird, ist es zu jeder Zeit scheu und wachsam. Alle paar Schritte steht es dann still und horcht oder lauscht mit den aufgereckten Lauschern, wittert mit der hochgehobenen Nase und äugt mit den stets klaren, aufmerksamen Lichtern. Dieses Aufmerken des Wildes mit allen diesen Sinnen bezeichnet der Jäger auch durch den Ausdruck Sichern oder Verhoffen. Das leiseste Geräusch vernimmt oder vermerkt es, die geringste Bewegung eines ungewohnten Gegenstandes gewahrt und äugt es, und der schwächste Windzug führt ihm die Witterung des Feindes durch Winden zu. Bis- weilen schreckt es bei einer plötzlichen ungewohnten Erscheinung, namentlich dann, wenn es dieselbe nicht recht erkannt hat, mit kurz abge- 400 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. stossenen plärrenden Lauten. Nur mit solchen bewunderungswürdig scharfen "Sinnen begabt, konnte sich das Edelwild bis hierher den vielen unablässigen Nachstellungen gegenüber noch in so manchen Gegenden unseres Vater- landes erhalten. Aber neben seiner ungemeinen Wachsamkeit und Vorsicht beschützt es auch seine dunkle Heimath, der ausgedehnte, abgeschiedene Wald, in dessen Forst noch der schonende Sinn des Forst- und Waidmannes über das stolzeste Thiergebilde unserer Fauna waltet. So viel auch hin und wieder im September und October der durch den Begattungstrieb oder die Brunft erregte Hirsch von Waldort zu Waldort traben und wechseln mag; immer wieder. kehrt er zu der liebgewordenen Waldgegend zurück, wo er vertraut im Holze seinen Wechsel (Gang) hält, seinen Stand (Aufenthalt) nimmt und in den Dickichten sich steckt oder verbirgt. Von der Brunftzeit an haben sich die mittelstarken Hirsche an das gesellige Zusammenrudeln mit Thieren gewöhnt, und man sieht sie unter den letzteren und deren Schmalthieren und Kälbern den ganzen Spätherbst und namentlich in schnneereichen Wintern noch in starken Rudeln von 15 bis 80 und mehr Stücken zusammen. Stärkere Hirsche gehen aber auch schon um diese Zeit von den Rudeln ab und rudeln sich gerne mit ihresgleichen. Jetzt bei tiefem Schnee und strenger Kälte steht das Rothwild in starken hudeln gern an Südhängen unter Wind (geschützt) und wechselt aus dem Innern der Gebirgswaldungen in die Vorhölzer zunächst der Winter- fruchtfelder. Nun ist für den sorglichen Waidmann die Zeit zur Fütterung für das Wild gekommen. Im Allgemeinen kann man der Noth desselben schon sehr durch Fällung von Weichhölzern begegnen. Insbesondere empfiehlt sich aber die Fütterung auf natürlich überdachten Raufen und in Krippen mit gutem Heu, Hafer, Wildkastanien, Eicheln, Bucheln, Rüben, Diekwurz und Kohlraben. Unterlässt man diese Vorsorge auf geeigneten Futterplätzen so stellt sich nach sehr sehneereichen Wintern bei plötzlichem Thauwetter im Frühlinge unter dem Wilde Durchfall oder die Ruhr ein, weil es zu ungestüm und reichlich alsdann das grüne Geäse (Nahrung) angeht. In einer geordneten Wildbahn ist aber eine sorgliche Winterfütterung Regel, und gerne ordnet diese jeder thierliebende Waidmann seinem Lieblings- wilde an. Der capitale Hirsch wirft meist schon im Februar sein Geweih ab, während der Abwurf der mittelstarken und geringen Hirsche im März, der der Spiesser und Gabler noch später erfolgt. Sobald die Geweihe ab- geworfen sind, trennen sich auch die übrigen Hirsche von den Rudeln. Im Sommer wieder rudeln sich die schwächeren mit den mittelstarken Hirschen bis zur Brunft zusammen. Der starke Hirsch hingegen hält sich still und verborgen, seinen einsamen Wechsel ziehend, in den abgeschiedensten Wald- winkeln. Von der Kolbenzeit an hat er sich als wahrer Einsiedler, welchen Namen ihm die Waidmannssprache bezeichnend beilegt, wie alle Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 401 andern Hirsche, völlig isolirt. Seine im Entstehen und Entfalten begriffene und darum sehr empfindliche und leicht verletzbare Kopfzierde vor starken Berührungen hütend, steht er äusserst heimlich auf einsamen Höhen über tiefen Schluchten und Hängen, sogar in Orten, wo man ihn gar nicht ver- muthet, in kleinen Waldköpfen mitten in Aussenfeldern. Von dort zieht er zur Schonung seiner Kolben meist auf Waldwegen und Holzpfäden oder durch räumliche Schläge sehr spät in der Nacht zur Asung, um vor oder in der ersten Morgendämmerung wieder zurückzuwechseln. Erst wenn er den abgestorbenen Bast, das Gefege, von seinem ausgereckten oder vereckten Geweih reibt, wird er dem aufmerksamen Auge und Ohre wieder bemerkbar. Ofters hört man das Schlagen der Geweihstangen beim Zu-. holzziehen, ohne dass man den Hirsch selbst vor der Dunkelheit im Holze sieht. Viele Stangen und starkes Gebüsch tragen die Spuren seines Fegens und später die Eindrücke seines Schlagens oder die sogen. Himmelsspur, und es bildet einmal die Höhe, , bis zu welcher hinauf, zum Andern die Dicke der Stangen, woran der Unsichtbare das Geweih gefegt (gerieben) oder angeschlagen hat, dem Kundigen einen Anhaltspunkt zum An- sprechen (Schätzen) der Stärke (Grösse) des Hirsches. Einige Waid- männer nennen auch das Merkmal Himmelsspur oder das Wenden, wo der Hirsch mit dem Geweih Blätter umgedreht und abgestreift oder Zweige und Astchen abgebrochen hat. Noch sicherer spricht man den starken Hirsch an in seiner im weichen Boden oder Schnee zurückgelassenen Fährte (Spur). Hier unterscheidet der hirsch- oder fährtengerechte (kundige) Jäger nämlich Hauptzeichen in der Fährte seines hochinte- ressanten Einsiedlers. Von diesen Hauptzeichen ist nun natürlicherweise das erste die auffällige Stärke der Fährte; dann folgt, dieser gemäss, die Weite des Schrittes; ferner als drittes Hauptzeichen, die Form der Fährte anlangend, die starken Ballen oder der breite und tiefe Eindruck der hinteren gewölbten Theile der beiden Schalen, sowie das Zeichen der stumpfen Schalen oder die Stümpfe gegenüber den schmaleren, zugespitzten der Thiere. Schon ganz geringe Hirsche zeigen stärkere Ballen, als Altthiere. Die herzförmige Figur, sowie die Tiefe der Ballen in der Fährte sind ein ebenso massgebendes Hauptzeichen, wie die stumpfen Schalen, zu welchen sich im steinigen Boden der ohnedies vorn rundere Fuss des starken Hirsches bald abnutzt. Zieht die Fährte in sehr weichem, tiefem Boden hin, so gesellt sich zu dem Merkmal der Stümpfe auch noch das der breiten, stumpfen Oberrücken. Der Schrank oder das Schränken bekundet sich dadurch, dass der Hirsch die Schalen seiner Läufe nicht regelmässig in gerader Richtung vor einander setzt, sondern mit der Fährte hin und her schwankt, wie etwa so. °."... Trächtige oder hochbeschlagene Thiere schränken jedoch gleichfalls, und es muss daher neben diesem Zeichen noch die Stärke der Fährte an sich geprüft werden, ob sie A. u. K. Müller, Thiere der Heimath. 26 i 402 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. von einem Hirsche herrühre. Dem Schränken verwandt ist der Bei-Tritt, welchen oft der starke Hirsch erzeugt dadurch, dass er die hinteren Schalen neben die Fährte der vorderen (stärkeren) eindrückt. Beim Zurück- bleiben oder Hinterlassen setzt er hingegen die schwächere Fährte des Hinterlaufs hinter die stärkere des Vorderlaufs. Das Hauptzeichen, der Burgstall, verräth den starken Hirsch sichtlich, indem es den Ab- druck des ausgehöhlten Fusses in einer runden confexen Erdwölbung oder Erhabenheit in der Fährte deutlich wiedergibt. Feinerem, eingeweihtem Blicke sichtlich ist auch der starke Zwang oder das Zwingen, d.ı. der Abdruck der gewöhnlich vom Hirsche beim Schritte mehr als vom Thiere geschlossen gehaltenen Schalen, wodurch deren Spitzen Erde oder Schnee vorn in der Fährte zu einem schmalen Rändchen aufziehen. Man hat waid- männischer Seits noch viel mehr solcher Zeichen aufgestellt; diese sind aber so spitzfindiger und auch unzuverlässiger Natur, dass sie in der neueren Jägerpraxis längst fallen gelassen wurden und nicht erwähnenswerth sind. Wir beschränken uns also auf die vorerwähnten, beim Ansprechen auch wirklich massgebenden. Von besserer Bedeutung für das Ansprechen ist noch die abweichende Art und Weise, wie Hirsch und Thier nässt oder den Urin lässt. Ersterer nässt stets zwischen die regelmässig vor ein- ander eingedrückte Fährte, während das Thier dies zwischen und in die neben einander stehende Fährte thut. Mit Beginn des Augustmonates hat der starke Edelhirsch, der schwächere erst Mitte August gewöhnlich ausgefegt und wird feist (fett), indem die seither vorzugsweise auf die Geweihbildung verwendeten Nahrungssäfte jetzt auch dem Leibe zu gut kommen. Regelmässig wechselt er auf die Felder, wo ihm der Segen der Sommerfrüchte entgegenlacht. Weidlich nimmt er nun die Haferflur an, deren reifende Rispen er äst. Tags über sitzt er in semem Bett (Lager) in einsamer Dickung, gewöhnlich auf der Höhe eines Bergrückens oder an einem Abhang, den Kopf stets zu Thal gerichtet, und pflegt der Ruhe im Wiederkauen und Verdauen. Nur die Dämmerung bewegt ihn aufzustehen und nach der Asung zu wechseln oder eine ihm von sorgsamer Jägerhand angelegte Sulze oder Salzlecke (eine mit Holzrahmen umgebene Mischung von Lehm und Salz) anzunehmen oder zu belecken. Oder er suhlt sich (kühlt sich) in Sumpf, Pfützen und Lachen. Da wälzt er sich behaglich im Schlamm und reibt diesen dann an den nahen Stämmen, den Mahlbäumen, wieder ab. Aber nur äusserst selten gewahrt ihn der Waidmann bei Tage an solchen Orten: denn sein Wandel ist immer noch ein geheimer, und der vorherrschende Zug seines Wesens ist Phlegma. Wohl aber verräth er seinen Stand jetzt auch durch seine ausgeprägte Losung (Koth), welche sich in zusammengeballten, fettig- glänzenden, von schleimiger Masse umgebenen Klumpen kundgibt, ab- weichend von den mehr losen, bald eiförmigen, bald rundlichen fingerdicken 7weihufer. Ruminantia sive Biseula. 403 und gliedslangen Excrementen der Thiere und schwachen Hirsche. In diesem Lungerleben des Hochsommers strotzt denn sein Körper von Feist und Talg, dieses in dem Innern seines Leibes, jenes zwischen Wildpret (Fleisch) und der Decke oder der Haut. So geht oder tritt der Hirsch allmälig gut oder stark von Leib in die Brunft. Diese beginnt mit Eintritt des September. Jetzt unter der Regung dieses gewaltigen Triebes verwandelt sich Wesen und Wandel des seither in Zurückgezogenheit nur behaglicher Ruhe und Leibespflege hingegebenen Waldbewohners nicht wenig. Er tritt unruhig aus senem Einsiedlerleben heraus. Mit der Nase an der Erde trollt er dahin und sucht selbst bei Tage die Gesellschaft der T'hiere, welche ‚er nach und nach zu einem mehr oder weniger zahlreichen Rudel zusammen treibt. Auch seine Genossinnen bezwingt die beginnende Brunft, und sie versammeln sich bald willig um den starken Allemherrscher, nachdem sie ihre Kälber abgetrieben oder von sich weggejagt haben. Der Hirsch wählt sich mit dem nee jetzt einen lichten Holzschlag, eine Trift, eine Wiese oder eine freie Waldblösse, den Brunftplatz oder Brunft- plan. Das ist der Tummelplatz, der oft wie eine Reitbahn zerplätzt oder zertreten wird. Denn hier trabt er unablässig, mit kurz abgebrochener, halblauter Stimme trenzend um das zusammengetriebene Rudel, oder er stampft und scharrt oder plätzt vor Wuth und Übermuth in den Boden. Mit zunehmender Brunft erwacht die Eifersucht des Platzhirsches gegen Nebenbuhler. Die schwächeren Hirsche bis herab zu den Gablern und Spiessern hat er bereits abgetrieben oder auch abgekämpft, und diese halten sich abseits und en vom Plan und ah Rudel, A unter sich oder hin und wieder mit einigen Thieren schwächere Rudel bildend. Auch hält sich in der Nähe des zusammengetriebenen Rudels bis- weilen noch ein gegenüber dem Platzhirsch zwar schwächerer, aber an sich doch starker, jagdbarer Hirsch, der mit den andern abgekämpften geringeren, den „Schneidern“, die Benennung Beihirsch, auch Umgänger, trägt. Immer heftiger regt sich in dem Beherrscher des Planes ie ne Sk. treibende Brunft. Bald scherzt oder schlägt er vor Übermuth und in dem sicheren Gefühle der Alleinherrschaft auf dem Platze Wimpel, indem er an Maulfwurfshaufen die Erde oder Gras und Moos mit dem Geweih in die Höhe schleudert. Bis zu Ende des September steigt seine Erregtheit, und jetzt gibt er seinem unbändigen Gefühle durch Schreien oder Orgeln Aus- druck. Allabendlich in der Dämmerung und nächtlich lässt er sich ihalkaı wie ein ergrimmter Bullen — etwa in den Lauten „oh oh oah — oh, oh, oh“ — hören, und von der Anstrengung des Schreiens schwillt sein langbehaarter, schwärz- licher Hals kropfartig an. Sein Bauch färbt sich ebenfalls vor der Brunft- ruthe (Geschlechstheil) schwarz mit dem Brunftbrand. Immer erregter schreit er, und erregt antwortet ihm hier und da ein Nebenbuhler, je nach seiner Stärke in höheren oder tieferen Tönen. Erbost stampft er den Boden, 26* 404 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. plätzt oder schlägt hier Wimpel, dort mit dem Geweih wider Gebüsch und Stangen, um auf’s Neue die hohle Stimme der Eifersucht erschallen zu lassen. Näher und näher rückt die Antwort seines unsichtbaren Gegners, und stets heftiger ertönt der donnernde, echoweckende Schrei des Platzhirsches, sobald das Brunft-Concert mit einem starken ebenbürtigen Rivalen ange- hoben, der dann in gleicher oder ähnlicher Stärke und Tiefe orgelt. Endlich bricht der Nebenbuhler aus einem nahen Dickichte in’s Lichte, oder der ihn Erwartende gewahrt denselben und rennt ihm voller Kampfeslust entgegen. Jetzt setzt's erbitterten Kampf zwischen den beiden Riesen des Waldes, der um so länger und heftiger anhält, je ebenbürtiger sich die Kämpfenden sind. Wie bei einer lustigen Turnei des Mittelalters die Speere der Ritter an den Schilden, so klappern die Geweihe hell aneinander bei dem wuchtigen An- prall der Kämpen, und neugierig und schaulustig äugt das umstehende Rudel darein. Ein Gegner sucht den andern von der Seite zu forkeln oder zu spiessen. Vielfach endigt der Kampf mit dem Flüchtig- werden des schwächeren Hirsches, dem der Sieger eine Strecke nachrennt und dann, stehen bleibend, emige kurzabgebrochene verächtliche Brunftlaute nachsendet; manchmal aber auch mit dem Tode des Besiegten, der, mit den durch das ewige Schlagen geschärften Enden geforkelt, tief im den Leib gespiesst wird. Oder es verkämpfen (verrennen) sich die Ergrimmten gegenseitig so in die Enden ihrer Geweihe, dass sie nicht mehr von ein- ander loszukommen vermögen und kümmerlich verenden (sterben) müssen. Zuweilen auch knallt die Büchse des herangepürschten Waidmanns aus dem Hintergrunde, und einer der Kämpfenden stürzt, von der Kugel getroffen, zusammen oder rennt, das tödtende Blei auf dem Blatte (die Stelle zwi- schen den Rippen und den Vorderläufen) im Todeskampfe noch eine Strecke waldeinwärts. Mit dem Pürsch- oder Schweisshunde am Hetz- riemen folgt dann der Jäger über eine Weile auf dem Schweissgang (Blutspur) des angeschossenen Hirsches, und der fein witternde Hund führt den glücklichen Waidmann endlich zu dem Verstecke, wo der Hirsch zu- sammengebrochen und verendet liegt. Das Fleisch oder Wildpret ist schmackhaft und gesund; nur in der Brunftzeit nimmt es einen etwas hervortretenden Beigeschmaek an. Aus der Haut des Sommers wird das dicke und zugleich zarte Wild- oder Hirsch- leder bereitet, während die Winterhaut mit den Haaren zu Fuss- und Schlit- tendecken verwendbar ist. Die im Alter oft dunkelbraunen oder schwarzen Haken oder Gräne aus dem Oberkiefer des Hirsches und der Altthiere dienen dem Jäger und Naturfreunde als Schmuck in Form von kleinen, in Silber gefassten Knöpfen an Westen oder an Uhrgehängen. Aber das Gewicht prangt bald hier als vielbewundertes Gebilde prachtvoller Naturkraft in den stattlichen Sammlungen fürstlicher Jagdschlösser, bald dort als charak- teristische Zierde auf den Firsten oder über den Thüren der einsamen Förster- Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 405 wohnungen, hier wieder an den Stubenwänden des Waidmannes als stolzeste Trophäe zur Erinnerung an die unvergessliche Jagd auf das edelste und schlaueste Wild unserer heimischen Wälder. Sippe Elen oder Elch. Alces. Diese Sippe umfasst unser Elehwild und nach Einigen das für eine be- sondere Art gehaltene amerikanische Mosthier oder Orignal. Die Elche sind die Riesen der Hirschfamilie, stämmige, plumpe, hochläufige Hirschgestalten. Das den männlichen Individuen nur eigene Geweih ist ein gleich über der Rose sich seitwärts verzweigendes breites oder „weit ausgelegtes“ schaufel- artiges mit fingerförmig ausgeschnittenen Zacken oder Zinken — „Enden“ — ohne Augen- und Mittelsprossen. Die Thränengruben, sowie die Eck- zähne mangeln. Der Kopf ist gross und schwer, hat kleine Augen und eine überhängende Oberlippe. Ferner zeichnen sich aus an beiden Geschlechtern ein mit langen Haaren versehener Kehlbeutel, der „Bart“, ein vom Kopf bis zum Widerrist gehendes mähnenartiges Haar, sowie die tiefgespaltenen mit einer Spannhaut versebenen Füsse. Das Elehwild. Cervus Alces. s. A. jubata. An die äusserste Grenze unseres Vaterlandes, in das Delta, welches die Memel mit ihren Mündungsverzweigungen, dem Russ- und Gilgestrom und dem Kurischen Haff bildet, in das Preussische Litthauen muss der Leser wandern, um die letzten Reste des Riesen der Hirschfamilie kennen zu lernen. Dort lebt noch der Elch. Es ist der „grimme Schelk“, den das Nibelungen- lied erwähnt. Einstmals über ganz Germanien, Ungarn, Illyrien und die Niederschweiz verbreitet, ist er, wie alle T'hiere mit verheerender Lebens- weise, von der fortschreitenden Cultur, der Entsumpfung und Auslichtung der Wälder und dadurch, dass er den Verfolgungen des Menschen nicht so zu entgehen weiss, wie z. B. das Edelwild, immer mehr zurückgewichen, und stehen seine letzten Vertreter auf dem kleinen Fleckchen forstlicher Erde, wohin das Geräusch der Verkehrswelt noch nicht hingedrungen und höchstens die Axt des Hinterwälders zur Winterzeit die tiefe Stille der wasserreichen und moorigen Niederungen unterbricht. Da wir das Elehwild im Freien nie zu beobachten Gelegenheit hatten, so lassen wir Andere darüber sprechen, gehen aber zu den zuverlässigsten neuesten Quellen. Das Ibenhorster Revier gibt dessen Verwalter, Oberförster Ulrich, in der „Zeitschrift für Forst- und Jagdwesen“ von Dankelmann im 18. Band des Jahrganges 1872 als den Lieblingsaufenthalt des Elchwildes seit langen Zeiten an und beweist dies aus dem Umstande, dass in allen Tiefen des dortigen Moorbodens (Niederwald) abgeworfene Elchstangen gefunden wür- den. Dies Revier hat eine Grösse von 13830 Hectar, und das Schongehege, worin hauptsächlich das Elchwild steht, nimmt mit dem grossen Moor zwi- 406 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. schen dem Wald und dem kurischen Haff eine Fläche von 3498 Hectar ein. Das mit dem Gehege zusammenhängende Moor, 1530 Hectar haltend, stösst mit seiner Moor- und Torf-Vegetation in seiner grössten Länge von 6 Kilo- meter mit dem Walde, der sog. Kiehnhaide, zusammen. Diese bildet, vom Moore sich scharf abgrenzend, eine ziemlich steilsich erhebende sandige Hügel- ‚reihe, welche sich allmälig senkt und verflachend in den Wald des Moors, den Niederwald, übergeht. Die Kiehnhaide ist von der Kiefer, in ihren humoseren Partien von Kiefer und Fichte bestanden, während der torfhal- tige Moorboden Fichte und Birke aufweist. Den Boden der trockneren san- digen Hügelkuppen der Kiehnhaide überzieht die Rennthierflechte, weiter hinab die Preussel- und Heidelbeere, der humosere, feuchte Sand zeigt die Farrenkräuter in üppigstem Überzug, über noch humoseren Strecken ver- breiten sich Himbeeren und Brombeeren, abwechselnd mit der mannshohen Nessel — Urtica dioica. Dieser Reviertheil von 570 Hectar Grösse ist an der Grenze des Niederwaldes nur unbedeutenden Ueberschwemmungen ausge- setzt und dient bei der Ueberschwemmung des moorigen Niederwaldes dem sesammten Wilde als Zufluchtsstättee Der Niederwald enthält bruchigen Moorboden mit einer ausgeprägten Sumpfflora unter meist lückigem, von Birken und Eschen durchsprengtem Erlenbestande. Überall in den Lichtungen des Erlenwaldes überwuchert den Boden, neben ausgetorften Werftweiden- Strichen gegen Norden, Rohr und Schilf in einer Höhe, dass das Elchwild selbst in nächster Nähe nicht sichtbar, es sei denn bei seinem Ueberwechseln über Schneisen, Gräben und Canäle. Dieses Moor ist bei seiner ganz geringen Erhebung über dem mittleren Sommerwasserstand des Kurischen Haffs den Herbst- und Frühjahrs-Über- schwemmungen ausgesetzt. Es ist dann überall — wie die ganze Umgegend mit den Ortschaften — nur mit Kähnen allein passirbar. Selbst von den nicht selten stattfindenden Überschwemmungen im Sommer wird der Nieder- wald heimgesucht, und das so beunruhigte Elchwild flüchtet bei solchen urplötzlich eintretenden Naturereignissen auf die sogen. Schwimmerden oder Kaupen, durch die Anhäufung von Vegetations - Generationen entstandene Moorinseln, sobald es in die Kiehnhaide nicht mehr überwechseln kann. In diese entlegene Zufluchtsstätte, eine vom Elchwild stets bevorzugte einsame Moorgegend, haben sich die letzten Reste dieser Wildart vor der überall andrängenden Bodencultur und den menschlichen Nachstellungen zurückgezogen. Als Standwild soll das Elehwild in Russland auch nur noch in der bekannten Bialowiecer Haide neben den letzten Auerochsen unter besonderem Schutze der dortigen Forstverwaltung vorkommen. Im östliche- ren Russland sowohl, als in Skandinavien ist sein Vorkommen nur noch ein vereinzeltes, und so bilden die einzigen Elchwildstände nur noch die beiden erwähnten Striche in Preussen und Russland. Die deutschen Renennungen des Wildes sind nach von Wangenheim Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 407 und Bujack: Elch. Max Rosenhain bezieht mit Recht die in der Strophe des Nibelungenliedes vorkommenden beiden Benennungen, nämlich „elch“ auf das Thier, den „grimmen scheleh“ aber auf den wilden Hirsch in der Brunft. Die griechische Benennung «@/yn (Stärke) sowohl, als die römischen achlis und machlis sind nichts anderes als Beugungen und Um- bildungen der altgermanischen Benennungen Achl, Echl — Eleh, welche Stärke bedeuten; während die Namen „Elend“ und „Elent“ gewiss aber- gläubischen Ansichten entstammen, dass das Wild an der Fallsucht leide. Es ist gewiss natürlich, wenn den deutschen Naturforscher, Naturfreund und Waidmann dies im Aussterben begriffene altgermanische Wild, das unsere Urväter jagten, lebhaft interessirt, und wenn wir, demselben Zuge folgend, sein Wesen und seinen Wandel an der Hand der zuverlässigsten neueren Beobachter ausführlich schildern. Das Elchwild ist unter der Hirschfamilie die grösseste Art. Die Masse der stärksten in Ibenhorst erlegten Elchhirsche gibt Ulrich folgendermassen an. Von der Spitze der Schalen des Vorderlaufs bis zur Mitte des Wider- ristes 2,08 bis 2,11 Meter. Die hintere Höhe des vorn aufgebauten Elch- hirsches, nämlich von der Spitze der Schalen des Hinterlaufs bis in die Mitte des Hinterziemers (Kreuz) beträgt 5,23 — 7,55 cm weniger, als die vordere Höhe. Die Länge des Hirsches vom Ende der Oberlippe über Kopf, Hals, Rücken bis zur Spitze des Wedels — 2,75—2,97 Meter. Das Elchthier ist durchschnittlich 16 cm niedriger, als der ausgewachsene Hirsch und nur 2,45 Meter lang. Das Gewicht eines starken Elchhirsches beträgt nach v. Wangenheim und Bujak durchschnittlich ohne Aufbruch — 265 bis 280 Kler. In der Brunftzeit gewogene starke Hirsche des Ibenhorster Reviers ergaben ein Durchschnittsgewicht von 860 — 370 Klgr. ohne Auf- bruch. Das höchste Gewicht der in Litthauen vorkommenden Elchhirsche in der Feistzeit gibt Krüger, der Amtsvorgänger Ulrichs, auf 400 Klgr. an. Das ausgewachsene Thier hat nach v. Wangenheim’s Angaben nur em Durchschnittsgewicht nach dem Aufbruch von 223 Klegr. „Natürlich“ — berichtet Ulrich — „ist das Wachsthum des Elchwildes von den mehr oder weniger günstigen Ernährungs-Verhältnissen in der Zeit der körperlichen Ausbildung abhängig. Besonders entscheidend aber ist der Einfluss des Alters der Elchthiere auf das Wachsthum ihrer Kälber, und der Umstand, ob die Mutter nur ein Kalb, oder zwei, oder gar drei Kälber in demselben Jahre gesetzt hat. Kälber von jungen Thieren sind schwächer als von Thieren, die schon vollständig ausgewachsen sind. Die stärksten Kälber dagegen sieht man immer bei letztgedachten Thieren, wenn sie nur ein Kalb gesetzt haben. Hat ein Thier zwei Kälber, so bleiben dieselben schon etwas in der körperlichen Ausbildung zurück und wenn em Thier, wie es bisweilen vorkommt, drei Kälber setzt, so ist eins davon bedeutend schwächer, als die andern beiden.“ 408 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. „Die Dauer des Wachsthums des Elchs soll sich nach von Wangen- heim und Bujak nur bis in’s 5. Lebensjahr erstrecken; ich halte diese Dauer für viel zu gering, denn ein Elchhirschkalb wächst erst n 5 Jahren zu einem Schaufler von 8 Enden heran. Elchhirsche mit dieser Endenzahl sind aber nur geringe Hirsche, sowohl im waidmännischen Sprachgebrauch als auch nach Massgabe ihrer Grösse und ihres Gewichts. Ein Normalge- wicht erreichen erst Schaufler von 14 bis 16 Enden, und da im regelmässi- gen Verlauf der Elchhirsch, wie der Rothhirsch, jährlich 2 Enden mehr auf- setzt, so ist der Schluss wohl berechtigt, dass das Wachsthum des Elch- wildes wenigstens 8 bis 9 Jahre dauert.“ „Der Körper des Elchs ist kurz gebaut, mit grossem Kopf, kurzem Hals, höckerartigem Widerrist; der Rückgrat senkt sich nach der Mitte zu ziem- lich stark; die Brust ist breit, das Hintertheil viel schlanker und spitzer als das Vordertheil. Die Läufe sind sehr wohl proportionirt; sie erscheinen aber sehr lang, weil der Rumpf mit ihnen nicht in dem Verhältniss steht, wie meistens bei den andern Thieren, sondern bedeutend kürzer ist. Die Oberlippe ist sehr aufgetrieben und ragt ungefähr 6 cm. über die Unter- lippe hervor. Die Nasenlöcher sind langgeschlitzt und so weit, dass eine Mannsfaust hineingeht.“ Nach Hildebrandt hat der Elch im Unterkiefer 8 starke meiselförmige Schneidezähne, die in die Kerben eines im Oberkiefer befindlichen Fleischwulstes, wie bei unseren übrigen Hirschen, passen; ausser- dem die im lehrbegrifflichen Theile angegebene Anzahl Backenzähne. Die Eckzähne oder Gräne des Edelhirsches fehlen. Mundwinkel und Wangen sind imwendig behaart. „Die Lichter“ — sagt Ulrich weiter — „sind ziemlich klein, haben eine horizontale Pupille und schwarzbraune Iris; die Thränen- gruben sind sehr klein und unbedeutend, die Lauscher eirund zugespitzt 0,3 Meter lang. Es ist unrichtig, dass das Elch in der Regel die Lauscher seitwärts hängen lasse, oder schlotterig trage, wie von Wangenheim und Bujak anführen. Für gewöhnlich hält es dieselben aufrecht und straff und bringt sie sogar, wenn es einen Feind vernimmt, an der Wurzel nach Art der Pferde etwas nach vorn über. Nur in vollständigster Ruhe, wenn es bettet (sitzt) oder regnerisches oder schneeiges Wetter ist, lässt es dieselben seitwärts herunter hängen. Vom Hinterkopfe an, längs des Halses, und bis über den Widerrist steht ein mähnenartiges 13 — 18 cm langes starkes Kammhaar, das nicht, wie bei den Pferden herunterhängt, sondern für ge- wöhnlich angedrückt getragen wird, aber sobald das Wild böse ist, sich in die Höhe sträubt“ Auch der Hirsch in der Brunft stellt die Mähne, was ihm ein wildes Ansehen verleiht. Der Wedel ist schr kurz, nur 8 cm lang und mit glattem schlichtem Haar besetzt. In der Ruhe und im mässigen Trollen angedrückt tragend, richtet ihn das flüchtige Wild hoch in die Höhe. Auch das Kurzwildpret zeichnet sich nicht besonders aus, sodass es höchstens auf 50 Schritte halb von hinten gesehen werden kann. Es zeichnet sich Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 409 auch durch keinen Pinsel aus, indem die Brunftscheide wenig aus der Decke heraustritt. Das ebenfalls wenig hervortretende Feigenblatt (weibliches Ge- schlechtsglied) wird nur durch seme weissgefärbte Umgebung kenntlich, die sich als ein schmaler Streif zwischen den Hinterläufen herauf um das erstere bis zum Waidloche zieht. Beim Hirsch geht dieser weisse Strich nicht so hoch zum Waidloche. Das Gesäuge besteht aus vier Zitzen, die auch beim Hirsche rudi- mentär angedeutet sind. Als Artenkennzeichen gibt Ulrich an der inneren Ferse der Hinterläufe einen stark hervortretenden Haarbüschel an; sowie sich dann das Fesselgelenk zwischen Oberrücken und Schalen bedeutend verdicke bis zu einem Umfange von 29—30 em. Der Abstand des Eingriffs der Schalen- spitzen in der Flucht des Wildes beträgt nach Ulrich im weichem Boden 12—13 em. Die Schalenspaltung ist demnach eine viel bedeutendere als die der übrigen Hirscharten, was mit der merkwürdigen Einrichtung zusammen- hängt, dass die oberen Gelenke über 14 cm oberhalb der Schalenspitzen noch durch eine oben und unten starkbehaarte dehnsame Haut 7 cm hoch verbunden sind, welche Ulrich als Schwimmhaut anspricht. Das sogenannte Schellen, ein eigenthümliches Geklapper beim Trollen, wird durch das Wiederzusammenschlagen der im Aufsetzen sich weit auseinander gebenden Schalen beim Aufheben des entsprechenden Laufes hervorgebracht. Die Oberrücken stehen seitlich von den Ballen. Ein besonders hervortretendes Unterscheidungszeichen (Hauptzeichen) des Elchhirsches von dem Elchthiere gibt es nicht. Im Allgemeinen sollen, wie beim Fdelhirsche, in der Fährte des Hirsches die Schalen stumpfer, die Ballen stärker und die Oberrücken mehr auswärts gerichtet, die Fährte an sich kürzer und breiter sein als beim Altthiere. . Als charakteristisch für die ganze Gestaltung heben sich die weit ausgebauchten Flanken von der schwachen und niedrigen Gruppe ab, was, verbunden mit dem höheren Aufbau am Widerrist, dem Elch ein eigenthümliches Aussehen verleiht. Wegen dieses Aufbaues und der überhaupt schwerfälligeren Form seiner Gliedmassen ist das Flüchtigsein weniger anhaltend als beim Edelwilde; hingegen vermag das Elchwild ungeheuer anhaltend zu trollen. Auch über bruchigen Boden verhelfen ihm die sehr dehnsamen, tiefgespaltenen Läufe. Neben der Thatsache, dass manches Stück Elchwild in den Brüchen stecken geblieben und durch menschliche Hülfe befreit wurde, soll es sich doch bestätigt haben, dass das Elch in schwammigem Bruchboden sich zuweilen auf die Hesen der Hinterläufe setze und die Vorderläufe horizon- tal vor sich hinstrecke, dann mit diesen eingreife und die Hinterläufe nach- schiebe, um sich auf diese Weise rutschend vor dem Einsinken zu bewahren. Auch widerspricht nach Hildebrandt’s Angabe Ulrich den Mittheilungen von Wangenheim’s und von .d. Brineken’s nicht, dass das Wild in der äussersten Noth, wenn die ebenbeschriebene Fortbewegungsart es vor dem Versinken nicht schütze, sich auf die Seite lege, die Läufe ab- 410 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. wechselnd zusammenziehe und auseinanderschnelle, um sich durch diese Be- wegungen gleichsam rudernd über den Moorboden zu bringen. In ähnlichen Fällen hat es Ulrich gesehen, wie es sich aus mit tiefem Schnee bedeckten und unten nicht zugefrorenen Gräben auf die beschriebene Art herausgeschnellt. Der Bau seiner Läufe lässt den Schluss zu, dass es gut schwimme. In der That soll es nicht nur im Nothfall auf der Flucht sich als ein Meister im Schwimmen bewähren, sondern auch zum Vergnügen und seiner Gesund- heit halber in tiefen Flüssen sich herumtummeln. Eines merkwürdigen charakteristischen Gebildes, gleichsam einer Deco- ration des Elchleibes muss noch Erwähnung gethan werden. Es ist der Bart. An der Drossel oder der Luftröhre unmittelbar am Kehlkopfe hat das Elchwild einen kegelförmigen Beutel. Nach älteren Autoren, wie v. Wangenheim und v.d. Brincken, wurde dieser Bart nur dem Elch- hirsche zugeschrieben, nicht aber dem Thiere. Diesen Irrthum hat neuer- dings Ulrich aufgedeckt. Nach diesem guten praktischen Beobachter und Waidmann hat nicht allein der Elehhirsch, sondern auch das Elchthier einen Bart von der Geburt an, ja sogar schon im embryonalen Zustande. Der in den Monaten Januar und Februar schon dem Geschlechte nach kenntliche und entwickelte Fötus trägt nämlich schon die Anfänge der Kehlkopfdrüse, eben des sog. Bartes, in der Form eines fleischigen Läppchens von etwa 14 mm Länge und der Dicke eimes Bindfadens. Dies Hautläppchen ist bis zu 4 cm lang und 6—7 mm dick und mit dichten Haaren markirt, sobald der Fötus mit Haaren sich bedeckt hat, und verstärkt sich nach dem Setzen ebenfalls. Hirsch- wie Wildkalb bringen diesen über fingerdicken Zapfen mit zur Welt, und ist derselbe in der Nähe der Kälber bis zu deren ersten Verfärbung. im Juli leicht zu bemerken. Nach der Verfärbung zu An- fang Senaaher fällt der Zapfen unter den längeren Haaren, womit Eh der Leib der Kälber bedeckt hat, nicht mehr in’s Auge; vom October ab entstehen auf dem Kehlbeutel dichtere und linker srauschwarze Haare von 10—12 cm Länge, welche sich nach unten allseitig auseinander sträuben und so dem Barte das glockenförmige Aussehen verleihen, wodurch derselbe schon von Ferne zu erkennen ist. Die Form und Grösse der Bärte ist ziemlich verschieden und theils individuell, theils den verschiedenen Ge- schlechtern eigen. Es gibt Bärte, welche zurückgeblieben sind, und nur wenig aus der Winterdecke des Halses hervorragen; bei solchen Exemplaren, bei welchen sich der Hautzapfen besonders stark entwickelt hat, haben die Bärte eine Länge von 40 em und die Form einer Fuchsruthe. Die gewöhn- liche Form und Grösse ist die zwischen beiden angegebenen FExtremen in der Mitte liegende. Der einzige geringe Unterschied zwischen dem Barte des Hirsches und Thieres besteht darin, dass derjenige des Hirsches etwas breiter ist. Der Bart formt sich nämlich nieht allein aus dem Fleischzapfen, son- dern es bildet sich auch bei zunehmendem Alter des Thieres eine Erweite- Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 411 rung um die Stelle des Zapfens unterhalb des Kehlkopfes in Form eines vom Kopfe und Hals sich etwas loslösenden Hautsackes, der sich beim Hirsche etwas weiter nach dem Geäse hin fortsetzt, als beim Thiere, wo- durch dem Barte des Hirsches eine etwas breitere Form verliehen wird. Die Farbe des Elchwildes ist nach Alter und Jahreszeit, wie bei allem unserem Wilde, verschieden. Das Wild hat zwei Färbezeiten, die Frühlings- färbezeit beginnt gewöhnlich im April und ist gegen Ende Juni beendet; im October entsteht die Wimterfärbung. Zu jeder Jahreszeit besteht die Behaarung des Elchwildes aus einem sehr feinen, kurzen Unterhaar, der Wolle, welche braungrau ist, und dem dicken, starren und etwas gedreh- ten, aber je nach der Jahreszeit verschieden gefärbten Oberhaare, dem Haare Die Haut oder Decke ist sehr stark. Die Sommerhaare sind natürlich wie bei allem Wilde kürzer und stehen dünner als die der Winter- decke. Im Sommer bis zur Brunft im September trägt der Kopf des Elch- wildes kurze, auf der Stirne kleine Wirbel bildende Haare. Das Geäse bis über die Nasenlöcher ist gelbbraun, ein kleiner Kreis um die Lichter und das Innere der Gehöre aschgrau. Der übrige Kopf mit dem Halse, die Brust und der Oberkörper, sowie die Mähne und der Bart sind schwarzbraun oder gelblichbraun gefärbt. Die ganze Unterseite, der untere Theil der Keulen, sowie die Läufe bis über die Kniee haben eine gelblich- weisse und aschgraue Farbe. Im October verfärbt sich das Elehwild da, wo im Sommer die Decke schwarzbraun oder gelblichbraun war, in ein Hell- braun mit Grau melirt. Die hellbraunen Theile dunkeln aber immer nach. Die Kälber sind von Anfang bis in den Sommer hinein dunkelroth gefärbt und zeigen nur auf der Innenseite der Lauscher eine schmutzigweisse Farbe. Diese Hauptfarbe bleicht etwas im Sommer ab in ein Hellrothgelb. An- fangs Juli beginnt sich die Decke des Kalbes schon zu verfärben, und im September sind die Innenseiten der Läufe und der Bauch gelblichweiss oder weisslich, während die übrigen Leibestheile in's Hellaschgraue über- gehen und allmälig nachdunkeln, bis sie im December dunkelschwarzbraun erscheinen. Nach der Verfärbung sind es nur zwei geringe Unterscheidungszeichen, nach welchen sich der Hirsch vor dem Thiere meist erkennen lässt. Es ist nämlich der schon früher erwähnte kürzere helle Strich zwischen den Keulen unterhalb des Wedels, sowie die schwarzbraunen dunkleren Wangen gegen- über den bleicheren braunen des Thieres. Wie beim Edelwilde gibt es auch beim Elchwilde, ohne dass diese Unterschiede an das Geschlecht ge- bunden sind und auch nur zuweilen in der Winterfärbung sichtbar, Exemplare von hellgrauer oder graugelblicher Hauptfärbung und solche, die sich durch ein Dunkel- oder Schwarzbraun auszeichnen. Nur der Elchhirsch trägt, wie unser sämmtliches heimisches männliches Wild, ein Geweih. Dies steht, gegen die irrthümliche Behauptung Linne’s, 412 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. auf einem, wenn auch nur niedrigen Rosenstock. Die Angaben Ulrich’s über die ersten Anfänge des Geweihes beim Elche, sowie die Formbildung desselben in den späteren Lebensepochen sind sehr interessant und neu. Die ersten Anfänge der Rosenstöcke machen sich bei dem Hirschkalbe erst gegen Ende Juli in erbsengrossen, weichen, fleischfarbenen, noch unbehaar- ten Warzen an jeder Seite des Stirnrandes zwischen Lichtern und Lauschern bemerklich. Diese Wärzchen behaaren sich erst im August in der Farbe der übrigen Stirnhaare und messen im September nur 1,3 bis 1,4 cm, ver- härten allmälig ohne besonderes Wachsthum oder nur scheinbar dadurch, dass die Haare auf den Warzen sich mehr verlängern und verdichten. Erst Ende April und Anfangs Mai, demnach um Beginn des zweiten Lebensjahres, entstehen allmälig die ersten Spiesse mit den Rosen, mit braunen bis schwärzlichen Haaren besetztem Kolbenbaste bedeckt, welche an Erlen- büschen gegen den September und später gefegt werden; während alle starke Hirsche vor Beginn der Brunftzeit, Ende August bereits gefegt haben. Der Hirsch, heisst analog den übrigen unserer Wildarten, in diesem Stadium dann Elchspiesser. Im darauffolgenden dritten Lebensalter setzt der Elch- hirsch entweder jederseits eine gabelartige Stange auf, oder es gabelt sich die eine Stange, während die der andern Seite ein Spiess wird, oder es ent- stehen auf beiden Rosenstöcken abermals nur Spiesse. Der Elch heisst im ersten Falle en Gabler, im zweiten em ungerader Gabler, im dritten Falle nach Ulrich ein starker Spiesser. „Im 4. Lebensjahre“ — sagt Ulrich weiter — „setzt der Hirsch ent- weder jederseits eine dendige Stange auf, oder an der einen Seite eine 3endige, an der andern eine 2endige; im ersten Falle heisst er ein gerader Sechs- ender. — Dreiendige Stangen haben in der Regel noch nicht die beim Elch- wilde gewöhnliche Schaufelform, zeigen jedoch schon die Andeutungen dazu, indem die beiden äusseren Enden schon mit den mittleren Enden durch die an der Basis verbreiterte Hornsubstanz verbunden sind. Regel dagegen ist die Schaufelform bei Hirschen im 5. Jahre, welche entweder jederseits eine Schaufel von 4 Enden oder auf der einen Seite nur eine dendige Stange haben; sie werden im ersten Falle Schaufler oder Achtender, im andern un- gerade Schaufler von acht Enden genannt. In solcher Weise vermehrt sich gewöhnlich alle Jahre die Endenzahl jeder Stange, nach der die Benennung der Hirsche S.ı wird, in gerade oder ungerade Schaufler von zehn, zwölf, vierzehn u. s. w. Enden.“ Die en Ulrich’s an sehr alten Elchhirschen che der Geweihformbildung geht dahin, dass, gerade wie beim Edelhirsch, zu- nächst im hohen Alter nicht eine Verminderung der Endenzahl, sondern eine schwächere Ausbildung (Vereckung) derselben einträte, welche auf die Stangen sich erstreckt und eine bedeutende Gewichtsverminderung verur- sache. Vereinzelt hervorstehende oder ausgereckte Aug- und Eissprossen Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 413 sind beim Elehhirsche nicht vorhanden oder anzusprechen; diese sind von der Stange aus schon zu einem Theil der Schaufeln verwachsen. Eine regelrechte Stellung und gleichmässige Entfernung der Enden an beiden Schaufeln findet nicht statt. Ganz neu ist die Angabe Ulrich’s, dass die Ibenhorster starken Elche nicht alle Schaufler seien, sondern auch einige den Edelhirschen ähnliche „Stangengeweihe“ zeigten. Diese hätten stärker entwickelte Enden, die, ent- gegen den Schaufelgeweihstangen, senkrecht auf den Rosenstöcken stünden. Ulrich weist nach, dass die Geweihform keine zufällige, sondern durchaus individuelle sei. Die regelrechte Stellung des Elchgeweihs ist eine mehr nach der Seite gehende, als in die Höhe gerichtete, und das Geweih erscheint deshalb viel weiter ausgelegt, als das des Edelhirsches. Bei vier- nnd mehrendigen Schauflern legen sich die unteren Stangen der seitlichen Stellung der Rosen- stöcke gemäss schon in einer rechtwinkligen Richtung nach der Seite. Die Farbe des Elchgeweihes ist im Allgemeinen etwas heller als beim Edelhirsch, aber bedeutend härter und von grösserem specifischen Gewichte. Das Gewicht eines starken Schauflergeweihes beträgt 14 bis 15 Kler. Die stärksten Elchhirsche im Ibenhorster Revier werfen schon Ende October bis Mitte November ab; wogegen die Gabler und Spiesser dies ge- wöhnlich erst im December und zu Anfang Januar thun. Dagegen ver- lieren in einem benachbarten Reviere Ibenhorsts die starken Hirsche erst im December ihr Geweihe, welchen Umstand Ulrich daraus erklärt, dass die spät abwerfenden Hirsche bei Mangel an Thieren nicht so frühe und stark abgebrunftet hätten, als im Schongehege des Ibenhorster Reviers bei zahlreicherem Mutterwilde. Das Elehwild vernimmt sehr scharf, äugt und windet auch gut, abgleich v. Wangenheim und v. d. Brineken das Gegentheil behaupten. Dem Wilde ist im Winter eine grosse Vertrautheit eigen überall da, wo es sehr geschont wird. Es geht dies Vertrautsein manchmal so weit, dass ihm Fuhr- werke ausweichen müssen, sowie dass es zu Fuhrwerken herbeigezogen kommt, um neugierig die Pferde zu beäugen. Im Sommer jedoch, wo das Elchwild scheuer ist, lernt es der Beobachter von einer andern Seite hin- sichtlich seiner Sinne kennen. Es gewahrt jede Bewegung und markirt ihm Verdächtiges sogleich wie das Edelwild; es wird aber — wie Hilde- brandt meint — wahrscheinlich im Bewusstsein seiner überlegenen Stärke nicht so schnell flüchtig, wenn es Auffälliges oder Gefährliches gewahrt. Es windet nach Ulrich’s Beobachtungen auf 200—300 Schritte den Men- schen. Es schreckt bisweilen in solchen Fällen. Dasselbe geschieht in tiefen, langgehaltenen und starken Tönen und hat in der tiefen Wald- einsamkeit etwas Schauerliches.. Hirsch wie Thier schrecken, letzteres aber mehr. 414 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula „Zu seinem Aufenthalte“ — so berichtet nach Mittheilungen Ulrich’s Hildebrandt im 14. Hefte von Grunert’s „Forstliche Blätter“ vom Jahre 1867 — „wählt das Elchwild am liebsten wilde, einsame und moor- reiche Waldungen in den Niederungen, wo es von Menschen möglichst wenig beunruhigt wird. In Ibenhorst zieht sich die Mehrzahl von der Mitte Octo- bers an nach der sogenannten Kiehnhaide und dem daran stossenden Hoch - moor, so dass mit Eintritt des Winters der ganze Wildstand bis auf wenige Stücke daselbst versammelt ist. Letztere suchen vor den hohen Herbst- überschwemmungen und dem glatten Eise auf den ca. 25 Hectar grossen Höhen im dem Schutzbezirk Meyruhnen (einem Theile des Ibenhorster Reviers) Zuflucht. Überrascht die spät nach der Kiehnhaide wechselnden Stücke der Frost, so sieht man sie an den mit Eis belegten Flüssen, welche das Revier durchziehen, zuerst mit den Vorderläufen die Stärke des Eises untersuchen. Finden sie es stark genug, so ziehen sie langsam und vor- sichtig hinüber. Brechen sie mitten auf dem Flusse ein, was oft genug ge- schieht, weil das Eis in der Mitte der Flüsse erst später zum Stehen kommt, als an den Rändern, so schlagen sie mit den Vorderläufen eine Bahn durch das Eis bis an das Ufer. Oft ist das Eis m der Nähe des letzteren dann aber schön so stark, dass sie es mit den Läufen nicht mehr zerschlagen können. In diesem Falle schieben sie sich mit dem Vorderkörper auf das- selbe und zerbrechen es so. Das Zerschlagen des Eises mit den Vorder- läufen führen sie im tiefsten Wasser aus, mit der Brust auf das Eis schieben können sie sich aber nur, wenn sie mit den Hinterläufen den Boden erreichen, und es kommen deshalb auch dann und wann einzelne Stücke bei dieser Fluss-Passage um. Mitte April verlässt das Ibenhorster Elchwild seinen Winterstand und zieht in die tief liegenden, meist mit Erlen und Weiden bestandenen Niederwaldblöcke, gleichviel ob dieselben überschwemmt sind oder nicht. Im ersteren Falle sucht es, um sich zu setzen, gern die über das Wasser hervorragenden Grabenborde (erhöhten Grabenränder) auf, doch findet man es auch in Betten, in denen dass Wasser wohl einen halben Fuss hoch steht, und sieht es beim ruhigen Verlassen des Bettes den Körper heftig schütteln und sich so des in den Haaren befindlichen Wassers entledigen. Ist das Revier trocken, so hält sich das Wild meist in jungen Laubholz- dickichten, und nur der Hirsch liebt, bis er fegt, die lichteren Plätze, die er jedoch auch nur in der Nähe von Dickichten aufsucht. Stehendes oder fliessendes Wasser darf in der Nähe nicht fehlen, da das Elch desselben sowohl zum Trinken, wie zum Baden bedarf. Grosse Hitze ist dem Elch- wild höchst unbequem und um derselben, sowie den Bremsen zu entgehen, suhlt es sich häufig in Gräben, Sümpfen oder Flüssen; auch sucht es, namentlich wenn die Tageshitze im Freien durch etwas Wind gemildert wird, gern die freien Wiesen auf, wo man einzelne Stücke den ganzen Tag sitzen sehen kann.“ Zweihufer. Rominantia sive Biseula. 45 Die Asung des Elchwildes ist eine nach den Jahreszeiten verschie- dene. Die Rinde der Weiden schält es im April auf eine eigenthümliche Weise, indem es dieselbe nahe beim Wurzelstock losbeisst, sie dann mit dem Geäse ergreift und mit dem Kopfe nach oben schnickt, wodurch der Baststreifen an den oberen Verzweigungen der Aste abreisst. Später zieht das Elchwild auf die Wieseu zur Asung des Schachtelhalms, Schilfs und Schwertels. Eigenthümlich ist die Art seines Asens. Während Schmalthiere und Spiesser bei demselben bisweilen knieen, zieht das ältere Wild den einen Vorderlauf gegen den entsprechenden Hinterlauf und streckt den anderen Vorderlauf stark nach vorn. Durch diese starke Winkelstellung der Vorderläufe kommt das etwas aufgebaute Vordertheil mit dem kurzen Hals näher zum Boden, wodurch das Asen erleichtert wird. Im Sommer geht es das Laub mit den zärteren Zweigen der Weidenarten an, indem es die Weidenäste mit dem Geäse fasst und in der beschriebenen Weise wie beim Schälen des Weidenbastes auch die belaubten Aste und Zweige ab- streift. Im Hochsommer und Herbste äst es in ähnlicher Weise das Erlen- laub. Beim Laubfalle wechselt das Elchwild auf seinen Winterstand in der Kiehnhaide und dem daran grenzenden Hochmoore, öfters aber auch anfangs noch zurück in die Bestände der Niederwaldung. Hier äst es die Knospen der Eingangs in der Revierbeschreibung gedachten Holzarten. Die Über- schwemmungen des Spätjahres und die Fröste der Niederungen vertreiben es aus dem Niederwalde. Es zieht nun theilweise auf die Hochmoore, theil- weise in die Kiehnhaide, ab und zu herüber und hinüber wechselnd. Bei Schneefall verlässt es das Moor ganz und zieht in die Kiehnhaide, woselbst es, da es nicht plätzt, um an die Asung unter dem Schnee zu gelangen, blos Holzgewächse angeht. Selbst die früher gemiedene Fichte verbeizt (verbeisst) es dann. Bei lang anhaltendem Schnee schält es die Rinde aller Holzarten, besonders aber der Weichhölzer, wie Aspen und Weiden. Neben dem Baste der Hölzer nimmt es die Moosbeere, das im Winter noch grüne Wollgras und Ausgangs Winters die Wintersaat an, von der es aber sich leichter verjagen lässt, als z. B. das Edelwild. Das Elehwild lebt weniger gesellig oder gerudelt, als unser anderes Grobwild. Das Elchaltthier führt seine Kälber getrennt vom anderen Wilde; auch bei der Brunft hat es dieselben bei sich, und im Spätherbst und Winter duldet es höchstens schwächeres Wild in seiner Nähe, wie Spiesser und Schmalthiere; ältere Stück treibt es mit gesenktem Kopfe, angedrückten Lauschern und aufgerichteter Mähne ab. Erst kurz vor der Setzzeit, im April des folgenden Jahres, trennt das Altthier sich von den Kälbern. Diese stehen im Sommer isolirt und rudeln sich erst nach erfolgter Brunft zu andern schwachen Rudeln. Der Elchhirsch tritt schon in der Mitte des August aus seiner seitherigen Ruhe und Abgeschiedenheit heraus und streift rege nach Thieren umher. 416 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. Treffen sich zwei einem und demselben Thiere oder Schmalthiere nach- ziehende Nebenbuhler, so kämpfen sie, wie unsere anderen Hirscharten, mit einander. Die abgekämpften Hirsche suchen sich andere Thiere, werden aber bei Ermangelung solcher oft sehr wüthend und trollen blindlings in die Felder und belebtesten Gegenden. Der Elch schreit m abgebrochenen kurzen Lauten ähnlich dem Damhirsche, doch tiefer, aber nicht so viel und nicht so stark als der Edelhirsch. Er bezieht ebenfalls einen Brunftplan, auf welchem man bis 40 em breite und 25 em tiefe kesselförmige Löcher findet, über deren Bedeutung man nur bis jetzt Vermuthungen aufgestellt hat. In der Brunft wird der Elchhirsch für Mensch und Thier gefährlich. Die Brunftzeit beginnt im Ibenhorster Bezirk Ende August und dauert bis Ende September; während sie nach v.d. Brinceken in der Bialowiecer Haide im September anfange und bis Ende October andaure. Das Elchthier geht 40 Wochen hochbeschlagen und setzt vom Mai bis Mitte Juni. Das neugesetzte Kalb ist sehr unbeholfen und wird von dem Mutterthiere die ersten 24 Stunden nicht verlassen. Erst nach 14 Tagen folgt es der Mutter zur nahen Asung. Die Kälber saugen bis in den Februar des nächsten Jahres, und werden von dem Altthiere sorglich beschützt und muthig vertheidigt. Dasselbe besitzt vermöge seiner bedeutenden Stärke und Gewandtheit gewaltige Waffen in seinen Vorderläufen, mit denen es erfolg- reich gegen Hunde und Wölfe schnellt. Einer Rotte Wölfe trotzt ein Rudel Elche stets und schlägt dieselben auch regelmässig in die Flucht. Bei dem Wolfe sind hingegen die Fälle angegeben, in welchen diese Räuber auch dieses mächtige Wild beschädigen und reissen. Viel mehr hat das Elchwild von den Wilddieben zu fürchten. Im Spätherbst und Winter wird es so vertraut, dass man ohne Mühe zu Schuss herankommt. Nach einem Fehlschuss trollt es langsam fort, um bald wieder stehen zu bleiben, sodass man in emem Wagen oder zu Pferd leicht wieder- holt zu Schuss auf ein und dasselbe Stück kommen kann. Die Wilderer machen sich diese Eigenheit des Elchwildes zu nutz und suchen dasjenige, was hin und wieder in den Niederwalddistrikten in trocknen, schneearmen Wintern stehen geblieben, auf, um es auf das Eis zu treiben. Bricht dies unter den Tritten des Wildes ein, trägt es aber den ihm nacheilenden Schlitt- schuhläufer, so erreicht es dieser, mit langem Spiesse bewaffnet, im kurzer Zeit, um das an den Läufen durch das Einbrechen im scharfen Eise schmerz- haft verwundete und in Büschen ohne alle Gegenwehr sich drückende Stück zu erstechen. Trägt das Eis hingegen das Wild, dann ist das Jagen nach ihm schon langwieriger und erst dann von Erfolg, bis das Elch sich die äusseren hohen Ränder mit den Spitzen der Schalen stumpf gelaufen hat und in Folge dessen ausgleitet und zusammenbricht. Die energische Hand- habung des Forstschutzes hat dieser früher in Ibenhorst sehr betriebenen Wilderei Grenzen gesetzt. ‚Artist. Anst.v.Th. lischer, Cassel. Damwild. Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 417 Verwundet oder beim Raube eines Kalbs nehmen Hirsch und Thier sehr leicht Feinde, Mensch oder Hund an. Die Dienstleute des oft er- wähnten Oberförster Ulrich schicken sich zum Verjagen des Elchwildes von der Wintersaat niemals ohne Bewehrung mit einem tüchtigen Pfahle an, und keiner der Hunde des Genannten nähert sich, eingedenk früherer Züchtigungen des Wildes durch Schnellen oder Forkeln, mehr einem Elche. Auch das Elchwild leidet, wie das Edelwild, viel von Insekten. Besonders sind seine Plage die Bremsen, von Mitte Mai bis in den Juli, denen es sich durch die Flucht im’s Wasser nicht selten entzieht. In gleicher Weise wird es von der Hirschlaus beunruhigt, namentlich im Herbste. Noch mehr als das Rothwild leidet das Elchwild durch eine besondere, von Ulrich zuerst entdeckte Art der Rachenbremsen oder Nasenbremsen (Cephenomyia Ulrich), welche Brauer beschrieben und bestimmt hat. Die Nase des Elchs steckt oft voll dieser Peiniger, und man hört im Früh- jahre die damit behafteten Stücke stark niesen. Das Wildpret vom Elchhirsch ist von Mitte Juni bis Mitte August, das vom Thiere vom August bis November, das vom Kalbe vom Juni bis August ebenso nahrhaft als wohlschmeckend. Das Geweih ist zu gleichen Zwecken wie das der übrigen Hirscharten benutzbar, die Haut oder Decke bei ungemeiner Stärke sehr weich und geschmeidig. Sie soll, unter Leinen gelegt, bettlägerig Kranke durch ihre Kühlung vor dem Aufliegen schützen. Die Sippe Damhirsch, Dama, kennzeichnet ein über dem Rosenstock mit der Rose auf runden Stangen bis über die Mittelsprosse herausgewach- senes Schaufelgeweih, das an den Rändern der Schaufeln kleinere Sprossen, sowie Aug- und Mittelsprossen besitzt, einen verhältnissmässig langen Schwanz oder „Wedel“, sowie ein geflecktes Sommerkleid. Auch das Damwild besitzt Thränengruben oder Thränenhöhlen. Das Damwild. Cervus Dama s. Dama platyceros. Damwild — das Wild der Damen — es ist's wirklich! Wie geleckt und gemalt erscheint es in seiner bunten Decke. Es ist das Wild der 'Thier- särten und der Parks, und darin gedeiht es auch unter den einheimischen Hirscharten am besten. Schon merklich geringer als das Edelwild, ähnelt es zwar diesem im Allgemeinen; aber es sticht doch bei näherem Vergleiche gegen dasselbe ab. Der edle Bau und die stolze, gebietende Haltung des Edelwildes fehlt ihm. Da es im Kreuze höher steht, als am Widerrist, so erscheint sein Vordertheil gesenkt. Es geht deshalb auch mit niederem, vorge- strecktem Halse und schlaff wie die Ziegen, mit welchen es überhaupt viel Ahnlichkeit hat. Sein Kopf mit den Lauschern und sein Leib sind verhält- nissmässig kürzer, dieker als die gestreckten Theile des Edelwildes, wodurch auch seine Läufe kürzer oder weniger schlank erscheinen. Seine Knochen- bildung tritt, sowie die der Ziegen, merklich hervor: es erscheint deshalb A, u. K. Müller, Thiere der Heimath. 297 418 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. etwas eckig gebaut. Selbst der lange Wedel erinnert lebbaft an die Ziegen; er ist um die Hälfte länger als der des Edelwildes. Bunt wie seine Färbung sind seine Launen. Es ist unstet und unruhig. Doch beschreiben wir vorerst sein Ausseres. Der ausgewachsene jagd- bare Damhirsch oder Dambock ist am .Widerrist höchstens 0,75 bis 0,80 m hoch, von der Nase bis zum Wedel 1,25—1,35 m lang; während das Damthier nur bis 0,7 m in der Höhe misst und verhältnissmässig kürzer ist. Ein starker Damhirsch wiegt unaufgebrochen im Mittel 100 und einige Kler. selten über 125—130 Kler. Die Sommerdecke wird allmälig vom April an bis in den Mai im Grunde rothbraun und mit Ausnahme des Kopfes, Halses und längs des Rückgrates weisslich gefleckt. Bauch und Innenseite der Läufe erscheinen weiss, auch trägt es um den dunkleren Wedel ein weisses, schwarz eingefasstes Schild, und das Geäs, wie die Augen oder Lichter smd schwarz eingefasst. In der Winterfärbung, welche Ende October und später erfolgt, werden Kopf, Hals und Gehör oder die Lauscher trüb grau mit einem An- fluge von Braunroth, der Rücken und die Flanken schwärzlich untermischt, und die Unterseite des Leibes mit der Innenseite der Läufe erhalten ein helleres, oft röthlich durchschossenes Grau. Mit dieser Färbung ist ein grosser Wechsel in hellerer oder dunklerer Schattirung verbunden. Keine unserer Hirscharten ändert so in der Färbung als das Damwild; denn es gibt ganz weisse, gelbliche, gelappt scheckige, sowie, obgleich seltener, aschgrau bis in’s Sshwarze gefärbte Exemplare. Übrigens sind die weissen Varietäten wie bei dem Edelwilde nicht immer Kakerlaken, wenigstens die frei- lebenden nicht, sondern unvollständige Albinos, was die schwarzen Lichter und die gleichfarbigen Schalen mit der ziegenartigen schmalen Form und Ausspitzung zeigen. Das Damwild, sagten wir, ist unruhig, und dennoch hält es Stand wie Wechsel viel beharrlicher als das Edelwild. Es geht deshalb auch nicht so weit um sich, als das Rothwild, das viel weiteres zusammenhängendes Revier haben will. Auch rudelt sich das Damwild zu stärkeren Rudeln als das Edelwild. Seine Heimath sind mehr Wälder, mit Auen und Wiesen durchschnitten, Vorberge in mildem Klima; es meidet die höheren un- wirthlichen Gebirgszüge, auf denen das Edelwild noch vorkommt. Im grossen Ganzen zieht es gemässigte Landstriche kalten vor; weshalb es auch im südlichen Europa am meisten, namentlich um die Länder des Mittelmeeres, vertreten ist. Unsere gemässigten, abwechselnd mit Feldern, Wiesen und Auen unterbrochenen hügeligen Waldungen bergen noch manchen guten Damwildstand. Freilich kommt es auch jetzt im nördlichen Deutsch- land freilebend vor; es ist aber dorthin erst durch die Thiergärten einge- bürgert worden. Am häufigsten wird es in den fürstlichen Parks gehalten, worin es sich, abweichend vom Edel- und Rehwilde, durch sichtliches Ge- deihen auszeichnet und eine Zierde für den Beschauer ist. Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 419 Prüfen wir weiter sein Wesen und seinen Wandel durch Vergleichung mit dem schon geschilderten Edelwilde, wodurch am ersten seine cha- rakteristischen Merkmale sich befestigen. Mit wenigen Ausnahmen sind die waidmännischen Benennungen seiner Körpertheile, wie seiner ganzen Lebensweise denjenigen des Rothwildes gleich. Seine Sinne bethätigen sich wohl nahezu als ebenso scharfe, wie die des Letzteren. Es äugt, wittert und vernimmt geradeso gut; doch scheint es im Ganzen weniger misstrauisch, scheu und wild zu sein, als das Edelwild. Seine Bewegungen an und für sich sind leicht, ja anmuthig. Obgleich dem Damhirsch die stolze, selbstbewusste Haltung seimes edleren Vetters abgeht, so trollt er doch mit graziöser Leichtigkeit dahin. In Flüchtigkeit und Sprungkraft stehen beide Wildarten übrigens sich ziemlich gleich. Das Damwild trollt aber mit hochgehobeneren Läufen und wird unter hohen Sätzen, mit den vier Läufen zugleich in der Luft und den Wedel gehoben, flüchtig, während das Rothwild stetig und gleichmässig mit beigezogenem Wedel flieht. Jenes überfliegt auch hohes Gebüsch, 1,5 bis 2 m hohe Zäune, Bäche und Gräben ohne sichtliche Anstrengung und ist im Schwimmen Meister. Wir wissen bereits aus dem lehrbegrifflichen Abschnitt über die allge- meinen Züge der Hirschfamilie, dass der Bildungsgang des Geweihes oder Gehörnes bis in’s dritte oder zu Beginn des vierten Jahres beim Dam- und Edelwilde ein ziemlich gleicher ist; auch die waidmännischen Benennungen für beide Geschlechter, sowie diejenige in Ansehung des Aufsetzens des Geweihes sind ganz gleiche für beide Arten. Zu Ende des dritten Jahres setzt der Damhirsch ein Geweih auf, das einige stumpfe Enden hat, wenn man die kleinen Zacken oder breit auslaufenden Sprossen so benennen will. Er wird von diesem Geweih als geringer Damhirsch bezeichnet. Das Jahr darauf oder zu Anfang des fünften Jahres entsteht ein Geweih, welches eine eigenthümliche Gestaltung annimmt. Der obere Theil ver- breitert sich nämlich über der Mittelsprosse schaufelartig mit kleinen Sprossen an dem hinteren Rande dieser Verbreiterungen oder den Schaufeln. Von nun an heisst der Hirsch en geringer Schaufel-Hirsch oder ein gernger Dam-Schaufler, später ein starker oder Capital- Schaufler. Im sechsten Jahre ist der Hirsch vollkommen ausgebildet, das Dam-Thier aber schon mit dem dritten Jahre. Das Abwerfen der Ge- weihe geschieht später als beim Edelhirsche, indem der Dam-Spiesser zum erstenmale seine gewöhnlich zwischen dem achten und neunten Monate ent- standenen, nur 12 bis 20 cm langen Spiesse im Juni, also zu Einde seines zweiten Lebensjahres, der geringe Damhirsch sodann schon im Mai des darauf folgenden Jahres abwirft. Das Ausrecken oder Verecken und das Fegen der Geweihe tritt, dem Abwerfen gemäss, ebenfalls später ein, sodass der Dam-Spiesser Ende Juni fegt und im August ausgereckt hat, der ge- 27% A2O Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. ringe Damhirsch Ende August fegt und im September sein Geweih ausreckt. Mit dem September hat der Schaufler gewöhnlich ebenfalls ausgereckt. Die 15 em und darüber breiten Schaufeln sind meist heller von Farbe als das Geweih des Edelhirsches, mit ein Beweis: für die von uns zuerst aufgestellte Behauptung, dass die Farbe des Geweihes und Gehörnes unserer Hirscharten hauptsächlich durch die Beize der im der Rinde befindlichen Lohe entstehe, welche sich. beim Fegen und Schlagen der Geweihoberfläche mittheilt. Der Damschaufler kann die Flächen seiner Schaufeln aber nicht allerseits mit der Entschiedenheit fegen, wie der Edelhirsch sein überall rundes Geweih, oder der Rehbock seime ebenfalls runden und stark beperlten Stangen; es kommen also die Schaufeln weniger stark mit der beizenden Lohe in Berührung, als die Geweihtheile des Edelhirsches oder die Gehörne des Rehbockes. Gewöhnlich ist das Geweih des Damhirsches, namentlich an den Schaufeln, deshalb sraugelb oder höchstens gelbbräunlich gefärbt; selten trifft man ein dunkler gefärbtes oder gar das schwarzbraune vieler Edelhirsche. Die Geweihe der Damschaufler sind hingegen, im Verhältniss zu deren geringerer Leibesstärke, etwas stärker an Umfang und Masse als die Edelhirschgeweihe, aber weniger weit ausgelegt. Man trifit in Revieren von guter Asung manchmal Schaufeln von 5 bis 6 und mehr kg Gewicht; während die Geweihe von gewöhnlicher Bildung 3 bis 4 kg nicht über- schreiten. _ Die Asung ist bei beiden Arten übereinstimmend; doch besitzt das Damwild die Vorliebe, die Knospen und Jungtriebe der Holzarten zu äsen, sowie die Rinden derselben zu schälen, in einem noch höheren Grade als das Rothwild. Es wird hierdurch empfindlich schädlich. In seinem Wandel zeigt es grosse Übereinstimmung mit dem Edelwilde, indem es sich in der Brunft ebenso stark zusammen rudelt, in der Dämmerung vorsichtig von und zu Holz zieht; die stärkeren Schaufler sich nach der Brunft und den Sommer über mit Ausschluss aller geringen Damhirsche entweder unter- einander rudeln oder ganz isoliren und nur die geringen Hirsche sich zu Alt-, Schmalthieren und Kälbern gesellen. Abweichend vom Edelwilde, suhlt das Damwild nie. Auch seine Brunft fällt in eine andere Zeit, sie tritt einen Monat später ein, als die des Edelwildes. Der Edelhirsch hat längst abge- brunftet, wenn der Damhirsch in die Brunft tritt. Das geschieht Mitte October. Ist der Damhirsch, namentlich der starke Schaufler, aber im September, seiner Feistzeit, ein überaus träger Geselle, der sich oft, wie wir dies selbst erlebt, auf der Suche in seinem Bett, wie ein Hase im Lager, überraschen und geradezu aufstossen lässt, um rege zu werden: so wird er um so erregter und rühriger in der Brunftzeit. In der zweiten Hälfte der- selben, gegen Ende des Octobers oder Anfangs November wird er ein wahrer Krakehler, der allabendlich und nächtlich, selbst am Nachmittage sich heisser schreit und mit Nebenbuhlern fortwährend die hitzigsten Kämpfe Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 421 besteht. Leicht sind die Spiesser und geringen Hirsche vom Hauptrudel abgekämpft, die sich dann zu schwächeren Rudeln unter sich und zu noch nicht fertigen Schmalthieren begeben. Schwerer kämpfen sich aber herum- schweifende ebenbürtige Nebenbuhler ab. Dem sehr lauten Schnarchen eines Menschen, der den Athem heftig und hohl zurückzieht, ist das Schreien der erhitzten brunftigen Schaufler vergleichbar. Vom Schreien erhalten sie gleich dem Edelhirsch einen angeschwollenen Hals und auch am Bauch entsteht der Brunftbrand. Sie haben um diese Zeit eine bockartige Aus- dünstung und ihr Wildpret demgemäss einen widrigen Geschmack. Unstet trollt der Brunfthirsch bei seinem Rudel ab und zu, stets beim Anblick eines andern Schauflers zum Kampfe bereit. Dieser grossen Erregtheit und Kampfsucht wegen schliesst man in Parks oder eingefriedigten Wald- revieren starke Dam-Schaufler aus und duldet nur geringere. Dieser Hef- tigkeit der Brunft gemäss, hält dieselbe nicht so lange an als die des Edelwildes: sie ist meist in zwei, höchstens drei Wochen beendet. Man rechnet gewöhnlich auf einen Schaufler zehn Damthiere als das normale Verhältniss zwischen beiden Geschlechtern in Hinsicht auf die Fortpflanzung. Von Mitte Juni bis in den Juli wird das Dam-Kalb gesetzt. Manchmal entstehen auch zwei. Von seiner Entstehung bis in den Vorwinter wird das männliche Kalb Damhirsch-Kalb, das weibliche Damthier- Kalb genannt. Bis zu dem Zeitpunkte, wo beim jungen Hirsche die Spiesse entstehen, nennt man ihn Dam-Schmalspiesser, mit den entstandenen Spiessen heisst er erst Dam-Spiesser. Die weiblichen Kälber heissen bis zur ersten Brunft Dam-Schmalthier, nach dem Beschlage Dam - thiere. Anfangs sehr schwach und unbehülflich, werden die Kälbehen vom Damthiere getreulich gesäugt, behütet und bei Gefahr gegen Raubthiere tapfer durch Schnellen mit den Vorderläufen vertheidigt. Erst nach zwei bis drei Wochen ziehen die zärtlichen Thierchen aus der Diekung, in welcher sie die ganze Zeit her von der Geburt an heimlich gesteckt hatten, mit der Mutter auf das Geäse. Den nahenden Menschen und Hunde sucht das Thier durch anfänglich verzögertes Trollen und nachheriges Flüchtis- werden in grossen Bögen, sowie durch wiederholte Wendungen, Wider- sänge und Absprünge von dem Aufenthalte des Kälbchens abzuführen. Es geht dann bei Bildung der Widergänge eine Zeit lang auf seiner eignen Fährte zurück, um sodann einen bedeutenden Satz zur Seite oder den Ab- sprung zu thun, weiter zu gehen und von Zeit zu Zeit abermals einen Widergang zu machen. Mit diesem charakteristischen Benehmen ganz im Einklang steht auch die Eigenheit dieses Wildes, nach vielen Widergängen und Absprüngen im Bett sich niederzuthun oder bei der Jagd mit Hunden diese von seiner Fährte abzulenken. - Öfters und mehr als das Edelwild wendet es eine dem kleineren Wilde ähnelnde Manier an, den Verfolgungen 4223 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. bei Treibjagden sich zu entziehen, indem es, durch eine Flucht m einen dichten Busch sich steckend oder drückend, Treiber und Hunde ruhig an sich vorübergehen lässt. Sehr hervortretend ist bei diesem Wilde, neben einer gewissen Unruhe, muntere Laune, ein Hang zum Scherzen oder Spielen. Vom Kalbe aufwärts bis zum Damthier und geringen Schaufler erhält sich diese lebhafte, an- muthige Gewohnheit. Sie bekundet sich viel mehr als beim Edelwilde, in graziösen Sprüngen, wobei sich die Kälbehen und Schmalthiere bisweilen auf den Hinterläufen erheben und mit den Vorderläufen aufeinander schnellen, oder indem die Spiesser und geringen Hirsche neben hohen Sätzen bei schief gehaltenen Köpfen mit den Gehörnen an Büsche oder in das Moos und Laub des Bodens schlagen, sowie mit dem flachen Gehörne sich gegen- seitig und die Thiere sanft schlagen. Dem Scherzen verwandt scheint seine Vorliebe für Musik, namentlich für den Schall des Waldhornes zu sein. Diese Vorliebe, sowie eine gewisse Neugierde benutzt der pürschende Waidmann, um dem sonst sehr aufmerksamen Wilde schussmässig anzu- kommen. Ein Gefährde, der singend im weiten Bogen vorangeht, weiss oft ein Rudel so zu beschäftigen, dass der vorsichtig und verdeckt Nach- pürschende einen Büchsenschuss auf einen ausersehenen Capitalschaufler anbringen kann. Der angeschweisste oder verwundete Damhirsch zeichnet nicht allein entweder durch eine Flucht oder einen weiten Satz, oder dadurch, dass er beim Schusse zusammenfährt oder mit den Hinterläufen ausschlägt, wie dies Alles der Edelhirsch auch thut; sein charakteristisches Zeichen, wenn er krank ist, gibt er ausserdem mit seinem Wedel kund, den er nach einem tödtlichen Schusse stark krümmt und eine Weile dreht, auch nachher beim Flüchtigwerden noch nach unten gekrümmt hält. Die Damwild-Deeke wird, noch weicher und dehnsamer, als die vom Rothwilde, zur Lederbereitung sehr geschätzt. Auch sein Wildpret ist saf- tiger, zarter und schmackhafter, obgleich es, im August und September sehr mit Feist durchwachsen, von Manchen deshalb nicht gerade bevor- zust wird. Wie das Edel- und Elchwild und das nachfolgend geschilderte Rehwild, wird auch das Damwild von den in Säugethieren schmarotzenden Zwei- flüglern, der zu den Bies- oder Dasselfliegen, auch Bremen oder Bremsen zählenden Ochsenbremse oder der Rinderdasselfliege (Oestrus bovis L.) geplagt. Aus den von derselben an die Haut des Wildes gelegten Eiern entstehen die Dassellarven oder sogenannten Engerlinge, welche sich in die Haut einbohren und aus den eigrossen Dassel-Beulen oder Verkapselungen Ende Februar bis Ende Mai unter der Haut wieder hervornagen. Sie ver- ursachen Jucken, was das Wild zum Kratzen mit den Schalen und Beissen nöthigt. Auch von der Nasendasseltliege (Oestrus auribarbis, Meigenii) wird Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 423 besonders das Rothwild heimgesucht. Diese Schmarotzerfliege lebt unter der Haut und zwischen den Schleimhäuten der Nase. Sie wird mit der Nasen-Bremsfliege (Gastrus nasalis L.), deren Larve bis in den Schlund der Hirsche geht, nach Brauer’s Beobachtungen als lebendes klemes Lärvchen geboren und von der Mutterfliege mit einer Flüssigkeit in die Nasenöffnung des Wildes gespritzt. Die sehr regen Lärvchen hängen sich sogleich mit ihren Hafthaken am Kopfringe fest und verursachen unter dem Wilde Unruhe und Aufregung. Dieses niest und schnauft fortwährend, sowohl beim Annähern der Bremse, die ein Rudel sogar zur Flucht zwingt, als auch nach dem Einspritzen der beweglichen Larven. Diese werden in der Regel von den damit Befallenen ausgehustet oder ausgeniest. Diejenigen aber, welche in der Nasenhöhle haften bleiben, verweilen daselbst eine Zeit lang, um sodann bis zum dritten Lebensjahre mit ihrem Hakenringe bis in die Rachenhöhle zu kriechen, woselbst sie heftige Entzündungen und sogar bisweilen Verenden des Wildes hervorrufen können. Durch die Dassellarven werden die Decken durchlöchert, weshalb die- selben im Frühjahre bis zur Färbezeit wenig Werth besitzen. Später heilen sich die Löcher in der Haut wieder vollständig aus. Auch die in der Familie der geflügelten Lausfliegen der Gattung Lipoptena angehörige Hirschlaus lebt als Ungeziefer auf der Haut des Wildes, nachdem sie ihre Flügel abgeworfen hat. — Unser Rehwild ist der bis jetzt einzige Vertreter der Sippe Reh, Ca- preolus. In seinem Bilde und seinem Wesen und Wandel spiegeln sich also alle Merkmale und Eigenthümlichkeiten der Sippe ab. Das Rehwild. Cervus capreolus s. Capreolus vulgaris. Gleichsam den Übergang zwischen dem Hochwilde und dem Wilde der niederen Jagd bildet unser niedliches Reh. Es ist das Miniaturbild unserer eigentlichen Hirsche. Stellt der Edelhirsch das Bild stolzer Eleganz vor, so ist jenes in Gestalt und Wesen die Zierlichkeit und Anmuth selbst. Das ausgewachsene männliche Reh oder der Bock, misst in der Länge 1 Meter und darüber bei einer Höhe von nahezu 70 em im Kreuze. Das Gewicht des unaufgebrochenen ausgewachsenen Bockes schwankt. zwischen 25 bis 30 kg. Das schwächere weibliche, die Geis, Ricke oder das Altreh genannt, ist hingegen nur 85 bis 90 cm lang und 55 bis 60 cm am Kreuze hoch. Des Rehwildes Stummelschwänzchen oder die Blume ist nur beim Abhäuten oder Zerwirken sichtbar, indem es nichts als eine kleine Erhabenheit oder knorpelige Fortsetzung am letzten tückenwirbel unter der Haut bildet. Auch besitzt das Reh nur angedeutete Thränengruben. Sein edel ausgeprägter Kopf ist mässig lang, kürzer als der der eigentlichen Hirsche. Das sehr bewegliche Gehör ist mittellang, etwa 15 bis 16 cm lang und steht aufrecht auf dem oben breiten Kopf 424 Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. etwas auseinander. Das Hervortretendste an diesem sind aber die tief- glanzvollen, dunklen, ausdrucksvollen, grossen Augen, die man deswegen überall Liehter nennen sollte. Der ganze Leib ist gedrungener als selbst der des Damwildes, und zeichnet sich dadurch aus, dass er am Kreuze höher gebaut ist als am Widerrist, sowie dass das starke Hintertheil oder die Keule nach der Blume zu sichtlich spitz zuläuft. Ein mittellanger Hals und hohe, schlanke Läufe mit schmalen, spitzzulaufenden, glänzend schwarzen Schalen vollenden den ebenmässigen Körper. Das Rehwild verfärbt sich zweimal im Jahre, im Mai und vom Sep- tember an. Die Sommerhaare unterscheiden sich wesentlich nicht allein in der Farbe, sondern auch in der Structur und dem Stande von den Winter- haaren. Die Ersteren sind rothgelb, dünn und glänzend. Sie liegen überall glatt und dicht auf der Haut an. Der ganze Oberleib trägt diese Färbung, während der Bauch mit der Innenseite der Läufe und das Innere des Gehörs heller gefärbt sind. Die Stirne, das Nasenbein, sowie die Aussenseite des Gehörs gehen in’s Schwarzbraune, die Wangen und ein Theil hinter den Augen in’s hellröthlich Gelbe über. Der Rand der Unterlippen mit dem Kinn, sowie ein Theil der Oberlippe sind weiss, und beiderseits der schwarzen, stets feuchten Nase zieht sich wie ein Schnurrbärtchen ein schwarzer Strich über dem weissen der Lippe her, während beiderseits in der Mitte der Unterlippe ein brauner Fleck sitzt. Um die Blume herum zeichnet sich der im Sommer gelbliche, Winters schneeweisse Schirm oder der Spiegel aus. Die Winterfärbung nimmt im Allgemeinen ein Braungrau mit hellerer Zeichnung an Bauch und Innenseiten der Läufe, sowie namentlich bei älteren Exemplaren einen halbmondförmigen grösseren weissgelben Fleck über emem kleineren unterhalb des Kehlkopfes am Halse an. Die Be- haarung ist viel länger, dichter und elastischer als die des Sommerkleides; auch erscheint das einzelne Haar platt, wellig oder gewunden und gegen das glänzende Sommerhaar trübe; ein sprechendes Zeichen, dass die Sommer- und die Winterhärung oder das Verfärben wie beim Reh, so bei allem unserem Wilde immer vollständige Neubildungen herstellt. Die Scheide (äussere Umgebung) der Brunftruthe (Geschlechtstheil) des Rehbocks ist mit langen, steifen Haaren, dem Pinsel, bewachsen, während im Spiegel der Ricke eine ähnliche bürstenförmige Behaarung unterhalb des Feigen- oder Feuchtblattes (weiblicher Geschlechtstheil), die sogen. Schürze, die dem Roth- und Damwilde fehlt, sichtlich ist. Die Haut oder Decke des Sommers ist sehr geschmeidig, zart und äusserst beliebt zu Handschuhen u. dgl., während die des Winters nur mit den Haaren zu Fussdecken u. s. w. taugt. Das Rehwildpret ist das feinste und zarteste unseres Wildes. Mehr aber als das W ildpret des leblosen Thieres möge uns Wesen und Wandel des lebenden Wildes interessiren. Rehfamilie. N a eh „2 BAND: Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 425 Im Mai entstehen die allerliebsten Kitzehen oder auch die mancher- orts sobenannten Kälbcehen, woselbst das Reh zur hohen Jagd gerechnet wird, wie es eigentlich überall sein sollte. Gewöhnlich setzt die Geis nur ein Kitzchen, manchmal deren zwei, höchst selten drei. Es sind die zier- lichsten Thierchen, die man sich nur denken kann. Auf dunkel rothbraunem Grunde reihenweise mit weisslichen Flecken geziert, erweisen sie sich nach der Geburt gar zart und hinfällig, sodass sie bei Händeklatschen vor Schreck niederstürzen und mit Leichtigkeit gefangen werden können. Ungefähr nur einen Monat lang behalten die Kitzchen ihr buntes Kleid, das dann in eine ähnliche Färbung wie die des Altrehes übergeht. Das männliche Kitz heisst im ersten Lebensjahre Kitzbock, das weibliche Kitzgeis. Die Ricke steckt sich beim Setzen meist in heimliche, abgelegene Diekungen und vertheidigt gegen Raubthiere, namentlich den lüsternen Fuchs die zarten Kleinen energisch mit ihren Vorderläufen, womit sie den rothen Freibeuter öfter derb, ja lendenlahm schnell. Wie besessen springt die besorgte Mutter auf das Fiepen des Kitzchens, welches wie i-e, ii-e klingt, herbei. Verzweifelt stampft, schnellt und springt sie mit allen vier Läufen auf den Beeinträchtiger ihres Familienheilisthums ein, und schlägt diesen, sobald er allein ist, gewöhnlich siegreich in die Flucht. Schwieriger und meist zum Unheil für das Kitzchen fällt hingegen der Kampf aus, wenn zwei gaune- rische Füchse sich zum gemeinschaftlichen Angriff auf das schwache Opfer verbinden. Dann versagen zuletzt die Kräfte dem tapferen, todesmuthigen Mutterreh, und es muss das theure junge Leben den Räubern preisgeben. Unbedingt gefährlich ist den Kitzchen der Baummarder, der den zarten Thierchen auf den Nacken springt und ihnen am Halse die Schlagader zerbeisst. Das Mutterreh kann mit seinen natürlichen Waffen, den Vorder- läufen, dem Dränger nichts anhaben, denn es müsste ja das eigene Junge verletzen. Auf solche Art kommen viele Kitzchen schon im Morgen ihres Lebens um. Anders verhielte sich’s, wenn diese der viel stärkere und mit dem kräftigen Gehörne bewaffnete Rehbock bei diesen Gefahren beschützte. Aber er ist der treuloseste Vater und Gatte. Immer auf sein Ich und was darum und daran hängt bedacht, überlässt er die kleine Familie ihrem Schicksale. Abgeschieden steht er ‚in einem ruhigen Waldorte, in der Dämmerung, auch manchmal früher des Abends und. noch verspätet des Morgens auf eine Wiese oder eine Flur tretend, um sich im Sommersegen das Zarteste wählerisch herauszuäsen. Indessen wächst das Kitzchen unter der treuen Führung des Altrehes heran. Es folgt diesem schon nach acht Tagen zum nahen Geäse auf Blössen der Schläge In Kurzem trollt es der Mutter schon weiter nach und wird bei Gefahr jetzt auch mit ihr schon flüchtig. Nach sechs Wochen äsen die Kitzchen bereits neben der Rieke, und im Nachsommer bis höchstens Anfangs September werden sie von ihr nicht mehr zum Gesäuge zugelassen. 4926 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. Sie folgen aber derselben noch bis zum nächsten Frühjahre mit andern jungen Rehen. beiderlei Geschlechts. Im fünften Monate etwa zeigen sich auf den Stirnbeinfortsätzen des Kitzbocks knopfartige Erhöhungen, welche schon im Nachwinter gefegt und dann abgeworfen werden. Alsdann ent- stehen die nach und nach bis zu 10 cm hohen Spiesse des Spiessbocks, während sein Schwesterchen nun ein Schmalreh ist. Der junge Bock fegt seine Spiesskolben im März, welche in kurzer Zeit verecken. Er behält diese Kopfzierde bis in den December des zweiten Lebensjahres, alsdann wirft er sie ab. Innerhalb mehrerer Monate, also mit Beginn des dritten Jahres, setzt er ein neues Gehörn auf. Dies vereckt sich mit einem Ende nach vorn, während die Endsprossen der Stangen sich knieförmig nach hinten biegen. So entsteht das Gabelgehörn, wovon der Bock Gabelbock genannt wird. Vielfach ist dies Gehörn aber nichts anders als der Form nach ein starkes Spiessgehörn. Es wird etwas früher als die Spiesse, gewöhnlich im November, abgeworfen, und das neue Gehörn erscheint auch einige Zeit zeitiger im Vorjahre und vereckt sich mit Beginn des vierten Lebensjahres. Bei seinem Ausrecken zeigt sich neben dem Ende nach vorn ein zweites mehr oben und hinten an jeder Stange, deren äusserstes Ende sich nun nach vorn richtet, während das hintere Ende die Biegung nach rückwärts über- nimmt. Hierdurch entsteht em Gehörn mit drei Enden an jeder Stange. Der Bock wird jedoch nach dieser Gehörnbildung waidmännisch nicht als Sechser angesprochen, sondern er heisst jetzt in der normalen Entwicklung seines Gehörns und seiner Körperbildung guter Bock und später bei starkem Gehörn und Leib starker oder Capitalbock. Obgleich mun manchmal Gehörne mit noch mehr Nebenenden sich entwickeln, so hat doch mit der Sechsenden-Bildung das Rehbockgehörn seine natürliche Vollkommen- heit erreicht. Es unterscheidet sich durch diese beschränktere Entwicklung, ganz abgesehen von seimer viel geringeren Stärke, schon beträchtlich von den Geweihen unserer Hirsche. Auch die gewöhnlich in oder über der Mitte der Stangen nach oben gerichteten unteren Enden stechen entschieden. von den dicht über der Stirne stehenden und parallel mit derselben laufenden Augensprossen, diesen Hauptwaffen des Edel- und Damhirsches, ab. Ferner erscheinen aber die Rosen verhältnissmässig umfangreicher und die inneren und hinteren Seiten der Stangen von unten her bis an die beiden oberen Enden viel stärker und reichlicher beperlt, als diejenigen der Hirschgeweihe. Die Perlengebilde nehmen zuweilen sogar die Dicke und Länge von klemen Enden an, und es sind solche Gehörne besonders geschätzt. Noch häufiger als bei den Hirschen kommen Missbildungen oder widersinnige Ge- hörne unter den Rehböcken vor. Sie tragen mitunter die sonderbarsten Formen und Gestaltungen, und es hatsich für diese „Abnormitäten“ oder „Mon- strositäten“ eine wahre Sammlermanie unter Jägern und Naturfreunden erzeugt. Wir verliessen den einsiedlerischen Rehbock, wie er sich, im höchsten Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. 427 Grad ein Egoist, unbekümmert um das Familienleben von Geis und Kitz- chen, im Sommerwaldleben gütlich thut. Getreu den Neigungen sciner Art — die in gemässigten europäischen Strichen sowohl in Niederungen als im Gebirge die Mittel- und Niederwaldungen mit schattigem, diehtem Unter- wuchs, sowie mit Wiesen und Aussenfeldern durchzogene Vorhölzer liebt — steht er im Stangenholze, daselbst zu dutzendmalen plätzend (schar- rend) und sich das Bett oder den Sitz jedesmal vor einer wenn auch noch so schwachen Stange oder einer verzweigten Gerte erwählend und an diesen voll Behagen und Übermuth mit dem Gehörne schlagend. Dort sitzt oder ruht er, vertieft im Wiederkauen nach der reichen Äsung, bei der er, wählerischer als das Grobwild seiner Vetterschaft, das Zarteste in Wald und Fluren angeht. Im Walde sind es im Frühlinge und Sommers die jungen Triebe vieler Laubholzarten, wie Eichenstockausschläge, Sahlweiden, Eschen, Ahorne und selbst die Knospen der Tannen, im Felde der junge Roggen und der Winterraps, der Klee, vorzüglich der Steinklee, Hafer, Wicken, Erbsen und Linsen, die das Rehwild äst; es sind im Herbste Bucheln und Eicheln, Wildobst und die Schwämme, besonders Trüffeln, die es gerne sucht und gut zu finden weiss. Winters äst es die Knospen der weichen und anderer Holzarten, die Brombeerblätter, die Ginster- und Besen- pfriementriebe, welche es bis auf den Wurzelstock verbeisst oder verbeizt. Das Rehwild ist dem Geschäfte der Verdauung oft so hingegeben, dass es den pürschenden Waidmann häufig nahe an sich heran oder glücklichen- falls an sich vorbeischleichen lässt. Auch auf Wiesen und im Getreide sitzt namentlich der Bock im Sommer ebenso fest und auch tief schlafend, so dass man ihn, wie den Damhirsch in der Feistzeit, herbeigeschlichen, mit Fuss oder Büchse aufstossen kann. Kein Wild ist, wenn es überrascht wird, so leicht ausser Fassung ge- bracht, als das Reh. Bei urplötzlich ihm nahe kommender Gefahr bleibt es zuweilen wie gebannt stehen oder rennt und dreht sich im Kreise plan- und hülflos herum oder thut sich sogar nieder, sodass es in solchen Augen- blicken nicht selten ein Opfer verhältnissmässig langsamer Hunde oder sonstiger Nachstellungen wird. Merkwürdig oder seltsam ist des Bockes Eigenthümlichkeit, auch im Freien womöglich seinen Sitz an einem Büschchen, einer Gerte oder auch nur vor einer Staude zu nehmen. Die Sorglosigkeit, der sich das Reh beim Wiederkauen oder in tiefem Schlafe hingibt, ist nicht immer ihm eigen. Furchtsam von.Natur und sehr scheu bei Nachstellungen und öfteren Beunruhigungen, wird es dann unge- mein vorsichtig und schlau. Seine scharfen Sinne unterstützen seine natür- liche Furchtsamkeit auf’s Beste, alles vorherige Vertrautsein und die Sicher- heit schwinden, unter welchen es beim Asen in geschonten Gehegen Men- schen und Thiere öfters nahe an sich vorübergehen lässt; . Vermöge seiner 428 Zweihufer. Ruminantia sive Biscula. Schüchternheit schreckt das Rehwild leicht, wenn es einen ihm auffälligen Gegenstand sieht, oder Wind von Mensch und Thier bekommt. Stösst es aber viele plärrende Töne hinter einander aus, so nennt dies der Jäger Schmälen. Die Ricke schreckt und schmält — wie das Damthier — mit höherer, gezogenerer Stimme, diemanchmal überzuschnappen scheint; wäh- rend der Bock tiefer und kürzer plärrt, namentlich schreckt er unter seinen charakteristischen hohen Bogensätzen nach einem Fehlschusse. Diese Laute klingen wie „bö — bä“. Ahnlich dem Schmälen, jedoch rauher und krei- schender, tönt das Klagen eines angeschossenen oder von Hunden ge- packten Rehes; in der Angst fiept auch das weibliche Reh wie das Kitzchen. Eigenthümlich ist dem Rehwilde ferner die Manier, dass es bei Er- scheinungen, die es nicht klar wahrnimmt, Bücklingen ähnliche Bewegungen mit Hals und Kopf macht und mit den Vorderläufen ähnlich wie die Ziegen und Schaafe aufstampft. Auch das Rehwild bildet Rudel oder Sprünge, doch in der Regel nur von wenigen Stücken und besonders nur im Herbste und Frühjahre oder bei hohem Schnee in strengen Wintern. Gewöhnlich führt ein Altreh den Sprung, den noch bis zwei Schmalrehe und selten mehr als em Bock bilden. Stets ist die Geis voran, während der Bock den weiblichen Stücken langsam nach- zieht. Bei Treiben und dem Flüchtigwerden trennt er sich nicht selten vom Sprunge oder drückt sich in dichtes Gebüsch und lässt Treiber und Hunde an sich vorüber. Oder er schleicht sich vom Sprunge ab, um sich durch die Treiberwehr oder an deren Flanken zu salviren. Auch bleibt er, an der Wand des Gehölzes angekommen, verdeckt stehen, lässt die Übrigen des Sprunges über Blössen, Schneissen und Wege wechseln, um bei Gefahr ent- weder zurück zu brechen oder in einer Flucht über’s Lichte zu rennen. Gegen Ende des Juli oder Anfangs August tritt die Brunft des Rehes oder die Blattzeit em. Jetzt verwandelt sich der seither nur behaglicher Ruhe eines einsiedlerischen Lebens hingegebene Bock. In seimem Bette sitzt er mit wnruhiger Miene und beweglichem Gehöre. Oft zuckt sein Leib krampfhaft zusammen, oder es durchfährt ihn wie ein electrischer Schlag. Er steht auf und reckt das Gehör. Hat er etwas vernommen? — Richtig! es fiept durch die Buchenhallen aus der Ferne Mit ungeheueren Bogensätzen überfliegt er Büsche und Stauden, dass die Erde dröhnt; — dann plötzlich steht er still und lauscht. Wieder und näher lässt sich das Fiepen vernehmen. ‚Jetzt auf einmal zieht mit hochgehobenen Läufen der Bock eine Strecke dahin — nun senkt er die Nase zur Erde, wieder eine Strecke vorwärts trollend. Doch bald steht er wieder still und hebt den Kopf, nach allen Seiten sichernd. Stark hat es den Anschein, als ob das Thier nicht vertraut wäre — eime Gefahr ahne. Wohl hat es Recht. Die Erfahrung hat den alten Bock misstrauisch gemacht, und dies Miss- trauen lässt ihn vorsichtig und zögernd in einem Bogen nach der Gegend Zweihufer. Ruminantia sive Biseula. 429 ziehen, woher das dem begehrlichen, gezogenen Tone eines Altrehes ähn- liche Fiepen gedrungen. Jetzt erschallt aber plötzlich ein höherer, feinerer Ton, der wie i-ä! ii ä! klingt — das Fiepen eines Schmalrehes. Auf den zweiten Laut schon rennt wie besessen der Bock mit laut polternden Sätzen stracks auf die Richtung los, woher die Töne gedrungen; im Feuer seiner Leidenschaft stösst er ein ziegenbockartiges Mäckern aus. Aber o bittere Täuschung! Statt des erhofften, ersehnten Waldliebehens in Form eines zier- lichen Schmalrehes wird der Springende von dem Blitz und dem Knall aus der Büchsflinte des den Fiepruf eines Schmalrehes aut einem Reh- blatte nachahmenden Schützen empfangen — die tödtende Kugel hat den bethörten Freier erreicht, und der Geblattete (Herbeigelockte) ist zu- sammengestürzt mit der letzten Bogenflucht in den Tod. Da liegt er im Schweisse, der ihm aus der Wunde mitten auf dem Blatte fliesst. Im behaglichsten Sommerwaldleben ist er verendet. Aber es war ein beneidens- werthes Ende, das ihn erreicht mitten im süssen Taumel der Minne! — Jetzt ist er des Kämpfens mit seinem ebenbürtigen Widersacher dort drüben auf dem Waldkopfe überhoben. Wüthend haben die beiden Kämpen schon voriges Jahr mit einander gekämpft, nachdem sie nach Art alter Böcke in immer reger Krakehlsucht die schwächeren aus dem Reviere ringsum abgekämpft und verjagt hatten. Ziegenbockartig stellten sie sich auf die Hinterläufe, um gegenseitig sich mit dem Gehörn zu fassen; noch erhitzter rannten sie zurück, um in weiterem Anlauf verstärkt und mit aller Wucht auf emander los zu stürmen und sich zu spiessen. Ihre Eifersucht und Wuth war so stark, dass sie, als ein Sonntagsjäger mit mehr Heil als Geschick nach ihnen schoss und beide fehlte, erneut auf einander stürzten. Sie verfingen sich nun in ıhren Gehörnen dermassen, dass sie nicht von eman- der los konnten. Der Stiefjünger Dianen’s fehlte nochmals weidlich und packte sich sodann einen der beiden ın einander Verstrickten (Verkämpf- ten). Die Verzweiflung gab ihnen jetzt erneute Kräfte, und sie befreiten sich von einander. Der Eine derselben, eben der Bewohner der gegenüber- liegenden Waldhöhe, war aber von dem Schützen gefasst. Doch nach kurzem Ringen warf der Gehörnte des Waldes seinen unwaidmännischen Dränger mit dem nachdrücklichen Ruck eines Capitalbockes zu Boden, dass er neben wunden Händen und gebläut geschnelltem Leibe das Nachsehen des flüchtig dem Holze zurennenden Befreiten hatte. Unbehindert trollt dieser eben um die Waldorte, in welchen er seinen seitherigen Stand gehalten. Mit tief gesenkter Nase sucht er die Fährte des beliebten Schmalrehes, während ihm der Gegenstand seiner vorjährigen Neigung, die Geis, in einer halb eifersüchtigen, halb neugierigen Regung bald nachfolst, bald voranzieht. Dort endlich in dem Jungholze des Buchen- schlags wird er ein Schmalreh gewahr. Im Nu ist der beflügelte Freier demselben genaht. Das Schmalreh, halb spröde, halb neckisch, wird flüch- 430 7 weihnfer. Ruminantia sive Biseula. tig vor dem heranstürmenden Bock, lenkt aber auf einer Blösse aus seinem Fliehen in em bogenförmiges Trollen. Dem Kreisen folgt der Bock, immer hitziger und ungestümer geht es den Cirkel auf der Blösse herum, wie Reiter auf einer Reitbahn. Dem jeweiligen hohen, gezogenen Fiepen des gejagten Schmalrehes folgen manchmal kurze, tiefe Brunfttöne des schnaufenden und keuchenden Bocks. Da urplötzlich verschwindet das spröde, ‘launische Schmalreh wie eine Waldnixe in einer Flucht im nahen Dickichte. Der verblüffte Bock steht mit hochgehobenem Kopfe und aufgerecktem Gehöre. Doch bald sehen wir ihn wieder mit tief zur Erde gehaltenem Geäse die Fährte der Entflohenen suchen, und auch er verschwindet im Holze. Wir überlassen ihn seiner drängenden Unruhe, vermöge welcher er bald auf’s Neue das Reh treiben (sprengen) wird, wodurch sich zuletzt die Huldin als ein fertiges Reh gefügiger auf dem Brunftplatze der Blösse zeigt. Nach einiger Zeit — etwa zu Mitte August — finden wir den vor kurzem noch in strotzendem Übermuthe Dakine vor Erregtheit Busch, Gerte und Stange schlagenden und Dlätzenden Bock abgebrunftet und schlecht von Leib in seinem Bette am Fusse der Bergkuppe. Frühe wechselt er zur Äsung und spät am Tage zieht er von ihr erst wie- der zu Holz. Besieriger den je und viel weniger wählerisch wie vorher, äst er sich jetzt sattsam auf den Schlägen, an Wegen und am Felde, und ist eine Zeit lang so ausschliesslich der Leibespflege, dem Ersatz ver- geudeter Kräfte hingegeben. Im October nach dem Verfärben beginnt er an Kräften schon wieder zuzunehmen: er wird ziemlich gut von Leib, be- sonders rasch bei Eich- und Buchmast. Im November hat der starke Bock schon abgeworfen, und er verwendet jetzt seine Säfte hauptsächlich zur Bil- dung des neuen Gehörns. Hat man ihn nach der Brunft noch eime Zeit lang bei dem erkorenen Schmalreh gesehen, so bemerkt ihn jetzt und im Winter der beobachtende Blick mit einem schwächeren Begleiter neben dem Reh. Mit besonderem Interesse schauen wir ihn aber jetzt, ganz entgegen seinem früheren Wandel beim Sprunge, öfter als Führer desselben. Eben- sowohl tritt er in der Dämmerung zur Asung auf der Wintersaat, besonders des Winterkohls oder Rapses, meist voran, als er flüchtig den Sprung leitet. Schon ragen seine Kolben voll grauweissem Baste über das Gehör hinaus, und einen Monat später, Ende Februar oder Anfangs März, sehen wir den Capitalbock schon seinen Stand durch Fegen verrathen. Hollunder, Edel- tanne, Erle, Eiche und Sahlweide werden zerfegt und zerschlagen, und im Anblick dieser Zeichen trägt sich der aufmerksame Waidmann schon mit der lebhaften Hoffnung, den Capitalen mit dem ausgereckten starkrosigen, perligen Gehörne auf dem Pürschgang im kommenden Mai zu erlegen. Jetzt sucht der Bock auch wieder den Sprung von einer Geis oder von mehreren weiblichen Stücken auf, ganz dem Altrehe aber die Führung überlassend. Schlau und feig, wie er ist, folgt er stets behutsam dem Vielhufer. Multungula. 431 Sprunge, bleibt gern an der Wand emer Dickung gedeckt stehen und lässt die Begleiterinnen vorauswechseln, oder gebärdet sich bei Verfolgung in der schon beschriebenen Weise, wo immer nur möglich auf seine Sicherheit bedacht. Kraft dieser Schlauheit und dieser Eigenliebe bringt er es häufig denn auch zu einem grauen Haupte im eigentlichen Sinne des Wortes. Der wahre Waidmann und Naturfreund gönnt ihm sein beneidenswerthes Leben im grünen, rauschenden Walde und der sonnigen Haide; obgleich er den sich abschleichenden Schlaukopf und Egoisten sehr gerne, ja mit Wohlbe- hagen vor sein Rohr kommen sieht, ihn kunstgerecht mit der Büchsenkugel zu erlegen und mit seinem Gehörne die Trophäen des Jagdzimmers zu ver- mehren. VI. Ordnung. Vielhufer. Multungula. Allgemeines über die Borstenthiere oder Schweine. Setigera. In der Ordnung der Diekhäuter oder Vielhufer (Pachydermata sive Multungula) nehmen sich die an sich ebenfalls massigen Borstenthiere oder Schweine gegen die riesigen plumpen Gestaltungen der meisten andern Familien klein und fast zierlich, wenigstens formgebildeter aus. Wenn aber in dieser Ordnung ein Sichten der Reihen nach allgemeimen Kenn- zeichen schwer zu bewerkstelligen, so bietet die Familie der Schweine der charakteristischen Anhaltspunkte viele dar, in welche wir näher eingehen wollen. Die Borstenthiere zeichnet für's Erste ein starker, massiver Rumpf aus der — wenn wir hier einen Vergleich mit einem Fische anstellen dürfen — karpfenartig an den Seiten stark zusammengedrückt und im Rücken ge- wölbt erscheint. Dieser mit dieker Haut umgebene Rumpf ist mit borsten- artigen Haaren mehr oder weniger bedeckt, woher die Benennung der Familie, der mittellange und dünne Schwanz wird zusammengeringelt ge- tragen. Es tritt bei allen Vertretern eine rüsselförmig verlängerte, zu einer Scheibe abgestutzte Schnauze auf, worin die Nasenlöcher ausmünden. Die stark entwickelten Muskeln des Rüssels statten dies Glied zu einem vortrefflichen Werkzeug aus, den Boden umzuwühlen. Der Kopf sitzt an einem derben kurzen Hals und ist hervortretend stark und kegelförmig, an den Wangen breit, die Ohren sind meist aufrecht stehend und mittellang, die Augen schief geschlitzt und sehr. klein. Die Läufe mit einer Ausnahme (des Hirschebers), eher kurz als länglich, erscheinen bei aller Stärke schlank ge- formt. Von den mit einem Hufe umgebenen, unbeweglichen Zehen der Vielhufer sind bei den eigentlichen Schweinen die beiden äusseren zu Afterzehen ver- 432 Vielhufer. Multungula. kürzt, sodass der Fuss aus zwei normal gebildeten hornartigen inneren Zehen, welche zum Boden reichen und den Körper tragen, und aus den äusseren, den zu kleineren hornigen Stümpfen verschrumpften Afterzehen besteht, welche zur Seite des unteren Fussgelenkes haften und den Boden bei gewöhnlichem Schritte nicht berühren. Das Skelet ist leicht und ge- fällig gebaut. Die Rippen sind schmal und zugerundet. Das Gebiss ist etwas verschieden. Die Schneidezähne wechseln an Zahl, meist sind je 3 vorhanden, während die Lückenzähne zusammengedrückt und die Backen- zähne mit starken Höckern versehen sind. Als das Auffallendste im Gebiss erschemen die Eckzähne. Beide Kiefern entsenden die Hauer, starke, dreikantige, scharfe und nach oben gebogene Zahngebilde, welche den männlichen Schweinen oder den Ebern als furchtbare Waffen dienen. Die Familie ist, ausgenommen Australien, fast im allen Ländern der Erde vertreten. Ihr vorzüglichster Aufenthalt sind dichte, ausgedehnte und sumpfige Waldungen oder mit Röhricht, Gestrüpp und hohem Gras bedeckte oder an Seen und Flüssen belegene Landstriche. Als Dämmerungs- und Nachtthiere hausen sie hier, sich in Sümpfen und Morästen, in Brüchen und Gewässern wälzend oder suhlend und auch ihr kesselartiges Lager bereitend. Sie leben mit wenigen Ausnahmen gesellig, bilden Trupps oder Rudel und leben ebensosehr von den Gewächsen des Waldes und Feldes, von Früchten Wurzeln und Schwämmen, als von Würmern, Schnecken, Insecten und deren Larven, welche sie sich aus dem Boden wühlen. Die eigentlichen Schweine sind Allesfresser, denn sie verzehren ebenso gerne sehr viele Stoffe aus dem Pflanzenreiche, als das Fleisch der Weichthiere, der Kerfe, der Lurche und warmblütiger Thiere. Ja, sie gehen selbst Aas an. Ihre Gefrässigkeit wie ihre Unreinlichkeit sind bekannt, sprüchwörtlich. Die Stimme ist ein be- hagliches Grunzen, oder im Affect ein kurz abgestossener, tiefer, von Schnaufen begleiteter Laut. Die Klagetöne erschallen grell schreiend. % Mit Ausnahme des kleinen stumpfen Gesichts, sind ihre Sinne vortrefi- lich, Geruch und Gehör stehen auf gleich hoher Stufe. Trotz ihres an- scheinend plumpen unbeholfenen Körpers mangelt ihnen Schnelligkeit im Laufe nicht. Dieser fördert unter eigenthümlichen Galopp-Sätzen in sehr vaschem Tempo ausserordentlich. Überhaupt sind ihre Bewegungen meist rasch. Sehr scheu, werden sie bei Gefahr flüchtig; im die Enge getrieben, vertheidigen sie sich aber so tapfer und energisch, ja greifen, verwundet, ihrer Waffen sich bewusst, beherzt und ungestüm an. Ebenso ver- theidigen sie mit grosser Liebe und Aufopferung ihre zahlreiche Nach- kommenschaft. Ihre geistigen Eigenschaften sind keine hervortretenden. Sie stehen, wenn nicht auf einer niederen, doch im Ganzen auf mittelmässigem Niveau, obgleich manchen Sippen Vorsicht und Schlauheit, wie Launenhaftiskeit nicht abzusprechen sind. Vielhufer. Multungula. 433 „Wenige Geschöpfe“ — sagt A. Brehm richtig — „lassen sich so leicht zähmen, wie die Schweme, und wenige verwildern so leicht wieder, wie sie. Ein junges Wildschwein gewöhnt sich bald an seinen dumpfen, sgarstigen Stall, ein junges zahmes Schwein, welches Freiheit geniesst, gleicht schon nach wenigen Jahren ganz den echten wilden, ja es zeichnet sich vor diesem durch Muth und Grimmigkeit aus.“ Oftenbar den interessantesten Vertreter in der Sippe der eigentlichen Schweine (Sus) bildet das Wildschwein oder die wilde Sau (Sus scrofa), der Ahne unseres zahmen Schweines. — Dieses Thier muss doppelt unsere Aufmerksamkeit erregen: denn es steht einmal, weil seine Lebensweise eine verwüstende ist, der Landwirthschaft feindlich gegenüber, ja fordert die Vertreter und Beschützer derselben in unseren Tagen lebhafter denn je heraus, mit Wort und theilweise in der That den Vernichtungskrieg gegen es zu beginnen. Zum Andern ist es eme so auffallende Erscheinung des Waldes, deren Anblick den eigentlichen Waidmann, d. h. denjenigen, der mit Mannes- lust und Manneskraft den ernsten Kampf kämpft mit dem letzten Charak- terthier ritterlicher Gefahr, zur Romantik des Mannhaften, zu „grosser Arebeit“ unserer Altväter anregt, die neben dem „Auer“ und dem en Schelch“ auch den wehrhaften wüsten Eber des Urwaldes „schlugen“. Ange- sichts dieser entgegenstehenden Ansichten schwankt denn auch in brernerlah Frage über Sein oder Nichtsein der Wildsau in den beiden scharf abge- srenzten Lagern von Feinden und Widersachern einerseits und Freunden und Beschützern andererseits hin und her. Wir, d. h. die Schriftsteller, welche bei aller Liebe zu dem Thiere und bei allem Interesse für seine Existenz doch auch die schwerwiegenden Fragen um seine Stellung und sein Verhalten gegenüber der menschlichen Gesell- schaft betrachten und an dem Leitfaden gründlich-praktischer Erforschung und Beobachtung gewissenhaft prüfen müssen: — wir sehen die Streitfrage über das Wildschwein an ihrer Grenze angekommen. Sie wird hier anhal- ten müssen, denn der Mensch sieht sich mit den praktischen Folgen semer Anstrengungen und seines Strebens und mit den Thatsachen in grellem Wider- spruch. Er steht den obwaltenden Verhältnissen gegenüber in seiner Ohn- macht da, so ohne Weiteres das Thhier nicht ausrotten zu können, ja er muss auch bekennen, dass es sich allen Nachstellungen zum Trotz noch vermehrt. Das Schwarzwild (wie man die Wildart waidmännisch generell auch benennt) hat thatsächlich keine Schon- oder Hegzeit mehr, man ist ihm mit allen Kräften des kunstgerechten Waidwerks sowohl als der Jägerei um jeden Preis auf den Fersen: und doch schreitet die Ge- schichte seines Daseins ihren natürlichen Gang fort. Ja, man dürfte sogar noch einen Schritt weiter gehen, und die Wildsau für en gemeinschädliches A, u. K. Müller, Thiere der Heimath, 28 454 Vielhufer. Multungula. Thier, wie Wolf und Bär, staatlicherseits erklären — und doch würde man keinen andern Effeet erzielen als den gegenwärtigen. Unser Schwarzwild wird sich vermöge seiner bedeutenden Fruchtbarkeit, kraft seiner ausge- zeichneten Sinne, seiner meist gefürchteten natürlichen Wehrhaftigkeit und seines rüstigen, unbändigen Naturells, sowie der undurchdringlichen Schutz- orte, welche ihm örtlich die neuere Waldeultur, also der Mensch mit seiner Kunstfertigkeit selber, geschaffen hat: — es wird sich dieser leben- dige schwarze Waldteufel noch geraume Zeit in seiner rohen Urwüchsigkeit und seimem unbändigen Thun und Treiben erhalten. Es verlohnt sich wohl der Mühe, dieses Thier des Streites und des In- teresses einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, auf es ein forschen- des Auge zu werfen. Die Züge, welche wir seinem Wesen und Wandel abgemerkt, wollen wir unverfälscht wiedergeben, und diese mit den besten Beobachtungen Anderer ergänzen oder verschmelzen. Die Schilderungen mögen dann für oder gegen das Thier selbst sprechen, woraus sich der geneigte Leser von seinem Standpunkte aus seme eigene Ansicht bilden wird. Bei den Heerden unserer im Waldungen getriebenen („eingefehmten‘“) zahmen Schweine treffen wir oft in dem halb verwilderten Eber das sehr ähnliche Bild des Wildschweines. So, nur noch wilder und wüster sieht es aus. Der Name Schwarzwild bezeichnet treffend seme Farbe: denn diese ist im Allgemeinen russig oder schwarzgrau mit in’s Bräunliche spielenden Spitzen der Borsten. Unser trefflicher Meister ©. F. Deiker hat den Lesern ein charakteristisches Bild des Schreckens der Sonntagsjäger ent- worfen, wonach eine umständliche Beschreibung überflüssig erscheint. Da das Thier aber von jeher den Gegenstand leidenschaftlicher, abenteuer- licher Jagd gebildet, so wird die waidmännische Bezeichnung seiner Körper- theile sowohl, als die Kunde der Jagd auf es nicht allein gerechtfertigt, sondern auch von Interesse für jeden wissbegierigen Naturfreund sein, um so mehr als das Jagen uns die beste Kenntniss von seinem Wesen und Wandel verschafft hat. Denn wer die eigenste Natur dieses Waldthieres kennen lernen will, muss ein Waidmann in der vollsten Bedeutung des Wortes sein. Das weibliche Wildschwein heisst Bache, das mämliche Keiler. Dieser ist em starkes, gedrungen gebautes Thier, vom Rüssel oder dem Gebreche an bis zum Waidloche hin anderthalb Meter lang und im auf- gebauten Widerrist bis 0,75 m hoch, von einem durchschnittlichen Gewicht von 125—130 Kilogr. Bei gutem Geäs erreicht eine Wildsau aber auch ein Gewicht von 200 Klogr. und mehr. Mit dem zahmen Schweine verglichen, besitzt das wilde einen mächtigeren, stärkeren Kopf, ein aufgebauteres (höheres) Vordertheil, wie überhaupt einen stärkeren, gedrungeneren Körper, kürzere, dicht anliegende Ohren oder Gehöre und stärkere Läufe. Auch Vielhufer. Multungula. 435 das Gebiss ist mächtiger, wovon die Hauer, das Gewerf oder Gewehr, sich besonders auszeichnen. Die in der unteren Kinnlade stehenden Eck- zähne biegen sich nämlich hart an den oberen neben den Lippen herauf und ragen bei fünfjährigen oder Hauptschweinen bis über das Gebrech oder den Rüssel hervor, während sich die kleineren Eckzähne der oberen Kinnlade, die sogenannten Haderer, ebenfalls nach oben krümmen und die beiden Gewehre berühren. An diesen Haderern wetzt der Keiler das Gewerf, wovon sie ihre bezeichnende waidmännische Benennung erhalten haben. Die Bache hat diese Zähne ebenfalls, aber viel schwächer unter der Benennung Haken. Das Gewerf des Keilers ist dreikantig, derb, sehr scharf und halbmondförmig nach oben gekrümmt; an seiner Berührungs- Hläche erschemt das Nasenbein über dem Gebreche aufgeworfen oder ge- schweift, was dem ohnedies hochkammigen, an den Wangen stark beborsteten Kopfe bei dem Leuchten der gelblich-weissen Gewehre, einen abenteuerlichen, srimmig-ernsten Ausdruck verleiht. Die steifen Borsten sind meist an den Spitzen getheilt und stehen im Winter dieht auf der Schwarte, welche ausserdem noch von einer weichen flockigen Wolle bekleidet ist. Diese fällt bei dem Abborsten (Verfärben) im Frühjahre aus, und es stellt sich die Sommerschwarte mit blos dünneren Borsten her. Den Keiler kennzeichnet neben dem starken Gewerf auch noch der Pinsel vor der Scheide der Brunftruthe, welcher aus einem Büschel langer Borsten besteht. Den 25 bis 28 cm langen Schwanz, waidmännisch Pürzel, Leier, Krickel, trägt die Sau gewöhnlich geringelt, bei Verfolgung und in der Wuth jedoch bogig aufgerichtet. Gewöhnlich frischt (gebiert) die Bache 4—-12 Frischlinge, 15—20 Wochen nach dem Beschlag in der Brunft oder Rauschzeit im November und December, also im März oder April. Es kommen aber auch Fälle vor, in welchen eine Bache in Einem Jahre zweimal frischt. Die Frischlinge sind auf schwärzlichem Grunde braun und gelb gestreift; diese Zeichnung verliert sich nach und nach und macht gegen den Herbst hin einer schmutzig-graubraunen Färbung Platz. Mit der Jährigkeit tauft der Waidmann die jungen Sauen überlaufene Frischlinge, welche Benennung sie bis zum zweiten Jahre behalten, worauf sie je nach Ge- schlecht zweijährige Keiler oder Bachen, sodann vom dritten bis zum vierten Jahre dreijährige Keiler oderBachen genannt werden. Nach vollendetem dritten Jahre sind die Letzteren starke Bachen, während im vierten Jahre die Keiler angehende Keiler oder Schweine heissen und im fünften Jahre die Bezeichnung starke Keiler, Haupt- keiler oder Hauptschweine annehmen. Das Schwarzwild liebt mehr ebene Gegenden und Hügelland als Ge- birge, unbeschadet des Umstandes, dass es auch in Thüringen, besonders im Harz, im Schwarzwald und anderen deutschen gebirgigen Gegenden gute 28* 436 Vielhufer. Multungula. Saustände gibt. Auch der Norden ist nicht seine Heimath; es überschreitet den 55° nördlicher Breite nicht. Aus rauhen Gebirgen wandert es zuweilen in harten, schneereichen Wintern, wie einer solchen Wanderung Hoch er- wähnt, bei welcher es im Jahre 1860 plötzlich zahlreich die Gegenden der Eifel verliess. In den gemässigten Theilen von Europa und Asien, sowie im nörd- lichen Afrika ist es heimisch, da es vermöge seiner Ernährungsweise vor- zugsweise milder Winter bedarf. In Afrika und Asien sind es die gras- reichen, schilf- oder dornbewachsenen sumpfigen Strecken, sowie insbesondere in Egypten die Zuckerrohrfelder und die mit Röhricht und Riedgras über- wucherten Brüche und Ränder der Strandseen, in welchen es haust. In Deutschland bergen es neben den schon genannten Gegenden vor- züglich die Nadelholz- und Hauberg-Dickungen der preussischen Rhein- provinz, ebenso häufig kommt es auch in Neuvorpommern vor. Es wählt in Niederungen und sumpfigen Strecken unserer zusammenhängenden Waldungen trockene Stellen der Dickichte, wo es sich ein Lager bricht oder kesselt, so bezeichnet, wenn ein einzelnes Stück Schwarzwild sich niederthut; wo es sich ferner in Rudeln im den meist mit Gras, Reisig, Laub und Moos ausgefüllten Kessel schiebt, den es gemeinschaftlich tief in die Erde bricht und an sicheren, ruhigen Orten längere Zeit benutzt. Im Gebirge wählt es — nach dem schon erwähnten Kenner des Schwarzwildes, Hoch — „stets die geschlossensten Nadelholz-Dickungen (Fichten-, Kiefern- Saaten und darin die dichtesten Stellen, wie aufgewachsene Kämpe etc.); im Laubholze steckt es sich in hundert Fällen kaum einmal. Grosse dichte Fichtensaaten in der Nähe der Felder und Wiesen, wohm es bei einbrechender Dunkelheit in's Gebreche (auf's Geäse) geht und bis gegen Tagesanbruch verbleibt, liebt es am meisten“ Wir finden diese Angabe Hoch’s durch. unsere Erfahrungen und Beobachtungen vollkommen bestätigt. i Auch das Schwarzwild ist gesellig und lebt in zahlreichen Rudeln. Gewöhnlich rudeln sich ausser der Brunft- oder Rauschzeit Bachen mit Frischlingen, überlaufenen Frischlingen und geringen Keilern, oder drei- und mehrjährige Sauen, welch letztere dann ein Rudel grober Sauen genannt werden. Die starken Keiler und Hauptschweine sind jedoch stets allein und schlagen sich nur zur Rauschzeit zu den Bachen. Das Wildschwein nährt sich theils von Wurzeln des Klees, der Farren- kräuter, der Saudistel, des Kümmels, von Schwämmen, ferner von Bucheln und Eicheln, Nüssen, wildem Obst und Kastanien, Wald- und Weinbeeren; theils von Insekten und deren Larven, Würmern und Schnecken, welche Asung es mit seinem Rüssel oder dem Gebreche in der Erde bricht und welche vorzugsweise, der übrigen Nahrung gegenüber, Erdmast ge- nannt wird. Ausserdem geht es die Kartoffeln, Rüben, Welschkorn, Erbsen, Bohnen, Hafer und andere Feldfrüchte sehr gerne an, und bilden auch "uU9nespfIM TOSSE) LOYISL] U], NISUyISNIYy SR: EN TUN Vielhufer. Multungula. 437 Mäuse, junge Hasen und Wildgeflügel, Reh- und Wildkälbehen, gefallenes Wild und Aas semen Frass, ja es soll nach zuverlässigen Beobachtungen bei mangelndem Frasse seine eigenen Jungen nicht verschonen. Dem Walde verursacht es weniger Schaden, ja es nützt ihm mehr, als es ihn beeinträchtigt. Ausgenommen die Saatplätze von Eicheln und Bucheln, welche es vorkommenden Falls schon tüchtig verheert hat, auch wohl hin und wieder die Beschädigung an einzelnem jungen Aufwuchse und an Pflänzlingen beim Suchen nach Erdmast, ist sein Auftreten im Walde kein zerstörendes. Alle diese Beschädigungen werden durch seine die Frucht- barkeit und Empfänglichkeit des Bodens für natürliche Besamung erhöhenden Erdauflockerung, sowie durch die Vertilgung schädlicher Insekten und Weichthiere vollständig ausgeglichen. Dieser Nutzen oder vielmehr dieses Zurücktreten seiner verheerenden Gewohnheiten beim Betreten der Felder macht sich besonders nm Waldmastjahren geltend. Bei reichlicher Eckern- und Eichmast fesselt es der Waldfrüchtesegen dermassen, dass es auf die Felder dann gar nicht tritt. Mit dem Tage wechselt das Schwarzwild wieder zu Holz, im Ziehen gewöhnlich brechend, wie es dies im Abenddunkel beim Heraustreten aus dem Holze gleichfalls thut. Seine Sinne sind mit Ausnahme des Gesichts vortrefflich. Es windet oder wittert und vernimmt oder hört sehr scharf; das beweist es durch sein Benehmen auf der Jagd, Schützen und Treibern sowohl, als auch dem pürschenden Waidmanne gegenüber, die es alle schon in emer Entfernung von 100 und mehr Schritten wittert und deren Nähe meidet und auf noch viel weitere Entfernungen zu vernehmen vermag. Hingegen ist sein Gesicht nach der Seite zu nur mittelmässig, nach vorn äugt es sogar schlecht. Vernimmt es ein ihm undeutliches oder auffälliges Geräusch oder äugt es einen verdächtigen Gegenstand nicht genau genug, so stutzt es mit trotzig gehobenem Kopfe, dabei gewöhnlich mit kurz abgebrochenen, wie „wo“ oder „ho“ tönenden Lauten oder mit Grunzen eine gewisse Erregtheit, Furcht oder Misstrauen zu erkennen gebend. Bei Gefahr oder Verwundung schnauft der Keiler und wetzt, indem er seine Hauer an den Haderern klappernd reibt. Er ist dann nicht ungefährlich gegen Mensch und Hund, besonders wenn er gereizt wird. Dann aber wird er tollkühn und wüst vor Wuth und nimmt ohne Weiteres semen Gegner an, auf ihn rennend und von unten und der Seite blitzschnell und wuchtig mit seinem Gewehr gefährliche Wunden schlagend. Die gereizte Bache, namentlich wenn sie ihre Frischlinge bedroht sieht, kann dadurch noch gefährlicher werden, dass sie den Feind wiederholt annimmt nnd derb um sich beisst; wärend der Keiler selten oder gar nicht mehr umkehrt, sobald er dem Gegner einmal vorbei- gerannt und nach ihm fehlgeschlagen hat. Der beherzte Waidmann nimmt, wenn er keine Saurüden oder Packer bei sich hat, die er auf die Sau hetzen kann, den Kampf mit dem verwundeten oder angeschweissten Keiler 438 Vielhufer. Multungula. mannesmuthig auf, ja er fordert den vor Wuth Schäumenden sogar heraus, indem er ihn mit dem Zuruf: „Hu Sau!“ anschreit. Der gereizte ver- wundete Keiler nimmt, wenn er sich noch erheben kann, dann blindlings den Jäger an, der, niederknieend, mit vor das rechte Knie gesetztem Hirschfänger, auch mit vorgehaltener Schweinsfeder oder dem Fangeisen den Anrennenden durch die Brust abfängt. Wie in solchen äusserst erregten Momenten, so ist überhaupt auch das Wildschwem oft unberechenbar in semen Launen, seinem ganzen Wesen und Wandel. Oft lässt es Treiber, Schützen und Hunde nahe bei seinem Lager oder Kessel vorüberziehen, ohne rege zu werden oder loszu- brechen; geradeso oft erscheint es hingegen bei geringer Beunruhigung oder beim Gewahren einer entfernteren Gefahr urplötzlich wie von einem un- sichtbaren Etwas besessen, stutzt, hebt den Kopf mit blitzenden Augen und gesträubten Borsten, entrollt und streckt den Pürzei in die Luft und trollt und rennt dahin stunden-, meilenweit. Hier stellt es sich, kraft seines urwüchsigen Trotzes und seiner Wehrhaftigkeit, jedem aufstossenden Gegner, dem Saubeller oder Finder und auch dem Jäger, ein Urbild roher, wüster Kraft und Wildheit; dort wieder wird das mächtigste Hauptschwem oder ein Rudel grober Sauen vor einem winzigen Dächsel flüchtig und bricht brasselnd und grunzend durch’s Holz. Wesentlich richtig im drastischen Zügen schildert v. Riesenthal den Keiler in den Worten: „... In seinem Thun und Treiben vermisst man jeden Zug, der auf ein inneres Leben, auf einen Genuss desselben mit Bewusstsein schliesse; das Wildschwein erfreut sich nicht am schönen Walde, wie wir es vom Edel- und Rehwild annehmen dürfen, für den stets verdriesslichen Keiler und die ungekämmte Bache ist der Wald nur Mittel zum Zweck, der grosse Trog, aus dem sie sich nähren, das grosse Bett, in welches sie sich einkesseln; die herrliche Eiche wird nicht des erquicklichen Schattens wegen aufgesucht, sondern nur, um nach den Früchten zu brechen und die Gewehre zu wetzen. Das Wildschwein hat kein Heimathsgefühl, es quartiert sich ohne Umstände da en, wo die Be- dingungen seiner Existenz vorhanden sind; sein Vaterland ist da, wo es ihm gut geht; ob Bergland oder Ebene, Sumpfland oder Steingeröll: es ist ihm ganz gleichgültig, wenn es nur brechen und sich fühlen kann.“ Aber es hat doch eine Heimath, sozusagen em Heim der Gewohnheit, an der es, wie alle phlesmatischen Naturen, zähe hängt. Sein Charakter ist Ja neben trotziger Launenhaftigkeit mürrisches Phlegma. In Folge dieser Eigenheiten sucht es denn doch gewisse Örtlichkeiten auf, in welchen es seinen Neigungen fröhnen kann. Das ist, wie wir schon hervorgehoben haben, die Nacht undurchdringlicher, abgeschiedener Nadelhölzer, die ihm Sicherheit und Ruhe bieten; es ist ein Forst, der diesem gefrässigsten Wilde seinen Erdmastsegen bietet und zugleich ihm gestattet, den starken Zehnten in benachbarten Feldern zu nehmen. Zu diesen Eldorado-Revieren wechselt Vielhufer. Multungula. 439 die Wildsau nicht selten über Berg und Thal, durch Fluss und See, und hier wird sie sehr stark von Leib und feist, das, wie von ihrem Abkömm- limge in unseren Stallungen, sehr verwendbare Weisse oder Fett oft 10 bis 12 cm hoch aufzulegen. Wenn diesen gesuchten Waldorten auch das der Wildsau unentbehrliche Gewässer und sumpfige Niederungen oder Brüche nicht mangeln, wo sie sich in Behaglichkeit suhlt und an den Mahlbäumen, besonders dem Nadelholze, die borstige Schwarte reibt, also dass sie von dem abgeriebenen und zwischen die Borsten gedrückten Harze auf den Blättern in das gepanzerte Ungethüm sich verwandelt, woran die Schrote zum panischen Schrecken des Jagddilletanten abprallen und diesen nach Abwerfen seiner untödtlichen Waffe in jäher Flucht den ersten besten Raidel hinauf treibt. Das Wildschwem spürt sich in semen Jugendperioden bis zum dritten und vierten Jahre gewöhnlich mit ungleichen Schalen. Die Fährte der starken Keiler und Hauptschweine, sowie die der alten Bachen zeigen diese Ungleichheit nicht mehr. Auch gehört es zu den Eigenheiten des Schwarz- wildes, dass öfters geraume Strecken hin die hinteren genau in die Fährten der vorderen Stücke eines Rudels treten und so beim Einkreisen oder Bestätigen eines Waldortes den Unaufmerksamen oder nicht Scharf- spürenden ihrer Anzahl nach trügen. Die Fährte der stärksten Sau unter scheidet der Kennerblick sogleich von der eines Stück Rothwildes oder eines Edelhirsches an dem Eindruck der flacheren Ballen, besonders aber an dem charakteristischen Siegel des weit abstehenden Geäfters oder der After- klauen und dem kürzeren Schritt. Die Rauschzeit ist auch für den trägen einsiedlerischen Hauptkeiler das Signal zum Aufbruch aus Einsamkeit und Ruhe, ein Wendepunkt, in welchem sich alle Gegensätze im Wesen und Wandel dieses Wildes offen- baren. Wie es äusserst vorsichtig und schlau das ganze Jahr über war, hier sich von dem Lärm der Giesskanne, Trommeln und Klappern der Treiberwehr, dort von dem Lautgeben des Saubellers nicht beirren und aus seinem sicheren Stand in der Fichtendickung nicht losmachen (heraustreiben) liess; wie es auch beim Regewerden aus Lager und Kessel mit untrüglichem Wittern und Vernehmen die unsichtbare Schützenlinie vor der Diekung entdeckte, wie es ebenso beim Rudel in dem lang gebrauchten Kessel, den Kopf mit den übrigen Stücken nach innen gerichtet, in seiner Waldruhe behaglich lagerte, wie endlich das hauende Schwem sich stabil in semem Lager dehnte: jetzt auf einmal ist dieses dunkle Wald- phlesma wie durch einen Zauber ein perpetuum mobile geworden, ein Wesen, das das streng gemiedene rührige Rudel der Bachen sucht und sich zu diesen begehrten Genossinnen schlägt, wenn der vor kurzem faule Einsiedler auch meilenweit durch Diek und Dünn, durch Wasser, Eis und Schnee, bergaus und thalen umherstreichen muss. Dieser Zauber ist die all- 440 Vielhufer. Multungula gewaltige Liebe, die Brunft, die auch in das verstockte Herz des grimmen Keilers in der tiefsten Waldnacht ihren Einzug hält und das zu suchen und zu begehren zwingt, was es seither so zähe und mürrisch gemieden: die Geselligkeit. Aber nur die Genossenschaft der Bachen, seiner Waldhuldinnen, sucht und verträgt er. Seinem Lebenscharakterzuge, der rohen physischen Gewalt und Willkür gemäss, ist auch seme Liebe tyrannischer, ausschliess- licher Natur. Er duldet keinen Semesgleichen neben sich. Die geringeren Keiler schlägt er ab, und mit den starken und Hauptkeilern kämpft er gefährliche Kämpfe. Sen Kamm oder Kramm, der hochbeborstete Vorderrücken, schwillt ihm im wahren Sinne des Wortes, er wetzt die Ge- wehre mit Geklapper und kesselt und stampft, den Boden aufbrechend, vor Eifersucht und wuthschnaubend. Das ist das Bild des wüsten Schwarz- borstigen der Diekungen, dessen Jagd nur der kunstgeübte und mannes- kräftige Waidmann besteht, vor dessen Schreckbild aber der entnervte Jagd- dilletant zurückbebt. Das ist mit dem Elch der letzte ritterliche Vertreter der grimmen Wehrhaften des Urwaldes, der den Kampf auf Leben und Tod aufnimmt mit der Hatze der Rüden, unter welchen er oft gräuliche Verwüstungen anrichtet, wenn sie ihm entgegen oder auf den Boll ge- hetzt werden; das ist der zählebige, trotzige Thiercharakter, der, das Fang- eisen oder den Hirschfänger tief in der Brust, heldenmüthig im Kampfe mit Mensch und Hunden unterliegt und lautlos stirbt. Hier auf der urwüchsigen Bühne seines Wandels wird sich der stark bewehrte Kämpe des Waldes noch lange in seiner Unbändigkeit und Frei- heit zu bewahren wissen, bis auch ihn dereinst die Oultur, „die alle Welt beleckt“, aber auch alle Welt besiegt, wie einen Schatten aus seinem Dasein drängt. ee Druck von Leopold & Bär in Leipzig. BEESR WEL N ui 3 9088 01348 9