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Frornmaniis Klassiker der Philosophie

herausgegeben

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Richard Falckenberg

Dr. u. o, Professor der Fhilosojilie an der Universität Erlangen.

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XI.

Thomas Carlyle

VON

PAUL HENSEL

Digitized by the Internet Archive

in 2010 witii funding from

University of Toronto

littp://www.arcliive.org/details/tliomascarlyleOOIiens

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THOMAS CARLYLE

Y^ 1 !T. Hbnsel

MIT BILDNIS.

ZWEITE DURCHGESEHENE ArFLXGE.

STUTTGART

FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF)

1902.

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THOMAS CARLYLE

VON

Paul Hensel.

MIT BILDNIS.

ZWEITE DURCHGESEHENE AUFLAGE.

STUTTGART

FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF)

1902.

Alle Rechte vorbehalten.

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lA)\i\i Bosheuver's Buchdruckerei (W. Ümck) «lannslall.

WILHELM WINDELBAND

zugeeignet.

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Kapitel •"'«"«

1. Anfän^'e 9—21

2. Vorbedingunjjen und innere Kämpfe 22 39

3. Bis zur Übersiedelung nach London 40— G4

4. Der Mensch und die Natur 65—100

5. Leben in London bis /.um Tode von Jane Welsh Oarlyle 101—127

6. Geschichtsphilosophie 12s— 165

7. Das gegenwärtige Zeitalter 1*^*^ 20:^.

8. Das Ende 204-218

Synchronistische Tabelle für Carlyles Leben und Schriften 214—218

Kapitel 1. Anfänge.

Thomas Carlyle wurde am 4. Dezeml)er 17115 zu Ecclefechan ((Ti-afschaft Dumfries) in Schuttland geboren. Seine Familie war ursprünglich auf der englischen Seite der Grenzlinie angesessen, aber deshalb Carlyle nicht als Schotten ansehen zu wollen, wäre ungerechtfertigt. Auf beiden Seiten der (xrenze sass derselbe zähe, aus- dauernde, wortkarge ]\Ienschenschlag, der alle Kenn- zeichen der Schotten des Tieflandes zeigt und sich von den Engländern fast noch mehr unterscheidet als von den gälischen Bewohnern der Hochlande. Wie seine Sprache, die in Wortschatz und Aussprache sich viel mehr an das Deutsche anlehnt, als es das Englische mit seiner verhältnismässig starken Beimischung normannisch- französischer Worte thut, so ist auch der Volkscharakter viel freier von fremden Bestandteilen und hat sich die Eigenart des niederdeutschen Stammes reiner bewahrt. Die römische Kultur hat hier weniger sichtbare Spuren zurückgelassen; die normannische Invasion hat bis hier- hin nicht gebrandet. In den Jahrhunderte langen Kämpfen gegen das übermächtige England einerseits, die räube- rischen Bewohner des Hochlandes andererseits, im Kampf mit dem kärglichen Boden, der so sehr von den geseg- neten Fluren Englands absticht, wuchs hier ein trotziges, arbeitsames und sparsames Geschlecht empor, das von

10 Kapitel 1.

der Welt wenig Freude und wenige Güter zu erwarten hatte, und dem die pünktlichste Pflichterfüllung, die schweigende Ergebung in den A\'illen Gotte.^ zur zweiten Xatur wurde.

Buckle hat darauf aufmerksam gemacht, wie stark •die Neigung zu theologischer Spekulation in Schottland sich ausgebildet hat, er ist aber dem eigentlichen (4rund für diese Erscheinung wenig gerecht geworden. Die Koforniati(m ist in Wahrheit für Schottland wie für ■das nördliche Deutschland die entscheidende Epoche des geistigen Lebens gewesen. Während in England die 8taatskirche einen klugen Kompromiss zwischen der katholischen Kirche und dem Protestantismus darstellte, -welcher im ganzen einen entschiedenen Sieg des eng- lischen Königtums bedeutete und die Volksseele gegen- über den gewaltigen Erschütterungen anderer Länder verhältnismässig wenig berührte, während hier der eigent- liche Protestantismus von vornherein auf Sektenbildung hinauslief, sehen wir in Schottland ein ganz anderes Schauspiel. Der strengen und harten Konsequenz des schottischen Geistes musste die unerbittliche Logik des •Calvinismus die ihm kongenialste Religionsform bieten. Die staatliche Gewalt, die sich auf Seiten des Katholi- zismus gestellt hatte, war zu schwach, dem mächtigen geistigen Strom zu widerstehen. .Inlm Knox drückte den Stempel seines (ieistes der schottischen Kirclie ebenso auf. wie es ('alvin dem Genfer Gemeinwesen gethan hatte. Nur in dem Masse, in dem ein Volk geistige -<TÜter erkämpft hat. kiinnen sie in ihm lebendig werden. Verglichen mit der Inbrunst und Standliaitigkeit, w(»- mit unter den härtesten Verfolgungen, (h'u unmensch- lichsten Martern -der feierliclie Hund und Vertrag** zwischen (lott und dem schottischen V(dk gehalten wurde, erscheinen die ( »j)fer. welche das englische \\»lk seiner religiösen iTI)erzeugung zu bringen geneigt war, als recht .unerheblich. ^^';ihI'en(l den Kngländern religiöse Fragen

Carlyles Elternhaus. 11

immer mehr und mehr zu politischen oder sozialen Fragen \^airden, fand der Schotte in den Lehren seiner Religion eine vollständige und genügende Weltanschau- ung. Vor die unendliche Entscheidung über Seligkeit und Verdammnis gestellt, wurde ihm das ganze Leben zu einem y, Suchen des Herrn". Nicht nur der Sabbat, sondern jede Stunde des Lebens, alle Arbeit und alle Erholung waren durch religiöse Gesichtspunkte be- herrscht. So hatte das schottische Volk den unend- lichen Vorteil, mit dem Aufgeben der Weltanschauung des Katholizismus vom Mittelalter unmittelbar in die neuere Zeit einzutreten, ausgerüstet mit einer neuen, tieferen, verinnerlichten Weltanschauung, die in noch ungleich hiUierem Grade als jene das ganze Leben in ihren Dienst zwang.

Freilich, wie die schottische Landschaft ernst und, reizlos dem verwöhnteren Auge des Engländers erscheint, so war auch das Leben der Bewohner sehr unterschie- den von dem lustigen Treiben Englands. Systematisch drängten diese schweigsamen Menschen die Ausbrüche heiterer Lust, die unschuldige Freude am Schönen zu- rück. Sogar die innigen Beziehungen innerhalb der Familie, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, der El- tern zu den Kindern, wurden aller weichen Zärtlichkeit entkleidet. Die Pflichterfüllung, der strenge Gehorsam trat an die Stelle der Äusserungen naiver und herz- licher Zuneigung. Solcher Art war die Familie, in welcher der junge Carlyle aufwuchs. Wir sind über seinen Vater James Carlyle gut unterrichtet durch die merkwürdigen Aufzeichnungen, die der Sohn im Jahre 1832 unter dem frischen Eindruck der Xachricht vom Hinscheiden des Vaters geschrieben hat. Wir sehen hier nicht nur den Stolz des Sohnes, diesen treuen und wahren Mann seinen Vater nennen zu können, wir sehen auch, dass dieser Stolz berechtigt war. und dass Carlyle sich und den Vater richtig beurteilte, wenn er sich „als

12 Kai.itel I.

eine Fort.sctzun^ und als zweiten Band meines \'atei's- bezeichnete. Vor allem war es die absolute Wahrhaf- tigkeit, die den (irrundzug seines Wesens ausmachte, und damit in Verbindung stehend seine Abneigung gegen alles IH'uschwerk. _leh will meine Bücher sehreiben, wie er seine Häuser baute*, sagt sein Sohn: seine Tages- arbeit nieht um I^ohn /.u leisten, sondern damit etwas Tüchtiges, Dauerndes hergestellt würdi*. war der (Te- sichtspunkt, aus welchem der Vater seine Arbeit that. Vnd ebenso war ihm jedes leichtfertige Wort ein (Treuel. Schweigsam und verschlo.ssen, wie er für gewJthnlich war, konnte er leerem (re.schwätz gegenüber durch ein kurzes «ich glaub' dir nicht" oder durch wenige scharfe Worte den Schwätzer in sehr entschiedener Weise zur Ruhe bringen. Ohne Menschenfurcht verstand er es auch, den hiUier (lestellten fühlen zu lassen, dass ihm hier das Hixhste. ein wahrer IMann, gegenül)ertrat. Dieser glühende Kern seines Innern kam aber selten zu Tage. «Er hatte nicht die Gabe, frei un<l orten sein Inneres zu erschliessen". auch für ihn war „die g«'>tt- liche Macht des Schweigens- sein eigentliches Klement: , Meine Mutter hat mir gestanden, dass sie ihn nie hat verstehen klinnen, dass ilire Liebe unter einem ge- wissen Drucke stand"^. und (lass(dbe war bei seinen Kin- dern dei' Kall. Tm so iniiigei- kam dii'se Kindesliebe in dem Verkeil r mit der Mutter. Margarete Aitken. zum Ausdruck, i'.is zu ihrem To(le (.lanuar IS.'d) stand Car- lyle im regsten schrittlichen Vi-rkehr mit ihr. die. um .seine Briefe lesen uml beantworten zu können, die .schwierige Kunst des Schreibens erlernt hatte. Kührend ist es, wie sie, in dem einfachen (tiauben der Väter .stehend, mit innigster Angst und ."^nrge dii' steilen Pfade verfolgt, auf denen ihr Sohn emporklimmt, wie ihre Mahnung, sich deniilauben der Kindheit zu bewahren, ängstlicher um! ängstlicher crt<"int. KImmiso s«'hltn aber auch die Antworten des Sohne«;. i\rv uicht müde wird.

Scliule in Anniui. 13

darauf hinzuweisen, dass bei verschiedener Form der Inhalt ihres (xlaubens derselbe sei. und dies nicht als leere Beschwichtigung meint, sondern als Ausdruck seiner innersten Überzeugung. AVenn dann bei gelegentlichen Besuchen des berühmt gewordenen Sohnes Beide die langen Thonpfeifen rauchend neben einander einherschrit- ten. dann überwog in ihrem Mutterherzen den Stolz auf ihren Erstgeborenen doch die beglückende Üljerzeugung, •dass er die Wahrheit gesprochen, und sie lernte all- mählich durch seine klareren Augen die Welt zu be- trachten.

Das Leben im Elternhause war vom denkbar ein- fachsten schottischen Zuschnitt. Die Nahrung Haferbrei, Milch und Kartoffeln . die Kleidung ärmlich aber immer reinlich. Schuhe ein unbekannter Luxus. Die ersten Jahre besuchte Carlyle die Dorfschule, später entschloss sich sein Vater, auf Rat des Gei.stlichen Johnstone, ihn im Alter von 9 Jahren auf die Lateinschule in Annan zu schicken. Er wusste genug von seinem Sohn, um die Warnung eines Nachbars, dass als Resultat einer besseren Erziehung der Sohn seine ungebildeten Eltern verachten lernen würde, unberücksichtigt lassen zu können. Ebenso wie Carlyle später in seinem Roman „Sartor Resartus" sein Heimatsdorf unter dem Xamen ..Entepfuhl" geschil- dert hat. tritt die Schule von Annan unter dem wenig ehrenvollen Namen des (xymnasiimis zu „Hinterschlag" auf. Die Schuldisziplin war hart, fast grausam, der Lernstoff dürftig, vielleicht war es gut für den Knaben, dass er schon hier lernte, geistig auf eigenen Füssen zu stehen. „Jedes Buch, das ich bekommen konnte, ver- schlang ich." Die Schule wurde durchaus im (reist schottischer Orthodoxie geleitet; die Annahme, dass schon hier irgend welche religiöse Skrupel sich in Carlyle geregt hätten, findet in dem uns zugänglichen Material keine Stütze.

So konnte er denn im November 1809, noch nicht

14 Kapitel 1.

14 .lahre alt. zur UniviM-sität nach Kdinbiirgh wandern, um dort Theologie zu studieren. Das \^'andern ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Zu Fuss legten die .schot- tischen Studenten dieser Zeit den Weg von ihrer Heimat zur Universität zurück, und das Leben, das sie dort führten, entsprach vollständig der bescheidenen Art ihres Einzuges. Auch hier muss der deutsch«» Leser den Unter.schied zwischen England und Schottland scharf im Auge behalten. Die cnglibclicn l niversjtiiten. im Besitz reicher .Stiftungen mit ihren Palästen, die ()xf(trd und. Cambridge zu den schönsten Städten maclien. die in dem schönen England zu finden sind, geben ihren überwie- gend den höheren Ständen angehörenden Studenten nicht nur geistige Nahrung, sondern auch eine hi)chst bcfiueme materielle Existenz. Wer nur irgend durch Fleiss und Tüchtigkeit befriedigt, wird durch die reichen Pfründen seines Colleges einer auskiWumlichen Versorgung füi" sein Leben siclier. In Edinburgh gab es nichts derart. Die Studenten lebten in der Stadt, in ihrem Wandel wie in ihren Studien durchaus selbstständig, aber auch olme jede materielle Heihilfe von seiten der Universität. Der Ar- mut des Landes entsprecliend wurden die Vorlesungen nur im Herbst und Winter gehalten, im S<mimer gingen die H<»rer auf das Land zu ihren Filtern zurück, um ihnen bei t\ov Ernte behiltlich sein zu können. Die sprichwih'tliche schottische Sparsamkeit steigerte ihre Lebenshaltung zu wahrhaft spartanischer Bedilrfnisbisig- keit. Aus ( 'arlyles Briefen sehen wir. dass seine Nah- rung ganz oder zinn grössten Teil aus Hafermehl be- stand. da.s ihm die Eltern zusendeten, mit gelegentlichen Extraseudungen heimatlicher Butter. Der daraus zu- samm(Migeko<hte Bn'i das schottische Nationalessen. ein beständiger (ilegenstand des Spottes für di«' Kit^läii- der. die den Hafer nur als Pferdefutter kennen - bil- dete allerdings einen erheblichen (iegensatz zu der reich- lichen Mittagstafel englischer Stndi-nten.

Universität: Tiieulogie und Matliematik. 15-

Das theolog'ische Studium zerfiel in zwei Teile: ein vorl)ereitender Kursus von vier Jahren nach dem früher auch in Deutschland geltenden Schema, der alte Sprachen, Philosophie und namentlich Mathematik enthielt, und das eigentliche theologische Studium, das für diejenigen, die einen längeren Aufenthalt in Edinburgh ermöglichen konnten, drei Jahre umfasste. Wiederum aus ökonomi- schen Gründen war es aber auch gestattet, ausserhalb Edinburghs auf eigene Hand die Studien fortzusetzen, wobei als einzige Verpflichtung die Zahlung einer mas- sigen Gebühr und jährlich eine Predigt vor der Fakul- tät vorgesehen war. Den ersten Kursus hat Carlyle vollständig durchgemacht; als eine Vorbereitung al)er zum theologischen Studium kann man die von ihm er- worbenen Kenntnisse kaum betrachten. Auch hier war er überwiegend auf eigenes Suchen angewiesen. Mag auch die Schilderung im Sartor Resartus übertrieben sein, wo die Universität mit einem eingezäunten Platz verglichen wird, in welchem eine Büchersammlung steht. und an dessen Eingang einige schwarz gekleidete Männer postiert sind, die erklären, dass dieses eine Universität sei, und nach dieser Erklärung elfhundert Jünglinge in das Gehege hinein lassen, damit sie dort thun und lassen können, was sie wollen soviel bleibt sicher, dass nur für den Professor der Mathematik, Leslie, Carlyle auf- richtige Dankbarkeit empfand. Namentlich die Geo- metrie war Jahre lang seine Lieblingsbeschäftigung, und die Mathematik erm()glichte es ihm, der Gedankenwelt des 18, Jahrhunderts nahe zu treten, wodurch die wich- tigste Epoche seiner geistigen Entwickelung bedingt werden sollte. Leider entbehrte er auf philosophischem Gebiet der sicheren Leitung, die ihm in der Mathematik zu teil wurde. Dugald Steward hatte die Universität verlassen, und sein Nachfolger Brown hatte bei aller wissenschaftlichen Tüchtigkeit nicht die Gabe, seinen Hörern zu einer philosophischen Weltanschauung die

IH Kapilel 1.

AVego XU woix'ii. Su ^^all >i(h ('ui-l\'k' ;iut Hürhcr und nichts als Bücher angewiesen, und e.s begann sich hei ihm leise, aber mit immer zunehmender Stärke jener ^vei'bietende Zweifel" zu melden, der ihm dii* Fort- setzung des tlieok>gisehen Studiums uniu<»gli(h machen sollte. Nach der Beendigung des vorbereitenden Kursus verliess Carlyle Edinburgh (lS14i. um seinen Lebens- unterhalt zu gewinnen. Eine Stelhmg als Ldirer der 31athematik in Annan, welche den Vorteil hatt«'. ilin in die Nähe .seiner jetzt in IMainhill lebenden Familie zu führen, ermöglichte es ihm. seinen Studien zu leben, die in «lieser Zeit sieh vorwiegend auf das Erlernen der deutschi'n Sprache und die Bekanntschaft mit deutscher Litteratur richteten. In einem „trockenen Graben" i>ei I\Iainhill las ei- zum erstenmal den Faust. Eigentliche Freude an seiner Thätigkeit fand er nicht. Er that pünktlich und gewissenhaft seine l*Hicht. aber er war zu sehr mit sicli selber beschäftigt, fühlte sich selber zu unfertig, um andern ein Lehrc^r sein zu kiinnen.

Ebensowenig war < 'arl \le in dieser Zeit in der Lage, mit anderen Menschen als den zu seiner näclisten Familie gehi'irigen veikeliren. sein Herz ihnen «»tfnen zu können. Hierin ganz seinem Vater älinlich. vennochte er es niclit. iilter l)inge zu sprechen, die er niclit vcdl- ständig durelidaebr hatte. Er musste in Schweigen ver- harren. i>is sich die A\'ortt' von s«dber fanden, die sich erst nach vollkommener hurchdringung des Stoffes bei ihm zur Kede fügten. Nur einem durchaus verstehen- den Freunde, der die \\'ege des Zweifels gleichfalls ge- gangen war. kimnte («s gelingen, das Kis seines Schwei- gens zum Sclimelz»'n zu bringen, und Carlyle hat es als eine bestondere (lunst tb's Schicksals betrachtet, dass ihm an diesem Wendepunkt seines Lebens ein scdcher Freund nahe trat. Es war Edward Irving.

Schon früher war es zu flüchtiger Bekannt.Mcliaft zwi.schen «len beiden Landsleuten gekommen. Aber Ir-

Lehrer in KirkcaMy. 17

ving, der etwas ältere, hochbegabte Jün^-ling. der be- reits eine ehrenvolle Studienzeit vollendet hatte, auf den die früheren Lehrer mit stolzer Hoffnung blickten, flösste dem schweigsamen, gegen sich selber misstrau- ischen, durchaus nicht mit der Gabe zu glänzen aus- gestatteten Carlyle mehr scheue Achtung, vielleicht Be- wunderung ein, als dass von einem Freundschaftsver- hältnisse hätte die Rede sein können. Xun führte sie das Schicksal merkwürdig genug zusammen. Irving war der Vorsteher einer Schule in Kirkcaldy geworden, die er mit völliger Hingabe, aber nicht zur Zufriedenheit eines Teils der Eltern seiner Zöglinge, leitete. Diese (Tregenpartei beschloss. eine eigene Schule zu gründen, und als Leiter dieser Schule wurde Carlyle berufen. Er kam also als Konkurrent Irvings nach Kirkcaldy, aljer Irving war über alle kleinlichen Gesichtspunkte nach seiner „schönen, mannhaften, geselligen Art" weit erhaben, und so begann von 1816 an eine enge Freund- schaft zwischen beiden, in der Carlyle anfangs zweifel- los mehr der empfangende als der gebende Teil war. Irving schien dem Jüngern gegenüber als ein fertiger Mann, der die Probleme, mit denen Carlyle sich inner- lich wund rang, durchdacht und gel()st hatte. Aber er war der Mann, in dem Jüngern schon jetzt das zu sehen, was sich später aus ihm entwickeln sollte, und er stellte sein ganzes nicht unerhebliches Wissen, seine ganze reiche und treue Xatur rückhaltlos dem Freunde zur Verfügimg. So schmolz denn das Eis des Schweigens, das Carlyle um seine Seele gelegt hatte, und an einem Abend, der das Ende einer gemeinschaftlichen Fusswan- derung war, auf dem einsamen Torfmoos von Drumclog entlockte Irving Carlyle „Schritt für Schritt auf die zarteste Weise das Geständnis, dass ich nicht wie er über das Christentum dachte, und dass es für mich aus- sichtslos sei, zu denken, dass ich es je könnte oder würde; wenn es so wäre, so hatte er sich vorher ver-

Hensel, Carlyle. 2

18 Kapitel 1.

pHichtet. es ohne (ttoII von mii" aut'/.nnehmen und recht treulich liat er's gehalten: Ins an sein Lrltcnsende Itrauchten wir iiljer fliese Punkte keine Heiiiiliehkeiten : das war wirklich ein Schritt vorwärts-. A\'ie ühei- seinen Vater, so hat Carlyle auch über den Freund seine Kr- innerungen niedergeschi-ielx'n. denen die vorsteheuchMi AVorte entnommen sind.

Es empfielilt sich hier, in Kürze auf die weitere Entwickelung Irvings einzugehen, weil sie in Carlyles Angen tyj)isch war. und aus seinen Äusserungen klar hervorgeht, dass sie ihn. wenn aucli nur in warnendem Sinne, in di'r \\'ahl seines eigenen Lehensweges Iteein- flnsst lu^t. Auf lange .lahi-e hinaus schien die Lauf- bahn Irvings sich immer glänzender gestalten zu s(dlen. Ein Kanzelredner von ungewJUmlichen (lal)en. mit liiu- reissender Beredsamkeit ausgestattet, eine lielK'iiswür- dige Erscheinung, der alle Herzen zuHogen. entfaltete er zuerst als Hilf.sgeistlicher des berühmten Dr. ('halmers eine grosse A\'irksamkeit. die zu einem l'uf als Prediger an die schottische (4emeinde zu Lonchui führte, l'uil hier war sein Krfolg ein gb'inzender. augenblicklichei". sinnl)eth("trender. Kein IMatz in seiner Kirclie war frei, wenn er predigte, die vornehmsten i)anu'n. die geist- V(dlsteu Männer (b'r verwöhnten liuufhtner (tesellscliatt scharten sicli um iliu. ei- wurch' (h'i- Held (h"^ Tages. IHesem Erfolg war Irving niclit gewachsen, oder viel- mehr er deutete ihn falsch. Ki* glaubte sirdi zum reli- giiisen Uefornnitor der Hauptstadt berutV'n. er wollte innigi's rtdigiöses Leben da erwecken, wn liis jetzt nur ^^'eltlichkeit zu W<»rte gekommen war. und er ahnte nicht, dass er sidbst doch nur ein vorübergtdiend«'- _Kr- eignis" in diesen geistreiclu-n Zirkidn war. die. ewig sensationsbeflürttig. ihn unter genau «len>s«'Iben (Jesiclits- punkt auttassten. wie den Autor irgend eines crftdg- reichen I{<»mans. den Reisenden, der v«»n irgend einer bish(»r unbekanntt'U (ieiren»! zu erzäiilen wusste. Er war

Irving. 19

der „Löwe" einer Saison und wurde, wie andere Löwen, über neue Gegen.stände der Neugierde vergessen. Es gelang Irving niclit. sicli in sich selbst wieder zu finden. Er war aufrichtig genug, den Erfolg als Sclieinerfolg zu erkennen, aber er vermochte nicht, sich durchaus auf sich selber zurückzuziehen. Immer wilder wurden seine Spekulationen, immer mehr veränderte sich seine Cie- mt'inde zum fanatischen Conventikel. Aus der schot- tischen Kirche ausgestossen, schlcss er sich an eine enthu- siastische Sekte an. und mit tiefem (Tranen sah sein Freund ihn von einem Kreis hysterischer, geistig überspannter Anhänger umgeben, deren ..Zungenreden" Irving unmög- lich als göttliche Offenbarung ansehen konnte, und welche abzuschütteln ihm doch die geistige Sjiannkraft fehlte. Im .lahre 1S34. l)ald nach Carlyles Ankunft in London, starb Irving, ein gebeugter, vernichteter ]\Iann. Was ihn im wesentlichen von C'arlyle unterschied, worin in letzter Linie die Ursache seines ]\Iisserfolges lag. war das Bedürfnis, nach aussen zu wirken. Dieses Wirken fasste er niemals als das Mittel eigenen Erfolges auf. Immer stand ihm das geistige AVohl. die religiöse Er- hebung seiner (Tcmeinde im Vordergründe. Aber dieses ^A'irken nach aussen hatte zu früh seine Seele ergriffen, unmerklich hatte er seinen geistigen Schwerpunkt aus sich heraus in seine Umgebung verlegt, er hatte kein stabiles rrleichgev^acht . sondern mehr nur ein labiles. Allmählich ging ihm die Möglichkeit verloren, zwischen einem augenblicklichen Einfall, mit dem er in blenden- der Rede seine Hörer hinreissen konnte, und einer festen, selbst erarbeiteten Überzeugung zu unterscheiden, und damit war auch seine AVirksamkeit selber gefährdet und zu einem Tageserfolg prädestiniert. Lie vidlige Gleich- gültigkeit gegen äusseren Erfolg, der feste Entschluss, nie auch nur mit einem Wort hervorzutreten, das nicht unwiderstehlich darnach rang, ausgesprochen zu werden, dieser auffallendste Zug- in der Lebensführuno; C'arlvles

20 Kapitel 1.

war ja in seinem Charakter bereits angelegt; allen Ver- suchnngen gegenüber befestigt wurde er zweifellos durch das warnende Beispiel des geliebten und betrauerten Freundes.

Bald nach Irvings Fortgang von Kirkcaldy hörte auch Carlyles Wirksamkeit auf. Er fühlte, dass er zum Lehrer an einer Schule nicht geschaffen sei. 3Iisshellig- keiten in seinem Lehramt kamen dazu, vielleicht wirkte auch der traurige Ausgang einer ersten Herzensneigung zu Margaret (xordon, der er in der Blumine des Sartor Resartus ein Denkmal gesetzt hat, dazu mit, ihm den Aufenthalt zu verleiden. So ging er 1818 nach Edin- burgh zurück, eigentlich ohne bestimmten Lebensplan. 3Iit der theologischen Laufbahn hatte er abgeschlossen. Ein späterer Versuch, Jurisprudenz zu studieren. l)lieb, um dies gleich vorauszunehmen, erfolglos; es war ein mühseliges, trostloses Leben, das er fährte, ein Leben nicht nur reich an Arbeit, vor welcher Carlyle nie zu- rückschreckte, sondern auch an körperlichen und geistigen (Qualen, die es zur Hölle machten. Durch ungenügende Ernährvmg bildete sich ein Magenleiden aus, wahrschein- lich dasselbe, dessen unerträgliche Schmerzen (Carlyle vergleicht sie mit dem Nagen einer Ratte am Magen- mund) de Quincey und Coleridge zum Opium greifen Hess. Durch unzweckmässige Behandlung verschlimmert, verbitterte ihm dieses Leiden lange Jahre seines Lebens. Immer mehr stellte es sich ihm heraus, dass das Leben eines Schriftstellers für ihn das einzig mögliche sei, und so finden wir ilm in diesen .lahren in eifriger Lohn- arbeit an allerhand miigliclien encyklopädisclien Unterneli- mungen. Namentlich in Brewsters „Edinburgh Encydo- paedia" erschienen eine Reihe von Artikeln biogra- phischer und geographischer Art. denen er mit Recht die Aufnahme in seine gesammelten Werlvc versagte. Sie sind tüchtig, aber durchaus handwerksmässig mit guter Benutzung des litterarischen 3Iaterials geschrieben, vnn

Schriftslelierisclie Tliäligkeif. 21

dem s[)iitrren ('arl\'le tiiidet sich in iliiieu kaum eiiu' Spur. Es war Utterarisclie Handlangerarbeit, unter- nommen, um leben zu kimnen. auf die. abgesehen von diesem Zweck, ('arlyle keinen \\'ert lep:te*). Kr war weit davon entfernt, in dieser Thätigkeit aufgehen zu w{dlen, eifrig setzte er seine Studien auf der ^Bibliothek der Advokaten" fort, die durchaus niclit nur juristisch»' Büf'lier entliiclt. und die er sein Leben lang in dank- bai-ci" Krinncrung behielt. Seine Hauptaufgabe al)er war. mit sich selber ins reine zu kommen, zu sehen, was für eine Weltanschauung erreichbar und für ihn mliglich sei. und der Durchbruch zu dieser A\'eltanschau- ung. der in dieser trübsten Zeit erfolgte, kann als das Ende von Carlvles Lelirlings jähren betrachtet werden.

*) Sie sittd ISf'? von Crockett herausgegeben worden.

Kapitel 2. Vorbedingungen und innere Kämpfe.

1 111 eine T'el)or.siclit über die (ircdankeiif^jänge zu ge- winnen, welche Carlyle aus der im Elternliause em- pfangenen religiösen Weltanseliauung des Calvinismus hinausfiilu'ten. ist es iiutwcndig. dif philosophische Be- wegung, die sich in Kngland und Schottland v(dlz<igen hatte, den Umrissen nach zu vi'rtolgen. Es ist die> des- liall) notwendig, weil es unthunlich ist, Carlyle ;tU An- hänger oder Fortbildner irgend eines bestimmten Svst»'ins in dieser oder in seiner späteren Zeit zu bezeiclmen. Da.s einzige grcsse System, das in England in der neueren Zeit entstanden ist. das Sy.stem Hoblie>". ist sicherlich ohne jeden EinHuss auf ihn geblieben, ja es ist als zweifelhaft zu betrachten, ob er mit ihm aus eigenen Studi<Mi jemals bekannt geworden ist. So niii-sen wir <lenn die einztdnen geistigen Striimungen. die sieh im England (\rs IS. .lahrhunderts mannigfach dnreji- kreuzten. in Lcrussen Zü^-eii uns ver<j:ef;enwärtiu:eii und zwar unter dem (Tesichtspunkt. was sie in ihrer T«. tal- summe einem wahrheitsuchenden jungen (ii'ist zu gel)en vermochten. ich glaube, dass wir diese (iedaiihen- massen am besten iiaeh drei (iruppni ordnen werden, «1er Assoeiatiduspsyeliulogie. (h'V Kthik und der Xatiniial- i»konnmi(».

^\';■ih^end di»« Psychohigie im Mittelalter auf das engst»' mit theoliM'ischen li«Mliirfni.ssen und Fi»rdeniniren

Associalionsphiloäophie In EngUnJ. 23

zusammenhängt, während sie nuch bei Descartes und Spinoza im innigsten Zusammenhang mit einer bestimmten Motapliysik auftritt, hatte Locke das grosse "Wagnis versucht, sie jedenfalls dem Prinzip nach rein empirisch, als Naturwissenschaft zu behandeln. Es braucht hier nicht darauf eingegangen zu werden, inwieweit er diese Forderung selber erfüllte, genug, dass seine Absicht, sie zu erfüllen, deutlich hervortritt. Er suchte die Bildung unserer psychischen Erscheinungen dadurch anschaulich zu machen, dass er sie aus einfachen Elementen kon- struierte, und diese einfachen Elemente zerfallen für ihn in zwei Klassen, die der Empfindungen (sensations) und der Thätigkeit des inneren Sinnes (reflexion). Während wir in den Empfindungen von den äusseren (xegenständen abhängig sind, kam Locke bei der Reflexion über ein gewisses Schwanken nicht hinaus. Einesteils wollte er die Reflexion als unabhängigen Stamm der Erfahrung nicht aufgeben, andererseits musste er selber darauf hinweisen, dass die Sensation das zeitlich Frühere ist. dass alle unsere Seelenthätigkeit mit Empfindungen beginnt, und dass der Stotf, an dem sich unsere Reflexion ]jethätigt, doch das uns durch die Sinne (legebene ist. Die Voraussetzung dieser Theorie, die nur deshalb nicht als. metaphysisch erschien, weil sie die Metaphysik des naiven Bewusstseins ist, l^esteht in der Annahme äusserer von uns unabhängiger Dinge, die durch iinsere Em- pfindungen und die aus jenen gebildeten Begrifle in irgend einer Weise abgebildet werden sollen, und so ist es erklärlich, dass die Sensation, die uiunittelbar auf die Dinge, die sie hervorgerufen, verweist, erkenntnis- theoretisch höherwertig zu sein schien, als die Reflexion, die eine Eigenmächtigkeit des Individuums gegenüber dem ihm von aussen zugewiesenen ^Material der Er- fahrung zu bedeuten schien. Eine Rehabilitation des inneren Sinnes schien für die Nachfolger nur so mög- lich, dass sie den Gedanken einer Selbstständio-keit der

24 Kapitel 2.

Retlexiüii aufgaben und datiii" urn su energischer den andern auch bereits von liucke vorgezeichneten A\\'g verfolgten, die Erscheinungen der ReHexion restlos auf Kombinationen von Empfindungen zurückzuführen. Als letzte.s Resultat musste sich hierbei die Aufli'tsung des metaphysischen liegriff's der Seele ergeben. Hume zeigte, flass die von Kerk(dey zum (J rundstein seines Systems gemachte Lehre von der Seele als einziger Substanz nicht berechtigt sei. Die Anwendung des Sub.<:tanz- l)egritfes ist sowohl in der äusseren als in der inneren Erfahrung unzulässig, denn jedes dieser Erfahrungs- gebiete zeigt uns nur gewisse mehr oder minder dauernde Em]itindungen, zu welchen eine dauernde Substanz hin- zuzudichten wir kein Recht haben. Somit ist die Seele nichts anderes als ein „Bündel ^■on Vorstellungen'^, die nach bestimmten rä'iimlichen und zeitlichen \'erliiiltnissen. sowie nacli Aehiilichkeiten und l'nähnlichkeiteii an- geordnet werden.

Es ist klar, dass auf diesem Standjinidct auch die Voraussetzung Lockes von einer von uns unabhängigen Körperwelt ]iroblematisch wurde. Humes letzte Kon.^e- (juenz war theoretische Skei>sis. und diese Seite seines' Systems enthicdt bekanntlich den Punkt, an welchem Kant einsetzen konnte. Die franzltsischen und englischen Denker des IS. .lalii'hmuU'rts wai'en weit (hivon ent- fernt. Humes ske|)tische Getbmken k(»ns(>(|nent zu Hnde zu denken, sie begnügten sich, die vollständige Aus- bildung der Associationsf)sychologie als wertvollen Be- standteil weiterer Untersuchungen mit Dank entgegi'u- zunehmen. Eine andere (Tcdankenströmung hatte nämlieli dazu geführt, der Ans.scnwelt eine erheblich griissere liealitäf zu geben, als dies iiir Humes Skepsis in<»glieh gewes(Mi war. Ks wai' flies durch die erstaunlielie l-jit- wiek(dung der Mechanik seit Newton bedingt. Dureh di<- Anwendung dei- Mathematik n\i\' die Ki»rperw»dt war eine so exakte Krkenntnis der (lesetze der k">r|)er-

Englische Elliik. 25

liehen Vorgänge gewonnen worden . die Idee einer all- gemeinen Mechanik schien in so hohem Grade realisiert zn sein, dass Carlyle hei seiner Vorliel)e für Mathematik sich dem imponierenden Eindrnck dieser Gedanken- massen unmöglich entziehen konnte. Und anrh in der Er- forschung des organischen Lehens hatte diesidbe Methode der Erkenntnis reiche Fruclit getragen. Durch Harveys Entdeckung des Blutumlaufs war ein grosser Schritt dazu gethan. den menschlichen Organismus als einen sehr komplizierten Mechanismus aufzufassen, und Hartley wie Priestley hatten bereits den Anscliluss an die Associationspsychologie durch das »Studium der den psychischen Erscheinungen ])arallelen Vorgänge im Cen- tralorgan gesucht. Auch hier ist wiederum darauf hin- zuweisen, dass der Schritt zu einer vollständigen mecha- nischen Weltanschauung von keinem dieser IMänner ge- macht wurde. Ein Vertreter des IMaterialismus. wie ihn in Frankreich Helvetius und in .seiner letzten Zeit Diderot gelehrt hatten, ist in England in dieser Zeit nicht zu finden. Es ist bekannt, wie weit Xewton von dieser Denkart entfernt war. aber auch Hartley hielt an dem qualitativen Unterschied der räumlichen Be- wegungen im (xehirn von den psychischen Erscheinungen durchaus fest, und Priestley. der den Gedanken einer durchgängigen Al)hängigkeit unseres Seelenlebens von den materiellen Vorgängen noch viel schärfer fasste, verwahrte sich ausdrücklich und ohne Zweifel aufrichtig gegen die materialistische Lehre.

Dieselben Motive wdrkten auf die Gestaltung der englischen Ethik bestimmend ein. Auch hier können wir schrittweise die Loslösung der Ethik von Theologie und Metaphysik verfolgen, auch hier ist die Tendenz vorhanden, das ethische Leben in seiner ganzen Kompli- ziertheit aus einfachsten Elementen zu konstruieren und damit verständlich zu machen. Diese einfachsten Ele- mente fanden sich in den Gefühlen von Lust und Unlust,

26 Kapitel 2.

wobei der Anschlu.ss an die Mechanik Newtons dui-di eine Identifizierung der Lust mit der Attraktion, der Unlust mit der KepuLsion, den (Irundeigenscliaften der Materie, gefunden wurde. Aber ebenso liess sich auch hier im Anschluss an Locke die Fühlung mit der As- sociationspsychologie erreichen. Denn das.s diese Ge- fühle sich im Anschluss an Sensationen einstellen und mithin von diesen Sensationen abhängig sind, wurde nicht sowohl im einzelnen bewiesen, als prinzipiell voraus- gesetzt. Und hier erscheint nun eine interessante Ana- logie zu dem Kampf um die Reflexion, den wir auf p.sychologischem (irebiet verfolgt haben. Ursprünglich wurden auch hier zwei auf einander irreducible Stäuniio der Lust- und Unlustgefühle angenommen, der eine um- fasste die (xefühle bei eigenem Leid und eigener Freude die egoistischen der andere die bei der A\'ahr- nehmung fremden Leides und fremder Freude entstehen- den — die sympathischen. 3Ian wird nicht fehlgehen, wenn man den Al)schluss, den die (iedankenentwickelung auf dem etliischen (irebiet zunächst erreichte, nämlich die Anerkennung der Sell^stständigkeit der sympathischen Neigungen, die auf eine ursprüngliche soziale Anlage des Menschen leiten musste, auf die tiefe Kontrast- wirkung zurückfülirt, die das System von Hobbes auf das englische Denken hervorgebracht hatte. Shaftes- l)ury. der Hauptvertreter dieses Gegensatzes, stellte es als unmiiglich dar, die sozialen Affekte durch ver- standesmässige Überlegung aus den egoistisclien ab- zuleiten.

Aber je mehr sich der stai-ke und widerwärtige Eindruck verflüchtigte, den Hobbes" unerbittliche Logik auf seine Zeitgenossen gemaclit hatte (es lässt sich ver- folgen, wie im Laufe des IS. .Jahrhunderts das Studium Hobbes' im Original abnimmt, und an seine Stelle eine Reihe von ty])isch wiederkehrenden (Jitaten tritt), umso- mehr musste sich auch in der Ktliik (h'rsellie (lesichts-

Falev.

H

punkt gcltciifl iiirtflicn. dt'ii wir in der Psychologie ver- folgt hallen. Für das verstandesmässige Bedürfnis nach Klarheit und Einfachheit waren zwei irreducihle Klassen der Lu.st;4efidile unerträglich, und der Versucii wurde gemacht, die eine Klasse auf die andere zurückzuführen. Da nun das Kind unleugbar wenig Verständnis für fremdes J^eid unrl Freude zeigt, da es ehenso erwachsene i\Ienschen gieht. die sehr lebhafte egoistische (Tefühle haben mit rudimentärer Rückbildung der sozialen, so war es klar, dass der Versuch dahin gehen nuisste. die sozialen (xefiihle aus den egoistischen altzuleiten. Erst dieser Versuch führt zu der eigentlichen l^roblemstellung des englisclu'n T'tilitarismus, und dii> Hanjitschwii'rigkeit bestand darin, zu zeigen, dass wirklich alle unsere scheinbar .sympathischen Handlungen, alle unsere sitt- lichen (Tebote lediglich auf die grö.sstmögliche Summe von Lustempfindnngen für das handelnde Individuum hinauslaufen. Paley vt'rsuchte diesen Nachweis auf (iiiind einer the( dogischen Weltanschauung zu erbringen. Pas alte, schon im Buch Hiob behandelte Problem, wie es zugehe, dass der (Gerechte elend, der Tugerechte herr- lich und in Freuden leben könne, dies Problem, üi»er das hinwegzukommen für den Utilitarismus geradezu eine Lebensfrage ist. wurde durch ihn mit Einführung eines „transscendenten-' Utilitarismus aus der Welt ge- schaht. Die Vernunft lehrt uns die Existenz eines gütigen Scht'nifers. der das (ilück seiner tugendhaften (äescli()i)fe will, und. .so dürfen wir annehmen, dass die übrigens verhältnismässig geringen Fälle, in denen Tugend und (rlück, Pflicht und T^ust liienieden nicht zur Deckung konnnen, <lurch Belohnung und beim erfolg- reichen Laster durch Bestrafung ausgeglichen werden. Im ganzen aber tritt bei Paley die Tendenz zu Tage, die wir so häutig gerade bei englischen Denkern treffen, nur im äus.sersten Notfall auf das P^ingreifen Gottes zu verweisen. So wiederholte sich denn hier derselbe Vor-

28 Kapitel 2.

gang. dcMi wir Ik«! Betrachtung (K-r I'><\'clu)logii' vi'rlVdgt haltt'n. Das theologische -Residuum" niusste aus der Kthik verschwinden, wenn diese eine vollständig ver- .standesniässige Xaturwi.ssenschaft werden sollte. IUes vollbracht zu haben, war die I^eistung Benthains. den f'arlyli' deshalb auch mit vcdlem Recht als Tvjjus (K'r Denkweise des IS. .lahi'hunderts aut'/ufiiliren pHegte. Hier steht die Kthik volLständig in dieser Welt. .Ie(h' Verl)indung mit dem l'bersinnlichen. mit (xutt. ist al»- geschnitten. Bentham „brauchte diese Hypothese nicht mehr". Die Ptiichtenlehre s(dl uns nicht zeigen, wie wir dadurch, das.'s wir die (rebote (4ottes erfüllen, glück- lich zu werden vermitgen. denn wir kennen diese (Tebote <Tottes nicht. Was wir kennen, sind unsere eigenen Lust- und Unlustem])tindungen. Verständlich und «natur- g(Mnäss~ ist jedem Wesen das Sti-eben nacli Lust, das Vermcidt'n von Unlust, und so hat die Kthik nur einen |)riii/.i|iiellen (iegner. die asketisfdn- .Mural, die das widersinnige X'erlangen an die Menschen stellt, die Lust als solche zu Hieben, die Unlust als s(dche aufzusuchen. E.s i.st deutlich, dass e.s namentlich die christliche Ktiiik sein muss. "regen die sich Benthams Angriff richtet, und mit bewunderungswürdiger Dialektik sucht er nachzu- weisen, flass Tugend. Ehr<*. PHicIit. (iewissen einen ver- nünftigen Sinn nur haben, wenn sie aus utilitarischen Krwä'gungen verstanden werden. .\ut' diese destruktive Arbeit mnsste nun al»er die Konstruktiiin folgen. Bent- ham snclite zu zeigen, dass thatsächlich ans (b'in i-ichtig v«'rstandenen Literesse sich di«- richtig verstandene Tugend ergiebt : eine um so schwiei-igi're Aufgabe als Bentham mit seiner klaren, unerbittlicher L(»gik zu dem Auskunftsmittel, das sich später dem milderen (reist •L St. Mills bot. dei" lOintiihrnng einer (| u a 1 i t a t i v en Unterscheidung rler Lu>tgefnhle. nicht greifen konnte, ireflissentlich weist er darauf iiin. dass ^das Vergnüg«'n. das s«dbst ein verworfener \"erl»re(lier bei der Ausübung

Bentham. 2^

seiner That geniesst^. an sich Lust und erstroben.-^wert ist. Aber und liier tindet Bentham den Anscliluss an die Associations])sychologie es ist unthunlich. ein einzelnes Gefühl aus dem Zusammenhang des psychischen Geschehens zu reissen und für sich selber zu betrachten. In AVahrheit ist jedes dieser Gefühle mit kausaler Not- wendigkeit mit anderen Lust- und Unlustgefühlen asso- ciiert, und der richtig verstandene Egoismus wird daher auf diejenigen Lustgefühle verzichten, mit denen not- wendig ein grösseres Quantum von L'nlust als von Lu>>t verbunden ist. So ist die Furcht vor Entdeckung, die thatsächlich eintretende Entdeckung, das Übel der Strafe, die damit verknüpfte Schande ein durchaus hin- reichendes Quantum von Unlustgefühlen. um den Egoisten am Begehen eines Verbrechens zu hindern und ihn za veranlassen, dass er auf die Lust<[uanten des Verbrechens verzichte. Aber noch mehr. Der Egoist wird sich davon überzeugen müssen, dass sein einziges Ziel, das eigene Glück, sich nur so erreichen lässt, dass sich seine L'mgebung. seine ]\[itmensclien glücklich befinden. Eben- sowenig, wie das einzelne Gefühl für sich allein be- trachtet werden darf, ebensowenig steht der einzelne Mensch isoliert im Weltgetricbe. Ohne geordnete Zu- stände in Staat und Gesellschaft, ohne Zufriedenheit der Mitbürger mit ihrem Lose, ohne dass die nächste L'm- gebung bereit ist. eventuell sogar Opfer an eigenem Behagen für mein Wohl zu bringen, kann ich mein Ziel, ein glückliches Leben zu führen, nicht erreichen. Der Egoist wird mithin genötigt sein, dauernd auf einige Lustquanten zu verzichten, um grössere Lustquanten von anderen zu erhalten. Die menschliche Gesellschaft stellt sich nach Bentham als eine grosse Sparkasse dar. die die eingezahlten Lust(|uanten ihrer Mitglieder ord- nungsgemäss verzinst und ihnen vermehrt zurückzahlt. Ebenso thöricht, wie ein definitiver Verzicht auf Lust Bentham erscheint, ebenso notwendio: ist ein vorülier-

30 Kapitel 2.

gehender. Vm das c'i«j:ene (xlück zu erreichen, niuss ich so handeln, dass _das griK^ste (TÜick der grössten Anzalil'^ (eine Formel, die bereits Paley aufgestellt hatte) reali- siert werde. Bentham und .seine Schule wurden für Carlyle aucli deslu^lli wichtig, weil der Utilitarismus zunächst .sich als eine gefährliche A\'artV' in dem Kampf gegen alle m!>glichen sozialen und politischen Privilegien erwies. Der seit 1815 in England mächtig aufstrebende jxilitische Radikalismus entwickelte sich im engsten An- schluss an Bentham. und wie nahe sich ( 'arlA'les Ge- danken mit denen des Radikali.smu> berührten werden wir noch zu lietrachten haben.

Die letzte Entwickelungsreilie. die liier für uns in Betracht konnnt. ist die der XationalJikonomie. Es ist die .klassische X;itioiial<)konomie-. die trotz allerfrüheren Ansä'tze doch erst mit dem Werke Adam Smiths „t'l)er den IJeichtum der Nationen- ihren Siegeslauf beginnt. Das Werk Adam Smiths erschien früher als das Haupt- werk Bentliams. und er war weit davctn entfernt, ein Anhänger des egoistischen rtilitarismns zu sein. In seinem andern Hauptwerk _l'ber das moralische. (nd'ühl- vertritt ei- im wesentlichen den Standpunkt Shaftes- burys. indem auch er ein ursprüngliches moralisches (iefühl der Sympathie annimmt. Es ist ganz bezeii hnend. dass diese an Feinheit der Beobachtung dem l'tilitaris- mus unendlich überlegene Seite seiner Theorie fast wirkungslos blieb, wogegen d'iv andere in der Richtung der ZeitstrJunung liegende begierig aufgegritl'en und zu Konse<|uen/en weiter fortgebildet wurde, nnt denen Smith scdbi'r am wenigsten einverstand<Mi gewesen wäre. Smitli hatte die beiden Grundstännne der nnMischlichen <Tefühle gesoiKb'rt betrachten wollen. I h'e Sphäic der moralischen (Tcfiihle kojinte er dalier in seinem A\'erk ..Tber den Ueichtiim dei- Nationen" vollständig un- berücksichtigt lassen. Er bei richtete hier den Menschen als lediglich eg"istisches Wesen, und unter dieser \'or-

Klassiscl.e Nationalökonomie. 31

aussetziiiif;; ergaben sicli ihm die Gesetze des wirtschaft- lichen Lebens in der Form, wie sie späterhin von der „klassischen Xationalökiuiuinie- zwar feiner ausgear- beitet wurden, aber mit sehr wenigen Ausnahmen (deren wichtigste die Stellung zum Wucher ist. welchen Smith inkf)nsequenter Weise für strafbar erklären wollte) prinzipiell einfach herüber genommen wurden Auch hier ergrab sich, dass ein IMaximum von Gütern und Reichtum itir die Gesellschaft sich dann realisiert, wenn ein jeder egoistisch seinen eigenen Vorteil verfolgt. _auf dem billigsten Markt kauft, auf dem teuersten verkauft-. AVie genau diese Lehre mit der Benthams überein- stimmt, brauclit kaum gesagt zu werden. Was Bentham für das gesamte Gefühlsleben des Menschen gezeigt hatte, wurde hier gewissermassen als Spezialproblem für das (ikonomische Verhalten des Menschen in klas- sischer Weise formuliert. Da nun aber der I\Iensch von -Natur- ein eg< »istisches "\\'esen ist. so erhielten die Gesetze der XationaUikonomie die Gültigkeit von -Natur- gesetzen-. Die wirklichen Erscheinungen des Gesell- sehaftslebens wurden ohne weiteres mit denen der hypo- thetischen, rein egoistischen GeselLschaft Adam Smiths gleich gesetzt, man glaul)te im Besitz einer Mechanik der menschlichen Gesellschaft zu sein, und es scliien elienso hotfnung.slos. sich gegen das Gesetz von Angebot und Nachfrage aufzulehnen, wie es ein Unding ist. das Gesetz der Schwere für unverlündlicli erklären zu wollen.

Auch schienen Schritt für Schritt im wirklichen Leben die Ereignisse der Theorie recht gelien zu wollen. England machte in jener Zeit die Entwickelung vom Agrikulturstaat zum Industriestaat in ähnlich beschleu- nigtem Tempo durch wie Deutschland in unsern Tagen. I)ie Gesetze, mit denen die Zeit von Elisabeth bis C'rom- well das englische Gewerbe, den Handel, die Schiifahrt schätzend umgeben hatte . wurden von dem modernen Grossbetrieb nur nocli als lästige Schranken empfunden

32 Kapitel 2.

und mussten Stück um Stück weichen. Bald Idiclicn nur mich die Kornzölle, welche d<M- früher massfi'ebencle. Ackerbau treil)ende Teil des en;j;lisehen Volkes /um Schutz gegen fremde Konkuri"enz durchgesetzt hatte, und auch sie wurden l)ald in immer steigendem blasse der (iegenstand einer Agitation, die da.s englische \\»lk bis in seine Grundfesten hinein erschüttern sollte. Lange Jahre hindurch war die gesetzgeberische Thätigkeit eine vorwiegend destruktive. Uel)erall wurden alte, nunmehr obsolet gewordene Schranken der freien Betliätigung des Individuums eingerissen, und immer schien der Erfolg den Reformator»Mi n^rht zu gel)en. So ergab sich denn mit Notwendigkeit eine Anschauung vom Staat, die ihn nur noch als Sicherheitsanstalt für Leben und Eigen- tum seiner Bürger betrachten wollte. Jeder gesetz- geberische Eingriff in die Freiheitssphäre des Indi- viduums wui'de mit Abneigung betrachtet als den (•irrundregeln der Nationalökonomie zuwiderlaufend, die wirtschaftliche Prosperität heiuuiend. has ^laissez faire, laissez passer" wurde die Formel, in der sicli das un- begrenzte Freiheitsbedürfnis einei- zu lange am (längel- band geleiteten (lesellschaft zusammenfasste. Unter die.sem Gesichtspunkt musste sich auch die Auffassung der (ileschichte anders gestalten. Statt auf «lie „Haupt- und Staatsaktionen", die Darstellung von Kriegen, Biiiul- nissen, grossen Eroberern. hJttischen lntrigu«'n richtete sieh jetzt das Interesse auf natiouiil-iikonomiselie (iesicbts- punkte, auf (lir X'erbesserung der Lage Afv Klriuen und Kleinsten, auf die ErHuflungeu und iliren Kintluss auf das soziale Leben: die _ Kulturgi'schichte" tritt an Stelle der -politiselien (lescliichte"'. Als ein uu'i-k- würdiges Beispiel, wi«' diese beidim Richtungen in (Uun- .selben Buch sieh vereinigen kluinen . mag Voltaires „Siede de Louis XIV- gtdteu. Dem Titel und der ersten Intention nach sujl birr die (iestalt des Sonnen- ki'migs (lurcbaus iiu .Mittel|»uukt stehen . tliatsächlirh

Geschichtsauffassung des 18. Jahiliunderls. 33

aber ist es die .Darstclluii^u,' rle.s lvulturli'l)ens in Frank- reicli im Beginn des 18, Jahrhunderts, die das Interesse des Schriftstellers wie des Lesers in erster Linie in Anspruch nimmt. In Wahrheit war auch kein Platz für die grossen Lidividuen im Rahmen dieser (Teschichts- auffassung. Die Könige und Gesetzgeber können im besten Fall nur das verfrüht anbefehlen, was die ruhige Entwickelung der Thatsachen sich selbst überlassen etwas später, aber desto sicherer, ohnedies erreicht haben würde. Im schlechteren und weitaus häutigeren Fall aber widersetzten sie sich durch ihre thörichten ^lassnahmen dem wohlverstandenen Interesse ihrer Unterthanen, alsdann muss ihre Arbeit mit grossem Aufwand an Energie rückgängig gemacht werden. Die grossen Männer sind meist Schwärmer, die den Pfad der ^lenschheit nicht erhellen, sondern nur ihre Augen mit ungewissem und vergänglichem Licht blenden. Xamentlich aber wurde diese Theorie auf die religiösen Reformatoren angewendet. Die epikurische Lehre vom ..schlauen Priester", der zu seinem eigenen Besten eine neue Religion erdenkt, feierte eine fröhliche Auf- erstehung. Dem Christentum gegenüber wurde freilich Avenigstens bei den Engländern eine gewisse anständige Zurückhaltung beobachtet. Sogar Gibbon wagte in seinem berühmten Angriff auf das Christentum nicht, die letzten Konsequenzen für die Person des Stifters zu ziehen. Für die nichtchristlichen Religionen aber, namentlich für den ]\[ohammedanismus. brauchten der- artige Rücksichten nicht genommen zu werden.

Es ist nun sehr merkwürdig, dass sich in England kein Mann fand, der all diese zerstreuten Anregungen zu einem grossen System zusammenfasste. Die Erklä- rung kann nach zwei Seiten hin gesucht werden. Eines- teils war die systembildende Kraft, das Bestreben, das bei den Franzosen des IH. Jahrhunderts so stark und auffällig hervortritt, aus den Ergebnissen der einzelnen

H ens e 1 , Carlyle. O

34 Kapitel ±

Wissenschaften letzte und einfachste Foniu'lu zu ziehen, in die sich der Gesamtinhalt unserer Erkenntnis zu- saininenfassen lässt. in Knp^land kaum vorhanden. Die englischen Denker dieser Zeit sind tüchtige Si>ezial- forscher. Gerade darin sahen sie ja ihr Verdienst, dass .sie ihr Arl)eitsgel)iet ans der Verquickung mit theo- logischen und metai)hysischen Gedanken reinlich heraus- geschält hatten. Es ist genau derselbe tüchtige Geist der Selbstheschränkung. der in unserem .Jahrhundert Darwin immer wieder erklären Hess, dass er seine Theorie lediglich auf das Arbeitsgebiet der Zoologie und Botanik anwenden wolle. Aber es kam noch ein an(h'rer. weniger achtbarer Oharakterzug dazu, der nicht im onglis(<l\en \'olkscharakter als solcher l)egründet. durch bestimmte historische Erscheinungen in ihn hineingetragen worden war. Nach dem Scheitern der grossen sittlicli-religiösen Bewegung, die sich in der Person Cromwells verkJii'iterte, war das englische Volk, und namentlich die gebildeten Kreise, nach kurzem Schwanken in die frühere niclit ir- religiJise aber ausserreligiJ'tse Denkart zurückgefallen. Es war nicht anständig, die letzten Konsequenzen zu zielu'u. falls diese irreligiitseu Xatur -ein l<<»nn1en: es \\ai- gegen die Res[)ektabilität. J'itfentlieh irgendwie religiösen Anstoss zu geben, sei es in "Worten oder Thaten. Dass dadurcli eine gesclilossene A\'eltanschauung unmöglich geworden, wurde kaum als ein IMangel empfunden.

(icrade diesen ]\Iangel aber emiifand r'arl\'le als einen unerti'ägl ichen Zustand. Es war ihm unmt»glieh. bei seiner früheren religiösen A\'eltansc]iauung stehen zu bleiben, scibahl ilim diese unglaubhaft gewoi-den wai*. Ks war ihm ebenso umnttglich. sieh in irgend ein wiNsenseliaft- liches Spezialgebiet zu \'ersenl<en. so lange er nirlil den geometi'isclien Ort bestinnnen konnte, den diese Kinzel- erkenntnis aut dem (ilobus intellectualis einzunelunen hatte. l'nd so machte er sich daran, die einzelnen (TCsiehtspunkte zu einer \\'«dtansclKiuung zusammenzu-

Ohne Weltanschauung kein Lelien. 35

fassen, nicht am in dieser Weltanschauung JJetVierligunfjf zu tinden. sondern weil er fest entschlossen war, die ganze "Wahrheit über die Welt und über sich selbst zu kennen, und sollte ihm auch die Erkenntnis dieser Wahrlieit das Herz brechen. Das, was er bei den Knglä'ndern vermisst hatte, den systematischen Abscliluss der Credanken, fand er bei den Franzosen. Er sah. dass notwendig die eng- lischen Einzeluntersuchungen zu einem System drängen mussten, das die grösste Ähnlichkeit mit dem ]\Iateria- lismus und Sensualismus in Hol1)achs ..Systeme de la nature" zeigen würde.

El)ensowenig wie Carl_A'le sich dazu zwingen konnte. Unglaubhaftes zu glaul)en. vermochte er. die ihn lie- drängenden pjrge])nisse leicliter Hand zurückzuschieben, ihre theoretische llichtigkeit vielleicht zuzugeben, sein Leben aber und seine Tiebensführung unbekümmert um sie zu gestalten. Für ilin war eine Lebensführung el)en nur miiglich unter Voraussetzung einer Weltanschauung. Seiner Aufrichtigkeit widerstrebte es. zwischen Praxis und Theorie so zu unterscheiden, dass die eine nur durch Prinzipien gerechtfertigt werden konnte, deren Unm()g- lichkeit die andere nachgewiesen hatte. Seine geistigen Kämpfe in dieser Zeit hat uns Carlyle in seinem „Sartor Resartus" hiichst wahrscheinlich mit autoV)iographisclier Treue geschildert, wenn er den Helden dieses Romans, den deutschen Professor der Dinge im Allgemeinen. Dio- genes Teufelsdröckh, sagen lässt: .,Für mich war das Weltall vollständig ohne Leben, ohne Bestimmung, ohne Willen und selbst ohne Feindseligkeit: es war eine enorme, tote, unermessliche Dampfmaschine, die in stumpfer (rleicli- gültigkeit weiter rollte, um mich (llied für (irlied zu zer- malmen. U dies ungeheure, düstere, einsame (irolgatha und Todesmühle I AVarum wurde der Lebende ohne (le- fälirten und mit Bewusstsein dahin verbannt? AA'arum? Wenn es keinen Teufel giebt, ja, wenn nicht der Teufel euer (xott ist?" Dem deutschen_L.escr.isi diese Stim-

Kapitel 2.

mung aus Ficlites _Be.->tiimiiun^ (.k-d Merisclicn" sehr wulil erinnoi'lich. Es ist die erdrückende Wucht, mit der tnne rein mechanische Weltanschauung notwendig auf jedem denkenden ]\Ienschen. dem r]iiloso|)liie und Leben nicht zweierlei sind, lasten muss. Bei ('arlyle wie bei Ficlite iühlr >i(h der ]\l('nsch in den unerbittlichen Kausal- zusammenhang der Dinge so hineinge}»resst. dass Selbst- bi'stinnnungundFreiheitunm')glich geworden ist: er selber, eine etwas kompliziertere Ma.schine. in der sicli IiU.>t- und Unlustgefühle mechanisch absundern. und die durch Lust- und Unlustgefülile mechanisch bestimmt wird, Xur liat zweifellos Caidvle die.se Entwickelung unabhängig von Ficlitc in sich vollzogen. Es ist nichts andere> als die typische Form, in der bei beiden 3Iännern der (ie- danke des Kausalnexus . wie ihn die moderne Natur- wissenschaft ausgebildet hat. zum Albdruck der Seele sich gestaltet. In dieser Zeit viilliger \'erzweiflung muss ( 'arlyle der ( Jedanke des Selbstmoi'des nalie getreten sein; er sagt mit d<'m ilim eigentümlichen grimmigen Humor: »Vom Selbstmord hielt micli ein gewisser Xach- scliein des Cliristentums, viidleicht auch eine gewisse Triigheit meines Charakters zurück, denn war dies niclit ein Mittel, das mir nocli jeib'iv.eit zu (lebot stand?"

Was befreite ('arlyle von diesem unerträglichen Ihuck? 3Ian hat auf sein Verhältnis zur deut>clien rhilosdpliie und hichtung hingewiesen, mit (b-r er >ich unausgt'setzt auf das eifrigste l)escliäftigte. Aber wer wie ('arlyle in einen so höclist per>;jnlichen -Kampf um einen Lebensinhalt" eingetreten war. wer genötigt ist. r)ni>t an Brust mit dem eigenen Unglauben zu ringen, dem kann keine Hilfe von aussen konnnen. so kräftig auch die äu.-seren l'.intlüsse sein mitgen. Was in einem solchen Kampf nicht selbst eriMingen ist. lileibt elieu ciu Ausserliches: und ('arlyle vermochte zu seiner liettung auf alle äusseren Hilfen zu verzicht«'n. in sieh selber den festen Punkt zu finden, wie I )e.scartes ihn fand. Bei

Das ewi^e Nein. 37

Descartes ergab sicli ein Prinzip einer neuen JMethode, tei Carlyle der Krvstallisationspunkt einer neuen ^Velt- anscliauung. Und el>enso wie wir bei Descartes das Datum die.'^es J^urchbruchs kennen, so hat uns Carlyle den Juni 1S21 als das Datum seiner Xeugeburt genannt, das l)e- Jitimmend für sein ganzes weiteres Leben geworden ist.

Audi hier kiinnen wir auf die Schilderung im Sar- tor Resartus zurückgreifen, zumal sie Carlyle selber al.s autlientisch bezeichnet hat. Xur den Ort hat Carlyle verändert, es war nicht die Rue St. Thomas de l'Enfer in Paris, sondern Leith Walk, eine Strasse, die von Edin- burgh in der Richtung auf den Badeort Portobello führt, wo sicli der "Wendepunkt seines Lebens vollzog. „A^'o- vor fürchtest du dicli eigentlich? warum willst du ewig klagen und wimmern und zitternd und furchtsam wie ein Feigling einherschleichenV Verächtlicher Zweifiissler! Was ist die Summe des Schlimmsten, das dich tretfen kann? Tod? Wolilan. Tod. und sage auch die Qualen des Tophets und alles dessen, was der i\[enscli oder der Teufel wider dich thun kann und will? Kannst du nicht alles, was es auch sei. erdulden und also ein Kind der Freiheit, obschon ausgestossen, Topliet selbst xmter die Füsse treten, während es dich verzehrt? So lass es denn kommen I Ich will ilim liegegnen und Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele . und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke, ein Geist, fast ein Gott. Von dieser Zeit an war die Xatur meines Elends eine andere : nicht mehr Furcht war es oder winselnder Schmerz, sondern Entrüstung und grimmiger, feuer- sprühender Trotz."

Was war mit dieser Einsicht gewonnen? Offenbar noch keine neue Weltanschauung, wohl aber die Einsicht, dass eine negative Instanz gegen die rein verstandesmässige Weltanschauung, die sich Carlyle als unwiderleglich auf-

38 Kapitel 2.

gedrängt hatte, ebenso iniwiderleglieh vorhanden und an- zuerkennen sei. T)as eigene Ich ist ein steter Protest treffen die mechanischen Theorien. Unmittelbar ertasse ich_jiiich. :itjll)er als thätig, als Kraftquelle, nielit nur als Träirer fremder, auf mich übertragener Kräfte. Aber damit ist nocli kein lluhepunkt gewonnen, sondern ledig- lich ein Standi>unkt. Zunächst Ijleibt die "Welt das. was sie gewesen ist : ein riesiger gefühlloser Mechanis- mus, und deshalb kann die Stellung des Individuums ihm gegenüber nur eine aldehnende, feindselig^' sein. Es ist die PLmpiJrung des Ich gegenüber der ganzen Welt der Objekte des Xicht-lch. Der Zustand der Empörung ist das eigentlich Neue dieses l'rcjzesses. Wir haben gesehen, dass Carlyle eine innere Befriedigung in dem System (K's Materialismus niemals gefunden hatte, aber früher glaubte er es seiner AVahrheit>liebe schuldig zu sein, diese widerstreitende Stimme in sich mi)jrlichst zum S(liweiiz:en zu bringen, sich ziii- V(dlstä'u- digen (41eiehgültigkeit al)zuti>ten. ebenso ^lechani-mus zu werden, wie das "Weltall um ihn. .letzt hatte er einsehen gelernt, dass diese verneinende Stinnue nicht lediglich ein Überbleibsel seiner früheren thecdogi-chen "Weltanschauung sei. Mit allen früheren Hotfnungen für dieses und jenes Leben, die ihm der (ilaul)«' seiner Kindheit gebracht, und mit (b'iieu er si'ine Seele be- kleidet wiisste. hatte er abg(>schlossen. Es wai- ihm klar geworiU'u. (Uiss diese \\\At kt'iu W'ei'k (iotte«<. «mi- deni etwas gottloses, vielleicht die Wolinstätl»- i\ryi Teuftds sei. Wie die Templer in Werners „Sidine (b's Thals-' em])Hng auch er die Feuertaufe im Namen Mo- hammeds, dii« „batlometisrhe Feuertaute-, welehe die eb rist- liehe Tante mit \\'a«->er austilgen sollte. Aber ei- liatte geselu'n. (hiss sein leb nicht mit verzehrt worden war, dass es verzweitlungsvoll mit unwiderstt'hlicher (tt-walt gegen die t'eindlielien Kr.itte zu kämpfen fortfuhr, und er war zn der I'berzeugung gelangt, das-- liier nicht

Der feste Punkt. 39

ein letzter Rest aus t'rüherei* Zeit darnach .streljte. sich widerrechtlich zu erhalten, sondern dass alle Mühe, sich selbst aufzugeben, verloren sei. Durch eigene Kraft also hatte er sich zu der Lehre Fichtes durchgerungen, dass die in sich konsequente, von dem (Jbjekt ausgehende mechanische Weltanschauung notwendig an der That- sacjie des Ichs scheitern müsse, das.s sie dieses Ich zwar negieren könne . es aber niemals aus ihren Yoraus- setzimgen heraus zu erklären vermöge. Carlyle .-^agt mit Recht: ..von diesem Augenblick an war die Natur meines Elends eine andere," denn nun musste es sich zeigen, ob von dem ..ewigen Nein", das die Seele wie einen Fehdehandscliuh der mechanischen Weltanschauung entgegengeworfen hatte, ein weiterer Schritt möglich war . der Versuch , von diesem gewonnenen sicheren Punkt aus sich die AVirklichkeit zurückzuerobern. Es konnte nicht das Letzte sein, dass Ich und AVeit wie zwei feindliche Heerlager einander gegenübergestellt blielien, und erst nach schweren geistigen Kämpfen ge- lang es Carlyle, die Rückkehr zur AVirklichkeit. zu einem „ewigen da" zu finden. Aber das thut der Be- deutung der Stunde in Leitli AValk keinen Eintrag, denn jetzt, nachdem er sich selbst wieder gefunden hatte, konnte sich Carlyle nach Bundesgenossen umsehen, die ihn in diesi^n Kampf unterstützen sollten. War er doch sicher , bei aller fremden Hilfe sich nunmehr .seine Eigenart zu bewahren. Es konnte sich für ihn nur noch um ein Assimilieren der (Tcdanken anderer, nicht aber um ein Aufgeben seiner Persönlichkeit gegenüber fremdem Einriuss handeln, was die Gefahr der englisch-französi- schen AVeltanschauung gewesen war, mit der er ge- rungen hatte. Jene hilfreichen Geister aber waren die grossen deutschen Dichter und üenker. deren Schätze für sich und sein A^olk zu helien die Aufgabe der nächsten Jahre, ja in gewissem Sinne seines ganzen Lebens wurde.

Kapitel 3. Bis zur Übersiedelung nach London.

l>t'\or wir /.iir 1 )ar>tL'lliiii.i; dcriu'iu'n KutwicUclimiXs- phase in Carlylcs goi.stigom Leben übergehen, ersolieint es an fler Zeit, sein äusseres Lehen weiter zu vertuigen, flenn selbst in einem Leben, das so vorwiegend ein inneres (ilesclielinis war. wie das bei Garl,\'le der Fall ist. spielen Freunde und (legnei-. glücklicbe und w iilrige Erlebnisse ihre IJidle und wollen mit b'eriirksirhtigt sein. Und um .so melii" sind wir genötigt, hier ilii* iius>ieren Er- lebnisse zum M'ort kommen zu lassen, als in diese Zeit (die letzte ]\Iaiwnelie 1H21) ein Ereignis fällt, das vi»n der «xrüssten Bedeutun«? tiir f'arlvles «ganzes Lebi-n sein sollte, die erste Bekanntschaft nut .laue W'elsh. seiner späteren Lebensgefährtin. Irving war es. dei' ilin in das Haus der verwit/weten Muttei- .laues in lladdington ein- führte, hving war längere Zeit hinilureli Aor Lehn-r des 'i'eistvidh'ii und schiiueu !Mä(h'heiis nr(»wesen. und eine inni^re Ni'i'junf'. die von ihrer Seite »-rwidert wurd»*. war die Folge ihres hiiutigen Zusammenseins. Aber Irving wai" bereits cUireh eine frühei'c \'erlobung gc'bunden uml seine Hotl'nung. von dieser Ver|)Mirhtung durrh seiiu' Braut und ihri'U \'ater losgesproeheu zu werden. verwirkli(dite sieh nirht. Fr tiddt»« sieh verjitliehtet. bei seinem ein- mal gegebenen A\'ort auszuhari'en. er wurste, was er (himit aiitgab. aber ei- scheint ^ieh nicht klai' darüber ge-

Jane Welsh. 41

worden zu sein, wie viel .lane ^^'elsll zu überwinden hatte, sonst würde er die weitere Korrespondenz, in der mitunter der g-anze tiefe Jammer seiner Seele zum Aus- druck kam, unterlassen haben.

Es ist kaum zu lu'z weifein, dass .lane AVelsh dem neuen Bekannten zunächst als Freund Irvings ihr Inte- resse zuwandte. Steif, verschlossen, von körjDcrlichen und geistigen Qualen heimgesucht, in dem Verkehr mit gebildeten und geistvollen Frauen so unerfahren wie mc»glicli, konnte Carlyle für das gefeierte, wohlhabende, an geistreiches ( Geplauder gewöhnte und sich darin ge- fallende IMädchen unmöglich viel Anziehendes hahen. Aber die nähere Bekanntschaft zeigte ihr bald, dass ihr hier ein in jeder Beziehung ungewöhnlicher ]\Iann nahe getreten war, ihre weibliche Feinfühligkeit Hess sie den goldenen Kern unter der unscheinbaren Schale erkennen. Stets bemüht, ihre erheblichen Sprachkennt- nisse zu erweitern, nahm sie die (xelegenheit wahr, durch Carlvle in die deutsche Sprache eingeführt zu werden. Bald gingen Büchersendungen hin und her von Briefen hegleitet, und wenn Carlyle auch nicht zu reden wusste, so merkte das junge Mädchen bald, dass er schreiben konnte wie kein anderer, und dass er ein Ver- gnügen daran fand, die ganzen reichen Schätze seines Geistes vor ihr auszubreiten, sie ihr zugänglich zu machen. Eine gute, treue Freundschaft bildete sich aus. für Carlyle l)ald ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, der beste Trost in allem Schweren, das die nächsten Jahre bringen •sollten.

Aber noch nach einer anderen Richtung sollte Irving bestimmend in Carlyles Leben eingreifen. Durch seine Beziehungen in London gelang es ihm, Carlyle eine Stellung als Lehrer für die Söhne eines früheren indischen Beamten, Buller, zu verschaifen. Es war eine etwas eigentümliche Einrichtung, die getroffen wurde. Die heiden Söhne kamen nach Edinburgh, wo sie bei einem

42 Kapitel ^.

l>r. Flemmin": wohntrn. <'ailyl«' Wdlmtc in dt-i- Nälu'. hrachtc den Tai; mit ihnen zu und gin^ am Abend in seine W(dinung zurück, um für sich selber arbeiten zu kimnen. So l)egann vom dahre 1S22 an eine sehr viel fflüeklicliere Zeit für Carlvle. Seine beicU'u Ziiglini^e. nanicMitlirh der ältere, dessen glä'nzende Begabung die griissten Hoffnungen für die Zukunft erregen konnti*. >.(di]oss('n -ich mit bcgcistei'tei- Liclic an ihiTU Lflirt-r an. has scdir rei<lilicdi l)emi'sseni' (iehalt ermliglichtf es ilim. /um Studium seines geliebten Brurh'i's .lohn Itri- zutragen und (hibci noch Ersparnisse zu machen, und vor allem, er konnte jetzt seine eigenen Ai-beiten ohne Sorge um den konnnenden Tag betreiben.

Seine ei'ste Arbeit aus dieser Zeit war eine l'ber- setzung Von lA>gendres (-Jeometrie. wid(her er einen sell)stverfassten Abschnitt ül)er die Proportionen hinzu- fügte, der nacli dem Urteil von Facdimännei-n ihn als einen tüclitigeu ]\Iatliematiker zeigt. In diexdbe Zeit (i(U'r etwas fi-iiher fällt ein «-rster Versuch. <eine Be- schäftigung mit deuts(dier Dichtung s(dirift>t(dleriseli hervortreten zu lassen. Das Thema war<toethes Faust oder vielmtdir ein zi«'mlich verunglü(d<ter \'ei'su( h einer engli>«hen Fbersetzung. den ein rngeiiannter verbroclien hatte. Carlyles Aufsatz erschien in der -New Kdin- burgh Review" inid ver>-U(hl. dem englischen Le>er ein besseres \'erstä'ndni> für Fau>t zu geben, als es der l n- gciunint«' zu thun vermocht hatte. Im ganzen ist es eine noch zieudich uubelndtene .\i-beit. nur ganz gcdegeut- lich verkünden einzelne liemei'kuugcu eine grl'issere geistige Sellistständigki'it. ^o der N'ergb'ii h Mepliistophe- le>" mit eimun tranzösisehen IMiilos(»ph«Mi des IS. .lahr- hun«lerts.

.*^ehr vitd mejir als<i(M'the trat in dieser Zeit S( hillcr bei ('arl\le in (h'ii X'ordergrund d«'s lnt»'n'ss«'s. Der hohe idealistisch«' Schwung, die philosophis* he \N «dt- ansciiauuni; des Di<hters nui-»tcn uuuditig aut ('arlyle

Lel)en Schiller.s. -iS"-

wirken, das Leben Scliillers mit seinem Aut'steig'en au.s kümmerlichen nnd drangvollen Verhältnissen durch eigene Kraft zu den lichten Hohen des Ruhmes machte auf Carlyle um so grösseren Eindruck, als er (irleiches er- fahren hatte, Ahnliches von der Zukunft erhoffte. 80 unternahm er es. ein Lel)en Schillers zu schreil)en. nach- dem er sich schon früher mit einer Uliersetzung Schillers getragen hatte. Es ist vielleicht kein Unglück, dass der Plan zur Übersetzung nicht zur Ausführung kam. Nur ein Dichter kann sich an eine derartige Aufgal)e machen, und ('arlyle war kein Dichter. Wir l)esitzen in Froudes Biographie einige seiner (ledichte gerade aus dieser Zeit, in denen deutlich zu sehen ist. wie Reim und 3Ietrum nicht das Kleid des (ledankens sind, son- dern wie der Gedanke mühsam mit ihnen ringt. Auch seine Übersetzungen aus (loetlie sind mit einer einzigen Ausnahme mehr durch Treue als durch poetische Schön- lieit ausgezeichnet, und. für die Übersetzungsproben, die Carlyle in seinem Leben Schillers giebt, gilt dasselbe. Am glücklichsten ist noch die Wiedergabe der Scene in der holden (lasse. Immerhin waren diese Übersetzungen ein erheblicher Fortschritt gegenüber allem, was liisher in England erschienen war.

Carlyle hat in späterer Zeit eine ziemlich abschätzige !\I einung über dieses sein Erstlingswerk ausgesprochen. Er hatte es aber doch für wert gehalten, dass es in seine AVerke mit aufgenommen werde, und er hat recht daran gethan. Es ist ein wesentlicher Fortschritt in Carlvles Schreibweise gar nicht zu verkennen, und es tritt hier bereits das Bestreben klar hervor, das C'arlyle si)äter in jedem Wort geleitet hat, welches er über Menschen und deren Werke schriel). Es ist dies die Einsicht, dass es sich nicht darum handelt, den Leser mit irgend welchen Daten aus dem Leben dieser ]\Iänner oder mit Urteilen des Autors über diese Männer zu versorgen, sondern dass es die Pflicht des Biogra])hen ist. in das.

14 Kapitel 3.

Lelion seine.- Heldt-n einziitiilireir. (lie Leser so viel als m»);xlicli dieses Lel)en nachlelien zu lassen. Ihiraus er- klärt es sich, rlass der «i^rosse Freund Schillers von der Arbeit Ciulyles nicht nur durchaus /utriedeu gestellt wurde, sondern auch ^lauhte. dass deutsche Leser aus ihr Krheldiches lernen könnti-n. und an eine deutsche riierset/.un;^ dachte, die er einleitend eni|)t'ehlen \V(dlte. I>as Buch Cai'lyles erschien im London IMa^a/.ine l!^23 In's ]S24. als gesondertes A\'erk \X'I^k

Alter trotz dieser inti'n>iven Hex-hiittigung mit Schillei- gieht das Buch seihst die (irihnh-. die es ver- hinderten, dass Schiller l)estimm«'nden Kiutluss aufCar- lyle gewann. Vor allem tasste er ihn vielleicht zu aus- schliesslich als Schüler Kants aut. und wir werden später sehen, dass trotz allei- I >ankes>chuld an den grossen deutschen IMiilosophen es Carlyle nicht mi'iglich war. das Kantische System als _der \\'eisheit h'izten Schluss- zu ItetrachttMi. Ausserdem schien ihm Schill»-!- zu sehr in dem reinen Atlu-r poetischer und iihilo-ojih- ischer (ledanken zu hdten. um ein hrauchitarer Si-eli'U- fülirer durch das wirkliche Lei)en sein zu kliinuMi. So stieg denn am gi'istigen Himnud Carlyles der andere Stern eister ( irl'sse in der deutschen hichtung. iioetiu'. immer ht>her unil liiihiM- Ids in den Zcnith als Mittel- iniukt für ('arl\le> gi-samtes geistiges Lehen. I''.inr ritersetzung der _Leliriahre" wurde zum Teil gleich- zeitig mit dem Lehen Schillers liegonnen. und mit gliilu'U- <lem Knthusiasmii» drang ( arlylc nicht nur seiher in die ihiu hier sich entdeckende Welt ein. er suchte aueh seine Lmgehung und namentlich Mi>s Widsh zu gleichem Kuthusiasnuis anzuregen. Trotz aller Hinwendungen, die Irving dagegen erhöh, dass seine geliehte Schülerin mit -von (loethe. von Sehiller und den andern Adligen <\rr deutschen Litteratur" hekannt gemacht würde. denMi Sittlichkeit und Keligion ihm ii<"»ehst verdächtig erschien, lilirte ('arhii' nirht aut. hei .lam- Wrlsh tTir (ioethe zu

Reise nach Paris. 45

kämpfen, bis ihre anfängliche Abneigung, die sowohl der Form als dem Inhalt galt, l^esiegt und sie selber für den _3Ieister" gewonnen wurde.

Auch für C'arlyle begannen nun die AVanderjahrc. Der Aufenthalt seiner Zi»glinge in Edinburgh war zu Ende, und 1824 folgte Carlvle ihnen nach London, mit offenen Armen aufgenommen von Irving. Doch konnte er sich dunkler Ahnungen nicht erwehren, die sich schnell zur Gewissheit steigern sollten, dass ein dauerndes Zu- sammenleben mit Mrs. Buller ein Ding der Unmöglicli- keit sein würde. Um dies verstehen zu können, ist es nicht notwendig, Carlyles Schilderung ihres Charakters wörtlich zu nehmen. Es genügt, dass der Dame (tc- selligkeit und gesellschaftliches Leben im ^littelpunkt des biteresses stand, und dass Carlyles ohnehin nicht sehr erhebliche Toleranz ihn ..Zweifüsslern dieser Art" gegenüber völlig im Stich liess. Ein kurzer Aufenthalt in Birmingham befreite ihn zwar nicht, wie er gehottt hatte, von seinem quälenden Magenleiden, gab ihm aber eine gute Kenntnis aus eigner Anschauung von den grossen industriellen Centren. in denen das moderne Leben am intensivsten pulsierte . und deren stetes Maschinengedriihn nebst den tausenden ihrer russigen Arbeiter auf Carlyle einen unauslöschlichen Eindruck machten. Daran schloss sich ein kurzer Ausllug nach Paris in Begleitung der Schwester und des Schwagers von Mrs. Buller. Mr. und 3Ir>. Strachey. Es ist rüh- rend, die ängstliche Bewunderung der Familie in ]\Iain- hill wegen der weiten Reise zu sehen, die ihren Tom jetzt sogar über das Meer hinweggeführt hatte. Für Carlyle, dessen photographisches (Tcdächtnis jedes Bild mit absoluter Treue bewahrte, bedeutete der kurze Auf- enthalt in Paris eine gegenständliche Kenntnis aller historisch wichtigen Stätten in dieser erinnerungsreichsten aller Städte. Wie sehr er durch diese Kemitnis in seinem Bestreben, die Scenen der französischen Revo-

4<i Kapitel '■'•.

liitioii zum Lclicii ziu-ikk zu riitV'ii. i^ctiinli-rt wiiidf. hat er selb.st rjeU'fji'iitlich bemerkt.

Nach Loiulon ziirück;LCt'kelirt. lilii'h t-i- dnit st> lan^e. liis fler ^Scliiller- burlifci-tiu; o;('maclit war. woraut' er flaiin naeli Schottland zuriickkehrte. Ki- war mit eini^^eii der bedeutendsten engli.^^cheu Schn't'tst(dlei- zu^anMnen- p;ek(»nnnen. aber er liatte das (iefühl. (bis.-; aus ilii-em Um^an^T erhebliche F«"ti'(b^rnni!: nicht zu i'i-warten ^ei. Am näch.sten scheint er n<i(li ( ampbidl getreten zu sein, der ihm als Schotte bi'i seinem starken Xationalgefühl vi(dleicht die meiste Symi>athie eintbisste. Alter gerad*' bei diesem glaubte er die s(hädli(hen Ftdgen des Auf- enthaltes in London mit Händen greifen zu krtnnen. Kr s( hien ihm aus dt'm Krdrei(di. au> dem er Kraft gesogen. h«'rausgei'issen „und in eine Flasche ^^'asser gesteckt" zu <ciu. ein an(h'rc>- l>ci«-|»ic] der vnu ihm tiet'beklagten Fntwicktdung seines Freundes Irving, ('(deiidgc. den er mit grossen Frwartungeu aufsuchte, enttfiuschte ihn nocli mtdir. Kr scliicn ihm >in Mondschein und Faub heit ertrunken-. I)as ganze Kebcn der litterarischen Kreisein Lonchui krankte tTir ( 'iirl\-b' an der Schwierig- keit, die eigenen (iedankeu ausi-eiien bissen zu kiunien. an i\t'v \'('rfiiiirung. (i»dd zu verdienen durch (bi> .\us- sprtM'iien halligereifter ocb-r unreifer Worte. _ I )as heilige S(hweigen-. nach ('arl\le die erste N'orausxetzung wir- kungsvollt'i- Ifcde. schien hiei' unenillicli ei'-idiw ert zu sein. In diese Zeit tällt ein tlir Carlyle unernu'ssiich wicjitiges Kreignis: der .\nfajig seines liriefweciisels mit <Joethe. Kr hatte dem Vi-ndirtiMi Mann«' seine Fber- setzung des »Willudm iMeister" zug«'sendet. (ioethe ant- wortete mit einigen höflieh-frennrllichen Zeilen und einer »egengabe. hies war der Heginn einer IJeilie von Briefen, die von ( 'arl\'les Seite immer dieselb«' ergebene und tr«'ue hankbarkeit atmen, während wir iji (io«'thes P»riefen ein steigen(b'» frohes Krstaunen verfolgen kimnon ülier dies ungeahnte Phänomen eines Schotten, «ler os

Briefwechsel mit Goethe. 47

vermocht hatte, Goethes ganze reiche Gedankenwelt in sich aufznnehnien und zu verarbeiten. Und mit dieser Freude an der Tüchtigkeit des jungen Freundes wird auch der Ton der Briefe ein durchaus anderer. Mit väterlicher Freundliclikeit, mit der einfachen rülirenden He]'zlicldYeit, die Goethe sich für die zu bewahren ver- standen hatte, die einmal den Weg zu seinem Herzen gefunden, nimmt der Greis an allem teil, was die 8eele des jungen Mannes bewegt. Er warnt ihn vor den Irr- wegen des Saint-Simonismus. in dessen gefährliche Nähe er Carlyle gerückt glaubt: seine tiefsten Gedanken über die Aufgabe der Litteratur als Erzieherin der Mensch- heit mit der letzten Krönung, dem Ideal einer Welt- litteratur. mag er Carlyle nicht vorenthalten. In ruhiger, epischer Gelassenheit, mit innigster Teilnahme am Per- sönlichen werden diese Briefe reicher und reicher, immer neu beglückend, erhebend über das Mangelhafte und Un- vollkommene des Tages für den Empfänger und später auch für seine junge Frau. Und wie oft Goethes viel- beschättigter Geist l)ei dem jungen Freunde verweilte, davon geben die Stellen in Eckermanns „(-Jesprächen" ein unvergängliches Zeugnis.

Vorerst war Carlyle nach Schottland zurückgekehrt, wo er sich in Hoddam Hill, einem kleinen Pachtgut in der Nähe von Mainhill, dem Wohnsitz seiner Eltern, niederliess. Er pachtete die Farm selber, überliess aber die Bewirtschaftung seinem Bruder Alexander (Alick), der dafür den Unterhalt für Carlyle und sein Pferd übernahm. Carlyle fand, dass täglich unternommene Spazierritte, an welche er sich in Birmingham gewöhnt hatte, das beste Mittel gegen sein Magenleiden seien, und so treffen wir in seinen Briefen auf fortlaufende Berichte über die Pferde, denen er sich im Laufe seines Lebens anvertraute. Dies Wort muss in seinem eigent- lichsten Sinn verstanden werden, denn ( 'arlyle war nie- mals ein guter Reiter, und die Verantwortuns^ für eine

48 Kapitel 3.

;::lücklicht' BcLMitli^uiig dei* gcnieiiisiimon Expeditictii traf ausschliesslich das Pferd. Carlyle miisste. um sich auf dem Pferde wohl zu fühleu, ein vollständiges Zutrauen zu seinem (xenossen luihen. den er dann mit fast zärt- licher Zuneigung liehandelte. Das iriselie Pferd, das ihn in dieser Zeit trug. Lan'\'. war für seinen (ieschmack zu .genial", wä'hrend (»in späteres, ^Fritz". (his erlange lahre in Litndon ritt, den L()bs])i-uch erhielt „ein sehr verständiger Bursehe zu sein, der es nicht für die ci-ste Pt'('rde])fliclit liielt, irgend etwas Witziges zu sagen".

I)ie Arbeit Carlyles bestand in dieser Zeit luiupt- sä'chlich in der TTbersetzung auserlesener Stücke aus .Alusäus, ha Motte Foufjuc. Tieck. Hotfmann und .Ican Paul, wozu dann später eine l'bersetzung der _\Vander- jahre"' sich gesellte. Zu jeder dieser Fbersetzungen wiii'de ein einleitendes N'orwoi't geschrieben, da^ den englischen Lt'ser auf das vorzüglichste in das ihm bis- liei- ziendich unbekannt gebliebene Zauberland der deut- schen Dichtung einführte. Trotz der verdienstli<hen Bestrebnngen (Joleridges war hier noch Erhebliches zu thun übiig. wie der Umstand erkennen lässt, dass die verbreitetste (ieschiclite dei" deutsehen Litteratnr in englisclier Sprache, von 'Pa\-hir verlaset, in einem lf\'m- nus auf Kotzebue gipftdte.

Das Jalir lS2(i sah die ganze Familie ("arl,\'le in Sc(it>-brig vereinigt, und hier vollzog sieb ein l'.i'eignis, das dnrch häutige liesnehe von beiden Seiten und die immer zunehmende (lewöhnung ( 'arlyb's. jeden (iedaidven der ihn bewegte, der (leliebten mündlicli oder schrift- lich mitzuteilen, seit langem vorbereit<'t war: seijjc Ver- lobung und damit die Notwendigkeit, an die (iründung eines eigenen Hausstandes zu denken. Wenn für Car- lyle hiermit ein vitde .lahre gidiegter Herzenswun>cli ei- tlillt wurcb^, so kann ein gleiches nicht von .laue Wcdsh gesagt werden. Sie bewunderte den «ienius Carlxles. wie er bewundert zu weiden verdiente, <ie >ah mit ihren

Verlobung. 49

klaren verständigen Augen, da.ss Carlyle vor allem die 3Iöglichkeit haben müsse, frei von der Sorge um das tägliche Brot alle seine Fähigkeiten vollständig auszu- bilden, alles das ausreifen zu lassen, was in ihm ange- legt war. Daher hatte sie schon vor ihrer Verlobung ein Testament aufgesetzt, das nach ihrem Tode ihrer 3Iutter die Xutzniessung des väterlichen VermJigens hlnterliess und bestimmt, dass nach dem Tode der 3[utter dies Vermögen an Carlyle fallen solle. Sie hatte schliess- lich sogar einsehen gelernt, dass für Tarlvle ein erfolg- reiches Leben nur an ihrer Seite möglich sei, und so willigte sie in die Verlobung, ja sie that einem früheren Versprechen zufolge selbst den entscheidenden Schritt. Nicht eigentlich Liebe war also der Beweggrund, der sie dazu veranlasste. Wenn es auch übertrieben ist. was sie später in der ihr eigentümlichen zugespitzten Art dahin formulierte : ..ich heiratete aus Ehrgeiz. Car- lyle hat meine kühnsten Erwartungen ül)ertrotfen und ich bin elend", so liegt etwas "Wahres doch darin. Es war nicht Ehrgeiz der gewöhnlichen Art. die Ver- lockung, die Frau eines berühmten 31annes zu sein, es war der Ehrgeiz, diesen 3Iann. den sie vor allen andern schätzte und bewunderte, durch ihre Hilfe nun auch vor den Augen der Welt auf der Höhe erscheinen zu lassen, die ihm nach ihrer Ansicht gebührte. Dies hatte sie als ihre Pllicht erkannt, und diese Pflicht war sie ent- schlossen zu erfüllen. Den bei weitem grössten Teil ihres Vermögens überliess sie ihrer 3Iutter. die wohl der Tochter ein glänzenderes Lebensglück gewünscht hätte, als es die Heirat mit Carlyle zu bieten schien. Einige chimärische Projekte füi* ihr gemeinschaftliches Leben, die Carlyle vorschlug, wusste sie mit der ihr eigenen Mischung von Humor und Satire zu widerlegen und ihn zu bestimmen, Edinburgh als zuküntfigen Wohn- sitz ins Auge zu fassen. Am 17. Oktober 1826 \\'urden sie für das Leben verbunden und kamen am Abend in

Mensel, Carlyle. 4

50 Kai.ilel :).

Comely Bank, oinoi- iiihii^cn Stra^^f tV-in von dem (tc- riiusch der inneren Stadt an. um iremeinsam den Kampf de« Lebens /n kämpfen.

Für Carlyle Idldete .<icli diiich >eine N'erlieiratung eine Reihe von Beziehungen, unter (Jenen die wichtig.^te die /n Franci.«; .lett'rey. dem befürchteten Chefredakteur der Fdinlmri^h Review, war. .letfrey war ein naeli deutschen l^x'fjritfeii entferntei". nach schottischen naher Verwandter ih-r jimu-en l'^rau ('arlyles und betrachtete sich als (h'u Beschützei- und väterliclien Freund (h's jungen Paares. Kr I>ttnete ('arl\-h' die S])alten seiner Zeitsclirift und wii- wis>en aus (U-m Lehen Maeaulays. wie in jenei- Zeit es für die liervori'agendsten Männer in Kn;2:laud und Sehotthmd eine Line wai-. zur >Lt- arbeiterschaft zugelassen zu wenU'n. Wenn man ei-wägt. da.ss der Standpunkt dieses Blattt's durchau> deiji'nige der orthodoxen l^irteidoktriu der Whigs war. so wird es begreiflich, dass man es hiiutig als einen Akt pei-sJin- li( lici- Liebenswürdigkeit von Seiten . Jeffreys aufgefasst hat. ..die>e Pulvertounc ;in jiord genitmmen zu haben". In Walirheit war allci'dings für ( 'arlyle der Standpunkt dei- Kdinburgli K'cxicw ein längst iilterwundciu-r. Aber er war in dieser Zeit nocli p(ditiscli in ziemliidi radi- kah'm Fahiwasser. und obgh'icli die Scheidung, die sich später zwischen Whigs und Radikalen so einschnei<lend niarki«'ren sollte, dem .schärfer IMickenden schon damal> nicht entgehen k(»nnte. so glaubten doch Männer wie .lettVe\-. lirougliam und ^lacaula^'. nicht die Sache einer Partei gegen die antjcrc. xmdern «lie de^ \'nlkes gegen die egoiNtisclie KlasveiiheiM-scliatt der Tnrie» zu führen. So fand auch die Pew»'gung. die zui* |{efonu-Bill führen sollte. nändi( h (br Kampf gegen die K<'rnz«dle. in der That Whigs und L'adikale Schulter an Schulti-r käm- ]»fend. ('arlyle> p(diti>che An.>>ichten waren e^ al.so nicht, die den llauptanstoss hei .Ieflrre>' gelu-n konnten, woiil al>er muteten die deutschen Studien ( 'arlyles «trler

Edinburgh Review. 51

vieliuelu" der (Tlauljc Carlyk'fi au die deutschen (redanken •Jett'rey als höchst gefährlich und rätselhaft an. Dass jemand allen Ernstes behaupten konnte, diese „nebel- haften deutschen IMetaphysiker" mit ihren ..mystischen Spekulationen in einer unverständlichen Spraclie" seien ]\Iänn('r. von denen die aufgeklärten, vernünftigen, prak- tischen Engländer irgend etwas lernen könnten, erschien .letfrey nur unter der Annahme eines übel angebrachten Haschens nach Originalität erklärlich. Immer wieder versuchte er es, seinen jungen Verwandten, dessen gei- stigen (Tlal)en er volle (Terechtigkeit widerfahren Hess, von dem schwankenden Boden deutscher nebelhafter Spekulationen auf das ..fruchtbare Bathos der Erfah- rung", das (iebiet des gesunden Menschenverstandes, zu- rückzuführen. Und dass alle IMisserfolge. welche diese Versuche nach sich zogen, ihn niclit dazu vermochten, seine Hand von Carlyle abzuziehen, dass er freundlich und hilfsbereit blieb, bis Carlyle in einem Anfall von Missmut und Arger, den Jetfrey nicht um ihn verdient hatte, die vertrauten Beziehungen abbrach, das muss zimi Lobe Jeffreys ausdrücklich bemerkt werden. Es konnte einem älteren Mann, der in seines Herzens Un- schuld meinte, in dem damaligen whigistischen Programm ,.das Letzte und das HÖchsterrungnc" zu besitzen, nicht zugemutet werden, die steilen Wege zu wandeln, die Carlyle zu einer hiUieren Ansicht von IMenschen und T)ingen führen sollten.

Andere Beziehungen fingen gleichfalls an. sich zu bilden. Am wichtigsten darunter war wohl die zu De 'Quincey, nachdem eine erste Verstimmung, hervorgerufen durch eine malitiöse und verständnislose Kritik des „Wilhelm Meister" ülierwunden worden war. Carlyle war weit davon entfernt, eine derartige Kritik ernsthaft übelzunehmen : enthielt sie doch nichts anderes, als die Eormulierung dessen, was man in England wirklich über Xroethe dachte. So war es für Carlvle eher ein belustia-en-

52 Kapitel 3.

dfi' Anlilick. wonn ein ^lann von diT goisti^t-n Bedeutun;^ De (^uinceys sich vollständig kompetent glaubte, ein aus (loetlies (ireist geliorenes Werk im Ton der l'ltcr- legenheit von dem hohen llichterstuhl untehlharer Kritik herab zu i)esprechen. Bei aller Anerkennung der vielen und tüchtigen Kigenschaften De (^uinceys war ('arl\'le doch im wesentlichen der Ansicht seiner Frau: „AN'chh ein entzückendes kleines AW'sen, wenn man es in ciut'r Schacht t'l mit sirh i'iihren und es herausnehmen kiainte, so oft man mit ihm sprechen will." Kine andere Hüchtige Bekanntschaft, die Carlyle anfangs zu behagen >chii'ii, die mit Prof. Wilson, gestaltete sich nicht zu irg«Mul «'inem intimen Verkehr, vermutlich weil der etwa> merk- würdige, schottisch gefärbte Tor\'ismus ^^'ilsons sich durch die radikalen An.schauungen Carlvles verletzt fiihlt<«.

Im ganzen scheint das Leln-n in ( \»mel y Bank eine Zeit so ungetrübten Lel)ensgenusses und so v(dler Lel)ens- freude gewesen zu sein, wie sie dem Khe])aai- nie w ieder zuteil gew(U'den ist. Carlyle publizierte in jener Zeit nur wenig, aber grlVssere Kntwüi-fe wurden g»-macht, und >eine l^rsparnis.se, .sowie die einfaidie Art dei- L<'- benstiihrung hätten einen längj-ren Autenthall .-icher gestattet. Trotzdem beschloss Carlyle schon IS2S Kdin- burgh zu verlassen und sich nach einem seiner Frau gidiiirigen Paclitgut. C'raigenputtock ( Falkeidvlijtpei. zu- rückzuziehen. Man mu>s auch hier, wie überall Ihm den Briefen Cai'lyles an seine Familie, zwischen den Zeilen zu lesen verstehen, was leider sein r.iograpli Fronde jiiemals verstanfb'ii hat. Carlyle wusst»' sehr gut. dass die Seinen einem iikunomischen Beweisgang zu folgen vermocliten. was er bei (iründen. die er der innt-ren Kntwickelung entnahm, in demselben ]Masse nicht vor- aussetzen konnte. Zweifellos al»er waren ihm gerade diese inneren (i runde die massgebenden. Carl_\le war no«h nicht fertig mit sich, und er konnte nach dem.

Craigenputluck. 53

was wir gesehen haben, durch die in Edinburgh herr- sehenden geistigen Strcanungen für sich eine Förderung nicht erwarten. Eljenso wenig aber konnte er hoffen, bevor seine geistige Entwickelung einen gewissen Ab- schluss erreicht hatte, in irgend erheblichem blasse auf seine Umgebung fördernd zu wirken. Er war. um seine eigenen Worte zu gebrauchen. ..vorläufig noch im un- artikulierten oder halbartikulierten Zustand." Da musste sich ihm das altbewährte Mittel, „seinen eigenen Rauch zu verzehren", d. h. völlige Weltabgeschiedenheit. Tren- nung von seinen Mitmenschen und lange einsame JRitte in der schweigsamen Xatur als das beste Mittel dar- bieten, zur Klarheit über die ihn bewegenden Probleme zu gelangen. Dass seine Frau schweren Herzens Edin- burgh verliess , kann nicht bezweifelt werden , aber Carlyle hatte Recht , seinen Wunsch durchzusetzen. Die ganze Zukunft des jungen Paares lag in der geisti- gen Entwickelung Carlyles. und wer diesen Zweck wollte, musste notwendigerweise auch die Mittel wollen. Über Craigenputtock hat sich Carlyle in einem Brief an (Toetlie so schön ausgesprochen, dass seine Worte hier ihre Stelle finden mögen: „Sie fragen mit so warmem Interesse nach unserm gegenwärtigen Aufent- halt und nach unserer Beschäftigung, dass ich einige Worte hierüber sagen muss, so weit der Raum reicht- Dumfries ist eine artige Stadt von etwa 15 000 Ein- wohnern, der ^littelpunkt von Handel und Gerichtsbar- keit eines bedeutenden Distrikts an der Grenze Schott- lands. Unser Wohnort ist nicht dort, sondern 15 Meilen (zwei Stunden zu reiten) nordwestlich davon zwischen den Granitbergen und den schwarzen Moorfeldern, die sich westwärts durch Galloway fast bis an die irische See erstrecken. Es ist gleichsam eine grüne Oase in jener Wüste von Haide und Felsen, ein Stück geackertes und teilweise geschütztes und bepflanztes Land, wo Korn reift und Bäume Schatten oreben . oljwohl sich

54 Kapitel 3.

rin"">uinh»'r nur \\'ti>sorliülin('r und Schafe der zähe>ten Kasse finden. Hier haben wir mit grosser Anstrengung eine räunilirhc dauerhafte "W'olinstatt tnr uns ausgetüncht und geschmückt und haben uns in Krmangelung einer be- rnfsmäsigen oder anderen öffentlichen Anstellung hier niedergelassen und i)flegen. um eine Bescliäftigung zu haben, auf eigene Hand die Litteratur und Kosen und (Tartengesträuche und wenn ml>glich (Jesundheit und Frieden des (ilemüts, die jene befördeiii. iMr Kosen bleiben freilich uieistens noch zu i)tianz('n. alu-i- sie l)lühen schon in Hoffnung, und wir hal)en zwei rasche Pferde, die nebst der Bergluft für kranke Nerven l.e-.>er sind als alle Arzte. Diese jjeibesübung. die ich be- sonders liebe, ist fast meine einzige Zerstreuung, denn dies ist einer der intere.ssantesten Flecke in Britannien. s«'chs Meilen enfernt von jedem Individuum aus den Ständen, in denen man formelle Besuche macht. Hier wünle sich Uousseau fast s(t gut gefallen haben w ie auf seiner ln>el St. Pierre. In der That tiude jcli. d;i>s die Mehrzahl meiner städtischen Freuude mein Hierle-r- gehen einem ähnlichen Beweggrund, wii' er ihn hatte, zuschreibt uud nichts (iutes daraus weissagt: aber ich zog nur aus dem (irunde hierher, damit ich nicht fürs Brot schreÜH'n nnisste und nicht in die Versuchung käme. i'iir iiA(\ zu lügen. Dieser Fb'ck Knie ist unsei- eigen. und liier kl'innen wir leben und schreiben uinl denken, wie es uns reclit sclicint. und «illte selbst Z.»iln> K'loiig der Litteratur werden."

D;is klingt anders als die Art. wie Carlylo Hi-.- grapiien ( 'i-aigeni)utti»ck zu scinblern lieben, und e^ liegt kein tirund y(n\ zu glauben, dass Carl.vle hier seinem verelirten Freund und Lehrer ein idyllisches Land- schaft .sgemähb' «dnie objektive Wahrheit hätte entwerfen wollen. Wie in jedtMU Wort, das er schrieb, so fühlte sich Carlyle. namentlich (ioethe gegenüber, zur stn-ngsten Wahrlieit verpfiiclitet. V.^ kamen ja auch tVeilich lange

Litterariscbe Pläne. 55

Tage V(j11 trüben Nebels, voll Finsternis und winter- licher Stürme, aber Carlyle waren solche Tage gewohnt und vertraut, und die Flamme seines Herdes leuchtete durch den Nebel doppelt hell imd heimlich. Wie sehr notwendig diese Jahre in Craigenputtock für ihn waren, zeigt die lange Reihe von Aufsätzen, die hier für die Edinburgh Review, Fräsers Magazin und die Foreign Quarterly entstanden, und die in dem abschliessenden Werk dieser Periode, dem Sartor Resartus gipfelten. Hatte er sich in Edinburgh müde und matt gearbeitet, um einen Roman zu schreiben, so tiel ihm das jetzt als reife Frucht des einsamen Aufenthalts in Craigenputtock fast mühelos in den Schoss.

Wir werden im folgenden Kapitel (Telegenheit haben zu sehen, wie notwendig und erfolgreich diese stille Zeit für Carlyle war. Es mag darauf hingewiesen werden, dass Carlyles Art zu arbeiten hier eine andere und die für ihn eigentümliche wurde. Früher kam es für ihn darauf an, Kenntnisse aus Büchern zu erwerben, für sein eigenes Ich zu arbeiten: jetzt wird das Interesse ein anderes. Nicht die Bücher als solche sind es. die ihn vor allem anziehen, sondern es ist der Mensch, der in den Büchern steckt, die jMenschenkenntnis, die sich auf diesem AVege ergiebt, die Art und Weise, wie grosse Menschen die Welträtsel gedeutet haben das steht im Blickpunkt des Interesses. Daher sucht er bei den Menschen, mit denen er sich beschäftigt, alles zu er- kunden, was über ihr Leben, ihren Charakter, ihre Stellung zur Welt und zu den Mitmenschen erreichbar ist : es ist kein egoistisches Interesse mehr. . das ihn leitet, sondern ein biographisches. Aus denselben Gründen gewann jetzt erst Carlyle die Fähigkeit, das zu werden, was seine erstaunten Zeitgenossen für uns unübersetzbar „the best talker in England" nannten. Wir müssen hierbei daran denken, dass in England so- wohl wie in Frankreich die gesellschaftliche Unter-

50 Kapitel 8.

haltiing sich zur Kunstf'orm ausgebildet hat : während aber der franzüsische ^causeur" .seine Kunst darin sueht. jeden Gedanken zu einer möglichst scharfen Spitze, zu einer epigrammatischen Wendung abzuschleifen, und dies ebenso für die Zeit von Larochefoucauld w'w iiir die der „Diners ]\Iagny" gilt, zielt der englisclu' _talker- auf etwas anderes, (xerade die l)reite Ausführung der Gedanken, ihre Behandlung mit umfa.ssendster Belcsen- heit und doch nicht in lehrhaftem Tun. sondern mit durchgängige!' Ourchdringung des StoH'es durch da<» Element des Humors bildet seinen eigentümlichen ^'^•l■- zug. Und gerade darin war Carlyle Meister. Weil ilmi die Dinge und Menschen gegenständlich geworden waren, wusste er sie andern gegenständlich zu machen. Weil ei' ihre Eigenai-t im (4uten wie im iJl'seu im Spiegel seini'r humoristischen AW'ltanschauung scharf und bestimmt erkannt hatte. k(»nnte er seinen Hlirern den Weg zu gleichem \'erständnis öffnen. Es begegnete Carlyle i>fters. dass er sich von der Flut seiner eigenen Beredtsand<eit fortreissen lie.ss und dadurch das wurde, was man einen „Gesprächstyrannen '^ nennt. Darwin erwähnt eine Zu.sammenkunft mit ( 'arlyle. in der dieser niemand anders zu Worte kommen liess. sondern einige Stunden hindurch über -die gi>ttliche Macht des Schweigens- si»raeh. ^\'ah^scheinlich hätte Darwin besser gethan. das zu beherzigen, was ('arlxle übei- diesen Punkt zu sagen wusste. anstatt lediglich die Komik der Situation zu erfa.ssen. Im allgemeinen wusste ('arlyle sehr wohl, ob er mit Menschen zusamm<'n war. von denen fiirderliche Gegenrede- ausgidien konnte, oder ob die Stunden des Zusammenseins am gehaltvollsten ge- staltet würden, wenn er allein die Führung des (ie- sprä'chs übei-nahiii. Die Rüstung aber für di«'se spä'tere gesellschaftliche [Machtstellung wui'de in ( 'raigenjuittock gescinniedet.

Nach anderer llichtiinu' hin gestaltete sich das

Häusliche Schwierigkeiten. 57

Lel)en in Craigenpnttück weniger l)efriedigond. C'arlyles Überschätz nng der eigenen Familie veranlasste ilm. dem verunglückten Versuch von Huddam Hill tinon zweiten folgen zu lassen und auch hier seinen Bruder Alick als Farmer einzusetzen. Bald stellte es sich heraus, dass Alick ausser Stande war. die an die Schwiegermutter Carlyles zu zahlenden Pachtzinsen heraus zu wirtschaften, was Carlyles pekuniäre Verhältnisse nicht verbesserte. Sehr viel empfindlicher aber war der Umstand, dass Frau Carlyle nicht lernte vielleicht nicht lernen konnte sich in Craigenputtock heimisch zu fühlen. Auch hier muss von den Anklagen Froudes Erhebliches ge- strichen werden. Es ist natürlich, dass die junge Frau vieles vermisste, M'^as in Edinburgh ihr Leben verschönt hatte. Aber der Mangel an Geselligkeit ist eben mit dem Landleben unauflöslich verknüpft, und es ist doch nicht thunlich. alle Landbewohner deshalb zu Ijemit- leiden, weil sie nicht in der Stadt wohnen. Sehr viel Gewicht ist ferner auf die Thatsache gelegt worden. dass die junge Frau manche häusliche Arbeit , z. B. das Backen des Wirtschaftsbrotes aus llangel an ge- nügenden Hilfskräften selber übernehmen musste. Da derartige Verhältnisse in dem ganzen späteren Zusammen- leben immer wiederkehrten, ist es notwendig, mit einigen "W^orten darauf einzugehen. Carlyle stammte aus einer Familie, in der es selbstverständlich war, dass auch die Frauen hart arbeiteten, und wo es als ein merkwürdiges Verlangen gegolten haben würde, wenn sie dafür be- sonderen Dank erwartet hätten. Er war sich bewusst, nach dem IMass seiner Fähigkeiten treu und ehrlich zu arbeiten, wie dies sein Vater gethan hatte, und er hielt es vielleicht zu sehr für die Pflicht seiner ge- liebten Jenny, dem Vorbild seiner Mutter und seiner Schwestern sich anzunähern. Zweifellos würde er. wenn Frau Carlyle ihm gezeigt hätte, dass diese Aufgabe ül)er ihre Kräfte 2:in":. dafür "-csoro-t haben, dass sich

58 Kapitel 3.

ihr Kitrper an diesen Arbeiten nicht ersch(5pfte. Aber- sie war weit entfernt davon, sich Carlyle gegenüber zu beklagen. Ihre Klagen und es waren häutig sehr bittere Klagen vertraute sie ihrem Tagebuche oder Briefen an intime Bekannte an. Carlyle hatte keine Ahnung, wie es mit ihr stand, und sie wollte nicht, dass er eine Ahnung davon habe. Sie wusste*, wie sehr es- ihn erfreute, dass das geistvolle, gebildete und geliebte- Wesen an seiner Seite arbeitsam war wie keine andere Frau, die er in seinem Leben gekannt hatte; dass sie- es fertig gebracht hatte, sich in das Verständnis Goethes ebensogut einzuleben wie in die demütigen Sorgen eines einfachen Haushaltes. Erst durch diese Verbindung wurde sie für ihn nicht nur die (leliebte, sondern „eine sparsame schottische Hausfrau". Es war für Jane un- m()glich, sich anders zu zeigen als so, w^ie sie in ihres. Mannes Bewunderung lebte, und so schloss sie ihre Tjippen und that ihre Pflicht, schweigsam ihm gegenüber und doch wiederum echt weiblich nicht ohne- innere Verbitterung darüber, dass ihr Mann ihr streng gehütetes (leheimnis nicht erriet und ihr nicht aus eigener Kraft seine Hilfe lieh.

Im Juli 1831 ging Carlyle auf längere Zeit (bis 1832) nach London. Die Motive zu dieser Reise müssen dringend genug gewesen sein, denn er. dem sonst der Gedanke, andern als seinen Nächsten pekuniär ver- priichtet zu sein, entsetzlich war. entschloss sich, Jeffrey um ein kleines Darlehen für diese Reise zu bitten. Leider lässt sich aus den vorhandenen Quellen nicht mit Sicherheit schliessen, welches diese treibenden Motive waren. Es ist nicht zu leugnen, dass Carlyles- schriftstellerische Thätigkeit. je selbstständiger sie wurde^ den bisherigen pekuniären Erfolg nicht mehr hatte. Seine Übersetzungen hatten ihm ein für die damalige Zeit ungewöhnlich gutes Honorar gebracht. Seine Essays hatten nicht die gleiche Wirkung. Und er sali

Re[<e nach London. 511 '

ein, class die Zeit gekommen sei, wo er niclit mehr als Übersetzer, auch nicht vorwiegend als Essayist vor das Publikum zu treten habe. Er glaubte, seine (ledanken so weit ausgereift zu haben, dass er sie in einem selbst- ständigen Werk zusammenfassen kijnnte, aus dem das- englische Publikum etwas zu lernen haben würde. Welche Form er diesem Werk zu geben habe, konnte für ihn. den Scliüler (loethes, den Bewunderer Jean Pauls, nicht zweifelhaft sein. Wie es das höchste Streben jedes deutschen Schriftstellers in der klassischen Epoche unserer Dichtung war, „einen Roman zuschreiben", so musste auch Carlyle dazu greifen, die in ihm gähren- den Gedankenmassen in diese Kunstform zu giessen. Aus kleinen Anfängen, ursprinigiich als Essay gedacht, hatte sicli die ..Kleiderphilosophie" immer weiter entwickelt. Durch die Erkenntnis der Bedeutung ihrer (Irund- gedanken für sein eigenes Leben veranlasst, hatte ('arlyle sie zu einem autobiographischen Koman. in dem Dichtung und Wahrheit sonderbar vermischt erschienen, gestaltet. Carlyle hatte ganz recht, wenn er diesen^ Poman für zehnmal besser erklärte, als sein Leben Schillers; aber er hatte unrecht, wenn er glaubte, dass dieser grössere innere Wert sich auch in dem Betrag des Honorars ausdrücken würde. Einstweilen begab er sich nach London, um einen Verleger für sein Werk zu suchen. Es ist nicht recht ersichtlich, weshalb dafür seine persönliche Anwesenheit nötig war, denn an litterarischer Verbindung lehlte es ihm durchaus nicht. Und schlechter hätte der A^ersuch nicht ausfallen können., wäre ( 'arlyle ruhig in ( 'raigenputtock geblieben. Mehrere Verleger scheuten vor diesem litterarischen 3[onstrum eines Romans zurück, und endlich musste es Carlyle als (xewinn erachten, dass der Redakteur von Fräsers Magazin sich bereit erklärte, es in einer Artikelfolge in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Was etwa noch für die Aufnahme des Romans beim Publikum zu ver-

m Kr.pilel 3.

derben war. wurde durch diese Art der Veröffentlichung verdorben. Gerade das Planmässige. tief durchdachte des Buches, das dem aufmerksamen Leser dui-ch alles krause Schnörkelwerk, mit dem sein Kern umkleidet ist. bei tieferem Eindringen entgegenleuchtet, konnte kaum irgend einem Leser bei diesen monatlichen Por- tionen verständlich werden. So erklärt es sich, dass das Erscheinen des Sartor Resartus entschiedenen Wider- willen und mitunter offene Rebellion unter den Lesern des Magazins hervorrief. Nur zwei Bewunderer hatte sich der Roman erobert: einen irischen Priester in Cork und den Amerikaner Emerson.

Doch fand Carlyle. dass er in London überhaupt kein ganz Unbekannter mehr war. Merkwürdigerweise war es gerade die Seite seiner Ansichten, die sich später am meisten verändern sollte sein Radikalismus der ihm seine ersten Anhänger zuführen sollte. John Stuart Mill. von der entsetzlichen Erziehung seines Vaters befreit und liungrio- nach Xahruno; für seine phantastischen politischen Ideen, sowie die anderen jugendlichen Anhänger des St. Simonismus waren auf Carlyle aufmerksam geworden, suclitcn seine Bekannt- schaft, und es folgten lange Stunden einer Art von (Tcspräch, wie nur Carlyle es zu führen vermochte. Carlyle war niemals Anhänger von St, Simon gewesen, aber je mehr sich sein Interesse geschichtsphilosophischen und sozialpolitischen Gegenständen zuwandte, in desto höherem Masse musste die merkwürdige Konstruktion des französischen Philosophen seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Xamentlich in negativer Beziehung, in der Kritik der bestehenden Zustände, war vieles in St. Simon. das durchaus mit C'arlyles eigenen Gedanken überein- stimmte. Im ganzen aber konnte für ihn dieser Versucli nichts anderes bedeuten, als die Ersetzung eines histo- rischen Mechanismus durch einen konstruierten. L'nd hioi- o-elancren wir zu dorn tiefsten und eigentlich V)e-

Bekanntschaften in London. fjl

.stimmenden (Trunde .^einer Londoner Kei.se. Wie es ihn früher von Edinburgh nach Craigenputtock getrieben hatte, weil er die Aufgabe, über sich selber ins Klare zu kommen, nur in der Einsamkeit losen konnte, so führten nun nach Vollendung des Sartor Resartus die inneren 3Iotive seiner Entwickelung ihn zu den Menschen zurück. Aber ebenso deutlich sah er. dass diese 3Ienschen nicht der Kreis der überwiegend litterarisch beschäftigten Freunde in Edinburgh sein konnte. Edin- burgh war vergangene (xeschiclite, in London wurde Geschichte gemacht. Über die Stellung der Litteratur im Leben des Menschen war sich Carlyle klar ge- worden, darüber konnten ihm die Edinl)urglier nichts Neues mehr sagen. Was er nun brauchte, war die An- wendung seiner Weltanschauung auf die konkrete Wirk- lichkeit der Geschichte. Zwar darüber konnte ihn ein einzelner ]\Iensch auch in London nicht belehren, aljer er musste die Wirklichkeit als Wirklichkeit sehen. Lud deshalb trieb es ihn nicht zu einzelnen Menschen in London, wohl aber zu dem grossartigen Getümmel und Getriebe der Weltstadt hin. Es galt, dem Zeitgeist den Puls zu fühlen.

Einige Zeit nach seiner Ankunft traf auch seine Frau zum Besuch in London ein. Ebenso wie Carlyle wurde auch sie durch ihre geistig hervorragenden Eigen- schaften bald ein Liebling des kleinen Kreises, der sich um Carlyle gebildet hatte. Namentlich war es die Be- kanntschaft mit Leigh Hunt und seiner Familie, die für beide Carlyles eine unerschöpfliche Quelle der Belusti- gung und des Erstaunens wurde. Die vielseitige Bc- lesenheit Leigh Hunts, seine Bekanntschaft mit den Grössen der eben vergangenen Epoche der englischen Litteratur, seine erstaunliche Arbeitskraft, sein ehr- liches Bestreben, den für ihn nicht leichten Kampf ums Dasein mannhaft durchzukämpfen, waren für Carlyle entschieden wertvolle Eifj-enschaften. Andererseits be-

M52 Kapitel 3.

sitzen wir. wenn auch aus etwas späterer Zeit, aus der scharfen Feder von Jane Carlyle fein umrissene Zeich- nungen über das Hauswesen Leigh Hunts, seine schöne Frau und schönen Kinder, die. halb in Luxus, halb in zeitweiliger Armut lebend, den haushälterischen Sinn von Frau Carlyle entsetzten und sie doch zugleich belustigten. Es ist anzunehmen, dass Carlyles schon früher vorhandene Abneigung gegen eine Lebensführung, welche Litteratur und Kunst als Selbstzweck setzte. durch solche P^rfahrung wesentlich gesteigert wurde.

Wahrscheinlich ist die auf diese Reise folgende Rückkehr nach Craigenputtock lediglieh dem Druck äusserer Verhältnisse zuzuschreiben. Carlyle fand es unmJiglich, die litterarischen Pläne, mit denen er sich trug, für die pekuniäre Grundlage seiner Existenz in London genügend zu gestalten, und so scheint lediglich die Aussicht, in Craigenputtock billiger leben zu können, ihn dorthin zurückgetriel)en zu haben. Dazu kam als Gelegenheitsursache der Tod seines Vaters (24. Jan. 1R32), und so blieb auch dieser Aufenthalt in London Episode. Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Wieder- aufnahme des Lebens in Craigenputtock unter anderen und unQ:ünsti2:eren Bedino'uns-en voIIzog:. als dies bei dem ersten Aufenhalt der Fall gewesen war. Zu dem Tode des Vaters kam der Verlust Goethes, der tiefe und schwere Schatten in das Leben ('arlyles warf; eine lano-e und heimlich G-ehecrte Hottnuno-. den verehrten Mann von Angesicht zu Angesicht sehen zu können, war nun für alle Zeiten unerfüllbar geworden. Wieder und wieder kehrten seine Gedanken zu den Rätseln des Todes und der Unsterblichkeit zurück, aber in einem besseren, hoiFnungsfreucligeren Sinn, als dies bei seiner früheren Weltanschauung möglich gewesen war. In anderer Gestalt, wie er häufig an seine Mutter schrieb, war der alte Kinderglaube in ihm lebendig geworden, und er konnte mit den Seinen trauern und hoffen.

Tod Goethes. Emerson. OB

In dieser Zeit, wu er den Verlust seiner beiden Väter beklagte, war es ilim eine liesondere Freude, den Besuch seines ersten Schülers, seines geistigen Sohnes Emerson, zu erhalten. So kurz dieser Besuch auch war, so konnte sich Carlvle docli mit reinster Freude über- zeugen, dass er nicht umsonst oder nur für sich gedacht und gekämpft hatte, solidem dass seine Worte jenseits des <Jzeans einen (xeist gefunden hatten, der willig war. sie aufzunehmen und zu liolierzigen. Carlyle war für Emerson der geistige Führer geworden, der ihn aus andern Irrwegen als die. welche Carlyle selber ge- ängstigt hatten, herausführen sollte. Es war nicht der theoretische Materialismus des IS. Jahrhunderts, welcher Emerson nahe getreten war. sondern die nüchterne, praktische Lebensführung seiner Landsleute. „Die dagd nach dem Dollar- war ihm unerträglich geworden und hatte ihn zur Selbstliesinnung über den wirklichen Wert des Lebens geführt. Und da wai- ihm im Sartor Resartus ein I\Iann entgegengetreten, der aus noch grösseren Tiefen sich emporgerungen hatte und Antwort geben konnte auf die Zweifel und Fragen, die Emersons Herz bewegten. So eilte der jüngere Mann in herzlicher Dankbarkeit zum älteren, und dieser konnte die AVahr- heit eines seiner Lieblingsworte aus Novalis in der eigenen Seele nacherleben, dass die Kraft der eigenen Überzeugung imendlich wächst, soliald ein anderes menschliches AVesen sie als die seine anerkennt.

Im ganzen aber zeigen diese letzten Jahre in Craigen- puttock ein ziemlich unerfreuliches (irepräge. Wie sehr Carlyle bemüht war. seine ökonomische Lage zu ver- bessern, kann man aus dem Versuch ersehen, sich um eine Stellung als Astronom zu bewerben, wozu er Lord Jeffrey um eine Empfehlung bat. Es war diesem nicht übel zu nehmen, wenn er übrigens bereits für einen andern Bewerber interessiert die Bitte Carlyles ab- schlägig beschied. Dass Carlyle ein tüchtiger Mathe-

()4 Kapitel 3.

matikoi' war. ist bereits hervorgehol3en, dass er sich aber jemals mit astronomischen Beobachtungen beschäf- tigt habe, dafür liegt kein Zeugnis vor. Es war somit, von allem andern abgesehen, für Lord .lefFrey geradezu eine Pflicht, einen für das Amt so wenig qualifizierten Kandidaten nicht zu empfehlen. Überflüssig aber war es. dass er bei dieser (Telegenheit alles, was er gegen Carlyle und dessen ..mystische" llichtungen auf dem Herzen hatte, ausführlich wiederholte und sich dabei als unberufenen Verfechter der Abneigung von Frau Carlyle gegen Craigenputtock gerierte. Das war eine Taktlosigkeit, aber Carlyle hätte an die stets sich gleichl)leibende. gut erprob.te Freundschaft Jeffreys ihm und seiner Frau gegenüber denken sollen, bevor er diesen Brief zum Anlass eines vollständigen inneren Bruches mit Jeffrey nahm.

Carlyle war überhaupt entschlossen, mit oder ohne Anstellung Craigenputtock zu verlassen. Sein Bruder Alick musste die Pacht aufgeben, ein geringfügiger Ver- druss mit Dienstboten kam dazu als Gelegenheitsursache; die Notwendigkeit der Nähe einer grösseren Bil)liothek machte sich bei den umfassenden Arbeiten, die er plante, fühlbar, und so folgte er dem inneren Drang, der ihn nach London zog, in übereilter Weise. Glitte 1834 fand er nach längerem Suchen das Haus, das ihn bis zu seinem Tode beherbergen sollte, Cheyne Row 5, in dem damals ruhigen, abgelegenen Chelsea. und das Ende desselben Jahres sah die Ehegatten vereinigt ihr neues Leben beginnen.

Kapitel 4. Der Mensch und die Natur.

drehen wir nunmehr dazu über, die geistige Ent- wickelung, die Carlyle in dieser Zeit durchgemacht hatte, darzustellen, so muss zunächst auf eine eigentümliche Schwierigkeit hingewiesen werden. Von einem philo- sophischen System Carlyles zu reden, ist ungenau und unzutreltend. Carlyles Denken war zunächst, wie wir gesehen haben, von rein persönlichen 3Iotiven geleitet : und ebenso persönlich, wie das Motiv seiner Denkarbeit waren auch häutig die 3Iethoden, die er anwendete, die Resultate, zu denen er gelangte. Er wollte gar nicht in erster Linie lehrend, überzeugend auftreten. Sein Zweck war es zunächst, mit sich selber fertig zu werden. So hatte er sich zu einer ganz bestimmten Stellung- nahme zu den grossen Fragen des Lebens durchgerungen. Er war im Besitz einer Weltanschauung, die in origi- naler Synthese die verschiedensten, oft heterogensten Gedankenmassen vereinigte; aber selbst diese Welt- anschauung hat er niemals im Zusammenhang dar- gestellt, sondern immer nur auf das ihn augenblicklich interessierende Problem angewendet. So kann es denn nicht die Aufgabe eines Darstellers seiner Welt- anschauung sein, Schritt für Schritt den einzelnen Äusserungen zu folgen, die einzelnen Strahlen, die aus seinem Innern hervorbrachen, in ihrer Besonderheit zu

H e n s e 1 , Carlyle. O

(36 Kai»ilel 4.

betracliten, sondern sie müssen wie dui-cli einen Brenn- spiegel gesammelt werden, nm wiederum vereint zu er- scheinen. Bevor wir aber auf die Darstellung der Elemente, aus denen sieli Carlyles Weltanschauung zu- sammensetzt, eingehen, werden einige Worte über die Art. wie er Menschen und Dinge betrachtet, am Platze sein, weil, abgesehen von dem Sartor Kesartus. das .■^amtliche uns bis zu dieser Periode vorliegende Material aus Rezensionen besteht, die merkwürdig genug von dem damals in England üblichen Schema des Essays abwichen

Vergleichen wir die Methode der beiden grössten Meister der litterarischen Kritik vor Carlyle. Jeffrey und Macaulay. dem Nestor und dem Odysseus der Edin- burgh Review, mit dem Verfahren Carlyles, so ist es ganz zweifellos, dass wir l)ei ihnen einem ungleich aus- gebildeteren Stil begegnen, als wir ihn bei Carlyle treffen. Der englische Essay, wie er als Kunstform von Addison geschaffen war, hatte diesen seinen ruhm- vollen Ursprung niemals verleugnet. Wenn Addison versucht hatte, in seiner berühmten Kritik Miltons einer religionsfremden Zeit den Begriff' eines religiösen Epos anschaulich zu machen, ohne doch diese seine Zeit zu veranlassen, sich zu Milton hinzuwenden, sondern ihr nur als geschickter Cicerone diejenigen Schönheiten Miltons zeigen wollte, für welche sie überhaupt em- pfänglich sein konnte, so war dieses hervorragende Beispiel namentlich für Macaulay nicht verloren ge- wesen. In breiter prächtigster Darstellung, mit einem nie versagenden Material von Belesenheit und Gelehr- samkeit tritt ]\[acaulay seinem Stoff' gegenüber. Immer aufs neue entzückt er uns durch die Feinheit seiner Bemerkungen, die weltmännische Ruhe und Sicherheit seines Urteils, die gerechte Art. mit der er Lob und Tadel auszuteilen weiss. Die gleichen Vorzüge müssen Jeffrey nachgerühmt werden, obwohl l)oi ihm ein ge-

Jeffrey und Macaulay als Kritiker. 67

"wisses Gelulli litterarisclier Unfehlbarkeit es schwerer macht, seine Vorzüge restlos anzuerkennen. Macaulay will überreden. Jeffrey ist etwas zu sehr des Mottos seiner gefürchteten Zeitschrift: ...Judex damnatur dum nocens absolvitur~ eingedenk.

Aber diesen grossen und erheblichen Lichtseiten entsjtrachen ebenso starke Schattenseiten. "Wir haben nicht immer die Empfindung, als ob es Jeffrey und Macaulay vor allen Dingen auf das Verständnis ihres Autors ankäme. Sehr vielfach scheint der Geist der politischen Partei, zu der sie gehören, der Whigs, denen 'Thackeray nicht mit Unrecht nachsagt, dass sie förm- lich erstaunt seien, immer und unter jeder Bedingung Eecht zu hal:)en. auf das ästhetische Gebiet übertragen worden zu sein. Mit einem festen ästhetischen Mass- stab bewaffnet rücken sie dem Kunstwerk, das sie be- sprechen, zu Leibe, und wenn es diesem Massstal^e nicht entspricht, so ist es klar, dass hier die ^Maxime der Edinburgh ]Ae^'iew zur Anwendung kommen muss. In letzter Linie halten sie es nicht für ihre Aufgabe, den Geschmack ihrer Leser zu läutern und zu helfen, sondern genau das zu sagen, nur klüger und liesser. was diese Leser schon vorher empfanden : das Durchschnittsurteil des gebildeten Engländers fand durch sie beredten Aus- druck. Und diesem ihrem Standpunkt entsprach ihre Tinglaul)liche Popularität, die. wenigstens was Macaulay angeht, bis zum heutigen Tage fortdauert. Man kann aus ihm eine Fülle der geistvollsten Bemerkungen und eine fast ebenso grosse Anzahl schrecklicher, nur aus den damaligen englischen Zuständen erklärlicher Urteile über Bücher und Menschen zusammenstellen.

Schon die äussere Stellung dem Publikum gegen- über war für Carlyle erheblich ungünstiger. Er stand ausserhalb der regelmässigen Entwickelung des eng- lischen Essays und der englischen Kritik, die wir zu skizzieren versucht haben, Jeffrey hatte vollkommen

68 Kapilel 4.

Recht, wenn er die (Trermanismen in Carlyles Denkart durclifühlte. Die grosse litterarisclie Bewegung in Deutsch- land hatte zwei Kritiker ersten Ranges, die Brüder »Schlegel, hervorgebracht, und ihr Einfluss, namentlich August Wilhelms, ist überall l)ei Carlyle bemerkl)ar. In Deutschland hatte das Erscheinen der Werke Goethes, das heisst der Anfang einer neuen litterarischen Epoche, die nach den früheren Regeln gemessen notwendiger- weise inkommensurabel erscheinen musste, dazu geführt, dass diese Regeln selber als unzureichend betrachtet wurden. Der Kritiker bekam damit eine ganz andere und höhere Aufgabe. Es galt, die künstlerische Idee zu l)egreifen. aus der heraus das Werk geboren war ; es galt ferner, die Stellung dieser Idee innerhalb der Individualität des Künstlers zu bestimmen. Endlich musste festgestellt werden, in wie weit es dem Künstler gelungen sei, ein Abbild dieser ihn leitenden Idee in dem Kunstwerk selber zu geben. So tritt uns in den berühmten Rezensionen A. W. Schlegels eine ganz neue Art der Kritik entgegen, und er ist nicht nur der erste, der sie anwandte, sondern er hat sie vielleicht auch mit einer l)is heute unerreichten litterarischen Virtuosität gehandhabt.

Keiner der neuen Gesichtspunkte Itlieb für Carlyle verloren. Aus den Werken den ^fann^ aus dem IMann die Werke zu erkennen, war das Programm seiner Kritik. Wir können Schritt für Schritt sehen, wie er in seiner rein litterarischen Epoche fast in jedem Essay Fort- schritte in dieser Richtung macht. Der Aufsatz über Goethe scheint hier den (Tipfeipunkt seiner Leistungen zu bezeichnen. Es ist einleuchtend, dass diese Aufgabe, wie sie Carlyle fasste, erhel)lich grössere Anforderungen an den Kritiker sowohl wie an das Pul)likum stellte. Der Kritiker durfte seine Leistung nicht mehr wie früher bloss als eine Thätigkeit des Verstandes auffassen, sondern er musste mit freier Phantasie, mit divina-

Litteiarische Kritik A. W. Schlegels. (59

torischem Scliarfl)lick erraten, was der Autor mit .seinem Buch gewollt; ja er musste im Besitz einer festen Welt- anschauung sein, um Autor wie Buch die ihnen zu- kommende Stelle in der Enwickelung der AVeltlitteratur anweisen zu können. Es war kein kritischer Überblick mehr, der von ihm verlangt ^^alrde. sondern seinem geistigen Auge sollte sich das geheimste Seelenleben des Autors klar und gegenständlich erschliessen.

Dass damit das frühere behagliche Verhältnis zwischen Kritiker und Puldikum auch nicht mehr auf- recht zu erhalten war, kann nicht erstaunen, ^^"enn frülier es die vornehmste Aufgabe des Kritikers war. die unausgesprochenen litterarischen Dikta seines Publi- kums zu formulieren . die weithin tönende Stimme der stummen I\Ienschen zu sein, so war diese dankbare Rolle mit dem von Schlegel formulierten Prinzip der Kritik schlechthin unvereinbar. Das Publikum konnte nicht erwarten, bequeme Formulierung seiner Ansichten zu erhalten, sondern es hatte sich mit der unter- geordneten Rolle eines Schülers zu begnügen, dem der Lehrer den Sinn des Lehrbuches erst er()flfhet. Es ist ein hohes Zeichen für die Gediegenheit des englischen Lesepublikums, dass Carlyles Kritiken sofort als be- deutend erkannt wurden und einen Erfolg hatten . der nnter diesen Umständen wahrhaft erstaunlich ist. Und noch merkwürdiger ist es, wie dies Beispiel Carlyles l)efruchtend auf die jüngere (xeneration der Kritiker in England und in Nordamerika gewirkt hat. Das Samen- korn, das Carlyle aus Deutschland gebracht, ist in den Ländern englischer Zunge zu schönem Wachstum ge- diehen. Niemand, der z. B. die Bände der Edinburgh Review vor und nach dem Auftreten Carlyles mit einander vergleicht, kann diese mächtige Umwälzung verborgen bleiben, und niemand, der die Essays Carlyles kennt, wird zweifeln, was die Ursache dieser Verände- rung ist. Wie wir Deutsche mit dem uns anvertrauten

70 Kapitel 4.

Gute Schleg'els hausgehalten haben, ist hier nicht dei- Ort zu untersuchen.

(lehen wir nunmehr zum Inhalt der Weltanschau- ung Carlyles über. Was war es, das ihm das ..Systeme de la Xature" so unwiderleglich erscheinen Hess? Offen- bar die Ergebnisse der mathematisch -mechanischen Konstruktion. Diese ganze Konstruktion aber ruhte auf der rirundvoraussetzung der Realität einer körperlichen Sul)stanz in Zeit und Raum, die nach Abzug aller „sekundären" Qualitäten sich als eine .Summe qualität- loser, lediglich (quantitativ verschiedener Seinseinheiten fas.sen liess. Macht man einmal diese Vorau.ssetzung der absoluten Realität der (Jbjekte, dann müssen die weiteren Folgerungen gleichfalls Schritt für Schritt zuire2:eben werden. So ist es zu verstehen, dass tür Carlyle, ebenso wie für Scliopenhauer und so viele andere Denker, Kants Beweis der Phänomenalität von Zeit und Raum wie eine Erleuclitung erschien. AVenn Zeit und Raum nicht real sind, wenn die uns umgebende Körperwelt nicht aus Dingen an sich, sondern lediglich aus Erscheinungen besteht, so ist der ]\Iaterialismus auf einer iml)eweisl)aren. auf einer unwahren Voraussetzung aufgebaut. Daher preist Carlyle in seinem E.^say über Novalis in begeisterten Worten diese philosophische Leistung Kants, durch die er wie mit einem Zaul)er- schlag den Albdruck des Materialismus von der Seele des Menschen genommen habe. Und doch liegt kein Grund vor, Carlyle zum Schüler Kants zu machen. Ja, es ist zweifelhaft, ob er jemals auch nur die Kritik der reinen Vernunft wirklich durchstudiert hat. Dass er in den Tagen vor seiner Verheiratung nicht damit zu stände kam, wird ihm kein billig Denkender verargen. Aber auch in späterer Zeit lassen sich wenige Spuren eines intensiven Studiums Kants linden: ich glaube, er hat ihn überwiegend durch die Auseinandersetzungen, von Novalis und Friedrich Schlegel kennen gelernt..

Kants transscendentale Äslhetik. 71

Dadurcli lässt sich auch erklären, dass Carlyle die B-aum- und Zeitlehre Kants in vollständigem Anschluss an Novalis verwertete. Bekanntlich hat diese Lehre hei Kant zwei Seiten: eine negative, dem Materialismus entQ:e2:eno:esetzte. wonach Eaum und Zeit nicht meta- physische Realität besitzen, sondern Anschauungsformen sind. Nicht minder wichtig innerhalb des Kantischen Systems ist aber die positive Seite, wobei die empirische Realität A^on Raum und Zeit nachgewiesen und dadurch der wissenschaftliche Skeptizismus widerlegt wird. (Ge- rade weil Zeit und Raum Anschauungsformen sind, und wir das gesamte jMaterial unserer Erfahrung räumlich- zeitlich anordnen müssen, steht die ganze Erscheinungs- welt unter den Bedingungen von Raum und Zeit, und nur deshalb ist Natur und Naturwissenschaft ..möglich". Die transscendentale Idealität von Raum und Zeit ist der Grund ilirer empirischen Realität. Etwas Unräum- liches und Unzeitliches kann in aller Erfahrung nie angetroffen werden.

Aus allerhand Motiven, die hier nicht zur Sache gehören, wurde in Deutschland überwiegend (Fichte machte eine Ausnahme) das negative Resultat der Kantischen Raum- und Zeitlehre betont. Auch Carlyle folgte durchaus diesem Zug der Zeit. Wie sehr er ge- neigt war. nur diese Seite der Kantischen Lehre gelten zu lassen, zeigt die Parallelisierung mit der indischen Philosophie, auf die er hinwies, obw^ohl er sicherlich von Schopenhauer, der diese Synthese im grossartigsten Stile vollzog, keine Kenntnis hatte, sondern sich auf den Orientalisten Jones berief. Es war für ihn eine Über- legung ziemlich gleichgültiger Art. wie Naturwissenschaft möglich sein sollte. Die Hauptsache war. dass nicht nur sein innerstes Ich, sondern auch die gewichtigsten wissenschaftlichen (xründe ffegen die Alleinherrschaft des ]\Iaterialismus siegreichen Protest eingelegt hatten.

Aber gerade diese Betonung des eigenen Ich führte

72 Kapitel 4.

Carlyle auf einen Gedankenf^ang, der uns wiederum zeigt, wie wenig er gesonnen war, sich als Schüler Kants zu verpflichten. AYenn Kant gezeigt hatte, dass die An- nahme einer substantiellen Seele für die theoretische Philosophie immer problematisch bleiben müsse . so glaubte Carlyle aus seiner inneren Erfahrung gerade die Existenz der Seele als sichersten Stützpunkt seiner theoretischen Philosophie betrachten zu dürfen. Die Körperwelt ist nur Schein ; sie ist Vorstellung der wirk- lich existierenden Wesen, der Seelen. Hiermit sehen wir ihn auf demselben Wege, den Berkeley beschritten hatte, ja er geht auf diesem noch einen bedeutsamen Schritt weiter, denn es musste sich für ihn wie für Berkeley die Frage erheben, inwiefern die Körperwelt von einer Traumwelt, das wirkliche, wache Leben vom Schlaf zu unterscheiden sei. Es handelte sich um die Rehabilitierung der Körperwelt.

Auch hier scheint Carlyle zunächst der Spur Berke- leys zu folgen. Dieser fasste die K()ri)erwelt als die übereinstimmend in allen Seelen durch Gott hervor- gerufene Vorstellung, und ebenso nimmt Carlyle die „reale" Welt als Erscheinung Gottes an. Hier aber hört die Üljereinstimmung mit Berkeley auf, und um so mächtiger zeigen sich die Einwirkungen der deutschen Naturphilosophie . die Carlyle durch Novalis und Schelling vermittelt worden waren. Während es l)ei Berkeley nur zwei Substanzen gal) Gott und die Seele dieser Gottesbegritf aber durchaus persönlich gefasst wurde, wehrt es Carlyle ausdrücklich ab. dieses Verhältnis in die scharfe l)egriifliche Formulierung Berkeleys zu l)ringen. Er weiss, dass der logische Begriff, das Werkzeug, mit dem unser Verstand arbeitet, diesen letzten und höchsten Problemen gegenüber not- wendig versagen muss. Hier tritt an die Stelle des logisch zerlegenden und trennenden Vermögens die einigende Kraft, die dem Dichter wie dem Philosophen

Stellung Carlyles zu Kant. 73

nutwendig- ist. Aber auch, liier sucht er sich den Weg durch erkenntnistheoretische Überleguno; zu ebnen. Wenn die Materie an sich nicht existiert, wenn sie Erschei- nung* ist. so muss sie Erscheinung sein von etwas, was nicht Materie ist. Dieses Etwas ])rauchen wir nicht erst logisch zu erschliessen. und wir können es auch nicht, sondern wir lu'auchen uns nur auf unser innerstes Wesen zu besinnen, um es zu erfassen. Was war es, das sich in dem Akt der Empörung gegen die Lehre -des 3Iaterialismus aufgelehnt hatte? Es war die intui- tive Gewissheit, dass mein Ich nicht ein passives Rad in der Weltmascliine ist, sondern eine innere Kraft, eine schöpferische Thätigkeit. Und so wie diese innere Kraft in meinem geistigen und in meinem körperliclien Sein ihre Erscheinung findet, so müssen wir die gesamte Körperwelt als Erscheinungsform einer inneren Kraft. Gottes, ansehen. Das ist kein Schluss nach der Ana- logie, als solcher wäre er wertlos. Das ist eine schöpferische Intuition, zu der wir uns nur aufschwingen können, wenn wir die Welt nicht mit den Augen des liOgikers. sondern mit denen des Dichters betrachten.

Unter diesem Cxesiclitspunkt erlangen nun auch die Vorstellungen von Zeit, Raum und Körper eine neue Bedeutung. Wenn die Zeit eine Anschauungsform ist, | so ist das, was dieser Anschauungsform real entspricht, j nicht Zeit sondern Ewigkeit. Wahrsclieinlicli ist dieser Gedanke wirklich ein Erbstück der deutschen Mystik des Kleisters Eckardt. das C'arlyle aus Schelling über- nommen hatte. Ebenso wie bei Meister Eckardt die Menschheit an das Hi und gebunden ist. Gott aber die Dinge, die wir nach unserer Leiblichkeit in der Succession der Zeit und des Raumes getrennt erblicken, in Eins schaut, so vermag auch nacli Carlyle der Mensch sich über Zeit und Raum zu erheben, in die EN\'igkeit sich einzutauchen. Mitunter erscheint freilich auch bei ■Garlyle eine etwas andere Auffassung der Ewigkeit.

74 Kapitel 4.

Wenn er davon spricht, dass in dem gegenwärtigen Angenblick zwei Ewigkeiten zusammenstossen, die Ver- gangenlieit und die Znkuntt. so liegt hier eine durch den englischen Sprac]igel)rauch erklärliche Verwechslung zwischen hAvigkeit und T'nendlichkeit vor. Unendlich ist die Zeit nacli Vergangenlieit und Zukunft: aber in diesen Äusserungen ist sie doch nur die Erscheinungs- form der Ewigkeit (-Jottes.

Ebenso wie Zeit und Raum Erscheinungsformen des Unendlichen sind, wird nun auch die Materie in Carlyles Augen „vergottet". Sie ist nicht mehr lediglich eine tote, widerstrebende Masse, der gegenüber das Ich sich nur trotzig verneinend verhalten kann, sondern sie ist Erscheinung der ew^igen Kraft, und dem Auge des Tieferblickenden wird sie zum „lebendigen Kleide der Gottheit". I'nd in diesem Bilde k(3nnen wir nunmehr die Vorstellung von dem Verhältnis Gottes zur Welt erkennen, zu der Carlyle immer wieder zurückkehrt. Die Materie ist Erscheinungsform der göttlichen Kraft, aber sie bleibt immer in ihren räumlich-zeitlichen Schranken. Die unendliche Kraft manifestiert sich als 3[aterie, erscheint in dieser Form unsern irdischen Augen, aber ist weit davon entfernt, restlos in dieser ihrer Erscheinungsform aufzugehen. Während Spinoza in seinem konsequenten Pantheismus behauptet, dass wir selbst anch nur unter dem Attribute der Ausdehnung zu einer adäquaten Erkenntnis Gottes gelangen können. kami für Carlyle eine solche Erkenntnis nur als gänz- lich inadäquat gegenüber der unendlichen Kraftfülle^ Gottes erscheinen. Seine Lehre ist nicht Pantheismus, sondern Panentheismus.

Je seltener Carlyle auf diese letzten Probleme ein- zugehen liebt, je mehr er sich bemüht, von Gott nur so zu sprechen, wie der schwache Mensch allein von ihm sprechen kann, in Bildern, in (Gleichnissen, desto mehr stellen sich ihm die Ausdrucksweisen als die

Novalis' Naturphilosophie. 75-

besten dar. die mit den teuersten Erinnerungen seiner Jugend verknüpft waren. Mit Vorliebe werden nament- lich die Psalmen und die Propheten des alten Bundes herangezogen, um das Unaus.sprechlielie ausdrücken zu können. Auch aus iMiltons Verlorenem Paradiese liebte Carlyle die Gleichnisse zu entnehmen, wenn er von (TÖttlichem sprechen wollte. Es wäre falsch, anzu- nehmen, dass er damit wieder auf den Standpunkt seiner Jugend zurückgekehrt sei. denn an Stelle der einen vom Christentum anerkannten Offenbarung war für ihn eine daiiernde, die Geschichte erfüllende, getreten. Jeder Mensch, der Gott gesucht und. was er bei diesem Suchen gefunden, seinen Mitmenschen zugänglich gemacht hatte, sei es mit der warnenden Stimme des Gesetzge1)ers des alten Bundes, sei es in Gestalt der grossen Epen des griechischen Sängers , sei es mit der göttlichen Klarheit Goethes, sie alle waren für Carlyle Propheten Gottes.

Wenn in der vorigen Aufzählung die Seele, der eigene Körper und die äussere Welt als drei gesonderte Erkenntnisobjekte aufgeführt wurden, so geschah dies im Sinne Carlyles. der sich in dieser Beziehung als durchaus abhängig von Novalis Ijezeigt. Ebenso wie an Carlyle war an Novalis das Problem herangetreten, welche Stellung innerhalb der transscendentalen A^^elt- anschauung die mechanische Naturwissenschaft einzu- nehmen habe. Es konnte ja nicht geleugnet werden, dass unser Körper, das nächste Organ unserer Seele. andererseits doch wieder dem mechanischen Crefüge ein- gereiht werden musste. Bekanntlich löste Novalis diese Frage durch seinen magischen Idealismus, auf dessen kühne Paradoxieen Carlyle mit Vorliebe sich beruft.

Der menschliche Geist, nach dessen geheimen Ge- setzen und Thätigkeiten die ganze Natur sich ordnet, braucht nach Novalis nur sich in sich selbst zu senken. um die Geheimnisse und die Gesetze der Natur zu lin-

iV) Kapitel 4.

den. und wiederum aus der ßeubaclitung der Natur ler- nen wir die Bestimmungen unseres Geistes kennen. So hatte Kant die Regelmä.'^.sigkeit der Xatur auf die Be- stimmungen unseres mathemati.^clien Denkens zurück- geführt. Nicht die Dinge stehen in mathematischen Verhältnissen, sondern wir schaffe]i nach mathematischen Gesetzen die Natur und lernen durch Betrachtung der Natur die schattende K'raft un.seres Geistes. S(t ist die mathematisch-mechanische Naturwissenschaft eine l)e- stinnnte Art. die Erscheinungen zu betrachten und zu vereinigen. Aber ausser ihr kann es. ja muss es eine ^anze Reihe von anderen Möglichkeiten geben, die sich nicht auf die offenbare mathematische Regelmässigkeit der Natur, sondern auf andere, unendlich feinere und geheimere Beziehungen richten. Dieses Zusammenbringen von Naturerscheinungen unter einen ganz neuen, bisher ungeahnten Gesichtspunkt nannte man früher Zauberei und Magie, denn ungeahnte Kräfte lösen sich auf diese Weise aus und werden dem Zauberer dienstbar. Ein solcher Zauberer muss der richtige Naturforscher sein, und daher kann man ihn als den modernen ]\Iagier be- zeichnen. Jede neue Erfindung ist nichts anderes als das Anschauen der Natur unter bisher ungeahnten Ge- sichtspunkten. Zu diesem Zweck aber muss der Philo- soph zunächst die Natur des seiner Seele zum Werk- zeug gegebenen eigenen Leibes genau erkennen. ^Es giebt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt . . . Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet."*) Wie die mechanische Welt- -anschauung unsern Leib zum mechanisch-toten Objekt entwürdigte, so wird dem magischen Idealismus die Welt der Objekte zum grossen Organismus, denn wir •erkennen sie nacli Art und Vorliild unseres Leibes :

') Novalis" Schriften. Fünfte Auflage, zweiter Teil. S. 169.

Mathematik und Idealismus. 77

der Mikrokosmus wird Erkemitnisprinzip des 3Iakrü- kosmus.

Dass Carlyle in dem damaligen England sich zu dieser Ansicht der Xatur nicht ausdrücklich bekennen mochte, ist selbstverständlich. Dass er aber diesem (le- danken den nachhaltigsten Einfluss auf sich verstattete, ist ebenso dentlich. Vor allem war es wohl die Liebe zur 3Iathematik, die relative Wertschätzung der mecha- nischen Weltanschauung, die ihn hier mächtig bewegte. Jahrelang war, wie er einmal an Goethe schreibt, die 3Iathematik seine Haupt-, ja seine einzige Beschäftigung gewesen: gerade durch sie war er in so gefährliche Xähe mit der Weltanschauung des Materialismus gekommen. Die Mathematik ist wahr, wie konnte sich aus ihr Fal- sches ergeben? Dieses Rätsel, an dem seine Seele so lange gearbeitet, wurde ihm nun durch Xovalis gelost. Die 3Iathematik und die mechanische Xatnrkonstruktion sind wahr, aber nicht die Wahrheit. Was bei Xovalis der ..Lehrling von Sais" für den ganzen Tempel gehal- ten hatte, war nur die V^orhalle des Tempels, und innen wartete das grosse Geheimnis, das Weltleben. Auch hier geht wiederum der Xaturforscher in den Dichter über, die ästhetische Jntuition gielit auch der Xatur ihre Gesetze.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass es Carlyle wenig darauf ankam, ein theoretisches System der Philo- sophie zu entwickeln. Und ein derartiges System zu bilden, erschien ihm auch bei andern keineswegs als das höchste Ziel menschlicher Thätigkeit. Hätte ihm das System des ]\[aterialismus die 3Iögliclikeit eines freien Lebens und freier Thätigkeit gelassen, so würde er. seiner teuersten Überzeugungen beraubt, dennoch fort- gefahren haben, männlich seine Pflicht zu thun. Es war das^ Attentat auf seine persönliche Freiheit, welches ihn zur Empörung aufrief und ihn dazu trieb, eine neue Weltanschauung zu bilden. Wo er die Bausteine dazu

^rt Kaiiilel 4.

fand, das wai' ihm ein l'unkt von \('i"hältnismä.ssif>,' unter- ji'eurdneter Bedeutung. Damit aber war für ihn auch in dieser Epuclie ein GeLst weitreicliendster Duldung eina'ezoiren. AVer nur immer arbeiten und denken wollte, in dem war ein Funken des Göttlichen vorhanden. Ja. selb.st den Vertretern der von ihm überwundenen Welt- anschauung gegenül)er ist sein Geist zur Milde gestimmt. Auch sie hatten gestrebt, auch sie gearbeitet. Es war im GruncU' nicht ihre Schulrl. wenn sie die Ewigkeit unrl Gott nicht zu erl)licken vermochten.

Ein Geist des reinsten ()])tiniismus. der VersJdmung mit der Welt, ist nach langen Kämpfen in Carlyle ein- ffezoiren. Wie in Coleridges ..Altem ]Matrosen'' die Er- lösung da anfängt, wo der Schuldige die Schönheit der Gesch()pfe der Tiefe empfindet, so ist auch die Epoche •des „ewigen Nein" für Carlyle vorüber, als er Natur wie 3Iensclien mit Verehrung und herzlicher Zuneigung 7A1 betrachten vermag. Aus diesem Grunde aber war ihm das Ideal eines modernen IMenschen in Goethe ver- wirklicht worden. IM an kann ihn nicht eigentlich einen Schüler Goethes nennen. AA^ir haben gesehen, wie das AVenige, was Carlyle an theoretischer A'oraussetzung zu seiner AVeltanschauung besass. durchaus nicht auf Goethe zurückging, dessen innerster Natur gerade diese Seite der Kantisclien Philosophie stets widerstrebte. Auch waren es niemals theoretische Schwierigkeiten gewesen, die Goethe auf seinem AVege zur Klarheit hindernd ent- o-eo-eno-etreten waren. Das ..Svsteme de la nature", das Carlyle mit Aufgel)Ot all seiner Kräfte kaum zu über- winden vermocht hatte, war dem klaren Blick Goethes als ein Netzwerk aus grauem Spinngewebe erschienen und vor allen Dingen als so langweilig, dass er froh war. es beiseite zu legen.

Aber war Goethe diese A^ersuclmng erspart geblie- ben, so sah Carlyle mit innigster Rührung, dass andere finstere IMächte sein bewundertes A'()r1)ild bedrängt hatten,

Werlher und Byron. 7^>

-„dass er .sicli".s hatte sauer werden lassen müssen". Es war derselbe freist der Verneinung, nur als Weltan- scliauung und nicht als System, der zu Carlyle aus dem A\''ertlier sprach. Xach diesem Typus liebte es Carlyle, alle verwandten Richtungen unter dem Xamen Werther- ismus zusammenzufassen. Das (Temeinsame in allen diesen Erscheinungen a])er ist im letzten Grunde der JMangel an einer positiven Lebensanschauung. Kein festes Vertrauen auf höhere Mächte stählt den Einzelnen zur kräftigen Tüchtigkeit. Um so interessanter dagegen wird für alle AVerthernaturen die Beobachtung ihres eigenen inneren Zustandes. In schrankenlosem Subjek- tivismus wird jedes neue (lefühl ergritFen. beobachtet, ins ]\Iasslose erweitert. Die Krankheiten der Zeit, die unkräftig geworden ist. weil sie ungläubig geworden ist, spiegeln sich im (Tcmüt des ..zerrissenen" Individuums wieder. Da alle zu erstrebenden Ziele ihren Wert ver- loren haben, so muss das so vereinzelte Individuum sein Ziel im eigenen Glück suchen. Und da es zu edel ist. um dieses Glück in niedrigem (irenuss zu finden, da das Schwelgen im eigenen Gefühl das Leid niu' vergrössert. so Ijleibt für Werther nichts übrig als die Pistole, und es giebt nach Carlyle Männer wie Byron, die ihr ganzes Leben hindurch in dieser unglücklichen Phase schranken- loser Subjektivität verharren. ..Ein melodischer Byron versichert einem verehrten Publikum immer aufs neue, dass er sich nicht glücklich fühlt, eine Thatsache. die zweifellos von höchstem Interesse für Byron ist." Dieses Streben nach raffiniertem Selbstgenuss war für •Carlyle eine Krankheit, die unserer modernen Zeit eigen- tümlich ist, und mit richtigem Blick sah er das Selbst- biographische, das Goethe in den Werther gelegt hatte. Schon die vorzügliche Schilderung dieser Zeitkrankheit würde Carlyle vor dem Talent Goethes Achtung ein- gellösst haben. Zur Bewunderuno; aber stei2:erte sich sein Gefühl, als er sah. dass dieses Werk kein End-

80 Kapitel 4.

pnnkt, sondern lediglich eine vuriibergeliende Phase in Goethes Leben bedeutete, dass er «'esundon wollte niid gesnndet war.

Aus diesem Grunde wurde für Cari^^-le der Wilhehu Meister nichts Geringeres als ein modernes Epos, denn hier war nicht nur der Kampf sondern auch der Sieg. Der Entwickelungsgang Wilhelm ]\Ieisters schien ihm vorbildlich für jeden, der in unserer Zeit sich zur Klar- heit hindu rehringen will, dei- die Vergangenheit ver- gangen sein lassen will und hellen Blickes seine Arbeit, seinen Lebensinhalt sucht imd findet. Auf das bunte Gewirr der Lehrjahre sah Carlyle uiit ernster Rührung die AV ander jähre folgen; .er war unter den wenigen ^ V die den Xebentitel des Buches ..die Entsagenden'- ver- j standen. Dem schrankenlosen Subjektivismus gehört die ganze Welt, und deshalb gehijrt ihm nichts auf der Welt, nicht einmal sein eigenes Ich. Erst durch freie Selbstbeschränkung auf eine einzelne zu__l(3sende kxA- gabe gewinnt das Leben den Wert, der nur in ernster Arbeit gewonnen werden kann. Wilhelm ]\[eister. der bescheidene Chirurg, steht höher als der AVilhelm Meister des ersten Bandes in seinem Verkehr mit der geist- reichen Gesellschaft im Grafenschloss. Erst jetzt hat sein Lel)en die Verantwortlichkeit nnd feste Richtung, die ihm die Lmgebundenheit, das Losgelöstsein von allen sozialen' Verbänden und Verpflichtungen nicht zu geben vermochte. Vor allem aber war es die pädagogische Provinz, zu der Carlyle mit immer neuer Liebe und Be- wunderung zurückkehrte. Die Erziehung der Jünglinge zu den drei Arten der Ehrfurcht war aucli für ihn das erlösende Wort. Sie zeigte ihm. wie imser ganzes Leben seinen Wert nur dadurch erhält, dass es von Ehrfurcht getragen wird, in Ehrfurcht verläuft, und sie zeigte ihm die Miiglichkeit einer anderen und besseren Zeit, in der sich nicht erst der ]\Iann zu dieser l)ejahenden Stellung hindurcliringen muss, sondern wo diese Grund-

Centrale Stellung Goethes. 81

läge zu rechter Thätigkeit bereits dem Knaben als wertvollste Ausrüstung für das Leben mitgegeben wird. Aber nicbt nur als Prophet war ihm Groetbe ein Leitstern, sondern vor allem war es seine Anschauung vom wirklieben Leben, die Carlyle immer aufs neue entzückte. Kein schöneres Buch war für ihn denkbar als „Dichtung und Wahrheit'', Es schien ihm das wert- vollste Vermächtnis eines grossen Mannes an seine Zeit. Mit der ruhigen Grelassenheit des Greises suchte Goethe die Einflüsse auf, die in sein eigenes Leben traten, ohne doch diesen Einflüssen, an sich selbst betrachtet, eine zwingende Gewalt einzuräumen, eine Einwirkung wohl, aber keine Xötigung. Immer ist es das eigene Ick. das diese Einwirkung in sich verarbeitet, sie zu bedeutsamen Phasen der eigenen Entwickelung zu gestalten weiss. So wird für Carljle ..Dichtung und Wahrheit" zum Muster einer Biographie; es ist eine moderne Odyssee, deren Fahrten und Irrgänge sich nicht mehr in der äusseren AYelt. sondern in dem inneren Leben des Men- schen abspielen, bis der „Wanderer" sein Heimatland wieder findet, das heisst, mit ruhiger Klarheit sich selber gegenständlich wird. So tiefe Bewunderung Carlyle auch für den ersten Teil des Faust hegte, so wissen wir aus seinen späteren Äusserungen, dass es doch die Scenen am Meeresstrande im zweiten Teil waren, die ihn am tiefsten berührten. Auch hier wieder derselbe Gedanke wie in Wilhelm Meister: der Übergang von Zerrissenheit, von rastloser Verfolgung des Glückes im Wissen und im Genuss zur befreienden That. In der Sorge für andere, in dem Streben, Tausenden gesicher- ten Wohnsitz zu gewähren, empfindet Faust den höchsten Augenblick.

So sind es vor allem die Werke des Greises Goethe, die Carlyle am nächsten stehen. Arn höchsten aber schätzt er das Glück, dass in unserer Zeit mit all ihrer Zerrissenheit, mit all ihrem rastlosen Treiben, ihrer Lin- nen sei , Carlyle. O

82 Kapitel 4.

fruchtbarkeit zum (xlauben und ilircm Misstrauen gegen den Unglauben ein I\Iann uns gegeben war, an dem sich der abgelenkte Blick immer wieder orientieren konnte. ]\Iitten im Leben stehend, in regster Thätigkeit und doch das Leben weithin überschauend, allen Fragen der Zeit mit immer wachem Literesse zugekehrt und doch sich niemals zum Sklaven von Zeitströmungen machend, war dieser Mann der wahre Herrscher seiner Zeit, weil er seinen Standpunkt nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit hatte. Carlyle wird nie müde, seine Lands- leute darauf hinzuweisen, dass es für sie. nicht für Goethe, von der grössten, unberechenbarsten Wichtig- keit sei. feste Stellung zu dieser Erscheinung zu nehmen. Die damals herrschenden Vorurteile in England über Goethes Lnmoralität, seinen Atheismus, seinen ..bedauer- lichen ]\Iangel an guter Erziehung und feinem Umgang'- hat Carlyle unermüdlich bekämpft. Er hat Goethe eben- so zu einem Xationaldichter der Engländer gemackt. wie Shakespeare es schon seit langer Zeit bei uns war. Es dürfte sich wohl kaum ein Essay Carlyles finden, in dem kein Hinweis auf Goethe vorhanden wäre. Ein ganzes Jahr hindurch beschäftigen sich alle seine Ar- beiten mit dem einzigen Thema: Goethe. In ihm hatte Carlyle seinen Helden gefunden, und mit demütiger Freude bewundert er diesen Helden ohne die Hoffnung, ihm jemals ähnlich werden zu können. Xicht danach strebte er, in seiner eigenen Thätigkeit Nachahmungen Goethescher Werke zu geben es wäre dies in seinen Augen Selbstüberschätzung und Anmassung gewesen wohl aber erschienen ihm Leben und Werk des verehr- ten I\Iannes als ein Zeichen tröstlicher Zuversicht, dass alle Ungunst der Zeit das Erscheinen eines solchen Mannes nicht liabe verhindern können.

AVenn wir numnehr die JMänner, mit denen Carlyle sich in seinen Essays beschäftigt, einzeln betrachten wollen, so geschieht dies unter dem Gesichtspunkt, die

Shakespeare, Milton, Dante. 83

^Vertskala der rrteile Carlyles über die grossen Männer seiner Zeit zu geben, und un.'^ hierdurch von der Lebens- anschaumig Carlyles in dieser Epoche ein Bild zu machen. Keineswegs soll jedes dieser Urteile als objektiv richtig bezeichnet werden, aber die Stufenleiter, die wir auf •diese Weise erhalten, ist selbst wiederum ein wichtiges Mittel zur Beurteilung der Persönlichkeit Carlyles. Da ■es im Verlauf dieser Arbeit nicht möglich sein wird, die Xachzügler dieser litterarischen Zeit Carlyles zu erwähnen, so mögen sie hier eingereiht werden, insoweit sie den Charakter dieser uns lieschäftigenden Epoche bewahrt haben. Auch muss darauf hingewiesen werden, dass Carlyle durch eine Reihe von Dichtern tiefgehend beeindusst worden ist. über die er sich niemals im Zu- sammenhang ausgesprochen hat. und die deshalb in dieser Aufzählung fehlen müssen. So vor allen Shakespeare, dessen Kihiigsdramen für Carlyle die wahrste englische Geschichte waren, die je geschrieben worden, und dessen Sturm bis an sein Lebensende mit seiner Vermischung von durchgeistigter Xatur und verkörperter Geisterwelt ihm ein unerreichtes Ideal dramatischer Kunst war. Auch 3Iilton. der einsame Dichter in einer gottlosen Zeit. Ijildete für Carlyle einen Xachtrag zur Bibel, „ge- schrieben im authentischen Geist der alten Propheten". Sein Epos war Carlyle teuer als ein Zeichen, dass der grosse Dichter völlig unabhängig von seiner Zeit zu leben vermag, und mit seinem geistigen Auge um so klarer die Ewigkeit erschaut, je mehr die Gegenwart Widerwärtiges bietet. Als dritter dieser geistigen Xot- helfer muss TJante genannt werden, in dessen Epos Char- ly le die Weltanschauung einer glaubens vollen und starken Zeit aufgehoben fand. Ein Liebling der Götter, ver- bannt und verfolgt von den ]\Ienschen war er für Car- lyle, und so sah er in Dante wie in Milton den Mann, dessen ganze Lebensführung darauf gerichtet war, die in ihm lebenden Gestalten zu verwirklichen ohne Rück-

84 Kapitel 4.

sieht auf Gunst oder Hass seiner Zeit und deshallj tür alle Zeiten gültig.

Über seinen frülieren Helden .Schiller hat sich Car- lyle in dieser Epoche seines Lebens noch einmal aus- führlich bei Grelegenheit des Referats über (roethe.» und ►Schillers Briefwechsel ausgesprochen. Es ist nicht ohne Interesse, diese Ausführung mit dem ..Leben Schillers" zu vergleichen, denn es ergiebt sich dabei, wieviel mehr in der Zwischenzeit Goethe für Carlyle in den Blick- punkt des Interesses gerückt war. Trotzdem war .-^ein L^rteil über Schiller entschieden reifer und umfassender, tiefer und verständnisvoller geworden. Die Freund- schaft der beiden grossen Männer gilt (.'arlyle mit Recht als eine der merkwürdigsten Thatsachen für das ganze geistige Leben Deutschlands und Europas : eine Kon- stellation zweier Gestirne ersten Ranges zu einem Doppel- stern, dessen heller Schein und einheitlich wirkende Kraft nunmehr l^estimmend wurde für die Bewegung- aller kleineren Gestirne. Aber in dieser Fremidschaft erkennt Carlyle Goethe doch als den Griissern. mehr Gebenden an. Schiller gegenüber zeigt sich Carlyle mehr durch das Schauspiel seines Lebens denn durch den Eindruck seiner Werke bestimmt. Die ruhige Er- gebenheit und Grösse, mit der dieser kranke ]\Iann über alle Sorgen und Kümmernisse des Tages hinaus fest seinen Blick auf die Aufgaben richtete, die er lösen wollte, nicht, um Ruhm zu gewinnen, sondern um sein Volk in eine andere hilhere AVirklichkeit zu versetzen, bis der Tod seinen Händen die Eeder entsinken Hess all dies war Lehre und Vorbild für (,'arlyle. AVenige ]\[enschen standen ihm sittlich höher als Schiller. Da- gegen in der Gedankenwelt Schillers vermochte Carlyle nicht mehr so heimisch zu werden wie früher. Als es- sich für ihn darum handelte, einer feindlichen Wirk- lichkeit zu entfliehen, war ihm Schiller ein willkomme- ner Führer o-ewesen: doch inzwischen war Carlvle wirk-

Burns. 85

lichkeitsclurstig geworden wie kein anderer Mensch, und da empfand er die Geisteswelt Schillers als zu entrückt, zu ferne nicht nur der Wirklichkeit des Tages, sondern der Wirklichkeit schlechthin. Auf der andern Seite können wir es uns nicht verhehlen, dass eine bedeut- same Reihe Schillerscher Gredanken über die Bedeutung der Ästhetik für die Erziehung des Menschengeschlechts von Carlyle kaum erwähnt und sicherlich nicht ver- standen worden ist. Hier zog dem Schotten die eigene Katur unübersteigliche Schranken.

Um so lebhafter zog C^arlyle sein schottisches Herz zu Burns, dem heimatlichen Xationaldichter, hin. Alles, was ilim bei Schiller mangelte: der frische Erdgeruch ■der Wirklichkeit, die Tlabe des einfachen kunstlosen Gesanges, die Greifbarkeit der Personen und Zustände fand er bei seinem Landsmann in fast überschwänglicher Fülle. Wie es ihm die schönsten Stunden waren, wenn seine Frau ihm im einsamen Craigenputtock die Lieder von Burns sang, so begleiteten ihn diese Lieder bei seinen Streifzügen Schritt für Schritt; die schottische Berglandschaft mit ihrem Schimmer rötlichen Haide- krauts. ihre schweigsamen Bewohner mit ihrem Schatz unversiegl)aren Humors, sie waren ihm in den Liedern von Burns in ihrer vollen AVirklichkeit immer gegen- wärtig. Was ihn sonst leicht bei andern Dichtern ab- stiess, der Mangel einer Weltanschauung, verzieh er dem Bauernsohn aus Ayrshire leicht. Gerade diese völlige Unberührtheit der Gedanken Burns von meta- physischer Spekulation wirkte auf Carlyle wie ein geistiger Gesundbrunnen, umgekehrt wie bei Schiller war es die Lebensführung Burns', die Carlyle nicht ver- stehen und billigen konnte. Sein ]\Iangel an moralischer Widerstandskraft, die Unfähigkeit, sich in einfachere Verhältnisse zurückzufinden, nachdem er an eine ver- feinerte Lebenshaltung sich gewöhnt hatte, seine ge- leorentlich durchbrechende starke und wenio; wählerische

86 Kapitel 4.

Sinnliclikeit erscheinen auch in Carlyles wuhlwollencl gezeichnetem Bilde als dunkle Schatten.

Haben wir somit die Gegenüberstellung des Menschen und seiner Arbeit als die charakteristischen Punkte in Carlyles Wertung erkannt, so erweist sich diese Unter- scheidung auch bei den nunmehr folgenden Darstellungen Walter Scotts und Samuel Johnsons als die massgebende. Dass bei der Darstellung Scotts die weniger günstigen Züge stärker hervortreten, hat seinen Grund einerseits in der späteren Entstehung dieses Essays, andererseits darin, dass es Carlyle gegenüber der grossen und. wie es ihm schien, nicht ganz gerechtfertigten damals be- stehenden Popularität Scotts darauf ankam, den dadurch verwischten Unterschied zwischen einem grossen und einem beliebten Manne scharf herauszuarbeiten. Seine Bewunderung für Scott -ging niemals ins Unendliche, sondern hielt sich immer durchaus in den Grenzen des Endlichen". Er achtete an ihm den ehrenhaften geraden Charakter, seinen unljeugsamen Entschluss^ dem schweren Schicksal, das ihn am Ende seines Lebens traf, nicht zu erliegen, sondern es mannhaft niederzukämpfen. Ks freute ihn Scotts tiefe Liebe zum schottischen Volk, zu seinen alten Gesängen, seinen wilden Kämpfen, seiner festen Frömmigkeit. Aber damit ist Carlyles Lob und Verehrung für Scott vollständig umgrenzt. Die Viel- schreiberei, die Leichtigkeit, mit welcher ihm der schrift- liche Ausdruck zu Gebote stand, seine Liebe zum Anek- dotenhaften machte ihn unfähig, ein geistiger Führer seines Volkes zu sein. Er schrieb für den Tag. und so hielt es Carlyle für unmöglich, dass seine Werke ewig dauern könnten. Scotts Schriften waren ihm die liöch- sten Produkte, die in der Unterhaltungslitteratur mJtg- lich sind, fielen aber durchaus nur in diese Klasse. Selbst seine ernste Liebe für die Vergangenheit seines Volkes führte ihn nie dazu, seine Zeitgenossen durch den Vergleich mit früheren Zeiten zu bessern, sie zum

Boswell und Johnson. 87

Xaclidenken anzuregen, sondern lediglich zu dem über- aus erfolgreichen Versuch, ihnen eine müssige Stunde vertreiben zu helfen. Xicht den besten, sondern den schlechtesten Seiten seiner Leser, dem Bedürfnis zer- streut zu werden, zu dilettantisieren, verdankt Scott den grössten Teil seiner Erfolge. Und ebenso wie Burns die Armut, so konnte Scott den Reichtum nicht ertragen. Er wollte sein dilettantisierendes Gefallen an den alten feudalen Zuständen in die Praxis übersetzen. So wie er häufig an Stelle wirklicher 3Ienschen aus der Ver- gangenheit künstliche 31echanismen mit historisch treuem Kostüm schuf, so wollte er Abbotsford mit Tapezier- künsten und Requisitensammlungen in ein mittelalter- liclies Schloss verwandeln und das dazu gehörige 3[ajo- rat durch den Ertrag seiner Feder zusammenkaufen. Ein verfehltes Leben und zwar ein durch eigene Schuld verfehltes Leben, so lautet Carlyles strenges l^teil.

Als (legenstück zu dieser Verurteilung Scotts mag Carlyles berühmter Aufsatz über Boswells Leben John- sons dienen. Es wird vielleicht auch hier ratsam sein, eine Parallele zu der in ihrer Art ebenso vorzüglichen Darstellung Macaulays zu ziehen. Macaulay sucht so- wohl bei der Besprechung Boswells als auch bei der Johnsons zu zeigen, wie es gerade die kleinen und lächer- lichen Züge der ]\Ienschen sein können, die es ihnen er- möglichen, "Werke zu schaffen, die in der Nachwelt fort- leben. Wäre Boswell nicht ein eitler, thörichter und vorlauter Geselle gewesen, so hätte er sein Leben John- sons nicht schreiben können: wäre Johnson nicht ein Pedant von vernachlässigtem Äussern und seltsamen Gewohnheiten gewesen, so stünde er nicht vor uns mit jener Lebenswahrheit, die unsere Kenntnis unserer eigenen Zeitgenossen weit übertritlt.

(iegen die Ansicht 3Iacaulays wendet sich Carlyle mit all dem sittlichen Pathos, all dem freudigen Glauben an die (lüte der menschlichen Natur, die ihm zu Ge-

88 Kapitel 4.

böte .stand. Nicht cle.sliall). weil Bosvvell ein thöricliter Men.sch war, ver.suclite er e.s. die.s Buch zu schreiben, sondern weil er eine Eigenschaft besass. die Macaulay gänzlich übersehen, und die in Boswell mehr als in einem andern seiner Zeit vorhanden war. die zweithöchste Gabe, die den Menschen überhaupt zieren kann: die wahre Heldenverehrung. Hier zum erstenmal tritt dieser für Carlyles Entwickelung so wichtige Begriff' mit voller Deutlichkeit hervor. Das Verdienst Boswells besteht in dem Bedürfnis, einen Helden zu finden, und in der Fähigkeit, ihn. wenn er ihn trifft . in noch so fragwürdiger (lestalt zu erkennen. Diesen seinen besten Eigenschaften verdanken wir sein unsterbliches Buch. Und ebenso wie die Gestalt Boswells veredelt sich untei" dem divinatorischen Blick Carlyles die Gestalt Johnsons. Nicht an der rauhen äusseren Seite verweilt seine Schil- derung, sondern sie dringt durch bis zum Wesen des Mannes ; wir sehen, in wie ergreifendem Zwiespalt er sich mit seiner Zeit befand, und wie tapfer er dies harte Los ertrug in schweigendem Heroismus und treuer Pflicht- erfüllung. Nicht nur der harte Kampf um das tägliche Brot, der siegreiche Durchgang durch den ..Sumpf der Verzweiflung", in dem so manche seiner Reisegenossen verkamen nicht dieses ist für Carlyle das Bewun- derungswürdigste an Johnson, sondern dass er in einer glaubenslosen Zeit an seinem Glauben festhielt, dass er trotzig bei seiner Überzeugung beharrte, obwohl er sie von Niemanden geteilt sah, dass er fühlte, seine Stimme müsse ungehört verhallen, und dass er doch die Kraft besass, sich selber treu zu bleiben bis zum Ende das waren für Carlyle unschätzbare Eigenschaften. „Die göttliche Macht des Schweigens" schien in diesem Manne lebendig geworden zu sein, den Macaulay nur als einen unpraktischen Tory und unermüdlichen Redner am Wirtshaustisch zu schildern vermocht hatte.

Ziehen wir das Resultat aus dieser Aufeinanderfolge

^\'eltanscllauun5i: und Litteratur. ÖO

einzelner Äu>i.serungen Carlyles, so sehen wir. dass seine Weltanschauung in dieser Zeit fast durchweg vom Stand- punkt der Litteratur aus gebildet war. Nicht als ob er die rein ästhetische Erziehung des Menschen jemals als letzten Endzweck angenommen hätte : in seinen Tagebüchern findet sich ein höchst belustigender Ausfall gegen den grossen Raum, den ästhetische Erörterungen in dem Briefwechsel zwischen Schiller und (xoethe ein- nehmen. Zeit seines Lebens war und l)lieb er der An- sicht, dass Litteratur rein an sich niemals als Endzweck, als der letzte AA^ert betrachtet werden dürfe. Ja. wenn sie den Dichter nicht dazu veranlasste, sich und andern bessere und würdigere Gedanken über den Menschen und die Natur, über Göttliches und Irdisches zu geben, f^o war sie für Carlyle schlimmer als wertlos, ein Werk- zeug tliörichten Zeitvertreibs und gehaltlosen Dilettan- tismus. Das Feldgeschrei „lart pour l'art" hätte also in ihm keinen Anhänger gefunden. Trotzdem war Garlyle ein erbitterter Feind der Stellung, welche die Litteratur im utilitarischen System einnahm. Nützen sollte die Litteratur, aber nicht so, wie der Utilitarier es wollte, um zu erfreuen und zu ergötzen, das Leben angenehm zu machen und mit reizenden Empfindungen die Seele zu erfüllen; sondern der Nutzen, den Carlyle von ihr erwartete, lag gerade in umgekehrter Richtung. Es war nicht Freude, sondern Erhebung der Seele, nicht Genuss. sondern Verzicht auf Genuss in ernster, zielbewusster Arbeit, nicht täuschende Versetzung in eine andere angenehmere Welt, sondern Erkenntnis der Stellung des Menschen in dieser und jener Welt, was Carlyle als die Sendung des gottbegnadeten „A-^ates oder Sängers" betrachtete. Nur deshalb, weil diese Auf- gaben überall und zu jeder Zeit an den Sänger heran- getreten sind, ist jedes AVort eines wahren Dichters von ewiger Bedeutung und richtet sich an alle Men- schen. A^ergangenheit geht hier in Ewigkeit unter ;

90 Kapitel 4.

die räumlichen und nationalen Schranken bröckeln da nieder. Die wahren Führer der Menschheit .sind ihre grossen Dichter, ihre grossen Propheten.

In diesem Sinn nahm Carlyle mit Begeisterung den Gedanken Goethes einer Weltlitteratur auf; fühlte er sich doch selbst berufen, der Vermittler der grossen Gedanken des deutschen Idealismus für sein Volk zu werden. Aber es ist nicht minder merkwürdig, dass auch er den Gefahren des Doppelsinnes nicht entging, den dieses AVort bei Goethe in sich trägt. Gerade hier stossen vielleicht am kräftigsten die beiden Gegensätze, die Goethe sein Leben lang in sich auszugleichen be- müht war, mit aller Wucht aufeinander. Einerseits lag hierin die Aufforderung, das „allgemein Menschliche" hervorzuheben, es im Gegensatz zum Lokalen und zeit- lich Bestimmten zu betonen. Und doch konnte sich Goethe unter dem Einfluss Herders, dessen „Stimmen der Völker" mächtig an seinen Wirklichkeitssinn appel- lierten, der Einsicht nicht verschliessen, dass dieses „all- gemein Menschliche" konkret doch nur in der Fülle der Besonderung erscheint, dass es nicht die Aufgabe des Dichters sein kann, zu al)strakten Alenschen zu reden , sondern dass er zu seinem eigenen Volk . zu seiner eigenen Zeit reden soll und muss. Von diesen beiden Gedankengängen musste Carlyle notwendiger- weise den ersten überwiegend bevorzugen. Er wusste wohl, worin der eigentümliche Reiz der Lieder seines geliebten Burns für jedes schottische Herz bestand, aber es fehlte ihm die geschichtsphilosophische Einsicht, die das historisch Gegebene als die wahre Wirklichkeit schlechthin anerkennt. In diesem Punkt und allein in diesem Punkt blieb er ein Anhänger des 18. Jahrhunderts mit seinem Appell an den Menschen überhaupt, abge- sehen von seiner räumlich-zeitlichen Bestimmtheit, mit seinem Vertrauen auf die Güte der menschlichen Natur, mit seiner kindlichen und rührenden ("berzeuguno;. dass

Weltlitteratur. Jean Paul. 91

ein aus tiefster Seele gesproclienes Wort in den Seelen aller 3Ienschen Wiederhall finden müsse.

In der Reihenfolge der Männer, welche auf Carlyle erheblichen geistigen EinHuss ausgeübt haben, musste bisher eine Name fehlen, der für Carlyle nur hinter dem Goethes zurückstand; es ist Jean Paul Friedrich Richter. Wir haben ihn in unserer vorhergegangenen Erörterung übergangen, weil Carlyle sich nicht nur kritisch mit ihm abgefunden hat, sondern weil sein ein- ziges selbstständiges poetisches Werk, der Roman „Sartor Resartus" in seiner Technik vollständig, in seinen Ge- danken zum grossen Teil auf Jean Paul zurückgeht.

Dieser Roman, der den Wendepunkt in Carlyles Leben bezeichnet, den Abschluss seiner litterarischen Epoche bildet, und in dem sich doch schon die Anfänge der späteren Entwickelung zeigen, Inetet der Analyse erhebliche Schwierigkeiten dar. Betrachten wir zunächst die Komposition und fragen wir nach dem Plane des merkwürdigen Buches, so lässt sich darüber streiten, ob ein Plan überhaupt vorhanden ist. Taine war ausser Stande , ihn zu finden ; viele englische Schriftsteller haben sich ihm mehr oder weniger unumwunden ange- schlossen. Carlyles Zeitgenossen waren, wie schon be- merkt, sämtlich dieser Ansicht. Schon aus diesem Um- stand ergiebt es sich, dass das Buch in der englischen Litteratur völlig ohne Vorgänger dastand, und wir kijnnen hinzufügen, fast ohne Nachfolger geblieben ist. Dieser Versuch Carlyles , einen deutschen Roman in englischer Sprache zu schreiben, konnte nur in einer Zeit entstehen, die, von dem Gedanken der Weltlittera- tur beherrscht, auch in Deutschland ähnliche Blüten wie AVillibald Alexis' Roman Waladmor zeitigte.

Wer die Entwickelung des deutschen Romans kennt, wird nicht zweifelhaft sein, dass es der spätere Jean Paul, der unter dem Einfluss von Wilhelm Meister stehende, ist, welcher die Technik des Sartor durchaus

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\)2 Kapitel 4.

belierrsclit. hamit ist ferner gegohi'u. dass die Idee des Romans aufgesucht werden muss. d. li., dass es sieh hier nielit um die Schilderung von Ereignissen, die auf einen Menschen einwirken, sondern um die innere Entwicke- lung einer menschlichen Seele zur Freiheit und Selbst- ,ständigkeit handeln kann. Nicht ..(^uintus Fixlein" und ..Fil)el" sondern „Titan" und „Siebenkäs'" sind die eigentlichen Vorbilder. Wie Jean Paul sich bemühte, •die im Meister '• gegebene grosse Anregung in dieser zweiten Epoche seines Wirkens selbstständig zu ver- arbeiten, ebenso suchte Carlyle alles das. was ihm „Wilhelm Meister" bedeutete, auch seinerseits selbst- ständig als Kunstwerk darzustellen. I.st daher auch hier Troethe in letzter Linie der bewegende Geist, so war doch Carlyle sich über die (Irenzen seiner Be- fähigung klar genug, um die Technik des Groetheschen Romans nicht als Vorbild zu nehmen. Nach seiner ganzen Entwickelung. seiner ganzen geistigen Eigenart musste ihm Jean Paul als der geeignete Führer er- scheinen, der ja auch demselben Ziele zustrebte.

Der Inhalt des Romans kann mit wenigen Worten gegeben werden. Der englische Herausgeber des Buches (denn nur als solcher will Carlyle erscheinen) erhält von einem früheren Bekannten, dem Professor der Allerleiwissenschaft (oder, wde Carlyle richtiger über- setzt, dem Professor der Dinge im Allgemeinen), Diogenes Teufelsdröckh an der Universität Weissnichtwo. ein von ihm verfasstes Werk ,.Die Kleider, ihr Werden und Wirken" übersendet und beschliesst. dieses ganz oder im Auszug; dem entylischen Pulilikum zugänglich zu machen. Nicht lange darauf erhält er durch einen A^er- ehrer Teufelsdröckhs, den Hofrat Heuschrecke, die Zu- sicherung biographischen Materials über den A'erfasser und begiebt sich freudig hoffnungsvoll an die Arbeit. Bald indes wird er inne. dass das Buch eben nur unter Voraussetzung einer biographischen Kenntnis des Autors

Sartor Resartus. <)3

für ausländische Leser m()gl{cli ist, und es beginnt ein tragikomischer Konflikt zwischen dem gesunden Menschen- verstand des Herausgebers und den transscendenten Deduktionen seines Autors. Endlich kommt das lano-- ersehnte biographische Material. Neue Enttäuschung! Es besteht aus grossen mit den Zeichen des Tierkreises bemalten Papierhüllen, in welclie regellos alle möglichen und unmöglichen Dokumente hineingepropft sind. Dem Herausgeber gelingt es, eine wenn auch nicht lücken- lose Lebensbeschreibung des Autors zusammenzustellen. Die Ankunft des Findlings in dem Dörfchen Entepfuhl, seine glückliche Jugend dort unter der Obhut des wackeren Ehepaares Futteral, sein Studium , die Be- ziehungen zur gräflichen Familie Zähdarm, seine erste und einzige Liebe zu Blumine scheinen annähernd authen- tisch. Aber dann beginnt ein ruheloses Wanderleben, aus dem nur einige Ereignisse wie Blitze in der Nacht aufzucken, bis der Autor als der Professor in der AVahn- gasse zu Weissnichtwo auftaucht, als welcher er dem Herausgeber bekannt wurde. Hierauf folgen wiederum Excerpte aus dem Werke des Autors, und den Schluss bildet ein Bericht Heuschreckes über das Verschwinden Teufelsdröckhs, der nicht lange nach der Julirevolution auf und davon geht, vielleicht nach Paris.

iJies das Thatsächliche. Dass damit nicht der eigentliche Nerv des Romans blossgelegt ist, ist deutlich. Verfolgen wir nunmehr das innere Verhältnis, in dem die einzelnen Teile des Romans zu einander stehen. Carlyle hatte seine eigene Stellung in diesem Roman mit Bewusstsein den Fiktionen nachgebildet, mit denen Jean Paul sich in die Handlung seiner Romane selbst zu verflechten liebte. Wie Jean Paul der „habile, dazu gesattelte Schriftsteller" ist, der die Lebensschicksale des Harnisch'schen Erben schildern soll, wie er selbst Fibel in seinem höchsten Alter aufsucht, wie er der Empfänger der Hundspost-Briefe ist, so wollte auch

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die räumlichen und nationalen Schranken bröckeln da nieder. Die wahren Führer der Menschheit sind ihre grossen Dichter, ihre grossen Propheten.

In diesem Sinn nahm Carlyle mit Begeisterung den (liedanken Goethes einer Weltlitteratur auf; fühlte er sich doch selbst berufen, der Vermittler der grossen Gedanken des deutschen Idealismus für sein Volk zu werden. Aber es ist nicht minder merkwürdig, dass auch er den Gefahren des Doppelsinnes nicht entging, den dieses Wort bei Goethe in sich trägt. Gerade hier stossen vielleicht am kräftigsten die beiden Gegensätze, die Goethe sein Leben lang in sich auszugleichen be- müht war, mit aller Wucht aufeinander. Einerseits lag hierin die Aufforderung, das „allgemein Menschliche" hervorzuheben, es im Gegensatz zum Lokalen und zeit- lich Bestimmten zu betonen. Und doch konnte sich Goethe unter dem Einfluss Herders, dessen „Stimmen der Völker" mächtig an seinen Wirklichkeitssinn appel- lierten, der Einsicht nicht verschliessen, dass dieses ..all- gemein Menschliche" konkret doch nur in der Fülle der Besonderung erscheint, dass es nicht die Aufgabe des Dichters sein kann, zu abstrakten Menschen zu reden , sondern dass er zu seinem eigenen Volk , zu seiner eigenen Zeit reden soll und muss. Von diesen beiden Gedankengängen musste Carlyle notwendiger- weise den ersten überwiegend bevorzugen. Er wusste wohl, worin der eigentümliche Reiz der Lieder seines geliebten Burns für jedes schottische Herz bestand, aber es fehlte ihm die geschichtsphilosophische Einsicht, die das historisch Gegebene als die wahre Wirklichkeit schlechthin anerkennt. In diesem Punkt und allein in diesem Punkt blieb er ein Anhänger des 18. Jahrhunderts mit seinem Appell an den Menschen überhaupt, abge- sehen von seiner räumlich-zeitlichen Bestimmtheit, mit seinem Vertrauen auf die Güte der menschlichen Natur, mit seiner kindlichen und rührenden UberzeugunG:. das«

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Weltlitteratur. Jean Paul.

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ein aus tiefster .Seele gesprochenes Wort in den Seelen aller 3Iensc]ien Wiederliall finden müsse.

In der Reihenfolge der Männer, welche auf Carlyle erheblichen geistigen Einfluss ausgeübt haben, musste bisher eine Name fehlen, der für Carlyle nur hinter dem Goethes zurückstand; es ist Jean Paul Friedrich Richter. Wir haben ihn in unserer vorhergegangenen Erörterung übergangen, weil Carlyle sich nicht nur kritisch mit ihm abgefunden hat, sondern weil sein ein- ziges selbstständiges poetisches Werk, der Roman „Sartor Resartus" in seiner Technik vollständig, in seinen Ge- danken zum grossen Teil auf Jean Paul zurückgeht.

T3ieser Roman, der den Wendepunkt in Carlyles Leben bezeichnet, den Abschluss seiner litterarischen Epoche bildet, und in dem sich doch schon die Anfänge der späteren Entwickelung zeigen, bietet der Analyse erhebliche Schwierigkeiten dar. Betrachten wir zunächst die Komposition imd fragen wir nach dem Plane des merkwürdigen Buches, so lässt sich darüber streiten, ob ein Plan überhaupt vorhanden ist. Taine war ausser Stande, ihn zu finden; viele englische Schriftsteller haljen sich ihm mehr oder weniger unumwunden ange- schlossen. Carlyles Zeitgenossen waren, wie schon be- merkt, sämtlich dieser Ansicht. Schon aus diesem Um- stand ergiebt es sich, dass das Buch in der englischen Litteratur völlig ohne Vorgänger dastand, und wir kihmen hinzufügen, fast ohne Nachfolger geblieben ist. Dieser Versuch Carlyles . einen deutschen Roman in englischer Sprache zu schreiben, konnte nur in einer Zeit entstellen, die, von dem Gedanken der Weltlittera- tur 1)eherrscht, auch in Deutschland ähnliche Blüten wie Willibald Alexis' Roman Waladmor zeitigte.

Wer die Entwickelung des deutschen Romans kennt, wird nicht zweifelhaft sein, dass es der spätere Jean Paul, der unter dem Einfluss von Wilhelm Meister stehende, ist, welcher die Technik des Sartor durchaus

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Ka])itel 4.

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Der Inhalt des Romans kann mit wenigen AVorten gegeben werden. Der englische Herausgeber des Buches (denn nur als solcher will Carlvle erscheinen) erhält von einem früheren Bekannten . dem Professor der Allerleiwissenschaft (oder, wie Carlyle richtiger über- setzt, dem Professor der Dinge im Allgemeinen), Diogenes Teufelsdröckh an der Universität Weissnichtwo. ein von ihm verfasstes Werk ,.Die Kleider, ihr Werden und AVirken" übersendet und l)eschliesst. dieses ganz oder im Auszug dem englischen Publikum zugänglich zu machen. Nicht lange darauf erhält er durch einen Ver- ehrer Teufelsdröckhs. den Hofrat Heuschrecke, die Zu- sicherung Inographischen Materials über den Verfasser und begiebt sich freudig hotFnungsvoll an die Arbeit. Bald indes wird er inne. dass das Buch eben nur unter Voraussetzung einer biographischen Kenntnis des Autors

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Dies das Thatsächliche. Dass damit nicht der eigentliche Xerv des Romans blossgelegt ist, ist deutlich. Verfolgen wir nunmehr das innere Verhältnis, in dem die einzelnen Teile des Romans zu einander stehen. Carlyle hatte seine eigene Stellung in diesem Roman mit Bewusstsein den Fiktionen nachgebildet, mit denen Jean Paul sich in die Handlung seiner Romane selbst zu verflechten liebte. Wie Jean Paul der „habile, dazu gesattelte Schriftsteller" ist. der die Lebensschicksale des Harnisch'schen Erben schildern soll, wie er selbst Fibel in seinem höchsten Alter aufsucht, wie er der Empfänger der Hundspost-Briefe ist, so wollte auch

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94 Kapitel 4.

Carlyle sich in seinen eigenen Ruman einflechten. Und in dieser seiner Rolle zeigt sich eine fein berechnende Charakterentwickelung. Carlyle als Herausgeber ist das englische Publikum, das er für sein Buch finden möchte. Anfangs durchaus ungläubig den mdersinnigen und paradoxen Behauptungen seines Autors gegenül)er. ihn auf Sehritt und Tritt unterbrechend mit Einwürfen, wie sie jedem metaphysischen Don Quixote von realisti- schen Sancho Pansas von jeher gemacht worden sind, ändert der Herausgeber den Ton seiner Anmerkungen, sowie er in das Leben seines Autors hinein zu blicken vermag, sowie er sehen kann, auf welchem erlebten (xrunde diese Schlingpflanzen der Phantasie und des Verstandes entsprossen sind, und im letzten Teil ist er selber ein Bekehrter und Gläubiger. Die hohe Wichtigkeit der Grundideen seines Autors ist ihm ebenso aufgegangen, wie der wirkliche Carlyle wünschte, dass dem englischen Publikum die Wichtigkeit deutscher Dichtung und Philoso])hie aufgehen sollte. Er spricht von „unsern^- Ansichten, von „unsern'- Idealen: er iden- tifiziert sich mit dem Autor. Er ist um so mehr dazu berechtigt, als. wie bereits gesagt worden ist. in Teufels- dröckhs Leben ein gutes Stück von Carlyles Autobio- graphie steckt. Es ist Dichtung und Wahrheit, aber mit viel stärkerer Beimischung von Dichtung, als in Goethes Darstellung seines Lebens. Was wahr davon ist, ist im Wesentlichen die Schilderung der geistigen Entwickelung des Helden. Die drei Kapitel, die zum Schönsten gehören, was Carlyle jemals geschrieben hat. das ewige Nein. ]\Iittelpunkt der Gleichgültigkeit und das ewige Ja, enthalten dieselbe Entwickelung, die wir früher bei Carlyle selber verfolgt haben : der Trotz gegen das mechanische Weltall , die Gleichgültigkeit allem Gewordenen gegenüber, das Zurückziehen auf die eigene Seele als den einzig sicheren Besitz des Menschen und endlich die becflückende Einsicht, dass alles Gewordene

Sartor Resartus. Coniposition. 95

dem eigenen Öeelenwesen gleich ist. d. li. ebenso wie wir in (xott gegründet, und dass es die Pfliclit des Wiedergeborenen ist, alles Geschöpf, die ganze Xatnr mit der Liebe eines Bruders zu lieben.

Diese einfachen Gedanken sind mit einem Gewinde krauser Einfälle umkleidet, die wiederum deutlich auf Jean Paul weisen. Die Reisen, die Teufelsdrückh unter- nimmt, einsam mit sich selber, stehen in genauester Be- ziehung zu der gedankenreichen kleinen Schrift Jean Pauls „Des Luftschiifers Gianozzo Seebueh" im Anhang zum Titan. Der Sonnenuntergang, der Anblick des Schlachtfeldes, die erhabene Ruhe der Xacht fehlen nicht, und fast komisch erscheint es, dass sogar der „Wiener Schub'' sich gleichfalls einstellt. In diesem Gedanken, dass Gott und die Seele das einzig Wirk- liche, dass alles andere lediglich Symbol ist. in dem wir Gott Ijetrachten. ist uns bereits einer der wichtig- sten Punkte, in denen Carlyle sich mit Xovalis berühi-t. entgegengetreten. Mit Vorliebe wird auch auf die Worte des Erdgeistes im Faust hingewiesen:

So schaff" ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Doch damit ist nur die eine Seite von Teufelsdröckhs Philosophie gegeben und nicht die, welche dem Leser zunächst entgegentritt. Es musste ihm, dem in Xovalis belesenen, sogleich der Gedanke kommen, ob nicht, was für den Makrokosmus gilt, auch beim IMikrokosmus der Fall sei. ob nicht auch der Mensch sich vor dem Ausre des Beschauers in Symbole verhülle; und vielleicht war es auch hier eine Stelle aus der ..Pädagogischen Provinz" des AVilhelm Meister, die die entscheidende Wenduno- gab. Für Xovalis war der Körper die Erscheinungs- form der Seele. In der Pädagogischen Provinz wird den Zöglingen keine gleichartige Tracht gegel)en, son- 'dern es wird ihnen gestattet, sich ihre Kleidung selber zu wählen, wodurch den liehrern Gelegenheit gegeben

96 Kayntel 4.

ist, einen Einblick in ihren Charakter xu gewinnen. Damit erweitert sich nnn vor Teufelsdröckhs Augen das Thema der Kleider zu dem Thema von den Grund- lao^en menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Mit einem in Jean Pauls Schule gebildeten Humor wird das Rich- tige in dieser Idee Goethes alsbald mit einer überfülle von Beiwerk aller mijglichen Art . von historischen, archäologischen, sozialen, ethischen und psychologischen Lesefrüchten imd Einfällen ins LTngeheuerliche über- trieben und in abenteuerlichster Weise gesteigert. Wenn die Kleider Symbole des Menschen sind, so ist anderer- seits zu berücksichtigen, dass die Menschen einander nicht erkennen können, wie sie sind, sondern lediglich nach ihrer äusseren Erscheinung, d.h. nach ihren Kleidern. So werden die Symbole das Wesentliche; das eigent- liche Sein des Menschen verschwindet hinter ihnen. Nicht was der Mensch ist, sondern wie er sich ange- zogen hat, ist das wertvolle Faktum. Der Satz, dass Leute Kleider machen, verkehrt sieh, umgekehrt wie bei (Tottfried Kellers seldwyler Maskenzug. in sein Gegenteil, dass Kleider Leute machen. Was wissen wir denn von der Vergangenheit, als dass damals be- stimmte Stoffe in bestimmter Weise zugeschnitten ge- tragen wurden V Die Realität des Menschen verschwindet hinter der allein noch möglichen Rekonstruktion seiner Kleider. Dass Carlyle hier in ironischer Weise auf die Art pittoresken Wiederbelebens der Vergangenheit anspielt, wie er sie Walter Scott zum Vorwurf machte, ist deutlich. Daran schliesst sich das groteske Bild der Folgen, welche eintreten würden, wenn bei irgend einer feierlichen Haupt- und Staatsaktion den Betei- ligten von einer boshaften flacht ihre Kleider ent rafft würden. Der ]\Iinister würde sich nicht mehr vom General, der König nicht mehr vom Lakaien unterschei- den, die Bande aller sozialen Ordnung würden zerrissen sein. Denn alle soziale Ordnung, aHe Beziehungen der

Kleidersymbolik. 97

Menschen zu einander gründen sicli nicht auf ihren inneren Wert sondern auf das, was jeder für die andern Menschen bedeutet; dies aber sind seine Kleider. Ein Mensch in rotem Talar*) sagt zu einem andern Menschen in blauem Anzug .,Du sollst erhängt werden". Der Blaue erschrickt, aber sträubt sich nicht, und wie ge- sagt so getlian. Der Zwang, der hier ausgeübt wird, liegt lediglich in dem roten Talar, der den damit Be- kleideten als Richter erkennen lässt ; und die ganze menschliche Gesellschaft sieht darauf, dass den Aus- sprüchen dieses Talars gehorsamt wird. Eben weil die ganze menschliche Gesellschaft auf Kleidern beruht, so ist die Rückkehr zum Adamismus, zum Naturzustand nach Rousseaus Verlangen, der Selbstmord der Gesell- schaft. Die französischen Revolutionäre , die Krieg ' gegen die alte Gesellschaft führten^ wussten wohl, wes- halb sie sich Sansculotten nannten. ]\Iit Aufhebung des Hosentragens werden die Grundlagen der mensch- lichen Gesellschaft überhaupt erschüttert.

Wie man sieht, ist dieses Ausspinnen eines an sich berechtigten Gedankens zur Theorie, zum System ein echtes Kind der deutschen romantischen Schule. Ein englischer Biograph Carlyles versichert, dass Carlyle für die Gestaltung seines Humors nichts anderes bedurft hätte, als die heimische Mitgift von Annandale, jene trockene und kaustische Stimmung, die, dem schottischen Volk eigentümlich, auch von Carlvle im höchsten Grade geteilt und geschätzt wurde. Wenn wir indessen den Stil Teufelsdröckhs mit dem, was von schottischem Humor bekannt ist, vergleichen, so werden wir mit diesem Ur- teil nicht übereinstimmen können. Ganz richtig ist es, dass Humor nur auf dem Grunde einer ausgebildeten Weltanschauung möglich ist. Besteht er doch eben darin, die Dinge in anderem Zusammenhang zu betrachten, sie

■•■) Amtstracht der englischen Richter. He n se 1 , Carlyle.

98 Kapitel 4.

anders anzuordnen, als die.s unter täglichen Verhältnissen zu geschehen pflegt. Der Puritanismus eines Knox giebt zu solcher Gruppierung ebenso Anlass. wie der roman- tische Idealismus der deutschen Schule. Aber der Stil, die Art, wie dieser Humor sich ausdrückt, ist eben bei beiden ein durchaus anderer. Der schweigsamen Xatur des Schotten ist es gemäss, diese Cxegensätze in kurzer, scharfer, prägnanter Form hervortreten zu lassen. Ge- flügelte Worte, der Weisheit Salomonis vergleichbar, appellieren an den Verstand. Auch von dieser Gabe hatte Carlyle sein reichlich Teil, und sie tritt immer klarer hervor, je deutlicher sich das Ende seines Lebens- weges zum Anfang zurücklnegt. -Qoch gerade im Sartor Resartus hat er den weitesten Abstand von dieser seiner heimatlichen Xatfir erreicht. Hier ist, ganz wie in der deutschen Schule, der Verstand nur das Sprungbrett, von dem sich der Dichter in das luftige Bereich freien Phan- tasiespiels schnellt. Nicht durch kurze, sondern gerade durch unendliche, ungeheuerliche Ausgestaltung wird hier gewirkt. In romantischer Ironie liebt es der Dichter, die Welt, die Menschheit, sich selber in immer neuer Reflexion zu gestalten und wiederum zerfliessen zu lassen. Jetzt verstehen wir auch, warum Carlyle die eigen- tümliche Anordnung seines Romans für die notwendige halten musste. Das Wesen umgiebt sich mit Symbolen, und wir müssen wiederum durch die Erscheinungsform dieser Symliole zum Wesen vordringen. So wurde uns zuerst nach den persönlichen Erinnerungen des Heraus- gebers Professor Teufelsdröckh beim Glase „Gugkuk" in der grünen Gans vorgeführt. Ein höchst merkwürdiges Symbol in seiner schweigsamen, tiefsinnigen Art. Dinge und Menschen zu betrachten. Erst durch seine Lebens- geschichte lernen wir das Innere dieses Menschen kennen, den Weg voller Täuschungen und Wandlungen, der ihn zuletzt in die Wahngasse geführt hat. Und genau das- selbe vollzieht sich mit seinem Buch. Auch hier wird

Die beiden Bestandteile des Romans. 99

uns zunächst das Paradoxon gegeben: wir fragen, wie es in einem menschlichen Gehirn aussehen müsse, das so ;seltsame Blasen treibt. Und auch hier zeigt uns die Biographie den Schlüssel zu unserer Frage : Xur der einsame Wanderer, der lange Jahre hindurch mensch- liche Verhältnisse aller Völker und Zonen als ein Nahe- stehender und als ein doch Fernbleibender betrachtet hatte, konnte die Ivleiderphilosophie schreiben.

Wenden wir uns nunmehr den Schlusskapiteln des Buches zu ; auch für sie bilden die ersten Excerpte aus der Kleiderphilosophie die notwendige Voraussetzung. Ihre krausen Linien führen auf Umwegen zu dem eigent- lichen Kern des Verfassers sowohl wie seines Buches. Hier erweitert sich die Ivleiderphilosophie zur Welt- anschauung. Raum und Zeit mit allem, was sie ent- halten, sind Symbole des Göttlichen, und so wie der Thitrichte über die Kleider den Menschen vergisst, so vergessen wir über die irdischen Dinge Gott. Diese Kleider jedoch sind nichts Totes wie die ausgehülsten Symbole auf dem Trödelmarkte von Monmouth Street, sondern sie sind das lebendige Kleid der Gottheit, und so bietet das Weltgeschehen uns das l^edeutungsvolle Symbol für das ewige Werden des Göttlichen. Jahr- hundert auf Jahrhundert sehen wir ablaufen : der Genius jeder Zeit, der Zeitgeist^ stürzt sich in die Flammen, die ihn verzehren. Wir glauben, das Ende der Dinge sei gekommen, aber schon ist ein neuer Phönix da. ein schönerer ; der Rauch verfliegt, und in klarem Bilde erkennen wir die Gottheit. Mit dieser Betrachtung aber ist das rein theoretisch-ästhetische Verhältnis zu Natur .und Gott, das bisher C'arlyle wie seinem Doppelgänger Teufelsdröckh Genüge that, zur Unmöglichkeit geworden. Es ist an uns, es ist die Aufgabe der Menschen, dem neuen Phönix zur Geburt zu verhelfen. Die vorherge- gangene humoristische Betrachtung über Königs- und Richtertalare, der jugendliche Radikalismus Carlyle-

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100 Kapitel 4.

Teufelsdi'öcklis, der sich recht ge.sclimacklos in der (Trab- schrift für den Grafen Zähdarm äussert, waren nur vorbereitende Schritte.

Nun beginnt in dem letzten Abschnitt eine scharfe Satire auf die bestehenden gesellschaftlichen Zustände. Unter dem Bilde einer Sekte der Stutzer, die ganz Symbol geworden sind, ihre Individualität verloren haben und durch ihren Geldbeutel sich eine ganze Klasse von Verehrern, durch ihre eigene Nichtigkeit eine mo- dische Litteratur mit Bulwers Pelham als symbolischem Buch und eigene Stätten des Gottesdienstes in den feinen Salons geschaffen haben , wird die besitzende Klasse verhöhnt. Ihnen gegenüber steht das Arbeiter- proletariat mit ähnlich merkwürdigen, jedoch denen der anderen Sekte direkt entgegengesetzten Hiten und Ge- bräuchen. Immer grössere Propaganda machen beide Sekten für sich; erschreckend ist namentlich das An- wachsen der letzteren. Stossen sie zusammen, so steigt ein Phönix auf den Scheiterhaufen. In diesem AVett- kampf ist es unmöglich, ein unbeteiligter Zuschauer zu sein, und wenn Teufelsdröckh am Schluss zum Kampf gegen die St. Simonisten in Paris auszieht, der Heraus- geber aber der Meinung ist, dass sich der Professor eher irgendwo in London aufhält, so können wir besser, als Carlyle es vermochte , die Adresse des idealistischen Schwärmers angeben. Sie war Chelsea, Cheyne liow 5.

Die Zeit rein litterarischer Beschäftigung war für Carlyle wie für Teufelsdröckh vorbei. Er hatte ein- gesehen, dass andere treibende Mächte das wirkliche Geschehen mit beherrschen, aber um sie erkennen und werten zu kihinen, bedurfte seine AVeltanschauung des letzten Abschlusses, der sich nur in einer Geschichts- philosophie finden Hess.

Kapitel 5.

Leben in London bis zum Tode von Jane Welsh Carlyle.

AVir haben gesehen, dass Carlyle durch den A\'unscli, in nähere Beziehung zu dem \^drklichen sozialen Leben zu gelangen, von Craigenputtock nach London gezogen wurde. Wer lediglich seine äusserliche Beschäftigung in London betrachtet, würde dahinter zwar nicht ein sehr inten.sives Eingehen auf öffentliche Interessen und Tagesfragen vermuten. Aber wenn wir seine Bücher zur Hand nehmen, so überzeugen wir uns bald, dass •dieser einsame Mann ohne Verbindung mit der Presse ■und andern Organen der ölfentlichen Meinung auf seinen weiten Spazierritten und ziellosen Wanderungen mehr von dem sozialen Leben der Millionenstadt sah und be- obachtete, als wenn er es zu seinem Beruf gemacht hätte, täglich einen Leitartikel für die Zeitung zu liefern. Die Schaufenster der Läden, die Eeklameschilder, die Thätigkeit der ]\Iaurer bei der Arbeit, ein Denkmal auf einem öffentlichen Platz, eine vagabundierende Fa- milie irischer Arbeiter alles dies und unzähliges •andere mehr wurde von Carlyle erfasst und von seinem Gedächtnis mit eiserner Festigkeit bewahrt. Er hatte ■die merkwürdige Grabe, das Alltägliche zu sehen und dieses Alltägliche als Symptom des inneren Lebens der •Cresellschaft zu werten. So war es ein prophetischer

102 Kapitel 5.

Typus, den er in seinem Professor Teufelsdröckli ge- zeiclmet, wenn dieser von dem Wachtturm in der Wahn- gasse herab das ganze Leben der Stadt beobachtet, unbemerkt alles bemerkend. In seinem neuen Mitbürger hatte London einen Arzt gefunden, der schweigend jedes Zucken des ungeheuren Körpers verfolgte.

Unter den wenigen Bekannten, die bald den Weg nach Cheyne Row fanden, war einer, der in früheren Jahren für beide Gatten der nächste Freund hätte sein können und nun. ermattet an Geist und Körper, bald zur ewigen Ruhe eingehen sollte, Edward Irving. Sein Tod (Dezember 1834) war jetzt kein Verlust mehr. Was er beiden gewesen, lag in der Vergangenheit. Tiefes Mitleid war das einzige (Tcfühl, das sie dem Lebenden entgegenbringen konnten, treue Erinnerung der Zoll, den sie seinem Andenken ilir ganzes Leben hindurch zahlten.

Andere neue und feste Bande begannen sich zu knüpfen; die Gegenwart behauptete ihr Recht der Ver- gangenheit gegenüber. Freilich blieb Carlyles Stellung zu den eigentlichen litterarischen Kreisen Londons eine wesentlich ablehnende. Lamb, mit seiner etwas affek- tierten Einfachheit und Kindlichkeit, konnte vor dem scharfen L^rteil Carlyles nicht bestehen, dem jede, auch die unschuldigste Art, das eigene Wesen zu maskieren, die eigentlichste Form der Sünde gegen den heiligen Geist war. Anch von Southey und Wordsworth hatte er nichts mehr zu lernen. Was sie ihm geben konnten : die Rückkehr zur Xatur, die ehrliche Abneigmig gegen alle Künstelei hatte er längst unter besserer Leitung- für sein Leben errunofen. Die Abneio-unG* dieser Männer

O DO

aber gegen das wirkliche Leben, ihre Xeigung, sich in eine selbstgewobene Welt von Träumen einzuspinnen,, konnte dem , der mit beiden Füssen trotzig und stark auf dem Boden der Thatsachen stand, nur als bedauer- liche Schwäche erscheinen. Dagegen ßuller, sein ehe-

Anfänge in London. 1(J3

maliger Scliüler, kam, ein willkommener Gast, und Mill zeigte dieselbe treue Freundschaft wie früher. Leigh Hunts warme Liebenswürdigkeit schmolz selbst das drei- fache Erz, das Carlyle um seine Brust gelegt: durch ihn wurde John Sterling mit Carlyle bekannt und bald innig befreundet. In Sterling fand Carlyle treue Anhänglichkeit, grosse aber nicht kritiklose Bewunderung: für seine Ar- beiten und eine reine unendlich rührende Hingabe an alles Grosse und Schöne, das die Seele des begabten jungen Mannes berührte. Doch war die Liebe Carlyles zu Sterling schon damals mit ängstlicher Sorge gemischt. Er glauljte, dass Sterlings weichere Xatur nicht die Kraft haben würde, sich selber den Weg zur Freiheit zu bahnen, den Carlyle unter so vielen 3Iühen gefunden hatte. Zu viel Ästhetik, zu wenig Thatkraft das waren die Klippen, die gefahrdrohend auf der Lebens- bahn des Jünglings emporragten.

Seine eigene Arbeit richtete Carlyle nach einigem Schwanken er dachte zeitweise daran, ein Lel)en Luthers zu schreiben auf die Darstellung der franzö- sischen Revolution. Er wollte mit diesem Buche sich seinen Platz in der englischen Litteratur erringen, er wollte zeigen, dass er nicht nur ein deutscher Mystiker sei oder vielmehr, dass diese deutsche Mystik die wirk- lichen Vorgänge klar und deutlich erkennen Hesse, dass sie kein Schleier sei, hinter dem die Thatsachen verschwinden, sondern ein Prinzip, nach dem sie sich ordnen. Carlyle hat häufig selber gesagt, dass er zu keinem Berufe weniger tauge, als zu dem des Schrift- stellers. Das ist keine allgemeine Bescheidenheitsphrase, zu welcher er sich niemals herbeia:elassen hätte, son- dem ein Ausdruck innerster Überzeugung mit viel Wahrheit darin; nur müssen wir ihn nicht auf die Ar- beit sondern auf den Arbeiter beziehen. Das bekannte Sokratische Gleichnis von den Geburtswehen, die jedes geistige Erzeugnis notwendigerweise begleiten, gilt für

lO-t Kapitel 5.

niemand melir als für Carlyle. Wo ihn nicht feurige Entrüstung drängte, seine Rede wie einen Strom ge- schmolzenen Erzes aus seinem Innern zu ergiessen. war seine Arbeitsweise mühselig und freudlos bis zu einem unglaublichen Clrade. Langsam, zögernd und tastend näherte er sich seinem Gegenstande, oder besser nahm der Gegenstand Besitz von seiner Seele. Dann beginnen Monate und Jahre ausgedehntester Untersuchung nicht mit der fröhlichen Ruhe und heiteren Sorglosig- keit des Mannes, der sein gewohntes Tagewerk A'er- richtet. sondern in fieberhafter Unruhe unter unglaub- licher Anstrengung aller geistigen Kräfte, wie sie ein Mensch macht, der bemüht ist. einem Allxlruck sich zu entringen. Nicht das kleinste Detail wird auf Treue und Glauben hingenommen, oft vergehen Tage bis ein Datum festgestellt, der genaue Wortlaut eines Aus- spruches gegeben werden kann; und in dieser ganzen Zeit kommen immer wieder erneute Anfälle von Ver- zweiflung, die die Arbeit nicht unterbrechen dürfen, aber stark genug sind, sie zur täglichen Qual zu machen. In solcher Zeit pflegte Carlyle kaum irgendwelche Notizen aufzuzeichnen; auf sein ungeheures Gedächtnis vertrauend, ordnete er im Geist das ganze Gefüge, und erst wenn dieser Bau vollständig beendet war, wenn jedes Einzelste sich in die Idee des Ganzen eingefügt hatte, begann die Niederschrift. Und dann wurde mit verdoppeltem Eifer und auch verdoppelter Qual gear- beitet, bis der Sieg erfochten und der Sieger bis zum Tode gepeinigt und erschöpft war. Es brauclite lange Zeit, ehe sich (!arlyle daran gewöhnen konnte, ein ab- geschlossenes Stück Arbeit mit einem anderen Gefühl als dem der Erinnerung an die überstandene Qual zu betrachten.

Nur wer sich dies gegenwärtig hält, kann ver- stehen, wie schwer Carlyle durch die Schreckensnach- richt getroffen wurde, die ihm IMill gegen Ende seines

Garlyles Arbeilsmetliode. 105

ersten Jahres in London (1834) überbringen musste. Oarlyle liatte ihm das Manuskript seines ersten Bandes der französischen Revolution geliehen; Mill hatte das Manuskript einer befreundeten Dame weitergegeben, und bei dieser war der grösste Teil zum Anzünden des Feuers verwendet worden. Mill war ausser sich ; C'arlyle suchte ihn zu lieruhigen. und als er endlich gegangen war, sagte Carlyle zu seiner Frau nur: „Der arme Bursche, der Mill, ist schrecklich mitgenommen ; wir müssen unser Bestes thun. dass er nicht merkt, wie schwer die Sache uns trifft.'- Es blieb nichts übrig, als die Arbeit noch einmal zu machen, und an diese Wochen konnte Carlyle bis an sein Lebensende nur mit Entsetzen denken. Mit rührenden Worten sprach er später davon, wie nur das Mitgefühl, der sanfte Trost seiner Frau es ihm ermöglicht hätten, diese Zeit zu überstellen. Endlich konnte er in seiner Arbeit fortfahren, und es kam ein Abend im Januar 1837, wo er zu seiner Frau sagen durfte : ,.Nun ist es fertig, und nun können sie es unter ihre Füsse oder Hufe treten, doch haben sie in den letzten hundert Jahren kein Buch bekommen, das so unmittelbar aus der glühenden Seele eines Menschen geboren ward.'"

Die Prophezeihung von Frau Carlyle. dass es so schlimm nicht sein würde, erfüllte sich. Freilich ein grosser pekuniärer Erfolg wurde vorläufig durch das Buch nicht errungen, aber es rückte für die Kenner Carlyle in die erste Linie der Schriftsteller seiner Zeit. Man muss nicht vergessen, dass in dem damaligen Eng- land Litteratur und Greschichte weit enger verbunden waren, als dies bei uns und im heutigen England der Fall ist. Dies erklärt einen für uns auffallenden Mangel in Carlyles Französischer Revolution. Sie ist ledig- lich aus gedrucktem in England zugänglichem Material entstanden. Eigentliche Quellennntersuchung, Verwer- tung ungedruckter Aktenstücke, wie sie Sybels Werk

106 Kapitel 5.

so wertvoll machen, fehlt hier vuUstäiidig. Aber es- war auch nicht Carlyles Plan, die diplomatischen Be- ziehungen, für welche derartige Studien unerlässlicK sind, in den Vordergrund seiner Darstellung zu rücken. Er wollte das Schwergewicht seines Buches auf die Schilderung des bald zum Wahnsinn gereizten, bald zum überschwänglichsten Enthusiasmus erhobenen Pariser Volkes legen, und dies ist ihm gelungen wie keinem vor ihm oder nach ihm. Ein mächtiges Drama ohne einzel- nen Helden aber voll Handlung. Kraft und Leidenschaft so rollen diese einzelnen Scenen an uns vorüber, und der Ton erhabener Ironie, der manchmal angeschlagen wird, erhöht den Eindruck tiefster Tragik, den das Buch als Ganzes macht. Wir verstehen vollständig, dass der berühmte Philosoph, Sir "\\'illiam Hamilton, das neu er- schienene Buch zur Hand nahm und von ihm festge- halten wurde wie Coleridges Hochzeitsgast. bis er seine Geschichte zu Ende gehih't hatte.

Es ist nicht zu leugnen, dass die pekuniäre Lage des Haushaltes in Cheyne ßow in diesen Jahren schwierig genug war. Wie schwierig, davon bekam wohl niemand, auch unter den häufigsten Besuchern, eine Ahnung. Erau Carlyle hatte die den Schotten eigentümliche Art. aus wenig viel zu machen. Xicht. indem sie irgend welchen billigen Luxus nach irischer Art trieb, sondern indem sie das ganze Hauswesen so einfach und in dieser Ein- fachheit so reichlich ausstattete, dass niemand sagen konnte, ob er in ein reiches oder in ein armes Haus getreten sei. Alles in der Einrichtung bis lieral) zum Schlafrock Carlyles vom besten Material, das zu haben war, aber alles darauf berechnet, eine Ewigkeit zu dauern. Die Aufnahme der Gäste immer einfach aljer immer mit (xeschmack angeordnet und mit würdiger Höflichkeit dargeboten. Vor allem jedoch kein falscher Stolz im Verkehr mit Wohlhabenden; kein schäbiger Versuch, mit der Lebenshaltung ihrer Gäste zu wett-

Häusliches Leben. 107

eifern, das eigene wirtschaftliche Niveau zu verlassen, ohne doch das höhere erreichen zu können. Wenn es jemals Menschen gegeben hat, für die Thackerays Snob keine beherzigenswerte Lehre mehr enthält, so sind es Carlyle und seine Frau gewesen. Und hierin darf man einen stillen aber mächtigen Eintluss der Frau auf den 3[ann sehen, denn Carlyle w^ar nicht immer frei von einer eigentümlichen Art von Menschenfurcht, der Art, wie sie häufig bei Männern, die sich selber zu einer freieren geistigen Haltung emporgekämpft haben, vor- kommt. Im Verkehr mit sozial Höherstehenden zeigte er in seinen früheren Jahren leicht Überhebung und zu gleicher Zeit IMisstrauen, die ihn zu keiner ruhigen Haltung kommen Hessen. Man kann verfolgen, wie dies nach seiner Verheiratung allmählich anders und besser wird, und es ist nicht nur der äussere Ertblg, der ihn zu dieser ruhigeren und würdigeren Haltung brachte, sondern in dem täglichen Verkehr mit seiner Frau, die in ihrer edlen Einfachheit „eine wirkliche Dame-, (a real lady) war und mit demsell)en ruhigen Anstand in einem Königsschloss wie in einer schottischen Hütte sich, bewegt hätte, fielen auch von Carlyle diese Schlacken ab. Es stellte sich bei ihm jene sichere und freundliche Höflichkeit ein. die er bei Johnson bewunderte und die aus der Thatsache hervorgeht, dass der sie übende Mensch auch in gesellschaftlicher Beziehung seinen ]\[ittelpunkt in sich seilest gefunden hat und ihn ohne Hochmut oder Unterwürfigkeit zu behaupten weiss.

So blieb im wesentlichen das Leben in Cheyne Row dasselbe in den Zeiten der Xot wie in den späteren des Erfolges und Wohlstandes. Aber in diesen schwe- ren Jahren wurde Carlye in der That zum ersten und einzigen Mal in seinem Leljen geniUigt. eine Thätigkeit auszuüben zu dem ausgesprochenen Zweck. Brot für seinen Haushalt zu schaffen. Zwar ein Anerbieten des Vaters seines Freundes Sterling, Mitarbeiter an der-

108 Kapitel 5.

Times zu werden, lehnte er ohne weiteres ab. weil eine derartige Beschäftigung ihm keine Zeit zu eigener Thä- tigkeit gelassen und ihn in den Dienst einer Partei ge- stellt haben würde: auch einen Vorschlag seines treuen Freundes Emerson, in den Vereinigten Staaten Vorträge zu halten, konnte er nicht annehmen, aber dieser Vor- schlag legte den Freunden seines Hauses , namentlich ]\Iiss Harriet Martineau und Miss AVilson, den Gedanken nahe, dass er etwas ähnliches in London versuchen sollte.

So entschloss sich denn Carlyle von 1837 l)is 1840 alljährlich einen Kursus von Vorlesungen zu halten, von denen er nur den letzten über Helden und Helden- verehrung des Drucks für wert erachtet hat. Für die übrigen, über deutsche Litteratur. über allgemeine Ge- schichte der Litteratur und über die Französische Revo- lution sind wir auf Zeitungsberichte angewiesen. Dass der dritte Kursus nichts wesentlich neues bringen konnte, ist selbstverständlich. Der Verlust des ersten wird durch Carlyles Essay über denselben Gegenstand einiger- massen ausgeglichen: bedauerlich bleibt es indessen, dass Carlyles Darstellung der griechischen Litteratur im zweiten Kursus nicht erhalten gebliel)en ist. Der Erfolg dieser Vorlesungen, über die Carlyle selber ein sehr abschätziges Urteil fällte : ..eine Mischung von Propheten- und Schauspielertum", war sehr gross und nach den kurzen Zeitungsberichten durchaus nicht unverdient. Die geistvolle und vornehme Gesellschaft, die seinen Zuhörerkreis bildete, fühlte instinktiv heraus, dass hier €in Mann vor ihr stünde mit völlig neuen Ansichten, mit tief gegründeter Überzeugung . mit dem festen Willen, für diese Überzeugung einzustehen und dafür zu kämpfen, eine moralische Kraft erster Ordnung, die in jedem Wort sich auszudrücken bestrebt war.

Wir verdanken diesen Vorlesungen auch eine Schil- derunor von Carlvles Persönlichkeit, die hier ihren Platz

Vorlesungen. 109"

finden mag. ^Da stand eine hagere Ge.stalt nur einen Zoll unter sechs Fuss mit langem aber massivem Schädel, der kleiner aussah als er wirklich war: ein gefurchtes Gesicht mit einer .Stirn so abschüssig wie eine niedrige Klippe, die sich ülier den tiefliegenden Augen wölbte. welche gross und durchdringend in einer Mischfarbe zwischen blau und dunkelgrau in Feuer erstrahlten. Seine Lippen fest aber bew^eglich. durchaus nicht un- gütig; sein Haar dunkel, kurz und dicht, nicht gelockt aber in langen AVellen wie Strandgras, das von der Meeresflut bewegt wird. Seine Gesichtsfarbe rötlich mit galligem Fnterton oder gallig mit rötlichem Unter- ton je nach Stimmung und Gelegenheit."*)

Xach einem ersten Versuch, die Vorträge auszu- arbeiten, erkannte Carlyle, dass es ihm unmöglich sein würde, auf diese Weise zu sprechen, und nach langer., mühsamer Vorbereitung überliess er sich auf dem Ka- theder der Eingebung des Augenblicks. In seinem breiten Annandaler Dialekt überschüttete er seine Zu- hörer mit einem nicht enden wollenden Erguss von Thatsachen, Beobachtungen. Kritik und Satire, der so lange dauerte, bis der Redner vollständig erschöpft war, und sein Schweigen die Zuhlirer wiederum zu Atem und Besinnung kommen Hess. Die charakteristischen Züge seiner Art zu sprechen sind auch in der Um- arbeitung in dem Buch über Helden und Heldenverehrung deutlich erkennbar. Dass aber diese wie jede andere Art von öifentlichem Auftreten Carlyle widerwärtig war. lässt sich daraus ersehen, dass, sobald seine peku- niären Verhältnisse günstiger wurden (was mit dem Tod seiner Schwiegermutter 1842 der Fall war), er diese Vorträge aufgal) und nur noch einmal in seinem langen späteren Leben bei hochbedeutender Gelegenheit das Katheder bestiegen hat.

*) Carlyle von Richard Garnett. London 1Ö87.

110 Kapitel 5.

Das Werk über die franzüsiscbe Revolutiun hatte :auch den Erfolg gehabt, dass sich die Augen des Pub- likums mehr auf ihren Autor richteten, als dies vorher der Fall war. In Amerika hatte Emerson bereits früher ^eine Buch-Ausgabe des Sartor Resartus veranstaltet, er that dasselbe, und jetzt mit besserem Erfolg, mit einer Sammlung der Essays, beides eine willkommene Hilfe für Carlyle. Eine englisclie Buch-Ausgabe des .Sartor Resartus folgte und bald auch die er.ste Sammlung der Essays, die nunmehr aus den einzelnen Bänden der Zeitschriften zum Ganzen vereinigt ein vollständiges Bild der litterarischen Tendenzen Carlyles boten. Es ist dies notwendig zu berücksichtigen, will man den Eindruck würdigen, den Carlyles erste politische Flug- schrift über ('hartismus (1839) machte. Hier zum ersten- mal trat C'arlyle in bewussten und klaren (regM^nsatz zu allen politischen Parteien Englands. Der Chartismus, die erste mächtige, sozial-revolutionäre Bewegung, die England seit Jahrhunderten wieder erschütterte, war von allen Parteien missverstanden worden. Am här- 'testen betroffen waren die Whigs, die allen Ernstes ge- meint hatten^ dass mit der Durchführung der Wahlreform ^(1832) alle gerechten (rründc zur Unzufriedenheit aus 'der Welt geschafft seien. Aber fast ebenso gross war die Überraschung für die Radikalen, die im wesentlichen in immer weitergehender Übertragung politischer Rechte auf die Masse des Volkes das Palliativmittel für alle TJbelstände suchten und meinten, dass für die ökono- mische Lage der Arbeiter durch die Abschaffung der Kornzölle in ausgiebigster Weise gesorgt sein werde. Der Eindruck, den die Stimme eines einzelnen Mannes, ■•wie Carlyle es war, machte, ist gerade darauf zurück- . zuführen, dass er stets so ängstlich l)emüht gewesen w^ar, keiner Partei trilnitpfliclitig zu werden. Hier fühlte ein jeder, dass ein IMann redete, nicht von irgend einer ...Plattform" herab, sondern lediglich getrieben von dem

Cliartisnms und Ciomwell. 111

"Wunsch, die Dinge zu sehen und das Gesehene andern ^verständlich zu machen. Xiemand sonst hatte den Ver- such gemacht, den Chartismus als soziales Symptom zu begreifen und. ganz abgesehen von seiner Thorheit oder Weisheit, ihn als Thatsache aufzufassen, deren (xründe ihre Berechtigung behalten mussten. auch wenn ihre lauten Äusserungen nach dem Willen der Tories durch Kartätschenschüsse, nach dem der Whigs durch Polizei- knüppel oder nach dem der Radikalen durch rosenfar- benen Anstrich dem Anblick entzogen worden wären. Freilich war die Folge dieser freimütigen Äusserungen die Lösung einiger Beziehungen, auf die Carlyle per- sönlich Wert leo;te. Sein Verhältnis zu Mill ist nie wieder das alte, herzliche geworden. Es trat keine Feindschaft zwischen den beiden Männern ein. aber beide sahen sich mit trauernden Herzen auf dem Punkte an- gelangt, wo ihre Lebenswege notwendig auseinander gehen mussten.

Zur Zeit dieser schnell entworfenen und schnell ausgeführten (xelegenheitsschrift stand Carlyle bereits unter dem EinÜuss eines zweiten grossen historischen Werkes, das danach verlangte, aus ihm geboren zu wer- den. Es war „Oliver Cromwell und seine Zeit", die er wieder zu beleben trachtete. Wieder vergingen einige Jahre schweigender Arbeit: wieder erhob sich (xestalt auf Gestalt der vergangenen Zeit zu anschaulicher Klar- heit, aber die Idee, die das Ganze zusammenfassen und gestalten sollte, blieb aus: es würde ein Buch von hohem historischen Wert, aber kein Kunstwerk geworden sein. Wir haben durch eine neuere Publikation*) aus Carlyles Xachlass einen dankenswerten Einblick in die Art er- iialten, wie Carlyle es ver.suchte. diese Schwierigkeit 7A\ überwinden. Die Charakteristik der einzelnen jVEänner,

*) Historical Sketches by Th. Carlyle. Edited by Alexander <€arlyle, London 1899.

112 Kapitel 5.

die Schilderung l^edeutsaraer Vorgänge ist mit aller Kürze, skizzenhaft und doch mit staunenswerter An- schaulichkeit entworfen, Aher gerade, weil der Zeit vor Cromwell eine einzelne l)elierrschende Persönlichkeit fehlte, die einen ]\Iittelpunkt hätte abgeben können, und andererseits Persönlichkeiten wie Hampden u. s. w. doch wieder zu bedeutend waren, um lediglich als fiüchtige Momente eines grossen historischen Prozesses aufgefasst zu werden, so musste der Versuch Carlyles, eine ge- samte Darstellung der englischen Devolution zu schreiben, notwendig fruchtlos l)leiben. Endlich, überwältigt von Nervosität und Überdruss an der Arbeit, entschloss er

sich, lediglich die Briefe und Reden Cromwells mit

* kurzen Erläuterungen versehen als Vorar1)eit zu dem

grösseren Werk in chronologischer Reihenfolge zu sam- meln. Als es geschehen, sah er mit Erstaunen, dass dies die eigentliche Arbeit war. die ihn so lange get^uält. dass er gerade damit dem englischen Volk das authen- tische Bild von Cromwell gegeben habe. Das ist auch mit aller Treue geschehen. Carlyle konnte gar nichts Besseres thun, als diese einfache und grosse Seele selber sprechen zu lassen und nur die bescheidenen und doch so mühsamen Dienste eines Interpreten für seine eigene Zeit zu übernehmen. In dieser grossartigen Einfachheit der Anlage, in dieser begeisterten Verehrung, mit der jedoch Carlyle selber nur so weit hervortritt, als es die Erläuterung der Zeitverhältnisse nnliedingt notwendig macht, liegt der eigentliche Zaul)er, den das Buch noch heute ausübt.

Es ist vielfach aufgefallen . dass ( 'arlyle bei Ge- legenheit der zweiten Auflage von ..Cromwells Briefen und Reden" das Opfer einer plumpen Mystifikation wurde und ungefähr zwanzig gefälschte Briefe von Crom\\ell, nach dem Ealsirikator die ..Squire's Letters" genannt^ in seine Sammlung aufnahm. Der (Irund dafür ist der schon vorher angegebene; ('arlyle war kein 3[ann für

Dickens und Mazzini. 113

zweite Auflagen. So sorgfältig er für die erste Aus- arbeitung alles 3Iaterial verglich und sichtete, so hassens- wert war ihm die Beschäftigung mit dem einmal abge- schlossenen Werk; es erneuerte in ihm das Andenken an die vergangenen Qualen, und er suchte so rasch wie mitglich damit fertig zu werden. Hätten ihm die Falsi- fikate vor der ersten Auflage vorgelegen, er würde zweifellos ihrem Verfasser ein schweres Verhängnis Ije- reitet haben; die zweite Auflage fand ihn müde.

In dieser Zeit treten zwei neue Gestalten in den Freundeskreis des Carlyleschen Hauses: Dickens und Mazzini. Dickens verübelte Carlyle eine Ijeissende Be- merkung über den begeisterten Empfang, den „Schnüspel, der gefeierte Romanschrilf steller*' in Amerika gefunden hatte, nicht, und wurde dafür mit unendlicher Anregung für seine dichterische Thätigkeit belohnt. Man braucht z. B. nur ..Zwei Städte" mit der ..Französischen Revo- lution-' oder den Besuch Copperfields im Gefängnis mit dem Kapitel über .,]\Iustergefängnisse" in den Flug- schriften zu vergleichen, um den grossen Einfluss Car- lyles auf Dickens zu würdigen. (Jb der ästhetische Wert der Dichtungen Dickens' durch die Einfügung einer Polemik gegen soziale Missstände gewonnen hat, ist zweifelhaft. Unzweifelhaft aber ist es, dass die Ge- danken Carlyles durch die mächtige Popularität Dickens' in Kreise drangen, wohin sie sonst wohl kaum gelangt wären, und so Unzählige, die kein Wort aus der Feder Carlyles gelesen hatten, zu dem Entschlüsse brachten, diese 3Iissstände abzustellen. Sehr eigentümlich war das Verhältnis Carlyles zu Mazzini, dem IMärtyrer für die Freiheit Italiens. Seine edle Begeisterungsfähigkeit, das tiefe und starke Gefühl für, alles Gute und Edle zogen Carlyle mächtig an. Und doch konnte es zu einem wirklich intimen Verhältnis, wie es zwischen Frau Car- lyle und Mazzini sich anbahnte, bei Carlyle selbst nicht kommen. Carlyles strenger schottischer Wahrheitsliebe

He n s el , Carlyle. ö

114 Kapitel 5.

war nun einmal jene Hinneigung zur praclitvollen Phrase, welche allen Romanen eigentümlich ist. unerträglich. Die Abneigung Groethes gegen alle „Schwärmerei'^ war auf C'arlyle vollständig übergegangen. Vor allem er- schien es ihm wie ein Mangel an historischem Sinn, wenn Mazzini glaubte . durch einen glücklichen poli- tischen Handstreich Italien seine frühere weltbeherr- schende Stellung wiedergeben zu können. Als aber die englische Regierunsr sich hinreissen Hess. Mazzinis Briefe auf der Post zu eröffnen, da war es Carlyle, der Zeug- nis ablegte für die sittliche Lauterkeit und ehrenhafte Gesinnung seines Freundes und einen Sturm der Ent- rüstung in England entfachte, der die Wiederkehr solcher Übergriffe bis zum heutigen Tage unmriglich gemacht hat. Ein anderer Freundschaftsdienst Carlyles galt einem Toten. Im Jahre 1844 war John Sterling aus dem Leben o-eschieden: ein verdienstvoller (leistlicher. Hare. hatte es unternommen, die Biographie Sterlings zu schreiben und hatte dabei das Hauptge\\dcht auf die kurze Zeit gelegt, in der Sterling als Vikar in Herstmonceux thätig war. Dies l)edeutete für Carlyle eine Verkennnng des eigentlichen Lebensinhalts seines Freundes, und in seiner musterhaften Biographie (1851) gab er nicht nur die geistige Entwickelungsgeschichte Sterlings, sondern er setzte sie auch. M^ie es seine Art war. in engste Be- ziehung zu den geistigen Tendenzen seines Zeitalters überhaupt. Sein Thema erweiterte sich zu der Frage: Welchen geistigen Beruf kann in unserer Zeit eine wahrheitsuchende Seele sich wählen, ohne an ihrem Heil Schaden zu leiden V Er erkannte als das schlimmste Zeichen unserer Zeit, dass gerade die Edelsten in diesem Beruf, die es mit sich und ihrem Leben ernst nehmen, in Gefahr sind, niemals zur vollen Ijethätigung ihrer geistigen Anlagen zu gelangen. Das „Leben Sterlings'- ist für die geistig Arbeitenden ein ähnlich prophetisches Buch über die Schäden unserer Zeit geworden, wie es

Sterling' und Emerson. 115

«der ..Chartismus" für die körperlich Arbeitenden ge- wesen war.

Etwas früher ('1847). fällt der zweite Besuch Emer- •sons in England. Die Korrespondenz beider IMänner, die wertvollste in der reichen Sammlung von Briefen, die wir von Carlyle besitzen, hatte die Jahre der Tren- nung überdauert und die geistige Gemeinschaft Beider rege erhalten. Und doch begannen nun die ersten An- zeichen, dass die vollständige geistige Harmonie, die früher ihnen so wertvoll gewesen war. nicht mehr be- stand. Wir haben gesehen, dass ein scharfer Einschnitt in Carlyles geistigen Interessen die Zeit von Craigen- puttoek und London von einander trennt. Emerson war und blieb der Freund der früheren Tage Carlyles. In seinen Schriften kihinen wir vielleicht am besten sehen, wie sich die Gedankenwelt Carlyles gestaltet hätte, wenn er auf den früheren Wegen fortgeschritten wäre : immer feiner, immer mehr dem Tagesleben abgewendet, in immer reineren Höhen des Gedankens sich bewegend, verschloss Emerson sein empfindliches Auge den widerwärtigen Ge- stalten des Tages. Carlyle mochte diese Entwickelung des Freundes mit stiller Wehmut lietrachten. aber sein Los war anders gefallen. Er fühlte sich als der Arzt der kranken Zeit, und er musste seinen Blick nicht ohne tiefes 3Iitleid aber unerbittlich auf die Geschwüre rich- ten, die der soziale Körper zeigte. Xicht mehr als einen Mitstrebenden, sondern als eine unendlich rührende Er- innerung an eine vergangene und schönere Zeit begrüsste -er den Freund. Diese Verändernng in den Lebenszielen Carlyles wird ganz deutlich durch den Wert, den er ^uf die Bekanntschaft mit dem einzigen englischen Staats- mann legte, für den er aufrichtige Bewunderung hegte, Sir Robert Peel. Li seiner litterarischen Epoche würde er diese Bekanntschaft kaum gesucht haben, jetzt aber war es ihm wertvoll, den ]\Iann kennen zu lernen, der -es vermocht hatte, die Vorurteile seiner Partei durch

llß Kapitel 5.

die lebendigen Thatsaclien zum Schweigen zu bringen und selber die Aufhebung der Kornzölle durchzusetzen, der er sich früher mit aller 31 acht entgegengestemmt hatte. Carlyle betrachtete Peel als den Träger der Hoffnung Englands, und erschütternd ist der Ausdruck der Trauer, den er nach dem Tode des verehrten Mannes fand. Es schien sogar für einige Zeit, als sollte sich sein Pessimismus zur völligen Verzweiflung verdichten. Die Zeit verhältnismässiger Euhe, die für Carlyle mit der Vollendung seines Buches über Cromwell ein- getreten war, hatte eine für ihn wertvolle Bekanntschaft, die mit Lord und Lady Ashburton, gebracht, die in der Fol2:e einen immer «i-rJjSseren Platz in seinem Leben ein- nehmen sollte; wertvoll auch deshalb für ihn. weil er hier zum erstenmal mit 3Iitgiiedern der englischen Ari- stokratie in persönliche Berührung kam, die er in der Zeit seines politischen Radikalismus ohne genauere Sach- kenntnis herzlich verachtet und gehasst hatte. Auch hier zeigte er, dass er weit entfernt war, der Phrase und sei es auch der eigenen Phrase Einfluss auf sein Denken zu geben, dass er stets bereit war. sach- lich ein Urteil zu begründen und, wenn nötig, zu ver- ändern. So fand er denn in diesen 31enschen ^•iele edle und gute Eigenschaften, die gerade an seine Wert- schätzung besonders stark sich wandten. Ein schweigen- der Heroismus der Lebensführung, der entschlossen war. auf die vielen Stimmen des Hasses und der Verachtung durch Thaten edler einfacher Güte zu antworten, die meist verborgen blieben; ein reges Interesse für alle guten und grossen Gedanken, die ihnen entgegentraten; ein rührender Verzicht auf ein handelndes Leben, das die Zeitumstände unmöglich gemacht hatten alles dieses musste Carlyle mächtig bewegen und ihm. dem rastlos Suchenden, als wertvollstes Vorzeichen einer besseren Zukunft erscheinen, die es verstehen würde, diese edeln Kräfte wieder nutzbar zu machen.

Erste Reise nacli Deutschland. 117

Docli diese Ferientage sollten nicht immer dauern. "Carlyle war ausser Stande, ohne eine ihn ganz aus- füllende Arbeit zu leben, obwohl er wusste. dass sein Leben während der Arbeit eine beständige Qual war. Immer deutlicher erschienen vor seinem geistigen Auge die Umrisse seines dritten grossen historischen Werkes : „Die Geschichte Friedrichs des Cirossen". Xacli der ersten vorläufigen Orientierung entschloss er sich, das Projekt seiner Jugendzeit, die Reise nach Deutschland, nunmelir auszuführen. Wie ganz anders hatte er sich damals diesen Besuch, an dem sein Herz hing, aus- gemalt! ("xoethe von Angesicht zu Angesicht zu sehen, sehnte er sich. Jetzt war der Magnet, der ihn so mächtig nach Deutschland gezogen, nicht mehr vor- handen, und nur die wehmütige Freude, die Stätte zu sehen, wo einst sein geistiger Führer geweilt, erinnerte an die vergangene Zeit. Den einzigen Überlebenden nur jener grossen Zeit. Ludwig Tieck. konnte Carlyle aufsuchen und sich seines geistvollen Ciresichts und seiner beredten Sprache erfreuen. Ebenso wertvoll war für ihn der Besuch der Wartburg, wo einer der l)esten Helden des menschlichen Geschlechts. Martin Luther, gelebt und authentisch mit dem Teufel gekämpft hatte.

Im übrigen geben seine Briefe kein erfreuliches Bild von dieser Eeise. Trotz der aufopfernden Fürsorge seines Reisebegleiters Xeuberg, (desselben, der zuerst Carlyle in deutscher Übersetzung unserem Volke zu- gänglich machen sollte), hatte er ein vollgeschüttelt ]\Iass der Unannehmlichkeiten zu ertragen, die mit Reisen in fremden Ländern notwendig verbunden sind, und kein noch so warmer Verehrer Carlyles kann in Abrede stellen, dass er in derartigen Fällen Unbequem- lichkeiten gegenüber fast wehrlos war. Dauernde Schlaf- losigkeit, die Rückkehr seines alten Magenübels unter dem Einfluss der ungewohnten Kost machten ihm die 'Tage in Berlin zur Hölle, und so war es ein Glück für

118 Kapitel b.

ihn, dass er nach eiliger Erledigung seiner Greschäite wieder zu seiner gewohnten Lebensführung zurück- kehren konnte. Seine Frau hatte in der Zeit seiner- Abwesenheit einen Plan ausgeführt, der ebenso ihre rührende Fürsorge für das AVohlbefinden Carlyles wie ihre Unfähigkeit erkennen lässt, die eigentlichen Grründe- seiner Klagen zu beurteilen : das ganze obere Stockwerk des Hauses war in ein einziges grosses Bibliotheks- und- Arbeitszimmer mit ( )berlicht und doppelten Wänden verwandelt worden, um ihm Ruhe vor jedem störenden (leräusch zu verschatien. Wären die Gründe zu dauern- den Klagen wirklich die gewesen, die er angali. Krähen von Hähnen, Geräusche, störende Besuche, so wäre das Mittel vorzüglich gewesen. Aber in A\"ahrheit waren es innere, nicht durch äussere Mittel zu beseitigende Ursachen, die ihn geistig und damit körperlich quälten.. Der Versuch. Totes zu beleben, muss heute wie zur Zeit des Odysseus mit lebendigem Blut bezahlt werden, nur dass der Beschwörer heute selbst das ()pfertier ist. das^ sein Herzlüut darangeben muss, um die Schatten zum Reden zu bringen. AVie alle nervösen 3Ienschen ver- legte Carlyle die Gründe seines Leidens nach aussen, während sie doch in ihm selber lagen. Bis ..Friedricli der Grosse" fertig war. konnte es keine Ruhe für den gequälten Mann geben.

In diese Zeit fällt der Tod seiner Mutter (1853). Für ihn bedeutete dieser Verlust eine unendliche Ver- tiefung der trostlosen Stimmung, die sein steter Be- gleiter in diesen Jahren war. Er verdankte seiner Mutter nicht nur sein leibliches Dasein, sondern in den. schwersten Zeiten war ihr verstehendes Mitgefühl oft der einzige Stern gewesen, der in seine Lel)ensnacht hineinschien. Nun war auch dieses Band gelöst, das ihn sichtbar mit seinem früheren Leben verknüpfte : ein Herz, das in treuer Liebe für ihn geschlagen hatte, war still geworden. Immer mehr lenkten sich seine (xe-

Arbeit an Friedrich dem Grossen. Latter-day Pamphlets. 119

danken auf die Vergangenheit; vielleicht zu sehr er- schien ihm. was das Leben noch bringen konnte, als schal und bedeutungslos. Es lag in dieser Trauer aller- dings ein 3Ioment des Egoismus, für das er si^äterhin schwere Busse zahlen sollte.

Die Grundstimmung, die sich schon in seinen „Flug- schriften aus elfter Stunde" (Latter-day Pamphlets) ge- zeigt hatte, wuchs mit jedem Jahr. Sie waren der Ausdruck der feurigen Entrüstung gewesen, mit der er die Summe der gesamten gesellschaftlichen und wirt- schaftlichen Zustände zog. Wie er sich früher dem mechanisierten Weltall gegenüber in Trotz und Hass aufgelehnt hatte, so geschah es hier der mechanisierten (Gesellschaft gegenüber. Stylistisch hat Carlyle wohl niemals besseres geleistet. Alle Regi.ster^ die ihm zur Verfügung standen, vom ergreifendsten Pathos bis zur skurrilsten Satire werden mit Meisterhand gezogen. Lnmer an das Alltägliche, jedem Bekannte anknüpfend, immer aufsteigend zu den letzten Prinzipien menschlichen Wissens, zu dem ewigen Unterschied von (xut und Böse, konnte Carlyle hier nicht ängstlich darauf bedacht sein, ob er etwa wohlmeinenden und liebenswerten Gemütern Anstoss gäbe oder nicht. Es kam ihm darauf an, zu zeigen, dass selbst an sich vorzügliche Eigenschaften in dieser Zeit der allgemeinen Heuchelei in grinsende Larven sich verwandeln ; dass eine wirkliche Menschen- liebe, die auf Gerechtigkeit und nicht auf unklare Sym- pathien sich gründet, in dieser Zeit der Scheinheiligkeit unmöglich geworden sei; dass im Gegenteil nach dem Satz, „dass das Schlechteste die Verderbnis des Besten ist", gerade die humanitären Bestrebungen der Gegen- wart unsere Zeit als ganz besonders widerwärtig er- kennen lassen. Es ist eine ßusspredigt im Stile der Propheten, die uns hier vorliegt.

Aber schon reifte eine neue (Tcneration heran, welche diese Worte begierig einsog und entsclilossen

120 Kapitel 5.

war. .sich von ihnen leiten zu lassen. Immer häufiger wurden die Briefe, die um Rat und geistigen Beistand flehend ihren Weg in das stille Arbeitszimmer Carlyles fanden, und für deren liebevolle und eingehende Beant- wortung der überarbeitete Mann immer Zeit und Müsse hatte. Er begann die Segnungen eines thätigen Lebens zu merken, wie dies einst bei (xoethe der Fall gewesen war. Er hatte nicht umsonst gearbeitet; was ihm bei seiner eigenen Generation nicht gelungen war. sollte ihm von der nun heranwachsenden ents-eo-eno-ebracht werden, nämlich das Zeugnis, dass er es vermocht hatte, menschliche Gemüter in ihrer Lebensgestaltung ent- scheidend zu beeinflussen. Xun begann sich auch durch jahrelange stumme Arbeit die Last zu verringern, die er so standhaft und treu getragen hatte. 1858 erschienen die ersten zwei Bände Friedrichs des Grossen ; in dem- selben Jahre wurde noch einmal eine Heise nach Deutsch- land gewagt, um die Schlachtfelder der schlesischen Kriege durch Augenschein kennen zu lernen ; endlich 1865 erschien der letzte Band, und das Werk, an dessen Vollendung Carlyle oftmals verzweifelt hatte, war nun abgeschlossen. Es war keine siegesfreudige Stimmung, in der er und seine Frau auf das Geleistete und auf den grossen öffentlichen Erfolg des Buches zurück- blickten. Beide wussten nur zu gut. dass diese Arbeit ihr Leben so lange durchglüht hatte. Ins es zur grauen Schlacke geworden war. Wie aus einem jahrelangen bösen Ti'aum erwachend, fanden sie sich alt und müde, und kein Ruhm, keine Anerkennung konnte ihnen das Verlorene ersetzen.

Es kann nicht die Aufgalx^ dieses Buches sein, Carlyle als Historiker zu würdigen. Vieles von dem, was er gesagt, ist durch spätere Forschung stark 1)e- richtigt worden, anderes konnte vielleicht schon zu seiner Zeit besser gemacht werden. Der auffallendste Mangel ist auch hier das Fehlen aller archivalischen

Vollendung , Friedrich des Grossen'. 121

Studien, auch der >Stil ist namentlich in den letzten Bänden nicht so gut wie in den besten Büchern Carlyles. Die Satire x\lexanders ist in dieser Hinsicht nicht ganz unbegründet. Xamentlich zeigt sich die Vor- liebe Carlyles. den einzelnen Personen feste und mit- unter von einer Ausserlichkeit hergenommene Spitz- namen anzuhängen, die dann stereotyp wiederholt werden, in einer recht störenden Weise. Alier es darf darül)er nicht vergessen werden, dass Carlyle es in der That miiglich gemacht hat. ein wirkliches Bild seiner beiden Helden, Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs ■des Grossen, zu geben. Was wussten denn die Eng- länder seiner Zeit von Friedrich dem Grossen? Als Macaulay ein Gesetzbuch für Indien ausarbeiten wollte, holte er mit unendlichem Fleiss die juristische Litteratur aller Zeiten und Völker zusammen: dass es ein preus- sisches Landrecht gäbe, war ihm. dem Vielljelesenen, der selber über Friedrich den Grossen geschrieben hat. völlig unbekannt. An Stelle des Despoten, der schlecht die Flöte spielte und noch schlechter französische Verse machte, trat nun die wahre Gestalt des ersten Dieners des Staates. Wie sehr wir Deutsche Carlyle für diese Schilderung dankl)ar sind, dafür zeugt die grosse Ver- breitung . welche sowohl die Übersetzung . wie die Bände der Tauchnitz-Edition bei uns gefunden haben, auch in Deutschland lernten Viele erst durch Carlyle, was eigentlich Friedrich der Grosse liedeute. Nach allen neueren Forschungen bleibt es doch dabei, dass das Bild, welches wir von dem grossen Könige vor Augen haben, von der Hand Carlyles gezeichnet ist, und dass wir alle Verbesserungen lediglich als Korrek- turen in dieses Bild eintragen, ohne dass es die uns vertraut gewordenen Züge verlieren darf.

Sehr bald nach der Beendigung Friedrichs des Grossen sollte Carlyle durch eine öffentliche Kundgeljung erfahren, dass er nicht vergebens zu seinem Volk ge-

122 Kapitel 5.

sproclien haljc. Im Jahre 1865 wälilten ihn die Studenten seiner alten Universität Edinburgli zu dem Ehrenamt des Rektors, eine Auszeiclmung, die im Jahre vorher- (lladstone zuteil geworden war. und die zu den höchsten gehört, zu denen ein Mann von politischer oder littera- rischer Berühmtheit gelangen kann. Ja. diese Würde wird sogar höher geschätzt als der Ehrendoktor, den die englischen Universitäten von Oxford und Cambridge verleihen. Denn dieser ist das Zeugnis, das Männer ausstellen, die derselben (-reneration wie der also (xeehrte angehören; die Wahl zum Rektor aber bedeutet, dass die Jugend gewillt ist, einem Manne zu danken, nach dessen Vorbild sie das eigene Leben zu führen gedenkt. Deshalb liess sich auch Carlyle bestimmen, das Amt anzunehmen, obwohl es ihm die Verpflichtung auferlegte, vor den versammelten Studenten eine Antrittsrede zu. halten. Man mag bei Professor Tyndall, seinem treuen Begleiter auf dieser Eahrt. nachlesen, mit welcher Sorg- falt die Reise (März 1866) geplant werden musste, welcher Künste und I\Iittel es l)edurfte, den Siebzig- jährigen in gutem körperlichen und geistigen Zustand nach Edinburgh zu bringen. Wie immer bebte Carlyle vor dem Gedanken an ein öffentliches Auftreten zurück. Weit davon entfernt, eine ausgearbeitete Rede mit- zubringen, konnte er kaum einige Notizen aufzeichnen, und als er der vielköpfigen Menge seiner Zuhörer gegen- überstand, da brauchte er auch diese Aufzeichnungen nicht mehr. Bilder der Vergangenheit, unendlich rührend und traurig, stiegen vor seinem geistigen Auge auf waren es doch Söhne seines eigenen geliebten schottischen A^olkes, wollten sie doch denselben Weg gehen, den er einst gegangen war und so sprach er denn wie ein Patriarch zu seinem Volke, wie ein Vater zu seinen Kindern.

Die Rede hat später den Titel „Über die Wahl von Büchern" erhalten, welcher aber weit entfernt ist.

Rektoratsrede in Edinburgh. 128"

ihren eigentlichen Inhalt /ai nnifassen. Vielleicht würde es besser sein, ihr Thema als „die Aufg-abe der Uni- versitäten" wiederzugeben, denn der (xrundgedanke. wenn: ein solcher überhaupt in einer derartigen Improvisation vorhanden ist, ist der, dass mit der Eründung der Buch- druckerkunst die Aufgabe, die früher den Universitäten zutiel, die mündliche Überlieferung von Lernstoff, nun- mehr ül)erwunden sei: eine Universität, die heute noch ihr Ziel darin sucht, ist notwendig eine Negation der Thatsache des Bücherdrucks. Was früher die Universi- tät war, ist heute die Bibliothek, aber damit ist den Universitätslehrern eine neue Aufgabe erwachsen, höher und wertvoller als die frühere. Sie sollen ihre Hörer lesen lehren, nicht dem Buchstaben sondern den (xe- danken nach. Durch ihre Unterweisung sollen die Studenten eingeführt werden in den Zusamwienhang der Entwickelung des Menschengeschlechts, in dem diese Büclier entstanden sind, und sie sollen lernen, sie zu lesen, nicht um sie gelesen zu haben, sondern um einen Einblick zu gewinnen in die grossen und edeln Seelen der Toten, denen wir diese Bücher verdanken. Dadurch soll auch die Lebensführung des Lernenden eine feste Richtung erhalten, die Uni versitäts jähre sollen ent- scheidend werden für das ganze spätere Leben. Gegen- über dem Tagesgeschwätz und der Tagesmeinung kann sich der Mensch immer wieder zurechtfinden an den grossen Männern, die wirklich etwas geleistet haben, deren AYorte Thaten gewesen sind, die fortdauern bis zum heutigen Tage. Ein Leben im Handeln nicht in AYorten das ist es, worauf das Studium aller grossen ]Männer aufs eindringlichste hinweist. Das Wertvollste aber, was ein Student aus diesen Jahren seiner Lehrzeit mitnehmen kann, ist die Fähigkeit. Ehr- furcht zu empfinden. Und nun erzählte Carlyle in schlichter einfacher Weise, wie ihn in ..Wilhelm Meister" der Erziehungsplan zu den drei Äusserungen der Ehr-

124 Kapitel 5.

furclit erü-riffen und ihn andauernd und naclilialti": für dieses lange Leben, das er nunmehr geführt, bestimmt habe. So ausgerüstet mag der Student die Universität verlassen. Es ist diese Ausrüstung vielleicht nicht zum äusseren Erfolg geeignet denn der wird meistens «iner ganz andern Klasse von Menschen zufallen al)er zu etwas Höherem als zu äusserem Erfolg, zu einem thätigen Leben, das sich im Zusammenhang mit der ewigen Ordnung der Dinge befindet.

Dass Carlyle den Weg zu den Herzen seiner Hörer gefunden hatte, zeigte die minutenlange lautlose Stille, die seinem Vortrag folgte, und die ihn mehr rührte, als der dann hervorbrechende donnernde Beifall. Am glücklichsten aber war über diesen Erfolg Frau Carlyle. die mit dem Telegramm des treuen Tyndall in der Hand zu dem befreundeten For.ster eilte, um ihn an ihrer Freude teilnehmen zu lassen. Es war die letzte grosse Freude ihres Lebens. Kurze Zeit darauf, am 21. April ISöß. wurde sie bei einer Spazierfahrt in Hyde Park von einem Herzschlag getroffen, und der in Schott- land weilende Carlyle eilte herl)ei. um der geliel)ten Toten nach ihrem Wunsch auf dem Kirchhof von Had- dington an der Seite ihres Vaters die letzte Ruhestätte zu geben. Ihre Grabschrift. von Carlyle verfasst. lautet : *)

..Hier ruht ebenfalls Jane Welsli Carlyle. die (lattin von Thomas Carlyle. Chelsea, London. Sie wurde geboren in Haddington am 14. Juli 18<»1 als das einzige Kind von John Welsh und seiner Frau Grace Welsli. Caplegill. Dumfriesshire. In ihrem lichten Dasein hatte sie mehr Kummer als gewöhnlich : aber auch eine sanfte Unüberwindlichkeit. eine Klar- heit der Unterscheidung: und eine edle Hin^ebuns: des

*) Nach der Übersetzung von Thomas Fischer in seiner Lebens- skizze Carlyles, die er der vorziighchen l'bersetzung des Sartor Re- sartus vnraussreschickt hat.

Tod von Jane Welsh Garlyle. 125

Herzens, die selten sind. Vierzig .Jahre lang- war sie die treue nnd lieljende Grenossin ilires Gatten und hat ihn unermüdlich durch Wort und That gefordert^ wie niemand anders es hätte thun kijnnen. in allem Würdigen, das er jemals vollbracht oder zu vullljringen strebte. Sie starb in London am 21. April 186(3. ihm pl()tzlich entrissen und das Lielit seines Lebens wie erloschen."*)

Gerne würde ich mit diesen einfachen und wahren Worten Carlyles die Darstellung des Verhältnisses zu seiner Frau abschliessen. Aber so dringend Schweigen am Platz wäre, so muss ich doch mit einigen Worten die unerquickliche Kontroverse l)erühren. die sich über das Verhältnis beider Gatten zu einander erhoben hat und noch immer fortdauert.

Nacli dem Tode seiner Frau fasste Carlyle den Plan, ihre Briefe und Tagebücher zu ordnen, vielleicht um ihr ein litterarisches Denkmal zu setzen. Diese Arlteit erst machte ihn auf vieles aufmerksam, was in dem inneren Leben seiner Frau sich ereignet hatte, und was sie zu stolz gewesen war, selbst ihm gegenüber aus- zusprechen. Mit äusserster Bestürzung sah er, dass sie häufig schwer gelitten hatte bei Anlässen, die er längst vergessen hatte, dass sie namentlich in den letzten Jahren sich gegenüber neueren Freunden zurückgesetzt und vereinsamt gefühlt hatte, dass hinter der ruhigen Aussenseite ihres Wesens, nur mitunter durch eine sarkastische Bemerkung sich andeutend, viele Betrübnis, viele grosse und kleine Schmerzen verborgen gewesen waren. Erschütternd ist seine Trauer und seine Reue, wie sie sich in kurzen Bemerkungen ausspricht, die ver- zweifelten Selbstanklagen, die er auf das eigene Haupt häuft, die leidenschaftliche Sehnsucht nur nach einer

*) ,And the light of his life as if gone out", eine elliptische Wendung, die für Garlyle charakteristisch ist.

12ti Kapitel 5.

Spanne Zeit . worin er der ^'erstorbenen .sa^jen könnte, wie sehr er sie geliebt habe.

Carlyle hinterliess das Mannskript seinem Freunde Fronde zu beliebiger Verfügung, und dieser Yer()tfent- lichte es unmittelbar nach Carlyles Tod. Er war im Hecht, denn es giebt kein anderes von einer Frau ge- schriel)enes Buch, das uns so viel und so wertvolles über eine weibliche Seele zu sagen wüsste. als diese „Letters and Memorials of Jane Welsh Carlyle": viel- leicht gerade deshalb, weil die Schreiberin niemals an eine Veröffentlichung gedacht hat. Selbst die Briefe der Sevigne und die der Rahel können den Vergleich mit den besten Briefen von Jane Welsh Carlyle nicht aushalten. Aber das schöne Buch fand nicht das Publi- kum, welches es verdiente. Es wurde sofort von einem ganz einseitigen Standpunkt aus behandelt und als Material für die ..Frauenfragc" benutzt, mit der es schlechthin nichts zu thun hat. Peinlich genau wurde abgewogen, wie gross die Schuld Carlyles in jedem -einzelnen Fall sei. ob Frau Carlyle Recht gehabt habe, ihre Beschwerden vor dem Gatten zu verschweigen, ob sie unter anderen Verhältnissen glücklicher geworden wäre, und was des elenden treschwätzes mehr war. Und darüber ging den Streitenden der erhebende Eindruck verloren, den dies Buch in jedem Unbefangenen erwecken wird. Das Leben jedes IMensclien muss als Totalitä't aufgefasst werden und ist niemals eine Exemplifikation bestimmter Fragen. Noch weniger ist es thunlich. ein irgendwie bedeutsames Leben unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob mehr oder weniger Glück darin vor- handen war. Diese Frage war für Jane Welsh C'arlyle wie für ihren Gatten im wesenlosen Scheine geblieben. Sie hatte etwas anderes denn Glück vom Lel)en er- wartet, als sie ihren Bund mit Carlyle schloss. und dieses andere zu fühlen, dass sie Carlyle zur Aus- ►bildung alles dessen verhelfen durfte, was die Natur in

Summe ihres Lebens. 127

ihm angelt'g't hatte. das hatte ihr das Schicksal im Überschwang zuteil werden lassen. Sie hatte ein tapferes, heldenmütiges Leben geführt, die Menschen, die mit ihr 7Aisammenkamen. besser und nicht schlechter gemacht, und ihr Lohn war ein Hinscheiden nach lange zweifel- haftem und endlich errungenem Siege. Die Menschen, denen es gelingt, mit thätigster Wirksamkeit mensch- liches (jrlück zu vereinen, sind so seltene Ausnahmen, dass ihr Leben nicht vorbildlich für uns sein kann. Was Jane Welsh ('arlyle gewollt und erreicht, ist ein •edles 3[enschenlos und kann uns zum Vorbild dienen.

Kapitel 6. Geschichtsphilosophie.

Wir haben das Leben Carlyles in London betrachtet und bei der Übersicht über seine schriftstellerische Thätig- keit bemerkt, dass dauernd historische und sozialpoli- tische Probleme neben einander behandelt werden. Beide standen dabei nicht in gleicher Weise im Vordergrund seines Literesses. Man kann sagen, dass die sozialpoli- tischen Schriften Gelegenheitsschriften im Goetheschen Sinn waren, während die eigentliche lang andauernde Arbeit sich auf historischem Gebiet bewegte. C'arlyle war eben der Ansicht, dass es nicht genüge, die gesell- schaftlichen Zustände so wie sie uns in der Gegenwart vorliegen, zu studieren, sondern dass wir heute das Brot essen, zu dem frühere Zeiten das Korn gesät haben^ dass mithin nur auf historischem Grunde sich das Ver- ständnis der heutigen Zustände erschliesst. Aber aucli dieser Hinweis auf die Geschichte führte Carlyle mit Notwendigkeit weiter zu noch umfassenderen Problemen. Wie er es als Jüngling nicht vermocht hatte, sich mit den Ergebnissen der einzelnen AVissenschaften zu be- gnügen, bevor sie sich zum mechanischen System zu- sammengeschlossen hatten, so konnte er sich auch jetzt nicht mit einzelnen historischen Kenntnissen zufrieden geben, ohne dass er sich den Sinn der Geschichte über- haupt zu deuten versucht hätte. Eine Geschichtsphilo-

Frühere Versuche. J[29

Sophie war ihm unerlässliche Vorbedingung für Ge- schichte und Sozialpolitik.

Es ist selbstverständlich, dass Carlyle nicht erst in dieser Zeit angefangen hat, über Geschichte nachzu- denken; bedeutungsvolle Ansätze haben wir im Sartor Kesartus gesehen; in zwei früheren Essays („Über Ge- schichte", 1830) und („Nochmals über Geschichte", 1833) hatte er versucht, seine Gedanken zu formulieren. Doch zeigen diese Versuche, dass eine wirklich intensive Be- schäftigung mit historischen Problemen sich noch nicht vollzogen hatte. Diese Aufsätze handeln nicht eigent- lich von Geschichte, sondern sie sind Reflexionen über die Schwierigkeiten, aus den auf dem Strom der Zeit treibenden Überbleibseln der Vergangenheit ein Bild des einst Lebendigen zu gestalten. Nicht über die Geschichte sondern über die Geschichtsschreibung spricht also Car- lyle hier.

Doch finden sich auch vereinzelte Versuche, das Werden in der Geschichte unter höchste Gesichtspunkte zu bringen. So taucht gelegentlich die Unterscheidung von mechanischen und dynamischen Zeiten auf. Wie Carlyle zu dieser Unterscheidung kam, ist leicht zu er- sehen; sie war im Anschluss an die Naturphilosophie gewonnen worden. Wie die mechanische AVelterklärung für Carlyle der zu überwindende Punkt gewesen war, wie er alsdann durch die dynamische Naturauffassung bei Novalis diesen zu überwinden gelernt hatte, so mochte es ihm richtig erscheinen, auch die einander widerstrebenden Kräfte des menschlichen Geschehens in derselben Antithese zusammenzufassen. Aber auf diese Weise wäre die Geschichte als ein letzter Abschluss des Naturgeschehens überhaupt aufgefasst worden, und so sehr dies dem frühern naturphilosophischen Standpunkt Carlyles entsprochen hätte, so wenig wollte es zu der durchaus selbstständigen Rolle passen, welche die Ge- schichte in Carlyles Gedankenwelt mehr und mehr ein-

H en sei , Carlyle. 9

l'^{) Kapitel G.

zunehmen begann. Ein anderer Versuch, die Geschichte als eine „Philosophie durch Erfahrung lehrend" zu defi- nieren, musste sich gleichfalls als ungenügend erweisen. Berechtigt war hierin der Gedanke, dass nur auf Grund des Vergangenen die Lösung der Fragen der Gegenwart möglich ist. Aber gerade dies Hervorheben des Didak- tischen schien dem selbstständigen AVert des historischen Lebens an sich Abbruch zu thun: ein Nebenerfolg war zur Hauptsache gemacht worden. Endlich tritt in den früheren Arbeiten Garlyles häufig die Formel auf. dass die Geschichte ,.eine Summe von Biographien" sei. Diese Definition giebt sehr glücklich ein wesentliches Moment jeder historischen Forschung überhaupt. Es liegt darin die Einsicht, dass es die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, uns die Vergangenheit lebendig zu machen, dass wir in dem Verstehen des Lebens bedeutender Individuen diese Aufgabe am einfachsten gelöst finden. Aber C'ar- lyle musste zu der Einsicht gelangen, dass gerade die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen bedeutenden Individualitäten und unbedeutenden Individuen hiermit noch nicht gegeben sei. Es musste ein Wertsystem ge- funden werden, wodurch eine solche Unterscheidung und Einteilung möglich war: Geschichte ohne Geschichts- philosophie ist unmöglich.

Einen wichtigen Fortschritt zeigt der Aufsatz „Cha- racteristics" (1831); obwohl zeitlich nahe sich berüh- rend mit den besprochenen Versuchen, enthält er ein Prinzip der Einteilung, wenn auch nicht formuliert. Die verschiedenen Perioden der Geschichte werden in ge- nauester Analogie mit dem menschlichen Leben als ge- sunde und kranke beschrieben. AVie der gesunde Mensch von seiner Gesundheit nichts weiss, sondern nur der Kranke zugleich von Gesundheit und Krankheit, so weiss die gesunde menschliche Gesellschaft nichts davon, dass sie ein System bildet, sondern wendet sich nützlicher produktiver Thätigkeit zu. Erst der kranke Organis-

Grundgedanke der Geschichtsphilosophie. 131

mns fängt an. über sich nachzudenken, und will durch Xachdenken und verstandesmässige Verbesserung die Gesundheit wieder erlangen. Diese Gedanken wurden später von Carlyle in seiner Geschichtsphilosophie ver- wertet, aber aus ihnen die Grundlage eines Systems zu machen, lag ihm ferne. Sie beruhten auf einem Ver- gleich der geschichtlichen Gemeinschaft der Menschen mit dem Klh'per des Einzelnen und hätten nur zu einer Reihe von Analogien etwa im Sinne SchäiFles führen können.

Klar und genau wird das endgültige Einteilungs- prinzip am Schluss des Aufsatzes über Diderot (1833) formnliert. nämlich dass alle übrigen Gesichtspunkte sich dem Kampf zwischen Glaul)en und Unglauben unter- ordnen müssen. „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind. 1)leibt der Konflikt des Un- glaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, in welcher Gestalt er auch wolle, sind •glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Un- glaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten , verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkennt- nis des Unfruchtbaren abquälen mag."*)

Also Goethe ist es wieder, auf den wir zurückge- wiesen werden, und doch verbietet uns die ganze Struk- tur von Carlyles Geschichtsphilosophie, uns auf Goethes Eintiuss allein zu beschränken. Ich glaube, dass hier ein genaues Analogon zu dem vorliegt, was wir bei •C'arlyles Naturphilosophie beobachten konnten. Goethe gab den mächtigen Impuls zur Auffassung der Natur in

*) Goethe, Noten und Abhandlungen zum westöstlichen Divan. Kap. , Israel in der Wüste". Die Quellenangabe leider nicht bei 'Carlyle.

132 Kapitel 6.

antimeclianischer Weise, aber die Ausljildimg der ein- zelnen Gedanken verdankte Carlyle einem Andern, Ähnliches ist hier zu bemerken, nur mit dem Unter- schiede, dass Goethe zwar eine sehr bestimmte zum Teil systematisch gegliederte Xaturphilosophie besass, wo- gegen von einer eigentlichen Geschichtsphilosophie bei ihm nicht gesprochen werden kann, denn erst in den Gesprächen mit Eckermann finden sich häufige Betrach- tungen über Geschichte, die natürlich jedes systematischen Charakters entbehren. Um so notwendiger war daher für Carlyle der Ausbau dieser Goetheschen Grund- gedanken, und er konnte als wertvollste Vorarbeit hier die Gedanken |le<^rsten dejit'^f^bpu Gp.-:^hichtsphilosophen b.enutzen : es wird der Einfluss Fichtes auf Carlyle hier durchaus massgebend.

Die Bekanntschaft Carlyles mit Fichte gehört schon einer früheren Zeit an, in welcher er sich gründlich mit allen Verzweigungen des deutschen Idealismus bekannt zu machen gesucht hatte. Einen erheblichen Einfiuss auf sein eigenes Denken hatte er ihm damals nicht ge- stattet: er war zu sehr damit beschäftigt, sich und seine Stellung zur Xatur zu überdenken, als dass ihm die Schriften Fichtes, die er gelesen, wesentliche Förderung hätten geben können. Ich vermute, dass er die Wissen- schaftslelire überhaupt nur aus Xovalis' Bemerkungen kennen gelernt hat; nachweisen lässt sich jedenfalls nur ein Studium der populären Schriften der zweiten Epoche Fichtes: „Über das Wesen des (Tclehrten", ,.Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters"; ziemlich sicher das „Xaturrecht" und „Der Geschlossene Handels- staat", vielleicht die „Reden an die deutsche Nation". Namentlich waren es „Die Grundzüge des gegenwär- tigen Zeitalters" mit ihrem Gegensatz zwischen Ver- stand und Vernunft, die sich in ungezwungenster Weise dem Goetheschen Gedanken annähern Hessen. Der Kampf, den Fichte schilderte und als das eigentliche Prinzip

Die Ei)Oclien hei Gadyle und Fichte. 133

der A\^eltgeschiclite auf'fasste. gal) das Schema auch für -Carlyles eigene Gedanken. Und namentlich war es die Schilderung des „Gegenwärtigen Zeitalters", jene un- übertreffliche Satire auf eine verstandesmässige mit völliger Impotenz im Glauben und Handeln vereinte Kultur, die Carlyle für seine eigene Zeit als durchaus zutreffend erkennen musste. Der Vernunftinstinkt bei Fichte war ja gar nichts anderes als die unbewusst gläubige Zeit bei Carlyle. Ebenso entsprach die Em- pörung gegen den Vernunftinstinkt, wie sie Fichte ge- schildert, der Auflehnung des Intellekts gegen den Glauben, wie ihn Carlyle in den ,,Characteristics" ge- zeichnet, deren Kamen vielleicht eine Reminiscenz an die „Grundzüge" enthält; und auch für die nächsten zwei Epochen der Fichteschen Konstruktion fand Carlyle •entsprechende Entwickelungsphasen. Lebte doch auch ■er der Überzeugung, dass auf diese Zeiten der vollen- deten Sündhaftigkeit ebenso ein Durchbruch zum Glauben folgen würde, wie bei Fichte ein Durchbruch zur Ver- nunft, und dass dann eine gläubige Gemeinschaft der Mensehen, dem Fichteschen A^ernunftreiche ähnlich, mög- lich sein werde. Es kann kein Zufall sein, dass bei beiden Denkern sich dasselbe fünfgliederige Schema in der eigentümlichen Anordnung vorfindet, dass das dritte Glied den tiefsten Stand gesellschaftlicher Organisation bedeutet, und dass dieses Schema durch dasselbe Prinzip hervorgebracht wird. Die beiden ersten Stufen führen zu diesem unteren Xiveau herab, die beiden letzteren wieder aufwärts. Weitere Ähnlichkeiten in einzelnen Lehrstücken werden wir später zu bemerken haben; hier kam es auf den Schematismus der Gesamtauf- fassung an.

Es würde indes ein einseitig aufgefasstes Bild geben, M'enn wir lediglich die Koincidenzpunkte der Geschichts- philosophie Carlyles mit der Fichtes berücksichtigen wollten; der Vierzigjährige konnte sich an Fichte nicht

IJ

134 Kapitel 6.

so genau anschliessen, wie es der Fünl'undzwanzigj ährige an Goethe gethan hatte. So sehr Carlyle Fichte schätzte, so war er weit davon entfernt, in Heldenverehrung zu ihm aufzublicken. Fichte war für ihn ein (lleichstehen- der, ein Kampfgenosse in dem guten Kampf: als ein Vorbild hat Carlyle ilm nie anerkannt. Ausserdem ist es gefährlich, in der .Jagd nach Reminiscenzen zu weit i zu gehen; es läge z. B. nahe, Carlyles Wertschätzung^ / der That im Gegensatz zum Denkena|ui;_FicMe ,,.zuxuck- zuführen . da sie bei diesem den (xrundsatz seiner ge- samten Philosophie ausmacht; alier wir haben gesehen, dass hier der Einfluss „Wilhelm Meisters" massgebend war ; nur das Hineinstellen des Handelns ])is ins ein- ,^ zelnste in den allgemeinen Weltplan zur Realisierung der moralischen Weltordnung, das erst in dieser Periode bei Carlyle erscheint, wird auf Fichtesche Gedanken zurückgeführt werden kihmen. Doch sind auch direkte Gegensätze zwischen Carl^^es und Fichtes Geschiclits- philosophie vorhanden, und es lassen sich diese darauf zurückführen, dass Fichte, im Besitz eines philosophischen Systems, den Mut zur absoluten Wahrheit l)esass. wäh- rend Carlyle es auf systematische Vollständigkeit seiner Weltanschauung niemals angekommen ist. I)araus er- klärt sich, dass bei Fichte der Ablauf der fünf Perioden ein einmaliger ist, und mit dem Auftreten der „Wissen- schaftslehre" der definitive Sieg der A^ernunft entscliie- den werden sollte. Bei Carlyle dagegen ist der jedes- mal herrschende religiöse Gedanke doch nur von rela- tiver Wahrheit, mit zeitlichen Bestandteilen durchsetzt und daher dazu verurteilt, durch ein anderes hüheres Symbol abgelöst zu werden. Der Prozess der fünf Stufen muss sich daher, solange es Geschichte überhaupt giebt, wiederholen; bei Fichte die absolute Vernunft, bei Car- lyle das Ewige in der Form des Symbols gefasst.

Eine andere tiefgehende Verschiedenheit bietet die Behandluno; des Gottesbeo-ritfs. Bei Fichte ist Gott

Gott und die Geschichte. 135

nicht , sondern er w i r d. Unsere Aufgabe ist es , die moralische Weltordnung ((Tott) zu realisieren, in die Wirklichkeit hineinzusetzen, und wenn auch Fichte später , vor der Kühnheit dieses Gedankens zurück- schreckend, Gott als Substanz fasste, ihm ein Sein zu- schrieb, als Person hat er ihn nie gefasst. Dagegen tritt bei Carlyle gerade die Persönlichkeit (xottes, wenn auch nur als Symbol gefasst, in der Geschichtsphilo- sophie immer deutlicher hervor. Mit Vorliebe greift er auf die Vorstellungsweise 3Iiltons und des alten Testa- mentes zurück; in höchst persönlicher That regiert Gott die Geschichte der Menschen und der Völker. Carlyle war sich stets bewusst, symbolisch zu reden, und daher ist es nicht thunlich, ihn in dieser Epoche als Theisten darzustellen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass, je älter er wurde, solche Ausdrucksformen immer öfter, namentlich in seinen populären Schriften, wiederkehren. Wenn wir somit die Beziehungen Carlyles zur Ge- schichtsphilosophie Fichtes betrachtet haben, so müssen wir nunmehr dazu übergehen, die Gedankenfäden zu ver- folgen, welche die Geschichtsphilosophie mit dem Stand- punkt des „Sartor llesartus" verbinden. Da ist es vor allem die Symboltheorie, die hier einen ebenso wichtigen Bestandteil bildet wie in dem Roman. In seinen Vor- lesungen über „Helden und Heldenverehrung" hat Car- lyle gerade auf diesen Begriff den allerhöchsten Wert gelegt. Hier erscheint der Fortschritt in der Geschichte geradezu dadurch bedingt, dass immer andere gott- begeisterte Männer auftreten, die das ewige Geheimnis Gottes und der Xatur in immer adäquateren, immer mehr dem Wesen Gottes sich annähernden Symbolen zusammenfassen. Sie lernen eine Seite, einen Satz in dem grossen Buche der Xatur richtiger lesen, und ge- rade darin, in dieser genaueren Beziehung zu Gott und zur Xatur, d. h. zu den Thatsachen selber, besteht ihre Grösse. So ist das Leben des Helden zu «deicher Zeit

136 Kapitel 6,

ein Leben in der Wahrheit. Heldenhaft ist die mensch- liche Seele, insofern ihr der Drang zur Wahrheit inne- wohnt und sie mit der Lüge nichts zu schaffen halben will, mit ihr zusammen nicht leben kann.

Das Auftreten solcher Helden ist nun aber nicht trotzdem Carlyle häufig in diesem Sinne interpretiert wird auf die positiven, religiösen Zeiten beschränkt. Freilich der Held allein kann ein religiöses Zeitalter nicht schaffen, sein Wort muss auf frnchtbaren Boden fallen, und findet es diesen nicht, so verhallt es wir- kuno'slos. Carlvle liebt es. diese fruchtlose Predigt in Anlehnung an eine mohammedanische Legende mit ba- rockem Humor auszumalen. Danach sei Moses zuerst zu einer Völkerschaft am Toten ]\Ieer gesandt worden, um ihr seine göttliche Mission zu predigen. Aber „die Leute am Toten Meer fanden, wie das die Lakaien- spezies immer bei Helden oder Propheten findet, keiner- lei gesellschaftliche Anmut in Mose; sie hörten ihn mit wirklicher Langerweile, mit leichtem Clrinsen, mit mür- rischem Schnüffeln an und thaten selbst, als ob sie gähnten; kurz, sie bedeuteten ihm, dass sie ihn als Schwindler, als Überlästigen ansähen. Das war die auf- richtige Ansicht, die sich diese Leute vom Asphaltsee über Moses bildeten: wahrscheinlich sei er ein Schwind- ler, gewisslich aber ülierlästig .... Moses zog sich zurück, jedoch die Natur und ihre strenge Folgerichtig- keit zog sich nicht zurück. Die Leute am Toten Meer waren, als wir sie das nächste Mal aufsuchten, alle „zu Affen verwandelt", die auf den Bäumen sassen und jetzt in höchst unaffektierter Weise grinsten, schnatterten und sehr natürlichen Unsinn plapperten; jetzt fanden sie, dass das ganze Weltall der unliestreitbarste Schwindel sei! Für diese Affen, die es dafür hielten, ist dieses Weltall zum Schwindel geworden. Da sitzen sie und schnattern noch bis zur heutigen Stunde, nur glaube ich, kommt ihnen an jedem Sabbat ein verworrenes Halb-

Der Held und seine Zeit. 137

bewusstsein. ein Halberinnern; und sie sitzen da mit ihren verrunzelten, vom Raucli vertrockneten Gesiclitern und einer so tragischen Miene, wie sie Affen nur immer aufbringen können, und sehen mit ihren zwinkernden, rauchgetrübten Aiigen, in das wunderliare. allgemeine, räucherige Zwielicht und das unentzifferbare, ungeord- nete Düster der Dinge. Dieses und sie sich selbst sind ihnen völlig eine Ungewissheit, ünverständlichkeit, die sie hie und da mit einem musikalischen- Schnattern und Mauzen kommentieren: es ist der wahrste, tragische Schwindel, den je Mensch oder Affe sich vorstellen kann! Sie machten keinen Gebrauch von ihren Seelen und des- halb haben sie sie verloren. Ihre Sabbatheiligung be- steht jetzt darin, dass sie mit unmusikalischem Kreischen auf den Bäumen sitzen und sich hall) erinnern, dass sie Seelen hatten."*)

Es ist schlimm für den Propheten, keine Hörer zu finden, d^enn der Erfolg bleibt seinem Leben versagt, aber er kann ein heroisches Leben weiterleben, wie wir es bei Johnson gesehen haben. Him bleibt das „heilige Element des Schweigens", und sein Leben ist voll von stillem und ruhi2:em Pathos. Es ist sehr viel schlimmer für die Menschen, die den Propheten nicht hören wollen oder können denn vielleicht ist Wahrheit in der alten mohammedanischen Sage.

Andererseits aber meint Carlyle allerdings, dass für Heldengestalten erster (Irösse der Widerstand ihrer Zeitgenossen nicht unüberwindlich und nicht eine letzte Thatsache ist. Der Held kann sich zum grossen Teil seine eigene Zeit schaffen. Johnson konnte bei aller Wahrhaftigkeit seines AVesens sein Zeitalter nicht ver- ändern. ]\Iohammed fand ähnlichen Widerstand, aber «r war weit davon entfernt, seinen eigenen Weg zu gehen und seine Zeitgenossen ihren Weg gehen zu lassen, sondern er zwang sie mit ziemlich peremptorischen Me-

*) Einst und Jetzt (Fast and Present). S. 182.

138 Kapitel 6.

thoden auf den seinen lierüber. Infolge dieser Methoden und durch Berücksichtigung dessen, was in seiner Lehre falsch ist, hat die Nachwelt ein recht ungünstiges Ur- teil über Mohammed gewonnen, (xläuhige Christen wie rationalistische Aufklärer sind einig in seiner Yerur- teiluno- o-ewesen. Sein Prophetentum wurde durch Liebe zur 3Iacht. zu (Tlücksgütern, zu Weibern, zur (rrausam- keit in der befriedigendsten Weise von der AVeit „er- klärt". Gegen diese Ansichten aufgetreten zu sein, ist eins der grössten Verdienste Carlyles. Mit seinem in- stinktiven Spürsinn gelang es ihm, durch alle diese Vor- urteile hindurch bis zum innersten Kern des Menschen 3Iohammed einzudringen . seine mächtige Seele dem geistigen Auge des Beschauers darzulegen. Wunderbar schildert er den in seinem Xomadenstamm heranwach- senden Knaben, eingehegt von liebender Sorge der Ver- wandten, umgeben von der schweigenden Pracht des ge- stirnten Himmels, wie der Knabe sich dann entwickelt zum aufrichtigen, treuen, zuverlässigen ]\Iann, zu einer geachteten Stellung in seinem Stamm, und wie dann langsam die Erkenntnis in ihm reift, dass nur ein Gott sein könne, dass die (xottesverehrung der Seinen ein Götzendienst, wenn nicht etwas Schlimmeres sei. und dass Gott ihn. gerade ihn. dazu auserwählt habe, diese Wahrheit zu verkünden. Weinend muss er den Er- mahnungen der Stammesgenossen widerstehen, sein Ver- mögen, seine Stellung gehen verloren. augenschein- lich nicht der richtige Weg, um zu Ehre und Erfolg zu gelangen, nur Kadijah, sein treues Weib, die erste Gläubige, steht zu ihni und tröstet ihn, wie er sie be- kehrt hat. Und als die Zeit der Erfolge kam. da brachte sie ihm wenig genug an zeitlichen Gütern, aber unendliches (xut in dem (iredanken. dass jetzt Wahrheit herrsche, wo früher Lüge geherrscht hatte; dass er den Auftrag Gottes als ein treuer und tapferer ]\Iann, so- weit seine Kräfte reichten, ausgeführt habe.

Positive Zeiten, 139'

Alle Helden weisen dieselben Züge auf. Sie sind gotttrunkene Menschen, denen ihre (xüter, die Meinung der Mitmenschen, ihr eigenes Leben wenig gelten gegen- über den Gedanken, die sie beleben, von deren Wahr- heit sie überzeugt sind, und bei denen zu stehen und zu fallen für sie kein Verdienst ist, sondern die Notwendig- keit ihres Wesens. Sie können gar nicht diesem ihrem eigentlichen T>,ebensinhalt untreu werden, ohne mehr zu verlieren, als die Schätze der ganzen Welt ihnen zu geben vermöchten; auch werden sie durch den Gedanken der Relativität des Symbolischen in ihrer Predigt wenig gestört. Wer einmal wirklich im Herzen von einer Wahrheit ergriffen worden ist, den kümmert es wenig, ob spätere Zeiten und Menschen anderes oder mehr wissen werden. Gott hat zu ihnen gesprochen, ihr Leben ist in seinem Dienst, und sie haben seinen Auftrag zu vollziehen.

jr^eine Anhänger gewinnt der Held nicht durch lu- ^che Begründung seines Standpunktes; so wie er durch Intuition, wenn auch nach noch so schweren inneren Kämpfen, seine Weltanschauung ganz und vollständig wie ein organisches Wesen aus seinem Geiste gebiert, so kann er das Evangelium, das er zu bringen bestimmt ist, nicht beweisen, aber er kann überzeugen. Und diese Überzeugung bringt in den Jüngern die gleiche frohe Gewissheit hervor, dass sie auf dem rechten Wege sind, dass ihr Leben nunmehr erst einen wahren Kern und Inhalt gefunden hat. Mit glückseligstem Erstaunen blicken sie in diese Welt, die früher leblos und wider- strebend war, und die sie nunmehr als lebendig, beseelt, ein Abbild Gottes erkennen können. Damit aber ent- steht in ihnen ein Gefühl überschwenglicher Dankljar- keit, gänzlicher Hingabe ilirer Güter und ihrer Person an den Mann, der ihnen diesen neuen Lebensinhalt ge- geben hat. Sie sind bereit, alles zu opfern, aber sie sind auch bereit, im Dienste dieser Weltanschauung und

140 Kapitel 6.

ihres Propheten zu arbeiten, nicht mehr im trUlieren Sinne, da sie als einzelne Indivifhien für sich selber ar- beiteten, sondern als Mitglieder einer neuen Organisation mit treuer Heldenverehrung und Loyalität gegen den Führer. Damit aber erhält die Arbeit selber Wert und Würde, denn sie ist integrierender Bestandteil dieser Weltanschauung geworden.

Immer weitere Kreise werden in den Bereich dieser AVeltanschauung hineingezogen: die ganze menschliche •Gesellscliaft mit all ihren Lebensanschauungen kristal- lisiert sich um diesen festen Punkt. Religion, Wissen- schalt, soziale Gliederung, die tägliche Arbeit, sowie Stunden des Festes und der Erholung sind Ausgestal- tungen der schöpferischen Weltanschauung, die durch den Helden in die Welt kam. Und je lebendiger die Treue und Heldenverehrung in den Clemütern lebt, um so selbstverständlicher ist ihr Vorhandensein als eine gemeinsame Voraussetzung der Lebensführung.

3Iit feinem Blick hat Carlyle gesehen, dass in den 'Chroniken alter Mönchsklöster wenig von Religion und wenig vom „Weg zum Heil" die Rede ist, dagegen viel von Zehnten und Gülten, von Marktgerechtigkeit und Kornpreisen. Es hatte eben für diese Männer keinen besonderen Zweck, über das zu reden, was in allen gleich lebendig, gleich gegenwärtig war. „Der Gesunde spricht nicht über seine Gesundheit, nur der Kranke seufzt ihr nach.'- Eine gesunde Zeit a1)er ist die. in ■welcher der Glaube selbstverständlich und jedem Men- schen gegenständlich ist. Daraus ergiebt sich auch Carlyles Stellung zum Mittelalter überhaupt. Sie ist ähnlich der, welche Fichte und die Romantiker in Deutchland gegenüber den Aufklärungsphilistern be- gründeten. AVährend jedoch bei Tieck und Wackenroder das ästhetische Element, die Schätzung der mittelalter- lichen Kunst überwiegt, ist es bei Fichte und Carlyle ^der sewaltijxe Eindruck einer einheitlichen, in sich ge-

Stellung zum Mittelalter. 141

schlossenen Weltanscliauimg, in welcher der Einzelne lebte und seine Stelle kannte. Die festen (Frenzen, welclie die Rechte des Einzelnen von denen der andern abschlo.ssen, wurden geachtet, weil auch sie in letzter Linie in dem gemeinsamen Lebenselement der Religion begründet waren. Man muss den ersten Teil von ..Einst und Jetzt" (Fast and Present) lesen, um die gegenständ- liche Art der Scliilderung vergangener Zustände, die Carlyle eigentümlich war, recht ermessen zu können. Nur eins verlangte er von seinen Lesern, nämlich dass sie glauben sollen, es hätten im Mittelalter wirkliche Menschen gelebt, und wird ihm dies Zugeständnis ge- macht, dann lockt er dieses Leben aus den wenigen Blättern einer zufällig erhalten gebliebenen Mönchs- chronik hervor. Wir kennen diese Männer alle, von dem Schreiber der Chronik, Jocelin de Brakelonda. bis zu dem tapfern Abte Samson, der das zerrüttete Kloster mit strenger und weiser Hand wieder zu einer Stätte der (xottesverehrung macht und einen harten Kampf nicht ohne hinlänglichen Erfolg durchkämpft. Die ewige Lampe am Schrein des heiligen Edmund wird sichtbar und leuchtet mit rötlichem (xlanz durch sieben Jahr- hunderte bis zu uns, und wir sehen, dass damals nicht pittoreske Mönche, zierliche Frauen auf Zeltern und glänzend ausstaffierte Ritter mit romantischen Neigungen die Welt erfüllten, und dass diese Welt nicht ein unter- haltender Roman war, sondern dass Männer sie l)ewohn- ten, die ihre harte Arbeit zu thun hatten und sie in einem Geist thaten, der für viele heute unmöglich ge- , worden ist: nämlich in dem Bewusstsein, dass es einen Himmel über ihnen, eine Hölle unter ihnen gebe, und dass vor einem ewigen Tribunal ein unwiderrufliches Urteil über ihre Handlungsweise gesprochen werden würde. Deshalb ist Dante für Carlyle einer der gröss- ten Dichter geblieben, weil er das Epos dieser Welt- anschauung, welche Millionen Menschen zusammen ge-

14 '2 Kai'itel 6.

führt und zusammen erhalten hatte, in unver<:i;änglicher Sprache für seine und alle kommenden Zeiten gesungen hat. Es wäre aber durchaus verkehrt, wollte man nach solchen Äusserungen C'arlyle zu einem blinden Be- wunderer des Mittelalters stempeln. Für ihn war die Vergangenheit niemals Gegenwart in dem Sinne, dass er an Stelle der Ciegenwart gewünscht hätte, die Ver- gangenheit zu setzen. IMan kann ihn insofern aller- dings einen Romantiker nennen, als er sich klar l)ewusst war. dass vergangene Weltanschauung, vergangene Ideale wohl im Geist wieder lebendig gemacht werden können. und dies war für ihn sogar eine der Hauptaufgaben der Geschichtsschreibung. Doch blieb er ein Mann der Wirklichkeit in dem Sinne, dass er alle Versuche, eine vergangene Weltanschauung ins wirkliche Leben wieder zurückzuführen für einen Anachronismus . für die schlimmste Versündigung wider den Geist der Geschichte hielt. Denn ein jedes Symbol des Göttlichen muss seiner Xatur nach, um auf die Zeit wirken zu können, zeit- liche Elemente in sich aufnehmen ; das wirkliche Leben soll ihm ja nicht fremd gegenüber stehen, sondern von ihm ergriffen und umgestaltet werden. So ist das Moment der Zeitlichkeit ein notwendiges Element jedes Systems der Weltanschauung. Hierin liegt zu gleicher Zeit seine Stärke, wodurch es aus einem Gedanken zur That werden kann und unzählige gute Arbeit ermög- licht, aber es liegt darin notwendigerweise auch das ]\Ioment der Schwäche und des Verfalls. Xanientlich aber zeigt sich dies in dem Verhältnis, in welchem die Vernunfterkenntnis zur Verstandeserkenntnis steht. Der Verstand hat es mit der Erforschung der räumlich- zeitliclien Erscheinungen zu thun. seine Aufgabe ist es, die kausalen Zusammenhänge innerhalb dieser Erschei- nungen zu erkennen. Wissenschaft zu geben. Die Er- gebnisse dieser Wissenschaft ordnen sich alsdann dem (■rlaubenssystem ein und thun dies selbstverständlich in

Übergangszeit zum Unglauben. 143

der Form , welclie die Wissenschaft zur Zeit der Aus- bildung der betreffenden Weltanschauung hatte.

Auf diesem Punkte aber bleibt die Wissenschaft nicht stehen. Neue Erkenntnisse werden gewonnen, und diese werden notwendigerweise entweder an sich oder in ihren Konsequenzen in Widerspruch zu dem (xlaubens- system treten. Dieser Prozess ist natürlich ein sehr langsamer. Allerdings „kann der Sohn nicht genau das glauben, was der Vater geglaubt hat", aber auf lange Zeiten hinaus kann die folgende Generation glauben, dass sie vollständig auf dem Boden der Weltanschau- ung ihrer Väter steht. Es wird alsdann das Bestreben entstehen, die neuen Erkenntnisse restlos in die be- stehende Weltanschauung einzuarbeiten. Es beginnt das Zeitalter der Scholastik, welche die Arbeit der Ein- fügung des aristotelischen Systems in die christliche Weltanschauung mit so bewunderungswürdigem Scharf- sinn und teilweisem Erfolg unternahm. Die Arljeit dieser Männer geschieht durchaus in gutem (xlauljen, aber sie wollen doch einen anderen Boden der (lewiss- heit finden, als ihn wirklich gläubige Zeiten gehabt haben. Es genügt ihnen nicht mehr, einfach die Offen- barung hinzunehmen, sondern sie wollen diese verstandes- mässig beweisen. Die logische Begründung tritt an Stelle der naiven Annahme. Gott, seine Gerechtigkeit, seine Güte sind nicht mehr selbstverständlich, sondern müssen verteidigt und bewiesen werden. Man liest nicht mehr die heiligen Bücher, sondern man schreibt Theo- diceen.

Neben diesen rein geistigen Vorgängen treten auch soziale auf, die vielleicht noch mehr geeignet sind, das bisherige durch die religiöse Idee zusammengehaltene Gefüge der menschlichen Gesellschaft zu sprengen. Jede religiöse Zeit ist nach sozialer Seite hin als eine Methode zur Organisation der Arbeit aufzufassen. Die Arbeit ^des Einzelnen muss, um fruchtbringend zu werden, in

144 Kapitel 6.

einen griisseren Zusammenliang liineingesetzt werden. Es entstehen gesellschaftliclie Verbände, es werden Auf- seher der Arbeit, Lehrer der Weltanschauung, (xesetzes- wächter (Law-wards oder Lords), notwendig: an die Spitze des Ganzen tritt ein tüchtiger Mann, ein König, ein Papst, oder wie dieser höchste AVürdenträger sich sonst nennen mag. Aber es ist im strengsten Sinne zu nehmen, dass alle (Jbrigkeit von Gott ist bis herab zu dem einfachsten Arbeiter, der durch seiner Hände Werk seine Familie erhält und als Hausvater der von Gott bestellte Verwalter der Autorität ist. Doch auch diese Institutionen, und namentlich die der höhern Würden- träger, stehen in der Zeitlichkeit und zahlen der Ver- gänglichkeit ihren Zoll. Xur zu leicht vergessen diese Führer, dass sie lediglich ein Amt zu erfüllen haben, und dass von der Art, wie sie es erfüllen, ihre bevor- zugte Stellung abhängt. Wenn sie nur noch die Vor- züge ihrer Stellung gemessen wollen, ihre Pflichten aber als unbequem empfinden, so ist für diese Gesellschaft der Tag der Götterdämmerung nahe. Denn wie es das höchste Glück für den Menschen ist. gerecht regiert zu werden, so ist es sein hijchstes Unglück, ungerecht oder garnicht regiert zu werden. Alsdann gehen zwei Strömungen, eine geistige und eine ökonomische zu- sammen, um mit dem Alten aufzuräumen, und ihre Vereinigung ist stark geniig, alle Dämme und Schutz- wehren, alle einstmals lebendig gewesenen Formeln zu durchbrechen und mit sich fortzureissen.

Verfolgen wir zunächst die geistige Richtung. Je schwieriger das Einarbeiten der wissenschaftlichen Resul- tate in das alte Glaubenssystem wird, um so notwendiger ist das Dasein einer Klasse von Männern, die man als Genies mit umgekehrtem Vorzeichen bezeichnen könnte. Für sie erscheint eine Versöhnung der Gedankenmassen, der Wissenschaft und des Glaubens eine unmögliche Thatsache. und sie entschliessen sich, die alten Symljole

Negative Zeiten. j^45

Öffentlich als das zu bezeichnen, wofür sie von vielen ihrer Zeit lange gehalten worden sind, als unwahr, un- zulänglich, unglaubwürdig. Gemeinsam mit den wahren Genies ist ihnen die Liebe zur Wahrheit, insofern sind sie achtungswerte Erscheinungen, denen ein gewisses Mass von Bewunderung nicht versagt werden kann. Aber während die Genies der positiven Zeiten es ver- mögen, eine neue höhere Weltanschauung zu bilden, liegt die Hauptaufgabe der Genies der negativen Zeiten in Zerstörung des Überlebten, Forträumen des Ab- gestorbenen. Und diese Thätigkeit ist niemals eine un- nütze. Es ist nicht zu befürchten, dass irgend etwas noch Lebensfähiges ihren Angriffen erliege, aber je früher sie einstige Wahrheiten, die nun zu Lügen ge- worden sind, frühere Symbole, die einst den sozialen Körper schützten und ihn jetzt pressen und einengen, fortschaffen, um so grösser wird ihr Verdienst sein. Dieser Art sind ]\Iänner, wie Voltaire und Diderot, und ihre Zeitgenossen wussten sehr wohl, weshalb sie diese Männer als Helden verehrten und ihre 3Ieinungen für wahr und verbindlich erklärten. Sie waren ebenso Heldenverehrer mit negativem Vorzeichen, wie ihre A'or- bilder Helden waren. Es kam ihnen gar nicht darauf an, ihre Seelen in irgend welche Symbole kleiden zu können, sondern sie wollten nur frei von allen Vor- urteilen nicht ein heldenhaftes, sondern ein wahres Leben führen, wie sie eben die Wahrheit verstanden. Der Geist war für sie ein Gas geworden, das Weltall eine leblose Maschine, der Glaube eine Unmöglichkeit und das einzige Ziel des Menschen in dieser Welt, so glücklich wie möglich zu werden. Sehr fein macht Carlyle darauf aufmerksam, dass das Negative in den Werken dieser Männer gerade darin besteht, dass ihr ganzer Witz sich gegen die Überreste früherer posi- tiver Zeiten richtet. Diese einmal weggeräumt, so bieten solche Männer den Anblick von Belagerungsmaschinen,

H e nse 1 , Carlyle. 10

14(3 Kapitel 6.

die mit ihren Widderköpfen furchtbare Schläge in die leere Luft ausführen. Wo sie einmal positiv sein wollen, wie z. B. beim Reden über die Tugend, kommen sie über eine thränenselige Rührung nicht hinaus. Es ist ein Predigen trübseligster Art, das bei aller Aufrichtig- keit des Redners der Hörer kaum für ernsthaft gemeint halten kann.

Am meisten aber tritt der Einfluss dieser Männer, der ..mangeurs de formules", wie sie Carlyle nach dem wohlbekannten Beinamen Mirabeaus nennt, in ihrer Einwirkung auf die oberen Klassen hervor. Diese, die ihre Berechtigung nur innerhalb der früheren Gesell- schaft hatten, beginnen nun, diese Gesellschaft und damit sich selber zu verneinen. Bei der Verfolgung gegen die Encyklopädie ist ein Teil des Adels, ein grosser Teil der Geistlichkeit, ja die Polizeibehörde selbst auf Seiten Diderots. Man kann füglich sagen, dass die französische Revolution schon vor ihrem Be- ginn entschieden war. TJnd doch legt Carlyle in seiner grossen Geschichte der französischen Revolution auf diese geistigen Faktoren auffallend geringen Wert. Nichts zeigt deutlicher seine Abkehr von seiner früheren ausschliesslich litterarischen Richtung als dieser Ver- such, das grösste Ereignis der neueren Geschichte fast ausschliesslich aus ökonomischen und sozialen Zuständen zu Ijegreifen. Voltaire und Diderot werden kaum, Rousseau, soviel ich sehen kann, ül)erliaupt nicht er- wähnt. Die Widerstandsunfähigkeit der höheren Klassen wird zwar berührt, aber im wesentlichen nur als Resul- tat ihrer Genusssucht und des gänzlichen Vergessens ihrer sozialen Aufgaben dargestellt. Dem gegenüber erhebt sich riesengross das materielle Elend des Volkes, sein dumpfer aber richtiger Instinkt, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne, und die gänzliche Un- möglichkeit, etwas Neues. Haltbares herzustellen. Mit vollendeter Meisterschaft weiss Carlvle in uns den Ein-

Französische Revolution. 147

druck zu erwecken, dass, namentlich seit dem Tode Mirabeaus, keine göttliclie und menschliclie Kraft den Zusammenbruch des französischen Königtums aufhalten konnte. Neben den unbelelirl)aren Hof. neben die wohl- meinenden beratenden Körperschaften tritt zuerst als Tritagonist, allmählich in die erste Stelle vorrückend, das Volk von Paris. Ich glaube, dass die Franzosen niemals besser geschildert worden sind, als in diesen Kapiteln Carlyles über die Massenbewegungen in den alten Strassen von Paris. Die Verbrüderung niedrigster Blutgier mit überquellendem Enthusiasmus, vollständiger Ratlosigkeit mit plötzlicher fieberhafter, auf irgend ein wahnsinniges Ziel gerichteter Thätigkeit. die täglichen Pilgerfahrten zur (xuillotine und dann die sanfte Rührung an einem Tage des Priedens, ein Fest des höchsten Wesens all diese widersprechenden und doch gleich wirklichen Zustände hat Carlyle mit höchster Meister- schaft erfasst.

Äusserst beachtenswert für Carlyles Geschichts- philosophie ist der Abschnitt über den Kampf der Girondisten mit der Bergpartei (IMontagne): überzeugend wird hier gezeigt, wie die Girondisten gänzlich ausser Stande waren, aus den Negationen, die ihre "Welt- anschauung l)ildeten. eine positive Neuordnung der Ge- sellschaft vorzunehmen, und wie sie deshalb bei allen wichtigen Fragen trotz ihrer rednerischen Begabung halt- und kraftlos sich von der öffentlichen Meinung des Tages treiben lassen mussten. Auch die Bergpartei siegte nach Carlyles Ansicht nicht dadurch, dass sie den Gegnern irgend ein positives Programm gegenüljer- stellen konnte, sondern sie hatte ihren Erfolg lediglich dem Umstand zu verdanken, dass sie über die Fäuste und Piken der proletarischen Sektionen von Paris dis- ponieren konnte. Dieser Appell an die Gewalt wird dann von Napoleon zur Regierungsmaxime erhoben. Dieses einzige positive Erbteil, das er aus der Zerstörung der

148 Kapitel 6.

alten Regiernngslorm in Frankreich sicli zu eigen machen konnte, ist das Geheimnis seines Ertblges. JJie Nivel- lierung der Gesellschaft war vollständig vollzogen, und nun war die Bahn jedem Ehrgeiz, jedem Talent eröffnet, und dieses erkannt zu haben, ist die Weltbedeutung- Napoleons. Ob sich freilich hieraus eine neue Aristo- kratie entwickeln könne, ob in Frankreich überhaupt noch eine Epoche des Glaubens möglich sei, erschien Carlyle im weitern Verlauf seines Lebens und seiner Erfahrung immer zweifelhafter.

Aber im Verlauf der Geschichte als Ganzes be- trachtet, können solche auflösenden Epochen niemals dauernd sein und niemals dazu führen, das gesamte Ge- füge der menschlichen Gesellschaft bis zum Nullpunkt herab zu zerstören. Dieser Nullpunkt würde das gleich- gültige Nebeneinander der einzelnen geistigen Individuen bedeuten, die sich alsdann ebenso interesselos und in- different zu einander verhalten würden, wie die einzelnen körperlichen Atome der mechanischen "Weltanschauung. Ebenso wie diese als einzeln für sich bestehenden Atome und ohne die ]\Iöglichkeit aufeinander einzuwirken, für sie gleichgültige Verbindungen eingehen, werden auch die menschlichen Atome immer nur äusserlich zu ^'ereinen, niemals innerlich zu Lebensgemeinschaften zusammen- treten können. Doch kann dieses unterste Niveau nie- mals erreicht werden; eine vollständige Atomisierung der menschlichen Gesellschaft ist unmöglich. Bei aller Zersetzung des unbrauchbar Gewordenen bleiben in Sprache, in Schrift, in gemeinsamer Litteratur sowie auch in den Gewohnheiten des täglichen Lebens, die die Familie , die Nachbarn , die Bürger miteinander ver- binden, unsäglich viele Errungenschaften einer frühern bessern Zeit lebendig, und auf diesem sichern Unter- grunde können dann neue, weisere Propheten und Seher wieder anfangen zu l)auen, ihr neues Evangelium zu verkünden. So war es für Carlyle ein froher Gedanke,

Die Gerechtigkeit als Piinzip. 149

dass während die Stürme der französischen Revolution Europa durchtobten. Goethe und mit ihm so viele andere edle 3Iänner in Deutschland den Weg zu einer positiven Weltanschauung für die gesamte Menschheit fanden. Koch bevor der frühere Pliünix in seinem Flammengrabe sich verzehrt hatte, war der neue geboren.

Wenn wir uns nunmehr fragen, was als letzter Eichtungspimkt jeder sozialen Vereinigung zu gelten hat. so giebt Carlyle in seiner Betonung der Gerechtig- keit die Antwort darauf. Jedes menschliche Wesen hat Anspruch darauf, gerecht behandelt zu werden ; es giebt kein Recht auf den Genuss, wohl aber ein Recht auf Gerechtigkeit: auch harte und drückende Zustände ver- mag der Mensch zu ertragen, so lange er sie als gerecht anerkennt. Erst von dem Augenblick an. wo dieses Ge- fühl nicht mehr vorhanden ist, empört sich seine Seele nicht gegen seine materielle Lage als solche, sondern gegen die Ungerechtigkeit, welche sich in dieser mate- riellen Notlage ausdrückt. Xicht aus Hunger entstehen Revolutionen, sondern aus dem häufig nur dumpfen Ge- fühl, dass keine Gerechtigkeit mehr auf Erden ist. Ein hungernder Mensch vermag im schlimmsten Falle zu sterben, aber dem ungerecht Bedrückten ist das Leben schlechthin wertlos.

Diese Sätze sind zunächst rein formal, und Carlyle ist weit davon entfernt, nun etwa bestimmen zu wollen, wie sich für alle Zeiten und Völker dieses Gebot der Gerechtigkeit in einer für immer gültigen Formel fest- stellen Hesse. Vor diesem Fehlschritt bewahrte ihn sein gesunder historischer Sinn. Alle Weltanschauung, alle Religions-systeme, alle grossen Männer haben danach gestrebt, dass Gerechtigkeit auf Erden sei, doch ewig, wie der Gang der Weltgeschichte selbst, wird das Be- mühen der Menschheit sein, dieses Ideal in die Wirk- lichkeit zu versetzen. Immer wieder werden die früheren Versuche zur Lösung als ungenügend erkannt werden,

150 Kapitel 6.

immer wieder werden neuere und bessere an ihre Stelle treten. In jeder menscUiclien Gesellschaft muss ein Minimum von Gerechtigkeit vorhanden sein, das sie zu- sammenhält, was aber das Maximum sein kann und sein wird, bleibt unsern Augen verborgen, und doch linden wir im Streben, dies Maximum zu erreichen, wie Faust am Ende seines Lebens, unser höchstes Glück.

Es ist darüber gestritten worden, oh die Geschichts- philosophie Carlyles auf moralischer oder religiöser Basis beruhe. Die Antwort kann nach dem. was wir von der geistigen Entwickelung Carlyles wissen, nicht zweifelhaft sein. Wir haben gesehen, dass er sich zu- muten konnte, ein Leben ohne Gott zu führen, dass ihm aber das Aufgeben seines moralischen Ichs eine L^nmög- keit war. Und so bleibt gerade wie bei Fichte der eigentliche Schwerpunkt des historischen Geschehens in den sittlichen Entschluss des einzelnen Individuums liin- eingestellt. Daraus ergiebt sich noch eine stärkere Be- tonung der Selbstständigkeit des Individuums in der Ge- schichtsphilosophie, als mr sie schon in der Naturphilo- sophie antrafen. Während der Pantheismus bei Xovalis doch vielfach der Selbstständigkeit des Individuums Ein- trag thun konnte, musste sich zunächst diese Gefahr für die Geschichtsphilosophie steigern. Die Annalune eines Weltgeschehens, die Annahme einer festen Aufeinander- folge von Epochen, in denen dieses sich als Weltgeschichte vollzieht, konnte sehr leicht dazu führen, das einzelne Individuum lediglich als Werkzeug in der Hand Gottes zur Realisierung dieses Weltplanes zu betrachten. Für Carlyle war diese Versuchung um so grösser, als sie sich mit der Theologie von John Knox in leichtester Weise verbinden lässt. Dass er dieser Versuchung nicht erlegen ist. ist das Verdienst des deutschen Idealismus und namentlich Fichtes. Die Freiheit des moralischen Individuums ist so sehr der selbstständige Ausgangs- punkt für die (geschichtsphilosophie Carlyles. dass er

Das Individuum in der Geschichte. 151

vor der Konsequenz einer Durclikreuzimg des göttlichen Weltplans durch den Willen zum Bösen im handelnden Menschen nicht zurückschreckt. Damit wird eine un- geheure Verantwortung dem menschliclien Handeln zu- geschoben. Die Perioden des Verfalls und der Auflösung sind im strengen Sinn nicht von Gott gewollt, sondern sie stellen die Auflösung der von Gott gewollten und früher lebenskräftigen Wesen und sozialen Ordnungen durch den Unverstand und die Sünde der menschlichen Natur dar. Wenn Carlyle häufig bis zu der Ausdrucks- weise sich versteigt, als stünden der Heerschar Gottes auserwählte Regimenter des Teufels*) gegenüber, so ist dies selbstverständlich eine bildliche Ausdrucksweise, Ein selbstständiges Hecht des Bösen konnte in der pan- theistischen Weltanschauung Carlyles niemals eine Stätte finden, wohl aber steht der Macht des Guten als verein- zelte Erscheinung das Böse in der menschlichen Seele gegenüber. Und gerade in dieser Vereinzelung, in dem Ausscheiden aus der göttlichen Ordnung ist das Wesen des Bösen zu suchen. Die Entscheidung darüber, welche Richtung das eigene AVollen zu nehmen hat, und damit die Entscheidung über den Wert oder den Unwert des eigenen Lebens ist nicht Folge einer göttlichen Prä- destination, sondern durchaus Sache des eigenen freien Willens.

Mit dieser centralen Stellung des Individuums, mit dieser Einsicht, dass durch eigene freie Entscheidung der Einzelne sich in die Reihe „der Kämpfer für den guten Kampf" stellen oder fahnenflüchtig werden kann, ist nunmehr auch die bei Carlyle immer mehr zuneh- mende Schärfe in der Beurteilung von 3Ienschen und menschlichen Dingen erklärt. Es ist häufig darauf auf- merksam gemacht worden, dass bei zunehmendem Alter

*) Vergleiche , Flugschriften aus elfter Stunde" (Latter-day Pamphlets) Kap. über Mustergefängnisse.

152 Kapitel 6.

Carlyle immer schroffer, oder wie man gewöhnlich sagt, „pessimistischer" in seinem Urteile wurde. Ein wohl- bekannter, amerikanischer Autor. James Freemann Clarke, hat als Erklärungsgrund dieser Thatsache eine ang^eb- liche Abkehr Carlyles von den Gedanken des Christen- tums konstruiert. Nichts kann falscher sein! Die Gründe zu dieser thatsächlichen Anderunnr lieoren vielmehr notwendig in dem Plan einer Geschichtsphilo- sophie überhaupt. ,

So lange Carlyle lediglich das Verhältnis des In- dividuums zur Natur und zu Gott betrachtete, konnte er leichter die Unzulänglichkeiten in dem moralischen Verhalten des Einzelnen mit wohlwollender Milde l)e- urteilen. Der irrende Mensch blieb für ihn doch ein Bruder mit den gleichen Ansprüchen an die Liebe Gottes, sein Irrtum konnte als die Folge seiner Umgebung, der Zeitverhältnisse angesehen werden und in hohem Grade als entschuldbar erscheinen. Das aber wird anders, so- bald der Einzelne als Helfer oder Mitarbeiter oder als Gegner und Fahnenflüchtiger einer moralischen Welt- ordnung betrachtet wird. Sein Fehler erscheint nicht mehr als Irrtiun. sondern im eigentlichsten Sinne als Sünde. Die rein individualistische Behandlung der litte- rarischen Periode verschwindet nicht, wird aber einem absoluten Massstab untergeordnet. Auch die Entschul- digung durch den Zeitgeist und die Umstände, die wir in den frühern Aufsätzen Carlyles so häufig gefunden haben, erscheint nunmehr als nicht stichhaltig. Die ewigen Thatsachen Gottes und der Natur liegen vor den Menschen in den Perioden des Unglaubens ebensowohl wie in denen des Glaubens. Es ist ihre eigene und nur ihre eigene Schuld, wenn sie ihr Gemüt dagegen ver- härten. Wir mögen ein mehr oder minder grosses Mass von Mitleid dem irrenden Menschen nach wie vor ent- gegen bringen, aber die Geschichte ist eine unbestech- liche und deshalb auch unbarmherziore Richterin.

Rigorismus in der Beurteilung. 153

Daraus erklärt sich auch die merkwürdige Stellung, die Carlyle in dem Urteil Taines einnimmt. Taine er- kennt sehr wohl, dass Carlyle in der Beobachtung zeit- licher, geographischer und ethnographischer Momente sein Vorgänger gewesen, und er kann nicht verstehen, weshalb Carlyle nicht zu der Definition der Greschichte als einer Darstellung der Massenbewegung vorgeschritten ist. Es ist eben hier der Unterschied zweier Weltan- schauungen, die in den beiden Männern sich verkörpern. Für Taine ist der Mensch das Produkt des Milieu, für Carlyle ist das Milieu das Arbeitsfeld des ]\[enschen, ..mein Acker ist die Zeit". Carlyle hatte deshalb das Bestreben, jede einzelne Thatsache auf das genaueste kennen zu lernen, weil jede einzelne Thatsache zur Wirklichkeit gehört, und weil diese Wirklichkeit das Ueld der Bethätigung. der Gegenstand im Fichteschen Sinn für das freie Handeln des IMenschen ist. Jeder Stein auf dem Acker ist für den Pflüger ^^'ichtig, aber €r ist keine letzte Thatsache. an der sich nichts ändern lässt, sondern ein Antrieb, den Acker besser und zweck- mässiger zu gestalten. Endlich sieht Carlyle, dass dies Milieu zum grossen Teil das Werk einzelner vergangener grosser Menschen gewesen ist. England ist nicht von jeher England gewesen, sondern ist durch menschliche organisierte Arbeit zu dem heutigen England gemacht worden. Das schöne Wort Schillers: „denn wir sind ja alle Idealisten und würden uns schämen, zu sagen, dass die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge", enthält den letzten Ausdruck des G-egensatzes z\^dschen Carlyle und Taine.

Haben wir somit den Grund des stärkeren Rigoris- mus in Carlyles Geschichtsphilosophie erkannt, so kann eine andere Modifikation in Carlyles Ansichten gegen- über seiner früheren Epoche als blosse Folgeerscheinung abgeleitet werden. Wir haben gesehen, dass das mora- lische Handeln immer bei Carlyle als das Wesentliche

154 Kapitel 6.

des menschlichen Lebens betrachtet wurde. Aber in seiner litterarischen Epoche trat doch daneben der Zug zur ästhetischen Ausbildung und zur ästhetischen Wir- kung kräftig genug hervor. Dass eine starke Ab- schwächung dieser (ledankenrichtung mit dem Eingehen auf geschichtsphilosophische Probleme zusammenfällt, ist kein Zufall. In der „Heldenverehrung" ist noch ver» hältnismässig am meisten der Gedanke der Erziehung der Menschheit auf ästhetischem AVege beibehalten. Aber dauernd tritt in den folgenden Schriften dieser Gedanke aus dem Blickpunkt von Carlyles Bevvusstsein zurück. Immer mehr drängt sich die Betrachtung auf,. dass die eigentlich Handelnden, die Männer der That, die treibenden Kräfte der AVeltgeschichte sind. Auch hier wird seine Weltanschauung ernster und freudloser. Ein Zug puritanischer Strenge stellt sich ein, der zwar nicht im Stande ist, den Eintluss namentlich Goethes zu verdrängen, aber doch überwiegend die moralische Be- trachtung und Beurteilung als die in letzter Linie gül- tige erscheinen lässt. Ob dieses Opfer unbedingt not- w^endig war, darüber lässt sieh streiten, merkwürdig ist aber, dass sich eine ähnliche Entwickelung auch bei Fichte verfolgen lässt.

Ganz auf Fichtes Bahnen finden wir Carlyle bei dem Versuch, die Rechte und Pflichten des einzelnen s-effenüber der Gesamtheit zu bestimmen. Wenn die Aufo-abe des Menschen im Handeln besteht, w^enn Han- dein und nicht Geniessen seinen Lebensinhalt zu bilden hat, so hat der Mensch als solcher ein unveräusserliches Recht auf Arbeit; alle menschlichen Institutionen sind in letzter Instanz darauf gerichtet, dass fruchtbare Ar- beit möglich sei. Jede Institution hält sich so lange, als dieser ihr Zweck erfüllt ist. Ein weiteres ange- borenes Recht hat der ]\Iensch nicht; er hat namentlich kein Recht darauf, sich der Arbeit zu entziehen und im Müssiggang zu leben. Die Faulheit ist bei (Jarlyle wie

Negerfrafc'e. 155

bei Fichte das (irundübel, aus dem alle übrigen Laster entspringen. Unter diesem G-esichtspunkt begreifen wir Carlyles Stellung zu einer Frage, die damals die ganze civilisierte 3Ienschheit mächtig erregte: die Frage der Abschaffung der Sklaverei. Keine seiner Schriften hat so viele edle und wohlmeinende Männer so sehr verletzt als seine Schrift über die Sklavenfrage (the Xigger- question), und doch liegt hier nichts anderes vor, als eine Anwendung des oben betrachteten Grundsatzes auf eine bestimmte soziale Erscheinung. Die Xeger in West- indien waren losgekauft worden und verweigerten nun- mehr die Arbeit; die Besitzer der Plantagen hatten keine Machtmittel, sie zur Arbeit zu zwingen, der Bestand der dortigen Kolonien schien gefährdet.

Carlyle wies nun darauf hin, dass kein Mensch das ßecht habe, müssig und faul zu leben, sondern dass er ein anderes Recht habe, nämlich das zu arbeiten und. wenn er nicht arbeiten wolle, dazu gezwungen zu wer- den. El)enso verwerflich wie die Sklaverei für den Freien ist, der arbeiten will, ist die Freiheit für den Sklaven, der nicht arbeiten will. Diese Sklaven haben durch ihr eigenes Handeln bewiesen, dass sie ihre Frei- heit nicht zu edler menschenwürdiger Arbeit nutzen wollen, sondern zu tierischer nichtsnutziger Faulheit und deshalb, obwohl sie selber es nicht wissen, schreit ihre Seele danach, aus diesem Zustand befreit zu wer- den. Es ist nicht eine Lösung der Frage des Verhält- nisses beider Rassen, wenn man sie für gleich erklärt, denn sie sind es nicht. Thatsächlich ist die weisse Rasse die führende, und die schwarze hat einen sittlichen An- spruch darauf, geführt zu werden. Wie diese Führung zu organisieren sei, ist eine ganz andere Frage. Carlyle bringt den äusserst fruchtbaren Gedanken einer Art von Hijrigkeit in Vorschlag. Dass aber der jetzt ge- wählte Weg nicht zum Ziel führen kann, weil er den Thatsachen nicht entspricht, sondern sie leugnet, das

15t) Kapitel 6.

war Carlyles Überzeugung, die ihn zum kräftigsten Un- willen gegen den bestehenden Zustand reizen musste. Es ist unbegreiflich, dass diese klaren und einfachen Darlegungen in England und Amerika so missverstan- den werden konnten, wie dies thatsächlich der Fall ge- wesen ist.

Ein Recht auf Arbeit ist vorhanden, ein Recht auf Uenuss nicht. Wie aber steht es mit dem Arbeitslohn? Jeder Arbeiter hat ein Recht auf seinen Lohn, die Erage ist nur, was sein Lohn ist. wie viel seine Arbeit wert ist. In der Beantwortung dieser Frage und jede soziale Organisation beantwortet sie auf die eine oder die andere Weise zeigt sich das Mass von Gerech- tigkeit, das in dieser Organisation lebt. Auch hier ist Carlyle durchweg bemüht, sich auf dem Boden der That- sachen zu halten. Wie es falsch war, zwei thatsächlich verschiedene Rassen als gleich zu erklären, so ist es falsch, gleiche Verteilung des Lohnes für alle zu ver- langen. Thatsächlich ist die Leistung der Menschen verschieden und zwar nicht nur in quantitativer sondern in qualitativer Hinsicht, der Verbrecher verdient den Galgen, der Held Verehrung, Könnte eine Gesellschaft so organisiert werden, dass der wirklich Beste wirklich den grössten Lohn erhielte und so fort bis zum letzten herab, so wäre das Ziel aller Organisation überhaupt erreicht. Bis jetzt ist dies unmöglich. Die Nachkommen der frühern Aristokraten, d. h, der Besten, die einst wirklich geherrscht haben, werden ihres Amtes müde und betrachten das, was die Gesellschaft ihren tapferen Vätern als Lohn für ihre Arbeit gab, nunmehr als ihr Eigentum. Damit wird aber „Vernunft Unsinn. Wohl- that Plage", denn Eigentum kann im strengsten Sinne niemals vererbt werden, sondern muss dauernd verdient werden. Li dieser Lehre vom Eigentum ist wiederum der Einlluss Fichtes unverkennbar. Wie Fichte bestreitet Garlyle. dass irgend ein Land oder Stück Landes von

Theorie des Eigentums. 157

irgend einem Volk oder Individiuini jemals zu unantast- barem Eigentum erworben werden kann.

Wem gehörte England? Ursprünglich den Bisons. Sie okkupierten diesen Teil der Welt Gottes, benutzten ihn und glaubten, in ihrem Eigentum zu sein. Es kamen die Kelten, die das Land besser benutzen konnten, und die Bisons wichen vor ihnen. Das Recht der Kelten verschwand, als die Römer l^ewiesen. dass sie das Land besser benutzen konnten als die Kelten, und so lange dies thatsächlich der Fall war. gehörte das Land ihnen. Mit dem Verfall der römischen Herrschaft waren frische Kräfte notwendig, und diese brachten die Angelsachsen, die getreulich den Boden benutzten und bearbeiteten^ wie er nie zuvor benutzt worden war. In ihren See- schifPen brachten sie eine bessere Kultur, und daher ^e- hört das Land, das diese Seeschiffe berührten, von Rechts wegen ihnen. Was sie besassen. war die bürgerliche Einheit, die staatliche blieb ihnen versagt, und deshalb hatte Wilhelm der Eroberer mit einer wohlausgerüsteten strengdisziplinierten Polizeimacht von normannischen Adligen das bessere Recht auf den Boden Englands, als die in sich zersplitterten uneinigen Sachsen, so wahr Ordnung besser ist als Unordnung. Es geschah den Sachsen kein L^nrecht, sondern, so wenig sie das auch erkennen mochten, war es ihr grösstes (llück, dass sie zu dieser stolzen und herrlichen Nation zusammenge- schweisst wurden. Nun erst waren die Shakespeares und die Miltons, die Arkwrigths und die Watts als die edelsten Früchte auf dem Boden Englands möglich, der früher kaum einige Bisons ernähren konnte.

In so lebensvoller Weise verkörpern sich bei Carlyle die abstrakten (xebilde Fichtescher Rechtsphilosophie. und doch ist der gedankliche Inhalt genau derselbe Wenn es nur die eine IMöglichkeit giebt, Besitz zu er- halten, indem man ihn benutzt, so ist es klar, dass das Recht immer auf Seiten desjenigen sein muss, der die

158 Kapitel 6.

flacht hat. thätig zu sein, zu arbeiten, sich mit andern zusammen zu schliessen. um den o;emeinsamen Wohnplatz der Menschheit menschenwürdiger, kultivierbar zu ge- stalten. Es ist genau diesell)e Ansicht wie bei Fichte, dass die Natur des Menschen wegen da ist. dass sie einen selbstständigen Wert nicht beanspruchen kann, sondern lediglich Gregenstand menschlicher Pflichteriullnng ist, und mit dem Augenblick. w(» diese Pflichterfüllung auf- hört, verschwindet auch das Anrecht des Menschen auf die Xatur. Er hat abzutreten, wenn der wirkliche Ar- beiter kommt, das ist das einzige Recht das ihm übrig bleil)t. Thut er dies gutwillig durch Vertrag oder in anderer Weise, so mag er durch den neuen Herrn zu neuer Thätigkeit angehalten werden. A^'eigert er diesem rechtmässigen Herrn sein Eigentum, so entsteht eine ge- waltsame Auseinandersetzung, und diese nennen wir Krieg, daher kann in der That gesagt werden, dass Macht Recht ist. Dieser Satz liegt ebenso Eichtes Philosophie zu CIrunde. wie der Carlyles und gründet sich bei beiden in gleicher Weise auf das oberste Prinzip ihrer Moral, anf die Forderung, dass Gerechtigkeit sein solle. Allerdings wird Carlyle dadurch nicht zum An- beter, wohl a1)er zum Anerkenner des Erfolges. Es ist o-anz richtig, dass Cato der besiegten Sache sich zuneigt, und wenn er diese für die bessere hält, ist er dazu verpflichtet: den G-öttern ahQv gefällt die siegreiche Sache und wenn Cato so weise wäre wie sie. würde er sich ihrem Urteil anschliessen. Denn ein dauernder Sieg ist nur möglich, wenn in dem Sieger bessere und serechtere Eigenschaften sind, als bei den Besiegten, das wirklich Lebensfähige kann nicht zu rirunde gehen, es wird seinen Platz liehaupten. So gingen die guten und kräftigen Eigenschaften der Angelsachsen bei Has- tings nicht unter, sondern erhielten gerade durch die Eroberung Englands die Möglichkeit, sich voll zu ent- wickeln. Wem die Geschichte nicht eine sinn- und

FangermanisniUs. 159

zwecklose Aufeinanderfolge einzelner Geschehnisse ist, wer in ihr etwas "Wertvolles, eine Entwickelung sehen will, muss auch die Ehrfurcht vor dem Thatsächlichen haben, die Carlyle zu dieser Identifizierung von Macht und Recht geführt hat. 3Ienschlicli mögen wir unser Mitgefühl dem tapfer Kämpfenden und Unterliegenden nicht versagen, aber die Geschichte darf keine Sympa- thien und Antipathien haben, sie wird in dem Siegreichen den Träger höherer Kulturentwickelung schlechthin an- zunehmen haben.

So stellt sich die Geschichte als eine Entwickelung •der verschiedenen Völkerindividualitäten dar. ähnlich -wie auf dem früheren Standpunkt die Geschichte der einzelnen Litteraturen sich zur AVeltlitteratur erwei- terte. In jedem Volk ist eine bestimmte Art der Evo- lution, eine göttliche Idee angelegt, und je nach der Art und Weise, wie es diesem Volke gelingt, diese Idee darzustellen, bemisst sich sein welthistorischer Wert. So erreicht Carlyle, auch hierin Fichte ähnlich, die Idee eines welthistorischen Patriotismus. Wie Fichte war auch er ausgegangen von einem Kosmopolitismus, nur dass dieser bei Garlyle ästhetische, bei Fichte politische Färbung zeigt. Docli eljenso wie Fichte nach den herben Erlebnissen des Jahres 18(16 ein deutscher Patriot und damit erst Deutschlands gröjsster Geschichtsphilosoph wurde, sehen wir in Carlyle immer mehr und mehr die Idee eines pangermanischen Patriotismus in seiner Ge- schichtsphilosophie an Platz gewinnen und die früheren Ideen einer abstrakten allgemeinen Menschlichkeit ver- drängen. Von den Uranfängen nordisch -germanischen Wesens an. von den norwegischen Königen bis zur Ent- wickelung des mächtigen angelsächsischen Kolonial- reiches folgt sein geistiges Auge mit steter stolzer Be- wunderung dieser Pilgerschaft germanischer Völker durch die Jahrhunderte ; und wenn er nach dem letzten Grunde dieses Erfolges fragt, so ist es wieder dieselbe

160 Kapitel i3. .

Antwort, die er in „Heldenverehrung" giel)t, dass von jeher, seit zum erstenmal Tacitus uns ein Bild ihres Volkstums gegeben hat, die Germanen ein Volk der Treue gewesen sind, fähig dem eigenen Vorteil frei zu entsagen und dem Rufe ihrer Führer zu folgen.

Deshalb alier wird die Geschichte dieser Führer für (Jarlyle die vornehmste Aufgabe der Geschichts- schreibung ; wieder taucht der frühere Begriff der Ge- schichte als einer Summe von Biographien auf. aber diese Biographien umfassen nunmehr das geschichtlich wertvollste, die führenden ]Männer des führenden Volkes. Unter diesem Gesichtspunkt wollen die Werke Carlyles über Cromwell und Friedrich den Grossen verstanden sein. Es ist allerdings kein Zufall, dass die drei Männer um die es sich hier handelt, Cromwell, Friedrich Wil- helm I. und Friedrich II. in der Durchschnittsmeinung des gebildeten englischen Publikums sehr viel tiefer standen, gänzlich anders gewertet wurden, als sie es nach Carlyles Ansicht verdienten, und er wusste wohl, dass er mit der von ihm geplanten Darstellung ebenso gegen den .Strom schwimmen würde, wie er dies sein ganzes Leben hindurch zu thun genf3tigt war. AVjer um so mehr stellte sich ihm die Notwendigkeit dar, diese Namen in ihrem wahren Licht erstrahlen zu lassen, eine Notwendigkeit nicht subjektiver, sondern objektiver Natur.

Cromwell kann es gleichgültig sein, was die Eng- länder über ihn denken, er ist, weit über ihr Lob und ihren Tadel erhaben, eingegangen in die Unendlichkeit, wo ilm irdische Stimmen nicht mehr erreichen können. Aber für die Engländer ist es nicht gleichgültig, wie sie über Cromwell denken, denn das Volk, das seine Helden vergisst, ja vergisst, dass sie Helden waren, zeigt bedenkliche Spuren des Verfalls, es strebt dem Niveau des Toten Meeres zu. Deshalb betrachtete Carlyle mit vollem Recht seine Ausgabe „Die Briefe

Cromwell. Friedrich der Grosse. 161

und Reden Cromwells" als eine patriotische Pflicht. Aus dieser Ausgabe erst mit den bewunderungswürdigen kurzen Bemerkungen Carlyles lernten die Engländer den grössten Staatsmann kennen, den sie je besessen haben. Die tiefe ernste Religiosität seines Wesens, das Bewusst- sein, vor Gott zu wandeln, das ihn nie verliess, der klare Blick auf die Thatsachen und ihre Notwendigkeit, der grandiose Freimut in seinem Verkehr mit Menschen alles dies leuchtet so sieghaft aus diesem Buch hervor, dass das frühere Bild von Cromwell als eines ehrgeizigen, heuchlerischen und grausamen Despoten, das sich die Legende der Restaurationszeit zurecht gemacht hatte, wohl als endgültig beseitigt betrachtet werden kann. Dass Cromwell zuerst England zur Seemacht empor gehoben hat, dass es seiner Bemühung in erster Linie zu verdanken ist. wenn der Protestantismus dem ens:- lischen Volke gewahrt blieb, dass er die Entscheidung in dem schwankenden Kampf zwischen bürgerlicher Freiheit und absolutem Königtum brachte das sind heute allbekannte Wahrheiten, aber sie sind es erst durch Carlyle geworden.

Wenn Carlyle durch innere Affinität sich zu Crom- wells mächtiger Gestalt hingezogen fühlte, so kann ein gleiches nicht von seinem Verhältnis zu dem zweiten seiner Helden, Friedrich dem Grossen, gesagt werden. Die Motive, die ihn veranlassten, die lange und mühe- volle Arbeit einer Biographie Friedrichs des Grossen zu unternehmen, scheinen die folgenden gewesen zu sein: Wie er in seiner litterarischen Epoche sich bemüht hatte, seinen Landsleuten das Verständnis deutschen (Geisteslebens zu eröffnen, so musste die Aufgabe, nun auch die politische Geschichte der Deutschen ihren angelsächsischen Brüdern nahe zu bringen, für ihn ver- lockend erscheinen, um so mehr, als er mit intuitivem Scharfblick erkannt hatte, dass in dem preussischen Staat, der sich sehr geringer Sympathien in England

Hensel, Carlyle. 11

]{\2 Kapitel 6.

erfreuti'. der Kein zu einem künftigen mächtigen Deutsch- land, das sein Herz ersehnte, enthalten war. Es war ihm alles daran gelegen, dass sein Volk klare Einsicht in die thatsächlichen Verhältnisse gewinne, damit es der notwendigen historischen Entwickelung nicht fremd oder gar feindlich gegenüber.stelie. l)ie Ursache aljer dieses neuen preus.sischen Staates glaubte er am An- fang seiner Arbeit in Friedrich dem Gro.ssen zu sehen. Somit ist seine (leschichte el)en.so ein historisch-politi- scher Traktat wie sein P^intreten für Cxoethe der Kampf für eine liiilicre Weltanschauung gewesen war. Seine stark iiublizistische Natur verleugnet sich auch hier in keinem Wort. Al)er ein anderes Blotiv liegt gleichfalls klar zu Tage: In seinem ^ Johnson'^ hatte (.'arlyle das Los eines Helden des Glaubens in einer negativen Zeit geschildert, jetzt waren bei ihm die ]\Iänner der That in den Vordergrund gerückt, und es drängte ihn. zu zeigen, was in einer Zeit des Unglaubens ein Mann, dessen Seele mehr als zur Hälfte von dem Geist der Skepsi.s und des Unglaubens erfüllt war. dennoch auf praktischem Gebiet durch klare Erkenntnis der That- sachen und durch persi'mliclies PHichtbewusstsein ohne den Hintergrund einer gläubigen Weltanschauung zu leisten vermöge. So unsympathisch ihm Friedrich der Grosse in Sanssouci mit seinem Voltaire und Maupertuis notwendig sein musste ein Riese in den Fesseln der modernen Skepsis um so grösser und reiner erscheint ihm sein Held, wenn er Ordnung schafft, wo Unordnung war, Gerechtigkeit bringt, wo Ungerechtigkeit herrschte, sumpfige Niederung in blühendes Kolonistenland ver- wandelte. Aber am liebsten verweilt Carlyle bei der grossen politischen Arbeit Friedrichs IL, seiner Aus- einandersetzung mit Oesterreich. Hier lag für ihn eine wertvolle Illustration zu seiner Lehre vom Eigentum vor. Während noch bis heute dem moralischen Sinn vieler Engländer die schlesisclien Kriege einfach als ein Länder-

Friedrich Wiliielm I. 163

raub erscheinen, führt Carlyle aus, dass Oesterreich in Wahrheit kein Recht auf Schlesien besass, weil es sich ausser Stande p;ezeigt hatte, dieses Land wirklich zu regieren. Die Bedrückung der Protestanten, die elende Finanzverwaltung, die Unfähigkeit, die natürlichen Hilfs- quellen des Landes zu erschliessen alles dieses hatte C)esterreich ganz aljgesehen von allen formalen Rechts- gründen als unwert gezeigt, das Land zu besitzen. Da- gegen zeigte das rasche Aufblühen des Landes unter preussischer Herrschaft, dass es von Rechts wegen Preussen angehiiren musste. Und endlich zeigte sich in dem mili- tärischen Genie Friedrichs des Grossen für Carlyle am klarsten d i e Eigenschaft, ohne welche für ihn ein Held nicht denkbar war. die richtige Wertung der Thatsachen. Unermüdlich ist er im Aufklären jedes einzelnen Details derVerwickelung militärischer Bewegungen, ül)erall sucht er zu zeigen, wie die richtige Beurteilung von Men- schen und Verhältnissen selbst den tollkühnsten Mass- regeln Friedrichs des Grossen zu Grunde lag. Er ist ein Held der That im engsten Zusammenhang mit Gott und den Gesetzen des Weltalls.

Es ist häufig bemerkt worden, dass in den ersten Bänden der Geschichte Friedrichs des Grossen nicht dieser der eigentliche Held ist, sondern sein Vater, und diese Beobachtung ist vollständig richtig. Augen- scheinlich ist Carlyle an diesen Mann mit allen Vor- urteilen herangetreten, die damals in England gegen ihn im Umlauf waren und ihren klassischen Ausdruck in Macaulays Essay gefunden haben. Gerade aber dieses macht uns die Charakterzeichnung Friedrich Wilhelms L so wertvoll. Sie ist ein glänzendes Zeugnis dafür, dass Carlyle nicht nur nach vorgefassten Meinungen eine geschichtliche Darstellung zu konstruieren ver- stand, sondern dass er auch aus der Geschichte zu lernen wusste und bereit war, ein Urteil, das er mit den Thatsachen im Widerspruch fand, vollständig

164 Kaj.ilel 6.

und mit eintr Art von tVoliciii Knthusiasmu» um/u- stosson.

Hinter dorn (xcklütsth der MciiKiircnschreiljer crliob sich ihm aus dem Staube unzähliger Akten die Gestalt eines Mannes nacli seinem eigenen Herzen: wenig be- redt, aber gross in schweigendem Handeln, siein König- reich verwaltend wie ein trotziger deutscher Kauer seine Hufen, hinter der rauhen Aussenseite mit einem gütigen Ht'rzen und einem gliiul)igen (jemüt; ein Mann, der seine Pflicht kannte und nicht geneigt war. sich von dem (lei-st moderner Skepsis aus ihr heraus dispu- tieren zu lassen ; ein Mann, der das Leben nicht leicht nahm und dem es nicht leicht wurde - der am Abend dieses Lebens auf ein gutes Tagewerk zurückblicken konnte. Sein Schatz war gefüllt, sein Heer das erste in Europa, sein Volk treu und arbeitsam , das waren die Bestandteile zu dem grösseren Prciissen. das er seinem grösseren Sohne hinterliess. Wer an die erste Vorlesung von Carlyles „Heldenverehrung" denkt, mu.ss die Ähnlichkeit herausfühlen zwischen der Schilderung des Bautn-ngottes Thor mit seinem raulien Humor und seiner grossen Seele und diesem König eines kleinen Landes im !>-!. Jahrhundert. Wie in diesem Thor für Carlyle alles angelegt war. was .später die nordisch- germanischen Völker vollbrachten, so sieht Carlyle in diesem schweigsamen, viel erduldenden König die künf- tifre Grösse Preussens und Deutschlands.

Es ist immer unser Bestreben gewesen, auf die Beziehungen hinzuweisen, die zwischen Carlyles Ge- schichtsphilosophie und seinen Versuchen, als praktischer Reformator aufzutreten, bestehen. Vielfach wird zu einem Vorwurf gegen Carlyle benutzt, er sei kein „ob- jektiver Geschichtsschreiber", jedes seiner historischen Werke enthalte eine Tendenz, Ich glaube, dass Carlyle diesen Vorwurf ohne weiteres zugegeben hätte, ihn aber nicht als Vorwurf empfunden haben würde. Es ist

.Objektive* Geschichtsforschung. 165

wahr, class er oft leidenschaftlich Partei für und wider nimmt, aber in geringerem oder grösserem (irade ist dies bei jedem Historiker der Fall. Ein „objektiver Cxeschichtsforscher" ist zum Glück eine Unmöglichkeit, denn jeder Greschichtsforscher ist ein Mensch, und kein Mensch vermag es, von menschlichen Dingen zu reden, ohne mit seinem ganzen Wesen Partei zu nehmen. Ebenso unmöglich ist es, selbst die entferntesten Zeiten ohne Rücksicht auf unser jetziges Leben und seine In- teressen zu behandeln. Eine politische Zeit sucht die Politik vergangener Zeiten zu erkennen, eine national- ökonomische die wirtschaftlichen Zustände, eine litte- rarische die Bildungsverhältnisse. Wer aber überzeugt ist, dass heute noch (lut und B<)se miteinander kämpfen wie in vergangenen Zeiten, dass es wirklich früher Menschen gegeben hat und dass diese Menschen den- selben Kampf auszufechten hatten wie wir. wer über- zeugt davon ist, dass das Heute ein Produkt unvor- denklicher Zeiten ist, und dass dies Heute in alle Ewigkeit wirken wird mit allem, was in ihm gut und böse ist, für den ist (Tcschichte vergangene (regenwart und die Gegenwart werdende Geschichte. Somit steht die ganze Sozialphilosophie Carlyles ebenso unter den Sätzen seiner Geschichtsphilosophie, wie diese eine An- passung des Fichteschen Systems an die Aufgaben der gegenwärtigen Zeit darstellt.

Kapitel 7. Das gegenwärtige Zeitalter.

Wie für Ficliti- das ;ufen:enwärtigo Zeitalter das Zeitalter vollendeter Siindliaftin^keit war. so war es das auch für ( 'arlyle. Es nimmt in seiner wie in Ficlites Stufenleiter die dritte Stufe ein; aber während sieh bei Fichte diese niarakteristik wesentlich auf die geistige Bewegung bezieht , ist es bei Carlyle die volle Breite der Kulturentwickelung seiner Zeit, die diesen Xamen rechtfertigt. Es sind hauptsächlich sozialpolitische Fra- gen, die uns in diesem Kapitel zu beschäftigen haben werden: Darstellung des Bestehenden, Vorschläge zur Abhilfe. Ausblicke in die Zukunft. Ursprünglich war, wie w^ir gesehen haben, Carlyles politischer Standpunkt von dem des Durchschnittsradikalen nicht allzuweit entfernt. Als die Arbeiter in Schottland gewaltsame Versuche machten, ihre elende ökonomische Lage zu verbessern, und in Edinburgh sich ein Freiwilligen-Corps bildete, um die Hauptstadt gegen einen etwaigen Putsch zu verteidigen, antwortete Carlyle auf die Bemerkung eines Freundes, er solle sich doch auch mit einer Flinte versehen, dass er dazu nicht abgeneigt sei, aber noch nicht wisse, gegen wen er sie abdrücken solle.

Dann kam die lange Zeit seiner litterarischen Be- schäftigung, die zwar sein 3Iitleid mit der Notlage der handarbeitenden Klassen nicht einschlafen liess. ihm aber

Aufhebung der Kornzölle. 167

andererseits keine Gelegenheit gab, theoretii^cli auf die daran sich knüpfenden Fragen einzugehen. Lebhafter bewegt wurde er nur durch die Agitation für die Auf- hebung der Kornzölle. Diese Zölle hielt er wie alle Radikalen und die 3Iehrzahl der Whigs für eine unge- rechte IMassregel, durch welche wenige grosse (iruts- herren aus schimpflichem Eigennutz dem arbeitenden Volk das tägliche Brot verteuerten. Sein Essay über die aus dieser Bewegung gegen die Kornzölle (1832) entsprungene Tendenzlyrik ist von wahrer IMenschen- liebe erfüllt, zeigt aber eingehende theoretische Be- schäftigung mit der Frage keineswegs, Dass vollends der Erfolg der Bewegung der sein musste, den Abfluss der ländlichen Bevölkerung in die Indu.striestädte noch zu beschleunigen , die Grossgrundl)esitzer von dem un- rentabel gewordenen Ackerbau zur Viehzucht übergehen zu lassen und sie zum Auskauf der letzten freien Bauern zu drängen, dass alsdann das Proletariat in den Städten sich rasch vermehren und ein unglaubliches Elend die Folge sein würde, und dass endlich der Gewinn aus den niedrigen Kornpreisen durch die nunmehr möglich gewordene billigere Produktion in die Taschen der Fabrikanten Hiessen würde dies alles konnte Carlyle nicht einsehen, solange ihm die Bewegung nur im Ge- wände der populären llhetorik eines Cobden und Hood entgegentrat.

Um Einsicht in die Frage zu gewinnen, brauchte Carlyle ausser der eigenen Beobachtung, die er. wie wir gesehen haben, in London machen konnte, auch noch die Auseinandersetzungen mit den Lehren der klassi- schen Nationalökonomie, die in der damali2:en Zeit in einem für uns heute fast unglaublich gewordenen Masse die Gemüter beherrschten. Wir haben gesehen, wie die von dieser AVissenschaft aufgestellten Gesetze gradezu als Naturgesetze aufgefasst wurden, von denen eine Abweichuno; oder Ausnalmie ebenso unmös-lich sei wie

1()8 Kapitel 7.

\(iin (it'sct/ (li-i- 'ri;i;ji;licit »»(In- di-in allgoiiK'iiicii Prinzip der Kausalität. Für Carlylt' mus.ste von dtT rini-ii Seit»' \u'V (Hj'sc Auscinandfrsctziiiijx besonders sclnvit'riir Sfin. Hincr d«'r scliwärlistcn Punkte >i'in<'r |»]iil<»>.j)lii- sclu'n W't'ltansrliauunfj ist die Ansicht, da^s es zwischen den Thatsachcn auf idiysikalischein und nioralischcin (Tel)iet «'ini'U i-rkcnntnistheoretischcn Unter.schied niclit flieht, und dass infolfi^cdessen eine historische Thatsaclie nach keiner anderen Methode zu behandeln sei als eine dem ]ihvsisrhen (iehiet an;je]n"»rige. Andererseits aber war ihm a]> Ausgangspunkt seines gesamten Denkens der hJihere Wert des moralischen Individuum.*« gegen- über allen sctnstigen Thatsachen deutlich geworden, und .so ergab sich daraus für ihn die Folgerung, dass eine Wi.ssenschal't. die unmoralische Konsequenzen nach sich zieht, notwendigerweise essentiell falsch sein müsse.

(.'arlyle brauchte nun nichts anderes zu thun. als auf die (irrundgedanken der von ihm bekämpften A\'issen- f^chaft. die er mit \'urliel)i' die „trübselige" zu nennen jtflegte. zurückzugehen. AVas war denn der (Grundge- danke von Adam Smitlis »Reichtum der Völker" (Wealth of Xations)? Smith wollte die Beziehungen der Men- schen zueinander so betrachten, als ob sie rein ego- istische Wesen seien. Für eine solche Gesellschaft würden in der That die Regeln der klassischen Xational- iikonomie die Bedeutung von Naturgesetzen haben. Wollen also die Individuen, die eine Gesellschaft bilden, reine Egoisten sein, so gelten diese (iesetze für sie ; aber der (irrund. weshalb sie gelten, liegt nicht in der Natur der Dinge, sondern in ihrem eigenen Willen. Es liegt demnach hier dersell)e Kampf zwischen zwei Weltanschauungen vor, der üljcrhaupt das Leitmotiv zu Carlyles philosophischem Denken bildet: der Kampf zwischen atomistisch-verständiger und idealistisch-ver- nünftiger Weltanschauung. Von der ersteren ausgehend, für welche die Idee einer mechanischen Kausalität der

Auseinandersetzung mit der Nationalökonomie. 169

oberste (ilrundsatz ist. muss der Mensch zuletzt dahin gelanp;en, sicli in seinem eigensten Handeln als unter mechanischen Cresetzen stehend zu betrachten. s:es:en die anzukämpfen unthunlich und unmöglich ist. Seine Freiheit sinkt ihm zu einer psychologischen Täuschung heral). Es ist dies die Weltanschauung des 18. Jahr- hunderts. Ihr höchster Gipfel ist eben die klassische Nationalökonomie, (xelit man dagegen vom idealistischen Standpunkt aus. so ist dir Freiheit des moralischen In- dividuums die Voraussetzung sclilechthin . und alle ül)rigen (besetze der physischen wie der moralischen Welt sind in letzter Linie Bethätigung dieses morali- schen Willens und können ihn daher niemals aufheben. Wenn dies der Fall ist. so müssen im Verlaufe der Ge- schichte die positiven und gläubigen Zeiten ein anderes ökonomisches Verhalten zeigen, als die negativen und ungläubigen. Mit einem Worte, es muss gezeigt werden können, dass der Ausspruch, das menschliche Handeln richte sich thatsächlich nach den von Smith konstruier- ten ökonomischen Gesetzen, nicht zu Recht besteht.

Daraus erklärt sich die seltsame Komposition von Carlyles „Einst und Jetzt" (Past and Present). Es ist durchaus nicht, wie man vielfach gemeint hat. eine Idealisierung mittelalterlicher Zustände . die schroff einem Zerrbild moderner Zustände entgegengehalten "W'ird: sondern Carlyle will in den Mönchen von St. Edmundsbury eine ökonomische Gemeinschaft schildern, die sich nicht nach den Gesetzen von Gewinn und Verlust, von Angel)ot und Nachfrage regulieren will und infolgedessen auch nicht durch sie reguliert wird. Und gerade deshalb gewährt er der Schilderung der ökonomischen Zustände des Klosters einen so grossen Raum, weil er zeigen will, wie ökonomische Aufgaben auch noch in einem anderen Geiste angegriffen und geliist werden können . als in dem der klassischen Nationalökonomie. Natürlich dachten diese Mönche

170 Kapitel 7.

auch an ihren materiellen Zustand, aber dieser Gedanke ordnet sich dem Bestreben unter, ihrem Heiligen eine würdige Stätte zu bereiten und als treue Männer in seinem Dienste erfunden zu werden. Für sie war ein Wohlbefinden nur möglich, wenn es mit dem Wohlbe- finden der Organisation . der ihr Leben geweiht war, zusammenfiel. Dem gegenülier tritt dann freilich die moderne Zeit, in der jeder als egoistisches "Wesen, als menschliches Atom handelt und die Gesetze der klassi- schen Nationalökonomie deshalb als verbindlich und als ein treues Bild seines Strebens anerkennt. Es ist ein ähnlicher Unterschied in einem Buch zusammengefasst, wie Plato ihn in die beiden Werke über den besten Staat und die Atlantis auseinandergelegt hatte.

Wenn man nun andererseits aus dieser Gegenüber- stellung und der sich daraus ergebenden Minderwertig- keit moderner Zustände den Schluss gezogen hat. Carl3de sei in nationalökonomischer Beziehung lediglich ein laudator temporis acti, welcher der ganzen modernen und namentlich der industriellen Entwickelung feindlich gegenüberstehe und sie auf den mittelalterlichen Betrieb zurückschrauben wolle, so kann dieses nur als ein grobes Missverständnis von Carlyles Ansichten bezeichnet wer- den. Schon ein Blick auf seine Geschichtsphilosophie genügt, um uns von diesem Irrtum frei zu machen. Das Prinzip dieser Geschichtsphilosophie ist ja der Fortschritt des menschlichen Geschlechts, und damit ist gegeben, dass eine Wiederbelebung früherer Zu- stände, wenn sie überhaupt möglich wäre, immer ein Rückschritt sein müsste. Die AVeltanschauung der I\Iönche von St. Edmundsbury beruhte im Katholizismus. Für den modernen Menschen sind die Symbole des Katholizismus unglaubwürdig geworden, und deshalb sind alle mittel- alterlichen Neigungen entweder Dilettantismus, der mit den Thatsachen spielt, oder Heuchelei, welche den an- dern Seelen Trugbilder aufnötigt, an die sie selbst

Stellung zum Mittelalter. 171

nicht glaubt. Carlyle konnte nur die herzhafteste Ver- achtung für die ästhetische Nationalökonomie eines Southey empfinden. Wenn diese die epheubesponnene Hütte des früheren Arbeiters mit den hässlichen. ma- schinendurchklirrten, rauchigen modernen Fabriken ver- glich und die Rückkehr der früheren Zustände herbei- wünschte, so war das für Carlyle eben der schlimmste Astheticismus. Nicht in der Rückkehr zu früheren Zu- ständen, allerdings auch nicht in dem Beharren bei den jetzigen, lag für Carlyle die Aufgabe sozialpoliti- scher Reform, sondern in dem Fortschritt zu besseren künftigen. Auch für ihn ergiebt sich eine Art von dialektischem Fortschritt; die Synthesis des künftigen besseren Zustandes sollte nach seiner Ansicht die be- deutsamen Momente der Thesis und Antithesis in sich aufheben und zusammenfassen.

Einstweilen müssen wir aber die Charakterzüge des gegenwärtigen Zustandes uns vor Augen führen. Da ist zunächst der riesige Fortschritt in technischer Hinsicht, der das auffallendste IMerkmal moderner Ent- wickelung bildet, und ihn begrüsst Carlyle mit rück- haltloser Freude. Denken wir an seine Theorie vom Eigentum zurück, so erkennen wir diese Stellung alti eine durchaus konsequente Folgerung aus Charlyles Geschichtsphilosophie. Durch jede neue Erfindung, welche die Schätze der Erde den Menschen zugänglich macht, durch jeden neuen Weg, der unwegsame Moore gangbar gemacht hat, beweist sich der Mensch als der rechtmässige Herr der Erde, weil er sie als „Gegen- stand" überwindet und sie zu dem gestaltet, was sie nach Gottes Willen sein soll : eine nützliche Dienerin und nicht eine strenge Herrin des 3Ienschen. Immer weiter spannt sich das Netz der Beziehungen von ]\Iensch zu Mensch, immer grösser gestalten sich die Bahnen des Handels, und es ist Recht sowohl wie Pfiicht eines jeden Volkes, in diesen friedlichen Verein, ge-

172 Kapitel 7.

schlosseu zur Jichcrrschung der Erde, einzutreten. Es ist wahr: Carlyle liess sich von diesem Gedanken oft weiter hinreissen. als es mit dem moralisclien (xrund- charakter seiner Lehre vereinbar ist. Keiner seiner Bewunderer, und sei er noch so sehr von der ^lues Boswelliana" ergriffen, wird die Parteinahme Carlyles für England in dem Opiumkriege gegen China (»hne tiefste Beschämung lesen können. Aber als Entschul- digung, wenn auch nicht als Rechtfertigung muss hier- bei die Überzeugung Carlyles im Auge behalten werden, dass es unerträglich sei, wenn sich ein Volk der ge- meinsamen Kulturaufgabe entziehe, sich künstlich von dem Verkehr mit andern ausschliesse. Es liegt hier die Anwendung eines richtigen Prinzips auf einen verwerflichen Einzelfall vor.

I)ie Folge dieser weitgehenden Beherrschung und Benützung der Erde ist nun eine unerhörte Zunahme des Reichtums. Aber hier stellen sich bereits die Schattenseiten des Zeitalters der Industrie heraus. Die- ser Reichtum verteilt sich nicht in ungefähr gleich- massiger Abstufung über das ganze englische Volk, sondern hat die Tendenz (man glaubt mitunter Karl Marx zu lesen), sich in einzelnen grossen Vermögen zusammenzul)allen. denen dann die j\Iasse des Volkes ebenso arm wie früher und noch viel elender als früher gegenübersteht.

Elender und hilfloser, denn die sozialen Zustände des Mittelalters zeigen nicht nur die Verpflichtung des Hörigen, für den Herrn zu arbeiten, sondern auch die nicht minder zwingende Verpflichtung des Herrn, für seine Hörigen zu sorgen. Gurth, der Sklave Cedrics, (eine bekannte Person aus Scotts Jvanlioe) musste aller- dings die Schweine seines Herrn hüten und das metallne Halsband als Zeichen seiner Hörigkeit tragen, aber sein Herr war ihm ebenso Treue schuldig, wie er Cedric. Gurth konnte sicher sein, dass ihn Cedric in Not und

Irische Einwanderung. 173

Alter nicht verlassen würde, dass für ihn immer ein Platz an Tisch und Herd sich linden würde. Ein treuer Diener, ein treuer Herr, durch lebenslanges Zusammen- sein, durch Dienst und Dankbarkeit auf einander ange- wiesen, an einander gebunden.

Die Halsband-3Iethoden sind für immer vorbei, liüus- seau und die „Erklärung der JMenschenrechte" haben sie für alle Zukunft unmöglich gemacht. Der Arbeiter unserer Zeit ist ein freier Mann; er ist aus der harten, vielleicht oft ungerechten Zucht seines Herrn entlassen worden, um niemals in die früheren Verhältnisse zurück- zukehren. Aber man konnte ihn nicht zu gleicher Zeit von den Naturgesetzen dispensieren; er fühlt nach wie vor Hunger, er muss Unterkunft suchen vor der Ungunst des Wetters, er muss für sich und die .Seinen sorgen, und dies ohne Beihilfe, die ihm früher ein gütiger Herr gewähren mochte. Zu gleicher Zeit hat sich die Anzahl der Arbeitsuchenden ins Unendliche vermehrt. Die be- deutsame Rolle der Marxistischen ..Heservearmee der Industrie" hat bereits Carlyle vollständig gewürdigt. Jeder Tag bringt zu den einheimischen und schottischen Arbeitern neue unheimliche Konkurrenten. Nach den Zeiten der Union mit Schottland klagten die Eng- länder über den reichlichen Zutluss der sparsamen, klugen und arbeitsamen Schotten, die in das reichere England auswanderten. Aber diese waren an tüchtigen Eigen- schaften den Engländern mindestens gleich, wenn nicht überlegen, und so gereichte ihre Einwanderung England auf allen Gebieten zum Segen. Heute liegt der Fall anders. England hat es nicht vermocht, Irland zu kulti- vieren, sondern nur es zu unterdrücken und den Ir- ländern den Aufenthalt in ihrer Heimat unerträglich zu machen. Und wieder ergiesst sich eine Flut der Ein- wanderung über England, aber diesmal nicht von kultu- rell gleichartigen, sondern von kulturell minderwertigen Elementen. Sie Ibrdern nichts vom Leben als eine

174 Kapitel 7.

elende Unterkunft und schlechte Kartoffeln und stellen zu jeglicher Arbeit ihre kräftigen Fäuste zur Verfügung. Und diese Konkurrenz kann kein reinlicher, an ein menschenwürdiges Dasein gewöhnter englischer Arbeiter aushalten. Er. der die Kräfte der Natur besiegt hat, dessen .starker Arm die Erde erobert hat. muss diesem Gegner weichen: die Unkultur siegt in unserer Zeit über die Kultur. Und das ist vielleicht das bedenklichste Zeichen der Zeit, dass die höhere Rasse sich gegen die niedrigere nicht halten kann, dass gerade ihre besten Seiten, Reinlichkeit, Gefühl für die eigene Würde, Sinn für Ordnung und Gerechtigkeit den Kampf gegen sie entscheiden.

Hierin liegt ein Problem, das mit den Ergebnissen der Geschichtsphilosophie im Widerspruch zu stehen scheint. Wie ist es möglicli. dass eine kulturell und da- mit moralisch höher stehende Rasse einer tiefer stehen- den unterliegt? Die Antwort Carlyles ist. dass diese guten Eigenschaften der englischen Rasse aus einer ver- gangenen Zeit stammen, von den Vätern ererbtes Gut sind, mit denen die neuere Zeit nichts anzufangen weiss, und die im Widerspruch zu ihr stehen. Es sind Eigen- schaften einer gläubigen Zeit in einem ungläubigen Zeit- alter. Heute kommt es gar nicht darauf an, dass der Arbeiter irgend welche moralischen Eigenschaften be- sitzt. Er ist völlig aus der persönlichen Beziehung zu .seinem Arbeitgeber geschieden, und dieser braucht ledig- lich und allein die physische Kraft des Arbeiters und ver- braucht sie ohne Skrupel. Der kräftige Arm, der Mangel an Selbstgefühl sind die einzigen empfehlenden Eigen- .«^chaften für den Arbeiter in diesem Zustand, den man nur als Desorganisation der Arbeit bezeichnen kann.

Vor allem aber fehlt dem Arbeitgeber jegliches Interesse daran, für den Arbeiter in Zeiten stockenden Absatzes oder im Fall von Krankheit zu sorgen. Es ist dies eine notwendige praktische Folge der herrschenden

Arbeitshäuser. 175

theoretischen Ansicht, Wie diese an Stelle der viel- fachen organischen Beziehungen von Mensch zu Mensch die einzio-e verstandesmässisje von materiellem Vorteil und Nachteil gesetzt hatte, so musste sie auch dazu kom- men, diese eine verstandesmässige Beziehung rein quan- titativ nach Leistung und Gegenleistung festzustellen und damit das Seitenstück zur kosmischen IMechanik in Gestalt einer sozialen Mechanik zu scharfen. Die Leistung des Arbeiters ist in dem Mass seiner Kraft gegeben, die er in den Dienst des Arbeitgebers stellt. Die Gegenleistung des Arbeitgebers ist die Auszahlung des Lohnes in Geld, das ja der nur noch ([uantitativ unterscheidbare Massstab für alle möglichen qualitativ unterschiedenen Werte ist. Ebenso wie von der vollen körperlichen Wirklichkeit dem ]\Iechaniker nur noch eine grössere oder geringere Anzahl gleichartiger Atome übrig bleiben, so bleibt einem destruktiven Zeitalter aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der sozialen Beziehungen nur noch der Anspruch eines Menschen auf eine gewisse Quantität Geldes aus der Börse des andern üljrig. Und ebenso wie die einzelnen Atome nur noch zu solchen Verbindungen mit andern gelangen können, die an ihrem eigentlichen Wesen nichts verändern, so hat auch das menschliche Atom die Tendenz, nur in solche mensch- liche Verbindungen einzugehen, die sein eigenes Wesen nicht berühren.

Es hat somit der moderne Arbeiter wenig Vorteil von seiner Freiheit gehabt. Jeder Zahltag kann ihn auf die Strasse werfen . und ein Anspruch auf Unter- stützung in Not und Krankheit fehlt ihm vollständig. Nicht mehr wie in früherer Zeit vermag er an die Treue des Herrn, die Mildthätigkeit einer religi()sen Gemein- schaft zu appellieren. Die einzige Unterstützung, die er erhält, geht nicht auf Liebe, sondern auf Furcht zurück, die Gesellschaft hat allen Grund, arbeitslose und zur Ver- zweiflung gebrachte Älenschen zu fürchten, und deshalb

176 Kapitel 7.

schützt sie sie vor dem Verhungern durch Unterbringung in die gewaltigen Zwingburgen der Verzweiflung, die Arbeitshäuser, wie man in England die Armenhäuser nennt. Und in diesen herrscht nun eine »Sklaverei, wie sie so schlimm im Mittelalter nicht gedacht werden kann. Denn nicht nur die Freiheit geht den hier Eingekerkerten verloren, sondern auch das Urrecht des 3Ienschen. da.s Recht auf Arbeit, Diese Arbeitshäuser sind schon ihrem Namen nach eine wesentlich ironische Institution. Sie sind nicht Häuser , sondern Gefängnisse für Menschen, die kein Verbrechen begangen haben; sie geben keine Arbeit, weil sie nicht Stätten erziehender Fürsorge, son- dern Veranstaltungen blosser Angst sind. Tausende von arbeitskräftigen Händen verderben hier in schnöder Träg- heit. Tausende von kräftigen Herzen brechen hier in hoffnungsloser Verzweiflung, Das ist des Resultat der absoluten Freiheit des britischen Arbeiters.

In Wahrheit steht der heutige Arbeiter weit unter der Stufe des heutigen Haustieres. Der Landmann füttert seine Pferde durch den Winter, damit sie ihm im Sommer Dienste leisten können. Der Fabrikant denkt nicht daran, sich um Leute zu kümmern, für die er keine Beschäftigung hat. Der pünktlich zu zahlende Wochenlohn ist das einzige Band, das er anerkennt und das ihn verpflichtet. Wenn somit chartistische Be- wegungen, wilde Verbrechen, Zerstörungen von Fabriken sich dem Auge zeigen, so ist es nichts AVunderbares, dass sie auftreten, sondern auffallend ist vielmehr, dass sie die Ausnahme bilden. Und der Grund hierfür ist, dass aus früheren besseren Zeiten in dem britischen Arbeiter ein solches Mass von Pflichttreue, Achtung vor den Gesetzen und schweigendem, heroischen Er- tragen übrig geblieben ist, dass er immer wieder, anstatt in laute Empörung auszubrechen, anstatt aus England eine Stätte zu machen, gegen die das Paris der franzö- sischen Revolution eine Idylle wäre, sich in Geduld

Oberhaus und Unterhaus. 177

fasst und seine Pflichten gegen die erfüllt, die längst ihre Pflichten gegen ihn vergessen haben. Er weiss es nicht, was er will, wenn sein lauter Schrei: „ein rechter Tageslohn für ein rechtes Tagewerk" einmal erschütternd aus seiner Brust bricht; um diese Forderung zu be- friedigen, bedarf es eben einer sozialen Organisation, und diese muss von den wirklich Herrschenden her- kommen. Sehen wir nun zu, in welchem Masse diese herrschenden Klassen dieser ihrer ersten und einzigen Aufgabe sich bewusst sind und ihr gerecht zu werden vermögen.

Zwei verschiedene Typen glaubt Carlyle unter den herrschenden Klassen unterscheiden zu können. Zu dem ersten Typus gehören die Mitglieder der hergebrachten Ordnung: der Adel, die Greistlichkeit und die ßechts- gelehrten, die durch ihre Repräsentanten in dem alt- ehrwürdigen Oberhause vertreten sind. Sie sind die durch ihre (Teschichte berufenen Gesetzeswächter und Leiter des Volkes. Wie erfüllen sie heute dieses ihr hohes Amt? Es ist offenbar die Voraussetzung, unter der diese soziale Gliederung zu stände kam, dass zu diesen Amtern wirklich die Tüchtigsten erhoben wurden, dass die Männer, welche vor allen andern an Adel der Gesinnung, Reinheit der Lebensführung und Verachtung irdischen Gewinns hervorragten, an Stellen gesetzt wurden, wo sie diese ihre Eigenschaften zum Wohl des ganzen Volkes bethätigen konnten. Deshall) sehen wir auch, dass in früheren Zeiten das Oberhaus wirklich das Obere, an Weisheit und Tüchtigkeit dem Unterhaus überlegene war. Denn das Unterhaus hatte es von An- fang an hauptsächlich mit zwei Dingen zu thun. Es sollte die Beschwerden des Volkes äussern, wobei jedoch dem Oberhaus vorbehalten war, zu prüfen, ob diese Beschwerden auf gerechter Grundlage beruhten oder nicht, und es sollte über die Geldfragen, Steuern und Umlagen Beschluss fassen; diese Geldfragen aber waren

Hensel, Carlyle. 12

178 Kapitel 7.

in der früheren Zeit nicht die wichtigsten oder gar die einzig wichtigen, mit denen eine Regierung sich zu beschäftigen hatte. Immer jedoch war in früherer Zeit der Gredanke lebendig, dass die Stellung eines Mitgliedes des Oberhauses keine Würde sondern ein Amt sei.

Wenn man nun aber die Lebensführung der erb- lichen Mitglieder dieser Aristokratie heute betrachtet, so wird man sagen müssen, dass eine merkwürdigere Art^ ein Amt zu verwalten, selten auf dieser Erde zu Tage getreten ist. So schwierig auch dem Arbeiter ein Leben vor Grott, d. h. in Arbeit und Pflichterfüllung geworden ist, so ist er doch glücklich zu schätzen, wenn, man sein T^os mit dem der Mitglieder der Aristokratie vergleicht. Denn wenn auch jener leidet unter dem schwersten Leiden, das einem Menschen zugefügt werden kann, dem Schicksale, keine Arbeit finden zu können, so geschieht dies unter dem Druck äusserer, ihm fremder Verhältnisse, eherner Gresetze. gegen die der Wille des einzelnen nichts vermag. Die englische Aristokratie dao-eo-en könnte arbeiten und schaffen, wenn sie nur wollte. Auch ihren Mitgliedern wäre ein köstliches Leben, das nach dem Worte des Psalmisten „ein Leben voll Mühe und Arbeit" ist. möglich, wenn sie sich nur dazu entschliesseil könnten. Und dieser Entschluss würde lediglich darin bestehen, ihre historische Aufgabe ernst zu nehmen, wirklich daran zu glauben, dass sie die geborenen Gesetzeswächter und Leiter des Volkes sind. Sie selbst aber sind dem Geist der Zeit unterlegen, der seiner Natur nach unhistorisch ist. der nur noch eine quantitative Mehrheit, nicht aber eine qualitative Verschiedenheit als das allein Massgebende anerkennt. Und so schämen sich die Mitglieder der früher so stolzen englischen Aristokratie, mit ihren historischen An- sprüchen aufzutreten; sie lassen es geschehen, dass ihre erlauchte Versammlung im besten Fall den Eindruck eines unnützen Anhängsels, im schlimmeren den eines

Aristokratie und Geistliclikeit. 179

unerträglichen Missbrauches macht, ja sie selber bringen es dazu. Und um ihr Leben auszufüllen, um der ent- setzlichen langen \\^eile. die der Fluch der Trägheit ist. einigermassen zu entgehen, verfallen sie nun dem Gegenspiel aller ernstlichen Arbeit, dem Dilettantismus. Die Edleren kosten imd naschen von allen Früchten, die Kunst und Wissenschaft zu bieten vermögen, ohne doch von ihnen den einzig menschenwürdigen Gebrauch zu machen und sich zu Arbeit und Tüchtigkeit zu stählen. Die Untüchtigeren gehen im rein körperlichen Genuss unter und betrachten ihre Seelen nur noch, wie dies einst Aristoteles von den Tierseelen sagte, „als ein Mittel, den Körper vor dem Faulen zu schützen". In geistlosen Vergnügungen und geistlosem Sport verrinnt das Leben dieser Gesetzeswächter, denen ihre ganze legislatorische Thätigkeit als ein ]\Iittel erscheint, immer strengere Gesetze gegen "Wilddiebe auszuhecken. So sitzen diese Männer in ihren prachtvollen Schlössern, die für sie schlimmere Bastillen der Trägheit geworden sind als die Arbeitshäuser für die obdachlosen Ärmsten der Gesellschaft. Zu der Zeit, als Carlyle dieses Urteil fällte, schien ihm die englische Aristokratie als ein Anachronismus, ihr Prinzip als eine unverständliche und geistlose Formel.

Als zweiter unter den historischen Leitern des Volkes tritt der Stand der Geistlichkeit auf. Sein Prinzip ist die Notwendigkeit der Lehre. Die Geistlichen sollen die geistlichen und geistigen Führer des Volkes sein und waren es thatsächlich im Mittelalter. Sind sie dieses ihres hohen Amtes eingedenk geblieben? Auch hier zeigt die englische Staatsljiirche kein erfreuliches Schauspiel. Man muss bei den Anklagen, die Carlyle gegen die Gestaltung der kirchlichen Zustände schleudert, immer die Stellung berücksichtigen, welche die Kirche zur Zeit von Carlyles Flugschriften in England einnahm. Wenn irgend jemand Belehrung braucht, wenn es irgend

180 Kapitel 7.

eine Klasse giebt, die es dringend nötig hat. aus dem Staub und Scbmutz des Tages emporgehoben zu werden zu einer reinen und idealen Auffassung der Dinge, so sind dies die arbeitenden Klassen. Hier lag weit aus- gebreitet, danach verlangend, gepflügt zu werden, „das weite Ackerfeld der Zeit", die eigentliche Aufgabe der Geistlichkeit. Schlechthin nichts ist geschehen, es an- zubauen. Die Massen in den grossen Industriestädten wachsen ohne jede geistige Hilfe von selten der Staats- kirche auf. Es sind keine neuen Kirchspiele geschalten, die geistliche Organisation hat sich gegenüber der Ver- schiebung der Bevölkerungsverhältnisse, gegenüber der Umwandlung Englands von einem Ackerbau treibenden in ein industrielles Volk als gänzlich machtlos erwiesen. Die (lei.stlichkeit hat die Zeichen der Zeit nicht ver- standen und ist ausser Berührung mit der Zeit gekommen. Statt dessen hat sie den Anschluss gerade an die Klassen gefunden, die gleichfalls ausserhalb der Zeit standen, und ist dem gleichen Fluch solcher Klassen, dem Dilettantismus, verfallen. Nur mit dem Unterschied, dass bei ihr der Dilettantismus nicht in der liebens- würdigen ästhetischen, sondern in der ganz entsetzlichen pedantischen Form auftritt. Es besteht diese Form in dem Versuche, lange als tot verurteilte Symbole des früheren Lebens zu galvanisieren, ihnen eine Art von Bewegung zu verleihen und somit den hellen Tag der Gegenwart zu einem Aufenthaltsort heulender Gespenster zu machen. Und das Schrecklichste ist, dass Menschen aus wahrer innerer Überzeugung mit dem Gefühl, ihr Bestes zu thun, ihr kostbares Leben an diese unfrucht- bare Thätigkeit setzen. So war der Puseyismus. der Versuch, die Staatskirche Englands '^nach Möglichkeit in Ritus und Dogma zu katholisieren, für Carlyle eines der traurigsten Phänomene seiner Zeit; so konnte er in all den wichtigen Fragen, die damals die englische Staatskirelie erschütterten : ob schwarze oder weisse

Stellung zum Christentum. 181

Chorhemden, ob Verbeugung vor dem Altar oder nicht und anderes mehr, nur eine traurige Verirrung. eine Abweichung der Kirche von ihrem eigentlichen Berufe sehen. Aber noch verächtlicher war für ihn der Geist- liche, der sein Amt lediglich als eine Art von Sprech- stunde für den lieben Gott Sonntags von 1() bis 12 auffasste. Jene modischen Kirchen Londons, wie sie Thakeray so unvergleichlich geschildert hat, schienen für Carlyle sehr weit davon entfernt, dem Ideal einer christlichen Kirche zu entsprechen.

Mitunter glaubt man in dieser zornigen Entrüstung Carlyles eine Polemik gegen das Christentum heraus- hören zu können. In Wahrheit hatte er in dieser Zeit eine viel innerlichere Stellung zum Christentum wieder gewonnen als in seiner litterarischen Epoche. Damals konnte er sich füglich von einer Polemik gegen die Geistlichkeit fern halten. In sein Craigenputtock klangen ihm die Kirchenglocken entfernter Ortschaften wie ein „Nachhall früherer Jahrhunderte" hinein. Das Christentum war für ihn eine ehrwürdige Vergangenheit, aber ohne lebendige Gegenwart oder Zukunft. Mit der Wendung zur Geschichtsphilosophie vollzog sich jedoch auch hierin sehr sichtbar eine Veränderung in Carlyles Denken. Je genauer er sich mit den treibenden Mächten der Geschichte, mit den sozialen Schäden der Gegenwart beschäftigte, um so deutlicher wurde ihm die welthisto- rische Rolle, die dem Christentum gebührt, um so deutlicher sah er. dass es die Abkehr vom Geist des Christentums war. welche den Grundzug des gegenwär- tigen Zeitalters l)ildete. Und zugleich wurde ihm das schöne Kapitel „Wilhelm Meisters'- über den ewigen Gehalt des Christentums viel mehr, als dies früher geschehen, buchstäbliche Wahrheit. Die Lehre des Christentums, einmal in die Welt gekommen, war für ihn ein unveräusserliches und kostbares Gut des mensch- lichen Geschlechts: der Geist des Christentums musste

182 Kapitel 7.

seiner festen Überzeugung nach als das wirksamste Bindemittel jeder menschliclien Gesellscliaft lebendig bleiben, solange eine menscbliehe Gesellschaft überhaupt bestehen würde. Aber dieser Geist schien ihm gleichfalls mit allen Arten seltsamer Formeln und Gewänder be- kleidet, sein eigentliches AVesen. das unendliche Mitleid für die Schwachen und Xiedrigen, jene dritte Art der Ehrfurcht bei „AVilhelm Meister-, den Augen fast ent- rückt zu sein. Es ist zu bedauern, dass Carlyle das letzte Kapitel seiner ..Flugschriften aus elfter Stunde", das er geplant, nicht geschrieben hat. Es sollte den Titel „Exodus aus Houndsditch" führen, welche Strasse zu seiner Zeit den Aufenthaltsort der „Händler mit alten Sachen'' bildete, und es wäre ein Gegenstück zu Teufelsdröckhs Betrachtungen in ]\Iomnouth Street ge- worden. Unter der Erlösung des Christentums aus diesen alten Kleidern verstand aber Carlyle nicht die Rück- kehr zu einem imaginären Urchristentum, sondern die Einsicht, dass es auch hier auf die schlichte Lehre des Evangeliums ankomme, die er in dem Protestantismus, wie er ursprünglich war, in der Gesinnung, dass ein jeder ohne bindende Autorität irgend eines anderen j\Ienschen selber seinen Weg zu Gott finden müsse, zu sehen glaubte. Es zeigt somit gerade die Schärfe seiner Polemik gegen die augenblickliche Gestaltung der kirch- lichen Verhältnisse, wie hoch Carlyle von der welthisto- rischen Rolle des Christentums dachte, und wie innig er wünschte, die ewigen Gedanken des Christentums in den Wirrnissen der Gegenwart ihre volle gnadenbringende Kraft entfalten zu sehen.

Ebensowenig wie der geistliche Stand füllt nach Carlyle der juristische die Stellung aus, zu der er seiner Natur nach berufen war. Xach dem geistlichen Lehr- amt hat der juristische Beruf vielleicht die wichtigste Funktion innerhall) der sozialen Gemeinschaft zu er- füllen: denn auf Gerechtis-keit und die Mfto-lichkeit. Recht

Rechtspflege. 183

zu erlangen, ist jedes menschliche Gemeinwesen begrün- det, und es kann nur so lange bestehen, als die Er- langung vun (lerechtigkeit in einem gewissen Masse mijglich bleibt. Wenn aber irgend eine Funktion der Gesellschaft auf das Genaueste mit den Thatsachen zu- sammenhängt und an ihre richtige Betrachtung gebunden ist, so ist es die Austeilung des Rechtes. Denn das Recht ist ja nach Carlyle gar nichts anderes als die Feststellung der thatsächlichen Machtverhältnisse, ihre Wertung vom sittlichen Standpunkt aus. Somit muss das Recht in dauernder Entwickelung sich befinden; es muss bemüht sein, Privilegien, hinter denen keine wirk- liche Ausübung thatsächlicher Macht steht, abzuschaffen ; es muss mit einem Wort in seiner Struktur ein ge- treues Bild des Verhältnisses der organischen Kräfte in einem Gemeinwesen geben. Mit Vorliebe citiert (Jarlyle den schönen Ausspruch Burkes, dass die ganze Verfassung Englands in letzter Linie den Zweck habe, „zwölf tüchtige Männer als Geschworene auslosen zu können."

Wie ist nun der thatsächliche Zustand, in dem sich die Rechtspflege befindet? Nirgendswo in unserer Ge- meinschaft, selbst nicht in der Theologie, begegnen wir einem solchen Gegensatz zwischen Ideal und Wirklich- keit. AVenn jemand eine Sammlung alter abgelegter Symbole machen wollte, welche behaupten, noch leben- dig zu sein, so wäre hier sein reichstes Schatzrevier. Anstatt die jetzigen Verhältnisse in ein juristisches Begriifssystem zu fassen, ist bei den Juristen nur das Streben vorhanden, die thatsächlichen Verhältnisse so zu drehen und zu wenden, dass sie zur Not irgend einem vor hunderten von Jahren geschehenen Präcedenzfall, irgend einem in jenen Zeiten gegebenen Statut allen- falls entsprechen. Damit aber ist die Idee des Rechtes, die hell und klar unser gesamtes Leben durchleuchten sollte, unter den Spinnweben juristischer Deduktionen,

184 Kapitel 7.

dem Aktenstaub halb vermoderter Pergamente und den Perrücken längst verstorbener Juristen so gut wie ver- schwunden. Was Recht ist, weiss nicht mehr das Volk, sondern nur noch einige vom thatsächlichen Leben ab- geschiedene Männer, die man l)eim besten AVillen nicht als Führer des Volkes bezeichnen kann. Und wenn nur dieses Recht so, wie es wirklich ist, erreichbar wäre! Aber der höchste Gerichtshof hat die Spanne Zeit, die ihm Cromwells Reformen zu weiterem Leben gaben, übel angewendet, die Verschleppung und Ver- teuerung des Rechtes, wie sie nach Carlvle Dickens so drastisch geschildert hat. ist schlimmer als in irgend einer früheren Zeit, und die Gegenwart späht sehn- süchtig nach einem Herkules aus, der mit reinigendem Wasser in diesen Augiasstall zugleich Luft und Licht bringen solle.

Dass Carlyle mit dieser Kritik der historischen Klassen vielfach über das richtige Mass hinausschiesst, kann nicht geleugnet werden. Aber die Folge hat ge- zeigt, dass üljerall ein Teil der von Carlyle gerügten Miss- stände thatsächlicli vorhanden war. Durch seine zornige Erregung ist an allen Orten eine Reformbestrebung mit festem Programm und zielbewusstem Wollen ins Leben gerufen worden, so dass heute die von ihm so hart ge- tadelten ßerufsklassen ein lebensfrischeres ßild darbie- ten, als zu der Zeit seiner Kritik.

Wenden wir uns nun zu der neuen sich herauf- arl)eitenden Klasse von Männern, die ebenso ausschliess- lich in der Wirklichkeit stehen, wie die historischen Klassen in der Vergangenheit. Es sind dies die indu- striellen Unternehmer und mit ihrer Thätigkeit befinden wir uns wieder auf dem Boden der Thatsachen. Wirk- liche Arbeit wird gethan. Denn hier wäre jede Schein- arbeit oder das blosse Vorgeben , zu arbeiten , gleich- bedeutend mit dem Ruin. Damit ist aber die wesent- lichste Vorbedino-uno: für alles Tüchtige im Menschen

Industrielle Unternehmer. 185

gegeben. Der Mensch, für den die Wirklichkeit wirk- lich ist, ist niemals ganz: verloren. Ob er es selber glaubt oder nicht, er steht vor dem Angesicht Gottes, und seine erfolgreiche Arbeit ist ein Stück Gottesdienst. Es sind die o-rossen technischen Erfinder . ein Arkwrin^ht , ein Watt, ein Brindley, welche die geistigen Väter dieser neuen Klasse von Menschen geworden sind schwei- gende Männer, wenig im Gebrauch der Rede geübt, aber um so geschickter, die lebendigen Thatsachen zu ver- stehen; die Kräfte der Natur nicht in logischen Syste- men, wohl aber in zweckmässiger Ausnutzung anzuord- nen und zu begreifen. Mag der Dilettantismus über diese ihre Thätigkeit noch so sehr die Nase rümpfen es ist nichts Kleines, sondern etwas Grosses, dass es Männern dieser Art gelungen ist, die widerspenstige Baumwollenfaser so zu besiegen, dass sie glatt und ge- schmeidig wird und ein taugliches Kleidungsstück für den menschlichen Körper liefert. Wenn es das Amt jedes Helden ist. Menschen zu gemeinsamer Arbeit zu organisieren, so haben diese ..Hauptleute der Industrie" ein gutes Stück heroischer Arbeit geleistet. Sie haben Bataillone von Müssiggängern angeworben, ihnen taug- liche Watfen in die Hand gegeljen und sie zum Sturm geführt gegen die Baumwolle und die Kohle, das Eisen und das Zinn, und der Sieg ist bei ihnen gewesen.

Aber mit diesem Siege ist erst die Hälfte der Auf- gabe gelöst. Zur Lösung der andern Hälfte, welche Carlyle damals zuversichtlich von dieser Klasse tüch- tiger Männer erhoffte, muss nun vorgedrungen werden. Die bisherigen Siegestrophäen bestanden für den „Haupt- mann" in einer Anzahl Tausendpfund-Xoten . für den „Soldaten" (den Arbeiter) in bestimmten Wochenlöhnen und endlicher Aussicht auf das Arbeitshaus. Die Organi- sation war nur für die Arbeit und, was schlimmer ist, nur auf Zeit. Soll eine neue Form der menschlichen Gesellschaft daraus entstehen, so muss sich diese Organi-

186 Kapitel 7.

sation auch auf das Leben erstrecken und für die Dauer als gültig erweisen. Der Fortschritt des Menschen- geschlechts besteht gerade darin, dass frühere kurze und wechselnde Verhältnisse zu langen und dauerhaften aus- gebildet werden. Dem Nomaden gehört die ganze Welt und deshalb nichts von der Welt. Erst wenn er sich an einem bestimmten Punkte der Erde festsetzt und sein Verhältnis zu diesem Fleckchen Erde zu einem dauern- den macht, ist wirkliches Eigentum vorhanden. So lange das Verhältnis beider Geschlechter zu einander ein nomadisches war , hatte es keine sittliche Bedeutung. Erst in der Form der Ehe wird aus der Befriedigung des Geschlechtstriebes eine sittliche Institution, die bis heute die Grundform aller sittlichen Verhältnisse über- haupt darstellt. Nur der ist frei, der selbstgeschalfene Sehranken anerkennt. Das ist der Grundsatz Carlyles, wie es der Fichtes war. Und nun zieht Carlyle für die Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens die Konsequenzen aus dem deutschen Idealismus, welche Fichte zu ziehen noch keine Veranlassung hatte. Auch das Arbeitsver- hältnis muss wieder aus dem n(jmadischen in den dauern- den Zustand übergeführt werden. Die Arbeiter dürfen für den Arbeitgeber nicht nur „Hände" sein, sie müssen „Seelen" werden. Jede Fabrik muss zu einem dauer- haften Organismus werden, wie es früher jedes Kloster war. Die gemeinsame dauernde Arbeit, die gemeinsame Pflichterfüllung werden alsdann aus dem Arbeitgeber so- wohl wie aus dem Arbeiter neue Menschen schaffen, zwischen denen nicht nur das Caput mortuum aller menschlichen Verhältnisse, der Wochenlohn, sondern tausend Beziehungen edlerer und menschlicherer Art ein gemeinsames Band der Treue und des Gehorsams schlingen werden.

In diesem Zukunftsbild, in welcliem Carlyle ver- suchte, das patriarchalische Verhältnis früherer Zeiten in einer unseren Verhältnissen angepassten Form wieder

Demokratie. 18 r"

aufleben zu lassen, vergass er aber nicht, class dies vur- läufig eben noch keine Wirklichkeit sei, dass die Mög- lichkeit der Verwirklichung in letzter Linie daran hänge, ob der Appell an die sozialen Eigenschaften der Unter- nehmer in ihrem Herzen einen Widerhall linden werde. Die Aufstellung dieser Forderung enthol) ihn aber nicht einer doppelten Aufgabe. Einerseits musste geprüft werden, ob die von selten der Arbeiter selber kommen- den Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lage geeignet seien, dieses Ziel wirklich zu erreichen, andrerseits mussten für den Fall , dass die Unternehmer sich ihrer sozialen Aufgaben nicht erinnerten , andere ]\Iöglich- keiten zur Heilung der sozialen »Schäden erwogen werden. Sieht man von einigen ziemlich unklaren sozialisti- schen und kommunistischen Ideen ab , die damals an- fingen , in den Wünschen der englischen Arbeiter eine Stelle zu finden , und die Carlyle nur als eine Aus- strahlung der Utopien St. Simons betrachtete , so rich- teten sich die Pläne der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage hauptsächlich auf grösseren Einfiuss auf politischem Gebiet, allgemeines Wahlrecht, geheime Stimmenabgabe. stärkere Vertretung der industriellen Bezirke im Unter- haus. Welches Prinzip liegt diesen Wünschen zu Grunde .•* Es ist zunächst die richtige Anerkennung der That- sache, dass im heutigen England das Unterhaus der eigentliche Sitz der Macht ist, die in Wahrheit regie- rende K()rperschaft. Daraus folgt das Prinzip, dass mit der Umwandlung des früher die Mittelstände vertreten- den Unterhauses in eine aus allgemeinem Stimmrecht hervorgehende Körperschaft die Demokratisierung Eng- lands zu vollenden sei, dass erst hiermit die Macht wirk- lich auf das Volk übertragen sein würde. Die Demo- kratie also war in dem England Carlyles ebenso das Ziel der arbeitenden Klasse, wie zur Zeit der französi- schen Revolution sie das Ideal des französischen Volkes gewesen war. Die Frage bestimmt sich also näher dahin :

1S8 Kapitel 7.

ist die Demokratie eine mögliche Regier ungsform für menschliche Cxemeinwesen überhaupt? Mit verdienter Verachtung Ijohandelt Carlyle die Versuche, die antiken Repul)liken als Musterbilder einer demokratischen Ver- fassung auszunutzen. Es entging seinem scharfen Auge nicht . dass diese sogenannten R.epuV)liken nur unter der Voraussetzung der Sklaverei möglich waren und in unse- ren Augen ziemlich enge Aristokratien vorstellen wür- den. Aber auch die Vereinigten Staaten von Kord- amerika hatten nach Carlyle die Frage nach der Mög- lichkeit der Demokratie nicht beantwortet. Ja, er glaubte, dass die wirklichen Schwierigkeiten einer demokrati- schen Verfassung für Amerika erst in der Zukunft sich zeigen würden. Denn die Hauptaufgabe jeder Regie- rung, eine Organisation der Gesellschaft herbeizuführen, brauchte in Amerika noch nicht in Angriff genommen zu werden. Bei dem damals noch reichlich vorhandenen unkultivierten Hinterlande war jederzeit ein Abfluss der mit den bestehenden Verhältnissen Unzufriedenen mög- lich ; eine Organisation der (lesellschaft , die über den Schutz des persimlichen Eigentums, die Sicherung des Triebes nach immer griJsserem Erwerb hinausgeht, brauchte kaum ins Auge gefasst zu werden. Erst wenn dieser verfügbare freie Boden occupiert ist. wird die Erage an die Amerikaner herantreten, ob die Demo- kratie nicht nur technisch , sondern auch sozial organi- sieren kann . und dann wird sich vielleicht die Not- wendigkeit ergeben, an Stelle der Leitung durch ge- werbsmässige Politiker eine strenge Disziplin unter der Leitung der äoiaroi . der Besten , sehr ernstlich zu er- wägen.

Für England liegt die Sache ganz anders. Es ist ein altes Kulturland, jeder Zoll des Bodens in festen Händen, dicht bevölkert von Millionen von Menschen, die zusammenleben müssen, sich nicht beliebig im uner- messlichen Raum zerstreuen können. Feste Methoden

Erfolgreiche Parlamente. 18i>

der Verwaltung, der Regierung müssen gegeben sein, und es fragt sich, ob eine parlamentarische Körperschaft überhaupt im stände ist, in diesem Sinne zu regieren. Carlyle bezweifelt die Möglichkeit hiervon. In der ganzen Geschichte hat es nur zwei parlamentarische Körperschaften gegeben, die wirklich regiert haben: das Parlament Oliver Cromwells mid den französischen Konvent. Und diese beiden haben, um ihre Regierung möglich zu machen, sehr merkwürdige und unparla- mentarische Methoden nötig gefunden. Das Lange Par- lament schloss die opponierenden Mitglieder einfach aus, und der französische Konvent tagte in so unmittel- barer Nähe der Guillotine , dass die Opposition ein weises Schweigen für geraten erachtete. Mit Reden und Debattieren, mit geschicktem ..Wackeln der Zunge" und Abstimmung ist noch niemals ein Regieren möglich gewesen, sondern nur durch strickten Befehl auf der einen und stricktes Gehorchen auf der andern Seite. Und daran wird kein noch so demokratisiertes Unter- haus etwas ändern. Ja. der Ubelstand wird schlimmer werden, als er war ; denn jeder schwatzende Redner im Hause sieht im Geist hinter sich die schwatzende Ver- sammlung seiner Wähler, und um sich in diesem seinem Lebenselemente, dem Reden, erhalten zu können, darf er nur das sagen, was diese seine Wähler zu hören wünschen, nämlich Phrasen, Phrasen und Phrasen. Der geschickte Parlamentsredner ist für alle wirklich denken- den Menschen ein öffentlicher Unfug geworden. Man weiss im voraus, an welcher Stelle der Debatte er das Wort ergreifen, welche Argumente er gebrauchen, unter welchem betäubenden Beifall seiner Partei er sich setzen wird. Sein Geruch ist unlieblich in den Nasen der Weisen.

Dies konunt daher, dass er nicht als ein Gebieter seines Wahlkreises seinen Sitz erhalten hat. sondern als ein Sklave. Wären wirklich [seine Wähler darauf

190 Kapitel 7.

aiLs, den besten Mann, den sie finden können, den sie ihrer Bewunderung für würdig halten, und dessen Herr- schaft sie sich gern unterwerfen wollen, in das Parla- ment zu schicken, dann lägen die Dinge zwar nicht gut, aber unendlich besser. Und vielleicht sogar würden diese Volksvertreter einsehen, dass es auf wirkliches Regieren und nicht auf Worte ankommt, sie würden die dazu geeigneten Männer aussuchen und ihrer schwei- genden Regierung schweigend zuschauen. Dies wäre die Euthanasie des Parlamentarismus. Aber in Wirk- lichkeit liegen die Dinge anders, ja umgekehrt. Anstatt die IMänner zu wählen, die wirklich diesen schweigend- thätigen Typus darstellen, lässt sich der Arbeiter, ge- rade weil er diese Fähigkeit nicht besitzt, durch ge- schicktes Reden blenden; auch er sieht mehr auf die Fähigkeit zu sprechen, als auf die zu handeln, und es ist schrecklich, zu denken, wie unaufhörlich bei jeder Wahlbewegung gesprochen und gelogen wird, wie un- möglich es ist. mit wirklich wahrer Rede die Stimmen der Zuhörer zu erlangen, wie notwendig der Redner, seinen Wählern schmeichelnd, ihnen die Wahrheit ver- hüllen muss. Auf diesem Wege eine wirkliche Besse- rung der Verhältnisse zu erwarten, ist einfacher Wahn- -sinn. In dem richtigen Drange, geleitet und regiert zu werden, wenden sich die Massen gerade an die Männer, die am allerunfähigsten sind, menschliche Wesen auf irgend einen richtigen Weg zu leiten.

Auch hier können wir die atomistische Tendenz unserer Zeit als die Wurzel alles Übels betrachten. In der Wählerversammlung gilt jede Stimme gleich der andern. Judas tritt auf Christus zu und sagt mit ge- rechtem Stolz : Bin ich nicht so gut wie du. eher viel- leicht besser? und schlägt auf seine Tasche, in der dreissig Silberlinge klingen. Wenn uns die Natur irgend etwas lehrt, so lehrt sie uns. dass der eine Mensch besser ist als der andere, dass das Amt des einen ist,

Das Heer. 191

zu führen, das des andern geführt zu werden, dass in allen positiven Zeiten die wenigen Heldenhaften dies Amt immer ausgeübt halben und in künftigen helden- haften Zeiten es wieder ausüben werden. Dieser Weg. die Leitung in die Massen zu verlegen, ist ein Irrweg, auf ihm lässt sich Heil nicht erlangen.

AV^enn somit das ganze moderne Staatsleben für Carlyle als mit Phrasen und trefflichen Reden. a])er mit einer Unfähigkeit zu handeln, die täglich zunimmt, durchsetzt erscheint, so weist er mit um so grösserer Freude avif eine Institution hin. die in all diesem greisen- haften Treiben sich jung, frisch und thatkräftig erhal- ten hat. Und diese ist das Heer. Im Oberhaus ist keine Regierung, in der Kirche keine geistliche Leitung, in den Rechtshöfen keine Gerechtigkeit zu erhalten; so weit sind diese ehrwürdigen Einrichtungen von ihrer früheren Höhe herabgesunken. Aber der Soldat ist wirklich das, was er zu sein vorgiebt. Er steht als eine rotbäckige Wirklichkeit mitten in dieser Welt von galvanisierten fiespenstern. Er kennt seine PHichten mid führt sie thatsächlich mit Treue und Pünktlichkeit aus. Und doch setzt sich das englische Heer aus den schlechtesten Elementen des Landes zusammen. Es sind die verlorenen Kinder des Landes, die der Trommel folgen. Wie ist es möglich, dass aus diesen Elementen ein wirklich brauchbares Werkzeug entsteht? Vor allem dadurch, dass das Heer andere Methoden der Pflichterfüllung kennt, als parlamentarische Reden und Abstimmungen, Es ist eine Schule schweigenden Cxe- horsams mit 'kurzem klaren Befehl und pünktlichem augenblicklichen Au.'^führen. Immer wo Menschen sich zusammenthun, um wirklichen drohenden Gefahren zu begegnen, müssen ähnliche Methoden angewendet wer- den. Die alten Römer verzichteten in Zeiten der Ge- fahr auf alle und jede Redefreiheit und ernannten einen Diktator mit höchst un])arlamentarischer Gewalt über

192 Kapitel 7.

Leben und Tod. Ein Schiff, welches der Gewalt von Winden und Wellen, den nackten Thatsachen der Xatur, preisgegeben ist. regelt .«einen Lauf nicht durch allge- meine Abstimmung der Matrosen, weise Reden und donnernden Beifall, sondern nach den Befehlen des Kapitäns und seiner Kenntnis der ewigen Gestirne, Und ist nicht England, sind nicht alle Länder Europas in einer ähnlichen gefahrvollen Lage? Vielleicht liegt in diesen uralten 3Iethoden mehr Weisheit und Mög- lichkeit der Rettung, als in den neueren, die wir V)e- trachtet haben.

Hiermit ist der Übergang zu einer Gedankenreihe Carlyles gegeben, die vielleicht am schärfsten den letzten Konsequenzen der Weltanschauung des 18. Jahrhunderts sich entgegenstellt, also einer AVeltanschauung, die bis heute noch in den Lehren des Liberalismus fortlebt. Es ist die Stellung zum Staate, auf die es hier ankommt. Es wurde früher gezeigt, dass die Konsequenzen des ethi- schen und wirtschaftlichen Atomismus dazu führen mussten. die Wirksamkeit des Staates gegenüber der Freiheit des Individuums möglichst zu beschränken. Der trotzigen Selbstständigkeit des Engländers, der auf die eigene Kraft vertrauend, jeden, auch den wohlmeinend- sten Eingriif von Aussen als lästige Bevormundung empfindet, musste diese x\nschauungsweise besonders kongenial sein. So war denn der Staat in der Mitte der vierziger Jahre . wo diese Bewegung ihren Höhe- punkt erreichte, thatsächlich auf seine einfachsten Funk- tionen, den Schutz von Leben und Eigentum einge- schränkt worden. Und es ist merkwürdig, wie schüchtern Carlyles Vorschläge, die Wirksamkeitssphäre des Staates zu erweitern, gehalten sind.

Zunächst wird die Analogie mit dem Heere weiter ausgedacht und in ihre Konsequenzen verfolgt. Lidem der Soldat den Werbeschilling annimmt, verzichtet er zum grössten Teil auf seine persönliche Freiheit, mit der

Imperialismus. 198

er nichts anzufangen gewusst hat. Er gewinnt dadurch etwas unendlich Wertvolleres, nämlich den Zwang, seine Pflicht zu thun. Nun giebt es aber eine grosse iVnzahl von Männern, die unter den heutigen Verhältnisen mit ihrer kostbaren Freiheit gleichfalls nichts anzufangen wissen, ja, denen diese Freiheit ein sehr gefährliches Gut geworden ist. Die Verbrecher in unseren Gefängnissen haben authentisch gezeigt, dass diese ihre Freiheit kein moralisches Gut, sondern eine höchst unmoralische Mög- lichkeit darstellt, ihre Pflicht systematisch zu unter- lassen. Sie haben den Werbeschilling für des Teufels Leibgarde angenommen, und selbst unsere atomisierte Gesellschaft mit ihrer weitgehenden Toleranz gegen sehr merkwürdige Methoden, die persönliche Freiheit zu gebrauchen, findet, dass sie mit dieser Art nicht zu- sammenleben kann. Da dies aber eigentlich eine Ab- weichung von ihrem Prinzip der schrankenlosen Frei- heit des Individuums ist, hegt sie auch keinen Groll gegen diese ihre interessanten Mitglieder. Sie lässt sie in herrlichen, gut ausgestatteten Palästen wohnen, sie ernährt sie von den Steuergeldern, welche diejenigen aufbringen müssen, die noch nicht den Weg zum Teufel gegangen sind, aber alle Veranlassung haben, ihn zu gehen, und lässt sie nur so viel arbeiten, als ihrer kost- baren Gesundheit absolut zuträglich ist. Von dem Hass, den frühere gesundere Zeiten dem Verbrecher gegenüber zeigten, ist keine Spur mehr vorhanden, denn wir alle sind ja menschliche Atome, unter eisernen Gesetzen der Notwendigkeit stehend und alle so, wie wir sein müssen. Hier ist nach Carlyle der Ort, wo die Staatsgewalt eingreifen kann und muss. Diese Leute haben bereits ihre Freiheit verloren, und es ist notwendig für sie, dass sie den Gebrauch der Freiheit wieder erlernen, bevor sie in die bürgerliche Gesellschaft zurücktreten. In England und Irland giebt es weite Strecken Landes, die nicht urbar gemacht werden können, weil die Ar- ne n s ei , Carlyle. 13

19-1: Kapitel 7.

beitskrat't zu teuer ist. In den Müstergefängnissen ist die Niclit-Arbeitskraft zu teuer. Man stelle ihre In- sassen unter scharfe militärische Disziplin, man lasse sie roden und drainieren, und wenn sie sich zuverlässig erweisen, so mögen sie zuerst als Pächter, dann als freie Besitzer des von ihnen gewonnenen Landes, als rechte Soldaten Gottes ihr Leben weiterführen. Und ebenso soll mit einer andern Klasse von Menschen verfahren werden, die auch mit ihrer Freiheit nichts anzufangen gewusst haben, noch bevor sie des Teufels Handgeld genommen haben. Die Landstreicherplage, die notwendige Konse- quenz der modernen Freiheit, würde bei solchen Mass- regeln bald aufhiu'en und der „Sumpf von allen" ein lachendes Kornfeld werden.

Endlich jene Unglücklichen, die in den Arbeits- häusern sitzen, die arbeiten möchten und nicht Arbeit erhalten können, sollen sie fortfahren, sich selber und ihren ]\Iitmenschen zur Last zu fallen"? Hier wartet eine Aufgabe für eine neue ßegierung. die etwas weniger auf Reden im Parlament und etwas mehr auf wirkliche Thätigkeit Wert legt. Der alte Geist Hengists und Horsas muss in dem anglo-sächsischen Volk wieder ge- weckt werden. Wie diese in ihren Kähnen, ohne es zu wissen, die ganze Zukunft Englands mit sich führten, so muss die Regierung sich entschliessen . neue Er- oberungszüge zu organisieren, die mit friedlichen Waffen die unendlichen unbewohnten (-rebiete der Erde der Ge- sittung und der Kultur erschliessen. England muss sich darüber klar werden, dass es schon längst nicht mehr aus einer armseligen Insel besteht, sondern dass Mil- lionen englisch sprechender Männer ausserhalb Englands gleichberechtigte Bürger zu werden verlangen. Die Idee eines ,.gr<)sseren Englands", eines gemeinsamen Reiches für Mutterland und Kolonien ist hier zuerst von Garlyle ausgesprochen, und wir ■W'issen, mit wie zäher Ausdauer England heute an der Verwirklichung

Kolonien. X95

'dieses (Gedankens arbeitet. Der rein merkantilistische Standpunkt, der damals in England der herrschende zu werden drohte, und der diejenigen Kolonien, welche mehr kosteten als einlirachten, als eine unnütze Last betrachtete, ist durch Carlyle für alle Zeiten wohl un- möglich geworden. Und zugleich dient dieser Gedanke Carlyles dazu, eine der widerwärtigsten Lehren der da- jnaligen Nationalökonomie, die von Malthus aufgestellte Bevölkerungstheorie, gründlichst zu widerlegen. Gegen- über dem Schreckgespenst einer Zunahme der Bevölke- rung der Erde, die so stark ist, dass die vorhandenen Nahrungsmittel nicht zureichen, die Menschen zu er- nähren, gegenüber den unsauberen Phantasien der An- hänger von Malthus, wie diese drohende Zunahme zu verhindern sei. war Carlyle schon in dem „Sartor Re- sartus" mit der ganzen Fülle ätzender Ironie, die ihm zu Gebote stand, aufgetreten. Nun weist Carlyle da- rauf hin, wie unendlich weite Bezirke der Erde kaum angebaut sind, wie alte Kulturstätten, die früher Mil- lionen ernährten, heute kaimi für einige Herden not- dürftige Nahrung lueten, und wie diese Gebiete die Kolonisation geradezu herausfordern, und hier findet er die naturgemässe Beschäftigung auch für jene Mit- glieder der Aristokratie, die heute in England dem leeren IJilettantismus verfallen sind. Sie sind doch die •Söhne der Männer, die einstmals wirklich England ge- führt haben. Gebe man sie ihrer früheren Bestimmung zurück, mache man sie zu Führern jener Kolonistenzüge, zu Grafen und Fürsten der friedlich eroberten Länder und England wird sowohl in den Führern wie in den Geführten, mit denen es zu Hause nichts zu be- ginnen wusste. deren edle Kräfte wie in einem Zauber- schlafe gefangen lagen, seine treuesten Bürger, seine edelsten Söhne begrüssen können.

Diese Aufgabe, die Carlyle der englischen Aristo- kratie stellt, bedeutet eine Anderuno; in seiner Wertunjr

196 Kapitel 7.

der alten und der neuen führenden Klassen. Seine „Haupt- leute der Industrie" hatten seinen Erwartungen nicht entsprochen. Seine Hoffnung, in ihnen die Kernpunkte neuer sozialer Bildungen begrüssen zu können . war unerfüllt geblieben. Ihre Einsicht blieb die eines kunst- reichen Bibers und wollte sich zum menschlich Schönen nicht entwickeln. Es ist ein rührendes Zeugnis für C'ar- lyles Optimismus, dass er sich bei diesem Fehlschlagen seiner Hoffnung nicht einer trostlosen Verzweiflung an der Zukimft des englischen Volkes überliess, sondern nunmehr neue kühnere Vorschläge machte, damit den arbeitenden Klassen das menschenwürdige Los, auf das sie von Seiten der Unternehmer nicht rechnen konnten, nun von Seiten des Staates zu teil werde. Als letzte Konsequenz seiner idealistischen Grundanschauung vom Wert des menschlichen Lebens schlechthin, die er aus Goethe und Fichte, aus Xovalis und Kant geschöpft hatte, erscheint die Idee einer allgemeinen Invaliditäts- und Altersversorgung ; freilich in anderer Form, als sie später in Deutschland wirkliche Gestalt erhalten sollte. Carlyle denkt den Staat als Unternehmer selbstständiger grosser Fabrikationen, in denen die Arbeiter als Beamte be- trachtet, d. h. nicht nach Willkür entlassen werden dür- fen und bei eintretender Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf eine Pension haben. Wenn nun die privaten L^nternehmer nach der Leerung der Arbeitshäuser, welche ihnen ..die Reservearmee der Industrie" entziehen, mit diesem Staatsbetrieb konkurrieren wollen , müssen sie ihren Arbeitern die gleiche Vergünstigung gewähren und zwar nun nicht mehr als ein freies Geschenk edler ]\Iensch- lichkeit, sondern unter dem Druck zwingender Verhält- nisse, als ein einklagbares Recht. Den Grundfehler dieses Planes, der darin liegt; dass der Staat mit den von den Fabrikanten aufgebrachten Steuern ihnen selber Konkurrenz macht, hat Carlyle nicht gesehen oder nicht berücksichtigt.

Selbstbestimmungsrecht. 197

AVenn somit der Staat die sozialen Aufgaben, welche -eigentlich die privaten Unternehmer lösen sollten, selber in die Hand nehmen muss, so muss er Ahnliches noch auf einem anderen Gebiet thun. Es wäre die Aufgabe der Kirche, für die geistige Ernährung des Volkes zu sorgen, darauf zu sehen, dass der Zusammenhang mit der menschlichen Kulturent\\T.ckelung keinem Blitglied des englischen Volkes verloren geht. Sie hat dies aus SchlaiFheit versäumt. Andererseits hat auch der Zeit- geist überhaupt dagegen Protest eingelegt . dass die individuelle Freiheit irgend eines Kindes durch den Zwang. Lesen und Schreiben zu lernen, in Gefahr gerät, zu verkümmern. Die Konsequenz von alledem ist. dass in dem heutigen England tausende von 3[enschen heran- wachsen, denen alle geistigen Güter vollständig ver- schlossen sind. Alles, was seit der wunderbaren Er- findung der Schrift gedacht und gesungen worden ist, ist für sie nicht vorhanden, sie leben im Zustande des geistigen Tierreichs. Und auch hier wieder muss der Staat eingreifen. Carlyle wusste sehr gut aus seinem Studium Friedrich Wilhelms I. . dass dieser höchst unkonstitutionelle Fürst peremptorisch darauf drang, dass in jedem Dorf seines Landes eine Volksschule sei, und dass er mit härtesten Strafen gegen die Eltern vorging, die ihren Kindern die Freiheit vom Wissen bewahren wollten. Erst w^enn diese Massregel ausge- führt ist. kann wieder ein wirklich freies Geschlecht, d. h. ein solches, das seine Freiheit zu benutzen ver- steht, möglich werden.

Alle diese Pläne für eine Gestaltung der sozialen Verhältnisse, die besser ist, als sie das gegenwärtige Zeitalter zeigt, haben eine Voraussetzung und diese Voraussetzung ist das Grundthema der Philosophie Carlyles überhaupt. Es muss die Reform des sozialen Körpers von dem einzelnen Individuum anfangen, der Wille zum Besseren muss bei dem eichenen Ich beginnen.

198 Kapitel 7.

Der ]Mensc]i muss sich erst selber wieder finden. In ihm selber, in der unbedingten Gewissheit des morali- schen Ichs liegt der archimedische Punkt, von dem aus er die mechanisierte Gresellschaft aus ihren Angeln- heben kann. Dieser energische Appell zur Selbstbesinnung, zum Durchbruch in das „ewige Ja" zeigt, dass Carlyle seine eigene geistige Entwickelung mit vollem Recht als vorbildlich betrachtete. Und ebenso zeigen seine AVorte, dass er für seine Landsleute grössere Schwierig- keiten auf diesem Wege voraussah, als er seilest sie zu- überwinden gehabt hatte. Denn was auch für „Finster- nis rmd Hindernis- ihn gehemmt haben mochte, die Grundvoraussetzung zu allem Erfolge brachte er mit : die rücksichtslose Liebe zur Wahrheit. Und gerade diese war er nicht in der Lage, bei den Engländern seiner Zeit als vorhanden anzunehmen. Es ist für einen Aus- länder schwierig, in die Seele eines fremden Volkes zu sehen, aber wenn wir den verzweifelten Kampf beo- bachten, den nicht nur Carlyle, den auch Dickens. Tha- keray, George Eliot gegen die eigentümliche selbst- zufriedene Heuchelei, die der Engländer mit dem A^'(trte ..cant" bezeichnet, geführt haben, so muss man glauben. dass man es hier wirklich mit einem Nationallaster zu thun hat. das bei andern Völkern, die wiederum ihre andern Nationallaster haben, nicht in demselben (rrade vorhanden ist. Vergleichen wir Fichtes Ethik. Er kennt als das einzige Grundlaster die Trägheit, aus der dann die Lüge und Feigheit folgen. Aber der ..cant" ist nicht einmal Lüge und noch weniger Feigheit. Er ist der feste Entschluss, Dinge nicht sehen zu wollen, die oifenkundig da sind, und die Absicht, andere, welche diese Dinge sehen, mit gesellschaftlicher und sonstiger Acht zu belegen^ bis sie sich ebenfalls für seelenblind erklären. Bis zu welchem unglaublichen Grade diese Neigung sich steigern kann, mag man u. a. in dem Buch von Held : „Zwei Bücher englischer AVirtschaftsge-

Cant. 19^

schichte" verfolgen, wo geschildert wird, wie der cant bei Gelegenheit der Debatten über die Beschäftigung von Kindern in Werkstätten zn Tage tritt. Es war durch eine parlamentarische Enquete festgestellt worden, dass Kinder von vier bis lünf Jahren in den Bergwerken eine achtstündige Schicht unter Tag machten, und einige ehrenwerte ]\ritglieder des Parlaments erklärten es für unthunlich. durch gesetzliche Massnahmen das Recht der freien Selbstbestimmung dieser britischen Unterr thanen zu beschränken. Das war nicht Bosheit, das war einfach „cant". Aber gerade darin, in dieser selbstzufriedenen, salbungsvollen Heuchelei sah Carlyle mit Recht die schwerste Gefahr für die Erreichung einer neuen besseren Weltanschauung. Der selbstzu- friedene ]\Iensch ist jeder Besserung viel mehr abge- storben als selbst der schlechteste , roheste , leiden- schaftlichste. Denn in diesem kann durch geistige Er- schütterung, durch Strafe, durch Predigt das schlafende Gewissen wieder aufgerüttelt werden, bei jenem aber hat, so zu sagen, die ganze Seele sich in Phrasen und eitel Dunst aufgelöst. So lange dieser Zustand der englischen Gesellschaft andauert, so lange sie ent- schlossen ist, diese Thatsachen zu verleugnen und die Nichtthatsachen. wenn auch nicht zu l^ehaupten, so doch durch plausible Empfehlung annehmbar zu machen, ist eine wirkliche Rettung nicht möglich , sondern nur Palliativmittel, welche die Symptome des Leidens weg- schaffen, ohne das Leiden selber zu tretfen.

Unter dem Einiiuss dieses National fehlers muss notwendig eine allgemeine Vorlielje für den Schein gegen- über der Thatsache sich ausbilden. Der Maurer will kein gutes Haus mehr bauen, das Generationen von Menschen sicheren Schutz bietet, sondern er stellt ein Scheinhaus hin und behauptet, zu glauben und will andere Leute glauben machen, dass es ein thatsäch- liches Haus sei. Der Hutmacher, der auf einem Re-

200 Kapitel 7.

klamewagen einen zehn Fuss hohen Hut die Strassen entlang führt, sucht in dem Publikum den Grlauben zu erwecken, als habe er gute Hüte gemacht, und das Publikum entspricht seinem Wunsch. Und so drängt sich überall das plausible Surrogat an die Stelle des wirklichen Gregenstandes. weil der Sinn für die Wahr- heit der Thatsachen verloren 2:eo;ano:en ist.

Im Zusammenhang mit diesen Gedanken gelangen wir nun zu einer richtigen Würdigung von C'arlyles ethischem Standpunkt, der meistens nicht ganz korrekt aufgefasst wird. Man stellt ihn gewöhnlich so dar, als ob Carlyle den Egoismus als unsittlich, den Altruis- mus als sittlich auffasse. Daran ist soviel richtig, dass der Egoismus in der That bei Carlyle die Wurzel alles Übels ist. Aber dieser Egoismus ist kein im engeren Sinne ethischer, sondern ein metaphysischer. Er besteht in der Loslösung des einzelnen Individuums als eines für sich sel])er existierenden Atoms, in der Leugnung der grossen Zusammenhänge in der Natur und in der Greschichte. In diesem Sinne ist das egoistische Individuum für Carlyle immer ein ungläubiges. Und der Gegensatz besteht also nicht zwischen Egois- mus und Altruismus, sondern zwischen Egoismus und Glaube. Das egoistische Individuum kann sehr wohl altruistisch handeln, aber dieses Handeln ist ebenso eine Scheintugend, wie die AVeltanschauung der Egoisten eine Weltanschauung des Scheins ist und zu den That- sachen in keiner Beziehung steht. Daher sehen wir, wie sich in einem Zeitalter des Unglaubens, d. h. des metaphysischen Egoismus die innere Unwahrheit auch da zeigt, wo der Wille, (xutes zu thun unzweifelhaft vorhanden ist. Auch diese Bestrebungen sind notwen- wendigerweise mit derselben L^nfruchtbarkeit geschlagen wie die Tendenzen des ganzen Zeitalters überhaupt. Nicht die Gerechtigkeit gilt in unserer Zeit als die wahre Tugend der Menschenliebe, sondern eine Art

Egoismus und Altruismus. 201

unklarer Enthusiasmus des Geluhls. den man Philan- tropie nennt. Und aucli hier folfi^t Carlyle durchaus Fichte. In dem ^Zeitalter der vollendeten Sündhaftig- keit" bei Fichte verirrt sich der Vernunftinstinkt in unklare Schwärmerei, die nichts Brauchbares liefert, sondern lediglich die Schwärmenden in eingebildete Träumereien wiegt. Und solche Schwärmereien, ent- schuldbar aber bedauernswert, vielleicht das traurigste Zeichen unserer Zeit, sind für Carlyle die Bestrebungen zur Emanzipation der Neger, die Bewegung für die Verbesserung des Loses der Grefangenen. die unzähligen wohlthätigen Veranstaltungen ohne reale Cirundlage, die Versuche, eine oder mehrere neue Religionen zu stiften, die auf dem allgemeinen Sumpf des selbstischen Zeitalters wie schillernde Blasen aufsteigen und zer- platzen.

In einer Zeit des Cllauljens werden sicherlich neun Zehntel aller Handlungen nach wie vor ,. egoistisch'' sein. Auch der gläubige IMensch isst und trinkt, treibt sein Gewerbe und sucht darin vorwärts zu kommen, sorgt für sich und die Seinen. Aber diese Handlungen, die genau so aussehen, wie die entsprechenden des nega- tiven Zeitalters, haben einen durchaus anderen Hinter- grund. Sie heben sich ab auf dem Gedanken, dass das Einzelwesen in grossen Zusammenhängen steht und dass es diesen Zusammenhängen Rechenschaft schuldig ist für den Gebrauch, den es von seinem Leben gemacht hat. Deshalb wird hier jedes einzelne Wesen von schlecht- hin unvergleichbarem AVert. Wenn wir Kunde erhalten von einem ]\Ianne, der vor Jahrtausenden ein solches Leben geführt hat, so begrüssen wir ihn als Freund, als Bruder, als Leiter ; denn wir fühlen, dass die Zeit nichts vermag gegenüber dem guten mensclüichen Willen, dass alle Menschen von dieser Art eine „Gemeinschaft der Heiligen" bilden. Carlyle hatte zu sehr den Wert des ^uten Willens erkannt, um jemals „Erfolgsetliiker"

2(12 Kapitel 7.

werden zu können. Für ihn gab es liier nur die Richt- schnur der Ethik des deutschen Idealismus, dass nichts in alle Wege gut sei, als der gute Wille.

AVenn die Aufgabe der neuen Gesellschaft, an deren Möglichkeit Carlyle niemals verzweifelt hat, die sei» wird, „einen rechten Tageslohn für ein rechtes Tagewerk" 7A\ zahlen, so giebt es nach Carlyle auch für diese Zu- kunftsgesellschaft 3Iänner. deren Tagewerk nicht der Zeit sondern der Ewigkeit angehört, und deren unbe- zahlbare Dienste keine (Tcsellschaft bezahlen kann. Es sind dies die „Lieblinge der (xötter", die sie zu dem ^Menschengeschlecht senden, um ihm den Weg zu höheren Zielen, zu höheren Idealen zu zeigen. Seltsam ist ihr Leben auf dieser Erde und seltsam ihre Belohnung. „Howard ist nicht der einzige Wohlthäter. der ohne Geld für uns gearbeitet hat, es hat deren noch einige mehr gegeben und wird deren immer geben, hoffe ich, denn die Schicksalsmächte sind freigebig und senden hier und dort einen Mann in die Welt, um eine Arbeit zu thun. für welche sie nicht die Absicht haben, ihn mit Geld zu bezahlen. Und sie schlagen ihn wohlwollend mit schwerer Betrübnis und zertrümmern seine Welt um ihn her ganz und gar zu grimmigen, eisigen Kuinen. Sie können einen umherschweifenden Verbannten aus ihrem Dante machen, aber nicht einen sanftgebetteten Podesta von Florenz, wenn sie eine göttliche Komödie aus ihm heraus haben wollen. Ja, das ist so ziemlich ihre Art, wenn sie würdige Arbeit für einen solchen Mann ha])en: sie geissein ihn auf mannigfache Weise in die richtige Seelenstimmung, manchmal fast zur Ver- zweiflung, damit er verzweifelt nach seiner Arbeit suchen und sie finden möge : sie treiben ihn dann noch mit wohlwollenden Streichen an, wenn es nötig ist. was beständig in Zwischenräumen der Fall ist. und sind in der That im Stillen entschlossen, ihn nach und nach mit wohlthätigem Tode, aber durchaus nicht mit Gold

Lohn des Helden. 203'

ZU belohnen."*) Carlyle hat sich niemals zu diesen „Lieblingen der Götter" gezählt, aber er konnte mit frommer Rührung etwas von dieser Leitung der GrÖtter in den Jahren seiner Trübsal erkennen, und so mochte er. wie sein Held Cromwell, auf dem Sterbebette glauben, dass es unmöglich sei, aus der Gnade zu fallen. Xicht für die Ewigkeit glaubte er geschrieben zu haben, son- dern für seine Zeit, aber nicht sub specie temporis., sondern sub specie aeternitatis.

*) , Flugschriften aus elfter Stunde*, pag. 187.

Kapitel 8. Das Ende.

Die Hauptbeschäftigung Carlyles nach dem Tode von Jane WeLsh ist bereits erwähnt worden: es war die Sammlung ihrer Briefe und Tagebücher. Diese für ihn unermesslich traurige Pflicht giebt den Grrundton dieser Zeit seines Lebens überhaupt. C!arlyle war im- mer geneigt gewesen, die Gegenwart nur als einen flüch- tigen Übergang von der einen Ewigkeit zu der andern zu betrachten. Jetzt vertiefte sich dieses Grefülil so stark , dass ihm häufig die Wirklichkeit zu einer AVeit des Scheins wurde, und lebendig war nur die AVeit der Erinnerung . in der seine Gedanken fast ausschliesslich weilten. In seinen hinterlassenen Tagebüchern kimnen wir diesen Prozess Schritt für Schritt verfolgen . und wir wissen von Carlyles Charakter genug, um mit Be- stimmtheit sagen zu können . dass w^ir hier wirklich diejenige Melodie hören, die sein Leben beständig be- gleitete. Es wäre noch zu wenig gesagt, wollte man Carlyle als lebensmüde bezeichnen. Er war der AVeit so vollständig abgestorben, dass er nicht einmal ein Gefühl der Abneigung gegen sie und gegen das Leben hegte; sein Zustand war der „der Abgeschiedenheit", wie ihn Meister Eckardt l)eschreibt.

Bald nach dem Tode seiner Frau war er, einer herz- lichen Einladuno" Lord Ashburtons und dessen zweiter

Häusliches Leben. 205

Gemahlin, die mit .lane Welsh intim befreundet ge- wesen, folgend, unter Ol^liut des treuen Freundes Tyndall nach ]\Ientone gereist. Erholung brachte ihm diese Reise nicht, konnte sie ihm nicht bringen ; die Reize der süd- lichen Natur, die Schönheit des mittelländischen Meeres hatten dem an die schottischen Hochlande Gewöhnten nichts Tröstendes zu sagen.

Seine häuslichen Verhältnisse regelten sich nach seiner Heimkehr so, dass, nachdem er vergeblich versucht hatte, mit seinem Bruder, Dr. John Carlyle, zusammen- zuwohnen, seine Nichte Mary Aitken ihm das Haus- wesen führte und bis zu seinem Tode seine treue und verständnisvolle PÜegerin wurde. Die alten Freunde blieben dem Greise treu, aber ihre Zahl schmolz nach und nach zusammen, und neue Bekanntschaften mochte Carlyle nicht mehr anknüpfen. Aus seiner anfangs noch umfangreichen Korrespondenz sei hier auf die Briefe an Everett hingewiesen, einen der wenigen Männer. die von Carlyles scharfem Blick ganz ohne Tadel und Makel erfunden waren, und denen er mit treuer Be- wunderung anhing, so lange sie lebten. Enge knüpften sich die Beziehungen zu Ruskin, mit dem ihn durchaus nicht eine Gemeinsamkeit der Weltanschauung verband. wohl alier ein gleich mächtiges Gefühl fürs Echte und Wahre gegenüber dem modernen Hang zu schlechter Scheinware auf materiellem wie auf geistigem Gebiet. Aber während Ruskin seinen erfolgreichen Kampf auf dem Gebiet des Handwerks und der Kunst ausfocht, während seine Interessen überwiegend auf ästhetischem Gebiet lagen, und er das Pfuschertum hasste, weil es hässlich war, war es hauptsächlich die moralische Nichts- würdigkeit, die in schlechter Arbeit liegt, gegen die Carlyles Sinn sich empörte.

Sehr selten waren die Gelegenheiten^ durch welche Carlyle sich bewogen fühlte, in die Öffentlichkeit her- vorzutreten und diese wiederum den Klang seiner Stimme

2lMi Kapitel 8.

hören zu lassen, der so oft in früheren Zeiten, unter allen vernehmlich . die Herzen erschüttert hatte. Und -eine dieser öffentlichen Kundgebungen darf hier nicht vergessen werden, denn durch sie .suchte Carlyle einer späteren Generation von Deutschen den Dank abzutra- .gen für alles, was er von der früheren empfangen hatte. Der Krieg gegen Frankreich (1870 71) hatte ihn von seinem Anfang an auf das tiefste ergriffen. Er hatte jahrelang die Symptome verfolgt, die ihm einen fort- schreitenden Zersetzungsprozess innerhalb des französi- schen Volkes zu bedeuten schienen. Widerwärtig war ihm die ganze neuere französiche Litteratur, „das neue Evangelium nach den Herrn Sue und Balzac mit ]\Ia- dame Sand ah Surrogat für die heilige Jungfrau." Am widerwärtigsten aber war ihm der Staatsstreich und •die Erhebrmg Napoleons III. zum Talmihelden des fran- .zösi sehen Volkes. Jetzt sah er mit einer Art von grim- miger Freude diese unwirkliche Macht mit den wirk- lichen Thatsachen zusammenstossen und an ihnen schei- -tern. Dieser Krieg bedeutete für ihn ein Beispiel zu .seiner Lehre vom wahren Krieg, eine Auseinandersetz- ung über die wirklichen Rechts- und Machtsphären der beiden Völker. Als dann die Friedensbedingungen Deutsch- lands bekannt wurden, und der feine Cxerechtigkeitssinn seiner Lands leute sich gegen die Annexion von zwei Provinzen wider den Willen ihrer Bewohner kehrte. glaubte Carlyle . dass mm für ihn die Zeit zu reden .gekommen sei. Sein alter Wunsch, dass England und Deutschland sich verstehen lernen möchten, dieser Wunsch, welcher in gewissem Sinn das Leitmotiv seines Lebens bildet, veranlasste ihn zu seinem berühmten Brief an die ,, Times", im November 1870. in dem er den Engländern zeigte, wie Elsass iTnd Lothringen einst Dexitschland verloren gingen, und weshall» es billig und gerecht sei. dass sie nun zum IMutterlande zurückkehr- ■ten. Seine Stimme verhallte nicht ungehört: an dem

1.S70-71. 207

Umschlag der öffentlichen Meinung zu Gunsten Deutsch- lands hat Carlyle seinen reichlichen Anteil gehabt. Der Veteran hatte nicht vergeblich sein Pilum gegen die •Gallier erhoben.

In den deutschen Leitern dieses Kampfes, besonders aber in Bismarck. sah Carlyle neue Helden aufstehen in einer Zeit, die noch vor kurzem in Buckles „Geschichte der Civilisation'- den Einfluss grosser Persönlichkeiten auf die Geschichte rundweg geleugnet hatte. Seine optimistische Geschichtsauffassung, die durch traurige Erfahrungen und die JMüdigkeit des Alters mitunter zu verkümmern gedroht hatte , sog aus der geistigen Be- ■rührung mit dieser Heldengestalt neue Nahrung und neue Hoffnung. Es war Carlyle Bedürfnis, die alten Beziehungen zu Deutschland frisch zu erhalten, und deshalb nahm er 1874 das von Friedrich dem Grossen gestiftete und nunmehr ihm verliehene Ordenskreuz des ,.Pour le Merite" an. das, wie er mit stolzer Bescheiden- heit schrieb, „bisher nur für wirkliche Verdienste gegeben worden war". Wir können uns über diesen Entschluss um so mehr freuen, als er das Grosskreuz des Bath-Ordens, das ihm Disraeli im selben .lahre an- bot, ablehnte. So erfreute ihn auch unter den unzähli- gen Beweisen der Liebe und Verehrung, die ihm sein achtzigster Geburtstag brachte, keiner mehr als ein eigenhändiger Brief Bismarcks. Es ist richtig , dass Carlyle ; durch den Glanz dieser Gestalt geblendet, glaubte, in dem deutschen Volk noch das Volk Goethes erkennen zu können. Es ist ein rührender Irrtum und zugleich eine ernste Mahnung für uns.

Bald nach der Feier seines achtzigsten Geburtstages stellte .sich eine Lähmung der seit langer Zeit ge- schwächten rechten Hand ein, schon mit dem Jahre 1873 hörte die lange Reihe seiner Tagebücher auf. Im- mer schwächer flackerte das Lebenslicht des Greises, und am 5. Februar 1881 erlöste ihn der seit lanare ert

208 Kapitel 8.

sehnte Tod und vereinte ihn nach seinem mit den -Jah- ren immer fester gewordenen Glauben mit den ihm vorausgegangenen Lieben. Ein ötf'entliches Begräbnis und eine Kuhestätte in Westminster, die geplant war, konnte nach dem letzten Willen Carlyles nicht an- geordnet werden. Als Toter kehrte er zu dem Aus- gangspunkt seines Lebens zurück und ruht von der Arbeit des Tages auf dem kleinen Friedhof von Eccle- fechan aus.

Ich habe in meiner Darstellung das Leben Carlyles enger mit seiner Lehre verbunden, als dies der Brauch ist. Es geschah dies deshalb, weil ich zu sehen glaubte, dass alle äusseren Veränderungen im Leben Carlyles ihren (Irund in einer inneren Notwendigkeit haben. Von einem merkwürdig feinen Instinkt geleitet, wusste Car- lyle, welche Umgebung für die ihn augenblicklich l)e- schäftigenden (ledanken und Probleme die förderlichste sein würde, und so stellt sich für mich sein Leben direkt umgekehrt dar, wie es z. B. bei Froude erscheint. Bei Froude ist das Leben Carlyles ein direktes Widerspiel seiner Philosophie. Jede äussere Veränderung ist durch äussere, namentlich pekuniäre Umstände bedingt. Car- lyle wird von den Dingen bestimmt. Alsdann würde seine Lehre, als deren Centralpunkt wir die Spontaneität des moralischen Bewusstseins erkannt haben, und sein Leben in einem unauflöslichen Widerspruch stehen. Car- lyle würde in dem elementarsten Zwiespalt, der die Einheit eines Alltagsmenschen stören kann, stecken ge- blieben sein, und ich glaube, dass dieser falsche Eindruck durch die Biographie Froudes, so unentbehrlich sie auch in anderer ßichtung sein mag, thatsächlich hervor- gerufen wird. Mir scheint dagegen eine solche Einheit zwischen Leben und Lehre, wie wir sie gerade bei ihm finden, selten in dem Leben eines ]\Iannes erreicht zu sein. Seine Schriften sind gar nichts anderes als der objektiv gewordene Ausdruck seines Charak-

Lelire und Leben. 2U9

t e r s , und wenn es wahr ist. dass wir einen ]Mensehen lieben müssen, bevor wir seine Wej:ke richtig verstehen können, so ist dies bei Carlyle doppelt wahr.

Es lässt sich eigentlich über die Lehre Carlyles nicht streiten, denn sie ruht nicht auf einem breiten erkenntnistheoretischen Unterbau, dessen einzelne Vor- aussetzungen kritisch nachzuprüfen sind , sondern sie ist der Ausdruck einer persönlichsten Überzeugung, ein letztes Werturteil über den Sinn und Zweck des menschlichen Daseins, das nur entweder bejaht oder verneint werden kann. Darin liegt die Ähnlichkeit mit Fichtes Gedanken von den zwei einzig möglichen Welt- anschauungen, der mechanistischen und der idealistischen, und mit seiner Bemerkung, dass es darauf ankomme, was für ein Mensch man sei, wenn man sich für die eine oder die andere entscheidet. Was Carlyle für ein ]\Iensch war, musste gezeigt werden, damit wir die Notwendig- keit seiner Wahl begründen konnten. Aber es wurde auch deutlich, dass das, was Carlyle von allen seinen Landsleuten unterschied , nicht eigentlich der Ausfall dieser Wahl , sondern das Bedürfnis nach einer Wahl überhaupt war. Und darin liegt vor allem seine Be- deutung für das englische geistige Leben des neunzehn- ten Jahrhunderts. Er ist der furchtbarste Feind des englischen gesunden Menschenverstandes, der da glaubt, dass Kenntnisse ohne Weltanschauung genügen, um mit dem Leben und seinen Problemen fertig zu werden. Diese zur Zeit des Auftretens von Carlyle herrschende Ansicht ist durch seine Arbeit unmöglich geworden, und wenn wir die geistige Entwickelung Englands be- obachten, so linden wir, dass sich in immer steigendem Masse eine reinliche Scheidung zwischen den einzig mr)glichen Weltanschauungen vollzieht. Wir linden über- zeugte Idealisten, wir finden überzeugte Anhänger einer mechanischen Weltanschauung; der gesunde 3[ensclien- verstand hat, wie es sich gehört, seine wissenschaft-

H en s el , Carlvle. 1*

210 Kapitel 8.

liehe Existenzberechtigung verloren. Der aber . der in solcher Weise in der einförmigen Dämmerung des englischen Gedankens Licht und Finsternis schied, war Carlyle.

Es ist nun auffallend, dass die Wertschätzung Car- lyles in England entschieden in der Abnahme begriifen ist. Vergleicht man den Enthusiasmus, der England bei Carlyles achtzigstem Greburtstag durchzitterte, mit den Äusserungen bei der Feier der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, so ist ein erheblich kühlerer Ton unverkennbar. Aber gerade in dieser Thatsache liegt die Anerkennung, dass Carlyles Arbeit weit über seine kühnste Erwartung hinaus fruchtbar gewesen ist. Ein grosser Teil seiner Wirksamkeit bestand ja darin, seine Landsleute auf die grossen deutschen Geisteshelden auf- merksam zu machen, ihnen zu zeigen, dass in diesen „deutschen Mystikern" Schätze verborgen seien, ohne die auch England nicht weiter fortleben könne. Er war der Wegweiser in das gelobte Land. Aber ist der Wanderer einmal auf den richtigen Weg gekommen, so blickt er auf den Wegweiser nicht mehr zurück. In der heutigen geistigen Bewegung Englands sind Goethe imd Schiller. Kant und Fichte durchaus Mitstreitende. Man ist auf ihre Werke selber zurückgegangen, man studiert sie genau so eifrig wie in Deutschland: die Wahrheit, die Carlyles Zeitgenossen als Paradoxon erschien, ist heute glücklicherweise zur Trivialität geworden. Carlyle selber hätte in seiner grossartigen Bescheidenheit nichts Besseres wünschen können, als dass seine Landsleute Goethes Werke anstatt seiner Essays über Goethe, Fichtes „Grundzüge des gegen- wärtigen Zeitalters" anstatt seiner „Flugschriften aus elfter Stunde" zur Hand nähmen. Und doch glauben wir, dass England nicht im stände ist, auch abgeselien von dieser Eolle des Vermittlers, auf (Carlyles Mit- arbeiterschaft zu verzichten. Es kann kein Volk in der

Wertung Carlyles in England. 211

Welt das Andenken an einen treuen und wahren Mann entbehren, den es glücklich genug war, als seinen Sohn begrüssen zu dürfen. Die Summe dieser l^Iänner, das Mass, in dem ihre Arbeit im Volke lebendig ist, macht den Wert eines Volkes aus, und die Gedanken Carlyles werden noch für lange Zeit streiten, wenn die vorüber- gehenden Einflüsse und die vorübergehenden Xebel- schichten, die ihren (ilanz für den Augenblick ver- dunkeln, längst zu Boden gesunken sind. Einen solchen ephemeren, aber für den Augenblick sehr mächtigen und für Carlyles Andenken nicht förderlichen Einfluss übt die ästhetische Richtung in England aus. Carlyles Ver- hältnis zur Kunst, namentlich zur Malerei, bildet seinen schwächsten Punkt. Es hängt das so eng mit seiner ganzen Art zusammen, dass wir dies Fehlen lediglich als den starken Schatten betrachten müssen, den ein starkes Licht notwendig erzeugt. Durch Ruskin imd Rossetti, von andern zu schweigen, ist augenblicklich ein Kunstlieber in England herrschend geworden, das neben vielem Wertvollen auch ein erschreckendes AVachstum des Dilettantismus gebracht hat. Und man kann es den An- hängern dieser von Carlyle tötlich gehassten Richtung nicht verübeln, wenn sie nun ihrerseits in Carlyle nichts anderes sehen wollen als dengrossen Bauern aus Annandale. Es ist zu hoffen, dass die Synthese von tüchtigem praktischen Schaffen und künstlerischer Freude, wie wir sie bei Goethe sehen, sich auch in England herausbilden möge, und dann werden auch die Gedanken Carlyles nicht entbehrt werden können. Einen Fingerzeig für diese frohe Zukunft bietet uns ein Blick auf die getreuesten Anhänger Carlyles. Wo der Widerstand gegen Carlyle am zähesten war, bei seinen Reformgedanken auf sozialem Gebiet, da ist er am gründlichsten gebrochen. Jedes Jahr bringt aus England neue Kunde von Reformen auf wirt- schaftlichem Gebiet, die lauten, als wären Carlyles Ge- danken in Gesetzesparagraphen zusammengefasst worden ;

212 Kapitel 8.

und dies ist in der Tliat der Fall. Immer schwäclier wird der Widerstand gegen die geschlossen vordringende Schar von Carlyles »Schülern, und es ist zu hoffen, dass Ijald die letzten Spuren jahrzehntelanger Gleichgültigkeit und Taubheit gegen die Klagen der handarbeitenden Klassen Englands getilgt sein werden. Woge bald der Tag kommen, wo auch auf diesem G-ebiet Carlyles Schriften nur noch historischen Wert besitzen.

Es bleibt nun noch ein Wort über die Bedeutung ■C'ärlyles für Deutschland übrig. Es ist vielleicht bei- spiellos in der Geschichte der geistigen Bewegungen, wie eilig das deutsche Volk es hatte, sich von den Gedanken des deutschen Idealismus abzuwenden und Gedanken zu verarbeiten, von denen Carlyle in glücklicher Unkenntnis der deutschen Verhältnisse nach Goethes Tode einmal behauptet hat, dass sie für jeden Deutschen überwundene Standpunkte seien. Der deutsche Geist schien sich in der mächtigen Gedankenproduktion zu Anfang des neun- zehnten Jahrhunderts totgeblüht zu haben, und alle Kräfte des Verstandes wandten sich dem „fruchtbaren Bathos der Erfahrung" zu. Den Gründen dieser Er- scheinung nachzugehen, ihre guten Seiten hervorzuheben, würde hier zu weit führen. Genug, dass erst in unserer Zeit eine intensive Beschäftigung mit jener grossen Epoche des deutschen Geisteslebens auch ausserhalb der Kreise der Fachgelehrten beginnt und dass nach dem ßuf: „Zurück zu Kant" immer vernehmlicher der andere: „Vorwärts zu Fichte" folgt. Und in diesem „Kampf um einen Lebensinhalt" ist Carlyle ein wert- voller Genosse. Gerade der Teil seiner Lebensarbeit, der die letzte Hälfte seiner Thätigkeit ausmacht, ist für uns von unermesslichem Wert. Auch wir hatten ja gelernt, über den unpraktischen deutschen Idealismus achselzuckend zu lächeln, weil wir ihn nicht mehr kannten. Es ist das Verdienst Carlyles auch für uns, dass wir gesehen haben, wie unmöglich eine praktische

Was l^edeutet Garlyle für Deutschland. 213

Beschäftigung mit den Problemen des sozialen Lebens ist. die nicht auf dem Grundgedanken der deutschen Geschicht-sphilosophie und damit des deutschen Idealismus ruht. Wir haben das Glück gehabt, dass sich die Ent- wickelung Deutschlands zum Industriestaat später vollzog, als dies in England der Fall war. Wir haben das weitere Glück gehabt, einen mächtigen Staatsmann zu besitzen, der die Gefahren dieser Entwickelung voraussah und mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit sein Volk auf die Wege zwang, welche diese Gefahren vielleicht beseitigen können. Aber sein Werk bedarf des Ausbaus, und hier wie in England sind es in erster Linie die Schüler Carlyles, die dazu aus ganzem Herzen sich gedrängt fühlen. Es ist nicht fremdes Eigentum, mit dem wir arbeiten, es sind die schweren Goldbarren des deutschen Idealismus, die Carlyle mit treuer Mühe in vollwichtige ölünzen umgeprägt hat, und die nunmehr in Deutschland ihren Umlauf beginnen, ein belebender Strom der Gesittung und des Vertrauens auf die Zu- kunft unseres Volkes.

Synchronistische Tabelle für Carlyles Leben und Schriften*).

Leben. Schriften.

1795 4. Dez., Thomas Gar-

lyle, geboren in Ecclefe-

chan , Grafschaft Dum-

fries, Schottland (9). 1804 Unterricht in Annan (13). 1809 StudentinEdinburgh(l4). 1814 Lehrer der Mathematik

in Annan (16).

1816 Schulleiter in Kirkcaldy.

Freundschaft mit Irving (17).

1817 Miss Gordon (Blumine)

(20).

1818 G. und Irving verlassen

Kirkcaldy. Rückkehr nach Edinburgh. (20). 1818 1820 Arbeit für Brew- sters Encyklopädie (20).

1821 Mai, Bekanntschaft mit

Jane Weish (40).

Juni, Geistige Krisis (37).

November, Irving geht nach London (18).

1822 Hauslehrer bei Mr. Buller 1822 Erster Aufsatz über Faust

(41). (New Edinburgh Review)

(42).

*) Diejenigen Werke, von denen mir eine deutsche Übersetzung bekannt, ist, sind mit dem deutschen Titel angeführt. Die eingekl.immerten Zahlen geben, die Seiten des Buches, auf denen das Ereignis oder die Schrift behandelt wird.

Synchronistische Tabelle.

215

Lehen.

1824 Ende dieser Stellung f45).

Anfang des Briefwechsels mit Goethe (46).

1824 1825 Aufenthalt in Lon- don und Birmingham(45).

Besuch in Paris (45).

Rückkehr nach Schott- land, Hoddam Hill (47).

Verlobung mitJaneWelsh (48).

1826 17. Oktober, Heirat (49). Zieht nach Gomely Bank, Edinburgh (50).

;1828 Graigenputtock (52).

.1829 Jeffrey tritt von der Lei- tung der Edinburgh Re- view zurück.

Schriften.

1824 1823 Leben Schillers in

Aufsätzen veröffentlicht (London Magazine) (43).

Übersetzt Legendre, Ele- ments de geometrie (42).

Übersetzung Wilhelm ' Meisters (44).

1825 Leben Schillers als Buch

(44).

1827 Deutsche Dichtung in

Übersetzungen (Edin- burgh Review and Foreign Review) (42. 48, 55).

Aufsatz über Richter(91), State of German Litera- ture (Edinburgh Review).

1828 Life and Writings of

Werner (Foreign Re- view).

Goethes Helena (Foreign Review) (81).

Goethe (Foreign Review) (79).

Burns (Edinburgh Re- view) (85).

Life of Heyne (Foreign Review).

1829 German Playwrighls (Fo-

reign Review).

Voltaire (Foreign Review) (145).

Novalis(ForeignRev.)(75).

Signs ofthe Times (Edin- burgh Review).

216

Synchronistische Tabelle.

Leben.

1831 Reise nach London um

Sartor Resartus zu ver- öffentlichen (58). Rekanntschaft mit J. S. Mill (60) mit Leigh Hunt (61).

1832 Tod seines Vaters (11,62).

Rückkehr nach Graigen- puttock. GoethesTod(62).

S c h ri f ten. 1S3U History (Fräsers Maga- zine) (129).

Richters Review of Ma- dame de Stael (Fräsers Magazine).

1831 Charakteristik unserer Zeit (Edinburgh Review) (130, 133).

Schiller (Fräsers Maga- zine) (84).

1832

1833 Emersons erster Besuch. 1833 (63).

Goethes Works (Foreign Quarterly Review) (80). Biography (Fräsers Ma- gazine) (79). Boswells Johnson (Frä- sers Magazine) (87). Goethes Tod (NewMonth- ly Magazine). Goethes Portrait (Fräsers Magazine).

Gorn-law Rhymes (Edin- burgh Review) (167). On History again (Frä- sers Magaz.) (129). Diderot (Foreign Quai ter- ly Review) (131, 145). Gagliostro (Fräsers Mag.). Sartor Resartus in Auf- sätzen (Fräsers Magazine) (55, 59, 91, 142).

1834 Endgültigeübersiedelung

nach London, 5 Gheyne Row, Chelsea (64). Tod Irvings (19, 102).

1835 Bekanntschaft mit Ster-

ling (103).

1837 Beendet, Die französische Revolution" (105).

1835 OntheDeathofEdwardlr-

ving (Fräsers Mag.) (102).

1836 Buchausgabe des Sartor

Resartus in Amerika(l 10).

1837 , Französische Revolu-

tion* (103, 146).

Synchronislisclie Tabelle.

217

J

Leben. 1837 Vorlesungen in London über deutsche Litteratur.

(108).

1838 Vorlesungen überKullur- perioden in Europa (108).

1839 Plant Cromwell (111). ■— Vorlesungen über ,Die

französische Revolution" (108).

1840 Vorlesungen über Helden

U.Helden Verehrung (108).

Versuch, die Londoner

Bibliothek zu begründen.

1844 Tod Sterlings (114).

Schriften.

1837 Diamantenhalsband (Frä-

sers Magazine).

Mirabeau (London and Westminster Review).

Parlamentary History of the French Revolution (London andWestminster Review).

1838 Buchausgabe des Sartor

Resartus inEngland( 1 1 0). 1838 Buchausgabe der Essays in Amerika (110).

Scott (London and West- minster Review) (86).

Varnhagens Memoiren (London andWestminster Review).

1830 - Chartismus (110).

Sinking of the Vengeur (Fräsers Magazine).

1842 Tod seiner Schwieger-

mutter (109).

1843 Bekanntschaftm. Dickens 1843

und Mazzini (113).

1841 Helden und Heldenver- ehrung (135, 145, 154). Baillie, The Covenanter (London andWestminster Review).

Einst und Jetzt (Fast and Present) 137, 141, 169). Dr. Francia (Foreign Quarterly Review).

1847 Zweiter Besuch Emer- 1847 sons (115). Bekanntschaft mit Lord Ashburlon (116).

1845 Leiters and Speeches of 01iverCromwell(ll 1,160). ZweiteAuflage von Crom- well (Squires Leiters) (112).

218

Synchronistische Tabelle.

Leben. 1849 Besuch in Irland. Bekanntschaft mit' Robert Peel (115).

Sir

1852 Besucht Deutschland in

Begleitung Neubergs; Be- such bei Tieck (117).

1853 Tod seiner Mutter (118). Bekanntschaft initRuskin

(205).

1858 Zweite Reise n. Deutsch- land (120).

1865 Zum Rektor der Univer-

sität Edinburgh gewiUilt (122).

1866 2. April, Rektorats-

rede (122).

21. April, Tod seiner Frau (124).

Reise nach Mentone (205).

Sehr i ften.

1849 Negerfrage (Fräsers Ma-

gazine) (155).

1850 Flugschriften aus elfter

Stunde (Latter-day Pam- phlets Fräsers M.) (119, 151, 202).

1851 Life of John Sterling(114).

1855 Der Prinzenraub (West- minster Review).

1858 Erste zwei Bände Fried- richs d.Grossen( 117, 120).

1863 American iliad in a Nut- shell.

1865 Letzte Bände Friedrichs d. Grossen (120, 161).

1874 Verleihung des Pour le

Merite (207).

1875 Lähmung der rechten

Hand (207). 1881 - 5. Februar, - Tod (207).

1871

1872 Dritter Besuch Emersons. 1872

1867 Den Niagara hinunter (Shooting Niagara [Mac- millans]).

Letter on the Franco- German War (Times) (206).

Early Kings of Norway (Fräsers Magazine). Portraits of John Knox (Fräsers Magazine),

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5

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88 S. 8". Brosch. M. 1.50.

Versuch über die Ungleichheit der Menschenraceu.

Vom Grafen Gobineau. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann. l. Bd. 2. Aufl. 326 S. Brosch. M. 3.50. Geb. M. 4.50; II. Bd. 2. Aull. 388 S. Brosch. M. 4.20. Geb. M. 5.20; ni. Bd. 440 S. Brosch. M. 4.80. Geb. M. 5.80; IV. Bd. 424 S. Brosch. M. 4.50. Geb. M. 5.50.

O ob in Bau hat stolz nnd gro^s es ausgesprochen, er habe zuerst die wirkliche noch anerkannte Basis der Oeschichte aufgedeckt. Schwerlich möchte er nich mit seinem Glauben überhohen haben! . . . Der , Nationalitäten"-, d. h. eben der Itacen-Gedanke durch- zieht das moderne Völkerleben heute mehr denn je, und keiner kann sich mehr der Em- pfindung erwehren, dass alle modernen Nationen vor eine Entscheidung, eine Prüfung ge- stellt sind, was sie al« Nationen d. h. eben nach ihrer Racen-Anlage, ihren Mischungs- bestandteilen, dem Ergebnisse ihrer Racenmischiingen wert seien, inwieweit sie dunkel geahnten, Tielleioht mit Vemichtang drohenden Stürmen der Znknnft eewachiiAn sein werden.

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1578

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Hensel, Paul

Thomas Carlyle 2. durchges,

Aufl.

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