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Locke* s V er f u c h
über den
menfchlichen Verftand
aus dem Englifchen übei-fetzt
mit einigen Anmerkungen und einer Abhandlung |
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den Empirismus in der Philofophie
von D. Willielm Gottlieb Tennemann.
ErTter Theil.
I e 11 a,
im Verlag des akademifchen Lereinftituts. i 7 9 5.
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Vorrede
des Ueberf etzers*
«ine neue Ueberfetzung von Locke' e Verfuch über den inenfchlichen Verftancl dürfte leicht als eine nach dem jetzigen Zu« ftande der Philofophie ganz überllüfsige Ar- beit angefehen werden. Wozu, könnte man Tragen, ein fo weitläufiges Werk überfetzen, in dem nichts gefagt ift, das nicht feit dem weit befler und gründlicher abgehandelt wor- * Ä den
iv Vorrede
den; das neben manchem Guten doch auch viel Unrichtiges enthält? Und wenn es auch lauter Wahrheiten in fich fafste, fo find es doch nun langft bekannte Sachen, welche durch de-n Stil und den Vortrag des engli- fchen Philofophen keinen neuen Reitz, kei- ne neue Empfehlung erhalten. Seine Phila- fophie und Sprache erhebt fieli nicht über das Mittelmäßige • er gehet in keiner Unterfu- chung auf die letzten Gründe zurück, er er- fchöpft keinen Gegen ftand ; und man fucht daher vergebens Auffchlüfse über irgend ei- ne intereflante Speculation oder Idee, Er trägt nur das vor, was dem gemeinen Men- fchenverftand , ohne tiefe Forfchungen, Er- örterungen und Demonftrationen einleuch- tet, und fchreibt daher auch für keine Phi- lofophen im ftrengen Sinne diefes Worts, fondern vielmehr für die zahlreichere Klaffe von Menfchen von gefundern Verftand. Und auch für diefe ift fein Buch nicht zweckmä-
fsi*
desUeberfetzers, v
fsig, weil es zu trocken und ohne gefälli- ge Darftcllung gefchrieben ift. Was für Nu- tzen foll man alfo von einem Teichen Werke erwarten. Ift nicht eineUeberfetznng davon etwas Ueberflüfsi^es, deflen wir in diefen fchreibfeligen Zeiten fchon fo genug haben ?
Diefe und andere Einwendungen hat fich der Ueberfetzer felbft Oft vorgehalten , und er war daher lange unfchlüfGg, ob er diefe Arbeit übernehmen oder aufgeben follte. Nach reiflicher Ueberlegung aber fand er auf der andern Seite eben fo ftarke Gründe, wel- che für diefe Unternehmung fprachen; und er liefs fich endlich durch die letzten , wozu noch die eigne Aufforderung des Verlegers kam, beftimmen. Davon mufs er jetzt dein Publicum einige Rechenfchaft ablegen.
So fehr auch die Lockjfche Fhilofophie von Seiten der Popularität und des Mangels
5 an
vjt Vorrede
an Gründlichkeit vielleicht Tadel verdienet, fo ift ße doch an Geh und durch die Folgen, die weitaus fehend genug find, immer eine merkwürdige Erfcheinung gewefen. Locke hatte denfelben Zweck als Kint. Er wollte den Inhalt und Umfang des menfchlitheu Verftandes beftimmen, und durch Feftfetzung feines Gebiets der Philo fophie nicht nur eine fichere Grundlage vorbereiten , fondern auch aus ihr die Streitfucht und den Geift des Zwei- fels verbannen. Wenn nun gleich die Ausfäh- rung dem Zweck nicht entfprach, fo ift doch diefer H.hon an fich wichtig genug, dafs er euch ]'etzt noch die Aufmerkfamkeit auf diefePhi- lofophie lenken kann, und er erhält dadurch noch mehr Intcrefle, dafs in der neueften Epoche der Philosophie die Kritik des Ver- ftandesvermögens das Haupthema worden ift.
Es ift wahr, dafs man in dem ganzen Werke nicht viel neue oder unbekannte
Ideen
des Ueberfetzers. vir
Ideen findet; allein eine Vergleichung mit der kritifchen Philöfophie wird doch immer noch merkwürdige Stellen genug aufwei« fen , in welchen Locke fich den Ideen des Königsbergifchen Philofophen mehr oder we- niger näherte, z. B. die Unendlichkeit der Vorfiellung von Zeit und Raum wegen der unendlich möglichen Synthefis; andere, wo er Winke auf fruchtbare Unterfuchungen hinwirft, die dem künftigen Nachdenken aufbewahret blieben , und nun durch die kri- tifche Philöfophie wirklich ausgeführt wor- den find, z, ß. der Wink von der Unzertrcnn- lichkeit der Zeit und des Raums 2 B. i5Kap» §. r2. am Ende. Ueberhaupt ift es interer- fant, die Lockifche Philöfophie mit der Kri- tifchen zu vergleichen , und zu bemerken, wie die erftere von der letztern abweicht und wie jene meiftenlheils nur Sätze undRe- fultate aufstellt, zu welchen erft durch die letztere die wahren Gründe entdeckt wor- * 4 den
vm Vorrede
den find , wie man z. B. in den Kapiteln von Zeit, Raum, Subftanz finden wird. Das ganze dritte Buch ift reich an fcharfün- nigen B^merkuu^en über die Sprache in phi« lofophifcher Hinficht,
Es iß wahr, Loeke's Verfuch über den jnenfchlichcn Yerftand ift nicht fovvohl eine Speife für die Starken als für die Schwachen. Die Urfache davon liegt darin, dafs er eine Philofophie, welche für Jedermann faßlich und rerftändlich ift, für die wahre hielt, und d^fs er fich Gemeinnützigkeit und allgemeine Verftändlichkeit zum Ziel fetzte, und dadurch die W iiTenfchaft von den unnützen Specula- tionen zu reinigen fuchte. Aber eben darum giebt es noch immer eine grofse Amahl von Lefern , welche auch die lc ichtere Phi- lofophie eines Locke intereffiren kann. Denn für diefe enthält fie noch immer Nah- run»
des Ueberfetzers.
ix
Hing genug für den Verftand, und vielfälti- gen Stoff und Anlafs zum Nachdenken.
Doch wir wollen hier von dem Inhalte abftrahiren, und nur bei den Folgen ftehen bleiben, welche das L o <■ k f c h e Svftem gehabt hat. Es ift wohl nicht zu leugnen, dafs die- fes mehr Anhänger und Vertheidiger gefun- den hat, als jedes andere, felbft als das Leib» riitzifche. Eine grofse Anzahl von Philofo- phen in Deutfchland fo wie in andern Lan- dern betrachtete die Philofophie des Lecke als die wohlthätigfte Eifcheinung, als die einzig wahre Philofophie, oder doch als die Grund- lage zu derfelben; fie fchöpfterj aus derfelben ihre Grundfätze, welche fie weiter entwikel- ten, mit neuen Eleweifeii unteriiuUten, und fo in eiuer andern Geftalt fchriftlich, und münd- lich lehrten. Es ift hier nicht der Ort zu unterfuchen, worauf üchdiefe grofse Ausbrei- tung der Lockifchen Philofophie gründet, * 5 genug
x Vorrede
genug es ift eine ausgemachte Thatfache, dafs fle auf den (rang der Pbilofophie in neuern Zeiten einen fehr groTsen Einflufs hatte* Selbft Hurne gieng bey feinem Skepticismus, wodurch er alle dogmatifche Syfteme beitritt, von Lock s Grui:d(itz von dem empirifchen Urfprunge aller Vorfteilungen aus. Auch jetzt noch machen die Anhänger des empiri« fchen Dogmatisinus oder der Lockifchen Pbilofophie bei dem Streite, in welchen die kritifche Philosophie mit der dogmatifchen verwickelt ift , keine unbeträchtliche Parthie aust
Eine Philofophie, die alfo in gewiiTen Rückfichten noch immer , theils Einflufs auf die Beurtheilung philofophifcher Schriften und Verfuche hat , theils felbft Object der Beurtheilung der kritifchen Philofophie ift, verdient auch jetzt noch eine nähere Betrach- tung und Kenntnifs, Und woher kann diefe
.befler
des Ueberfetzers» xi
beiTer gefchöpft werden , als aus dem Origi- ginale oder aus einer treuen und lesbaren Ueberfetzung ?
Das Original iß aber feiten, fo wie es mit mehreren englifchen Werken ift, und eine vollkommene Ueberfetzung ift davon noch nicht vorhanden. Von den frarzöfi- fchen kann ich nichts Tagen, weil ich fie nicht mit dem Original verglichen habe; de intereffiren uns Deutfche aber auch weniger, als die Ueberfetzungen in unfre Sprache. Die einzige bisher erfchienene deutfche Ueberfetzung von Poley* Altenburg 1767» 4. ift nicht nur fehr weitfehweifig, Jchlep- pend und daher äufserft unangenehm zu le- fen , fondern hat auch nicht einmal durch- gängig das Verdienft der Treue, Es wäre überflüfsig, diefes Urtheil noch mit Belegen zu unterfuchen; der blüfse Aofchein fchon kann, Jeden von der Richtigkeit deflelben
über-
-Mi Vorrede
überzeugen. Aber kann nicht der Auszug aus I ockes Werk, weichen Tittel Mann- heim 179? 8. herausgegeben hat, die Stelle einer Ueberfetznng vertreten, und hat diefer nicht wohl gar Vorzüge vor einer Ueberfe- tzung, da er mit Ausladung alles Ueberflüf- (rgen und aller Wiederholungen , nur den wefentlichen Inhalt darfteilt?' Daran zwei- feln wir fe]ir. Ohne uns in eine Kritik die- fer Bearbeitung und ihres Werths einzulaf- fen, bemerken wir nur dicfs, dafs diefer Aufzug — denn das ift es wirklich, was Hr. Tittel geleiltet hat, ob er gleich ge- gen diefen Titel proteftiref — fo fehr ihm auf der einen Seite die Kürze zu ftatten kommt , auf der andern Seite noch weit trockener, als das Original geworden ift« Eine Menge von fremden Worten und nicht glücklich gebildeten Kunftausdiücken , von denen das Original nichts weiTs, muffen rtpthwendig dazu dienen , die Lecture
noch
des Ueberfetzers. *xiri noch ermüdender und unintereilanter zu machen.
Aus dieTen Gründen hielt ich eine Ueber- fetzung diefes philofwphifchen Verfüchs kei- nesweges für überflüfsig. Ob diefe Gründe auch dem Publicum entfcheidend fcheineu werden , weifs ich nicht.
Jetzt nur noch einige Worte von der Ueberfetzung felbft. Ich habe mich beftrebt, den Silin des Originals deutlich und richtig darzuftellen, ohne mich fclavifch an die Wor- te zu binden. Da der englifche Philofoph etwas weitfchweifig fchreibt und üch oft wieder- holet, fo fchien es mir eine unumgängliche Pilicht des Ueberfetzers zu feyn , den Vor- trag, fo viel als ohne Verluft für den wefent- lichen Inhalt und ohne Nachtheil für den Stil der Ueberfetzung gefchehen konnte, zu- fammenzudrängen und das Ueberilüfsige zu
be.
Xiv V o r i e d e
befchneiden. Dem ungeachtet ift die Ueber- fetzung wegen des kleinen Formats fo bo- genreich geworden, dafs der erfte Band nicht das Zweite Buch ganz fallen konnte» Das Ganze wird daher drei Bände ausmachen» Die Eintheilung des Originals in Bücher, Kapitel und Paragraphen nebft deren Ueber- fchrift ift beibehalten worden»
Ich habe bei der Ueberretzung die zehnS te Ausgabe des Originals gebraucht. An Effay concerning human Underftanding. In four Books, written by John Locke Gentl. The tenth Edition with lar?e Additions. London 1701. 8. Die Zufätze find meiftens po- lemischen Inhalts und daher auch nicht mit üb er fetzt.
Hier und da find einige kleine Anrner« kungen hinzugekommen , welche vorzüglich den Zweck haben, auf Locke's Getichis-
punct
des Ueberfetzers, xr
punct aufmerkfam zu machen , und einige Stellen zu erläutern. Die Behauptungen des Locke zu prüfen, zu beurtheilen, rwit der kritifchen Philofophie zu vergleichen , oder auch zu widerlegen, fchien mir nicht zweck- mäßig zu feyn , und ich würde dadurch das Buch, das vielleicht fchon zu weitläufig ift, nur noch mehr vergrößert haben. Wer Luft und Beruf zu diefer Art von Geiftesbe- fchäftigung hat, wird es auch ohne Anmer- kungen, und mit defto mehr Nutzen und Ver- gnügen thun , je weniger ihm dabei vorge- arbeitet ift. Und für andre waren folche Anmerkungen doch ohne Zweck. Anftatt derfelben fchien es zweckmäfsiger zu feyn am Ende des ganzen Werks noch eine Ab- handlung über den Empirismus in der Philofophie beizufügen , welche die Ver- anlagung, den Geift und den Einfluß der Lockifchen Philofophie im Allgemeinen darftellen foU.
Wenn
xvl Vorrede des lieber fetzers.
Wenn diefe Ueberfetzung Beifall findet, fo werde ich nach Beendigung derfelben Leibnitzens Verfuch über den menfch- lichen Verftand auf ähnliche Art bearbeiten.
Vor-
Vorrede
des
Vcrfaffers.
••■ch übergebe hier dem Publicum ein Werk, welches mich in einigen leeren und traurigen Stunden angenehm befchäftiget hau Ifi es fo glücklich, dafs es auch dem LeTer pine angenehme Befchäftigung und nur halb To viel Vergnügen bey der Lecture, als mir bei der Ausarbeitung gewahret, fo wird er fo wenig fein Geld als ich meine Mühe für übel
xvnt Vorrede
angewendet halten. Man glaube nicht , date ich damit mein Buch empfehlen will, oder dafs ich zu fehr dafür eingenommen bin, weil mir die Ausarbeitung defielben Vergnü- gen machte. Wer die Falken auf Sperlinge und Lerchen lofsläfst, hat eben fo viel Ver- gnügen, als wenn er auf bedeutendere ^ ö^el Jagd macht. Und derjenige hat fehr wenig Kenntnifs von dem Gegei ftande diefer Ab- handlungen, der nicht weiTs, dafs in dem Verhältnifle , alö ad Verfiand das erhabenfie Vermögen der Seele iit, die Befchäfii^ung mit demfelben auch ein weit gvöf eres und dauerhafteres Vergnügen gewähret, denn jede andre Geiftesarbeit. Das Forfchen des Ver- ftandes ift eine Art von Falknerei und Jagd wobei das Nachjagen felbft nicht den klein- sten Theii des Vergnügens ausmacht. Jeder Schritt, den der Verftand in dein Streben nach Erkenntnifs vorwärts thut, führt eine Entdeckung herbei , welche, wenigftens zu
def
des Verfaffers. xrw
der Zeit, nicht nur neu fonderh auch die voizüglichfte ift.
Der Verßand urtheilet, wie das Auge von den Objecten nur allein durch leine eigne * Anficht; alles was er entdeckt, mufs ihm Vergnügen gewähren, was ihm entgeht, macht ihm keine unangenehme Enpfiutlung, weil er es nicht kennt. Wer zu gTofs denkt, Um vou Allmofen und den Brocken erborg- ter Meinungen in Trägheit zu leben, und wer fein eignes Denkvermögen in Thätigkeit fetzt, um die Wahiheit 2U finden und za befolgen , der wird nie des Vergnügens ver- fehlen, er finde, was er wolle ; jeder Augen« bli< k feines Nachforfchens wird feine Bemü- hung mit einigen angenehmen Gefühlen be» Johnen , und wenn er fich auch keiner gro- ssen Ausbeute rühmen kann, fo hat er doch nie Üf fache, <;ie darauf gewandte Zeit alg verfchwendet zu bedauern.
xx Vorrede
So iß das Vergnügen derer, welche ihren eignen Gedanken freien Spielraum geben^ und nur das Selbftgedachte zu Papier brin* gen , und der Lefer follte fie darum nicht beneiden, weil fie ihm einen ähnlichen Ge- nuls bereiten , wenn er bei dem Lefen mit felbft denken will. Auf folche felbft gedach- te Urtheile und Gedanken der Lefer berufe ich mich; find fie aber von andern auf Treu und Glauben angenommen* fo intereffiren fie mich wenig; denn fie haben nicht die Wahr- heit, fondern kleinere Rückfichten zum Zweck. Es verlohnt fich nicht der Mühe, lieh um das zu bekümmern , was einer fagt und denkt, der nur andern nachbetet. Wenn der Lefer nach eigner Einficht urtheilet, fo bin ich überzeugt, dafs fein Unheil lauter ift . und dann falle es aus, wie es wolle, es kann mich weder beleidigen noch kränken. Obgleich das Buch nichts enthält, von deflen Wahrheit ich nicht völlig überzeugt bin , fo
weifs
des Verfaff er s, xxr
weifs ich doch zu gut, dafs ich eben fo leicht irren kann, als der Lefer , und dafs es mit ihm ftehen und fallen inufs, nicht durch meine, fondern durch feine Meinung von demfelben« Wenn ein Lefer wenig neues oder belehrendes in demfelben findet, fo darf er mir diefes nicht zum Tadel anrech* nen. Denn es war nicht für diejenigen, wel« che den Gegenftand fchon begriffen haben, und mit ihrem eignen Verftandesvermügen vollkommen vertraut find, fonJern zu meiner eignen Belehrung und für diejenigen Freun- de beftimmt, die fich überzeugt halten , dafs He diefen Gegenftand noch nicht befriedi- gend unterTucht hatten. Wenn ich nicht be- fürchten dürfte, dem lefer mit der Gefchich« te diefes Verfuchs befchwerlich zu fallen , fo würde ich ihm erzählen , wie fünf bis fechs von meinen Freunden bei einer Zusammen- kunft fich über einen von diefer Unterfu- chung ganz entfernten Gegenftand unterre- * * 5 | ■•,
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xxir Vorrede
deten. Sie fahen fich bald durch die Scbwie= rigkeiten , welche fich von allen Seiten her- vorthaten, fo in die Enge getrieben, dals fie nicht weifer konnten; und ob fie fich gleich eine Zeitlang alle Mühe gaben, die Zweifel , in welche fie fich verwickelt hat- ten, aufzulöten, fo kamen fie doch keinen Schritt weite*« Diefes brachte mich auf den Gedanken, dafs wir einen ganz verkehrten Weg giengen, und dafs vor allen Speculafio- nen diefer Art eine Unterfuchung über das Vermögen des Verbandes und über die Ob- jecte, welche in feiner Sphäre liegen, unum- gänglich nothwendig fey. Ich theilte das der Gefellfchaft mit, und Ce ftimmte fogleich bei, es wmrde daher befchloffen , dafs diefe Unterfuchung unfre erfte BefchäfMgnng fern follte. Einige flüchtige noch nicht verarbei- tete Gedanken, über diefen vorher noch nicht in Betrachtung gezogenen Gegenftand, welche ich für unfre nächfte Zufaiamenkunft
nie-
eles Verfaffers. xxm
niederfchrieb, waren der erfte Anfang zu die- fer. Abhandlungen, welche durch einen Zu- fall veranlagt und auf das Bitten der Gefell- fchaft fortgefetzt wurden. Ich arbeitete eini- ge unzufammenhängende Theile aus, liefs die Unterfuchung eine Zeitlang liegen, nahm fie wieder auf, nachdem es meine Gemüthsftim- mung und äufsere Verhältniffe erlaubten, und brachte endlich in einer glücklichen ]\7nfse, welche die Sorge für meine Gefundhc-it mir verfchafte, das Ganze in die gegen waitige
Ordnung, v
Diefe öftere Unterbrechung in der Aus- arbeitung kann anfser andern zwei entgegen gefetzte Fehler veranlagt haben, daf* ich xiehmüch zu viel ut.d zu wenig gefegt habe; Wenn der Lefer zu wenig findet, fo werde ich mich freuen, dafs c}.\s was fch gefchrie- feien habe, einen Wunfeh nach Mehreren bei ihm erzeugt; fcheint ihm das Werk aber zu
\ weit-
xxiv Vorrede
weitläufig, fo mufs er dem Gegenftande die Schuld davon heimeilen. Denn da ich zuerlt die Feder anfetzte, glaub'e ich alles, was darüber zu Tagen wäre, in einen Bogen zu- fammenzufaffen. Allein mit jedem Schritt vorwärts öffnete fich eine Ausficht auf ein gröTseres Feld ; neue Entdeckungen führten mich immer weiter, und fo wuchs das Buch unvermerkt zu der Gröfse an. Es ift wahr, es hätte etwas kürzer abgefafst werden kön- nen, und manche Theile könnten wohl et- was gedrängter feyn, weil die theil weife Ausführung und die öftere Unterbrechung natürlich viele Wiederholungen veranlafste • aber ich bin, die Wahrheit zu gefiehen , jezt theils zu träge, theils zu befchäftiget , um es abzukürzen»
Ich weifs nur zu wohl, difs ich nicht
y
lehr für meinen fchriftfiellerif^hen Ruhm be- dacht bin , wenn ich diefes Werk mit einem
Feh-
des Verfaff ers. xxr
Fehler erscheinen lafle, welchen die Lefer von Beurtheilungskraft, die immer am we- nigften zu befriedigen find, ahfehrecken kann. Wer aber weifs, dafs die Trägheit allezeit einen Vorwand zur Befchünigung findet, wird mir verzeihen, dafs ieh mich von ihr über- wältigen liefs, zumal da ich eine fehr trif- tige Entfchuldiguug für mich anzuführen ha- be. Ich will daher zu meiner Rechtferti- gung nicht anführen , dafs ein Begriff nach feinen verfchiedenen Beziehungen zur Er- läuterung oder zum Beweife yerfchiedener Theile einer und derfelben Abhandlung ge- braucht werden kann oder mufs; ich gelte- he vielmehr offenherzig, dafs ich in einer ganz andern Abficht bei manchen Lehren lange verweilt, und fie auf verfchieilene Art vorgetragen habe Diefer Verfuch iß nehm- lich nicht zur Belehrung fcharffinniger und geübter Deiker beftimmt; — ich bekenne mich für einen Schüler diefer JYleiftcv t!er * * 5 menfeh-
Ä'xvr Vorrede
menfchlichen Erkenntnifs, — und ich raufs (ie. daher im Voraus warnen , dafs fie hier nichts anders erwarten , als was aus meinen eignen grobem Gedanken ausgefponnen und Menfchen von meiner Fähigkeit ange- raeffen ift. Diefen wird es vielleicht nicht unwillkommen feyn, dafs ich mir einige Mü- he gegeben habe, gewiffe Wahrheiten, wel- che durch eingerillene Vorurtheile oder ihre abfrrakt?n Begriffe Schwierigkeiten haben, für ihr GedankcnJyitein klar und fafslich zu machen. Einige Objecto muffen von allen Seiten betrachtet werden j und neue Begriffe» dergleichen einige in diefern Werke vorkom- men, oder doch wenigftens manchen von den gewöhnlichen abweichend fcheinen möch- ten , finclcu nic-ht bei Jedermann Eingang, oder laffen doch keinen dauerhaften, klaren Eindruck zurück, wenn de nur von einer Seite dargefiellt werden. Es giebt wohl we- rngs Menfchen, welche nicht bei (kh und
andern
des Verfaffers. xxvit
andern die Beobachtung gemacht haben, dafs eine Sache, welche durch eine Art des Vor- trags dunkel blieb, durch andere Ausdrücke auf einmal klar und verftändlich wurde, wenn es fich gleich nachher entdeckte, dafs der Unterfchied fo unbeträchtlich war, dafs man lieh wundern mufste, warum die eine Art der Darfteilung weniger verftändlich war, als die andre. Einerlei Sache wirkt nicht auf jedes Menfchen Einbildungskraft auf ei- nerlei Art. Bei dein menfehlichen Vevfiande finden eben fo viele Unterfchiede ftatt als bei dem Gefchmackorgan. Wer glaubt, dafs ei- ne und diefelbe Wahrheit in einerlei Gewän- de jedem gefallen kann , der mag auch hof- fen , dafs Jederman einerlei Zubereitung des Speifen fchmackhaft finden werde. Eine gu- te nahrhafte Speife ift doch manchen mit die- fem oder jenem Gewürm zuwieier; fie mufs auf eine andere Art zugerichtet werden, wenn fie andern, die fonft einen guten Ma*
gen
xxviii Vorrede
gen haben, behagen foll. Die Wahrheit ver- hält fich hier eigentlich fo. Diejenigen, wel- che mir riethen, diefen Verfuch bekannt zu machen, fanden auch zugleich für gut , ihn fo dem Publicum zu übergeben , wie er ift» Und da ich mich einmal dazu habe bereden lallen, fo wünfcht ich auch, dafs das Buch von jedem, der fich die Mühegiebt, es zu. lefen, verftanden werde. Ich habe fo we- nig Eitelkeit für die Schriftftellerti, dafs die- fer Verfuch wahrfcheinlich in dem Kreife einiger Freunde geblieben wäre, die die er- fte Veranlaffung dazu gaben, wenn man mir nicht mit der Hofnung geschmeichelt hätte, dafs er für andere nützlich feyn könne, fo wie er es mir gevvefen ift. Da al(o der ein- zige Zweck des Drucks Gemeinnützigkeit war, fo hielt ich es für nothwendig, alles was ich zu Tagen hatte, für alle Klaffen von Lefern fo leicht und verftändlich zu machen, als nur immer müglieh war« Und ich wollte
lie-
des Verfaffers» xxix
lieber , dafs fcharffmnige und fpeculative Köpfe hie und da über ermüdende Weitläa. figkeit klagen, als daTs ein Lefer, der an ab- ftractes Denken nicht gewöhnt oder durch abweichende Begriffe eingenommen ift, mei- ne Meinung nicht fallt ii» oder raifsverftehen füllte.
Es wird mir vielleicht als eine grofse Ei- telkeit und als Stolz ausgelegt werden, dafs ich unfer aufgeklärtes Zeitalter belehren will ; denn auf nichts geringeres fcheint das Ge- ftändnifs hinauszulaufen, dafs ich diefen Ver- fuch, in der Hofnung, er werde für andre nützlich feyn, bekannt mache. Allein wenn ich offenherzig meine Meinung von denjeni- gen fagen foll, welche mit verftellter Befchei- denheit alles, was fie felbft fchreiben , als un* nütz veniTtheilen, fo fcheint es mir noch weit mehr Eitelkeit und Stolz, zu verrathen, wenn man ein Buch zu einem andern Zweck
her-
xx» Vorrede
herausgiebt, Gewifs , derjenige fetzt die fchuldige Achtung gegen das Publicum febjr ans den Augen, der ein Buch drucken läTstj und folglich erwartet, dafs es wird geleferi werden , und doch nicht die Abficht haben will, dafs die Lefer etwas Nützliches indem- felben für fich und andere finden follen. Wenn auch an diefern Buche nichts lobens- Würdiges gefunden wird . fo wird man doch die Abficht billigen müffi n , und die Güte derfelben follte fcbon den geringen Werth des Gefchenks eptfchuldigen, Diefes ift es, was mkh hauptfächlich gegen die Furcht des Tadels fiebert , dem ich noch weit weniger, als beffere^Schriftfteller entgehen werde. Bei der fo grofsen Verfchiedenbeit der Grund Tatze, der Begriffe, und des Gefchmacks der Menfchen , ift es fchwer, ein Buch zu finden, das allen gefiele oder mifsfiele. Ich erkenne, dafs unfer Zeitalter wegen gröfse- *er Verbreitung der Kenmnifls fchwerer als
fünft
des Verfaffers. xxxi
fonft zu befriedigen id. Bin ich nicht fo jplü. ktich zu g-fallen, fo hA\ dach niemand Urfache haben , auf mich böTe zu feyn . denn ich erkläre allen meinen Lerern, ein halb Dutzend ausgenommen, da;s die er V'evfuclj anfänglich nicht für fie beftimmt war, und fie d üifen fich keine Unruhe darüber ma- chen, daTs ße in die'er Zahl nicht find. Doch wenn jemand Urfache zu haben glaubt dar- über zu zürnen und zu fpolien, fo mag er es nngeßöhrt tbun; ich werde mit etwas befferen als folchen Unterhaltungen meine Zeit auszufüllen willen. Dns Bewurstfeyu mit Lauterkeit Wahrheit und Gemeinnützig- keit beabfichtrget zu haben, obgleich durch ein fehr geringes Mittel , wird mich allezeit fehadlos halten. Es fehlt der gelehrten Ile publik zu die'er Zeit nicht an gr0fsen Mei- ftern, deren erhabene Ideen zur fceförde'- rnng der WifTenfchaften evtfge Denkmäler der Bewunderung für die Nachkommen He*
ben
xxxi* V o r r e d e.
ben werden ;" aber nicht jeder darf hoffen ein Boyle oder Sydenhara zu feyn. In einem Zeitalter, welches einen Huygen, Newton und andere Genies diefer Art her- vorbrachte, ift es fchon ehrenvoll genug, als ein Handlanger zur Auhäumung des Bo- dens und HinwegfchafFung des Schutts, der auf dem Wege der Erkenntnifs liegt, gebraucht zu werden. Das Gebiet der Erkenntnifs würde unftreitig weit mehr gewonnen haben, wenn die Bemühungen thätiger und ein- fichtsvoller Männer nicht durch den fchulge- rechten aber zwecklofen Gebrauch von bar- barifchcn , gezwungenen und unverftändli. chen Kunftworten in den Wiffenfchaften wären gehemmt, und daraus eine Kunft ge- macht worden, dafs die Philofophie, die doch nichts anders , als die wahre Erkenntnifs der Dinge ift, aus dem Kreis gebildeter Gefell- fchaften und geiftreicher Unterhaltung als untauglich ausgefcblofcen wurde» Schwan- kende
des Verfa ffers, xxxrit fremde und finnlope Ausdrücke und Mif%bräut che der Sprache haben , fo lange für Ge- fceEmniile der VViilenfchaft gegolten; Tauho und unglüc!' ■ iich angewendete Worte ohnö viel Bedeutung find chon fo lange im Beiuz. |itand,für die tieffre Ge.'ehrfamkeit und die hoch- Iten Speculario'nen gehalten zu werden, dafs es äufserft Ich wer ift, fowohl diejenigen, welche Geh derfelberi bedienen , als diejeni- gen, welche fie hören , zu überzeugen, dafs fie ein Deckmantel der Unwillenheit, und ein Hindernifs wahrer Erkpnmnifs Find. ich glaube, man thut dem menfthhehen Verftand einen Dierift, wenn man den geheiligt*- a Tempel der Euelkt-it und der UnwiflVriheÄ beftürmt. Da die Ueberzeugung , dafs watf durch d^n Gfbrauch von VVcmen gpiaulcht wird, oder andere täurcht, oder dafs die Kanfifpriche einer Secte einen Fehler ent- halt, der einer L'nterfuchung oder BeiTerun^
fcedüjftig ift, fo feiten ift , fo darf ich wohl
"i f * -17
V er-
xxxiv Vor rede
Verzeihung hoffen, wenn ich mich im drit- ten Buche etwas lange bei diefer Sache ver- weilte, und fie fo überzeugend darzullellen fuchte, dafs niemand mehr weder in dem Alter des Irrthums, noch in der herrfchendeo Mode eine Entfchuldigung finden foll, wenn er fich die Mühe des Nachdenkens über den Sinn feiner Worte erfparen, oder andern die- fe Unterfuchung verwehren will»
Ein kurzer Auszug aus diefem Werke, welcher 1688 erfchien, ift, wie ich gehört Labe, von einigen ohne ihn geiefen zu ha- ben, blos deswegen verurtheilt worden, weil die angebomen Ideen in demfelben ge- leugnet werden. Sie fchlofsen zu voreilig» dafs ohne Vorausfetzung diefer die Möglich- keit eines Begriffs und Beweifes für das Da. feyn der Geifter beinahe völlig abgefchnitten fey. Wenn vielleicht der Anfang diefes Bu- ches eben fo anftöfsig ift, fo wünfehe ich
nur
des VerfafTers. xxw
nur, daTs man es völlig durcblefe; man wird fjch dann, wie icti bnffe. überzeugen, dafe die Hiimegräuiming faücher Gründe anftait fchädlicb vieinehT vorteilhaft für di& VVahr- heit ift, Das gröfsie Unrecht, das man der Wahrheit anthun , und die grörste Gefahr, in welche man fie fetzen kanu, i.1 die Ver- inifchung mit dem Faifchen und die Gründung auf Irrthümer«
Der Verleger würde es mir nicht verzei- hen, wenn ich nichts von der zweiten Aus- gabe fagte. Er verfprath durch den corre- cten Druck diefer die vielen Druckfehler der erftern wieder gut zu machen. Auch mache ich auf fein Verlangen bekannt , daTs ein ga< z neues Kapitel über die Identität, und noch an v er'chiedenen Orten V erbefferun- gen und Z, ätze hinzugekommen find. Dich ftuts ich den Leier benachrichtigen, dafs al- lfes ud» iiitiits ganz Puues. lundein giö.'sten-
♦ * * 2 iUüits
xxxvi V onede
theils Bestätigung oder Erläuterung des fchon geboten ift, die mir nüthig fchien, um Mifis- verltaudnifsen mancher Behauptungen der erften Ausgabe vorzubeugen. im Wefentli- chen ift nichts geändert worden , aufser etwa in dem 2i Kap, des 2 Buchs.
Was ich dafelbft über Freiheit und dea Willen gefchrieben habe, fehlen "mir die forgfältigfte Unterfuchung zu verdienen. Denn diefe Gegenftände haben alle Denker zu allen Zeiten fehr befchäftiget, und ei find daraus viele Streitfragen und Schwierigkei- ten hervorgewachfen, welche die Moral und die Theologie, deren Erkenntnifs für die Menfchen von der gröfsten Wichtigkeit ift nicht wenig verwirrt haben. Nach einer aufmerkramrn Beobachtung der Wirkungen des menfehlichen Gemüths, und nach einer fchärfem Unterluchung der Bewegungsgrün- de und Zwecke, wodurch fie beftimmt- wer»
dejQ
des Verfaffers.
XXXVII
den, fehe ich mich genöthiget von meinen vorigen Gedanken über den letzten Beftim- mungsgrund des Willens zu willkührlichen Handlungen etwas abzugehen. Diefes Ge- ftänduifs lege ich dem Publicum mit eben foviel Freimüthigkeit und Offenherzigkeit v&r, als ich in der erften Ausgabe meine wahren Ueberzeugungen bekannt machte* Denn ich halte es für eine gröfsere Pflicht, feine eigne Meinung zu widerrufen , wenn. he mit der Wahrheit ftreitet , als die eines andern zu beftreiten. Ich fache allein Wahr-, lieit, und fie wird mir allezeit willkommen ieyn, woher fie auch kommt.
Bei aller dieTer Bereitwilligkeit, eine Mei- nung aufzugeben, oder etwas Gefchriebenes zurückzunehmen, fo bald als ich von der Unwahrheit deflelben deutlich überxeugt bin, rrsufs ich doch geftehen , dafs ich nicht fo glücklich gewefen bin, in den Einwürfen * * * 3 wel-
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habe, dafs es amfoi t, das Buch toq diefer Seite verheuern wollen. Welcher von diefen beider ch der wahre ift, fo bin ich doch a ei interefCrt, und es ift daher c. mit dem befchwerlich zu : as zur Beantwor- tung der Ein • rerfchiedene Jen könnte s.ehz' e* fie für fo wichtig re Wahr- heit oder Fallet
chung, der \n:: r'ugr» fo bald er mich i
Terfteht, eialehei , dafs alles, wat
gegen mich gl n, entweder nicht
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damit ihre guten I joken nicht verloren
iber die>n Verfuch
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xxxvin Vorrede
welche gegen diefen Verfuch gedruckt wor- den find, einige Aufklärung oder einigen Grund zur Aenderung meiner Behauptung in den ftrittigen Puncten zu finden. Es fey, dafs deT Gegenftand diefer Unterfuchung etwas mehr Nachdenken und Aufmerkfamkeit erfo- dert, als flüchtige zum wenigften eingenom- mene Lefer fich gerne auferlegen laffen, oder dafs meine Behandlungsart und Ausdrücke ihn in eine Wolke gehüllt, und für den Ver- band andrer unzugänglicher gemacht haben : fcnrz ich finde mich oft mifs verbanden, und nicht immer fo g'ücklich, den wahren Sinn meiner Behauptungen getroffen zu fehen. Die vielen Beispiele davon berechtigen mich und den Lefer zu dem Scblulfe, dafs mein Euch entweder fo deutlich geTchrieben ift, dafs es von denen verbanden werden kann, welche es mit der erforde- liehen Aufmerk- famkeitund Unbefangenheit durcblefen, oder dafs ich mich fo unverftändlich ausgedrückt
habe,
des Verf affers, xxxix
habe, dafs es umfonft ift, das Buch von diefer Seite verbeflem zu wollen. Weichet von diefen beiden Fällen auch der wahre ift> fo bin ich doch allein dabei intereffirt, und es iit daher nicht nöthig, dem Lefer mit dem befchwerlich zu fallen , was zur Beantwor- tung der Einwürfe gegen verfchiedene Stel- len könnte gefagt werden. Denn wer fie für fo wichtig hält, dafs er glaubt, ihre Wahr- heit oder Falfchheit verdiene eine Unterfu- chung, der wird, davon bin ich überzeugt, fo bald er mich und meine Gegner richtig verfteht, einfehen können, dafs alles, was gegen mich gefagt worden, entweder nicht genug gegründet ift, oder mit meinen Be- hauptungen nicht Ihreitet»
Wenn einige , die aus zärtlicher Sorgfalt, damit ihre guten Gedanken nicht verloren gingen, ihre Uitheile über diefen Verfuch bekannt machten, demfelben die Ehre an-
4 thun,
XL Vorrede
thun i dafs fie denfelhen rieht für einen Ver- tuen wollen gelten laffen, fo überl-ifle ich es dem Publicum, ihre critifcheo \ erdienfte zu Schätzen, Ich werde die Zeit des Lefers nicht mit einer fo vergeblichen und undank- baren Arbeit verlch wenden, dafis ich das Vergnügen, welches fie fich und andern dnreh Tchnelle Widerlegungen meines ßueüs machen, ftöhrea füllte»
Als die Verleger Anßalten'zur vierten Ausgabe machten, fo gaben fie mir Nach- richt davon, damit ich dem Verfuche, wenn ich Mufse hätte, durch zweckmäßige Zufätze und Veränderungen mehr Vollkommenheit geben möchte. Aufser mehreren Verhpfle" rungen an einzelnen Stellen, roufs ich den Leier auf eine Veränderung aufmerkfam ma- chen , weil f:e Geh über das ganze Werk ver- breitet, und weil fehrviel darauf ankommt,
dafs
des Veit' affers» xi4
dafs fie richtig verbanden werde» Ich habe darüber folgendes zu fageru
Obgleich die Ausdrücke, klare, deut- liche Vorftellungen (ehr bekannt und gewöhnlich -find, fo habeich dach Urfache zu vermuthen, dafs fie nicht von allen, die fich ihrer bedienen, verftanden werden, und vielleicht giebt lieh nur hie und da einer die ÄTühe, fich über die Bedeutung, welche fie für ihn und andre haben, zu verftändigen» Ich wählte daher in den rueiften Stellen an Itatt klar und deutlich den Ausdruck b c- ftirntnt, (determinate , determined) weil ich glaubte, er würde meine Leier mit dem, Sinn meiner Behauptungen befler verftandi- gen können. Ich verliehe aber darunter ein gewiffes und daher beftiinmtes Objkct der Seele, das ift, ein Object von der Art, als es von der Seele ange- fchauet oder gedacht wird. Eine • **4 Vor-
xlii Voried e
Vorftellung, welche, infofern fie zu einer Zeit ein Object der Seele und alfo beftimmt ift, mit einem Wort oder Ausdruck als unveiän- deriichen Zeichen deflelben Obiects verknüpft wird, kann, wie ich glaube, füglich eine befummle Vo r f teil u ng heifsen.
Ich will diefes etwas umftändlicher er- klären. Durch das Wort beftimmt, in Be- ziehung auf eine ein fache Vorftellung verftehe ich die einfache Erfchcinung, wei- che der Seele vorfchwebt, oder welche fie in lieh wahrnimmt, wenn man fagt, dafs fie diefe Vorftellung habe; in Beziehung auf ei- ne zufam mengefetzte Vorftellung aber nenne ich diejenige Vorftellung be- ftimmt, welche aus einer gewiflen Anzahl einfacher oder weniger zufammengefetzter Vorftellungen beftehet, welche auf die Art verbunden find, als dem Bewufstfeyn vor- fchwebt, wenn diefe Vorftellung der Seele
ge-
des Verfaf ers, ' xliiI
gegenwärtig ift, oder gegenwartig feyn Toll- te, wenn ein Meufch;fie mit einem Wort bezeichnet. Ich Tage, üe follte, weil nicht Jeder ja vielleicht keiner fo behutfam mit der Sprache ift, dafs er nicht eher ein Wort ge- braucht, bis er lieh die beftimrnte deutliche Vorftellung, die er mit demfelben bezeich- nen will, vergegenwärtiget hat. Der Man- gel ditfer Aufmerkfainkeit ift die Urfacha vie- ler Dunkelheiten und Verwirrungen in den Gedanken und den fchriftlicheu Auffätzen»
Ich weife wohl , dafs keine Sprache fo viel Worte befitzt, um die grofse Martiich- faltigkeit von Vorftellungen , welche bei dem Denken vorkommen , auszudrücken. Allein demungeachtet kann doch jeder, der üch < i. nes Worts bedient , die bcftiuimte Vor- ftellung im Bewufsifeyn haben, zu deien Zeichen er j< nes gebraucht, und beide follte er unveränderlich mit einander verbinden.
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xliv Vorrede
fo lange er von einerlei Gegenftande fpricht» Wer das Dicht thut oder nicht thun kann, der macht vergeblich auf kiare und deutliche Begriffe Anfpruch , und wo diefe fehlen, da kann man nichts anders als Dunkelheit und Verwirrung erwarten»
Aus diefein Grunde glaubte ich, def Auj3 druck: beftimmte Vorftellung fejr weniger dem Mifsverftande ausgefetzt als de/: klare, deutliche VorTtellung, Wenn die Menfchen bei allem ihren Denken, Unterfuchen und Disputieren folche beftimm- te Begriffe hätten, fo würde ein grofser Theil ihrer Zweifel und Streitigkeiten ein Ende haben; demi ein grofser Theil derfelben, welcher die Menfchen verwirret, hängt von dem fchwankenden und ungewißen Gebrau- che der Worte, oder welches einerlei ift, von den unbeftimmten Begriffen ab, weh he durch jene ausgedrückt werden follcn. Idi
wähle
des V e t E a f f e r 3. xlv
Wähle dah er den Ausdruck, bertimmte Vorftellung, um damit anzuzeigen i) das unmittelbare Objecf der Seele, ••• ei« ches fie wdhrnimrnt und im Geficht hat, Von dem Worte als feinem Zeichen im- teifchieden ift; 2*) dafs eine foiehe be- stimmte VoT-rtelluns mit dTetem rieftimm- ten Worte, und diefes mit jener ufi« Veränderlich verbünden werde. Durch Hül- fe diefer beftimmten Begriffe würden die Ge- lehrten nicht allein deutlich unterfcheiden, wie wert ihre eignen Unterfuchungen und Erklärungen reichten, Ibndern auch größten* theils Streitigkeiten und Zänkereien .mit an- dern vermeiden.
Außerdem wird der Ve: leger für nrjthfg halten, d&ls ich den Lefer von einem Zufatz V&n zwei ganz neuen Kapiteln, nehmlich von der Af!ociaU'»n der VorücJlun- gen und dem £n thu iiaim us Luuachrich»
tiso.
xlvi Vorrede des Verfaffers. tige. Diefe und einige andere beträchtliche Zu fätze hat er verfprochen auf eben diefelbe Weife und zu denselben Zweck , als in der zweiten Ausgabe gefchehen ift, eindrucken zu lallen»
In der fechfren Aufgabe ift wenig verän- dert und augefetzt werden, Das Neue w.is in dem 2iften Kapitel des zweiten Buchs vorkommt, kaun man, wenn man es für be- deutend hält, mit geringer Alüne an den Rand der erften Ausgabe beifchreiben.
I n n h a 1 1
XLVIX
Inn halt
des
crften Theils.
Erftes Buch»
Erftes Kapitel. Einleitung S. 1
Zweites Kapitel, Es giebt keine fpe-
cnldtiven angebornen Grnndfätze — jß
Drittes K<tpitel. Es giebt keine prakti.
fchen angebqracn Giiiiidfät7.e n0
Viertes Kapitel. Noch einige ßptrnrii.
tunken über die angebornen, fowohl
fpeeulatireii als präkludiert GrundLue 130
Zweites Buch.
Erftes Kapitel. Von den Vorfiel 1 un-
gen überhaupt S. 184
Zweites Kapitel. Von emUciien
V oriteiiuii^en - — 23o
L> nfc.
xLVnr I d n h a 1 t.
Drittes Kapitel. Von Vorfiellungen
vermittelt eines Sinnes — 2.36
Viertes Kapitel- Von der Dichtheit — 240 Fünftes Kapitel. Von einfachen V01-
ftellungen durch verfchiedehe Sinne — 2Ö2
Sechftes Kapitel. Von den einfachen
Vorftellungen der Reflexion — 255
Siebentes Kapitel Von einfachen Vorftellungen welche fowohl durch die Sinnej als durch die Reflexion ge- geben werden - . ä5^
Achtes Kapitel JtSÜ>ch einige ße- tv;icht;inge*i übel' die einfachen Vor- fielhingen - - P.65
NenntesKapitel. Von dem Vorfiellen — 2g6
Zehentes Kapitel Von dem Behal-
timgsveKmögen - 5i4
£ ilf t eV Kapitel. Von dpm Unter- teile rdnngs vermöge** und andern Thä- tigkeiten der ireole — 53o
Zwölftes Kapitel. Von zrifamrnen
gefetzten Vorheilungen - — 55i
Dreizehntes Kapitel." Vom Raum
und deffen einfachen Beftimmungen . 36 1
V i e 1 z'e h n t e t Kapitel. Von d er
Dauer - — 39g
Fünfzehntes Kapitel. Rdiun und
Darei in Verhältnis zu ein anaer — Ä/fa
Sechzehntes Kapitel Von der Zahl — ^65
Siebzehntes Kapitel. Von der U11-
endlichkeit - — ^j3
Achtzehntes Kapitel. Von andern
einlachen iScftimimiugen — 5 10
Neunzehntes Ka p i t e 1. Von den
Moalfrcatiöjien des Denkens — £18
Zw«tnzigltes Kapitel Modificatio-
nen. des Vergnügens und Schmerzes. — 525
L o c k e* s
L o c k e' s
Verl ucll
über den
menfchlichen Verftand.
Erftes Buch.
Elftes Kapitel.
Einlei tung.
§. I.
Eine Unter fuchung über den menfchlichen Veiltand ift nütz- lich und angenehm.
JLßer Menfch behauptet feinen Rang vor al- len finnlichan Wef^n nur allein durch den Verftand ; diefer giebt ihm alle feine Vor- zvae vor ihnen und die Herr rchaft üher Ge. Schon um diefes Adels willen ift der Ver- ftand ein Gegenftand, der die Mühe einer A Unter
2 E v f t e s B n c h^.
Unterjochung verdienet. Das Denkvermö- gen hat aber darin einige Aehnlichkeit mit dem Auge , dafs es uns in den Stand fezt, al- le andere Gegenftände zu fehen und wahr- zunehmen, ohne von fich felbft beobachtet Zu weiden; und es erfordert Anftrengung und Kunft, wenn man es in eine gewifle Entfernung bringen, und zum Gegenftand feines eignen Denkens machen will» Allein Was auch immer für Hindernifle auf dem We- ge diefer Unterfuchung liegen, und von weN eher Art dasjenige feyn mag , was uns vor uns felbft verbirgt, fo bin ich doch überzeugt, daTs jede mögliche Aufklärung über unfern Geift, ddfs jede Bekanntfchaft mit unferrn Denkvermögen, uns nicht allein Vergnügen fondern auch grofse Vortheile bei der An- wendung unfers Denkens zur Unterfuchung anderer Dinge gewähren wird,
§. 2.
Abricht des Verfaffers.
Eine UnterTuchung über den Urfprung, über die Gewifsheit und den Umfang der> rnertfehlichen Erkenntnils, über die Gründe
und
Elftes Kapitel. $
und Grade des Glaubens, der Meinung uad des Beifalls ift der Gegenftand und Zweck diefes Werkes, Die phyfifche Betrachtung der rnenfchlichen Seele werde ich daher hier ganz auf die Seite fetzen, und die Fragen: woraus das Wefen derfelben befteht; durch welche Bewegungen der Lebensgeifter oder durch welche Veränderungen des Körpers wir zu Empfindungen durch Hülfe der Orga- ne , oder zu Vorftellungen des Verftandes ge- langen ; ob alle oder einige von diefen Vor- ftellungen von der Materie abhängen oder nicht, keiner Unterfuchung unterziehen. Denn so fehr auch diefe Speculationen dem ForfchungSgeifte Nahrung geben können, fo liegen fie doch ganz aufser meinem Wege und Plane. Es ift für meinen Zweck hinrei- chend, wenn ich das Denk -und Unterfchei- dungsvermögen des Menfchen unterfuche, in fo fern pi fiel» auf Objekte beziehet, we'che in feinem Wirkungskreife hegen. Das Nachden ken welches ich auf diefen Gegenftand wen- de, wird dann, wie ich mir fchtneichle, nicht verfchwendet feyn , wenn ich durch diefe hiftorifche [empirifche] fafsliche Me- thode, die Art und Weife wie der Verßand# A 2 zu
i
Elftes Buch.
zu feinen Begriffen von Objekten gelangt, er- klären, den Grad der Gewifsheit unfrer £r- kenntnifs beftirr men oder wenn ich die Grün- de derjenigen menfchlichen Ueberzeugungen aufteilen kann , welche , wie die Erfahrung lehrt, fo veränderlich, abweichend ja Wohl gar widersprechend find, und doch hier und da mit folcher Dreuftigkeit und Zuverficht be- hauptet werden, dafs wenn man die Mei- nungen der Menfchen überblickt, ihren Wi- derftreit beobachtet und zugleich bedenkt, mit welcher blinden Anhänglichkeit und Ehr- erbietung fie diefelben annehmen, mit wel- cher Entfchloflenheit und Hitze fie diefelben verfechten , man vielleicht nicht ohne Grund auf den Gedanken kommen könnte, die Wahrheit fey entweder ein Unding, oder es fehle dem menfchlichen Gefchlechte an ü- ehern Mitteln, iie mit gewifler Ueberzeugung zu erkennen.
§♦ 5.
Plan des Verfaffers.
Es ift alTo wohl der Mühe werth, die Srenzenzwifchendein Meinen und Wis»
fen
Erftes Kapitel. 5
fen , und die Grundfätze zu unterfuchen, nach welchen wir in Dingen , wo keine ge- vviile Erkenntnifs ftatt findet, unfern Beifall und unfere Ueberzeugung beßimrnen follten. Hierbei werde ich folgende Methode befol- gen. Erftlich werde ich den Urfprung derjenigen Ideen oder B egriff e, oder wie man fie fonft nennen will, welche der Menfch durch Reflexion über fein Bewufstfeyn in fei- nem Selbfl findet, und den Weg unterfu- chen, auf welchem fie dem menfehiiehen Verftande gegeben werden. Zweitens werde ich zu zeigeu fuchen, welche Erkenntnifs der Verftand durch diefe Begriffe erlan- get, und wie fie in Anfehung der Gewifs- heit, der Evidenz und des Urnfangs befch äf- fen ift« Drittens werde ich aber die Natur und die Gründe des Glaubens oder der Meinung Unterfuchungen aufteilen. Ich verftehe aber darunter das Fürwahrhalten eines Satzes, von de|Ten Wahrheit man keine gevvilTe Erkenntuifs hat. Hier werden wir auch Gelegenheit finden, über die Gründe und Grade des F ü r w ah r h a 1 ten s überhaupt nachzuforfchen.
A3 $.4,
4 Elftes Bu eh.
§♦ 4»
Nutzen diefer Unter Tu chun g zur Erkenntnifs der Grenzen u'nfe- rer Erkenntnifs,
Wenn ich durch diefe Unterfuchung über dwe Natur des Verbandes die Kräfte deffelben entdecken , und beftimmen kann , wie weit fie reichen , welchen Gegenftänden und in welchem Grade fie angemeifen find , und wo fie uns verlaflen8 fo wird das, wie ich hoffe, den Nutzen haben , dem thätigen Geilte des Men* fchen mehrere Vorficht anzuempfehlen, da- mit er fich nicht mit Dingen beschäftige,. welche aufser feinem Gefichtskreife liegen ; dafs er die äufserften Grenzen feines Willens nicht überfpringe , und fich bei der Unwif- fenheit derjenigen Dinge beruhige, welche, nach vorhergegangener Unterfuchung, fem Vermögen überfteigen. Wir würden dann vielleicht nicht, um uns den Schein einer alles umfaffenden Erkenntnifs zu geben, fo voreilig fein , über Dinge, für welche unfer Verftand keine Fähigkeit hat. von welchen wir keine klaren und deutlichen Begriffe bil- den können, oder (welches nur zu oft der
Fall
Elftes Kap i t el. 7
Fall ift) von denen wir gar keine Vorfiellnrig; haben t Fragen aufzuwerfen, und uns und andere in Streitigkeiten darüber zu verwi- ckeln, Last es fich ausmachen , wie weit der Geficlitvkreis des Verftandes reicht , ia wie fern er das Vermögen hat, Gewißheit zu erreichen , und in welchen Fällen er blos ur- theilen und muthmafsen kann, fo wird uns das zur Lehre dienen, dafs wir uns mit dem begnügen muffen, was unter diefeu Umilän» den für uns möglich ifl.
§. 5.
Unfer Erkennt «ifs vermögen ift unferin Zuftande und unfern Angelegenheiten angepafst.
Denn obgleich das Gebiet des Verftandes nur einen kleinen Theil von dem unermefs- liehen Umfang«- aller Dinge ausmacht, fo na- hen wir doch Urfache genug, dem gütigen Urheber unfres Dafeins für das Maafs von Erkenntnifs zu danken, welches er uns, weit reichlicher ab allen andern Bewohnern der Eide, gegeben hat. Die Menfchen können gar wohl mit dem zufrieden feyn, was A 4 Gott
fl Elfte» Euch.
Gott ihnen für dienlich erachtete» Denn er gab ihnen alles, (wie der Apoftel Petrus fagt) wa- für die Bedürfniffe des Lebens und zur Erlangung der Tugend nothwendig ift. *) Die Sorge für die Erhaltung und Annehmlichkeit diefes Lebens, und die Erkenntnifs des We- ges, der uns zu einem bellern führen foll, beftimmte er noch für das Gebiet unters Den- kens und Erfindens So betränkt und un- vollkommen auch die Einficht der Men- fchen in Vergleichung mit einer vollkomme- nen und allumfaffenden Erkeantnifs aller Din- ge ift, fo fichert fie doch ihre wichtigften Angelegenheiten, und giebt ihnen fo viel Licht» als nöthi.i ift, um fie auf die Erkenntnifs ihre» Schöpfers und ihrer Pflichten zu leiten. Die Itlenfchen werden noch immer genug Stoff finden, um mit Abwechfelung , auf eine an- genehme und befriedigende Weife ihren Kopf und ihre Hände zu befcbäFtigen, wenn fie nicht fo unbeTcheiden find, über ihre eig- ne Einrichtung zu murren, und den Segen, der ihre Hände fü'let, deswegen von fich ftofsen, weil diefe nicht alles fallen können.
Wir
* Zw eiter Brief Petri i. 3.
Elftes Kapitel. 9
Wir werden nicht viel Urfache haben t über tlie Befchränktheit unferer Seelenkräfre zu klagen, wenn wir C\e nur allein auf das an- wenden, was für uns nützlich fern kann; und dazu findße auch zweckmaTsig eingerich- tet. Es wäre ein unverzeihlicher und kindi- scher Eigenfinn, wenn wir deswegen die Vorzüge unferer Erkenntnifs herabwürdigen, und ihre Vervollkommnung zu ihren beftimm- ten Zwecken vernachlaffigen wollten, weil es sjewiffe Dinge giebt, welche ftufser dem Kreife derfelben liegen. Darf wohl ein ittn. ler und widerfpenftjger Knecht, der bei dein Scheine eines Lichtes feine Arbeit nicht ver- richten will, fich damit entfchuldi jen.dafs er kei- nen hellen Sonnenfchein hatte. Das Licht,das in. unferm Innern aufgedeckt iß, leuchtet uns für alle unfere Zwecke hinlänglich, und alle Entdeckungen , welche vermittels defTelben möglich find, füllten uns zufrieden Hellen. Unrern Verftaud werden wir dann zweckrnä* fsig anwenden, wenn wir ihn auf die Weife und in dem Verhältnifie mit allan Objekten befchäfiigen , als fie uuferm Vermögen ange- meflen find ; wenn wir unTere Ueberzcnijung den Erkenntnifsgriinden anpafsen, welche A 5 für
io Erftes Buch.
für uns möglich find, wenn wir nicht aus Trotz oder Unbefcheide/iheit Demonftration und Gewißheit fodern, wo nur Wahrfchein- lichkeit möglich ift , aber auch zur Befor- gung aller unTrer Angelegenheiten vollkommen zureicht. Wollen wir alles deswegen bezwei- feln, weil wir nicht alles mit Gewifsheit er- kennen können, fo handeln wir eben fö klug als jener, der feine Füfse nicht gebrau- chen , fondern lieber flüle fitzen und fterben wollte, weil es ihm an Organen zum fliegen fehlte.
$. 6.
Die Erkenntnifs unfers Vermö- gens ift ein Heilmittel gegen den Skepticismus und gegen die Trägheit.
Kennen wir imfere Kräfte, To wiffen wir anch um fo bcffer, was mit der Hofnung ei- nes guten Erfolgs unternommen werden kann. Eine reifliche Ueberficht der Kräfte unfers Ver- (tandes, und richtige Berechnung dellen , was wir von ihnen erwarten dürfen, wird uns vor swei Extremen fichern , dafs wir weder aus
Ver.
Erstes Kapitel. l|
Verzweifelung an aller Erkenntnifs, unfer Leben in Unthätigkeit yerfchlutnmern, und «las Denkvermögen gar nicht befchäftigen« noch auf der andern Seile alles in Zweifel ziehen, und alle Erkenntnifs in Anfpruch nehmen, wei' gevviUe Dinge von uns nicht begriffen werden können. Es ift für den Seglet von grofsem Nutzen, dafs er die Län- ge feiner Schnur weifs. Wenn er gleich nicht alle Tiefen des Meeres durch fie meffen kann, fo weifs er doch foviel , dafs fie an folchen Plätzen bis auf den Grund reicht, wo- hin er fegein mufs , und dafs fie ihn vor Un- tiefen und Meerbänken warnet, die ihn zu Grunde richten würden. Unfere Beftim- mung auf diefer Welt ift , nicht alle Dinge, fondern nur diejenigen zu erkennen, wel- che unfer praktifches Leben betreffen. Wenn wir diejenigen Regeln erforfchen können, nach welchen ein vernünftiges Wefen in den VerhältnifTen , in welchen lieh der Menfch während diefes Lebens befindet, feine Mei- nungen und feine dadurch beftim täten Hand- lungen regieren kann und füll, fo darf es uns keine Unruhe machen, dafs viele andere Din- ge unferer Erkenntnifs entzogen find.
U Elftes Buch
Veranla ffung zu diefem Verfuch«.
Diefe Betrachtungen waren die erfte Ver- anlaffung zu diefem Verfuche über den m enfch liehen Verftand. Denn ich glaubte, das erfte das man thun müfset um den Mang nach verfchiedenen Unterfu- chungen, in welche fich der Verftand fo gerne einläfst, zu befriedigen, beftehe darin, einen Eorfchenden Blick auf unfer Verftandes- vermögeu zu weifen, unfere eignen Kräfte zu prüfen , und die Dinge, denen fie ange- ineflerj und, zu unterfuchen. Es kam nur vor, als wenn man, fo lange das nicht ge- than ift, die Sache am unrechten Ende an- greife , und als wenn das Streben nach Be- friedigtirg durch einen ruhigen und fiebern Befitz. der Wahrheiten, die uns intereffiren, fo lange vergeblich fey, als man feine Gedanken regellos auf dem unermefslichcn Ocean der Dinge herum fch wärmen laffe , gerade als wenn der Verftand in dem natürlichen und unbezweifelten ßefitz diefes gränzenlofen Rei- ches wäre j als wenn alles in demfelben fei- ner Entfcheidung Geh unterwerfen müfste,
und
E xftes Kapijel. g
und nichts feiner Ein ficht entgehen könnte. Wenn die Menfcheri auf diefe Art ihr Nach- forfclaen über die Grenzen ihrer Fähigkeit ausdehnen, und ihre Gedanken in die Tie- fen verfteigen lalTen, v.o fie keinen fieberu Grund finden Können, fo ift es kein Wun- der, wenn He Fragen über Fragen erheben, und die Streitigkeiten vermehren, welche da he nie zu einer klaren Entscheidung körn- nien, nur dazu dienen, ihren Z-.veifeln Nah- rung zu geben, und fie am Ende in einem vollkommenen Skepticisrnus zu befefiigen. Wäre daher die Fälligkeit unters" Verftandei gründlich unterfucht, der Umfang unferer Erkenntnis nur einmal entdekt , und der Ho- rizont gefunden, welcher die Grenze awi- fchen der bekannten und unbekannten Welt de? \rerftandes, zwifchen dem , was für uns begreiflich und unbegreiflich ift, beftimmt, fo würden fich die IVlenfcnen vielleicht mit weniger Unruhe bei der erkannten Dnwiflen- heit der einen Weit beruhigen, und in der. andern mit mehr Vortheil und Beruhi<um» ihr Denkvermögen hsfehäftigen.
§. 8.
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*4 Erltes Buch.
Bedeutung des Worts Idee.
So viel hielt ich für nöthig über die Ver- anlagung zu diefer Unterfuchung über den menfc blichen Verftand zu fagen. Ehe ich aber zu den Betrachtungen über dielen Gegenftand felbft fortgehe , mufs ich den Le- fer im Voraus wegen des häufigen Gebrauch* des Worts Idee, in der folgenden Abhand- lung umVerzeihung bitten, Diefer Ausdruck be- zeichnet wie ich glaube, am pafsendfren al- les, was nur immer der Gegenstand des Ver- bandes beim Denken ift. Und ich habe mich daher deflelben bedienet, um das, was man un- ter Phantafie, Notion, Species verfte- het und überhaupt alles das auszudrücken, wo- mit fich der Verftand bei dem Denken be- fchäftigen kann. Der öftere Gebrauch densel- ben war dalie*- für mich unvermeidlich. *)
Dafs
*') Idee bedeutet alfo nichts anders als einen Be- griff, fcnYohl einen empii ifchen als einen reinen. I eh werde raiiih in der Ueberfetzung lieber des
Aus»
Elftes Kapitel.
Dafs folche Ideen in dem Yrfciftande des JMcnfcnen angetroffen werden, wird mir hof- fentlich Jedermann gerne eingesehen. Jeder Menfch findet fie in feinem eignen Bäwufst*- feyn, und die Worte und Handlungen ande- rer Meufchen werden zur Genüge beweifen, dafs fie auch in ihrem Vordellungsvermögen vorkommen*
Wie kommen nun diefe Ideenin den Verftand? Diefes wird der Gegen- stand unferer erften Unterfuchung feyn.
Ausdrucks Begriff, öfterer aber noch des Vorfiellung, bedienende nachdem esderZufam- menhang fodert. Denn der Gebrauch jenes Wortes war von Locke noch nicht ge- ime beltimmt , und fchwankte zuweilen zwi- fchen der Gattung und einer Art von Vorftek
Ol
lungen,
Anmerk- d U.
Zwei
1 6 Elftes Buc faJ
Zweites Kapitel.
Es giebt keine angebornen Grundfatze In dem Verftande,
§. I»
Der Weg, auf welchem wir zu ei- ner Erkenüt nifs gelangen, be- weifet fchon hinlänglich, dafs fie nicht angeboren ift.
•t^s glebt eine Meinung, von welcher eini- ge Menfchcn lieh feft überzeugt halter . c!afs in dem Verftande gewiffe angebe, rne Grund Tatze, urfprüngliche Begriffe (koivxi svxoioLt) angetroffen werden ; dafs gewiffe Sei. ift/iige (Chatacters) demfelben einge- prägt find, welche tue Seele bei ihrem erftea DaTeyn empfängt , und mit lieh in die Welt bringt. L'neingenonimene Lefer könnten von der Falfchheit ciiefer Voraussetzung fchon auf eine befriedigende Weife überzeuget werden, wenn ich zeigen wollte — und diefes wird) wie ich hoffe, in den folgenden Theüen diefer Schrift gefchehen, — wie die Menfchen ohne
Hülfe
Zweites Kapitel. I«
Hülfe der angebnrnen Eindrücke durch den
blofsen Gebrauch ihrer natürlichen Kräfte,
alle Erkenrtnifle erlangen, und ohne folche
urfpriiogliche Begriffe oder Grund fatze zur
Gewifsheit kommen können. Denn es wird i
mir wohl Jeder ohne Widerrede eingefteüen, dafs es nicht fehr vernünftig feyn würde, an- geborne \ orftellungen von Farben bei einem Wefen anzunehmen , welchem Gott das Ge- ficht und das Vermögen gegeben hat, jene Vorftellungen vermöge der Augen von äufsetrn Gegenftänden zu erlangen. Es würde aber nicht weniger unvernünftig feyn, verlchiede- ne Wahrheiten von den Eindrücken der Na- tur und den angebornen Schriftzügen abzulei- ten, wenn wir in uns Kräfte beobachteten, durch welche wir eine eben fo leichte und gewiffe Erkenntnifs derfelben erhalten könn- ten, als wenn fie urfprünglich dem Verftande eingedrückt wären»
Da aber kein Menfch da5 Recht hat, bei Unterfuchung der Wahrheit feinen eignen Ge- danken Zu folgen , wenn fie ihn auch nur ein wenig von der gemeinen Sträfse abfüh- ren t ohne fie der ßeurtheilung zu unterwer- B fen
»8 Eilte» Buch'
fen, fo werde ich hier die Gründe tbir(lellen9 welche mich nöthigen an der Wahrheit je- ner Meinung zu zweifeln« Habe ich geirrt, fo werden ebendiefelben meine Entschuldi- gung feyn. Ich unterwerfe ße der Prüfung derjenigen Männer, welche eben denfelben guten Willen haben , als ich , die Wahrheit anzunehmen, wo he diefelbe nur linden« *j)
*) Die Lehre von' den angebornen Begriffen, welche in der Piatoni fchcn Philofophie begründet 3 durch die Cartefifche wieder in Umlauf und in größeres Anfehen gefegt wurde, die entgegengefezte Behauptung, und die darüber entfiandenen Streitigkeiten fchei- nen zwar nach dem gegenwärtigen Zußande der Philofophiekein befouderes Intereffe mehr au verdienen. Denn das Wahre , Welches bei- de enthielten , ifi nun von dem Zufatz des Tauchen gefchieden ; jenc-s ifi in die Philofo- phie aufgenommen, diefes in den Schutt be- worfen worden. Die Behauptung der Thcfi* und der Antithelis iit jetzt als ein chemifcher
< Pioeefs anzufeilen , der, nachdem das edle Metall von dem nnedeln einmal ab^efrhieden ifi, uns nicht mehr interef/irt, weil er nicht mehr brauchbar ifi- Allein wenn man nicht darauf flehet, was die Philofophie jezt ifi, fan- den
SJweftes Kapitel, xp
§• 2.
Das allgemeine Für währhalten ift der wichtigfte Beweis der G e g rl e r;
Nichts wird gewöhnlich für lb ausge^
rnacht gehalten , als dafs es gewifle fpecu-
ß 2 la t i ve
derri Wie und ifdf welchem Wege fie daswur« de, fo ift jener Streit von fenr grofsem Intet- effe , infofern er die Entdeckung und benimm. te Unterfchcidung der reinen und empi« rifchen VorftcHungen , des Formellen und Materiellen in unfefer Erkenntnifs veranlafste und vorbereitete. Eine dunkle Ahn- dung von diefern fo wichtigen Unterfchiede gab der Behauptung von artgebdi'hen Begrif- fen und der Gegenbehauptung ihr Intereffe.. und war die Ui lache, ci.i(s beide fo eitrige Venheidiger fanden. Aber der Streit Würde doch Weit früher entfchiedeii worden fevn, Wenn fich nicht mit dem Wahren , was die Thefis und Amithefis entliielt, etwas falsches vereiniget hätte, welches niir durch eine gründliche CJnterfuchurig des Vorftellungsver- inogens konnte gefchieden Werden. Die \~ev^ theidi^er der angcborn'en Begriffe behaupteten nicht reine fonderil ai ;' e b orne, d.i. fo! che B- griffe, deren Stoff und form nicht trWa i«
dem
So
Elftes Eu eh.
lative und praktifche Grundfätze giebt, welche von allen Meüfchen allgemein ein^eltanden werden , und folglich, fchliefst man weiter, muffen Ge gewifle unveränderli- che Eindrücke feyn , welche die Menfchen-
feelen
dem Vorltellungsvermögen gegründet Hey, fon- dern die immer mit oder ohne Bewufstfeyn vorgeftellt weiden , deren Yorftellung angebo- ren üt. Sie dachten lieh die Seele als eine wach ferne Tafel, in welche wefenilich fchon gewiffeZüge eingegraben feven. die Gegner als leere Tafel die erft durch die Erfahrung befchrie- ben werde. Den myftifchen Uifprung der an- gebornen Begriffe , ihr wirkliches Vorgeftellt- werden über die Grenzen des Bewufstfevns liinatis; die unzureichende und nnbeftinrmte Erklärung von den Merkmalen des Angebor- nen , der Mangel einer beftimmten Aufftellnng derfelben, den fchäd liehen Einflufs derfelben auf die Varvollkommnuiig der Wiflenfchafr, diefe und andre Blüfsen deckte Locke an jener Behauptung auf, und verwarf he in diefer Rückficht mit Recht. In der Ueberfe- tzung des Leibnitzifchen Yerfhches über den menfcliiicben Verftand werde ich die Gründe und Gegengründe beider Phüofophen über diefen Gegeuitand znfammenUelien und ver-
Bleichen.
5 A. d. ü.
Zweites Kapitel. %\
feelen von ihrem erften Dafeyn an empfan- gen, und eben fo nothwendig mit auf die Welt bringen, als irgend ein ihnen angehö- riges Vermögen.
§. 3.
Aus dem allgemeinen Für wahrhal- ten kann nichts Angebornes be« wiefen werden.
Diefer Beweis, der von einem allge- meinen Beifall fchliefst, hat zum Un- glück den Fehler an fich , dafs er, wenn auch das voraussetzte Faktum, dafs es Wahrhei- ten giebt, welche von allen Menfchen allge- mein anerkannt werden , gegründet wäre, doch nicht darthun würde , dafs fie augebo- ren find , fo bald man einen andern Weg auf- zeigen kann, wie die allgemeine Beiftiminung in dem, was allgemein angenommen wird, entftehen kann. Und diefes läfst Ach, wie ich glaube, wirklich zeigen.
B 3 $,4.
$p Elftes Buch,
§. 4-
Der Grund f atz der Identität und des Wider fpruchs werden nicht allgemein für wahr erkannt.
Allein noch weit fcblimmer ift es, dafs diefer Grund von einem allgemeinen Für- wahrhahen, durch den man angeborne. Grundfätze beweifen will, wie mir fcheint, gerade das Gegentheil beweift, inCofern es keine Grundfätze giebt, welchen die Men- fchen allgemein beiftimmen. Ich fange mit den fpeculativen an, und führe zum Beweis i&nefo berühmten Grund fäUe der Drmonftra- tion an : Was i f t, das ift, und es i ft un- möglich, daTs eben daffelbe Ding fey und nicht fey, welche doch wohl vor allen andern gerechte Anbrüche auf den Ti- tel angeborne, machen können. Sie haben fich ein fo Wohl gegründetes Anfehen als all- gemeingehende Sätze unter den Menfchen verfch;:fft, dafs der blöke Schein, diefes Fak- tum bezweifeln zu wollen, ohne Zweifel fchon auffallen mufs. Gleichwohl nehme ich mir die Freiheit, zu behaupten, dafs fie, weit entfernt allgemeine Beifümmung zu Buden,
für
Zweites Kapitel. s!S
für einen großen Theil des uienfchlichen Ge« fchlechts fogar fo gut ali unbekannt und,
§. 5.
Diefe Gr un dfä tze find nicht ut- fprün glich dem Verftande ein- geprägt, weil fie Kindern und gemeinen Leuten nicht bekannt find.
Denn für das Erfte iß es klar, dafs alle Kinder und gemeine, unwiffende Leute nicht den geringfien Begriff oder Yorftellung von ihnen haben. Diefe That- facbe widerleget fchon hinlänglich die allge- meine Dciftimmung , welche von allen ange- bornen Wahrheiten unzertrennlich feynmufs. Denn es fcheint mir faft widerfprechend zu fe)n, wenn man fagt , es giebt Wahrheiten» welche der Seele eingeprägt find; und, fie hat aber, kein Bewufstfeyu und keine Erkenntnifs von ihnen. Wenn das Wort einprägen etwas bedeuten foll, fo kann es nichts anders feyn, als machen, das gewiffe Wahrheiten vorge- flellt werden. Für mich ift es zum wenig- fteo kaum gedenkbar, wie etwas dem Gemü- B 4 the
24 Er ft es Buch.
the eingeprägt fern kann, ohne dafs es ein Bewnfstfeyn davon hat- Wenn alfo Kinder und gemeine Leute eine Seele, einen Verftand mit die em innern Gepräge lieben, fo müflen fie nothwendig (liefe Wahrheiten wahTjitljruen , fie kennen, und für vvahr halten. Da die.'s aber der Fall nicht ift , Tq ift e* einleuchtend, dafs es keine folchen Ein- drücke giebt, Denn wenn es keine von der IN'atur dem Verftande eingepflanzte Begriffe giebt , wie können fie angeboren; oder ift jenes, wie können fie unbekannt feyn ? Sagt man. em Begriff iß der Seele eingeprägt, und behauptet zu gleicher Zeit, fie wÜTe nichts und nehme keine Kenntnifs davon , fo ift das foviel , als den Eindruck zu einem Unding machen. Von keinem Salze kann nian Tagen, er ift in der Seele, wenn fie noch kein Bewufstfeyn noch keine Vor- ftellung von ihm hat. Denn wäre das bei einem zulafsig, fo könnte man mit eben dem Grunde von allen Sätzen , die wahr und von der Art find, dafs fie der Verftand vielleicht einmal für wahr halten kann, Tagen, fie wä- ren eingepflanzt und in der Seele. Soll et- was in der Seele feyn, welches fie bis jezt
noch
Zweites Kapitel, 25
noch nicht erkannt hat, fo inufs es deswe- gen feyn, weil fie das Vermögen hat, es zu erkennen. Die-fes gilt aber von allen er- kennbaren Wahrheiten, Unter diefer Vor- ausfetzung können alle Wahrheiten der See!« eingeprägt feyn, die fie nie erkannte, und nie erkennen wird. Denn ein Menfch kann langeleben, und doch zulezt unwiflend in manchen Wahrheiten fierben , welche fein Vei'ltand zu erkennen, und zwar mit Qewifs- heit zu erkennen fähig gewefen wäre. J!t alfo die Erkenntni stahigkeit der natürliche Eindruck, um welchen man ftreitet, fo werden in diefer Rücklicht alle Wahrheiten, deren ein Menfch nur immer empfänglich iß, an- geboren feyn, und der grofse Streitpunkt läuft zulezt nur auf eine uneigentliche Art zu reden hinaus, welche von dem nicht ab" weicht, was die Leugner der angehornen Grundfätze behaupten , fo fehr lie auch ISliene macht , das Gegentheil zu erhärten. Denn noch nie hat ein Menfch der Seele das Vermögen Wahrheiten zu erkennen ab- gefprochen. Die Fähigkeit, fagt man, ift au- geboren, die Erke nntnifs aber erworben. Wo- zu ioll aber dann der Streit über gewifle an- Ü 5 geborne
2ö Elftes Buch."
geborneGrundfätze? Ift es möglich, dafs dem Verftande Wahrheiten eingeprägt find, ohne dafs er fie denkt, fo feheich nicht, welcher Unterfchied zwifchen den Wahrheiten, wei- che für den Verftand erkennbar find , in An- fehung ihres Urfprungs ftatt finden foll. Sie iniiiTen alle angeboren, oder alle erworben feyn. Es ift urnfonft, fie unterfcheiden zu wollen. Wer alfo von angebornen Begriffen in dem Verftande fpricht, kann das, infofern es (ich auf eine befondere Art von Wahrhei- ten beziehen foll, nicht von denen verftehen, welche der Verftand nie dachte, und von denen et gar nichts weifs. Denn wenn die- fe Worte in dem Verftande feyn einen wirklichen Inhalt haben, fo bedeuten fie das Gedachtwerden* In dem Verftande feyn, und nicht gedacht, in der Seele feyn und nicht wahrgenommen zu werden, heifst alfo mit andern Worten nichts anders als, etwas iß in de;n Verftande und ift nicht in dem Verftande, ift in der Seele, und ift nicht in der Seele. Wenn die Sätze: Was ift. das ift, und, es ift unmöglich, dafs ein und daffelbePingfeyundnicht fey, ^er Seele durch die "Natur eingeprägt
find,
Zweites Kapitel. 27
und, fo können lie Kindern nicht unbekannt ft-vn j alle Wefen, die eine Seele haben, luül- /en de in dem Yerfbnde haben, ihre Wahr- heit einfehen , und fie Für wahr halten«
5- 6.
s
Beantwortung des E i n w u r f s , d a Ts die RTenfchen fie erkennen, Tq bald fie zum Gebrauche ihrer Vernunft gelangen,
Um diefen Folgerungen auszuweichen, fagt man gewöhnlich: lene Saue werden dann von den Menfchen erkannt, und für wahr gehalten, wenn lie den Gebrauch ihrer Vernunft erlangen, und die- fes beweist hinlänglich, da.fs fie angeboren find. Hierauf antworte ich,
$■ 7-
Zweideutige Ausdrücke, die kaum einen Sinn haben , galten bei denjeni^e für Grün- de, welche für eine Meinung eingenommen find, und daher Geh nicht die Mühe ge- ben xu nrüfeu, was fie lagen« Wenn wir
die-
ftfl Er ft es Bach.
diefer Antwort einen erträglichen Sinn, der zu unferer Aufgabe pafst, leihen wollen, fo rnnfsfieeins von beiden enthalten: entweder, dafs jene vermeintlichen angebornen Schrift- züge ein GegenOand der Erkenntnifs und Wahrnehmung werden, fo bald die Men- fchen zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangen ; oder, dafs der Gebrauch und die Anwendung der Vernunft zur Entdeckung jener Grund- fätze mit wirket, und ihnen eine gevvifle 'Er- ^enntnifs davon gewähret»
§. 8-
Wenn f i e die Vernunft entdeck- te, fo würde das nichts für das Angeborenfeyn beweifen.
Wenn man meinet, die Menfchen könnten diefe Grundfatze durch den Gebrauch ihrer Vernunft entdecken, und dadurch fey die Behauptung, dafs fie angeboren find, voll» kommen bewiefen, fo beruhet diefe Folge- iung auf folgenden Satze: Alle Wahrheiten, ivelche uns die Vernunft als gewifs entdecken, und ihnen unfere unveränderliche Beiftim- mung verfchafien kann« und von der Natur
dem
Zweites Kapitel. £9
dem VeTftande eingepflanzt. Denn das all- gemeine Fürwahrhalten, welches das Krite- rium feyn foll , bedeutet nicht mehr als die- fes, dafs wir durch den Gebranch der Ver- nunft im Stande find, zu einer gewiffen £r- kenntnifs uiul Ueberzeugung von ihnen zu gelangen. Nach diefet Art zu fchliefsen, findet zwilchen den mathematischen Gründfä- tzen und den aus diefen abgeleiteten Lehr- fätzen, kein Unterfchied ftatt. Man mufs eingcftehen , dafs die lezten nicht weniger angeboren find, als die erflert , weil beide Entdeckungen durch Hülfe der Vernunft, und Wahrheiten lind, weiche ein vernünftiges Wefen mit Gewifsheit erkennen kann , wenn es feine Denkkraft zu diefeua Behuf «weck* iuäisig anwendet.
$• 9-
Es ift falfch, daTs fie die Vernunft entdecket.
Wie können aber Männer den Gebrauch der Vernunft zur Entdeckung derjenigen Grundfätze für unentbehrlich halten, welche nach ihrer Vurausfetzung angeboren fiud, da
die
gc Elftes Eu eh.
die Vernunft, wenn man ihnen glauben darf» nichts anders ift, als das Vermuten, unbe- kannte Wahrheiten aus Grundfätzen oder fchon erkannten Sätzen abzuleiten? Unmög- lich kann das für angeboren gehalten wer- den, zu de /Ten Enti-lec'Min^ die Vernunft un- entbehrlich ift, vvoferne wir nicht alle evi- dente Wahrheiten, welche uns die Vernunft lehret, für angeboren erklären wollen. Auf diefe Art muffe es eben fo denkbar feyn, däfs der Gebranch der \ ernunft für die Augen unentbehrfich fey , urn fichthafe Gcoenftände zu fehen, als dafs der Verftand der Vernunft- thätigkeit nicht entbehren könne, v»'enfi er das bemerken will, was ihm urfprünglicfi eingegraben iß; und was nicht in ihm feyn kann, bevor er es vörgefteHhhat Die Ver- nunft entdeckt die ängebornen Wahrheiten, Reifst s!ro fotiel, als, rfer Menfch entdeckt durch den Gebrauch der Vernunft 4 r.'as er zuvor fenon wufste. Die Menfchen be fitzen diefe ängebornen und eingeprägten Wahrhfei- ten von ihrem Dafeyn an und vor dem Ge- brauch der Vernunft, und rlorh wifsenfie von ihnen nichts, bis fie ihre VerntiKfriu gebrau- chen anfangen, Diefs ift doch in de? Ttist
nichts
Zweites Ktopitel, 5i
nichts anders, als fie erkennen diefe Wahr- heiten und erkennen fie in der nehmlichen Zeit aiGht.
§. tö.
Vielleicht wird man fagen > mathemati» fche Demonftrationen und andere nicht än- geborne Wahrheiten Werden nicht fo»Ieieh als inan fie höret, für wahr gehalten, und dadurch unterfeheiden fie Geh von den Grund- iatzen und andern angebornen Wahrheiten« Weiter unten werde ich Gelegenheit haben, umftändlicher von dein unmittelbaren Für- wahrhalten zu handeln. Ich gefrehe fefor gerne, dafs diefe Grundfätze und die tnathe- matifchen Demonftrationen darin unterfchje- den find, dafs diefe Räfonnements und Grün- de erfodern, um S)e zu bewerfen und ihnen Beifall zu verfchaffen , jene hingegen, fa bald man fie verliebet , ohne alles Rä- fonuement angenommen und für wahr gehal- ten werden. Gleichwohl uiufs ich mit ihrer Erlaubnifs bemerken, dafs eben diefes die* Schwache diefer Ausflucht, welche aie Tba- tigkeit der Vernnnft zur Entdeckung diefer
%lla e-
32 Elftes Buch.
allgemeinen Wahrheiten erfodert, an den Tag le^et, infofern man einräumen mufs» dafs dabei gar keine Schläue der Vernunft angewendet werden. Und ich will nicht hof- fen, dafs diejenigen, welche diefe Antwort geben * fich der Uebereilung fchuldig ma- chen, und. behaupten werden« dafs die Er- jkennfnifs des Grundsatzes: Es ift unmög- lich* dafs das nehmliche Ding fey und nicht fey, eine Deduction aus ünfrer Verntinft fey. Sie würden rsehmlich da- durch die Erkenntnifs der Gründfätze von der TfaMtigkeit uhfers Denkens abhängig ma- chen, und die Freigebigkeit der Natur, in wel- che fie fich verliebt zu haben fcheinen, zernich- ten. Demi jedes Räfonnement ifteiri Stiel; en und Beachten des Gegen ftan des und kann nicht ohne angeftrengte Thätigkeit feyn. Und in welchem erträglichen Sinne Kann man wohl vorausfetzen, dafs dasjenige durch die Thätig- keit der Vernunft entdeckt werden müfie, was die Natur eingeprägt und der Vernunft zur Grundlage und zum Leitfaden gegeben hat?
). H.
ZvyeitesKapitel. 33
§, 1 '•
Wer fich die Mühe geben will, mit eini- ger Aufmerkfanikeit über die Wirkungen des Verftandes nachzudenken, der wird finden, dafs das augenblickliche Fürwahrhalten ge- wifler Wahrheiten , weder * von einer urr fprünglichen Ein präg ung derfelben, noch von dem Gebrauch der Vernunft, fondern von einem Vermögen des Gemüthes abhänget, welches, wie in der Folge gezeigt werden foll, von beidem gänzlich verfchie- den ift. Wenn alfo die Behauptung, dafs die Menfchen diefe Grund fätze erkennen und für wahr halten, ■wenn fie zum Gebrauche der Ver- nunft gelangen, fo viel faget als: die Thätigkeit der Vernunft ift uns zu diefer Er? Jienntnifs beförderlich, fo ift fie durchaus faKch , weil die Vernunft gar nichts beiträgt, um jenen Wahrheiten Ueberzeugung zu ver- fchaffen* Geletzt aber auch, fie wäre wahr, fo würde fie doch nicht beweifen, dafs fif angeboren find»
g §, ?s.
34 Elftes Buch,
Der Anfang des Vernu nft ge- brauch s i T t nicht die Zeit, da in au zur Erkenntnifs diefer Grund Tatze gelanget.
Soll aber jene Behauptung fo verftanden werden, dafs der Anfang des Vernunftge- brauchs die Zeit ift, da fich der Yerftand diefe Grundfätze zuerft vorfrellet, dafs die Kinder, fobald fie ihre Vernunft gebrauchen, fie erkennen und ihnen beftimmen , fo ift üe auch in diefem Sinne nicht weniger falfch und zwecklos. Erftens, fie ift falfch. Denn es ift einleuchtend, dafs diefe Grundfatze nicht fo früh in der Seele vorkommen , als die Vernunft ihre Thätigkeit äufsert. Der An- fang des Vernunftgebrauchs wird alfo fälfch- lieh für die Zeit ihrer erften Entdeckung ge- halten. Wie viele ßeweife der Thätigkeit der Vernunft mögen wir wohl an Kindern beobachten, ehe fie von dem Grundfatz; das nehmliche Ding kann unmöglich feyn und nicht feyn, einige Erkenntnis haben ? Ein grofser Theil von den Wilden *
und
Zweites Kapitel. 33
und von den ungebildeten Menfchen verlebt viele Jahre, feibft ihres verft:ir>iib.:en , .Al- ters ohne an (liefen oder andere all ine Sätze zu denken. Ich gebe zu,- dafs die Menfchen die Erkenntnifs der abfträktem Wahrheiten, die- man für angeboren hält, nicht eher erlangen, als bis ihre Vernunft zu wirken anfängt, aber ich fetze hinzu, üljcIi dann rieht allezeit. Und dieres kommt da- lier, weil auch dann, wenn lieh die Ver- nunft thätig bewiefen hat, die abftrakten Ideen, welche die allgemeinen, fjlf« hücb. für angeboren gehaltene, Grund'iitze in lieh faßen, nicht vollkommen ausgebildet in dem Yerfiande angetroffen werden, Sie find viel- mehr Entdeckungen und Wahrheiten, welche auf eben diefelbeArt und Weile und auf dem- feiben Wege gemacht, eingeleitet und^in den Verftand gebracht werden, als mehrere ande- re Salze, welche noch kein Alenfch fo unfin- nig war, für angeboren auszugeben. Diefes, hoffe ich, foll in dein Verfolgt diefes Wer- kes vollkommen klar gemacht weiden. Ich ge liehe alfo die Nothwendigkeit zu, dafs d:e Menfchen den Gebrauch ihrer Vernunft haben muffen, ehe fie die Erkenntnifs diefer allge- C 2 mei-
36 Elftes Buch.
meinen Wahrheiten erlangen, aber ich leug- ne, dafs fie diefelben zu eben derselben Zeit entdecken,
§. i3.
Sie können dadurch von andern erkennbaren Wahrheiten nicht nnterTchieden werden.
Zugleich mufs man noch bemerken , dafs die Behauptung: die Menlchen erkennen diefe Grundfätze und halten fie für wahr, wenn fie zum Gebrauch ihrer Ver- nunft kommen, als Thatfache nicht mehr enthält als diefes: fie werden vorher nicht vorgefiellt und erkannt; es ift aber möglich dafs man ihrer nachher irgend einmal wäh- rend der ganzen Lebensdauer mit Ueberzeu« gung bewufst werde. Allein wenn das ge- fchehen werde, ift ungewifs. Diefes findet aber nicht allein bei jenen vermeintlich ange- bornen , fondern auch bei allen andern er- kennbaren Wahrheiten ftatt. Jene können daher durch diefes Merkmal von andern nicht unterfchieden und ausgezeichnet werden, und es läfst fich daraus nicht, dafs fie angebo- ren
Zweites Kapitel. 57
ren find, fondern vielmehr das Gegentheil beweifen.
5. 14.
Wenn auch der Anfang des Ver- nunftgebrauchs die Zeit wäre, da diefe Grund fatze entdeckt würden, f o würde doch da- durch nicht be wie Ten feyn, dafs fie angeboren find,
7 weiten?. Gefetzt , es wäre wahr, dafs die Zeit, da man fie erkennt und fürwahr hält, eben diefelbe ift, in der die Menfchen zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangen , f© würde das eben fo wenig für das Angeboren» feyn derfelben beweifen. Diefe Art zu fol- gern ift eben fo fruchtlos, als die Vorausfe- tzung falfch ift. Denn nach welcher Logik will mandarthun, dafs ein Begriff der Seele urfprünglich bei ihrer erfien Bildung von drr ANatur eingeprägt ift , weil er dann zuerft be- merkt und für wahr gehalten wird , wenn «'in Vermögen der Seele, welches feine eigen- tümliche WirkungS3rt hat, fich zu äufscvn beginnt ? Gefezt wir wollten annehmen, C 5 der
o3 ErClcs Kapitel,
der erfle Gebrauch der Sprache fey die Zeir, da man diele Grundfätze anerkennet, welche Vorausfeti'UDg eben fo wahr feyn könnte, als jene, fo müfste das ein eben fo bündiger Beweis dafür feyn, dafs fie angeboren find, als wenn man fagt, fie find angeboren, weil fich die A-enfchen von ihnen überzeugen, wenn he zum Gebrauche ihrer Vernunft kom- men. Ich bin alfo mit den Vertheidigcin der angebornen Grundfätze darin einveTftan- den, dafs keine Erkenutnifs diefer allgemein ren und durch fich felbft einleuchtenden Grundfätze vor der felbftthäligen Anwen- dung der Vernunft ftatt findet; aber ich leug- ne, dais der Anfang diefes Vernunftgebrauchs die befiiminte Zeit ift , da man ihrer bevviifst wird, und auch diefes zugegeben, dafs diefs für das Angeboren feyn derfeiben etwas beweib Der wahre Sinn, den man mit einigein Grunde dem Satze: alle Mer.- fchen ft im inen jenen Grün df ätzen bei, wenn fie den Gebrauch der Vernunft erlangen, geben kannn, «ft kein anderer als diefer. Die Bildung
der allgemeinen, abftrakten Begrif. fe und d3S \ 'erflehen der Werte , die fie be- zeich-
Zweites Kapitel. j^
-Rennen , ßehen mit dem Vernunftvernjögen in unzertrennlichen Zufammenhsnge, und wachten mit demfelhen gleichfam auf. D{e Kinder erlangen gewöhnlich keine Kenntuifj von dielen allgemeinen Begrifi'en, und ver- liehen ihre Ausdrücke nicht, bis fie an be- kanntem und concretern Vorftellungen ihre Vernunft eine beträchtliche Zeit geübt haben, und durch ihre gewöhnlichen Reden und Handlangen gegen andere für fähig erkläret werden, an einer vernünftigen Unterhaltung Theil zu nehmen. Wenn jene Behauptung noch in einem andern Sinne wahr feyn kann, fo wünfehte ich davon , oder zum wenigfter» darüber eine Erklärung, wie fie in diefem oder in irgend einem andern Sinne bevveife, dafs jene Grundfätze angeboren find.
§. i5.
Wie der Verftand zur Erkenn tnifs der Wahrheiten gelanget.
Die Sinne führen dem Verftande zuerfl:
particuläre BegrifFe zu, und füUep die Leere
rielTelben aus. So wie der \ erfand nach
und nach mit einigen bekannter wird , io
C 4 -wer.
40 Elftes Buch,
werden Ge in dem GedäYhtnifs geordnet und mit Worten bezeichnet, Nun gehet der Ver- ftand weiter, bildet von ihnen Abftraktionen, und lernt nach und nach den Gebrauch all- gemeiner Sprachzeichen. Auf diefe Weife wird die Seele mit Begriffen und mit der Sprüche bereichert, welches die Materialien find, an welchen fich ihre Denkkraft übt. Der Gebrauch der Vernunft wird täglich in dem Verhältniffe fichtbarer, als die Mate- rialien, welche fie befchäftigen, auwachfen. Allein obgleich die Bildung allgemeiner Be- griffe, der Gebrauch allgemeiner Sprachzei- chen und die Wirksamkeit der Vernunft mit einander aufwachfen, fo fehe ich doch nicht, wie man auf diefe Art beweifen kann, dafs jene Begriffe angeboren find, Es ift wahr, man findet die Erkenninifs gewiffer Wahr- heiten fehr frühzeitig in der Seele j aber die Art und Weife, wie fie dazu gelangt, zeigt, daf^ Ge nicht angeboren find* Denn die Be- obachtung wird uns lehren , dafs diefe Er- kenntnifs keine ängeborne, fondern erwor. bene Vorftellungen zum Gegenstände hat, das heifst, folche Vorftellungen, welche von äufsernGegenftänden gegeben find, mit denen
die
Zweites Kapitel. 41
die Kinder am früheften zu thun haben, und die am öfterften Eindrücke auf ihre Sinne machen. An diefen, auf folche Ait erlangten Vorstellungen entdeckt der Verftand, wahr« fcheinlich fo bald als er von dem Gedächtnis Gebrauch macht, und im Stande ift, deutli- che Vorftellungen zu empfanden Bnr aufzu- bewahren, dafs einige zufammenftiinmen» andere entgegengefezt find. JDeui fey aber wie ihm wolle , fo ift doch foviel gewifs, dafs der Verftand lange zuvor , ehe er lieh der Worte bedient , oder wie man es gewöhn- lich nennt, zum Gebrauche der Vernunft ge- langet, diefe Thätigkeit äufsert» Denn ein Kind erkennet gewifs „ ehe es fprechen kann> den Unterfchied zwifchen den Vorftellungen Süfs und Bitter, das ift, dafs das Bittere nicht füfs ift, fo wie es fpäterhin , wenn es der Sprache fähig ift, erkennt, dafs YVer- muth und Zuckeikörner nicht einerlei Dinge find»
$# l6.
Ein Kind weifs nicht, dafs die Summe von
drei und vier gleich ift, der Zahl heben, bifs
C 5 et
42 Elftes Back
es fieben zählen kann, und das Wort mit dem Begriffe der Gleichheit gefafst hat. Wenn man ihm aber alsdann diefe Worte erkläret, fo film m et es gleich bei, oder beffer , es er- kennt die Wahrheit dieks Satzes. Diefes augenblickliche Fürwahrhalien aber erfolgt nicht deswegen, weil es eine angeborne Wahrheit ift , und es fohlte nicht deswegen bis dahin , weil das Kind feine Vernunft noch nicht gebrauchen konnte, fon- dein diefe Wahrheit wird ihm einleuchtend, fo bald als es in feinen Verftand die klaren und deutlichen Vorftellungen aufgenommen hat, welche diefe Worte bezeichnen. Es erkennet dann die Wahrheit diefes Satzes aus den nehmtichen Griind«i und auf die nehmliche Weife, ais es vorher erkannte, dafs eine Ruthe und eine Kirfch? nicht einer- lei Dinge find, und als es in der Zukunft er- kennen Kami , aafs ein und das nehmliche Din* unmöglich feyn und nicht feyn kann. Was das leite betrifft ^ fo foll es weiter un- ten noch ausführlicher, bewiefen werden. Je fpäter alfo ein Menfch die allgemeinen Begviffe erlangt, welche jene Grunduiue in Geh fallen; je fpäter er die Bedeutung der
Wo*-,
Zweites Kapitel. 43
Worte, welche fie bezeichnen, erkennet, oder tue ihnen anhängenden Begriffe in feinem Ich verbindet , defto fpäter wird er auch von diefen Grundfätzen überzeugt werden. Denn da die Sprachzeichen und die Begriffe, Wel- che bei den Grundfätzen vorkommen, ehen fo wenig angeboren find, als die Vorfiel! ungen von einer Katze oder Wiefei, fo mofs er fo lange warten , bis die Zeit und die ßeobach- . iung ihn rhit denfelben bekannt macht. lft das- geschehen, fo ift er fähig die "Wahrheit diefer Grundfätze zu erkennen, fo bald er versnlafst wird, die Begriffe in dc<a Yerflande zu verbinden und nachzudenken, <pb fie auf die Weife, als fie in den Sü.'zen v ausgedruckt find, mit einander übe;einüi:n. weg oder nicht. Daher erkennet ein erwach- iVienfch , dafs die Summe von ># und 39 der Zahl 37 gleich ift, mit eben derfeiben Evidenz, als dafs I und 2 gleich 5 itt, Ein Kind erkennt das aber nicht fobald als jener, nicht darum, weil es ihm a» dem Gebrauch der Vernunft fehlet, fondern weil die Begrif- fe, welche die Worte achtzehn, neunzehn, lieben und dreyfsig bezeichnen, nicht fo bah;»
/j4 £ l f t e s B u oh.
in den Verftand kommen, als die von Eins, Zwei und Drei,
$• 17.
Bas unmittelbare Für wahrhalten beweifet nichts für das Ange- boreufeyn der Begriffe.
Da diefe Ausflucht mit einem allgemeinen Fürwahrhalten fehlfchlägt, wie es auch nicht anders feyn kann, und kein Unterfcheidungs- rcerkmal zwifchen den angeblich angebornen, und den andern Wahrheiten, die fpäter erwor- ben und erkannt werden, an die Hand giebr, fo bat man fich Mühe gegeben, den fo^e- nannten GrundTätzen auf eine andere Art eine allgemeine Beiftimmung zu fichern. Man behauptet nehmlich, dafs man ihnen allge mein beiftimme, fo bald fie nur vorgetragen, und die Ausdrücke, die fie bezeichnen, ver- ftandea werden. Man beobachtet, dafs alle Menfchen, feibft Kinder, fo bald fie die Aus- drücke hören und verftehen, diefe Sätze für wahr halten, und denkt nun, riief«« fey fchon Beweifes genug, daf» fie angeboren find. Und da fie alle Menfchen unter der angege- benen
Zweites Kapitel- 45
benen Bedingung durchgängig für unbezwei- felte Wahrheiten anerkennen , fo möchte Bian gerne daraus folgern, dafs diejenigen Sätze, welche der Verfhnd obne alle Be- lehrung bei detri erften Vortrage unmittelbar aüffafst, mit Ueberzeugung begleitet und dann nie wieder bezweifelt, unftreitig 'ur- fprünglich in das Verftandesvermögen gelegt und.
$. 18,
Wenn diefes Fürwahrhalten ein Merkmal derangehornen Sätze wäre, fo müfste auch der, dafs Eins und Zwei gleich Drei ift, und unzählig ander« ange- boren fey n.
Um diefs zu beantworten , frage ich , ob das augenblickliche Fürwahrhalten eines Sa- tzes, fobald man feine Ausdrücke hört und verfteht, ein zuverläfsiges Merkmal der an- gebornen Grundfätze ift? Ift es nicht, fo ift es umfonft, hch darauf als einen Beweis zu berufen. Behauptet man es aber, fo raufs man alle diejenigen für angeboren erkennen,
denen
46 Erftes Buch.
denen man , fo wie fie gehört werden, nll^e- niein heifiimmt; und dann würde iri3n Hell in ehien grofsen Ueberßufs von angebornen Grundfätzen verfezt fehen. Denn wenn mau unter jener Voraussetzung däefe Grundfätze für angeboren ausgeben will, fo mujps man aus eben demfelben Grunde verfchiedene Sa- tte von Zahleriverhältrilfjteri dalür erkennen» Und. fo werden denn die Sätze I -\-Z ~ 3; 2-7-2 ZZ 4 und mehrere dergleichen, die je- dermann, fo wie er De höret, und ihre Aus- drücke verliehet, für wahr hält, eine Stelle unter diefen angebornen Grundfätzen erhalten muffen, Diefer Vorzug findet i;ch nicht allein bei vielen, Sätzen , welche Zahienver-
hältniile ausdrücken, fonriern auch die
1 Philolbphie dtr INatur und andere Witten-
fchaften bieten folche dar, welche auf ei- ^ nen unmittelbaren Beifäll ficher rechnen dürfen, fo bald fie verbanden werden. Dafs zwei Körper nicht in dem nehm- liehen Räume f e y n k p nnen, ift eine Wahrheit, welche grwifs jeder Menfch eben fobald anerkennt , als folgende : Es ift un- möglich, dafs ein und das nehmii-
cae
Z vr e it e s X .1 p i t e I. 47
che Ding [^7 und nicht Ter; Weis ilt nicht Schwarz; Ein Viereck- i f t kein C i r k e 1 ; Die gelbe Farbe i ft nicht die Slöfsigkeit* Diefe und un- zählige andere Siüze di^fer Art , deren An- zahl iura wenigsten eben !"o grof« ift, als wir deutliche Begriffe haben, nöthigem | Mentchen, fo bald he gehöret werften, und die Worte verftändlich find, die UeberZeü? gung ab. Wenn die Veriheidiger der ange- bornen VbrftfeUungen ihrer eignen Maxime treu bleiben, und das augenblickliche i'ur- wahrhalten zum Merkmale des Augebornen machen , fo muffen fie nicht nur eben fo vie- le angeborne Satze anerkennen, als die Men- ichen deutliche Vorftellungen haben, fondern auch fo viel, als fie Urtheile bilden können, in welchen entgegengefezte VorfteJIungen von einander getrennt werden. Denn jeder Satz, in welchem ein entgegengefezter Be- griff von dem andern verneinet wird, findet eben fo gewifs Beifh'mmung, fo bald er ge- hört und verfinnden wird, als der allgemei- ne Satz: Ein und das nehmlicheDing kann unmöglich feyn und nicht
fevn,
48 Elfte» Buch.
feyn, oder derjenige, welcher die Grund- lage von jenem ausmacht und noch verftänd. ljcher ift : Was einerlei ift, i f t n i c h t verfcbieden« Nach diefer Vorausfetzung erhalten lie fchon ganze Legionen von ange- bornen Sätzen der einen Art, ohne noch die der andern in Rechnung zu bringen. Da aber kein Urtheil angeboren feyn kann, wenn es nicht die Vorstellungen find, welche den Innalt de5 Unheils ausmachen, fo müTste man annehmen, dafs alle Vorftellungen von Far- ben , Tönen , Figuren u, f. w, angeboren find. Allein kann wohl etwas gedacht wer- den, welches der Vernunft und Erfahrung mehr widerfpricht? Eine allgemeine und un- mittelbare Ueberzeugung« welche auf das Hören und Verftehen der Worte erfolget, ift, ich geftehe es t ein Merkmai der innern Evi- denz (Seif — eviden.ee); aberdiefe hängt nicht von angebornen Eindrücken, Jon (fern wie wir weiter unten zeigen werden, von etwas andern ab, und kommt verfchiedenen Sätzen zu , die für angeboren zu hajten , noch kein Menfch fo finnlos war.
§, 19.
Zweites Kapitel. 43
'S- 19;
Die weniger allgemeinen Ur» i ii e i 1 e werden vor den allge- meinen erka n n t.
Man Ki£e ja rieht, dafs diefe particuHrert ön fich einleuchtenden Sülze, welche auceri- »eittimrhung erb ilten, z, B. i f 2 ~ 3 ; Grün ift -nicht Roth, als Folgerungen ä\rs den allgemeinen Sätzen , die angeboren feyn Jollen, angenommen werden. Denn Je* der der nicht die Mühe febenet. über da* nachzudenken, was in dem Verftande vorge- het, wird Eüverläfsig finden, dafs diefe \ve* tiiger äflgeineiiien Säue von denjenigen mit vbhigev UebeVzeügung erkannt werden , wel- che von jenen allgemeinen ganz und gar nichts wilTeri. Da jene alfo früher in der Seele find, als diele fo genannten erfreu Gruudfatze, fo können fie das augenblickliche Fiirwahrhalteri ', mit welchem fie aufgenom- men werden, nicht diefen zu verdanken habem
1> $, £ö>
5® Erf t es Bu ch,
§- 20.
Der Einwurf, dafs diefe Sätze nicht allgemein noch von g r o- fsem Nutzen find, wird beant- wortet.
Wenn man vielleicht fast: diefe Sätze: 2f2ZZ4 Rothift nicht Blau find kei- ne allgemeinen Grundfätze und von keinem grofsen Nutzen, fo antworte ichj diefes hat keinen Einflufs auf den Beweis von dem au- genblicklichen Fürwahrhalten, Denn wenn diefes das fichere Merkmal des Angebornen ift , To mufs jeder Satz, der eine allgemeine Beiftimmung erhält, fobald er verfeinden wird, eben fo gut zu den angebornen Sätzen gezählet werden , als der Grundfatz des Wider fpruchs, weil bei beiden einerlei Grund Itatt findet. Aus dem Unterfchiede, dafs diefer Satz allgemeiner ift, als jene, folgt, dafs diefer noch weniger angeboren feyn kann als jene. Denn die allgemeinen und abftrakten B e- gr if fe liegen dem erften Bewufst werden nicht fo nahe, als die particulären evidenten Sätze. Der mehr gebildete Verftand erhält von die- len weit früher eine überzeugende Erkenn t-
nifs
Zweites Kapitel.
nifs , als von jenen. Was endlich die Brauch- barkeit diefer fo gepriefenen Grundfätze be- trift , fo wird vielleicht eine umftändlichere Unterfuchung an feinem Orte zeigen , dafs fie nicht fo grofs ift , als man allgemein lieh einbildet.
§♦ 21.
Dafs diefe Grundfätze zuweilen nicht eher bekannt find als nach vorgängigem Unterricht, ift ein Beweis, dafs fie nicht angeboren find.
Doch wir haben diefe Unterfuchung. über das Für wahrhalten, welches gewif- f e n Sätzen gegeben wird, fo bald man fie höret und verftehet, noch nicht geendiget. Wir muffen zuvörderli be- merken , dafs diefes keineswegs ein Merk- mal des Anoeborenfeyns, Tondern vielmehr ein Beweis für das Gegentheil ift , infofern es vorausfezt, dafs verfchiedene Menfchen» welche fchon andere Erkenntniffe belitzen, von diefen Grundlätzen nichts, willen, bis D 2 He
52 Elftes Buch,
fie ihnen vorgelegt werden, und dafs He rr.it diefen Wahrheiten unbekannt feyn lönnen, bis fie diefelben von andern hören. Denn find
' fie angeboren, fo dürfen fie nicht rrft be- kannt gemacht werden, um Beiftimmung zu erhalten. Wenn fie durch einen natürlichen und urfprünglichen Eindruck in der Seele find, muffen fie nicht vor sllen andern Wahr- heiten erkannt werden? Oder Tollte derjeni-
- ge, der diefe Sätze einem andern vorträgt, fie dem Verfiande klärer einprägen, als die Natur felbft, Y\ äre diefs, fo würde daraus folgen, dafs fie nach einer vorrangigen B«!eh- rrung beffer erkannt werden, als zuvor* folg- lich müfsten diefe Grundfätze durch fremde Be- lehrung, mehr Evidenz gewinnen können als ihnen die Natur durch ihreEinprägung gp peben hat. DicTes ftiramt nicht gut mit dpr Meinung von angebornen Grundfätzen überein, und läfst dieTen wenig Anfehen übrig, oder macht fie vielmehr zum Fundamente aller unTrer übrigen Erkenntniffe , wofür man fie doch ausgiebt, ganz untauglich. So viel ift un- ftreitig, dafs die Menfchen viele von diefen evidenten Sätzen erft durch Bekanntmachung von Aufsen kennen lernen» Wenn das aber
Zweites Kapitei. .. zi
gefchiehet , fo mufs nothwendig Jeder, der in dem Falle ift, über fich.die Bemerkung ma. dien, dafs er jezt einen Satz fich deutlich vor- zufallen anfange, von dem er vorher nichts wuTste, Von nun an bezweifelt er die Wahl- heil deüelben nicht mehr, nicht weil er an- geboren ift, fondern weil 'die Betrachtung der Natur der Dinge , welche in dem Satze ausgedrückt ift, ihm nicht verftatten würde, anders zu denken. Auf welche Art und zu welcher Zeit er veranlagt worden ift, dar- über nachzudenken, das th'ut hier nichts zur Sache. Wenn alles , was man für wahr hält, fo bald man es höret und die Worte verftehet, für einen angebornen Grundfatz gehen foll, fo mufs jede gründliche Beobach- tung, welche von einzelnen Fällen zu einer allgemeinen Regel erhoben worden ift, an- geboren feyn. Und doch ift es eine ausge- machte Wahrheit, dafs nicht alle Menfchen, fondern nur fcharflinnige Köpfe folche Beob- achtungen machen, und fie auf allgemeine Sätze zurückführen , welche nicht angeboren, fondern aus fchon vorhandenen Kenntniffen und aus der Reflexion über einzelne fülle abgezogen find, DxeTen Sätzen , welche D 3 von
54 Elftes Buch.
von Beobachtern entdeckt find, können die- jenigen, welche kein Talent zum Beobach* ten haben, dennoch nicht ihren Beif.il verta- gen, wenn fie ihnen vorgetragen werden.
§. 22.
Die dunkle Erkenntnifs derfel- ben, ehe fie vorgetragen wor- den find, kann nichts anders bedeuten, als dafs der Ver ftand fähig i f t ,fie zu erkennen*
Wenn man fagt, der Verftand hat keine deutliche fondern nur eine dunkle Erkennt- nifs von diefen Grundfätzen , ehe fie zum er- ftenmal gehört werden, — und fo müfsen die- jenigen fagen , welche behaupten , dafa fie in dem Verftande find, ehe fie erkannt werden, — fo weifs man kaum , was man (ich unter ei- nem unentwickelten, dem Verftande eingepräg- ten Grundfatz denken füll, aufser, dafs der Verftand das Vermögen hat, diefe Sätze zu verftehen, und mit fefter Ueberzeugung an- zunehmen. Dann muffen aber alle inathema- tifchö Demonftrationen eben fo gut als die erften Grundfätze für ursprüngliche Eindrü.
cke
Zweites Kapitel. 55
cke des Verbandes gehalten werden. Allein ich fürchte fehr, dafs diejenigen, welche es nicht für fo leicht halten , einem erwiefeneri Satze beizuftimmen , als ihn zu demonhriren, diefes einräumen werden. Und wenige Ma- thematiker werden fich überzeugen können, dafs die Figuren, die fie ziehen, nur Kopien von den angebornen Zeichnungen lind , wel- che die Natur dem Verftande eingegraben hat.
§. 23.
Der Beweis von dem augenblick- lichen Fürwahrhalten, grün- det fich auf die fa 1 f che Vo ra us- fetzung, dafs keine Belehrung vorausgehet.
Der vorhergehende Beweis hat, wie ich fürchte, noch eine andere fohwache Seite. Er foll darthun, dafs diejenigen Sätze, wel- chen die Menfchen beiftimmen , "fobald fie diefelben hören , deswegen als angeboren muffen gedacht werden , weil ihr Beifall nicht die Folge einer Belehrung, nicht die Wirkung eines Beweifes ift, fondern durch D 4 die
56 Elftes Er
die blofse Erklärung und das Verftehen des Ausdrücke hervorgebracht wird. Und hier fcheint mir ein Trugfchiiirs mit im Spiele zu feyn. Man fezt voraus, dafs die Menfchen dabei nicht belehrt werden, und dafs fie nichts Neues lernen, und doch gefchiehet cl;+s ■wirklich, und fie lernen etwas, was fie vor- her nicht wufsten» Denn erulich iffc es ein- leuchtend , dafs fie die Ausdrücke und ihre Bedeutung gelernt haben , da keines von bei- den ihnen angeboren ifi\ Doch das find hier, noch nicht die einzigen erworbenen Kennt- »iiTe*. Die Vorftellungen feibft , welche in dem Satze enthalten find, find eben fo we- nig angeboren, als die Sprachzeichen, wo- durch fie ausgedrückt werden; fie find, viel- mehr fpäterhin erworben. Da nun in den, §ätzen , welche bei dem erften Anhören au- genblicklich für wahr erkannt werden , we- der die Vorftellungen noch die Worte, wel- che fie bezeichnen, angeboren find, fo möch- te ich gerne willen, was in denfeiben fonfi noch angeboren feyn foll. Denn es würde mich freuen, wenn mir Jemand einen Satz nennen könnte, in welchem die Vorftellungen oder 4i,e Worte . angeboren find, Wir werden
sä ch
Zweites Kapitel, 57
nach und nach mit Vorftellungen und deren Sprachzeichen bekannt , und lernen ihre be- Itimmte Verknüpfung einfehen. federn Sa- tze, der nur foicbe Ausdrücke enthält, deren Bedeutung wir verftehen, und diejenige Ein- ' ftimmung oder Entgegenfeuung der Begriffe auffaget , die wir begreifen können , Itim- men wir unmittelbar bei, fo wie er uns vorgetragen wird. Nicht fo ift es bei Sätzen, ' die zwar an (ich eben fo gewifs und evident find , aber folche Vorftellungen enthalten, welche wir nicht fo bald oder nicht f'o leicht verftehen lernten. Ein Kind ftiimnt gewifs dem Satze, ein Apfel ift nicht Feuer, gleich bei , wenn es durch eine lange Be- kanntschaft deutliche Vorftellungen von die- fen verfchiedenen Objekten und die Bedeu- tung der Worte Feuer, Apfel in feinen Verltand aufgenommen hat. Aber vielleicht verfliefFen noch viele Jahre, ehe es den Satz: Es ift unmöglich, dafs ebendaffel- be Ding fey und nicht fey, für wahr erkennet. Denn obgleich diefe Worte viel- leicht eben fo leicht als andere zu lernen find, fo fafst es doch nicht fo bald ihre Be- deutung, weil üe weiteis umfafseader imd & % ab«
5S Elftes Euch,
ahftrakter ift, als derjenigen Worte, welche finnliche Dinge bezeichnen, mit denen es viel zu thun hat, und es braucht daher mehr Zeit, um diefe Bedeutung in klare Begriffe > umzubilden. Ehe das gefchehen ift , wird alle Bemühung vergeblich feyn, einem Kinde die Ueberzeugung von einem Satze, der fol- che abftrakte Worte enthalt, beizubringen. Sobald es aber der Vorftellungen und ihrer Ausdrücke bewufst ift, fo tritt es ohne An- ftand jedem der vorhin genannten Satze, und zwar aus einerlei Grunde bei, weil es nehm- lieh findet, dafs die Vorftellungen, welche in-1 feinem Verftande einftimmig oder entge- gengefetzt find, in dem Satze von einander bejahet oder verneinet werden. Wenn man ihm aber Sätze mit folchen Worten vorleget, deren bezeichnete Vorftellungen es noch nicht gefaTst bat, fo kann es ihnen weder Beiftimmung geben noch verfagen, wenn auch ihre Wahrheit oder Falfchheit an fich noch fo evident ift; es bleibt in Anfehung ihrer unwiflend. Denn die Worte find nur leere Töne, wenn fie nicht unfere Vorftellungen bezeichnen , und wir können ihnen nur in fofern beiftiuunen, als fie unfern vorhande-
neu
Zweites Kapitel. 5j
nen Vorftellnngen entfprechen. Doch di« Unterteilung der verfchiedenen Kanäle und Wege, auf welchen dem Verlande Kennt- nide zugeführt u erden, und der Gründevon den verfchiedenen Graden des Fürwahrhal- tens ill der Ge^erdtand der folgenden Abhand- lung. Es war für meinen Zweck hinreichend, fie als einen Grund aus welchem ich die ?.n- gehomen Grundfätze bezweifle, liier nur be- rührt zu haben«
§. 24«
Iene Grundfätze find nicht ange- boren, weil fie nicht allgemei- ne Beiftiminung finden.
Wir wollen jezt die Prüfung des Bewei- fes aus dem allgemeinen Fürwahrhalten be- fchliefsen. Ich geftehe den Vertheidigem der angebornen Grundfätze ein, dafs fie all- gemein für wahr gehalten werden muffen, wenn fie angeboren find. Denn eine angeborne Wahrheit ohne allgemeine Beiftimmung ift für mich eben fo undenkbar, als dafs Jemand eine Wahrheit erkenne, und
zu
Co Elftes B u eh.
zu gleicher Zeit fich ihrer nicht bevvufst [ay. können fie aber nach ihrem eigenen ©eftändnirs nicht angeboren feyn. Denn lie werden weder von denjenigen für wahr ge- halten, welche die Ausdrücke picht verlie- hen , noch von denjenigen, welche die ■orte verliehen-, aber von den Sätzen nichts , und an fie nicht gedacht haben. Ja .i-icni Fall befindet fich , wie ich glaube, i i.ner die eine Hälfte des Menfchenge- ieclits. Gefezt aber , diefe Zahl wäre nicht, fo grots , fo ift doch fchon die Behau- ptung eines allgemeinen Fürwahrhal- te n s entkräftet, und wenn auch nur die Kinder von diefen Sätzen nichts willen, lo ift auch dadurch fchon bewiefen, dafs fic xiicht angeboren lind.
§. 25.
Diefe Grundfatze find >, i c h t die zuerft erkannten Wahrheiten.
Damit man mich aber nicht bÄfchuIdige, als folgerte ich von dem Denken der Kinder, das wir nicht kennen, und von dem, was in ih- leiii Verftande vorgehet, ehe He es dur.;h die
Spra-
Zweites Kapitel. 61
Sprache ausdrücken können , fo behaupte ich zunächft nur loviel, dafs jene allg j
Satze (£. 4.) nicht diejenigen Wahrheiten find , welche der Verftauri der Kinder zucrft inne hat, und dafs He auch andern erworbe* Ben und von Aufsen gegebenen Beg: nicht vorausgehen, welches doch feyn röüfste, wenn fie angeboren wiiren. Es giebt linftrei- tig eine Zeit, da die Kinder anfanget] tu denken; ob wir fie beftimmen können oder nicht, darauf kommt hier nichts an; ihre Worte und Handlungen überzeugen uns da« von. Darf man nun wohl vernünftig r ivei* fe vorausfetzen j dafs fie zu , , da fie
des Denkens, de« Erkennens um rhal*
fähig und« von den Begriffen r#hts wifien , welche ihnen die Natur eilige-1 prä^t hat, v.ot ", dftfj es wirklich fol-
che giebt? Larst es fich mil einigein fchein« baren Grunde denken« dafs fte die Eindrü- cke von den Aufsendingen wahrnehmen*, und doch zur nehmlichen Zeit die Charaktere nicht erkennen, welche die Natur felbft dem Verßande einzuprägen, forgfältig be vvar? Können fie die erworbenen Begriffe
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aufnehmen, und für wahr halten, rnn denen nichts wiffen, W( ausfetznng n:it den Principen ihn inni^ft verwebt, in unrettilgbaten ren eingedrückt, und iux Grund Richtfchnur aller erworbenen 1 und alles künftigen Denkens ht fiiu irrt DieTes würde fo viel fryn.p' zwecklos, oder fchreilie doch turn v fehr iinlf f» iii( Ii . ind< a
al von d< njenigen Augen gelefen v kannten, welch« doch andei felir gut erkennen. Es ilt t ine fehr gi lofe Vorausfetzung , wenn m.in di<
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1 ,M.M • r m * i i i A8« »Al.i«* » * • i • * §
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Zweites Kapitel.
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<:ewifs mit Ausrchlieföuns alles Zweifels not. Allein kann man wohl behaupten, • s vermute des Grundfatzes des iderfpruchs von diefen und andern ahrheiten eine fo unerfchütterliche Ueber- ngunghat; oder, ilafs es in einem Alter, : dem es zuverlaTsig viele andere Wahrhei- kennet, irgend einen Begritl oder eine »ritellung von diefern Satze habe ? Wer et- i meinte, dafs die Kinder diefe abftrakten >eculationen an ihre Sauggljfer oder Klap- rn anknüpfen , von d*m könnte man viel- icht mit Recht urtheilen , dafs er mit mehr eiilenfchaftfür feine Meinung eingenommen t, aber dagegen weniger Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, als ein Kind von diefera AI- tfr, befizt.
P*
§. 26. Und deswegen nicht angeboren.
Es giebt alfo zwar verfchiedene all- gemeine Satze, welche, fobald fie auf- ^efteilt find, bei erwachfenen Menfchen, lie allgemeiner abftrakter Vorftellungen und
ihrer
i
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6z Elftes Buch-
aufnehmen, und für wahr halten, und doch von denen nichts willen, welche nach der Vor- ausfetzung mit den Principen ihres YA'efens innigft verweht, in unvereinbaren Charakte- ren eingedrückt, und zur Grundlage und Richtfchnur aller erworbenen Erkenntnifs und alles künftigen Benkens befihr.mt find? Diefes würde fo viel feyn.alsdie Natur arbeite zwecklos, oder fchreihe doch zum wenigften fehr unleferlich, indem ihre Züge nicht ein- mal von denjenigen Augen geleTen werden könnten, welehe doch andere Gegenftande fehr gut erkennen. Es ift eine fehr grund- lofe Vorausfetzung, wenn man diejenigen Sätze, welche nicht zuerft erkannt werden, und ohne welche eine gewifle Erkenntnifs anderer Dinge möglich ift, für die deutlichften Wahrheiten und für die Gründe aller unferer Erkenntnifs hält. Das Kind weifs gewifs. dafs die Amme, die es fanget, nicht die Katze, mit welcher es fpielet, noch der Mohr ift, vor welchem es erfchrickt; dafs Wurmfamen und Senfkörner, die es von ßch ftofst, nicht Aepfel oder Zucker Ond, nach denen es fchreyt. Davon ift es
ganz
Zweites Kapitel. « - "•
panz eewifs mit Ausfchliefsung alles Zweifels überzeugt. Allein kann man wohl behaupten, dafs es vermöge des Grundfatzes des Wid er fpru chs von diefen und andern Wahrheiten eine fo unerfcbütterliche Ueber- zeugung hat; oder, dafs es in einem Alter, in dem es zuverläfsig viele andere Wahrhei- ten erkennet, irgend einen Begriff oder eine Vorftellung von diefem Satze habe ? Wer et- wa meinte, dafs die Kiuder diefe abftrakten Speculationen an ihre Saugglafer oder Klap- pern anknüpfen , von dem könnte man viel- leicht mit Recht urtheilen, dafs er mit mehr Leiden fcbaft für feine Meinung eingenommen, ift, aber dagegen weniger Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, als ein Kind von diefem Al- ter, befizt.
§. 26. Und deswegen nicht angeboren.
Es giebt alfo zwar verfchiedene all- gemeine Satze, welche, fobald fie auf- geteilt find, bei erwachfenen Menfchen, die allgemeiner abftrakter Vorfiellungen und
ihröf
64 E r f e s B u c Ii, .
ihrer Bezeichnung fähig &nd, eine allgemei- ne und augenblickliche Beiftitniüiing finden; allein, da lie in der zarten Kindheit} in der man gleichwohl andere Dinge er* fccnnet, nicht angetroffen werden, fo kön* nen fie auf kein allgemeines Fürwahrhai» ten aller denkenden Wefen , und in in fo fern auch nicht auf den Titel von angebornen Sä- tzen Anfpruch machen. Denn eine angebome Wahrheit, wenn es folche giebt , kann unmög- lich, zum wenigften denjenigen nicht unbe- kannt feyn, welche andere Dinge erkannt ha- ben» Und wenn es angeburne Wahrhei- ten giebt, fo mühen es angeborne Gedanken feyn', da für den Verftand nichts Wahrheit ift, als was er felbft gedacht hat. Es ift al- fo hieraus einleuchtend, dafs, wenn es an- oeborne Wahrheiten in dem Ver- ftande giebt, fie nothwendig die erften feyn muffen» welche ge* dacht werden; die erften, welche in dem Bewüfstfeya vorkommen»
ä?l
Zweites Kapitel. 65
Sie find nicht angeboren, weil fie, wenn fieäuch zum Vor« fchein kommen, am dunkelften find, c\ a das Angeborne am deutlichsten gedacht werden m ü f s t e«
Dafs die allgemeinen Grundfatfce, von denen wir gehandelt haben, den Kindern, den gemeinen Leuten und einem gro- fsen Theile des Menfchengefchlechts nicht feekanrit find , ift fchon hinlänglich gezeigt Worden, und daraus folgt unwiderfprechlich, dafs fie nicht allgemein für wahr gehalten •Werden, noch allgemeine Eindrücke find. Es liest aber darin noch ein anderer Grund ge- gen die angebornen Gruudfätze. Denn wären diefe Charaktere von der Natur herrührende urfprüngliche Eindrücke, fo müfsten fie am teinften und klärften , bei denjenigen Fer fö- nen zum Vorfchein kommen, in welchen wir nicht die gering fte Spur von ihnen antreffen Dafs fie denjenigen iYlenfchen zulezt bekannt werden, in weichen fie fich auf mehr Stär-
i,6 Elftes Buch.
ke und Lebhaftigkeit äufsern müfsten , wenn f;e angeboren wären, das iß, wie mir dünkt, eine ftarke Vermuthung, dafs üe es nicht find. Denn da Kinder, Wilde, u n- wiffendeund ungelehrte Menfchen am allerwenigften von Gewohnheiten und an- genommenen Meinungen verdorben werden; da Gelehrfamkeit und Erziehung ihre ur. fprünglichen Gedanken nicht in neue Formen ummodelt, und durch Aufiragung fremder erkünftelter Lehren die reinen Charaktere, Wel- che die Natur eingefchrieben hat, verwifcht? fo follte man vernünftigerweife denken t die ingebomen Begriffe müfsten in dem Verflan* de diefer Menfchen in ihrer Klarheit für je* dermanns Auge , wie die Gedanken der Kin* der, offen da liegen» Man follte mit Grund erwarten, diefe Grundfatze müfsten den Na- turmenfehen vollkommen bekannt feyn« dg fie nach der Vorausfetzung unmittelbar in die Seele eingeprägt , und von der Organifation de» Körpers, dem einzigen eingeftandenen Untetfchiede zwifchen jenen und andern Menfchen , nicht abhängig feyn können. Man follte denken , dafs nach den Grundfä* tzen der Vertheidiger der angebornen Begrif- fe
Zweite» Kapitel. 67
fe, (liefe natürlichen ' ichtftrahlen, wenn fie wirklich wären bei denen Menfchen, die kei- ne Zurückhaltung keine Vorftellungskunft be- fitzen in ihrem vollen Glanz hervorleuchten, und uns ehen fo wenig zweifelhaft über ihr Dafeyn laden müßten, als wir es in Anfe« hnng ihrer Neigung zum Vergnügen und ih- res Abfcheues vor Schinerz find. Allein was für allgemeine Sätze können bei Kindern, Wilden, unwiffenden und ung elehr« ten Menfchen gefunden werden? Was für Grundfütze der Erkenntnifs? Ihre Begrif- fe find Von kleiner Anzahl und geringen. Um» fange, und von den Gegenftanden entlehnt, die fie am meiden beschäftigen und auf ihre Sinne am öfterften und ftärkften Eindrücke gemacht haben. Ein Kind kennt feine Amme und Wiege und nach und nach auch das Spiel- zeug eines erwachfnern Alters, und ein jun- ger Wilder hat vielleicht nach dem Herkom- men feines Stammes feinen Kopf mit det Lie* be und der Jagd angefüllt. Wer aber bei ei- nem ununterrichteten Kinde oder einem wil- den Bewohner der Wälder abftrakte Sätze und jene berühmten Grundfätze der Wiflenfchaf- ten erwartet , der wird fich , furcht ich , in E 2 fei.
68 Elfte 3 Buch.
feiner Rechnung fehr getäufcht finden. In den Hütten der Indianer wird feiten an fol- che allgemeine Sätze gedacht. Noch weni- ger kommen Spuren von ihnen in dem Den- ken der Kinder und der Naturmenfchen vor. Sie gehören zur Sprache und Befchäftigung; der Schulen und Academien unier aufgeklär- ten Nationen, wo diefe Art von Unterhaltung gewöhnlich, Gelehrfamkeit und Streitigkeiten gemein find; fie find zweckmäfsig und brauch, bar zu künftlichen Beweifen und zur Ueber- zeugung anderer, aber zur Entdeckung der Wahrheit und Erweiterung der Erkenntnifs tragen fie wenig bei» Weiter unten (Buch 4* Kap» 7») werde ich Gelegenheit haben, noch umftändlicher von ihrem geringen Nutzen iti «äiefer Rückficht zu handeln*
Wiederholung,
Wie abgefchmakt diefs den Meifteru iß der Kunft zu demonftriren vorkommen mag, weifs ich nicht. Wahrfcheinlich wird es abet keinem Menfchen, wenn er es zum erften» male hört, behagen. Ich mufs daher, bitten,
mich
Zweites Kapitel. 69
mich nicht voreilig zu verurtheilen, fondern fo lange mit dem Richterfpruche zurückzuhal- ten, bis man mich in dem Verfolg diefer Un- terfuchung völlig ausgehört hat» Beflern Ur- theilen werde ich mich gerne unterwerfen. Und da ich redlich der Wahrheit nachfor- fche, fo werde ich nicht empfindlich werden, wenn ich mich überführet fehe, dafs ich für meine eignen Vorftellungsarten etwas zu fehr eingenommen war. Diefs, ich will es ger- ne geftehen, kann uns allen begegnen, wenn eignes und anhaltendes Denken unfere Köpfe erwärme: hat.
Was nun die ganze Sache betriff, Fo fehe ich nicht den geringften Grund, der einen nöthigen könnte, die zwei berühmten fpecu- lativen Grundfätze für angeboren zu halten. Denn nicht alle MenCchen find von ihnen durchgängig überzeugt j die allgemeine Bei- ftimmung, welche fie erhalten, ift vollkom. men einerlei mit derjenigen, welche verfchie- denen andern Sätzen gegeben wird; und end- lich entliehet diefe Ueberzeugung auch auf eine andere Art, und rührt nicht von einer natürlichen Einprägung her, wie ich in ei E 3 »er
7ö Elftes Buch.
ner der folgenden Abhandlungen zu erwei- fen hoffe. Wenn nun diefe erften Grundfätze der Erkenntnifs und Wiffenfchaft nicht angeboren find, fo können andere fpeculati- ve Sätze wohl mit noch wenigem Rechte dafür angefehen werden.
Drittes Kapitel.
Es giebt keine angebovnen pvaktifchen Grundfätze.
§• I*
Keine ' tn oralifchen GrundTätze find fo klar, und gelten fo all- gemein, als die oben genann- ten fp eculativen»
Wenn jene fpeculativen Grundfätze, von denen wir im vorigen Kapitel handelten, kei- ne wirkliche allgemeine Ueberzeugung bei
dem meafchlichen Gefchlechte finden, wie
dort
Drittes Kapitel. J
dort ift bewiefeu worden , fo ift es einleuch- tend , dafs d i e praktifchen Grund Ta- tze noch weniger auf allgemeine An- nahme rechnen dürfen. Und mao wird kaum einBeiTpiel von einer moraüfchen Regel aufweifen können, welche auf eine fo allgemeine , und augenblickliche Beifilm« mung Anfpruch machte, als der Satz der Einftimmung, oder eine fo evidente Wahrheit wäre, als der Satz des Wider- fpruchs. Hieraus folgt klar, dafs fie noch weit weniger Foderungen auf den Titel von angebornen Sätzen machen kön- nen, und dafs die Behauptung, nach wel- cher fie urfprüngliche Eindrücke auf denVer- ftand find, noch weit ftärkern Zweifeln aus- gefezt ift, als wir bei den fpeculativen fan- den. Hierdurch wird aber ihre Wahrheit felbft keinesvveges in Zweifel gezogen. Sie find eben fo wahr, aber nicht fo evident als die fpeculativen Grundfätze, Die Evi- denz der leztern liegt in ihnen felft. Aber die moraüfchen Grundfätze erfodern Schlüfse, Räfonnement und einen geübten Verftand, um die Gewifsbeit ihrer Wahrheit zu entdecken, Sie liegen nicht jedes Ein-
E 4 ficht
ffe Elftes 'Buch.
ficht fo offen dar, als natürliche dem Ver- ßande ehgeprägte Charaktere, welche, wenn de wirklich vorhanden wären, durch fich felbft kenntlich, durch ihr eignes Licht gewifs.und allen MenCchen bekannt feyn müfsten. Hier- durch verliert aber ihre Wahrheit und Ge* wifsheit eben fo wenig, als der Satz, die drey Winkel eines Triangels find zweien rechten gleich, etwas dadurch verliert, dafs er nicht fo evident iß, und keine fo unmit- telbare Ueberzeugung gewähren kann, wie der Satz j das Ganze ift g r ö f s. e r als ein Theil. Es ift genug, dals diefe morali- fchen Regeln einer Demonstration empfäng- lich find , und es ift unfre eigne Schuld, wenn wir es nicht zu einer gewifien Erkenntnifs derfelben bringen» Da aber fo viele Men- fchen fie gar nicht kennen, andere mit fo viel Trägheit f4ch von ihnen überzeugen Saffen, fo ift das ein fieberer Beweis, dafs ße weder angeboren find, noch fich felbft ohne alles Suchen dem ßewufstfeyn auldringen.
§, 2<
Drittes Kapitel. ?3
§. 2.
Treue und Gerechtigkeit werden nicht von allen Menfchen als Grund fätie anerkannt*
Was die Frage betrift, ob es folche mq- ralifche Principe gebe, in welchen alle Men- fchen übereinftiimnen , fo berufe ich mich auf Jeden, der nur einige Bekanntfchaft mit der Gefchichte der Menfchheit gemachti und über die Grenzen feines eignen Keerdes hin. aus gefehen hat» Wo ift die moralifche Wahr- heit, welche allgemein ohne Zweifel und Ein- wendungen angenommen ift. So mufs es aber feyn, wenn fie angeboren ift. Die Gerech- tigkeit und Treue in Erfüllung der Ver- träge fcheint für die ir.eiften Menfchen eine fliehe allgemein^eltende Wahrheit zu feyn. Diefes find Maximen, die, wie man glaubt, fich fogar auf die Holen der Diebe und die Verbindungen der gröfsten Böfewichter er- ftrecken. Und felblt diejenigen , welche die Menschlichkeit am meiften verläugnen, halten Wort und beobachten die Regeln der Gerech- E S Hz
74 Elftes Buch.
tigkeit gegen einander. Ich gebe zu , dafs felbft: die Geächteten fo gegen einander han- deln. Aber He achten jene Maximen nicht als angeborne Gefetze der Natur, fondern beob- achten fie als Regeln der Schicklichkeit inner- halb ihrer Gsfelifchaft, Es läfst fich nicht denken, dafs derjenige die Gerechtigkeit aU einen praktifchen Grundfatz ausübe, der ge- gen andere Straffenräuber, die feine Genof- fen find , fich artig beträgt , und zur nehmli« eben Zeit jeden ehrlichen Mann, der ihm be- gegnet, plündert oder tödtet. Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit find die allgemeinen Ban- de der Gefellfchaft, und daher muffen felbft Räuber und Verbannte welche mit al- len Menfchen gebrochen haben, unterein- ander die Regeln der Treue und Billig, keit beobachten , fonfl könnten fie nicht in Gefellfchaft zufammen leben« Wer wird aber wohl fagen, dafs diejenigen, welche von Raub und Betrug leben, angeborne Grund- fätze der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit haben, und fie als gültig anerkennen?
§• 3-
«■Drittes Kapitel. 75
§. 3.
Der Einwurf wird beantwortet; die Menfchen leugnen zwar diefe Grundfätze durch ihre Handlungen, nehmen (ie aber. durch ihre Urtheile an.
Vielleicht wird man dagegen einwenden: der ftille Beifall ihres Verftandes billige dasjenige, de in fie durch ihre Handlungen wider fp rechen. Hierauf antworte ich. Erftlich , die Hand- lungen der Menfchen habe ich immer für die zuverläfsigften Ausleger ihrer Gedanken ge- halten. Da es nun gewifs ift, dafs die Hand- lungen der mciften und die Öffentlichen Gewerbe mancher Menfchen diefe Grund- fätze bezweifelt oder geleugnet haben , fo kann man, wenn man auch nur auf erwach- fene Menfchen Rücklicht nimmt , unmöglich eine allgemeine Einhelligkeit annehmen, ohne welche jene fchlechterdings nicht für angebo- ren können erklärt werden. Zweitens, Es ift fonderbar und ungereimt , angeborne prak.ifche Principe anzunehmen , welche am Ende nichts anders als fpeculativifch find.
Prak-
7<5 Elfte» Bück
Praktifche Principe, die von der Natur ab- geleitet find, müfien auf das Handeln abzwe- cken, und Einförmigkeit in der Handlungs- weife, nicht blähe theoretifche Anerkennung der Wahrheit hervorbringen , fonft werden fie ohne Grund von den fpeculativen unter« fcbieden. Ich leugne nicht, dafs die Natut in den Meufchen ein Verlangen nach Glück- seligkeit und einen Abfcheu gegen Elend ge- legt hat. Diefes find in der That angebome praktifche Principe, welche, wie fchon in dem Begriff eines praktifchen Grundfatzes liegt , unaufhörlich und immer einförmig wirken, und auf alle unfere Handlungen Einflufs haben; He werden allgemein und unveränderlich bei allen Perfonen von allen Altera beobachtet; fie find aber auch nur Nei- gungen des Begehrens zum Guten, keine Ein- drücke der Wahrheit auf den Verftand» Ich leugne nicht, dafs auch verfchiedene natürli- che Neigungen in der Seele der Menfchen gegründet find ; dafs ihnen von dem erften Anfang des Empfindens und Denkens an, ei- nige Dinge angenehm, andere widerlich find, und dafs fie gegen einige Neigung, gegen an- dere Abneigung empfinden. Allein diefes
bewei-
D r 1 1 t e S K a p i t i 1. 77
beweifet iiichts für angebovne CharalueTe in dem Verftande, welche als Grundfätze der Erkenhtnifs zugleich Beftimmungsgründe des Handelns leyn follen. Hierdurch ift nicht nur nichts für das Dafein folcher urfprüngü- eher Eindrücke in dem Verftande entfehis- den , fondern es ift vielmehr ein Beweis da- gegen. Denn wenn wirklich bePtimmte Cha- raktere vorhanden wären , welche die Natur als Grundfätze der Erkenntnis dem Vevftandö eingeprägt hat, fo müfsten wir ihrer fortdau- ernden Wirkfamkeit und ihres beständigen Eid- flufses auf unfer Erkennen bewufst feyn, wie diefs der Fall mit den natürlichen Eindrücken auf den Willen und auf das Begehrungsver- öiögen ift, welche unaufhörlich die Triebfe- dern und Bewegungsgründe aller unferer Handlungen find. Denn unfer Gefühl fagt uns, «lafs fie Uns immer xu denfelben beftimmen,
§♦ 4-
Die raoralifchen Regein bedür- fen eines Beweifes; alfo find fie nicht angeboren.
Ein anderer Grund, der mich beftimmt,. »n den an^ebornen praktifchen Grundfätzen
zu
78 Erfte* ßticli.
tu zweifeln, beftehet darin, dafs, wie mich duukt, keine tnoralifche Regel auf- geftellt werden kann, von welcher nicht Jeder einen Grund zu f o* dem berechtiget ift- Diefes wäre aber fehr lacherlich und abgefchmakt, wenn fiß angeboren , oder welches eben foviel ift, an- fich evident wären. Denn jeder angebome Grund fatz mufs durch fich felbft evident feyn, fo dafs es weder eines Beweifes, um fich feiner Wahrheit zu verfichern, noch eines Grundes bedarf, um ihm Beiftimmung zu ver- fchaffen. Wenn einer foderte, man folle ihm einen Grund angeben, warum es un- möglich ift, dafs einerlei Ding fev und nicht fey, fo würde man von ihm denken , er habe keinen Menfchen- verftand. Denn diefer Sau führt Teine eig- ne Klarheit und Evidenz bei lieh, und be- darf keines andern Beweifes; wer die Ausdrucke verftehet, der ftimmt ihm um fein felbft willen bei, und kann durch nichts anders beftimmt werden, ihm beizuftimmen. Wenn aber jene unerfchütterliche Regel der IVToralität, der Grund aller bürgerlichen Tu- gend, jeder fo 11 fo handeln, wieer>
\v ü n-
Drittes Kapit-eL 79
wün fchen k a nn , dafs andere gegen ihn handeln, einem Menfchen vorgelegt wird, der iie noch nie gehört hat, aber doch fehon die Fähigkeit befizt, ihren Sinn zu fallen, könnte diefer nicht ohne fich einer Ungereimtheit fchuldig zu machen, nach ei- nem Grunde fragen , warum man fo handeln Coli, und wäre es nicht Pflicht für den der (lief© Regel aufftellte diefem die Wahrheit undVer- nunftmäfsigkeit derfelben zu beweifen? Die- f es zeigt doch augenfcheinlich, dafs fie nicht angeboren ift; wäre fie es, fo könnte fie we* der eines Beweifes bedürftig noch empfäng- lich feyn, fondern fie müfste — zum wenig" ften fo bald fie angehört und verftanden ift — als eine gewiffe Wahrheit, die kein Menfch nur im geringften bezweifeln kann, angenom- men und gebilliget werden» Die Wahrheit aller diefer moralifchen Regeln hängt alfo of- fenbar von andern hohem Wahrheiten ab, und raufs aus diefen abgeleitet werden. Die- fes kann aber nicht flatt findeß, wenn fie an« geboren, oder welches einerlei ift, durch fich felbft evident fiad,
& S-
*
8o ' "Elftes Buch.
§. 5,
Erläuterung durch ein Beifpiel
von Erfüllung der Verträge»
Dafs die Menfchen ihre Verträge halten foHen , ift gewifs eine wichtige und unwider- fprechüche Regel der Moral, Wenn man iaun einen Chriften einen Anhänger des Hoblies und einen der heidni- fchen Philo fophen fragen follte, war- um foll man Verträge halten, f 0 würde jeder von ihnen eine andere Antwort geben. Jener, deflen Blick immer auf die Gliickfeligkeit eines künftigen Lebens ge* lichtet ift , wird fagen : Gott fodert es von uns, er, der über das ewige Leben und deri ewigen Tod zu gebieihen hat; der zweite: das Publikum will es, und der Leviathan itraft uns, wenn wir es nicht thun ; det dritte endlich: die entgegengefetzte Hand- lun°sweire ift unfittlich, unter der Würde des Menfchen , und ftreitet mit der Tugend, der höchften Vollkommenheit der menfchli» chen Natur*
§. 6.
Drittes Kapitel. 8l
§. 6.
Die Tugend wird nicht deswe- gen allgemein g e billiget, weil fie angeboren, fondern weil Ue nützlich ift.
Hieraus entTpringt natürlich die grofse Verfchiedenheit der Meinungen, welche un- ter den Menfthen in Anfehung der inorali- fchen Regeln gefunden werden, und die fich auf die Verfchiedenen Arten von Glück- feligkeit gründen, welche fie im Geficht ha- ben, und als Zweck betrachten. Diefes wür- de aber nicht feyn , wenn die praktifchen Grund fatze angeboren, und unmittelbar durch die Hand Gottes in unfer Gemütb geTchrie- ben wären» Das Dafeyu Gottes ift, ich ge- ftehe es, von fo vielen Seiten unleugbar, und der Gehorfam , den wir ihm fchuldig find» dem Licht der Vernunft fo angemeffen, dafs ein großer Theil des Menfchengefchlechts das Gefetz der Natur anerkennet. Und doch kann man fichor nicht leugnen, dafs vielleicht viele moralifche Regeln von Menfchen allge- mein gebilliget werden , ohne dafs fie den F wah-
gj Erftes Buch.
wahren Grund der Moralität erkennen und annehmen. Diefer Grund kann nur der Wil- le und das Gefetz eines Gottes feyn, der die Menfchcn in dem Verborgenen liehet, Be- lohnungen und Befhafungen in feiner Hand bat, und mächtig genug ift, den frechf.cu. Uebertreter zur Kechenfchaft zu ziehen. Denn Gott hat die Tugend und die all- gemeine Glüc kfeligkeit durch ein unzertrennliches Band verknüpft, und die Ausübung der Tugend ift daher zur Erhal- tung der Gefellfchaft unentbehrlich notwen- dig, und auf Achtbare Weife wohlthätig für alle diejenigen, mit denen ein tugendhafter Menfch in Verhältniflen flehet. Und dnher darf man fich nicht wundern, wenn einer diefe Regeln nicht nur anerkennt, fondern auch andern empfiehlt und anpreift, von de- ren Beobachtung er ficherlich für fich fclbft Vortheile einerndten mufs. Er kann eben fo gut aus Intereffe, als Ueberzeugung dasjenige mit lauter Stimme für heilig erklären , mit deffen Umfturz und Entheiligung feine eigne Sicherheit und Wohlfahrt zernichtet wäre. Obgleich diefes der fittlichen und ewigen. Verbindlichkeit, welche diefe Kegeln nnwi-
der-
Drittes Kapitel, 83
deifprechlich bei fich führen, nicht den ge- ringßea Abbruch thut, fo folgt doch fbviel daraus, dafs difc äufsere Huldigung, welche ihnen die Menfchej» mit ihren VVorten bezeu- gen, noch kein Beweis für angeborneGiund- fiüze ift; ja man kann nicht einmal daraus fchliefsen, dafs fie ihnen innerlich in ihrem Herzen als unverletzlichen Regeln ihres eig- nen Handelns beiftimmen. Denn wir finden, dafs Eigennutz und Konvenienz des Lebens viele Menfchen zu einem äußerlichen ßekennt- nifs und zur Billigung diefer Regeln befti mint, deren Handlungen doch offenbar be weifen, dafs fie an den Gefetzgeber, der diefe Res ein vorfchrieb, und an die Hölle, die er zur Stra- fe ihrer Uebertretung beltiramte, fehr wenig denken.
§. 7.
Die Handlungen der Menfchen überzeugen uns, dafs das Ge- letz der Tugend nicht ihre in- nere Maxime ift.
Denn wenn wir nicht aus Höflichkeit
3*n Aeufserungen der Menfchen zu viel Auf-
F 2 richtig-
84 Elftes Euch.
rich'igkeit beilegen, fondem ihre Handlun- gen ;.ir die»beften Ausieger ihrer Gedanken halten, fo werden wir keine fo innige Ver- el rnng diefrr Regeln, keine fo volle Ueber- ung von ihrer GewiJsheit und Verbind- lichkeit bei ihnen finden. Das grofse Gefetz der Moral: man foll fo handeln, wie man wünfeht, dafs andere gegen uns handeln, wird mehr empfohlen, als ausgeübt. Allein die Verletzung diefer Regel ift eben fo fehr Lafter , als es Wahnfinn und W'ideifpruch mit dem Interefle ift, um defl'tn willen fie von Menfchen übertreten wird, wenn man andere bereden will, fie fei keine morali- fcheriQch verbindliche Regel. Vielleicht beruft man (ich auf das GewifTen , welches uns für folche Verleihungen beftrafet, und fo wäre auch dann noch die innere Verbindlichkeit und der Grund des Gefetzes geliehen,
§. 8.
Pas Gewiffen ift kein Beweis, cijfs es irgend eine angebor- moralifche Regel giebt.
ine Antwort hierauf ift diefe. Ich fehu nicht ein-, warum nicht viele Menfchew
auf*
Drittes Kapitel. 85
auf demfelben Wege, worauf fieziK Erkennt* nifs andrer Dinge gelangen , auch dahin kom- men rollten , verfchiedene moralifche Regeln i.'ir wahr zu erkennen, und von ihrer V< r- bindlichkeit überzeugt zu werden, ohne dafs &c in ihr Herz gefchrieben find. Andere kön- nen durch ihre Erziehung, durch den Um- gang und durch die Sitten ihres Landes eben diefelbe Ueberzeugung erlangen. Diefe Ueber- Zeugung [ey nun entftanden wie fie wolle, fo wird lie doch immer dazu dienen, das G e- w i f f e n in Bewegung zu fetzet', welches nichts anders ifr, als unler eignes Ur- theil oder Meinung von der moralifchen. Richtigkeit oder Verkehrtheit unferer Hand- lungen. Und wenn das Gewiffen ein Beweis für angeborne Grundfätze wäre, fo müfste es entgegengefetzte angeborne Grundfätze ge- ben , da einige Menfchen mit eben derfelben Richtung des Gewilfens demjenigen nach- flreben, was andere verabfeheuen.
F 5 §9.
86 Elftes Buch.
§» 9*
Beifpiele von empörenden Hand* lungen, welche ohne G e w i f- fensbiffe begangen werden.
Allein ich kann nicht einfehen, wie die Menfchen mit folcher D r eu f t igk e i t und Ruhe des Gemiiths diefe moralifchen Ra- gein übertreten könnten, wenn lie angeboren und ihrem Geifte eingeprägt wären. Welche Achtung, welches Gefühl gegen die moraii> fchen Grundsätze, oder welche Regung des Gewiffens über begangene Gewalttätigkeiten kann man wohl in einer Armee beobachten, welche eine Stadt verheeret. Plündern n» gen, Schändungen, Mordthate» find nur ein Spiel für Menfchen, welche von der Strafe und Verantwortung befreiet find. War nicht unter ganzen Nationen und fehr eultivirten Völkern das Ausfetzen der Kinder, dafs man fie auf dem Felde vom Mangel oder wilden Thieren umkommen, liefs, eine Gewohnheit, welche eben fo we- nig für ftrafbar oder ejne Gewiflensfache ge- halten wurde, als die Erzeugung der Kinder? Pflegt man nicht jez,t noch in manchen Län- dern
Drittes Kapitel. 5?
dem die Kinder in ein Grab mit ihren Müt- tern zu legen, wenn diefe in der Geburtsar- beit fterben , oder fie in die andre Welt zu fcbicken, wenn ein vermeintlicher Aftrolog er- klärte, dafs fie' unter einem unglücklichen Geftirn geboren feyen? Und giebt es nicht Oerter, wo die Eltern in einem gewiflen Al- ter ohne alle Gewiüensunruhe getödtet oder ausgefezt werden? In einem Theil von Afien werden die Kranken, wenn ihr Zufall, für un- heilbar gehalten wird, fortgefchaft, und ehe fie noch gefiorben find, auf die Erde gelegt; hier läfst man fie, Wind und Wetter ausge- lebt, ohne Beiltand und Mitleiden fterben« (Gruber bei Thevenot 4 Th, S, 13.) Unter den M in greli an ern , einem Volke, das fich zum Chriftenthum bekennt, ift es ge- wöhnlich, ihre Kinder lebendig, ohne alle Era- phndung des Gewiflens.zu verbrennen. (Lam, bert bei Thevenot S. 38O An manchen Or- ten eflen die Eltern ihre eignen Kinder. (Vof- fius de Nili Origine cap> 18, 19.). Die Kariben pflegten ihre Kinder zu kaftri- sen, um fie zu mäften und zu efleiw *) Gar.
F 4 cüaflb
*}Petri Maityris de 01 be «ouo Decades VIII. Compluti i53o.
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Dritte s Kapitel.
dem die Kinder in ein Grab mit ihren Müt- tern zu legen, wenn diefe in beit fterben , oder fie in die andre Welt zu fchicken, wenn ein vermeintlicher .\ klarte, dafs fie' unter einem unplück Geftirn geboren feyen? Und gieb: Oerter, wo die Eltern in einem ge ter ohne alle Gewiffensunrnhe getödut o.lff ausgefezt werden? In einem Tbeil • werden ilie Kranken, wenn ihr Zul heilbar gehalten wird, fortgefchaft . uj fie noch geftorbon find, auf die Eide § hier läfst man he, Wind und Weiler l fezt, ohne Beiftand und Mitleids (Gruber bei Thevenot 4 Tb, S, 1; den Min grelianern , einem \ fich zum Chriftenthum bekennt, e
wühnlich, ihre Kinder lebendig, ohne*-' pfindung des Gewifle-
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bert bei Thevenot 5 |
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Kariben pfleg |
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88 Elfte» Buch.
cilaffo de la Vega erzählt uns in feiner Ge- fchichte der Jncas von einem Volk ein Peru, welches die Kinder von ihren weiblichen Ge- fangenen zu matten und zu eilen pflegte; diefe Weiber wurden deswegen als Beifchläfe- rinnen unterhalten, und wenn fie nicht me'hr gebahren, ebenfalls getöilet und gpgeffen. Die Tugenden , durch welche die Touo u- pinam bos das Paradies zu verdienen glaub- ten, waren Rache, und viele Feinde zu ver- zehren. Sie hatten nicht einmal ein Wort für den Begriff Gottes , nicht die geringste Ueberzeugung von irgend einer Gottheit, kei- ne Religion , keinen Gottesdienft. *) Die Heiligen, welche bei den Türken kanoniürt werden, führen ein Leben, welches man oh- ne Verletzung der Befcheidenheit nicht ein- mal befchreiben kann. Ich theile hier eine Stelle darüber aus. der Reife des Baum gar- ten, in den eigenen Worten des Reifebe- fchreibers mit, weil das Buch etwas feiten |ft, „Nicht weit davon (bei Balbes in
„Aegypten)
*) De Lery Hiftoire «Tun Voyage fait en 1» tevte du Brefil. Geneve i5S°.
Drittes Kapitel, 89
«Aegvpten Tahcn wir einen Saracenifchen Hei= „Iigen zwifchen den Sandhaufen nackend, „wie er aus Mutterleibe gekommen war, fl- itzen. Die Ma hom eta ner haben, wie „wir erfuhren, die Gewohnheit, dafs fie „wahnfinnige und unvernünftige Menfchen „wie auch folche, welche eine freiwillige „Bufse und Arrr.uth wählen, nachdem fie „hinge Zeit ein fchändliches, Leben geführt „haben, für Heilige halten, und verehren. Die- „fe Klaffe von Menfchen hat die fchrankenlo- „fe Freiheit, in jedes Haus nach Belieben zu „gehen, zu eilen und zu trinken, ja auch „Unzucht zu treiben. Und wenn aus diefen „Umarmungen ein Kind auf die Welt kommt, „fo wird es gleichfalls für heilig gehalten. „Man erzeigt diefen Menfchen. fo lange Xle „leben, die gröfste Ehre, und errichtet ihnen „nach dein Tode prächtige Tempel und Denk- „mäler ; ja man hält es für das gröfste Glück, „fie anzurühren und begraben zu dürfen» „Diefes und das folgende erfuhren wir von „unferm Mucrel durch einen Dolmetfcher. „Der Heilige, den wir an jenem Orte fahen, ^ftehe in grofsen Anfehen bei dem Volke, und F 5 „wer
cjo Ei'ftes Rhc li«^
jivverde als ein heiliger, göttlicher Mann von v.unbefcholtnem Charakter angefehen, weil ex v niemals Unzucht mit Weibern und Knabfri, ^fordern nur mit Efelinnen und Maulefelin- *,nen getrieben habe. *) u Mehrere ahnliche Nachrichten von diefen köftlichen Heiligen bei den Türken kann man in dem Brief des „ Plefcrja del la Valle vom 25 Januar" 1616 finden. Wo find denn alfo die angebornen Grundfatze der Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Billigkeit, Keu'chheit ? Oder, wo ift c\ie all- gemeine Einftimmung, die uns von dem Da- feyn diefer angehornen Regeln überzeugen könnte? Ermordungen in Duellen werden an denjenigen Orten , wo fie die Mode zu e.~ nein Ehrenpunkt gemacht hat, ohne alle Re- gung das GewÜlens begangen; ja an einigen Orten ift die Unfchuld in diefem Falle- die gröTste Schande» Und wenn wir vor. uns hinbliken , um -die Menfchen , wie fie find, kennenzulernen, fo werden wir die Beob- achtung machen, dafs fie an dem einem Orte über eine begangene oder unterlaflane Hand- lung *J Martini a Baumgarten. Va egnnatio -in Aegyptum, Arabiam, Palaefüium et Syr'i- am, Norirnbeig.ie 1694,
Drittes Kapitel. gi
lung Gewiflensunruhe empfinden , welche fie an einem andern für verdienftlich halten.
§♦ io.
Die RTenfchen haben entgegen,- gefezte praktifc he Grund fätze.
Wer die Gefchichte der Menfchheit auf- merkfam (tudieret, einen Blick auf die ver- fcbiedenen Menfchenftäinme wirft, und ihre Handlungen unpartheiifch beobachtet, der wird fich vielleicht vollkommen überzeugen, dafs man kaum ein Moralpiincip nennen oder eine Regel der Moral denken kann , welche nicht durch die allgemeine Praxis ganzer Ge- feüfchaften , die ganz entgegengefezte prakti- sche Meinungen und Lebensregeln befolgen, verachtet und verworfen würden. Wir »eh- men hier diejenigen Regeln aus, ohne wei- che die Gefellfchaft gar nicht beliehen kann, welche aber doch auch in dem gegenfeitigen Verhalten mehrerer Gefellfchaften nur zu of* versachläfsiget werdqn,
$. II.
9-2 Elftes Buch.
§• U«
Ganze Nationen verwerfen ver- fchiedene moralifche Regeln,
Man wird mir hier vielleicht mit dem Einwurf begegnen, dafs man nicht fchliefsen Ijünne, eine Regel fey nicht er- kannt, weil f i e v e r 1 e z t wird. Ich erkenne die Gültigkeit diefes Einwurfes , da wo die Menfchen ein Gefetz zwar übertreten, aber doch nicht ableugnen; wo die Furcht vor Schande, vor dem öffentlichen Urlheil und vor Strafen doch noch eine Spur von Scheu und Achtung gegen das Gefetz ver- räth. Allein es läfst fich nicht denken, dafs eine ganze Nation das verwerfe und öffentlich für ungültig erkläre, was jeder Einzelne mit unwiderleglicher Ge- wifsheit für ein Gefetz anerkennet; und das müfste erfolgen, wenn es dem Gemüthe ei- nes Jeden von Natur eingeprägt wäre. Es ift möglich, dafs Menfchen zuweilen mo- ralifche Regeln anerkennen, welche fie in ihrem innern Bewufstfeyn nicht für vyahr halten, blos um fich in Anfehen und
Ach
Drittes Kapitel. g5
Achtung; bei denjenigen zu erhalten, welche von ihrer Verbindlichkeit überzeugt find. Aber dafs eine ganze Gefelirchaft öffentlich und absichtlich eine Regel ableugnen und verwerfen follte, welche alle einzelne Glie- der in ihrem eignen Bewufstfeyn mit uner- fchütterlicher Gewifsheit als ein Gefetz anzu- erkennen gezwungen find, und von welchen fie willen muffen, dafs es von allen Menfchen, mit denen fie in Verbindung ftehen, für eben das angefehen wird , das laTst fich nicht den- ken Daher müfste jeder unter ihnen von al- len übrigen alle die Verachtung und den Ab- fcheu erwarten, welchen derjenige verdienet der für einen Menfchen will gehalten feyn der die Menfchheit ausgezogen hat; und je- der Menfch , der die natürlichen und be- kannten Regeln des Rechts und Unrechts mit Füfsen träte, könnte nichts anders erwarten denn für einen erklärten Feind der Ruhe und Glückfeligkeit der Gefelirchaft gehalten zu werden. Jeden praktifchpn Grundfatz, der angeboren ift, mufs ohne Unterfchied Jo dermann für gut und gerecht anerkennen. Es ift daher fall fo gut als ein Widerfpriich, wenn man meint, ganze Nationen könnten
durch
94 E r f t e 8 B u c h.
durch ihre Reden und Handinngen einftiur nii^ und allgemein dasjenige verneinen, was jeder Einzelne unter ihnen mit unwiderfiehü- cher Evidenz als wahr , gerecht und gut er- kennte. DifTes wird fchon hinreichend feyn, «m uns zu überzeugen, dafs keine praktifche Regel, welche allgemein mit öffentlicher Bil- ligung oder ZulafTung übertreten wird , für angeboren gehalten werden darf. Aber ich mufs noch etwas zur Beantwortung diefes •Einwurfe hinzufetzen»
§. 12.
Die Uebertretuiig einer Regel, Tagen die Gegner, ift noch kein Beweis, dafs fie un- bekannt ift. Ich gebe das zu: aber eine allgemein erlaubte Verletzung derfelben, es fey wo es wolle, be- kaupte ich* ift ein Beweis, dafs fie nicht angeboren ift. Wir wollen zun» Beifpiel eine von den Regeln nehmen,' wel- che durch die natürlichfte Folge aus der Ver- nunft abgeleitet werden, und mit der na- türlichen Neigung des grofsten Theils der ?»len- fchen übereinftimmen ; Regeln, welche zu leug- nen
Drittes Kapitel. c'j
nen daher auch wenig Menfchen nnver: fchiinit, oder zu bezweifeln, unbel'onnfn ge- nug waren. Wenn eine von diefen Regeln für angeboren Coli gehalten werde« , fo hat gewiTs keine mehr Anfprüche darauf, alsdie- ici Ihr E 1 1 e.rn , liebet und erhaltet eure Kinder, Was vergehet man nun, wenn man behauptet, dafs diefes eine ange- borne Regel ift? Entweder, es ift ein ange- bornes Princip, welches in allen Fällen die Menfchen zum Handeln regeltnäfsig beltimmt; oder, es ift eine Wahrheit, welche alle Men- fchen erkennen und für wahr halten, weil fie ihrem Verftande eingeprägt ift. Allein fie ift weder in dem einem noch dem andern Sinne angeboren, Erftlich, dafs es kein Princip ift, welches auf die Handlungen aller Menfchen einen beftiuunenden Einflufs hat, be- weifen die vorhin angeführten Beifpiele. Auch dürfen wir die Beifpiele von Eltern, welche ihre Kinder vernachläffigen , mifsbrauchenr ja wohl gar zernichten, gar nicht fo weit, als in Mingrelien und Peru fuchen , oder diefe Handlungen als Folgen einer mehr als tbierifchen Unemphndlichkeit wilder und barbaiifcher Nationen betrachten, wenn wir
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cß Elftes Buch.
nicht vergeffen wollen, dafs es unier tieft Griechen und Römern eine gewöhnliche i.ini bürgerlich erlaubte Sitte war, ihre unfchuldi- pen Kinder ohne alle Regung des Mitleids oder des Gewiilens auszufetzen. Es ift aber zweitens eben fo wenig eine angeborne, allen Menfchen bekannte Wahrheit. Denn, ihr Eltern erhaltet eure Kinder, ift nicht nur keine angeborne, fondern auch überhaupt gar keine Wahrheit; es ift ein Gebot und kein Satz, und alfo keiner Wahr* heit oder Falfchheit empfänglich. Soll es das werden, fo mufs es erft auf einen Satz zurück geführet werden, z. B. auf diefen : Es ift Pflicht für die Eltern, ihre Kin- der zu erhalten. Allein was Pflicht ift, kann nicht ohne ein Gefetz, und diefes nicht ohne einen Gefetzgeber , öder ohne Beloh- nung und Beftrafuug verftanden werden. Weder diefer noch irgend ein anderer prak- tifcher Grundfatz kann folglich angeboren, d.i. demVerftande als eine Pflicht eingeprägt fevn, wenn wir nicht annehmen, dafs die Ideen, Gott, Gefetz, Verbindlichkeit, Strafe, künftiges Leben angeboren find. Denn es ift an fich einleuchtend , dafs keine Strafe in
die-
drittes Ktpite). $7
diefem Leben auf die Verletzung diefer Regel folgt , und dafs fie folglich nicht die Kraft eines Gefetzes in denjenigen I ändern befizt, wo die allgemein gebilligte Sitte mit derfel- ben ftreitet. Aber diefe Ideen, welche alle angeboren feyn müflen , wenn fo etwas als Pflicht angeboren fejn foll, find fo wenig an- geboren , dafs man nicht einmal .ein klares und deutliches Bewufstfejn von ihnen in je- dem gebildeten und denkenden Menfchen, gefchweige denn in jedem Menfchen von fei- ner Geburt an , finden kann. Jn dem folgen- den Kapitel foll es, wie ich hoffe, jedem nachdenkenden Menfchen einleuchtend wer- den, dafs eine derfelben , von welcher man es noch mit dem fcheinbarften Grunde ver- ' muthen follte, ich meine die Idee einet Gottheit, nicht angeboren iß.
§. i3.
Wir körinen aus dem, was wh* getagt haben, wie ich glaube, den fichern Schlufs .liehen, dafs jede praktifche Regel, welche irgend wo allgemein und toit öffentlicher Znfaffung verlebt G wird,
ö§ Eilte» Buch.
wird, nicht als angeboren kann angenommen werden. Denn es ift für Menfchen nicht möglich , eine Regel ohne Furcht und Schaani mit Venneilenheit und frohen Minhe zu übertreten, von der £e, wenn fie angeboren wäre, willen müfsten, dafs iie Gott gegeben, und ihre Uebertretung gewifs in einem folchen Grade beltrafeu wird, dafs es dem ibünder davor grauen itnufs. Ohne diefe Erkenntnis, kann kein JYlenfch ßcher willen, dafs etwas feine Pflicht iit, Uij- wiflenheit oder Zweifei an dem Gefetz ; (Uq Hofnung der Kenntnifs oder Gewalt des Ge- fetzgebers zu entgehen, kann lo viel bewir- ken, dafs man fich von einer gegenwärtiger* Begierde hinreifsen läfst» Aber man fetze den Fall j dafs einer den Fehler erkennt, und die Ruthe daneben; dafs er lieh nebft def TUebertretung auch das Feuer vorftelle, das bereit iß, ihn zu ftrafen; dafs er die Rei- zung eine3 Vergnügens empfinde, und zu- gleich den Arm der Allmacht , aufgehoben und Zur Rache bereit erblicke denn f©
mufs es feyn, wenn eine Pflicht dem Ver- stände eingeprägt ift — und dann möcht ich willen, ob es für Menfchen möglich iß, un- ter
Drittes Kapitel. 99
ter einer folchen AusGcht, bei einer folchen gewiffen Erkenntnifs muthwil ig und ohne Gewiflenszweifel gegen ein Gefetz zu han- dein, welches fie in fich mit unvertilgbaren, Zügen tragen, welches ihnen, während he es verletzen, gleichfam vor die Augen treten inufs. Welcher Menfch kann wohl« während er in fich der eingegrabenen Gefetze eines allmächtigen Gefetzgebers bevvulst ift, doch mit frölichem Muthe feine heiligften Gebote verachten und unter die Füfse treten? Und endlich follte es möglich feyn , dafs, wenn ein Menfch dem innern Gefetze und dem oberfteri Gefetzgeber fo offenbar den Krieg ankündiget, alle Zufchauer und 2eugen , ja die Auffeher und Regenten des Volks, die eben die volle Ueberzeugung von dem Ge- fetz und dem Gefetzgeber haben, fo ftillfchwei« gend es gefchehen iiefsen, ohne ihr Mifs- fallen oder den geringften Tadel zu äufern» Es find in der That Principe des Handelns in dem menfchlichen Begehrungsvermogen ver- webt, aber fie find fo wenig angeborne mo- rälifche Prim ipe , dafs fie vielmehr, wenn Ihnen freier Spielraum gelafien würde, den Menfchen verleiten würden, alle Moralität G 2 ümzu-
ioo E ffte* ß neb,
umzuftofsen. Es ift vielmehr die Reßimmimg der moralifchen Gefetze, diefe fchrankenlofen Begierden einzufchränken und im Zaum zu hal- ten; Dieres können fie aber nur durch Stra- fen und Belohnungen, welche das Vergnü- gen überwiegen , das fich einer aus der Üebertreiung des Gefeizes verfprechen kann, Soll alfo in dem Gemüthe des Menfchen et- was als ein Gefetz eingeprägt fern , fo mufs er eine gewifle unvermeidliche Ei- feenntnifs haben, dafs gewille unvermeidli- che Strafen auf die Verletzung des Gefetze* folgen werden, Dsnn könnten die Men* fchen in Anfehung d-Jfen, was angeboren ift, in einem Zuitand des NichtwiiTens und Zweifels fevn , fo wäre es ganz zwecklos , fo fehr auf angeborne Grundlage zu dringen ; Wahrheit und Gewißheit wären durch fie ganz und gar nicht gefiebert. Und dann würde» die Menfchen mit oder ohne angeborne Grund- fätze in eben deraielben Zuftand der Unge- wißheit und der fch wankenden Ueberzeugung fich befinden. Eine gewille unvermeidlich« Erkeuiitnifs- einer unvermeidlichen Strafe, die gio's genug ift, dafs he die Lebertrerung Zu keinem Gegenftandi des Willens macher.
kann.
Drittes Kaj> izel. t«j
kann , muTs ein angebornes Gefetz begleiten, woferne man nicht aufser diefem noch ein angebornes Evangelium voraus fetzen kann. Man verßehe mich hier aber ja nicht unrecht, als wenn ich nur pofitive Gefetze behauptete, weil ich die angebornen leugne. Es ift ein grof- fer Unterfcbied zwifchen einem angebornen, und einemGefetz der Natur ; zwifchen dem, was als ein Original unferm Verftande eingedrückt ift, und zwifchen dem, was wir nicht wif- fen, aber durch den Gebrauch und zweck»- rcäfsige Anwendung unfrer natürlichen Kräfte erkennen können. Nach meiner Meinung entfernen fich diejenigen gleich weit von der Wahrheit, welche aus einem Extrem in . das andere fallen , und entweder ein ange- bornes Gefetz behaupten , oder die Wirklich- keit eines durch das bloße l icht der Natur, d. i. ohne Hülfe einer pofitiven Offenbarung» erkennbaren Gefetzes leugnen.
Gf $. »4*
SOJ Elftes Buch.
§♦ 14«
Diejenigen, welche angebome praktifche Grundfätze behau- pten, fagen nicht, worin fie be- fteheno
Die Uneinigkeit der MenFchen in Anfe- bung ihrer praktifchen Grundfätze ift fo klar, dafs ich wohl kein Wort mehr zu Tagen brau- che, um die Unmöglichkeit darzutbun, irgend, eine angeborne moralifche E.egel nach die- fem Merkmal einer allgemeinen Beiüimmung aufzufinden. Und wenn man flehet, wie lehr diejenigen, welche in einem fo zuver- iichilichen Tone davon fprechen . doch mit einer beftimmten Erklärung, welches diefe angebomen Grundfätze find, zurückhalten., fo mufs das fchon bei Jedem den Argwohn erwecken , dafs ihre Vorausfeszung von an- gebornen Grundfätzen nur eine beliebig ange- nommene Meinung ift. Eine Erklärung die* fer Art füllte man doch mit Recht von denen erwarten, die fo fteif an diefer Meinung han* gen. Und es erweckt grofses Mifstrauen entweder gegen ihre Kenntnifs oder gegen
ihren
Drittes Kapite!, xc»3
ihren guten Willen , wenn fie erklären , daß Gott die Gründe der Erkenntnifs und die Grundregeln dos Lebens dem Menfchen in das "Gemüth gefchrieben hat, und doch fo wenig die Belehrung ihres Nachften und die Ruhe der Menfchheit befördern, und beider grofsen Uneinigkeit, welche unter dem Men- fchengefchlecht herrfcht , diele angebornen Grund fätze beftimmt anzeigen wollen. Aber ficherlich würde diefe Belehrung, wenn es welche, gäbe ganz entbehrlich feyn. Fänden die Menfchen angeborne, ihrem Verftand ein- geprägte Sätze, fo würden fie diefelben von andern Wahrheiten, welche fie fpäter lernen und von jenen ableiten, leicht unterfcheiden. Es müfste eine leichte Arbeit feyn, ihren In- halt und ihre Anzahl zu beftimuien, Ihre Anzahl könnte eben fo wenig zweifelhaft Teyn , als die unferer Finger, und jedes Sy«- ftem würde fie uns denn wohl gefchwind der Reihe nach suffteilen. Da aber noch Nie- mand, fo viel ich weifs, ein Vcrzeichnifs von ihnen gegeben bat, fo darf man es andern um fo weniger verargen, wenn fio die ange- bornen Grundfätze bezweifeln, da diejeni- gen, welche den Glauben an der Wirkliche G 4 keit
W4 Elfte? Buch.
keit derfelben fodern, noch nicht gefagt ha« ben, welches diefelhen find. Wenn Mari- ner von verfchiedenen Sekten ups eine Lifte von ihnen geben follten, fo ift leicht voraus- zufehen , dafs fie nur diejenigen aufftellen würden, welche mit ihren verfchiedenen Hypotheken vertraglich und tauglich wären, die Lehren ihrer befondern Schulen oder Kir- chen zu unterftützen — ein ficherer Beweisi dafs es keine angebornen Wahrheiten giebt. Ja ein großer Theil der Menfchen findet fo wenig folche angeborne nioralifche Principe in ihrem Seibit, dafs iie vielmehr durch Leugnung der Freiheit des Menfchen, wo- durch fie ihn zu einer bloßen Mafchine ma- chen, nicht allein die angebornen , fondern alle moralifthe Regeln überhaupt aufheben, und allen, welche nicht begreifen können, wie ein Wefen , das nicht frei handelt, ei- nes Gefetzes empfänglich fey , die Möglich- keit des Glaubens an moralifche Gefetze durch- aus rauben. Unter ihrer Vorausfetzung mufs jeder nothwendig alle Grund ätze der Tugend verwerfen, der Sittlichkeit und Mechanismus nicht zufarnmen denken kann* Und beide
Be-
Drittes Kapitel. IoC
Begriffe find auch nicht leicht zu vereinbaren, fondern widefftreitend»
§. i5.
Prüfungder von Lord Herbert an- gegebenen angebornen Grund- fät ze.
Alsichdiefes fchon gefchrieben hatte, erfuhr ich, dafs Lord Herbert in feinem Buche von der Wahrheit, diefe angebornen Grund- fatze wirklich befiimmt habe. Ich {.ag es fo- gleich zu Rathe, weil ich hoffte, bei einem fo einfichtsvolleri Manne etwas zu finden, das mich überzeugte, und meiner Unter Di- chung ein Ende machte. In dem Kapitel vom natürlichen Inftinkt (Ausgabe von l6g6. S. 76.) fand ich folgende fecbs. Merkmale vqo den allgemeinen oder angebornen Wahrheiten (notitiae communis) l) die Priorität, 2) Unab- hängigkeit, 3) Allgemeinheit, 4) Gewifsheit, 5) Notwendigkeit, das ift, wie er fich erkläret, lie müflen für die menfchliche G&fellfchaft tauglich feyn ; G 5 6)
*©fi Erftts Buph.
6) die Art der Beiftimmungd, i. das augenblickliche Farvvahrhalten. *) Am Ende feiner kleinen Abhandlung von der Reli- gion des Laien fagt er von diefen an- gebnrnen GiunclTätzenj «die allgernein- geltenden Wahrheiten find nicht etwa in die Grenzen irgend einer Religion eingefchränckt, denn fie find vom Himmel herab in die See- le Felbft gefchrieben, und von keinen gefchriebenen oder nicht gefchriebenen Ueberlieferungen abhängig." Und , u n f er e a llge m ein- geltenden Wahrheiten find als un- be zwei feite Ausfprüche Gottes ia
dem
*} Prioiitas, Tndependentia , Unirerfalitas, Cor- titudo, Ncceflitas, i. e. faciunt ad hominis convevfatinnem. (Wi* wiflen nipht, was Poley lind Tutel fich dabei gedacht haben müflen , da elfterer überfezt : fie tragen znr Er. Haltung des Menfchen etwas bei. S. 46 , und lezterer S. 45 , feines Auszugs Notwendigkeit in Abficht der Menfchenevhaltung darunter vc! Ttehet. Sollte in ihrem Exemplar conferuatio- nesn gelundeu haben?; modus conf'ormatjp« uis i. e. aflenfus null* interpojita mora.
A. d, U.
Drittes Kapitel. j.07
«lern inncm Gerichts ho f nieder ge- fchrieben *). Nachdem er die Merk- male von den angcbomen Grund ('atzen an- gegeben, und behauptet hat, dafs fie durch die Hand Gottes den Meu'chenfeeien einge- prägt find, fo Hellt er fie wirklich auf. E$ find folgende: I) das Dafeyn eines oberften Wefens; 2) diefesWefen muffe verehret weiden; 3) Tugend und Frömmigkeit fey die hefte Art, Gott zu v e r e h r e n ; 4) M a ri rn • ; f- fe fich von feinen Sünden bekeh- ren; 5) Nach die fein Leben finde eine Belohnung ftatt. Ob ich gleich eeftehe , dafs alle diele Wahrheiten klar und von der Befchaffenheit find, dafs ein vernünf- ti°es Wefen kaum aufteilen kann, ihnen, wenn fie richtig erkläret werden, beizuftimmen,
fo
9-) Ac!eoque ut non unius caiuquis reli^iouiscon- finio aretentur, qnae ubique vigent veriiatep. Sunt enlzrJ in ipfa mente coelitus defcriptaQ nullisque trachtiombus, fiue feriptis liue non, feviptis, obnoxiae — Veriraies nofti.ie C.ithoH- cac , quae tanquam indobia Dei effata in foi'Q üUciioii deTcripta.
ic8 Elftes Buch.
fo elanbe ich doch, dafs Herbert keines* wege«. bewjefep hat, dafs fie angebome, in dem innern Gerichtshof nieder- gefr. hTiebene Eindrücke find. Man
erlaube mir folgende Bemerkungen.
Erftlich. Wenn es vermin ftig ift an» zunehmen , dafs einige allgemeine Wahrhei- ten durch den Finder Gottes in unfere Seele geschrieben find, fo find jene fünf Sätze we« der alle diele Wahrheiten, noch find fie es mit nuhierf n; Rechte ajs andere. Dcnnesgiebt an- dere Sätze, welche nach feinen eignen Ao'aximen eben fo gerechte Anfprüche auf einem folchen Utfprung haben, and eben fo gut für ange- bome Grundfätze gelten können, als alle oder wenigstens einige von den fünf angege- benen, z.B. der Satz: Handle fo, wie du willft, dafs andere gegen dich handeln. Ein aufmerkfames Nachdenken wird vielleicht noch mehrere dergleichen finden.
§ *7-
Dtitrss Kapitel. 109
Zweitens. Seine aufgeßellten Merk- male finden fich nicht alle in jedem der fünf Sätze Das erfte, zweite und dritte ftitnmt mit keinem vollkommen überein; das erfte^ zweite, dritte, vierte und feclifte pafst nicht gut auf den dritten, vierten und funhenSatz, Denn, ohne das zu rechnen, dafs , wie uns die Gefchichte überzeuget, viele Menfehen, ja ganze Nationen einige oder alle diefe Sätze bezweifeln oder leugnen, fo kanu ich nicht einfehen, wie der dritte: Tugend tmd Frömmigkeitin Vereinigung ift die befte Verehrung Gottes, ein ange- borncr Grundfatz feyn kann , da das Woxt oder der Ausdruk: Tugend fo wenig ver- ftändlich, fo vielen fchwankenden Erklärun- gen unterworfen , und das bezeichnete Ob- jekt noch fo fehr beftritten , und fo fchwer zu erkennen ift. Jener Satz iß daher eine fehr unfichere Regel der menfchlichen Hand- lungen und wenig brauchbar zur Einrichtung unTers Lebens; er kann daher keine Stelle un- ter den angebornen praksiiehea Grundsätzen erhalten»
§. 18*
U© Ex f tes B uch.
$* 18,
Wir wollen jezt diefen Satz: die Tu- gend ift die befte Verehrung Got- tes d. h , fie ift ihm am wohlgefälligfien, feinem Inhake nach etwas näher unterfuchen; denn in dem Sinne nicht in dem Worte mufs der Grundfatz oder die allgemeine Wahrheit enthalten leyn. Wenn unter Tugend, wie gemeiniglich gefchiehet, folche Handlungen verftanclen werden, welche nach den ab- weichenden Meinungen verfchiedener 1 ander für lobenswürdig gehalten werden, fo ift der Satz nicht nur nicht gewifs;, fondern nicht einmal wahr. Bedeutet aber die Tugend folche Handlungen , welche dem Willen Got- tes , oder dem von Gott vorgefchriebenea Gefetz — der einzig wahren Richtfchnur der Tugend, wenn diefe nichts anders bedeuten foll, als was von Natur recht und gut i?t — angemelfen find, fo ift jener Satz fehr wahr Tünd gewifs, aber von lehr geringem Nutzen für das menfehliche Leben» Denn er fagt dann nicht mehr aus, al?, dafs es Gott wohlgefällt, wenn man thut, was er befohlen hat; Bhiss könnte ein
Meafch
ÖritteS Kapitel. nt
jVlenfch als gewiTs erkennen, ohne zu wif- fen , was Gott gebietet, und hätte dann eben fo wenig eine Hegel oder Riclitfchnur füf fei- ne Handlungen als vorher* Einen Satz, der nichts mehr lagt, als dafs Gott Gefallen dar- an hat, wenn man thut, was er gebietet, werden wohl nur wenige Menfchen für ein angebornes, in das Herz aller JVlenfchen ge- fchriebenes möralifches Princip gelten lallen» Weil er, fowahr und gewifser auch anfiehift, doch fo wenig Belehrung giebt* Sollte man es aber dennoch thun, fo könnte man mit eben dem Rechte hundert andre Salze für an- geborne Grund fätze erklären, welche eben fo ftarke Anfpröche darauf haben, ob fie gleich noch kein Menfch in die Rangord- nung der angebomen Principe fezte#
§. 19'
Der vieTte Satz: die Menfch en müT- fen ihre Sünden bereuen, ift nicht belehrender , fo lange nicht die Handlungen beftimmt find, welche unter den Sünden ver- fianden werden. Das YVort Sünde bedeutet gewöhnlieh überhaupt jede Handlung, wei- cht;
ii2 Erftei Bncb.
che dem Thäfer eine Strafe zuziehen kann. Kann min wohl ein Sau, der faget, wir follea Reue über das empfinden, und es nicht mehr thun, was uns in Schaden bringen kann, oh- ne die Handlungen zu befiimmen, bei wei- chen das ftatt findet, kann der ein grofsesmo- falifches Princip fejn? Der Satz ift an lieh in der That wahr, und kann da Eingang finden, wo man die Erkenntnifs, welchs Handlungen in jeder Art Sünden find, vor* ausfeilen darf. Aber weder diefer noch der vorige können für angeborne Grundfätze, und wären fie auch das, für nützliche Wahr- heiten gehalten werden , woferne nicht auch die befondetn Kegeln und Unterfcheidungs- snerknale aller lugenden und Lader in das roenf« bliche Herz gefchrieben , und angebof- »e Gruudrätze find, welches aber wohl noch fehr zu bezweifeln ift. Daher dürfte es Raum denkbar feyn, etafs Gott dem menfeh- lichen Geir.üthe Grundfätze in den Worten von fo ungewißer Bedeutung, als die Worte Tugend und Sünde find , welche bei ver» fchiedenen Menfchen verfchiedene Objekts bezeichnen, oder auch überhaupt in Wor- ten eingeprägt habe, weiche in den meißen
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Drittes Kapitel. n5
Grundfätzen diefrr Art von allgemeiner Be- deutung und nicht ehe verftändlich lind., bis man die befondern unter ihnen enthaltenen Objekte erkannt hat. Im Praktifchen muffen die Maafsrpgeln nrenfures) aus der Erkennt- nifs der Handlungen felbft abgeleitet, und die Regeln des Handelns, ohne an Wor- te gebunden zu feyn, der Kenntmfs ihrer Sprachzeichen noch vorausgehen. Prakti- fche Regeln mufs jeder Menfch verftehen, "was er auch immer für eine Sprache gelernt hat, und hätte er auch gar keine gelernt, und verftünde wie die Taubftummen kein Wort» Wenn man dargethan hat, dafs Menfchen oh- ne Kenntnifs der Worte, ohne Unterricht durch die Gefetze und Sitten ihres Landes, erkennen, dafs es zur Verehrung Gottes ge- hört, keinen Menfchen zu tödten, nur ein Weib zu haben ; die Leibesfrucht nicht ab- zutreiben ; die Kinder nicht auszufetzen; keinem Menfchen das Seinige zu entziehen, auch in dem Fall, dafs fie es felbft bedürfen, im Gegentheil feinem Mangel lieber zu Hül- fe kommen; und dafs wenn fie das Gegen- theil gethan haben, Reue, Mißbilligung' und er Vorfatz, es nicht mehr zu thun, ihrePilicht H iß;
n/f Elftes Buch.
ift; wenn fnge ich, es erwiefen iß, dafs al- le Menfchen alle diefe und taufend andere Regeln erkennen und billigen, welche unter den oben erwähnten Gattungsbegriffen Tu- gend und Sünde enthalten find, dann wird man mit mehr Grund diefe und ähnli- che Satze für allgemeine Wahrheiten und praktifche Grundfätze erklären können. Doch alles diefes zugegeben ? fo wird doch die alJ„ gemeine UebereiüTtimmung (wenn fie nehm- lieh bei praktifchen Grundfätzen ßatt fände) bei Wahrheiten , deren Erkenntnifs auf eine andere Weife möglich ift,' kaum den Schlufs berechtigen , dafs fie angeboren find. Und diefs ift alles, was ich behaupte»
§. 20.
Angeborne Grundfätze können verfälfeht werden. Die f er Ein- wurf wird beantwortet»
Es wird wenig Einflufs auf die Sache ha- ben, wenn wir hier einer Einrede der Geg- ner gedenken, welche fich zwar fehr leicht darbietet, aber nicht fehr erheblich ift« Sie
fagen
Drittes Kapitel. Ii5
fügen neinlich : tl i e a 11 g e b o r n 6 n G r u n'dr (ätze der Moraliiiit können durch Erziehung, Gewohnheiten und tiie herrfchenden Meinungen der- jenigen, in deren Gefeil fchaft mau lebt, verdunkelt und zuleztgauz und gar aus d e rn G e in ü t h vertilgt werden. Ifc diefe ihre Behauptung wahr, fo zernichtet lie den Schltifs von der allgemei- nen Einltimmung, durch welchen die, Meinung von angebornen Grundfätzen follte bewiefen werden Sie müfsten es denn für vernünf- tig halten, ihre und ihrer Parthei Privatmei- o
nungen als allgemein eingebundene Wahrhei- ten geltend zu machen. Freilich gefchiehet das nicht feiten , wenn Menfchen , die heb, allein im Befiu der gefunden Vernunft wäh. nen, die Stimmen und Meinungen der übri- gen Menfchen als Nullen auf die Seite wer- fen. Ihr Schlufs hütet denn f o : Die Grund« fatze, welche alj»e Menfchen fürwahr erken- nen, find angeboren: Grundfatze, welche Men> fchen von gefunder Vernunft annehmen, find für alle Menfchen gültig; wir und aile, die unbrer Meinung find, find Menfchen von gefunder Vernunft; da wir nun einfthnmig H 2 find,
n6 Elftes Buch.
find, fo find unfere Grundfätze angeboren. Warlich eine feine An zu fchliefsen , und ein rafcher Schritt zur Untiüglichkeit ! Auf eine andere Weife läfst fich auch die Wirklichkeit folcher Grundfätze, nicht wohl begreifen» welche alle Menfchen einftimmig anerkennen, und doch ohne Ausnahme durch böfe Ge- wohnheiten und fchlechte Erzie- hung aus dem Gemüthe vieler Menfchen vertilgt werden kön- nen; welches foviel ift, als, alle Men- fchen nehmen fie an, aber viele leugnen fie, oder widerfprechen ihnen. Die Vorausfe- tzung folcher erften Grundfätze ift auch in der That faft zwecklos, Es ift für die Ver- befferung unTres Zuftandes gleichgültig, ob es welche giebt oder nicht, w7enn fie durch eine menfchliche Macht z, B, durch den Wil- len unfrer Lehrer , oder durch die Meinun- gen unfrer Zeitgenoffen verändert oder zer- nichtet werden können* Ungeachtet aller Prahlerei mit diefen urfprünglichen Grund- wahrheiten und mit dem angebornen Lichte, wird Dunkelheit und Ungewifsheit eben fo wohl unfer Loos fej*n , als wenn fie gar nicht wirklich wären. Denn ohne alle Re.
gel
Drittes Kapitel. 11^
gel feyn, oder zwar eine haben, die fichaber, es fej fo wenig als es wolle, verdrehen läfst, oder verlegen feyn , unter mannichfaitigen wider- ftreitenden Regeln die wahre zu treffen, läuft al- les auf Eins hinaus. Doch ich wünfche nur. dafs (Ich die Vertheidiger der angcbornen Grund- fätze darüber erklären, ob fie durch Erzie- hung und Gewohnheit verdunkelt und ver- tilgt werden können, oder nicht. Ift das lezte , fo müden fie unter allen Menfchen unveränderlich und in jedem einzelnen klar feyn. Können fie aber durch erworbene Vorstellungen verändert werden, fo muffen wir fie nahe an der Quelle, das ift, bei Kin. dem und ungelehrten Leuten , auf welche fremde Meinungen am wenigften Eindruck gemacht haben , am klärften und deutlichsten, finden. Welche von beiden Partheien fie auch ergreifen, fo werden fie fich doch ge- wifs überzeugen, dafs fie mit offenbaren Thaifachen und mit der täglichen Erfahrung unvereinbar ift.
Ha *♦ »'
Il8 E rft es' B uch.
§. 21.
Es g i e b t widerftreitendc Gpund- fä t z e in der Welt.
Ich »eftehe gerne, dafs es eine gro fse Anzahl von Meinungen giebt, welche Menfchen ans vei Tcbiedenen Ländern, von verfchiedener Erziehung und von entgegenge- fetziem Temperament als u r fp rü n gli &h e und un bezweifelte Grund Tatze a r~ genoramen haben, von denen viele,fowobl we^en ihrer Abgefchmaktheit, ah auch, weil he felbit mit einander ftreiten, unmöglich Vf a h r fevn können. Und doch ftehen alle diefe Satze, fo weif fie fich auch v^in der Vernunft entfernen, hier und da in einem folchen ehr- würdigen Anfeilen, dafs felbft Manner, die in andern Dingen richtig denken, lieber ihr Leben und was ihnen fonft noch am theuer- ften ift, aufopfern, als fich und andern ei- nen Zweifel oder Argwohn über die Wahr- heit derfelben erlauben.
§♦ 22,
Drittes Kapitel, iiq
§. 22.
Wie die Menfchen gewöhnlich zu ihren p r a k t i f ch e u G rund Ta- tzen gela ng en.
So auffallend cliefes Faktum auch fcheint, fo wird e> doch durch die tägliche Frfahrung beftätiget; und vielleicht wird fich das Wun- derbare delfelben verlieren, wenn man die Mittel u n d V% e g e , auf welchen es zur - Wirklichkeit kommt, oder die Art Und Weife un- terziehet, wie es möglich wird, dafs Lehrmei- n ungen, die aus keiner belfern Quelle, als dem Aberglauben einer Amme und dem Anfehen eines alten Weibes entsprungen find , endlich durch die Lange der Zeit und die Beiftim- rnung der Nachbarn bis zu dem Range von Grund Tatzen in der Moral und Re- ligion emporfteigen können» Denn diejeni- gen, welche alle Sorgfalt anwenden, den Kindern (wie fie es nennen) gute Grund fetze beizubringen — und es giebt wenige Men- fchen, die nicht eine ganze Reihe von Toi- chen Sätzen für lieh haben und für wahr halten— ilöfsen dem noch unachtfamen und H 4 unein«
120 Erftes Buch.
uneingenommenen Verftande, der wie unbe. fchriebenes PapieT alle Schiiftziige aufnimmt» diejenigen Lehren «in, welche fie nach ih- rem Wunfche behalten und bekennen Collen» Diefe Sätze werden ihnen, fo bald fie etwas fallen können, gelehrt, und fo wie fie heran wachten , mehr befediget, entweder durch das öffentliche Bekenntnifs und die ftillfchwei- gende Einftitninung aller derer, mit denen fie umgehen, oder zum wenigften durch die- jenigen, von deren Weisheit, Renntnillen und Frömmigkeit fie eine hohe Meinung ha- ben, und welche keine andere Erwähnung von diefen Sätzen thun lauen, als ob fie der Grund und die Stütze aller Religion und Sitt- lichkeit wären. Durch alle diefe Mittel er- langen endlich diefe Lehren das Anfehen von unbezweifelten , einleuchtenden und angebor- uen Wahrheiten«
§. 15.
Hierzu rechne man noch diefes. Wenn fo gebildete Menfchen , nachdem he erwach» fen find, über ihr Ich nachdenken, fo finden fie nichts, das einen höhern Urfprung hätte,
ali
Drittes Kapitel. 121
als (liefe Meinungen , welche ihnen einge- flöfitf wurden, ehe ihr Gedächtnifs anhngi über ihre Handlungen gleichlatn Buch zu hal- ten, oder das Datum zu bemerken, wenn ihnen etwas Neues vorkam. Hieraus ziehen He ohne alles Bedenken den Schlufs, daTs diejenigen Sätze, von deren E r- kenntnifs in ihnen kein Anfang aufzufinden ift, nicht etwa von andern angenommen, fondern un- verkennbare Eindrücke Gottes und der Natur auf ihr Gemüt h find. Jezt halten fie auf diefe Sätze , und unterwerfen fich ihnen, wie Eltern, mit Ehr- furcht. Nicht als wenn diefe natürlich wäre, — denn fie fehlt auch bei Kindern, die nicht fo erzogen und gebildet find — fondern weil fie allezeit fo erzogen worden find , und fich nicht erinnern können , wenn diefe Ehrfurcht angefangen habe, fo halten üe diefelbe für, ein Werk der Natur,
§. 24»
Wenn wir die rnenfchliche Natur und
die Befcliaffenheit der menfchlichen Gelchät-
H 5 t«
122 Elftes Buch.
te betrachten, fo wird das Obige als eine fehr wahrfcheir.liche, ja faft unvermeidliche Folge erfcheiaen. Denn es erheilet daraus, wie die JVI en.fchen ohne viel Zeit auf die täglichen B e r u f s g e f c h ä i f t e zu verwenden, nicht leben, noch Beruhigung in ihrem Selb fr fin- den können, wenn f i e nicht einen Grund oder ein P r i n c i p haben, u rn ihre Gedanken darauf ruhen zu laffen.. Nicht leicht findet man einen Menfchen, wenn er auch noch fo feicht und wankend in feinen Ueberzeugungen ilt, der nicht Einige verehrte Sätze hat 9; die. bei ihm die Steile der Grund fätze vertreten». An die- fe knüpft er fein Räfonnement ; nach ihnen beuriht-ilt .er; Wahrheit und Falfchheit, Recht und Unrecht. Und da es theils an Zeit und Gefchicklichkeit, theils an Neigung fehlt, diefe Sätze einer Prüfung zu unterwerfen; Ja- einigen die Prüfung wohl gar als pflicht- widrig vorgeftellt wird: fo giebt es wenige IVlenfchen, die nicht durch ihre Unwillen - heit , Trägheit, Erziehung oder Mangel an Ueberlegung der Gefahr ausgefezt find, ihre
Grund-
Drittes Kapitel. l2J
Grundfatze auf Treu 'und Glauben anzu- nehmen.
§. 25.
DieTs ift offenbar der Fall mit allen Kin- dern und jungen Leuten. Und da die Ge- wohnheit , die eine gröfsere Gewalt befizt, als die Natur, feiten des Erfolges ihrer Wir* kung verfehlet, dafs diefe Menlchen als gött- lich verehren, was fie ihnen zur Beherr- fchung ihres Gemüths und zur Unterjochung ihres Verftandes .eingeäzt hat, fo ift es kein Wunder, wenn erwachfeue Menfchen, theils durch die noth wendigen Befchäftigungen des Lebens zerftreuet, theils durch die Jagd auf das Vergnügen erHizt, fichs nicht zur ernft- lichen Angelegenheit machen , ihre eignen Meinungen zu prüfen, zumal wenn einer ihrer Grundfatze ift, dafs Grundfatze nicht unter- fucht werden dürfen. Und hätten iie auch Mufse, Fähigkeit und den Willen dazu, wer unter ihnen dürfte wohl den Mmh befitzen, die Gründe aller feiner vorigen Gedanken und Handlungen zu erfchüttern, und fich das beschämende Geftäudnifs abzunüthigen , dafs
er
iP4 Elftes Euch.
er fo lange Zeit ganz in Irrthum und Wahn verfunken war? Wer hat wohl Herz genug, den Vorwürfen zu trotzen, welche denjenigen von alles Seiten drohen, die es wagten, den angenommenen Meinungen ihres Landes, oder ihrer Parthie zu widerfprechen? Wo iit der Manu zu finden, der mit gelafle- nem Mut he erwarten kann, den Namen eines Grillenfängers, eines Zweiflers oder Atheiften za tragen, welchem keiner entgehen kann, der in die allgemein angenommenen Meinun- gen den geringften Zweifei fezt? Er wird fleh im Gegentheil um fo mehr fcheuen, diefe Grundfätze zu untersuchen, wenn et die gewöhnliche Ueberzeugung eingefogen hat, dafs üe zur Regel und zum Probierfteine aller andern Meinungen von Gott dem Ver- ftande eingepflanzt find. Und wenn er fin- det, dafs lie die älteften unter allen feiwen Gedanken find, und von andern mitdergröfs- ten Ehrfurcht angeftaunet werden , was kann ihn noch hindern, ße für heilige Wahrhei- ten zu halten?
§. 2%
Drittes' Kapitel. \z5
§♦ 26»
Es läTst fich hieraus ohne Schwierigkeit begreifen, wie es zugehet, dafs Menfchen die Götzenbilder verehren, die fie in ihrem Gehirn aufrichteten, und lieh in Vorftel- ftelluugsarten un Werblich verlieben , mit de* nen fie fchon lange vertraut worden find; Irrthümer und Ungereimtheiten mit dem Charakter der Göttlich. keit ftempeln; Bigotte Anbeter von Och- sen und Meerkatzen werden, und für die Vertheidigung ihrer Meinungen mit den Waf- fen fechten und ihr Leben aufopfern. Sie halten, wie der Dichter fagt, nur die für gültige Götter, die fie felbft verehren *). Die Denkkraft, dis faft im- mer , obgleich nicht allezeit mit weifei Be- hutfamkeit, gefchäfilg ift, willen die meiften Menfchen aus Mangel an einem fichern Grund und leitenden Princip nicht zweckmäßig, an-
zu-
*} Juvanal XV. 'Satyre v. Zj. Qimm folos elf dat habendos elTo Deos, quos ipfe colit,
126 Erf t es B u eh.
zuwenden. Und da die gröfste Anzahl der Menfchen aus Trägheit oder Zerftreuung nicht in die Principe der Erkenntnifs eindringet, und die Wahrheit bis an ihre ursprüngliche Quelle verfolget, und ein anderer Theil aus Mangel an Zeit, wahren Hülfsmitteln und andern Urfachen das nicht, einmal vermag, fo ift es natürlich, ja faft unvermeidlich, dafs fie fich mit geborgten Grundfalzen behelfen, welche für keines Beweifes bedürftig gehalten werden, weil ihnen der Wahn das Anfehen von erften Grundfätzen geliehen hat, aus welchen die Wahrheit aller andern Dinge bewiefen werden muffe. Wer einige von diefen Sätzen aufnimmt, und mit der Ach- tung heget, die man gewöhnlich Grundfätzen bezeiget; wer es nicht waget, fie zu unter- fuchen, fondern lieh gewöhnet, an Ge zu glau- ben, weil fje geglaubt werden follen ; der kann von feiner Erziehung und der Mode feines Landes Ungereimtheiten für angeborne Grundfatze annehmen, und durch die lange Anficht der nehmüchen Gegenwände die Seh- kraft feines Verftandes fo fchwächen, dafs er Mifsgeburten feines Gehirns für Bildniffe der Gottheit und Werke ihrer Hand hält.
§. 27.
Drittes Kapitel, 127
§• 27.
Grundfätze muffen unterfucht werden.
Wie viele Menfchen nun auf diefer Bahn zu Grundfätzen gelangen, die ihnen für an- geboren gelten , läfst lieh leicht an der Man- nichfaltigkeit entgegengefezter Grundfätze be- merken, welche alle Gattungen und Stände der Menfchen dtirchzuhtzen und zn verfech- ten fuch^n. Wer leugnet, dafs diefes der Weg fey, aufweiche») tue meiden Menfchen zur Ueberzeugung von der Wahrheit und Evidenz ihrer Grundfjtze gelangen, der wird {ich vielleicht in grolser Verlegenheit finden, auf eine andere Weife die E'ntftehung entge- gengefezter Meinungen zu erklären, welche fo feft geglaubt, fo kek behauptet werden, ja welche unier gewifsen Uinftänden grofse Haufen mit ihrem Ulute zu verfiegeln bereit find. Und in iler That, wenn die angebornea Grundfätze das Vorrecht haben füllten, dafs de ohne Unterfuchung auf ihr eignes Anfehen an- genommen werden müTsten, fo fehö ich nicht «in, was nicht alles geglaubt werden könnte,
•der
128 Elftes BucU«
oder wie man «1 ie Grundfätze eines jeden Mcn- fchen prüfen foll. Wenn fie geprüft und un- terfircht werden können und follen, fo möcht jeh willen , wie es möglich ift , die angebor- nen Grundfätze zu prüfen. Es ift zum we- nigsten vernünftig, Kennzeichen und Merk- male zu fodern, wodurch die ächten ange- jjornen Grundfätze von denen , die es nicht find, können unterfchiedeu werden, damit man in einem fo wichtigen Punkte, bei einer fo grof-.en Menge von Sätzen, die darauf An- fpruch machen , vor Fehlgriffen gefiebert fey. Wenn das gefebehen ift, fo werde ich folche nützliche und willkommene Sätze fehr gerne annehmen ; bis dahin aber erlaube man mir einen befcheidenen Zweifel. Denn die allgemein« Einftimmung, das einzige bis- her angeführte Merkmal , dürfte wohl zu ich wach befunden werden, um meine Wahl zu leiten, und mich von irgend einem ange- bornen Satz zu überzeugen. Nach alle dein, was wir gefagt haben, ift es aufs er allem Zweifel, dafs es keine, von allen Menfchen einftimmig angenommene , und folglich auch keine angeborne praktifche Grundfätze giebt.
Viertes
V i e r t e s K a p i t e 1. 1Ä9
Viertes Kapitel.
Noch einige Betrachtungen über die angebornen,
fuvvohl thcoi -etil eben als praktifchen.
Grurnl Tatze.
§. I.
Grundfätze find nicht angebt), ren, wenn nicht die Begriffe, die ihren Inhalt ausmachen, angeboren find»
•Hatten diejenigen, welche uns gerne von
der Wirklichkeit angeborner Grundfätze über- zeugen möchten, fie nicht überhaupt und zu- lammen, fondern einzelnen, und nach den Theilvorftellungeii , welche ihren Inhalt aus- machen, betrachtet, fo würden lie vielleicht mit ihrer Behauptung etwas zurückhaltender gewefen feyn. Denn wenn die, Begriffe, aus vvelchen diefe Wahrheiten beliehen, nicht angeboren find, fo können es unmöglich die Sätze Mbit fern , fo ift ihre Erkenntnifs uns unmöglich angeboren» Sind die Begriffe I nicht
1^0 Erf tos* JB uch.
nicht angeboren, fo ift eine Zeit vorhanden, da der Verftand diefer Grundfütze entbehrte; iftdiefs, fo find fie nicht angeboren, fondern raüflen aus einem andern UiTprung abgeleitet werden. Denn wo es an gewiffen BegrifFen fehlet, da ift auch keine Erkenntnifs , keine Beiftimmung, kein Urtheil und kein Satz in Beziehung auf fie möglich.
Begriffe, vorzüglich folche, die zu Grundfätzen gehören, wer- den nicht Kindern angeboren.
Wenn wir neugeborne Kinder aufmerk- fam betrachten, fo werden wir wenig Urfa- che finden, zu denken, dafs fie viele Begrif- fe mit auf die Welt bringen. Denn die fchwachen Vorftellungen von Hunger, Dürft, Wärme und Schmerz , die fie vielleicht im Mutterleibe empfunden haben , ausgenom- men, findet man in ihnen nicht die geringfte Spur von fchon völlig gebildeten BegrifFen, noch weniger von folchen , welche den Ausdrücken in den allgemeinen
für
Viertes Kapitel. i5l
für an geboren gehaltenen Sätzen e 11 1 fpr eche n. Man kann beobachten, v.'ie nachher ftufenweis Begriffe in ihren Verftand koirmiexi; aber das find keine an- dere und nicht mehrere, als welche die Er- fahrung und Beobachtung der Dinge, die in ihrem Kreife liefen, ihnen zuführen. Die- fes mufs uns fchon hinlänglich überzeugen, dafs es keine urfprüngliche, dem Verftand© eingeprägte Vorftellungeu giebr,
• §. 5.
Es ift unmöglich, dafs das nehmliche Ding fey und nicht fey, mufs unftrehig ein angeborner Grundfatz feyn , wenn es überhaupt folche giebt. Allein ift es wohl denkbar, oder wird wohl jemand behaupten , dafs Unmöglichkeit und Identität angeborne Begriffe find. Fin- den lieh diefe bei allen Menfchen, oder brin- gen üe diefelben mit auf die Welt? Oder kommen fte bei Kindern am früheften, und vor andern erworbenen zum Vorfchein? Al- les nothwendiüc Folgen , wenn he angebo- ren find. Hat ein Kind eher einen Beari/f von Möglichkeit und Identität, als I 2 die
l5& Ei ftes Buch.
die Vorftellung von Weifs und Schwarz, Süfs und Bitter? Wenn es fchliefst, daTs» Werinuth auf die Bruft feiner Mutter gerieben nicht fo fchmeckt, als die Nahrung, die es fonlt- daher erhielt, ift es eine Folgerung aus dem Grundfatz des Widerfpruchs? Oder ift es eine Wirkung von der wirklichen Erkenntnifs deflelben, dafs es feine Mutter von einer fremden Perfon unterscheidet ; dafs es dicfe fliehet, und fich an jene anfchmiegt? Kann der Verftand und feine Ueberzeugung durch Begriffe beftimmt werden, die noch nicht vor- handen find? Oder kann er Folgerungen aus- Grundfatzen ziehen, die er noch nicht er- kannt, noch verftanden hat? Die Worte Unmöglichkeit und Identität be- zeichnen zwei Begriffe, die fo wenig uns angeboren , oder mit uns entftanden find, dafs fie vielmehr nur durch einen hohen Grad von Nachdenken und Aufmerkfamkeit rich- tig gebildet werden können. Sie find fo we- nig mit der Geburt auf die Welt gebracht und fo weit von der Denkart der Kinder ent- fernt, dafs ich mit Grundi behaupten kann, man wird fie in vielen erwachsenen Men- fchen nicht deutlich entwickelt finden.
Viertes Kapitel. i55
* 4-
Identität, kein angeborner B e-
griff.
Wenn die Identität, um bei diefem Be- griff flehen zu bleiben, ein ängeborrier Ein- druck, und folglich uns fo klar und geläufig ift, dafs wir von der Wiege an ein deutli-- ches ßewufstfevn von demfelben haben, 'o wünfche ich von einem fiebenjäbrigen oder fiebiigjährigen Menfchen folgende Fragen be- antwortet zu fehen. Ob ein MenfcH als ein aus Seele urul Leib beftehendes Wefcn , noch der nehmlicbe Menfch ift, wenn fein Körper verändert ift? Ob Euphorbus undPytha- goras, die einerlei Seele hatten, einerlei Menfch waren, ob gleich der lezte einige Menfchenalter fpäter als der erfte lebte? Ja ob auch nicht der Hahn, der an der nehmli- chen Seele Antheil hatte, einerlei Wefen mit ihnen beiden war? Es wird daraus offenbar werden, dafs unfer Begriff von Iden- tität nicht fo beftimmt und klar ift, dafs er verdiente für angeboren gehalten zu wer- den. Denn wenn diefe angebornen Begriffe I J nicht
i34 Er ftes Eu cli.
nicht klar und deutlich find, fo daTs fie all- gemein gedacht und von felbft für wahr ge- halten werden, fo können fie keine Geaen- ftände allgemeiner und »»bezweifelter Wahr- heiten feyn . fondern fie werden unvermeid- lich eine unaufhörliche TJ.ogewifsheit veran- lafsen. Denn ich glaube nicht, dafs Jeder- mann einen Begriff von Identität habe, der mit dem des Pythagoras und tau- fend feiner Schüler überein ftitmut. Welcher ift dann aber der wahre und.angeborne ? Oder giebt es zwei verfchiedene Begriffe von Identität, die beide angeboren find?
:§♦ 5;
Man denke ja nicht, dafs die obigen Fra- gen in Rückficht auf die Identität eines Men- fchen blofse leere Speculationen find« WTäre das auch der Fall , fo folgte fchon daraus, dafs in dem menfchlichen Verftande kein an- geborner Begriff von Identität an- zutreffen ift. Wenn man mit einiger Aufmerk, famkeit über die Auferftehung nachdenkt, und überleget, dafs die göttliche Gerechtigkeit an dem leiten Gerichtstage eben diefelben "Per-
fonen
Viertes Kapitel. i35
Jonen richten , und ihnen Giüc!<feligkeit oder Elend in jenem Leben austheilen wird, wel- che in diefem gut oder böTe gehandelt haben, fo wird man finden, dafs es nicht leicht zu entfeheiden ift, was den Menfchen zu dem- felben Menfchen macht , oder worin die Identität beftehet Und dann wird man mit der Behauptung, dafs alle Menfchen, felbft Kin- der, von Natur einen klaren Begriff davon haben, etwas zurückhaltender feyn.
§. 6.
Die Begriffe von einem Ganzen und den Theilen find nicht an- geboren,
Wir wollen jezjt den Grundfatz der Ma- thematik, das Ganze ift gröfser als ein Theil, unterfuchen, der, wie ich den- ke, auch unter die angebornen Grund Tatze gezählet wird, und gewifs eben fo gerechte Anfprücbe darauf hat, als jeder andre Satz» Und doch kann fich das kein Menfch den- ken, wenn er erwäget, dafs die Begriffe ei- nes Ganzen und derTheile, welche die Materie deffelben ausmachen, vollkommen I 4 relativ
l36 Elftes Buch.
relativ, die pofitiven Begriffe aber , welchen jene eigentlich und unmittelbar angehören, und deren VerhälUiijTe jene aufhucken , die Ausdehnung und die Zahl find Gefezt alfo die Begriffe von Ganzen ur:d den Theilen, Und angeboren , fo inüJlen es such die von der Ausdehnung und der Zahl feyen, denn es ift unmöglich, ein Verhältnis zu denken, ohne einen begriff von demjenigen zu haben, auf welches fic-h das Verhältnifs beziehet, und worin es gegründet ift. Ob nun die Begriffe von der Ausdehnung und der Zahl wirklich dein Verftande urfprünglich eingeschrieben find, das will ich den Vertheidigern der an. gebomen Begriffe zur Unterfuchung überlaffen»
§. 7.
Der Begriff von Gottesvereh- rung ift nicht angeboren*
Dafs Gott verehret werden foll, ift ohne Zweifel eine der gröfsten Wahrhei- ten, deren der menfehliche Verftand em- pfänglich ift, und fie verdienet die erfte Stel- le untei den praktifchen Grundfätien, Dcm-
un-
Vi fites Kapitel. i37
ungeachtet kann iie keinesweges für ange- boren gehalten werden, woferne die Begrif- fe, Gott und Verehrung nicht auch an- geboren find. Jeder Menfeh wird aber, wie ich hoffe, ohne Schwierigkeit einräumen, daf.-. der B e griff, welcher durch das Wort Verehrung bezeichnet wird, nicht in dem Verftande der Kinder, nicht in der Seele als ein Schriftzug urfprünglich eingegraben ,ift, wenn er überlegt, wie wenig erwachfene Menfchen einen klaren und deutlichen Be- griff davon haben. Und es läfst lieh wohl nichts ungereimteres fagen , als die Kinder hätten diefen angebornen praktifchen Grund- fatz: Gott foll verehret werden, die doch nicht wiiTen , worin diefe Vereh- rung, zu der fie verpflichtet find, beftehet, — Doch wir gehen weiter.
§. 8,
Der Begriff von Gott i ft nicht angeboren.
Wenn irgend ein Begriff die Vermu-
thung für lieh hat, dafs er angeboren fey,
fo ift es aus vielen Urfachen der Begriff von
I 5 Gott,
i53 Elftes Euch.
Gott. Denn angeborne praktifche Grnndfä- tze 1 ffen fich kaum ohne den angebomenBe- griß einer Gottheit denken» Ohne den Re- griß eines Gefetzgebers iß der Begriff eines Geferzes und der Verbindlichkeit deflelben nicht denkbar. — Aufser den Goftesläug- nern , die unter den Alien vorkommen, und deren Andenken die Denkmäler der Gefchich- te gebrarHrnarket haben , find zu unfern Zei- ten durch die Seereifen ganze Nationen an der Küfte von Soldania, in Brafilien, in Boranday und auf den Karaibifchen In- feln entdeckt worden, unter welchen man keine Spur von diefem Begriff und einer Re- ligion fiir.d. *) Nicolaus del Tee ho fagt in feinen Briefen aus l'araquaria von der Bekehrung der Caaiguen; „diefe Ka- ution hat, wie ich entdeckt habe, kein Wort „für der. ßegriß Gott und Menfchenfee- „le, keine Religionsgebräuche, keine Gö- tzenbilder.1* **), Djefes lind ßeifpiele von
Natio-
*) Rlioe beiTherenot S. 2, de Lery K. x6. Mar» tininerej Terry, Ovineton : Voyage to Suratt in the Year 16S9. London 1696.
*") Nicolai del Teciio Relatio triplex de reb:;s Tadici» Caaiguoium. Reperi eam geniem nul-
hun
Viertes Kapitel. i3q
Nationen in weichen die rohe Natur ohne Hülfe der Gelehrfamkeit, d«9 Unterrichts, oh- ne Kultur der Künfte und Wiffenfchaften fich felbft überlaiTeii ifh Es siebt aber auch an- dere Nationen, welche obgleich in dem Ge- nüfs eines hohen Grades von Kultur, doch kei- nen Begriff keine Erkenntnifs von Gott haben, weil ihr Verband auf dielen Gegenstand nicht gehörig gerichtet worden. Es wird ineinen Lefern vielleicht eben fo auffallend feyn, als es mir war, dafs die Siamenfer unter diefe Nationen gehören* Allein he dürfen nur dar- über den Bericht des franzöiifchen Gefandten, in Sir>oi , La Loubere zu Rathe ziehen, der auch. von den Chinefen keinen befl'em Begriff giebt. *) Und will man diefem kei- nen Glauben heimeilen , fo küanen uns doch die Miffionarien von China , felbft die Jefui- ten, die fonft fo, grofse Lobredner der Chine-
fen
Iura nomen habere, quod Deum et hominis animam fignificet, nuila facra habet, null?. Idola.
') La Loubere Relation du Rovaumc de Slam Aralteidam 1691. T. 1. c. o, aoj 22.
\ -
j.jo Elftes Buch.
fen find, durch die allgemeine Einftimmung ihrer Auffegen überzeugen, dafs die Seute der Gelehrten , die ficü zur alten Religion diefes Landes benennen, und die höchfte Ge\" .'alt in Hürden haben, ohne Ausnahme Atht iften find. *) Wenn wir Lebensbefchrei- bungen und Reden von Perfoneu aus nicht fo feinen \ ölktrn mit Aufmerkiamkeit durch- fucbten, fo würden wir vielleicht nur zu lehr zu befürchten Urfache finden, dafs vie- le Verleben in eultivirteren Ländern keine fcharf und rein geprägten Begriffe von der Gottheit in ihrem Gemüthe haben, und dafs die Klagen von der Kanzel herab über den Atheismus nicht uflgegründet find. Iezt en twar nur einige nichtswürdige IVTen- fchen öffer.tlicb, nnt frecher Stirn das Da- fevn Gottes, wir würden es aber vielleicht roch von mehreren hö^en , wenn nicht die Furcht vor dem Schwerdte der Obrigkeit und dem Strafurtheil der Nebenmenfchen
den
**) La Loubeie, Tom. T. c. 20, 23. Navarette Collection of Voyages. Hütoria eultus SLnen- fium.
Viertes Kapitel. ,„
den Mund verfchlüfVe. Wäre die Furcht vor S;rale und Schande vernichtet, wie viele würden nicht fo gut mit dem Mumie ih- ren Atheismus bekennen, als ihr Lebern fchün üott verleugnet?
§• 9-
Doch auch zugegeben, d?fs alle Men- fchen in allen I ändern einen Begriff von Gott haben (wovon nns die Gteibhicfite das Gegentheil fagef;, fo würde doch daraus noch gar nicht folgen, dafs er an ge b o r en fey. Denn wenn auch keine Nation gefun- den würde , die nicht ein Wort zur Bezeich- nung diefes Begriffes, und einige dunkele Vorftellungen von Gott hätte, fo würde die- fes doch eben fo wenig beweifen, dafs he ar> geborne Eindrücke des Yerftandes find, als man aus dein allgemeinen Gebrauche der Worte, Feuer, Sonne, Hitze, Ichlief- en kann, dafs die Begriffe von diefen Objekten angeboren find. Im Gegentheil ift aber der Mangel eines Wortes in der .Sprache oder ei- nes Begriffes von Gott in dem Verlande, eben lo wenig ein Beweis gegen das Dal'eyu
Gut-
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<n/rl herab über den l< t Jind. lezt tirdi^e IVTen- <r Stirn das Da- ir v. flrd( n es aber vir-Ileü ],t (00 , wenn nicht die
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Viertes Kapitel.
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den Mund verfehlte. Wäre die Furcht
x,,r Strafe und Schande vernichtet, wie
le würden nicht fo sul ink mde iu-
j t_n Aiheiamui I n, als ihr Luhe»
fchon Outt verlernet?
§• 9-
Doch auch rugegrbm, d^f«; a!'<° Mnn. fchen in allein I ändern einrn Bt Gott haben (wovon nns dir Gegentheil faigei , l'o würde doch daraus noch gar nicht folgen , dafs er an^t- boren fey. Denn wenn auch • iatJon gefun-
den würde., die nicht ein Wr-rt zur Bezeich- nung diefes BegnhVs, unJ dunkele Vorftellungen von Gott hätte, fo würde die« fes doch eben fo «weife« , d.ifs iie ai - geborne Eindrücke des ^ erftandt man aus dem allgemeinen Geh Worte, Feuer, Son^> kann, dafs die ßegrir angeboren find, Iu Mangel ein* nes Cegt eben lo
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ivj2 Elftes Luch,
Gottes , als man daraus d,is rvichtdaTeyn ei- nes Magneten rn der Welt beweifen knnn, dafs diefes Wort und diefer Betriff einem grofsen Theiie der Menfchen unbekannt ift. Eben fo unrichtig würde es feyn , wenn man fchliefsen wollte, es gebe keine verfchiede- nen und beftimmten Arten von Engeln oder vernünftigen über uns erhabenen Wefen, weil wir keine Begriffe davon haben. Da die IVIenfchen ihren Wortvorrath aus der gewöhn- lichen Landesfprache nehmen, fo muffen fi eh. ihnen Vorftelhingen von den Dingen aufdrin- gen , welche in dem Umgänge mit andern Menfchen oft genennet und erwähnt werden» Und wenn nun mit einem Worte eine Neben- vorfreilung von Vortreflichkeit, Gröfse oder fonft etwas Atifserordentlicheii verknüpft ift; wenn es Furcht oder ein anderes Interefle in Begleitung hat, wenn die Furcht vor ei- ner unumfehränkten und unwiderstehlichen Macht es dem Verfiande aufdringt, fo mufs fich auch der anhängende Begriff defto tiefer einfenken, und weiter ausbreiten, zumal wenn er dem natürlichen Lichte der Vernunft angemeflen ift, und aus jedem Theiie unfe- rer Erkenntnifs ungezwungen abgeleitet wer.
den
iViei'tes Kapitel. 14.3
den kann» Von der Art ift der Begriff von Gott. Denn die fichtbaren Spuren der aufscr. ordentlichen Weisheit und Macht offenbaren lieh fo klar in den Werken der Schöpfung, dafs kein vernünftiges Wefen, wenn es fie aufmerkfain betrachtet, Gott verkennen kann» Und der Einfiufs, welchen die Erkenntnifs eines folchen Wefens auf das Gemüth aller, die es nur einmal nennen hören, b3b?n mufs, ift fo grofs und fuhrt eine folche Fülle von allgemein mittheilbaren Gedanken bei fich, dafs ich mich mehr wundern würde, ■wenn man eine ganze Nation fände, die fo lehr an die Thierheit gränzte, dafs fie gar keine Vorftellung von Gott hätte, als wenn ihr die Begriffe von Zahlen oder vom Feuer fehlten»
§• Io,
Wenn das Wort Gott einmal in irgend ei- nem Theile der Welt ausgefprochen wurde um ein erhabenes, mächtiges weifes und un- fehlbares Wefen auszudrücken, fo müfste die Angemeffenheit diefes Begriffs für die Giundfäue der allgemeinen Msüfchenver-
nunft,
144 Elftes Buch.
nunft, ur:d das Intereffe , welches die Men- fchrn off auf denfelben zurückführte, not- wendig diefe Entdeckung immer weiter aus- breiten, und auf ganze Generationen herab Fortpflanzen. Aber doch kann man von der allzeit einen Annahme diefe s Worts und einigen unvollkommenen Ich wank enden, dadurch veranlafs- ten Begriffen, die fich bei der weniger denkenden Klaffe von Menfchen finden, nicht fchliefsen, dafs diefer Be- griff angeboren ift. Nur diefes folgt daraus. Diejenigen» von denen diefe Ent- deckung herrührte , hatten einen zweckmä- fsigen Gebrauch von ihren Vernunfrkraften gemacht, reiflich über die Urfachen der Din- ge nachgedacht, und fie bis an ihren Urfprung Verfolgt, und diefer wichtige Begriff konnte nun nicht wieder verloren gehen , nachdem weniger denkende Menfchen ihn einmal von jenen Denkern angenommen hatten,
§♦ II.
Das ift alles, was man folgern könnte, wenn der Begriff von Gott unter allen Stäm- men
Viertes Kapitel. i^5
men der Men'chrn allgemein angetroffen, und von allen erwachfenen Menfchen in allen Landern anerkannt würde. Denn weiter kann fich die Allgemeinheit der Erkenntnifs Go tes nicht erftrecken. Ift das nun zurei- chend, um zu beweifenvdafs der Begriff von Gott angeboren ift, fo läfst (ich auf eben die Weife darthun , dafs die Vor- ftellnng vom Feuer angeboren ift. Denn man kann wohl zuverläTsig behaupten, dafs
kein Menfcb in der Welt , der einen Betriff
o
von Gott hat. nicht auch eine vorftellung vom Feuer befizt. Wenn eine Kolonie von kleinen Kindern auf. einer Infel angelegt würde, wo kein Feuer wäre, fo würde ih- nen ohne Zweifel das Wort und der Begriff von diefem Gegenftande fehlen, wenn er auch in der ganzen übrigen Welt allgemein bekannt wäre. Eben fo würde auch vielleicht fo lange weder das Wort noch der Begriff von Gott nur geahndet werden, bis Einer unter ihnen fein Denken auf die Erforfchung der Einrichtung und der Urfachen der Dinge gerichtet hätte. Dadurch müfste er natür- lich auf den Gedanken Gott geführet wer- den, und hätte er diefen einmal andern mit- K geiheilet,
1^6. Elftes Buch,
getheilet, fo würde ihn ihre eigne Vernunft und eine natürliche Neigung ihres Gemüths nachher unter ihnen fo verbreiten , dafs er nicht wieder vertilgt werden könnte.
§♦ 12.
Der Einwurf, Gott muffe diefen Begriff urfprünglich einge- prägt haben, weil es feiner Gü- te angemeffen war, dafs er ein Eigenthum aller Menfchen fey, wird beantwortet.
Hier wird ein Einwurf gemacht, auf den man ein grofses Gewicht leget. Es fey, fagt man, der göttlichen Güte angemef- fen, den Begriff von Gott dem menfchlicben Gemüthe einzuprä- gen, um die Menfchen in diefer wichtigen Angelegenheit nicht der Unwiffenheit und dem Zweifel preis zu geben, und um fich felbft dadurch die Anbetung und Verehrung zu verGehern, welche Gott von einem ver- nünftigen Wefen als der Menfch ift, fodern kann, Folglich muffe eres auch gethan haben.
Wenn
Viertes Kapitel. I/.7
Wenn diefes Räfonnement einige Ueber- zeugungskraft befiz.t, fo beweifet es mehr, als diejenigen erwarten, welche fich deffel- ben in diefem Fall bedienen. Denn wenn wir fchliefsen dürfen, dafs Gott alles das für die Menfchen gethan bat, was ihnen ihrem Urtheile nach gut ift , weil es der Güte Got- tes angemelfen ift, fo zu handeln, fo folgt daraus nicht allein, dafs er dem menfchlichen Verftande die Vorftellung von ihm felbft mit- getheilt, fondern auch, dafs er mit kenntli- chen Zügen , alles dasjenige kl.ir eingeprägt hat, was Ge von ihm erkennen 'und glauben, was fie aus Gehorfam gegen feinen Willen thun lohen ; ja er müTste ihnen einen Wil- len und eine Gelinnung gegeben haben, wel- che damit übeinftimmte. Ohne Zweifel wird diefes jeder Menfch für heiler halten, als dafs die Menfchen, wie der Apoftel Paulus *) in Beziehung auf Gott fagt, im Fünftem nach der Erkenntnifs tappen, als dafs ihr Wille mit dem Verftande, und ihre Begierden mit ihrer Pflicht im Streite liegen. Die Käth o- K 3 * 1 ifchen
*) Apoltel^ef«. Lichts XVII.
148 Elftes Buch.
lifchcn Theologen Tagen: es iit für den Menlchen am heften und Goites Güte ange- meffen, dafs auf Erden ein unfehlbarer Rich- ter aller Streitigkeiten ift, folglich ift er wirk- lich. Mit dein nehmlichen Rechte kann ich lagen: es ift für die Menfchen beiler, wenn jeder einzelne felbft unfehlbar ift. Ob durch uiefen Schliifs allgemeingültig erwiefen fey, dafs jeder Menfch unfehlbar ift, will ich ih- nen zur EntfcheicUing überlaiien. Der un- endlich weife Gott hat es fo gemacht, und daher ift es das Hefte: diefs ift meinem Bedünken nach fehr richtig gefehloflen. Der Schlufs hingegen: ich halte das für das befte, und daher hat es Gott fo gemacht, fcheint mir vermeffen, und zu viel V7 ertrauen auf unfere Weisheit zu fetzen. Und in unfren Falle ift es ein eiteles Unterneh- men , aus folchen Gründen beweifen zu wol- len , Gott habe etwas gethan, da die ge. wiffe Erfahrung lehret, dafs er es nicht ge. thau hat- Gottes Güti^keit hat fich auch oh- ne diele ursprünglichen Eindrücke der Er* kenntnifs, ohne (liefe dem Verßande einge- prägte Begriffe fichtbar genug an den
Men.
Viertes Kapitel. 1/J9
Menfchen geäufserf, als dafs es diefer Bewcife bedürfte. Denn er gab ihnen diejenigen Kriifte , durch welche fie vollkommen in den Stand gefezt find, alles zu entdecken, was zu ihrer ßeftimmung gehört? Und ich getraue mir den Beweis zu führen, dafs fich ein Menfch durch die zweckmässige Anwendung feiner natürlichen Fähigkeiten die Erkennuiifs Got- tes und andrer Dinge, die ihn intfreHiren, oh- ne angebome Grundsätze erwerl)en kann. Da Gott dem Menfchen dasjenige Erkenntnifsver- mögen gegeben hat, in d eilen ßelitz er wirklich ift, fo war feine Güte durch den Umftand» dafs viele Menfchen gar keine, oder fehr unvollkommene Begriffe von Gott und den moralifchen Prineinien befilzen , eben fo we- nig beftimmt, die angebornen Begriffe davon, in ihren Verftand tu pflanzen, als ihnen Brü- cken und Haider zu bauen, wozu er ihnen Vernunft Hände und Materialien gegeben hatte, weil einige fonft fehr verftändige VöL" ker mit diefen Bcdüifniflen entweder gar nicht oder fehr unvollkommen verforgt find. Beide Thatfachen hängen von einer Urlache ab. Zufrieden mit den Meinungen, .Moden und allem was ihr Vaterland bedzt, la
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Die Begriffe der Menfchen rn Gott find fehr verfchieden.
Es ift wahr, wenn fleh wirklich ei griff fände, der dem rnenfcliüchen Yei eingeprägt wäre, fo niüfste es der I von dem Schöpfer feyn , womit 1 1 lies Gebilde gleichem geftcropelt . den Menfchen an feine Abhang i_ Pflicht zu erinnern. Dann müfsten a diefem Begriff die erften Spuren der n liehen Erkenutnifs erfcheinen. Alle. fpät läfst fich diefer Begriff in Kinder fpüren? Und wenn wir ihn da finden, nicht mehr der Nachhall der Meinunge Begriffe des Lehrers, als eine Vorftellui wahren Golfes? Wer den Gang des Vc des in Kindern beobachtet, wie fie zu Kenntniffen gelangen, der wird beim dafs diejenigen Gegenftände die erften drücke auf ihr Gemüth machen, mit w- f.e fich am erften und 'meiften befchä aber von Vorstellungen anderer Gegen: keine Spur finden. Man beobachtet K 4
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i5o Elftes Buch.
diefe Menlcheii alles beim Alten, erweitern ihren Gefichtskreis nicht, und wenden ihren Verftand, ihre Fähigkeiten dnd Kräfte nicht mit Eifer dazu an. Wäre ich oder ein ande- rer in der Bey Soldan ia gehören, unfers Gedanken und Begriffe würden (ich vielleicht nicht über die Thierheit der dafigen Bewoh- ner, der Hottentotten erheben; und wenn der König von Virginien Apo- chancana in England wäre erzogen wor- den , fo hätte er vielleicht ein eben fo ge- lehrter Theolog und guter Mathematiker wer- den können , als irgend einer in England ift. Der Unterfchied zwifchen ihm und einem cultivirteren Engländer beßehet blos darin* dafs die Thätigkeit feiner Kräfte in dem ge- wöhnlichen Wirkungskreife, innerhalb den Moden und Begriffen feines Landes einge- fchränkt blieb, und auf keine andern neuen Entdeckungen geleitet wurde. Wenn er keinen andern Begriff von Gott hatte, fo lag es blos daran, dafs er die Gedankenreihe, welche ihn darauf würde geleitet haben, r-iclu verfolgte«.
§• 13*
Vietttes Kapitel, l5i
Die Begriffe der Menfchen von Gott find fehr v^rfchieden.
Es ift wahr, wenn Geh wirklich ein Be- grifffände, der dem menfehlichen Verftande eingeprägt wäre, fo müfste ■ es der Begriff von dem Schöpfer feyn , womit er fein eig- nes Gebilde gleichem geftcmpelt hätte, um den Menfchen an feine Abhängigkeit und Pflicht zu erinnern. Dann müfsten aber an diefern Begriff die erften Spuren der menfch- lichen Erkenutnifs erfcheinen. Allein wie fpät läTst fich diefer Begriff in Kindern auf- fpüren? Und wenn wir ihn da finden, ift er jaicht mehr der Nachhall der Meinungen und Begriffe des Lehrers, als eine Vorftellung des wahren GoHes? Wer den Gang des Verstan- des in Kindern beobachtet, wie lie zu ihren Kenntniflen gelangen, der wird bemerken, dafs diejenigen Gegenftände die erften Ein- drücke auf ihr Gemüth machen, mit welchen Fe Geh am erften und 'meiften befchäftigen, aber von Vorftellungen anderer Gegenftände keine Spur finden, Man beobachtet fehr K 4 bald,
i5s Elftes Bück,
bald, wie fich ihr Denken erweitert, und zwar nur in dorn Verhältnifs, als fie mit einer gröfsern Mannichfaltigkeit von finnlichen Ob- jekten bekannt werden , die Yorftellungen davon in dem Gedachtnifs aufbewahren, und die Fähigkeit erlangen , Begriffe zu entwi- ckeln , zufainmenzufetzen , und auf verfchie- dene Art zu verbinden. Wie lieh auf (liefern Wege der Begriff von Gott in dem menfeh- üchen Verftande bildet, werde ich weitet unten zeigen,
§• I4.
LaTst es fich denken, dafs die Begriffe, Welche die Menfchen von Gott haben, Cha- raktere und Merkmale von ihm find, durch feinen Finger in ihren Verftand gegraben , da wir fehen, dafs fich die Menfchen in einem Lande, unter einerlei Worte, fo verfehle- dene. ja e nt gegen g e fe z t e und u n- ve-reinbarliche Vorftellungen von ihm machen? Ihre Einhelligkeit in dem Worte oder Laute kann kaum etwas für das Angeborenfeyn des Begriffs beweifen,
§♦ IS-
Viertes Kapitel, i55
§. i5.
Konnten diejenigen einen wahren oder ertr.i.luhen Betriff von Gott haben, welche hundert Götter erkannten und verehrten? Jede Gottheit, die Ge über den Einen anbe- teten, war ein untrügliches Zeugr.ifs, dafs üe den Einen nicht kannten , und ein Beweis, dafs fie keinen wahren Betriff von Gott hat- ten , indem ans ihm die Einheit , Unendlich, keif und Ewigkeit ausgefchloflen war Rech- nen wir noch dazu die groben Begriffe von Körperlichkeit, die Hch in de>i Abbildungen und Darftellunsen ihrer Gottheiten offenbar- ten , die Streitigkeiten und andere niedrig Eiüenfchaften , die lie ihnen beilegten, f0 haben wir wenig Grund, anzunehmen, d.ife die heidnifche Welt, d i, der gröfste Theil der Menfchheit, folche Begriffe von Gott f;ch dachte, als er ihnen hätte mittheilen muffen, wenn er die Abficht gehabt hiittr, fal- fche Vorftellungen von ihm zu verhüten. Und wenn die allgemeine Einftimmung , anF wel- che man fo viel bauet, einen ifrlprüiiglichen K 5 Em-
i54 Elfte« Buch.
Eindruck beweifet, fo wäre es doch nur fo viel : Gott prägte in den Verftand aller Men- fchen , die einerlei Sprache reden, nicht etwa ©inen Begriff, fondern nur ein Wort, um ihn zu bezeichnen. Denn obgleich die Indivi- duen eines Volkes in dem Worte einftimmig und, fo weichen doch ihre Vorfiellungen von dem Gegenfiande fehr weit von einander ab. Man wendet zwar ein , die mannichfal- iigen Gottheiten, welche die Heiden verehr- ten, wären nur figürliche Ausdrücke von den Eigenfchaften diefes unbegreiflichen Wefens oder von den verfchiedenen Aeufierungen der Vorfehung gewefen. Allein kein Menfch wird behaupten wollen, dafs das gemeine Volk fich diefelben fo gedacht habe, ob ich gleich hier nicht unterfuchen md* , was üe urfprünglich waren. Die Reifebefchreibung des Bifcbofs von Beryte Kapit. 13. (ohne andere Zeugniffe z,u rechnen ) wird jeden Lefer überzeugen, dafs die Vielgötterei ein Glaubensartikel der Theologie der Siamer ift; nach den feharfCnr.igen Bemerkungen des Abbe de Choify in feinem Tagebuch eiaer Reife nach Slam, hingegen leugnet fie
eigen t-
Viertes Kapitel. i55
eigentlich das Dafeyn einer Gottheit über- haupt *)♦
§. IS.
Man Tagt ferner: die weifen Männer unter allen Kationen gelangten zu richti- gen Vor ftell unge n von der Einheit und Unendlichkeit Gottes. Ich läug- ne diefe Thatfache nicht. Aber dann fchlipfst man die Allgsmeinheit der Einftiminung in allen andern Punkten als dem Worte aus. Denn die Anzahl der Weifen war klein, viel- leicht unter taufenden kaum einer. Die All- gemeinheit wird alfo fehr eingeschränkt. Zweitens fcheint mir diefes Faktum offenbar zu beweifen, dafs die beften und richtigiten Begriffe der Menfchen von Gott nicht ange- boren, fondern durch Denken, Nachforschen und den richtigen. Gebrauch der Seelenkr^fte erworben find. Denn die weifen und nach-
denke«-
*} Relation dn Voyage de Mv. 1 Eveqae de Be, ryte Paris 16C6. ö. Journal 011 Snue du \
de Siam par M*. AbL-' de Choify Paris
i56 Elftes B uch.
denkenden Menfchen in der ganzen VVelt erlangten durch zweckmäßigen und forgfäl- tigen Gebrauch ihrer Vernunft auf dem We- ge des Nachdenkens richtige Vorftellungen nicht allein von diefem fondern auch von andern Gegenständen , während der träge und cedankenlofe Theil der Menfchen , der bei weitem die Mehrheit ausmacht, ihre Be- griffe von dem Zufall der gemeinen Ueber- lieferung und der Vorftellungsart des Volks, ohne vieles Kopfbrechen annahm. Sollte aber der Begriff von Gott aus demGrun- de für angeboren zu halten feyn , weil er fich bei allen weifen Männern findet , fo müfste man eben fo auch von der Tugend urtheilen, denn diefe hatten auch alle Weife.
§. 16*
In diefem Falle befand fich offenbar das ganze Heidenthum» Aber auch unter den Juden, C h r i 1 1 e n und Mahoraeta- nem» die nur einen Gott bekennen, konn- te diefe Lehre und das eifrige Beftreben , mit dem man unter diefen Kationen richtige Vor- ftellungen von einem Gott zu verbreiten
fucht,
Viertes Kapitel. 167
flicht , nicht Toviel bewirken, dafs alle Men- Ichen einerlei und richtige VoTftellungen von ihm haben. Wie viele ^enfchen würde man nicht auch unter uns finden, wenn man nachfoT fehle, die fich Gott unter der Geftalt eines Mannes, der im Himmel fizt , vortei- len, und noch andere ungereimte, unwürdige Begriffe von ihm haben? Es gab unter den Chrillen nicht weniger als m ter den Türken ganze Sekten, welche in allem Lrnft behaupte- ten und dafür ftritten, dafs Gott eijj 1 ornei- liehes Wefcn und von Men'chepgeftait 'ey. Liiler uns bekennen hch zwar wenige zu dem Anlhropomorphibinus (doch L,:be ich einige gekannt, die kein Hehl davon ma- chen); allein wenn man das zum Gegenftand feines INachforfchens machte, fo würde man, glaube ich, unter den unwiffenden und I'thlecht unterrichteten Chriften viele Anhän- ger diefer Meinung finden. Man rede nur mit Landleuten von jedem Alter, mit jungen Leuten aus jedem Stande , und man wird lieh bald übeizeuf-en, dafs, ob fie gleich den INa- iiua üottes lehr häutig in dem Munde tüh- dennoch die Yorftellüngen, welche J.e mit diefejn Worte verbinden, fo abge-
fcinuakt,
i5ö Elftes Euch.
fchmakt, medrig und erbärmlich find , dafs kein Menfch tie für die Frucht des Unter- richts eines vernünftigen Mannes , noch we- niger für ein Gepräge der Finger Gottes hal- fen kann» Ich fehe auch nicht ein, warum dadurch die Gütigkeit Gottes mehr herabge- fezt werden foll, dafs er unferm Geifte keine Begriffe von ihm mittheilte, als dafs er un- fern Körper ohne Kleider auf die Welt kom- men, oder uns keine Kunft und Gefchicklich- Ikeit angeboren werden liefs, Denn da uns das Vermögen diefe Kunftfertigkeiten zu er- werben, gefchenkt ift, fo müflen wir es dem Mangel unlerer Thätigkeit und unfers Nach- denkens, nicht dem Mangel feiner Güte zu- rechnen, wenn wir fie nicht haben, Das Dafevn Gattes ift eine fo ausgemachte Wahr- heit, als dafs die entgegengefezten Winckel 2wcier geraden durehfchmitenen Linien gleich Tiiid» Noch kein vernünftiges Wefen konnte diefen Sätzen feine Beiftimmtrag verfagen, wenn es fieh die Mühe gab , ihre Wahrheit ju prüfen, und ehrlich dabei zu Werke gieng. Aber gleichwohl ift es keinem Zweifei unter- worfen, dafs viele Menfchen weder von dem einem noch dem andern Satze etwas willen,
weil
Viertes Kapitel, 159
weil fie ihre Denkkraft nicht auf diefe Gegen- ftände gerichtet haben. Wenn man fich da- durch für berechtiget hält , das (in dem wei. teften Umfang genommen) eine allgemeine Ucbereinftimrnung zu nennen , fo habe ich nichts dagegen; allein man kann daraus eben fo wenig beweilen, dafs der Begriff von Gott, als dafs der Begriff von jenen Win» kein angeboren ift,
§■ »7»
Wenn der Begriff von Gott nicht angeboren ift, To läfst Tich das noch weniger von einem an» dem Begriffe vorausfetzen»
Die Erkenntnifs Gottes ifl; alTo zwar eine fehr natürliche Entdeckung der rnenfchlichen Vernunft, aber der Begriff felbft ift nicht angeboren» Wenn diefes, wie ich mit Schmeichle, durch das Vorhergehende erwie- fen ift, fo dürfte wohl kaum ein anderer Begriff gefunden werden , der auf den Titel von angebornen Anfpruch machen könnte» Denn hätte Gott dem rnenfchlichen Verfiamls
eine
160 Ei : f tes Bach.
eine Vorftelhuig. ein Merkmal von irgend einem Objekte eingeprägt, fo nmfste inan wohl vernünfiigerweife erwarten , tlafs es ein klarer und einförmiger Begriff von ihm felbft gewefen wäre, infofein unfer fchwa- cher Verftand ein fo unbegreifliches und un- endliches Wefen hätte fallen können. Da aber rliefer Begriff, an dem uns doch fo viel gelegpn ift, in dem Verftande von feiner er- ften Periode an, nicht vorkommt, fo ift das eine Harke Vermuthung gegen alle übrigen angebornen Begriffe, So weit mein Nachdenken gehet, h?.be ich kei- nen andern Begriff gefunden , d?r mit mehr Recht angeboren feyn könne. Doch werde ich mich freuen, wenn ich. von andern eines Belfern belehrt werde.
§. 18.
Der Begriff Subftanz ift nicht angeboren.
Ich muTs geftehen, es giebt noch einen andern Begriff, deffen BeGtz von allgemeinen Nutzen für die Menfchen feyn würde; ein Be- griff,
Viertes Kapitel. l5l
griff, von dem man allgemein fo fpricht , als wenn man wirklich im ßelitz deffelben wäre» Es ift der Begriff von Subftanz, den wir weder durch die Empfindung noch durch die Reflexion haben oder haben können. Wenn die Natur darauf gedacht wäre, uns mit Begriffen zu verforgen, fo müTsien es , follte man denken , folche feyn, die wir uns durch unfere eignen Kräfte nicht verfcbaffen können. Davon erfahren wir hier aber das Gegentheil, Weil diefer Be- griff nicht auf denfelben Wegen, wie die übrigen unfern Verftande zugeführet wird, f0 haben wir auch überhaupt kein klares B e- wufstfeyn von ihm; wir bezeichnen da- her durch das Wort S ubftanz nur ein ge- wifles unbeftimmtes Setzen irgend eines, wir wiiTen nicht welches, Begriffes (das heifsr, die Annahme eines Dinges, von dem wir keine befondere, deutliche und pofitive Vor- ftellung haben,) und halten diefen unbe- fiimmten Begriff für das Subftrat oder Grund derjenigen Begriffe, welche wir er- kennen.
§• 19»
l6t Elftes Buch,
Angeborne Sätze find unmög- lich, weil kein Begriff ange- boren if t.
Es ift alfo , was man auch immer von den angeborneii , fowohl fpeculati ven, als ,pr aktif chen, Grundfätzen Tagen mag, doch in Anfehung der Denkbarkeit einerlei, ob man fageu Ein Mann hat ioo Thaler in. feiner Tafche, aber keinen Pfennig, keinen Grofchen , keinen Thaler, keine andere Mün- ze, welche jene Summe ausmachen könnte oder ob man fagt: gewifl'e Sätze find ange- boren, deren Begriffe auf keine Weife für angeboren gehalten werden können. Die allgemeine Annahme oder Eeifdinmüng, die fie erhalten, bevveift ganz und gar nicht, dafs die in ihnen ausgedrükten Begriffe angebo- ren find; denn in vielen Fällen wird das Für- wahrhalten durch die Worte, welche die Ein- ftitnmüug oder Entgegenfetzung der Begriffe ausdrücken, nothvvendig beftiromt , ohne Rückficht auf den Urfprung der leztern zu nehmen. Wer nur einen richtigen Begriff Ton Gott und Gottesverehriing hat,
wird
Viertes Kapitel, l(5j
Wird dem Satze : Gott Toll verehret werden, beiftimmen , wenn er in einer ihm verständ- lichen Sprache ausgedrückt wird. Jeder ver- nünftige Mann, der heute dielen Satz noch nicht dachte, kann morgen geneigt feyf), feine Wahrheit anzuerkennen. Demungeach- tet darf man wohl annehmen, dafs Millionen Menfchen bis jezt weder den einen noch den andern Begriff kannten. Denn wenn wir auch einräumen, dafs die Wilden und die meilten Landleute fie befitzen, welche Vor- ausfetzung aber der Umgang mit diefen Men- fchen eben nicht fehr begünftigct, fn kann n.an es doch wohl von wenigen Kindern behaupten. Es mufs alfo t'ir.e beftimmte Zeit geben, wo fie diefer Begriffe zuerft bewufst werden, und dann werden fie auch anfangen, jenein Satz beizuftimmen , ohne ihn hernach weiter in Zweifel zu ziehen. Allein diefer unmittelbare Beifall beweifet eben fo wenig, dafs diele Begriffe angeboren find , als dafs ein Blindgebomer, dem morgen der Staar geftochen werden foll, angeborne Begriffe von der Sonne, dem Lichte, dem Safran und der gelben Farbe habe , weder, fobald fein Geficht hergtftellt ift, den Satz, die Sonne L s ift
»C4 Rrftea Bei bi
ift ein leuchtender Körper, oder der Safran ift gelb, gini gewifs für wahr halten \vu.!. Und daraus fol^t , dafs da» unmittelbare I ur- wahrbalfpii nicht beweifen kann, dafs die Begriffe, noch weit weniner abei , difl
die daram irAXarmneogeletiicn Urtheile
boren lind. Ilt Jemand wirklich im !
von ingeboraea Begriffen % fo wttrde ti
mir ftln angenehm feyn , wenn er muh mit ihnen und ihrer bcftimuitcn An.-ahl bekannt nachte.
$. 20.
Es giebt keine a n g e b 0 r n e n Regrif- fe in dem U ed a c ht m fs.
Man erlaube mir, noch folgende Rctraeh- tung hiu/u/ufeuen. Wenn es gewifl'e ange- In'TtM- Hegnlre in det Seele giehl . wrlrhc dtl Verband nicht wirklich denket, fo muhen \)c in dem Ged uhtnifs aufbewahret feyn, und daraus durch die Erinnerung zum Bewufst- feyn gebracht werden, das ilt, wenn man fich ihre» erinnert, mufs man willen, rjafl ß« rchon vorher Von der Seele vorgcliellt wann
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Viertes Kapitel. 165
Fs mü-fste denn die Erinnerung oline Erinne- rung möglich feyn. Denn lieh erinnern, heifst, lieh etwas mit dem Gedachtnifs oder mit dem Bewirfst fern vorteilen, dafs es vorher fchon erkannt oder vorgestellt war. Da diefes Bewufsfevn das Unterfcheidungsmerkmal ift, welches das Erinnern von jeder andern Art des Vorftellens unterfcheidet , fo ift ohne daf- felbe jede Vorftellung, die zum Bewufstfeyn ge- langt, eine neue noch nicht vorgeftellte Vorstel- lung. Keine Vorftellung ift ia der Seele , die fie lieh nicht einmal vorgeftellt hat. Jede Vorftellung in dem Gemüthe ift entweder eine wirkliche Vorftellung, oder eine wirkli- che gewefen , und fo in der Seele vorhan- den, dafs fie durch das Gedachtnifs wieder zur wirklichen Vorftellung werden kann. Wenn eine Vorftellung wirklich ohne Ge- dachtnifs vorgeftellt wird, fo ift fie völlig neu und war bis dahin demVerftande unbekannt. Bringt das Gedachtnifs eine Vorftellung zum wirklichen Bewufstfeyn , fo ift damit ein Be- wufstfeyn verbunden, dafs fie fchon vorher in dem Bewufstfeyn war, und nicht mehr fremde für das Gemiith ift. Was die Wahr- heit diefer Sätze betriff , fo berufe ich mich L 3 tuf
i(J(S Erftes Euch.
auf eines jeden eigne Beobachtung, Und nun nenne man mir einen Begriff von denen, die angeboren feyn Collen , welchen man, ehe er durch Empfindung veranlafst wurde, er- neuern und als einen ehemals gedachten Be- griff ins Gedächtnifs zurückrufen konnte, ohne welches BewuCstfeyn des ehemaligen Vbrftellens doch keine Erinnerung möglich ift. Und jeder Begriff, der in die Seele ohne diefes Bewufstfeyn kommt, ift kein Erinne- Tungsbegriff; er kommt auch nicht aus dem Gedächtnifs , und man kann von ihm nicht *agen , dafs er in der Seele vor diefem Vor- «ellen war. Denn was weder in dem wirk- lichen Bewufstfeyn noch in dem Gedächtnifs ift, das ift gar nicht in der Seele, und fo gut , als wenn es noch gar nicht in derfelben gewefen wäre. Man denke fich folgenden Fall. Ein Kind , welches den Gebrauch f&L »er Augen fo lange hatte, dafs es die Farben kannte und unterfchied , bekam darauf den Staar, lebte vierzig oder fünfzig Jahre in völ- liger Blindheit, und verlor in diefer Zeit alle Vorftellungen von den Farben , die es fonß kannte, aus dem Gedächtnifs. In diefem Fall befand lieh ein Blinder, den ich einft
fpracb.
Viertes Kapitel. tGy
fprach. Er verlor fein Geficht in der Kind' heit durch die Blattern, und hatte jezt ebea fo wenig eine Vorftellung von den Farben als ein Blindgeborner. Ich fr3ge jezt, kann man wohl lagen, dafs diefer Mann mehr Vorftellungcn von den Farben in feiner Seele hatte, als ein Blindgebompr ? ich denke, kein Menfch wird das eine oder andere behaupten« Sein Staar wird kurirt; jezt erhält er die Vor- ftellungen von Farben (deren er fich nicht mehr erinnert) von Neuem, indem fie ihm durch fein hergsftelltes Geficht wieder zuge- führet werden, und zwar ohne Bewufstfeyn einer vorigen Bekanntfchaft. Diefe Vorfiel* lungen kann er nun erneuern und auch in fich hervorrufen , wenn er im Dunkeln iü * von ihnen fagt man, fie find in der Seele, infofern fie in dem Gedächtnifs aufbewahret find, und als fchon bekannte in das Bewufst- feyn wieder zurückgerufen werden können* Hiervon mache ich folgende Anwendung. Ein Begriff , d eilen man fich nicht wirklich bewuft ift, kann nicht anders in der Seele feyn , als wenn er in dem Gedächtnifs iftj ift er nicht in dem Gedächtnifs, fo ift er auch nicht in der Seele; und wenn er in d^m L 4 Ge-
if>8 Eif*e s Buch.
'•edächtnifs ift , fo kann er nicht zum wirkli- chen Bewufstfeyn ohne die Vorftelluog ge- »angen , dafs er aus dem Gedachtnifs komjnt, das heifst, dafs man, ihn fonft fchon hatte, nlid fch jezt feiner erinnert. Giebt es nun borne Begriffe, fo muffen fie in dem Ge- dächtniTse fern, oder fie find gar nicht in der ; ift jenes, fo können fie ohne einen äöfVeni Eindruck erneuert werden; und fjin fie zum Bewufstfejn gebracht werden, fe lind fieErinneiungsbegriffe, d. h. es hängt ihnen die Vorfrellung an, dafs fie nicht ganz neu find. Diefes ift das unveränderliche Un- terftheidungsmerkmal zwifchen dem, was in dem Gedäcb'nifs und der Seele ift, oder nicht ift. Wenn etwas vorgeftellt wird , das nicht in dem Gedächtuifs ift, fo erfcheint es als völlig neu und noch nicht vorgeftellt , wenn es aber in dem Gedachtnifs und der Seele ift, und das Gedachtnifs bietet es wieder dar, fo wird es nicht als etwas Neues vorgeftellt; das Gemüth findet es in fich felbft, und er- kennet , dafs es ihm fchon vorher angehörte» Durch diefe Probe kann es entfehieden wer- den, ob es angeborne Begriffe in der Seele giebt, welche vor aller Empfindung und Re- flexion
Viertes Kapitel. 169
flexion vorausgelien. Ich wünfche recht fehr, den Menfchen zu fehen, der lieh, nachdem er zum Gebrauch der Vernunft gelaugt ift, oder zu einer andern Zeit eines folchen Be- griffs erinnerte , und dem er nach feiner Ge- burt nicht als neu vorkam. Wollte Jemand fagen.es giebt Begriffe in der Seele, die nicht in dem Gedächtnifs find, fo mag er fich erklä- ren, und feinen Gedanken verfiändlich machen«
§. 21.
Die Grundfätze find nicht ange- boren, weil weder ihr Nutzen noch ihre Evidenz von grofsem Belang ift.„
Ich habe aufser dem, was ich fchon ge- fagt habe, noch einen andern Grund, um diefe und andere angebornen Grundfätze zu bezweifeln, * Bei meiner innigften Ueberzeu- gung, dafs der unendlich weife Gott alle Din- ge auf das weifefte einrichtete, kann ich mir nicht einen befriedigenden Grund denken, warum man annehmen follte , er habe in den menfehlichen Verftand gewiffe allgemeine Grundfätze gepflanzt; Grundfätze, von wel- chen die vermeintlich angebornen fpecula- L 5 tiven
xyb Elftes Buch,
tiven von keinem grofsen Nutzen; und die praktifchen nicht durch fich felbft evident find; beide aber von gewiffen andern Wahrheiten, die nach dem allgemeinen Einge- Ttändnifs nicht angeboren find, nicht unterfchieden werden kön- nen. Drnn zu welchem Zweck follten durch den Finger Gottes Charaktere in den Verftand eingegraben feyn , die nicht klärer find , als fpätcr hinzugekommene, und vor diefen nichts Auszeichnendes haben? Ift Jemand überzeu- get, dafs es folche angeborne Begriffe und und Sätze giebt, welche durch ihre Klarheit und Nützlichkeit von allen fpäter erworbenen zu unterfcheiden find, fo kann es ihm nicht fchwer fallen , beftimmt anzugeben , welche das find, und dann wird jeder IVIenfch im Stande feyn , die Wahrheit der Auflage zu be- urtheilen. Denn giebt es folche angeborne Begriffe und Eindrücke, die fich von alien an- dern Vorftellungen und Kenntniffen völlig un- terfcheiden, fo mufs das jeder IVIenfch in fich felbft wahr finden. Von der Evidenz der ver- meinten angebornen Grundfätze habe ich oben fchon gehandelt; weiter unten werde ich Ge- legenheit haben, von ihrem Nutzen zu fprechen«
§. 22.
J
Viertes Kapitel, 171
§> 22.
Der Unter fchied der Entdeckun- gen der Menfchen hängt von der verfchie denen Richtung ihrer Kräfte ab,
Das Refultat ift diefes. Einige Begriffe bieten fich bald von felbft jedem menfchli- chen Verftande dar; einige Wahiheiten ent- fprirgen unmittelbar ans gevviften Begrif- fen, fo bald fie der Verftand zu einem Ur- theil verbindet; andere Wahrheiten fetzen eine ganze Reihe eine gewiffe Anordnung, Verjdeicnung und mühfame Ableitung der Begriffe voraus , ehe he entdeokt werden und Beifall finden. Einige Begriffe der erften Art, find wegen ihrer allgemeinen und leich- ten Annahme falfchlich für angeboren gehal- ten worden. Allein die Wahrheit d?von if| diefs« Die Begriffe find uns eben fo weni°- angeboren, als die Künfte und Wiüenfchaf- ten , obgleich einige von ihnen fich leichter und von felbft demVorftellungsvermögen dar- bieten, und daher allgemeiner angenommen, "werden , doch aber in dem Verhältnifs, al$ die Organe unfers Leibes und die Kräfte der
Seele
!•]% ' Erftes Buch,
Seelein Wirksamkeit gefezt werden. Denn Gott f r h e n k t e d e in M e n f c h e n K r ä £- te und Mittel zur Entdeckung, Aufnahme uud Aufbewahrung der Wahrheiten, infoferne er von je- nen Gebrauch macht. Die grofse Ver- schiedenheit in den Begriffen der Menfchen entspringt von der verichiedenen Art der An- wendung, die he von ihren geiftigen Ver- mögen inachen. Der gröfie Theil der Men- fchen nimmt alles aiaf '! reu und Glauben an, und mifsbraucht das Vermügeu, der Wahr- heit beizuftimmen , indem He ihren Geift durch frpmde Machtfprüche und Herrfchaft in Feffeln legen lallen, und das in denjeni- gen Lehren, wo es ihre Pflicht ift, fie Sorg- fältig zu prüfen, und nicht blindlings mit ei- nem Köhlerglauben anzunehmen. Andere wenden ihre Denkkraft nur auf einige weni- ge Gegenftände an, machen Sich mit ihnen innJgfi: bekannt , erlangen einen hohen Grad vdn Wiffenfchaft darin; in allen andern Din- gen hingegen find fie unwiflend, weil fie ih- re Gedanken in ErforSchung andrer Dinge nie freien Spielraum liefsen. Der Satz : die drey Winkel in einem Dreieck find zweien
rech-
Viertes Kapitel. 1^5
rechten gleich, i(l eine fo eewiffe Wahrheit, als irgend eine andere, und hat vielleicht mehr Evidenz, als viele Satze, die als Grtmdfätze gelten Gleichwohl giebt es Millionen Men- fchen, die bei vielen andern Kenntniilen von diefer Wahrheit gar nichts willen , weil Och ihre Denkkraft niemals mit ihr befcbäftiget hat. Es ift möglich, dal's einer der diefen Satz mit apodiktifcher Gewifsheit erkannt hat, doch von der Wahrheit anderer wathemati- fchen Sätze, welche diefem an Klarheit und Evidenz nicht<»nachgeben , fo viel als nichts verftehet, weil er bei Unterfuchung diefer znathematifchcn Wahrheiten feinem Denken zu bald Grenzen fezte , und nicht weit ge- nug vordrang. Eben lo kann es mit den Be. griffen gehen, die fich auf das Dafeyn Gottes beziehen, Es giebt gewifs keiue Wahrheit, von welcher fich ein Menfch fo klar überzeu- gen kann, als die Exiftenz Gottes; allein wenn Jemand feine ganze Befriedigung in den Dingen diefer Welt fuchet, infofern f:e fei- nen Vergnügungen und Leidenfchaften fchmei- cheln, ohne ihren Urfachen, Endzwecken und künftlichen Einrichtungen nachzufor> fchen^ und darauf fein Decken Ölit Intereflo
und
174 Elften Buch,
und Aufmevkfainkeit zurichten* fo wird viel- leicht ein grofser Theil feines Lebens ve.r" ftreichen , e!e er den Begriff eines folchen Wefens ahndet. Es ift möglich, dafs maa vom Hörenfagen diefen Begriff in das Gemüth fafst und ihn für wahr erkennet. Allein ohne eigne Unterfuchung hat man eine eben fo un- vollkommene Erkenntnifs , als derjenige , der gehört hatte, dafs die drei Winkel in einem Triangel zweien Rechten gleich find , und das auf Treu und Glauben, ohne Prüfung der Demonftration annimmt, Diefer kann dem Satze als einer wahrfuheirdichen Mei- nung beiflimtnen, aber von der Wahrheit def- felben bat er keine Erkenntnifs; doch kann er auch diefe erlangen , wenn er feine Denk- kraft lorgfdltiger anwendet, Doch ich be- merke diefs nur im Vorbeigehen, um zu zei- gen , wie fehr unfre Erkenntnifs von dem richtigen Gebrauch der Kräfte, die uns die Natur gegeben hat, und wie wenig fie von folchen ange- bornen Grundfätzen abhängt, die man in al- len Menfchen als leitende Principe der Er- kenntnifs ohne Grund vorausfezt, Grundfätze die alle AZenfchen erkennen müfsten , wenn
he
Viertes Kapitel. 176
fie wirklich vorhanden, und nicht zwecklos feyn füllen. Da fie aber nicht von allen Menfchen erkennet werden, auch fich nicht von andern erworbenen Wahrheiten unterfcheiden lallen, fo darf man wohl fchliefsen, dafs fie nicht exiftiren.
Die Menfchen muffen für fich felbfi. denken und erkennen.
Ich kann nicht beftimmen, welche Urtheils ein Mann, der die angebornen Grundfatzs bezweifelt, von Menfchen erfahren werde, die feinen Zweifel wohl gar für einen Ver» fuch , die alten Fundamente der Erkenntnifs und der Gewifsheit umzuftürzen halten, möch- teu. • Aber ich fchmeichle mir doch, dafs der Weg, den ich verfolgt habe, der Wahr- heit angemeflen ift, und jene Fundamente fi- cherer legt. Und davon bin ich gewifs über- zeugt, dafs es meine Abficht in der folgen- den Abhandlung nicht war, irgend eine Au- ctorhät zu verlafTen, oder zum Führer zu nehmen, Die Wahrheit war mein emsige*
176 Ei ftes Buch.
Ziel, und wohin mich diefe zu leiten fchien, dahin folgten meine Gedanken unpartheii ch nach, ohne darauf zu achten, ob die Fufs- tapTen irgend eines andern auch auf denfel- ben Weg führen oder nicht. Nicht als wenn e« " ir an der gehörigen Achtung gegen die Meinungen andrer Menfchen fehlte, fondern weil vor allen Dingen der Wahrheit die gröfste Achtung gebühret. Und ich hoffe, man wird es mir nicht als Anmaafsung auslegen, wenn ich fage , dafs wir in den Entdeckungen der theoretifchen Erkenntnifs vielleicht gröfsere Fortfehritte machen wür- den, wenn wir fie an ihrer Quelle, in der Betrachtung der Dinge felbft auffuchten, und dazu lieber unfer eignes Denken als fremde Gedanken auwendeten. Denn mit fremden Augen fehen, oder mit dem Verstände anderer erkennen wollen, ift wohl eins fö vernünftig aU das andere. Wir befitzen nur fo viele reale und wahre Er- kenntnifs, als wir fe'.bft denken, und die Wahrheit mit ihren Gründen felbft einfehen. Die Ebbe und Fluth fremder Meinungen in unterm Kopfp bringt uns keinen Schritt in der Erkenntnifs weiter, wenn fie auch wahr
lind.
Viertes Kapitel. 177
find. Was bei andern WilTenfchaft war , das ift bei uns nur ein Meinen , wenn wir unter fürwahrhalten nur durch verehrte Namen beftimmen laffen, und nicht, nach dem Bei- fpiel grofser Denker, unfre eigne Vernunft anwenden, um die Wahrheiten zu be- greifen, welche diefen ihren Ri hm erwar- ben. Ariftoteles war gewifsein denken- der Kopf; aber noch nie hat ihn ein Menfch für das gehalten , weil er fremde Meinun- gen blindlings annahm und dreufte als feine Ueberzeugungen verbieiteie; und wenn er nicht dadurch ein Philoloph wurde, weil er die Grundfatze eines andern ohne eigne Unterfuchung annahm, fo wird es wohl fcbwerlich ein anderer, auf diefera Wege wer- den. In den Witten fchaften befizt jeder nur foviel, als er wirklich denket und be- greift; was er nur glaubt und auf das Art- fehen eines andern annimmt, das ift nur Ab- gang und Auskehricht, welches, fo viele Haufen man auch davon fammelt, doch das Kapital des Sammlers nicht beträchtlich ver* mehret. Solch ein erborgter Schatz ift nicht beffer, als bezaubertes Geld, welches in der Hand des Gebers Gold ift, aber in Blätter JM nnd
178 Elftes Buch.
und Sfaub verwandelt wird, fo bald man es ausgiebr.
Woher die Meinung von a n g e. bornen Grundfätzen entftand.
So wie die M en fchen einige allge- meine Sätze fanden, die, fo bald man fie verftand, nicht mehr bezweifelt werden konnten, fo begreife ich wohl, dafs fie nur noch einen kleinen Schritt zu thiin hatten, um auf den Schlufs : fie f i n d angeboren, zu verfallen. Diefe einmal angenommene Hypothefe befreiete die Trägen auf einmal von einer mühfamen Unterfuchung über das was nun als Angeboren galt, und machte der Nachforfchung der Zweifler ein Ende. Und diejenigen, welche liir VVifTer und Lehrer ansefehen feyrt wölben, fanden nicht wenig ihre Rechnung dabei, es zum Grundfatz aller Grundfätze zu machen, dafs Grundfätze nicht dürfen «nterfucht werden. Denn nachdem fie mit ihrer Behauptung, dafs es angebCrne Grundfätze gebe, Eingang
ge-
x Viertes Kapitel. i*g
gefunden hatten, fo fahen fich ihre Anhänger in die Notwendigkeit verfezt, einige Lehren als fulche anzunehmen, welches eben fo viel war , als diele Menfchen von dem Gebrauch ihrer eignen Vernunft und Beunheilung zu entbinden, und fie der blinden Macht des Glaubens und der Auktorität, ohne alle wei- tere UnteTfuchung der Wahrheiten zu unter- werfen. Unter dem Scepter.des blinden Glaubens konnten fie freilich von einer gewif- fen Klaffe von Menfchen, weiche die Ge« fchicklichkeit und den Beruf hatte, andere d'irch ihre Grundfätze zu rr^ieren , gemäch- licher bpherrrcht und zu ihrem Vortheil gp_ brujcht wprden. Ein Menfch erhält in der That keine kleine Gewalt über den andern, wenn er in dem Anfehen ftehet, der Dikta- tor dpi Gryndfätze und der Lehrer unbezwei- felrer Wahrheiten zu feyn; und wenn er ma- chen kann , dafs andere als einen angebor- neu Grundfatz ver chlucken , was für leine fubj-ktiven Zwecke diei.lich ift. Hätte man dagegen die Art und Wehe unterfuchet, wie die Menfchen zur Erkenntnifs allgemeiner "Wahrheiten gelangen , fo würde man gefun- den haben, dafs ffe au< der redlichen und M 2 ernft-
»So Etiles Buch.
ernftlichen Unierfuchung des We^ns der Dinge entfpringen, und durch die gewiflen- hafte Anwendung derjenigen Kräfte entdeckt werden , welche uns die Natur zur Annahme wnd Beurtheilung derfelben gab *>
§• 25
*) Die Entfiehungsart der Meinung von ange- bornen Begriffen ift von Locke eben nicht fehr befriedigend erkläret worden. Ei- gentlich hat er fie aber gar- nicht erkläret, fon- dern nur angedeutet. Was er darüber fagt, betrifft mehr die TJrfachen, welche diefer Voifie»lungs'art fo vielen Eingang verfchaften, welche er mit Recht, ztun wenigften zum Theil in der Trägheit des rnenfchlichen Geifies, fich die Unterfuchnng über die lezten Gründe al- les Willens möglichit leicht und bequem zu machen , und in dem natürlichen Hange ande- re zu beherifchen , zu finden glaubte. £)er Grund, welcher der Behauptung von a n ge- bor ncn Begriffen fein Dafeyn gab, liegt eigentlich in der Bemerkung , dafs es Begriffe giebt , welche aus keinem empirilchen Ur- iprunge erklärt werden können , und denen ein Objekt in der Erfahrung entweder gar aiicht oder nicht vollkommen entfpricht. So kam Plato auf feine Ideen, welche, ob- gleich nicht den Worteil, doch der Sache
nalh
Viertes Kapital. iö*
Befchltifs des erften Buche?»
Die folgende Abhandlung hat <1en Zwek, zu zeigen, wie der Ver« Ttand da^ei verfahret. Ehe ich zu derfelben fortgehe, mufs ich noch eine Be- merkung machen. Wenn ich mir den Weg zu den, wie ich glaube, einzig wahren Grün- den bahnen wollte, auf welchen ein Gebäu- de von den Begriffen , die wir aus unfrer eignen Erkenntnifs haben können, gegrün- det werden. kann, fo war ich bis hieher ge- nothiger, Rechenfchaft von den Gründen ab- zulegen! aus welchen ich die angehörten Grundfätze bezweifelte. Und da einige Be- M 3 weife
n>:ch , an^eborno Pe^riffe waren. Aus dieTem Grund hielt Cartes die Idee von Gott für angeboren. Fiincioia Ph ilo Tophi ae P. L §. XV, XVIII. Was aber vorzüglich dicfe Vorftellungsart veranlaTstc, war der Umfiand, daTs man noch nickt im Stande war, die Be» griffe, die man nicht empiiiTcli erklären konn- te , aus den Formen und GeTetzen des Veirno» gens des Gernütbs abzuleiten,
A. d. U.
%$2 Elftes Buc h.
Weife gegen die angebomen Grundfätze aus gewöhnlich angenommenen Meinungen ent- fpringen , fo mufste ich manches als einpe- ftanden vorausfetzen; ein Verfahren, das nicht leicht zu vermeiden ift , wenn man die Falfchheit oder Unwahrfcheinlichkeit einer Behauptung zeigen will. Es gehet in gelehr. ten Streitigkeiten wie bei Belagerung einer Stadt; wenn nur der Boden worauf die Bat- terien errichtet werden , feft und zu dem ge- genwärtigen Zwecke tauglich ift, fo fragt man nicht darnnch, wem er ab^eborgt ift, oder wem er angehört. Aber in dem folgen- den Theile dieles Werkes, deffen Zweck ift, ein einförmiges mit fich felbft zufammenhän- gendcs Gebäude aufzuführen, fo weit meine eigne Erfahrung und Beobachtung mir dazu behülflich ift, hoffe ich dafielbe auf einem foichen Grund zu erbauen, dafs ich nicht nöthig h^be , es mit Bogen und Pfeilern zu unterftiitzen , welche nur auf einem ei borg- ten oder erbettelten Boden ruhen. Und wenn mein Gebäude auch in die Luft ge- bauet wäre , fo will ich mich doch zum \ve- rügten beftreben , d^fs alles aus einem Stück gearbeitet und zufauunenhängend ift. Hier
inufs
Viertes Kapitel. a8«5
mufs ich die Lefer noch warnen , dafs fie kei- ne firengen apodiktifchen Deinonftraiinnen erwarten ; fie mulsten denn mir ein Privilegium einräumen, deiTen fich andere nicht feiten anmaafsen, nieine Grundfätze für allgemein zugeftandene Satze zu halten, in welchem Fall ich auch wohl demonftriren könnte. Al- les was ich von denjenigen Grundfätzen noch zu Tagen habe, die der Unttrfuchung zur Grundlage dienen, ift, dafs ich mich, was ihre Wahrheit betrift, auf jedes Menfchen unbefargene Erfahrung und Beobach- tung berufe. Und mehr kann auch von ei- nem Manne nicht gefodert werden, der nicht mehr verfpricht, als feine eignen Wahr- fcheinlichkeiten über einen noch etwas in Dunkelheiten verhüllren'Gegenftand freiuü- thig und offen darzulegen, and er da bißt keinen andern Zweck hat , als die Wahrheit unuartheiifch zu unierfucben.
M 4 Zwei.
«84
Zweites Buch, Erftes Kapitel.
Voji den Vprftellungen überhaupt und ihrem Urfprunge.
§• I.
Vorftellung ift der Gegenftand des Denkens.
Jede* Menrch ift lieh bewufst, dafs er den. ket, und dafs dasjenige, womit fich die See- le bei dem Denken befchä füget, die in demfel- ben vorhandenen Vor ft eilungen find. Hier- durch ift es aufser allem Zweifel gefeit, dafs in der Seele des Menfchen verfchiedene Vor- fiellangen gefunden werden. Solche Vorftellun- aen Gnd es z. B* welche durch die Worte : d a s Weifse. die Härte, die Süfsigkeit, das Denken, die Bewegung, der
Meafch,
Z vre i tcs Buch. Elftes Kapi te I, 185
Mcufch, der Elephant, die Armee» die Trunkenheit u. ft w« ausgedwükt werden. Hier entliehet nun zuerft die Fra- ge : Wie kommt der Menfch zu diefen Vor- ftellungen? Ich weiTs wohl, es ift eine an^e- nommene Meinung , dafs die Menfchen an- geborne Begriffe haben, und dafs gewifle Charaktere feit dem Anfang ihres Dafeyns in ihren Verftand gefchrieben find, und fie dt fchon in dem vorigen weitläufig untersucht worden. Allein was darüber in dem erften Buche gefagt i(t, wird, wie ich denke, noch mehr Beifall finden, wenn ich £e/-ei£t habe, woher der Verftand alle uiue Begriffe erhält, und auf Welchen Wegen und durch welche Abftufungen fie in den Verftand Einsang fin- den. In diefen Punkten werde ich mich auf die Erfahrung und Beobachtung jedes einzel- nen Merffchen berufen, *)
M 5 §♦ 2.
») Wenn man unter angebomen Begriffen , Vor- rtellungen verliehet , welche von dem vovftel- lenden Subject von dem eilten Anfan» feines Dafeyiis mit klaren Bcwnfs'ffeyn vorgeficllt wer- den , fo ift es eine Thatfache das Bewu'fstfeyn
und
*86 Zweites Buch.
§. 2.
Alle VorTtellungen entfpringen aus d erEmpfindung (Senfation) oder fie f lex io n.
Gefezt wir nahmen an, die Seele Tey, wie man fagt, ein weifses unbefchriebenes
Papier,
und die Wahrheit der Behauptung müfste a pofteriori bewiefen weiden. Sie üt daher fclion widerlegt, wenn man , wie Locke ge- thanhat, zeigt, dafs fie zu gewilTen Zeiten nicht im Bewnfstfeyn gefunden werden, und dafs alles Denken einen empirifchen Urfpruns, in der Zeit hat. Diefer Widerlpiuch mit der Erfahruns; nöthiete die Veitheidiger der ange- hi inen Begriffe, das Bewnfstfeyn von den Bedingungen des Vorftellens auszufchliefseti. Sie fchloffen fo : die Seele iß eine vorfallende Subftanz. Die Vorftellungskraft macht ihr Wefen aus, lie mnfs daher zu jeder Zeit vor- stellen ; da man fich nun licht immer bewnfst ift, dafs man Vorftclluneen habe, fo mufs die Seele auch ohne Ik-wufstfevn-voi hellen und de; ken können Diefe Behauptuno; widerleget Locke in diefem Kapitel, weil he unge- reimt, mit der Erfühl uns; ftreitet, und weil fie aus blufsen Begriffen auf eine objektive
Rea-
Elftes Kapitel, 187
Papier, ohne alle Vorftellungen, wie wird fiedann mit denfelben verfehen ? Woher be- kommt
Realität fcliliefst. Indem Locke keine ans;«* bomen Begriffe in dem angegebenen Sinn an- nahm , fo mvlfste er lie freilich als Vorltellun- gen betrachten, deren Bewufstfeyn einmal ia der Zeit angefangen hat. Einpiiifche und rei- jie Vorftellungen haben diefes mit einander gemein Da aber die Untcrfcheidung beider die deutliche Unterfcheidung der Form und des Stoffs der Vorftellungen yorausfezt , und der menfehliche Geilt diefe Entdeckung noch nicht gemacht hatte, fo wurden die eniphi. fchen Vorfiellungen den angebornen eYUgegen* gefezt Zu diefer Verwech feiung trug poch ein Umftand bei. Die grüfste Anzahl unfrei Vorftellungen lind aus einem von Außen ge- gebenen-Stoffe erzeugt , und die reinen wer* de« nur durch die Erfahrung an empirifchen entwickelt. Die lezten konnten daher leicht überleben , und mit den etilem vurwcchfelt •werden. Hierauf gründete fich Locke's Verfucb, die Stammbegriffe des menh. laichen Verftandes, die uifprünglicuen Voriicüungen auffcufuchen und zu klaßificiren, und die Art mm Weife zu befiimmen, wie durch man. nichfaltio-e Verbindungen deiTelben unfex ganzer lleichlhurn au Voftellungen entliehe»
könne,
l83 Zweites Euch.
kornrat fie den unermefslichen Vorrath, mit welchem fie durch die gefchäftige und gren-
zenlofe
könne, ein Vertuen s der deßo verdienftlicher jit , weil er der Mite diefer Art ift.
Es wird liier nicht unzweckmäßig feyn, noch einige Bemerkungen über Locke's Begriffe von Vbrftellangsvermögen und den Gebrauch einiger Worte beyzufügen. Das ganze Vor- ftellungsvermögen begreift nach diefen Philo- fophen zweierlei in lieh, das Empfangen der Vorftellungen und das Verarbei- ten derfelben. Alle urfprünglicben, ein- fachen Vorftellungen werden dem Gemüthe gegeben , und es thut an ihnen weiter nichts« als dafs es fie aufnimmt, empfängt. So bald es eine V'orftelluug empfängt, hat lie auch ein Bewnfstfayn davon. Diefe beiden Veiin- derun^en drückt Locke oft durch ein Wort, r.chmlich Perception tir d pereeive aus. Dabei verhält lieh das Gemöth ganz leidend. tt V,. g Ch. Nachdem das Gemütk diefe eiu- fachen Vorftellungen erhalten hat, fo äufsert fieb erft die lelbftthätige Voiitellungs.kraft durch das B e h a 1 1 e n , Vergleichen, U n- t e r f c h o i d e n , Trennen und Verbin- den derfelben. Das Denken begreift im wei- tem Sinn fowohl jenes blos leidende Empfan- gen,
Elftes Kapitel. 189
zeniofe Einbildungskraft in faft unendlicher Mamnchfaltigkeit ausgemalt wird. "Woher hat fie alle Materialien des Denkens und der Erkenntnifs ? Ich antworte hierauf mit einem Worte, aus der Erfahrung. Alle Erkennt- nifs gründet fich auf die Erfahrung und entfpringt zulczt aus ihr. Unfre Beobach- tung, welche theils die äufsern wahrnehmbaren Gegen ftände,
theils die innern, von uns durch Reflexion wahrgenommenen Wir- kungen unfers Geiftes zum Gegen- ftande hat, verforgt unfern Ver- stand mit aliemStoffe zumDenken»
Die-
gen3 als auch die felbfithätige Verarbeitung der Vorßellun^en ; im entern Sinne wird diefeä Wort nur zur Bezeichnung der Funktio. neu des felbittüä Ligen Vorfteller.s gebraucht. II. B. 9 Ch. i\Ian flehet daraus, wie weit Locke noch von dem vollftändigen Belnif- des Vorftellungsvermügens und der deutlichen Unteifcheidting der Arten deflelben einlernt war , und d<<fs er der Seele die Vor&ellungea ganz gegeben werden Lfst , ohne das zu un. terfcheidun , was ii. empfängt, und was iie ausfioh feibft dazu giebt oder dazu thu|. A. d. U.
*90 Zweites Buch,
Biefes Und die zwei Quellen der Erkenntnis, woraus alle Begriffe, entringen , die wir wirklic h haben, oder natürlicher Weife haben können.
§. 5.
Die Objekte der Empfindung find die eine Quelle der Vor- f teil u n gen,
Erftens- Die Sinne, welche fich mit befondern finnischen Objekten befchäftigen, führen der Seele inannichfahige deutliche Vorftellungen von Dingen zu, welche der verschiedenen Art und Weife entfprechen , auf weicheriiefe Objekte die Sinne afficiren. Lid fo erlangen wir unfre Vorftellungen von «I e in Gel be n, W eilen, von der Hitze und Kälte, von der Weichheit und der Härte, von der S ü Fs i g k e i t und B i t- terkeit, und überhaupt von den fogenann- ten ilnrltchen Befchaifenheiten, Wenn ich laoe die Sinne führen der Seele diefe.Vor_ f'teilLingen zu. fo will ich damit nur fo viel fagen : fie führen von den äufsern Ob- jekten dasjenige in die Seele, was hier diefe
Vor-
Erftes Kapitel. I$i
Vorftellungen hervorbringt. Diete grofse Quelle unTrer rneiften Begriffe , welche ganz von den Sinnen abhängen, und von diefen in den Verftand geleitet werden, nenne ich die Empfindung (Senfation),
§. 4.
Die Thätigkeiten unfers Ge- müths find die zweite Quelle der Begriffe» Zweitens, Die andere Quelle, aus welcber die Erfahrung den Verftand mit Be- griffen bereichert, ift das Bewufstfeyn (perception) der Thätigkeiten des G e- rnüths in uns felbft, infoferu he an den vor- handenen Verkeilungen ausgeübt werden, Wenn die Seele diefe Thätigkeiten «beachtet und über fie redektirt, fo erhält der Verftand eine andere Reihe von Vorftellungen, welche nicht von den AulTendingen entfpringen kön- nen. Solche Thätigkeiten des Gemiiths find unter andern, das Wahrnehmen, Den- ken, Zweifeln, Glauben, Schlie- fsen, Erkennen, Wollen. Wenn wir derfalben bevvulst werden, und iie in uns
beobach-
1J)2 Zweites Buch,
beobachten , fo erhält der Verftand von ih- nen eben fo deutliche Begriffe als von Kör« pern, die die Sinne afficiren, Diefe Quelle von Begriffen hat jeder Menfch in fich felbft vollßändig. Sie ift zwar kein Sinn , weil Oe mit äufsern Objekten nichts zu tbun hat, aber doch etwas Aehnliches , und könnte mit gutem Grunde der innere Sinn genennt •werden* Ich nenne diefe Quelle die Re- flexion i fo wie die erftere , die Empfin- dung (Senfstiort) , da die Begriffe, welche aus jener emfpringen, nur folche find, wel- che die Seele durch die Richtung des Den- kens auf ihre eignen Operationen in ihrem Seibft erhalt. In der Folge verftehe ich alfo unter Reflexion allezeit die ErKenntnifs der See e von ihren eignen Wirkungen und ih- rer beftimirsten Art , wodurch der Verftand Begriffe von eben denselben Gegenständen erhält. Die äufsern materiellen Din^e als Objekte der Empfindung, Un d die Wirkungen der Seele in uns als Objekte der Reflexion fmd nun meines Erach- tens die einzigen Grundstoffe , aus welchen alle unfere Begriffe entfpringen. Das Wert Wi rkunge n (Operations.) wird hier
in
Elftes Kapitel. ig5
in dem weitern Sinn genommen, und begreift nicht nur die Tbütigkeiten der Seele, welche fich auf ihre Vorftellungen beziehen , fondem auch gewifle leidende Zuitande, welche aus ihnen zuweilen, wie z. B. das Gefühl der Luft oder Unluft aus einem Gedanken, entfpringen.
§♦ 5.
Alle unfre Begriffe ftammen aus einer ditfer Quellen ab.
Man findet, wie es mir fcheint, in dem Verftande nicht die geringfte Spur von einer VorfteNung, die nicht aus einer Von die- len beiden Quellen entftanden ift. A eu fser e Ge^enftände gewähren der Seele Vor f t el 1 u ng en von finnlichen B e- f cha f fen h ei t en , und diefe find die .ver- fchiedenen Vorftellungen, welche jene Objekte in uns erzeugen. Die Seele giebt dem Verftande Vorftellungen von ih- ren eignen Wirkungen,
Wenn wir eine vollftändige UeberCcht von diefen Begriffen, ihien Befchaffenhei-
N ten
»94 Zweites Buch.
ten, Verbindungen und Verhältniflen gege- ben haben , fo wird es (Ich finden , dafs fie den ganzen Stamm aller unferer Begriffe aus- machen , und dafs nichts in der Seele ift, was nicht auf einem von diefen beiden We- gen in fie kam. Man unterfuche feine eignen Gedanken, man durchforfche feinen Ver- ßand, und Tage dann, ob noch andere Stamm- begriffe als von den Objekten der Sinne, oder von den Wirkungen der Seele, als Gegenftände der Reflexion betrachtet, in feinem Selbft gefunden werden. Und wenn auch Jemand die Summe feiner Erkenntnifs noch fo hoch anfchlägt, fo wird er doch nach einer ftrengen Mufterung keine Vorfteilung entdecken, die nicht auf einem von beid'en We- gen in die Seele gekommen ift. Aber freilich kann der Verftand, wie wir nach- her fehen werden, diefe Vorftellungen auf eine unendlich mannichfaltige Weife zufammen- fetzen.
§• 6.
Diefes läfst fich b ei Kindern be- ob a chten.
Wer den Zuftand eines Kindes bei feinem «rften Eintritt ia die Weh aufmerkfam be-
trach
Erftes Kapitel. jpy
trachtet, der wird keine Urfache finden, in !ben einen grofsen Vorrath von Vorftel- lungen, als Stoii ffiner künftigen Erkenntuifs anzunehmen. Es wird mit deufdben nur nach und nach verforget* Und obgleich die auffallenden und bekannten Eigeufchafien der Dinpe in Vorstellungen gelalst werden, ehe das Gedächtnifs über die Zeit und Ord- nung dei eiben gleichfam Regiiter zu halten anfängt, fo gehet es doch oft fo largfara, ehe einige ungewöhnliche Eigen Jena ften fich darbieten . dals nur wenige Mer.fchen f:ch auf die Zeit befmnen können, da ihre Et- kanntfchaft n:it dielen anfing. Und wenn es lieh der Mübe lohnte, fo könnte man ein Kind ohne Zweifel fo aufziehen, dafs es eine fehr kleine Anzahl felbft von den gewöhnli- chen Begriffen erhielte Da aber alle die auf die Welt kommen, von Körpern umgeben} find, von welchen lie beftändig und auf nannich- falüge Weife afheiret werden, fo wird mit oder ohne felbftthätige Veranftaltung, eine grofse Älannichfaltigkeit von Vorftellungen der Seele der Kinder zugeführet. Das Licht und die Farben ftellen f;ch .:11er Orten dar, ■wo das Auge offen ift; die Töne und eil i-
K 2 2.9
ig6 Zweites Bu-ch.
ge fühlbare Eigen fc haften, reifzen ohne Umeilafs den ihnen entsprechenden Sinn, und öfnen fich gleichfam mit Gewalt einen Eingang in die Seele. Wenn aber ein Kind in einein Plane eingefchloffen wür- de, wo es bis an fein männliches Alter nichts anders als vveiffe und fchwarze Gegenfiäude fähe, fo wird wohl Jedermann ohne Schwie- rigkeit eingefiehen, dafs es eben fo wenig eine Vorftellung von der fcharlachrothen oder grünen Farbe haben, als ein Menfch fich vor- teilen kann, wie Aufternoder Ananas fchmek- ken, der fie von feiner Kindheit an noch nie gekoftet hat.
§- 7-
Die Menfchen erhalten auf Ter- fchiedene Weife Vorftellungen aus d ie fe n Q u eil e n,in fo fern die. Objekte verfchieden find, mit denen. fie in Verbindung ftehen.
Die Menfchen erhalten mehr oder weni- ger einfache Vorftellungen von Aufsen, je nach- dem die Objekte, mit denen fie fich befchäf-
tigen,
Elftes Kapitel. jqj
tigen , eine gröfsere oder kleinere Mannich- faltigkeit darbieten; und von den Wirkun- gen der Seele in ihneD , je nachdem üe mehr oder weniger über fie reflektiren. Denn wer die Wirkungen feiner Seele betrachtet, wird zwar immer eine klare Vorftellung von ihnen haben j allein ohne die Richtung fei- nes Denkens auf diefen Gegenftand und ohne aufmerkfame Beachtung deffelben wird es ihm eben fo an klaren und deutlichen Begrif- fen v_o n allen Wirkungen derselben, und von alle dem, was in feinem Selbft wahrnehmbar ift, fehlen, als derjenige nicht alle Theilvorftellungen von einem Land- fchaftsgemälde oder den Theilen und dem Mechanismus einer Uhr hat, der feine Augen nicht darauf richtet, und nicht alle Theile mit Aufmerkfamkeit beobachtet. Das Gemäl- de und die Uhr kann fo geftellt feyn, dafs lie ihm alle Tage in die Augen fallen; und doch wird fein Begriff von allen ihren Thei- len fo lange undeutlich feyn , bis er felbft- t hat ig feine Aufmerkfamkeit auf die vollüändige Betrachtung derfclben richtet.
N 3 §.8.
ig% Zweites Bucli.
§. 8.
Die Vor Prellungen der Reflexion find f p il l e r n U 1 f p r u ngs, weil ! i e Aufmerkfarakeit vorausfetzen.
Und hier fehen wir die Urf3f.be, warum Kinder fo fpät eine Vorftellung von (\en Wir- kungen ihrer Seele erlangen, und warum einige Menfchen ihr ganzes Leben hindurch keinen vollkommen klaren und vollftändigen Betriff Von den meiften Thatigkeiten ihres Gemüths haben» Unaufhörlich gehen zwar Verände- rungen in ihrem Innern vor; aber weil He gleich flüchtigen Erfcheinungen keinen tiefen Eindruck machen, fo laffen fie keine klaren deutlichen und dauerhaften Vorftellungen in der Seele zurück, bis der Verftand auf fich felbft gerichtet, überfeine Thärigkeiten re- flektirt, und fie zum Gegenftand feiner eig- nen Betrachtung macht. Die Kinder befin. den fich in ihren erften Jahren in einer für fie ganz neuen Welt, Alle Objekte ziehen das Gemüth durch unaufhörlichen Reiz der Sinne von fich felbft ab ; das Gemüth ift fchon an fich geneigt, nur das Neue zu bemerken, und es ftrebt von Natur nach dem Vergnügen, wel- ches
E t [ c e s Kapitel. 195
ches aus der Mannigfaltigkeit immer vvech- felnder Gegenftände entfteht, Die erften Jahre werden alfo gewöhnlich in der zer- ftreuenden Befchauung der AulTendinge zuge- bracht. Die Menfchen befchäftigen fich jezt nur damit, mit dem, was aufser ihnen ift, bekannt zu werden, und indem fie in der be- ständigen Aufmerkfamkeit auf aufsere Empfin- dungen aufwachfen , fo werfen fie feiten ei- nen beobachtenden Blick auf das, was in ih- rem Selbft vorgehet , bis fie zu reifern Jah- ren kommen. Einige aber reflektiren darüber auch ihre gan?.e Lebenszeit nicht»
§• 9*
Die Seele hat V o rftellungen , fo» bald fie etwas wahrnimmt«
Wenn man fragt, zu welcher Zeit ein Menfch die erften Vorflellungen hat , fo fragt man, wenn er anfängt zu empfinden, und fich. bewirfst zu werden (perceive). Denn Vorltel- lungen haben , und fich etwas bewufst feyn, ift einerlei. Ich weifs wohl, es giebt eine Meinung, dafs die Seele immer denkt, und N 4 ein
ioo Zweites Euch.
ein wirkliches Bewnfstfeyn von Vorftellunjen in fich hat, fo lange als fie exiftiret; dafs das wirkliche Denken fo unzertrennlich von der Seele ift, als die Ausdehnung vom hör- per. Ift diefes wahr, fo heifst die Frage: wenn fängt der Menfch an, Vorftelhm- gen zu haben, eben fo viel, als: wenn fängt fich das Dafevn der Seele an ? Denn nach diefer Vorftellnngort mufs die Seele rait ihren Vorftellungen, wie der Kör- per, und die Ausdehnung zu jeder Zeit unzer- trennlich vorhanden feyn»
§. IO. Die Seele denkt nicht immer, denn es ift nicht erwiefen. Ob man annehmen muffe, dafs die Seele vor der erften Bildung und Organifation des Leibes i vor dem Anfang des thierifchen Le- bens, oder zugleich, oder einige Zeit nachher exiftire, das mögen diejenigen ausmachen, welche reiflicher über diefe Sache nachge- dacht haben. Ich mufs gefcehen , meine Seele gehört in die Klaffe der blödfinnigen, "welche rieht wahrnehmen wollen, dafs fie immer denken, und eben fo wenig die Noth-
wen-
Elftes Kapitel. 2oi
wendigkeit einfeben können, warum die Seele immer d e n ken, als warum der Kör- per immer in Bewegung feyn rnülle Denn das V orfteilen ift, wie ich mir die Sa- che denke, für die bee\e eben das, was für den Köiper die Bewegung ift, nicht ihr Wefen , fon lern eine ihrer Wirkun- gen. Man ftelle lieh das Denken noch fo fehr als die eigentümliche Handlung der Seele vor, fo ift es doch nicht noth wendig anzu- nehmen, dals fie immer denke, immer thätig fey. Die'.s ift vielleicht ein Vorzug des un- endlichen Urhebers und Erhalters der Din»e der nie fehl um inert noch fchläfr aber es kommt keinem endlichen Wefen, zum wenigften nicht der menfehlichen Seele »u. Wir wiffen durch die Erfahrung mit Gevvifs- heit, dafs wir zuweilen denken, und ziehen daraus die untrügliche Folgerung , dafs in uns Etwas ift, welches das Vermögen zu denken hat. Üb aber diefe Subftanz beftän- dig denkt oder nicht, können wir nur in fo- fern wiffen, als uns die Erfahrung Kenntnifs davon giebt. Denn wenn man fagt, das wirkliche Denken gehöret zum Wefen der Seele und ift von ihr unzertrennlich, fo be- N S vveift
$03 Zweites' Buch.
weift man nicht aus Gründen, welches doch gefchehen müfste, wenn jenes kein an fich evidenter Satz ift, fondern fezt, fchon als be- wiefen voraus , was bewiefen werden follte» Und was die innere Evidenz des Satzes : die Seele denkt zu jeder Zeit, be- triff, dafs ihm jedermann beiftimmen müfse, der ihn hört, fo berufe ich mich auf das Ur- theil jedes Menfchen. Es ift zweifelhaft, ob ich die ganze vergangene Nacht gedacht habe, oder nicht. Hier ift alfo die Rede von einer ftreitigen Thatfache; und man fetzt fie fchon als erwiefen voraus, wenn man zu ihrem Beweis eine Hypothefe auffteüt, welche die Streitfache felbft enthält. Auf diefe Art läfst fich alles erweifen. Man darf nur vorausfe- zen, dafs alle Uhren, während der Perpendi- kel fich bewegt, denken: und dann ift es eine erwieTene und unbezweifelte Wahrheit, dafs meine Uhr die ganze vergangene Nacht dachte. Allein man follte, um fich nicht zu täufchen , feine Hypothefen auf Thatfachen ftützen, und fie durch die Erfahrung bewei- fen , aber nicht umgekehrt , der Hypothefe •wegen, das ift, weil man vorausfezt, es fey fo, Thatfachen annehmen» Diefe Art zu be-
weifen
Er fies Kapitel. 203
weifen gehet aiu: (liefen Schlufs hinaus: Es ift noth wendig, dafs ich die ganze vergange- ne INacht dachte, weil ein andrer vorausfezt, dafs ich immer denke, ob ich gleich in mei nein ßewufstfeyn nichts davon wahrnehme.
Die Menfchen künnen nicht nur aus Vor- liebe zu ihren Meinungen das vorausfetzen, wovon noch die Frage ift , fondern auch zu diefein P.ehuF Tharfachen verdrehen! Wie hätte fpnft ein Gewitter den Satz für meine Folgerung aasgeben können; Ein Diu» exi ft i r t nicht, weil wir feines Dafeyns in dem Schlafe nicht bewufst find. Ich behaupte nicht, dafs ein Menfch im Schlafe keine Seele hat; weil er fieh da derfelben nicht bewufst ift, fon- dern nur, dafs man nicht denken kann, es fey im wachenden oder fchlafenden Zuftande, ohne ein ßewufstfeyn davon zu haben. Das Bewufstfeyn ift nicht für die Exiftenz eines Dinges aber wohl für unfere Gedanken not- wendig; und diefe Noth wendigkeit wird fo lange beftehen , als wir nicht .ohne Bewufst« Teyn denken können,
§. II»
20/f Zweites Buch.
§• II»
Die Seele ift fich nicht allezeit des Denkens bewufst»
Ich räume ein, dafs die Seele in einem wachenden Menfchen immer denkt, denn dar- in befteht eben das Wachen. Ob aber ein Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des ganzen Menfchen, der Seele fovvohl , als des Körpers fey, ift eine Frage, die wohi ver- diente, von einem Wachenden unterfucht zu werden. Denn es ift kaum denkbar, dafs ein Wefen denke, ohne fich deiTen bewufst zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla- fenden Menfchen denkt, aber ohne Bewufstfeyn, fo frage ich : bat/ie während dem Denken ein Gefühl von Luft und Unluft, ift fie der Glückfe'igkeit oder des Elends em- pfänglich? Allein ich denke ein folcher MenTch ift deflen fo wenig empfänglich, als das Bette oder die Erde, worauf er liegt, Dennglückrelig oder elend feyn, ohne davon ein Bewufstfeyn zu haben , fchefnt ar.ir wi derfprechend und .unmöglich. Oder wenn es möglich ift, dafs die Seele, wäh- rend
Elftes Kapitel. 2o5
rend deflen der Körper fchlaft, für fich den- ket, für lieh ihren eignen Genurs, Kummer, Vergnügen und Schmerz hat, wovon der Meufch nichts vveifs, woran er keinen An- theil nimmt, fo ift gewifs der fchlafende Sokrates und der wachende Sokra- tes nichteine und diefelbe Perfon , fondem der wachende Sokrates, der aus Leib und Seele beftehet , und die Seele des Sokrates, wenn er fchlaft, find zwei Perfonen. Denn der wachende Sokrates hat keine Kenntnis von dem, was feine Seele in dem Schla e denket, und ift fo gleichgültig gegen das ganz ifolirte angenehme oder unangenehme Gefühl derselben in dieTem ihm unbekannten Zuftan- de, als gegen das Glück oder Unglückeines unbekannten Menfchen in Indien. Denn worinn follte man noch die Identität der Per- fon fetzen, wenn man alles Bewufstfeyn un- frer Handlungen und Empfindungen, vorzüg- lich des V"ergriügens und des Sehmerzens, und des damit verknüpften Intereffes aufhebt?
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206 Zweites B u c h.
§. 12.
Wenn ein fchlafender Menfch denkt, ohne (ich defffn be- w u f s t z u f e y n , f o fi n d d e r S c h 1 a- fende und der Wachende zwei Per fon en»
Die Seele, Tagt man, denkt auch im tiefen Schlafe. Während fie denkt und fich etwas vorftellt, ift fie gewifs unter andern auch der Empfindungen von Luft und Ursluft empfänglich, und fie mufs nothw endig ihrer eignen Vorftel- lungen bewufst feyn. Das alles aber hat fte für fich allein, und es liegt am Tage, dafs der Schlafende nichts von dem allen weife. Wir wollen alfo fetzen, die Seele des Caftor habe ftch, während dafs diefer fchläft, aus dem Leibe entfernt, - eineHypo- thefe , welche den Männern, mit denen wir es hier zu thun haben, nicht unmöglich vor- kommen darf. Sie die fonft fo freigebig al- len andern Thieren ein Leben ohne eine den- kende Seele beilegen, dürfen es für keine Unmöglichkeit, für keinen Widerfpruch hal- ten,
Elftes Kapitel. 207
•ten, daß der Körper ohne Seele leben, und die Seele ohne den Körper exiftiren, denken, Empfindungen von ihrem angenehmen und unangenehmen Zuftande haben foll *). Lafst i'ns alfo, wie ich gefagt habe , annehmen, die Seele des Caftor trenne fich, während diefer fchläft, von feinem Leibe, um für fich allein zu denken; lafst uns ferner anneh- nehmen , fie wähle fich den Körper eines andern Menfchen z. B. des P o 1 1 u x, der auch ohne Seele fchläft, zur Scene ihres Denkens. Denn wenn die Seele des Caftor, während diefer fchläft, denken kann, ohne dafs diefer ein ßewursifeyn davon hat, fo ift es einerlei, was fie fich für einen Ort zum denken wäh- let. Wir haben dann nach diefer Vorausfe- tzung die Leiber von zwei Menfchen, die nur eine Seele gemein haben, und die wech-
. feii-
*) Diefes beziehet fich auf die Behauptung des Caites und 'einiger feiner Anhänger, dati die Thiere keine Seele haben, ob he <deic!i durch bloben Mechanismus des Körpers Handlungen hervorbringen, welche Ähnlich- keit mit den vernünftigen Handhuigen der Menfchen zu haben f ehernen«
A. d. ü.
20$ Zweites Buch.
felsweife wachen und fchlafen (ollen* und dieSeele des Wachenden denkt unaufhörlich, wovon aher der Schlafende ganz und gar kein Efewufstfeyn, Keine Empfindung hat. Jezt frage ich, ob nicht Ca fror und Po 11 ux, die beide eine gemeinfcija't iche Seele haben, welche in dem einem denkt i.nd empfindet, dcflen Geh der andere nicht bewuist ift, und •was ihn nicht intereffiret, eben fo gut zwei verfchiedene Perfonen find, als Caftor und Herkules, oderSokrates und P la- to waren? und ob nicht der eine fehr glück- feiig., der andere fehr elend feyn kann? Aus e ben demfelben Grunde machen he die Seele und den Menfchen zu zwei Perfonen, wenn he annehmen, die Seele könne für fich altein denken, ohne dafs der Menfch ein P>e- wufstfeyn davon hat. Denn ich denke nicht, dafs Jemand die Identität der Perfon in der Vereinigung der Seele mit eben denfelbennu- merifchen Partikeln der Materie fetzen wird. Beruhete die.; Identität auf diefer Bedingung, fo konnte ein Menfch , bei der beftändigen Veränderlichkeit der Theile unfers Leibes nicht zwei Page oder auch nur zwei Augen- blicke hinter einander einerlei Perfon feyn.
Elftes Kapitel; *ojj
§. i5.
Diejenigen, welche ohne Trau- me fchlafen, können nicht überzeugt wer den, dafs fie in dem Schlafe denken.
Und fb erfchüttert, wie mich dünkt, jedes Kopffenken im Schlummer die Behauptung, dafs die Seele immer denke. Zum wenigften können diejenigen, welche ohne Träu- me fchlafen, nicht überzeuget werden» dafs ihre Denkkraft zuweilen vier Stunden nach einander belchäftiget fey, ohne dafs fie etwas davon wüten. Und wenn man fie auch über diefe Thätigkeit überrafcht, und aus diefer Träumerei aufweckt, fo können fie doch nicht das geringfte davon fagen,
§♦ 14.
Es ift eine leere Ausflucht,' wenn man fagt, die Menlchen träumen, ohne lieh deffen ent« Finnen zu können.
Vielleicht wird man fagen : Die Seele denktauch in dem tiefften Schla-
2fts Zweites Buch.
fe, aber das Gedachtnifs erhält kei- ne Spur davon. Allein es ift kaum ge- denkbar, dafs die Seele eines fchlafenden Menfchen den einen Augenblick mit Denken befchäftiget , und den darauf folgenden des Erwachens alles aus dem Gedachtnifs ver- schwunden fey. Die Ueberzeu^ung davon erfodert andere Beweife , als die blofse Be hauptung. Denn wer wird wohl ein blofses Meinen für einen Beweis gelten lallen, dafs der grölste Theil der Menfchen ihr ganzes Leben hindurch täglich einige Stunden über etwas denket, und doch, wenn man fie felbft Während diefer Handlung fraget, fich nicht eines einzigen Gedanken erinnere? Der gröfsfe Theil des Schlafes fliefset , wie ich glaube, bei den meiiten Menfchen ohne Träume hin. Ich kannte einft einen jungen Gelehrten von keinem unglücklichen Gedacht- nifs, der, wie er mir erzählte, nie in feinem Leben träumte? als in dem Fieber, von dem er eben jezt genefen war, und das war un- gefähr in dem fünf oder fechs und zwanzig- sten Jahre feines Alters. Es laffen fich wohl iroch mehrere folche Beifpiele finden, und die Erfahrung wird jeden mit genug Perforier!
be-
Elftes Kapitel, 2i*
bekannt machen * welche die meifteri Nächte nicht träumen.
§♦ i5.
Nach diefer Hypothefe müTsten die Gedanken eines fchlafen- den Menfchen die vernünftig- ften feyn.
Oft denken, und keinen Augen« blick etwas davon im GcdächtniTs behalten, ift eine fehr unnütze Art zu denken. Die Seele hat, bei ei- nem folchen Denken, wenig oder keinen Vorzug vor einem Spiegel, welcher unauf- hörlich eine grofse Mannichfaltigkeit von Bildern und Vorftellungen empfängt , abef lteine derfelben fefthält; fie verlieren fich aus dem Geiicht und verfchwinden ohne ei- ne Spur zurückzulalTen. Die Seele befindet fich bei folchen Gedanken nicht beifer, als derSpiegel bei diefen Abbildungen. „Bei dem Denken iu dem wachenden Zuftande, wird man vielleicht fagen. Werden gewille Orga« ne des Körpers in Bewegung gefezt und be- O 2 febäfti"
2}2 Zweites Euch.
fchaftiget; das Gedachtnifs bewahret die Ge- danken auf, vermöge der Eindrücke und Spu- len, welche das Denken in dem Gehirn zu- rückläfst. Allein bei dem Denken, deflen fich ein Menfch in dem Schlafe nicht bewufst ift, denkt die Seele für fich allein, fie macht keinen Gebrauch von den Organen des Kör- pers, fie hinieriäfst keine Spuren in demfel° ten; und daher findet kein Gedachtnifs die- fer Gedanken ftatt" — Ich will hier nicht wieder der Ungereimtheit einer gedoppelten Perfönlichkeit gedenken, welche aus riiefet Vorausfetzung folgt, fondern nur diefes ant- worten. Kann die Seele irgend einige Vor- ftellungen obne Hüife des Körpers erlangen und betrachten , fo mufs fie diefelben auch, nach einem vernünftigen Schluffe ohne Hül- fe des Körpers erhalten können. Die Seele oder ein vom Körper getrennter Geift würde foult wenig Vortheile von dem Denken ge- winnen. Wenn fie nicht im Stande ift, ihre eignen Gedanken zu behalten , zu ihrem Ge- brauch aufzubewahren , und bei Gelegenheit wieder ins Gedachtnifs zu rufen ; wenn fie über das Vergangene nicht nachdenken, und VQit. ihren altem Esfahrucgen, Schi üfferi und
' Elftes Kapitel. ?i3
Betrachtungen keinen Gebrauch machen kann, 2u welchem Zweck denkt fie denn? Diejeni- gen , welche die Seele für ein folches den- kendes Wefen erklären , machen fie wirklich zu keinem edlern Wefen , als ihre Gegner, die von ihnen verdammt werden, weil fie die Seele für die feinfte Materie halten, Züge auf Staub gezeichnet , welche der eifte Hauchr des Windes verwifcht, Eindrücke auf einen Haufen Atomen, oder auf die Lebensgeißer find eben fo nützlich, und veredeln das Sub- jekt eben fo fehr, als die Gedanken einer Seele, welche während dem Denken fchoa wieder zernichtet werden, die wenn fie einmal dem Gefichte entkommen, für immer ver- schwunden find, und • in dem Gedächtnifs nicht die geringste Spur zurücklafien. Die Natur bildet das Vortrefliche nie zu einem niedrigen oder zu gar keinem Zweck. Und es läfst fich kaum denken, wie der unendlich weife Schöpfer ein fo bewunderungswürdi- ges Vermögen, als das Denkvermögen ilt, welches felbft der Hoheit feines unbegreifli- chen Wefens am nächften kommt, zu einem folchen vergeblichen und fruchtlofeu Ge- brauch gebildet , clafs es zum wenigüen den O 3 riey-
%U\ Zweites Buch.
vierten Theil feines Dafeyns beftändig ohne Bewufstfeyn, zu keinem Nutzen für fich feibft oder ein anderes Wefen der Schöpfung denken follte. Man denke nach, und man wird kaum eine Bewegung der vorftellungs- lofen Materie in dem Univerfum finden, wel che von fo wenig Nutzen und fo verfchwen- det ift.
§. \6.
Wir haben zwar zuweilen im Schlafe Vor- ßellungen mit Bewufstfeyn und behalten fie im Gedächtnifs, Allein wie ausfchweifend, unzufammenhängend und wie wenig der Vollkommenheit und den Gefetzen eines ver- nünftigen Wefens angemeffen fie find, brau- che ich denen nicht zu fagen, welche wiffen, was Träume find. Nur die Frage wünfchte ich beantworter zu fehen , ob die Seele we- niger vernünftig handelt , wenn fie für fich und als wäre fie vom Körper getrennt, oder wenn fie in Verbindung mit dem Körper denkt? ift das lezte, fo muffen fie annehmen, das die Seele die Vollkommenheit, vernünf- tig zudenken, dem Körper verdanket; ift
das
Elftes Kapitel. 2iS
das erfte , fo mufs man lieh wundern , dafs
iinfre Träume gröfstentheils fo thüricht und
unvernünftig find, und djfc die Seele von
ihren vernünftigem Selbftgefprächen un(J Betrachtungen nichts behält.
§• 17-
NachdieferHypothefemüfste die SeeleVorftellungen haben, wel. che weder aus der Empfindung noch aus der Reflexion ent- ftanden find; denn von beiden kommt da keine Spur vor.
Wenn man fo zuverfichjlich behauptet, die Seele denke zu jeder Zeit, fo mücht ich gerne wiffen, von welcher Art die Vorftellun- gen in der Seele eines Kimles find, vor oder gerade während der Vereinigung derfelben mit dem Körper, da fie noch keine durch die Sinne erhalten hat. Die Träume find meiner Einficht nach nicht« als eine Reihe Vorft eil ungen aus dem wa- chenden Zuftaiule. nur dafs fie auf eine fehfaiue Art zufammeu goreihet find. Sollte O 4 nicht
3si6 Zweites Buch.
nicht die Seele von ihren eignen, nicht von den Sinnen und der Reflexion abge- leiteten Vorftellungen — und folche müTste fie haben, wenn fie denkt, ehe fie Eindrüke von dem Körper erhält — einige in dem Gedächtnifs aufbewahren ? Sollte fie nicht aus ihrem ifolirten Denken, welches fo ge- heim ift,dafs der Menfch felbft nichts davon er- fähret, den Augenblick, da fie aus ihrer Träumerei erwacht , einige Vorftellungen feft halten, und den Menfchen mit neuen Ent- deckungen erfreuen? Das wäre eine ATt von Wunder, Wer mufs es nicht für ungereimt halten, dafs die Seele, die in ihrem ifolirten Zuftande des Schlafs fich viele Stunden mit Vorftellungen befchäftiget, doch nicht ein ein- zigesmal bei denjenigen verweilet, weiche fie nicht durch die Sinne oder durch die R e- flexion erhiplt oder dafs fie in dem Gedächt- nis nur die Spur von folchen erhält, welche durch den Körper veranlagt, dem Geilte weni- ger natürlich feyn niüllenV Es ift fonderbar, dafs die Seele nicht ein einzigesmal in dem Le- ben eines Menfchen einen von ihren reinen an- gebornen Begriffen die lie befafs, ehe fie poch etwas vom Körper entlehnte, zurück- ruft,
£rftcs Kr, piteL 21?
juft, und dem Bewuf'treyn eines wachenden Menfchcn nie andre Vorftellungen darfteÜt, als welche nach dem Fafse riechen, und ihre Entftehung ofFenbar aus der Vereinigung der Seele mit dem Körper herleiten. Wenn dia Seele immer denkt und fchon Begriffe hat, ehe fie mit dem Körper vereiniget war, oder von diefem Vorftcllungen bekam, fo müfste fie , folhe man denken , in dem Schlafe ihre eingebornen Begriffe erneuern , und in dem Zuftande, da fie alle Gemeinfchaft mit dem Körper aufgehoben hat, und für fich denkt, zum wenigften elriigernale fich nur mit fo!» chen natürlichem und geiitigern Vorftellun- gen beschäftigen, welche fie in fich feJbfthat, und nicht vom Körper oder von ihrer Bear- beitung der erworbenen abgeleitet fird* Da aber kein Menfch fich diefer Vorstellungen je erinnert, fo müilen wir aus diefer Hvpo- thefe fchliefsen, dafs die Seele entweder ein eignes Erinnerungsvermögen hat, das dem Menfchen fehlet, oder da s das Gedacht» nifs fich nur auf die Vorltelhmpen beziehet, welche vom Körper oder von den darauf gerichteter! Thätigkeiten der Seele ernfprin- gen.
0. 5 §. I|t
2i8 Zweites Buch.*
§. i8t
Wie kann man erkennen, dafs die Seele immer denkt? Denn die Ter Satz mufs bewiefen wer- den, wenn er nicht durch fich felbft evident ift.
Ich möchte wiffen , wie diejenigen , wel- ehe fo dreufie behaupten, dafs die Seele, oder welches eins ift, dafs der Menfch im- mer denkt, zu diefer Kenntnifs gekommen find, ja wie fie felbft wiffen können, dafs fie immer denken, da fie fich deffen nicht immer bevvufst wer» cl en. Ich befürchte, man hat hier eine Ueber- »eugung ohne Gründe; und eine Erkennt-* nifs ohne Wahrnehmung ift doch wohl mir* ein undeutlicher zum Behuf einer Hypothefe angenommener BegrifF, aber keine von den klaren Wahrheiten , deren Ueberzeugung uns entweder durch innere Evidenz oder durch die unwiderfprechliche Erfahrung abgenöthiget wird. Denn alles, was fiehöchfiens zur \ erthei- digung des Satzes fagen I'önnen , ift, es fey möglich, dafs die Seele immer denke, ohne dafs
fich
Elftes Kapitel. 219
fleh das Bewufstfeyn davon allezeit im Ge- dächtnifs erhalte. Allein es ift eben fo mög- lich, dafs die Seele nicht allezeit denkt, und noch wahrfebeiulicher , dafs fie zuweilen nicht denkt, als dafs fie fich oft lange Zeit nach einander mit Vorfiellungen befchäftigen, und in dem nächften Augenblick nichts davon willen füll.
§. 19,
Es ift fehr u n w ahr f ch ei n li ch»
d a f 0 f i c h ein Menl'ch mit Vor- ftellungen befchäftige, und den nächften Augenblick kein Bewufstfeyn davon habe.
Wenn die Seele denken und der Menfcli es fich bevvufst werden fo II , fo macht man, wie ich fchon gefagt habe, aus Einem »VJenfchen zwei Perfonen. Und nach einer aufmerkfa- men Erwägung der Worte, deren fich die Freunde diefer Behauptung bedienen, follte man faft glauben, dafs das wirklich ihre Meinung fey. Denn (ie fagen , foviel ich mich erinnern kann , nie , ein M e n f c h ,
Ion-
2,2.0 Zweites Buch.
fondern die Seele denkt immer. Kann aber die Seele denken, ohne dafs auch der Menfch denkt? Oder kann ein Menfch den- ken , ohne fich deiFen- bewufst zu feyn? So etwas würde man bei andern Leuten für ein rinverfiändlichei Gewafch halten. Wenn fi« fagen; der Menfch denkt allezeit , aber er hat nicht immer ein Bewnrsffeyn davon, fo können He mit eben dem Rechte Tagen: der rnenfchliche Körper iü ausgedehnt, aber er hat keine Theile. Denn ein ausgedehnter Körper ohne Theile ift fo denkbar, als das Denken ohne Bewufstfeyn. Sie kön- nen, wenn es ihre Hypothefe erfodert, mit 'eben fo viel Grund Tagen j der Menfch ift ina- jner hungrig, aber er hat nicht immer ein Ge- fühl davon. Und doch beftehet der Hunges eben in diefem Gefühl, To wie das Denken in dem Bewüfsrfeyn , dafs man denkt» Viel- leicht werden he Tagen ; ein Menfch ift {ich Feines Denkens immer bewufst. Allein wo- her willen fiedas? Das Bewufstfeyn ift Wahr- nehmung deffen, was in eines jeden Men- fchen eignem Gemüthe vorgeht. Kann ei'a anderer Menfch wohl wahrnehmen, dafs ich mir eines Dinges bewufst bin, wenn ichfelbft
es
jErftes Kapitel. £-2±
es nicht wahrnehme? Die Erkenntnifs eines JVlenfchen kann nie über die Grenzen feiner Erfahrung Geh erftrecken. Man wecke einen aus einem tiefen Schlaf auf, und frage- ihn, was er denleiben Augenblick dachte; wenn er fich keines Gedankens bewufst ifi, fo mufs es ein trefiieher Seher der Gedanken feyn, der ihm betheuern kann , er habe wirklich gedacht. Könnte er ihn nicht init noch mehr Grund überzeugen, er habe gar nicht ge* fchlafeu? Diefs Überfielt alle Philoluphie. Nichts Geringeres als eine Offenbarung kann einem ändern Gedanken meines Ichs entde- cken, die ich felbfi nicht da finde. Was für durchdringende Augen inüfsten nicht diejeni- gen haben, Welche untrüglich leheri wollen, dafs ich denke, wenn gleich mein Bewufst. feyn nichts davon weifs, und meine eigene1 Erklärung dem widerspricht, und doch be- merken können, dafs die Hunde und Ele- phanten nicht denken, obgleich diefe Thiere alle mögliche Beweife davon geben, ausge- nommen , dafs De es durch die Sprache nicht 2u erkennen geben können. *) Diefs dürfte
viel«
*) Man fehe- die Anmerkung za d, §. 12,
£22 ' Zweites Euch,
vielleicht noch über die geheime WiflenfchaFf. der Rofenkreuzer gehen» Denn es fcheint doch warlich leichter Geh unüchtbar in machen, als eines andern Gedanken zu of- fenbaren, von denen dieferfelbft nichts weifs* Doch man darf nur die Seele als eine unauf- hörliche denkende Subftanz definiren, fo Gnd alle Schwierigkeiten gehoben. Wenn eine folche Erklärung noch etwas gelten foll, fo fehe ich doch nicht, wozu fie nutzen foll, auITer etwa dazu, viele Menfchen auf den Gedanken zu bringen , dafs lie gar keine Seele haben, wenn fie bemerken, Welch einen gvofsen Theil des Lebens fie ohne Denken zu- bringen« Keine Definition, keine Hypothefe irgend einer Sekte ift, meiner Einficht nach, im Stande, eine allgemeine Erfahrungswahr- heit umzuftofsen , Und vielleicht rühren alle unnütze Streitigkeiten und fo viel vergebli- cher Lerm in der Welt nur davon her, dafs jwan den Schein haben will, mehr zu Witten, als man wahrnehmen kann»
§. 2C,
Erftea Kapital ti.b
$. 20,
Es giebt keine andern Vor ft ei- lungen, als welche aus der Em- pfindung und der Reflexion entfpringen. Diefs wird durch Beobachtungen an Kindern klar.
Ich fehe alfo keinen Grund, anzunehmen, tlafs die Seele Tchon denke, ehe fie nochdurchdieSiuneVorftellungen, als Materialien zum Denken erhält. In dem VerhältniTs. als (ich diefe vermehren, und in dem Gedächtnifs aufbewahret werden, wird auch die Denkkraft durch die Uebung in allen ihren verfchiedenen Aeufferungen ausgebildet. Eben diefs gefchiehet auch nachher, wenn das Gemüth diefe BrgrifFe zufammen fezt und über feine Thätigkeiten »eflectirt. Hierdurch vermehrt fich nicht nur der Vorrath an Begriffen, fondern auch die Erinnerungskraft, die Einbildungskraft, die Vernunft und andere Kräfte erlangen eine gröfsero Fertigkeit,
§. 2l<
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*24 Zweites Buch;
§i 12.
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Wenn man fich durch Beobachtungen und
die Erfahrung belehren lallen, und nicht feine Hypothefen zu Gefetzen der Natur ma- chen will, fo wird man an neugeborneri Kin- dern wenig Spuren einer Fertigkeit der Seele im Denken, noch weit weniger aber imS'chiie* Isen entdecken» Sollte die Seele fo viel den- ken, und dabei keine Schlüfse machen? Das läTst fich kaum denken. Die Kinder, die erft auf die Welt gekommen find, bringen den größten Theil der Zeit mit Schlafen zu, und erwachen feiten daraus , wenn fie nicht der Hunger andießruft der Mutter treibt, oder die unbehaglich fie Empfindung, der Schmerz, oder eine andere heftige Erschütterung dei Körpers die Aufmerkfamkeit der Seele darauf lichtet« Wenn man üiefe Fakta bedenkt, fo ■wird man Fich vielleicht zu dem Schluffe be- rechtiget glauben, dafs der Zuftand des Fö. tus im Mutterleibe nicht lehr voii dem Pflan- aenleben verschieden iß, fondern dafs er den groTsteh Theil der Zeit' ohne Vorßellungeii und Gedanken verlebet, und faß ohne alle Tfalltigkeit an einem Orte verfchikft » wo ei
feine
EiTtea Kapitel. 32$
feine Nahrung nicht Tuchen mufs; wo es von einer allenthalben gleich fanften und faß gleich temperirten Flüf-igkeit umgeben ift; wo auf die Augen kein Lichtftrahl fällt, und die verfchloilenen Ohren Keinen Schall auf- nehmen; wo es, um die Sinne zu afFiciren» gar keine oder nur eine geringe Mannichfal, tigkeit und Abwechslung der Gegenftände giebu
§. 22.
Man beobachte die Veränderungen, tvel* che mit einem Kinde von feiner Geburt an vorgehen, und man wird finden, dafs die Seele immer mehr aus ihrem Schlummer er- wacht, je mehr Vorftellungen ihr die Sinne zuführen, und in dem Verhältnifse mehr denkt, als fie mehreren Stoff dazu erhält, Mach, einiger Zeit Fängt das Kind an , diejeni- gen Objekte zu erkennen, welche durch nä- here Verbindung mit ihm dauerhaftere Ein- drücke zurückgelaffen haben. So lernt es nach und nach Perfonen, mit denen es täg- lich umgehet, kennen, und von fremden un- terfcheiden , -— ein Beweis , dafe es anfängt, P die
ß26 Zweites Buch,
die Vorftellungen , die es durch die Sinne erhält, feft zu halten und zu vergleichen. Auf diele Weife läfst fich die ftufenweife Aus- bildung des Gemüths beobachten, wie es nach jenen Vorübungen zur thätigen Aeufse- rung anderer Vermögen» die Begriffe zu ent- wickeln, zu verbinden, zu abftra- hiren, zu urt heilen, und über alle diefe Handlungen zu reflektiren fori- fchreitet. Ich werde weiter unten Gelegen- heit finden, von dielen Vermögen weitläufiger zu, handelni
§♦ 23,
t)ie richtige Antwort auf die Frage ♦ wenn ein Menfch anfängt, Vorftellun- gen zu haben, ift alfo meiner Einficht nach, diefe: wenn er den erften Sin- neneindruck erhält. Denn da keine Vorftellungen in der Seele zu finden find, ehe fie welche durch die Sinne erhält, f« find fie, wie ich mir die Sache vorftelle, mit den Eindrücken der Sinne gleichzeitig. Ich verftehe aber unter einem Eindruck (Senfa- tion) eine Bewegung oder Veränderung in
irgend
Erfteä Kapitel. <iV>
irgend einem Theile des Körpers, infofem fie eine Vorstellung in dem Verftande hervor- bringt. An dielen , welche äufsere Gegen- stände auf die Sinne machen , fcheint die Seele zuerft ihre Thätigkeiten z, B. das Wahrnehmen, Erinnern, Beach- ten, S c h 1 i e f s e n u. f. wt in Wirkfamkeit zu fetzen.
§. 24.
Ürfprung aller unfrer Erkennit- nif s;
Nach einiger Zeit fängt die Seele an übes jhre eignen AVirkungen zu reflectiren , wel- che die durch die Sinne erlangten V orftellun» gen zum Gegenßande haben , und verfchafft fich dadurch eine neue Reihe von BegrifFen, welche ich Begriffe der Reflexion nenne. Sowohl die Eindrücke, Welche äufsere Gegenftände auf unfere Sinne hervorgebracht haben, als auch die felbftthätigen innern Wir- kungen , die von innern der Seele zugehöri- gen Kräften entfpringen , und durch ihre Reflexion Gegenftände ihrer Betrachtung wer« P 2 den,
22Ö Zweites Buch,
den, find, wie fchon gefagt, die Quelle aller unfrei Erkenntnis. Das erfte Vermögen des menfchlichen Verbandes befte- het alfo in der Fähigkeit der Seele, die Ein- drücke aufzunehmen , welche theils durch dij Sinne von äufsern Gegenfiänden, theils bei der Reflexion von ihren eignen Thä- tigkeiten auf fie gemacht werden. Und diefs ift der erfte Schritt zur Entdeckung eines Dinges, und die Grundlage, aufweiche das ganze Gebäude von Begriffen , die die Men- fchen auf dem natürlichen Wege erlangen können, errichtet werden muFs. Alle erha* jbenen Gedanken, welche (Ich über die VVol* ken , ja bis zu dem hohen Himmel fchwin« gen , finden hier ihren Urfprung und den Grund, der ße trägt. Wenn auch die Seele den gröfsten Umfang von Kenntniilen durch- läuft , und fich in die entlegendften Specula- tionen zu erheben fcheint, fo gehet ße doch nicht einen Punkt über die Begriffe hinaus, welche die Sinne oder die Ref lexio n für ihre Betrachtun» dargeftellt haben.
§• 2?,
Erftes KapiteJ. SJj
§• 25.
Der Verftand verhält fich bei dem Empfangen der einfachen Vorftellungen gr ö f ste ntheils leidend.
Hierbei verhält fich der Verftand blos leidend, und es fteht nicht in feiner Ge- walt, ob er diefe Elemente und eigentlichen Materialien der Erkenntnifs haben will, oder nicht. Denn die meiften Objekte unfrer Sin- us dringen der Seele die einzelnen Vor- ftellungen auf, ße mag fie wollen oder nicht; und fie kann nicht thatig feyn, ohne zum wenigften einige dunkle Vorftellungen von ihren Thätigkeiten zurückzulaufen. Wenn ein Menfch denkt, fo mufs er nothvvendig einige Kenntnifs von diefer feiner Handlung nehmen. Diefe ein fa c ben Vorftellun- gen nicht aufzunehmen, wenn fie der Seele gegeben werden, oder zu verändern, wenn fie eingedrückt find, oder wieder zu vertil- gen, und felbftmächtig neue hervorzubrin- gen, ftehet eben fo wenig in der Gewalt des Verftandes, als der Spiegel die Bilder, von Jen vor ihm flehenden Objekten zurückwei- P 3 fen,
230 Zweites Buch.
Ten, ändern oder zernichten kann. Die See- le mufs die Eindrücke aufnehmen , fo wie die uns umgebenden Körper die Sinnenorga- ne auf verschiedene Art affineren, und fie kann
das Bewufstfeyn der daran geknüpften Be°
griffe auf keine Weife entfernen.
Zweites Kapitel.
oa einfachen Vorf tellungeti.
Einfache Wahrnehmungen.
Z<ur befsren Einficht in die Natur, die Art vnd den Umfang unfrer Erkenntnifs dient vorzüglich die Bemerkung, dafs unfere Vor- stellungen theils einfach tbeils zufam- mengefezt find.
Die
Zweites Kapitc!. 23»
Die BeTchafFenheiten (Qualitäten), wel- che unfre Sinne afficiren , find zwar in den Dingen felbff, fo vereiniget und verwebt, dafs keine Trennung und Abfonderung bei ihnen flatt findet; allein die Vorftellungen, welche fie in der Seele hervorbringen, gehen doch offenbar einzeln und nicht verbunden durch die Sinne. Denn obgleich das Geficht und das Gefühl oft zu gleicher Zeit von einem. Objekte verfchiedene Vorftellungen aufnimmt, 2. B. man flehet auf einmal die Farbe und die Bewegung eines Körpers ; die Hand füh- let an einem Stück Wachs das Sanfte und die Wärme: fo find doch die einfachen Vorftel- lungen, welche auf diefe Weife in einem Objekte vereiniget find, eben fo durchaus verfeinerten, als diejenigen, welche durch verfchiedene Sinne in die Seele gelangen. Die Kälte und die Härte, welche man an einem Stück Eis fühlet, find eben fo ver- fchiedene Voniellungen in der Seele, als der Geruch und die weifse Farbe der Lilie, oder als die Siifsigkeit des Zuckers und der GerucU der Rofe. Das klare und deutliche Bewufst» feyn diefer einfachen VorfteUungec ift die hüchfie Klarheit und Evidenz für den P 4 Men<
SZz Zweites Buch.
Menfchen, denn fie find an fich Dicht zufam» tnengefezt, in keine verfchiedenartige Vor- ftellungen auflösbar, und enthahen nichts als eine einförmige Wahrnehmung (appearance) oder Vorftellung der Seele.
§♦ 2.
Die Seele kann fie wede r hervor- bringen noch zernichten.
Diefe einfachen Vorftellungen, die Mate- rialien aller unfrer Erkenntnifs werden der Seele nur allein auf den beiden oben erwähn- ten Wegen nehmlich durch die Sinne und die Reflexion zugeführet. Der Verftand kann den erlangten Vorrath von einfachen Vorftellungen erneuern, vergleichen und auf eine unendliche mannichfaltige Weife ver- binden, und nach Willkuhr neue zufammen- gefezte Vorftellungen daraus bilden. Aber eine neue einfache Vorftellung, die die Seele nicht auf die vorhin beftimmte Art erhielt, durch Scharffmn oder Veränderung der Gedanken zu finden oder zu bilden, das überfteigt die Macht des erhabeuften und
weit-
Zweites Kapitel. 233
weittimfahendften Verftandes eben fo fehr, als eine von den fchon vorhandenen zu ?.ef' nichten. Der Wirkungskreis des Menfchen in der kleinen Welt feines eignen Denkens und feine Herrfchaft in der grofsen Hchtba- Ten Welt ift beinahe in einerlei Grenzen ein- gefehloflen. In der lezten reichen feine Kräfte, wenn Fe auch noch fo fehr durch Kunft und Einficbt unterftützt werden , doch nicht weiter, als die fchon vorräthigen Mate- rialien znfammenzufetzen und zu trennen, aber fie find zu ohnmiiehti? , das kleinfte Theilchen Materie zu fchaffen , oder einen wirklichen Atom zu zer Rohren, Diefes Un- vermögen findet der Menfch auch in feinem Selbft, wenn er eine einfache Vorstellung durch feinen Verftand bilden will , die er nicht durch die Sinne von liufsern Objekten oder durch die Reflexion von den Thätigkei- ten feines Gemüths empfieng. Man mache nur einen Verfuch , ob man durch die Phan- tafie eine Vorftellung von einem Gefchmack oder einem Geruch erzeugen knnn, wovon fein Gaumen und Nafe nirb. ■ fenvpfufiden bat; und wenn (bs möglich ift ; fc will ich auch glauben, dasein Plinder richtige urt'd .':.
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Zweite» Buch.
Menfchen, denn fie find an fich nicht zufam» mengefezt, in keine verfchiedenartige Vor- ßellungen auflösbar, und enthalten nichts als «ine einförmige Wahrnehmung (appearance) oder \ orflelluug der Seele.
§. 2.
Die Serie kann fie weder hervor- bringen noch zernichten.
Diefe einfachen Vorftellnngen , die Mate- rialien aller unfrer Erkenntnifs werden der Seele nur allein auf den beiden oben erwähn- ten Wegen nehmüch durch die Sinne und die Reflexion zugeführet. Der Verfland kann den erlangten Vorr.ith von einfachen Vorftellungen erneuern, vergleichen und auj eine unendliche mannichf<dtige ^| binden, und nach Willköhr gefezte \ orflellungen dir eine neue einfac die Seele nicht aufc erhJeh , durch der rrp(Jankedj überfteigt
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Zweites Kapitel. 235
weitumfahendften Verbandes eben fo fehr, als eine von den fchon vorhandenen zu zei' »lichten. Der Wirkungskreis des Menfchen in der kleinen Welt feines eignen Denkens und feine Herrfchaft in der grnfsen fichtba- ren Welt ift beinahe in einerlei Grenzen ein- gefchloffen. In der lezten reichen feine Kräfte, wenn fie auch noch fo fehr durch Kunft und Einficht unterftützt werden , doch nicht weiter, als die fchon vorrätigen Mate- rialien zufammenzufetzen und zu trennen, aber fie find zu ohnmächtig, das kleinfte Theilchen Materie zu Schaffen , oder einen wirklichen Atom zu zerftöhren. Diefes Un- vermögen findet der. Menfch auch in feinem Selbft, wenn er eine einfache Vorftellting' durch feinen Verfiand bilden will , die er nicht durch die Sinne von äufsern Ol oder durch die Reflexion den
ten feines Gemüths nur einen Verfuch , tafie eine V01 oder einem fein Gaumen 11: und wenn das 1. glauben ,
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234 Zweites Buciii.
che Verkeilungen von den Farben und ein Tauber von den Tonen hat,
§. 5.
Aus diefem Grunde kann man an Körper» nichts weiter als Töne, Gefchmackseiridrücke, Gerüche, fichtbare und fühlbare Befchaffen!- heiten vorftellen, ob es gleich nicht undenk- bar ift, dafs Gott Gefchöpfe mit andern Or- ganen und mehreren Mitteln, Kenntniffe von der Rörperwelt zu erlangen, als den fünf Sin- ne« des Menfchen, bilden konnte, und wenn auch die Körper noch weit mehreren Stoff zu Vorftellungen in ihrer Einrichtung enthalten feilte« Hätten die Menfchen nur vier Sinne, (b Würden alle Gegenstände des fünften fo weit aufser der Sphäre unfrer Kenntnifs, Vorfiel' lang und Einbildungskraft liegen, als es jezt die Objekte des fechften, Siebenten oder achten Sinnes nur immer feyn kqnnen. Es würde immer eine grofse Ver- jneffenheit feyn , die Möglichkeit folcher We» fen mit mehreren Sinnen in einem andern The !e des unermeßlichen Univerfums zu leugnen» Wenn lieh der Mcnfch nicht aus
Stolz
i5weite3 Kapitel. 23$
Stolz für das vollkommenfte Gefchöpf hält, fondern die Unermefslichkeit diefes Weltge- büudes , die grofse Mannichfaltigkeit in dem kleinen unbeträchtlichen Theile deffelben, worin er fein Wefen treibt, Teiüich überle- get, fo wird er es nicht für unmöglich halten, dafs es in andern jTheilen andere von uns verfchiedene denkende Wefen geben könne, von deren Erkenntnifsvermögen er fo wenig eine Vorftellung oder nur Ahndung hat, als ein iq einem Schranke eingefch'ofTener Wurm, von den Sinnen und dem Verftaade eines Menfchen. Eine folehe Mannichraitiokeft und Vortieilichkeit entfprichi der Weisheit und Allmacht des Schöpfers. — Ich bin hier der gewöhnlichen Meinung gefolgt , welche- den Menfchen nur fünf Sinne beilegt, ob man gleich mit gutem Grunde mehrere zäh- len kann. Untcrdeffen begünüi-et doch die eine Vorausfetzung fo gut als die andere anei- ne Behauptung,
Drittes
23$ Zweites Buch.
Drittes Kapitel,
Von Vorfiellungen vermittelt! eines Sinne?,
§■ 1-
-Eintheilung der einfachen Vorftel- .lungen.
Zj\\x heuern Kenntnik der Vorfiellungen, wel- che wir durch die Sinnlichkeit erlangen, wird es nicht unzweckmäßig feyn, wenn wir die verfchiedenen Wege betrachten, auf welchen fie fich der Seele darfteilen , und vorftellig werden.
Erftens, Einige von dielen Vorfiellun- gen kommen nur vermittelft eines Sinnes in die Seele.
Zweitens. Andere werden der Seele durch das Medium von mehreren Sinnen zugeführet.
Drit-
Drittes Kapitel. 237
Drittens. Andere erhält üe blos durch die Reflexion,
Viertens Einige Vofflellungen bieten fich der Seele auf jedem Wege der Sinnlichkeit und der Reflexion feibft dar.
Wir werden fie nach diefen verfchiede« nen Gefichtspunkten befonders betrachten,
Erftens. Es giebt Vorftellun- gen, welche nur durch ein Sinn» orsan. das zu ihrer Aufnahme be- fonders eingerichtet ift, Eingang in die Seele finden, z. B, das licht und die Farben , alsWeifs, Roth, Gelb, Blau reit ihren verfehiedenen Abftufungen , Sch3t- tirungen und Vermifchungen, als Grün Scharlach, Purpur, Meergrün u. f. w. durch die Augen , alle Arten von Tönen und Schäl- len durch das Ohr; die verfehiedenen Ge. Tuche und Gefchmacksempfindungen durch die Nafe und den Gaumen. Wenn diefe Or- gane oder Nerven , welche diefe Vorftellun* £en von Aufsen in das Gehirn, das fo zu ta>
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Drittes Kapitel.
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237
Drittens. Andere erhalt üe blos durch die Reflexion,
Viertens Einige Vofftellunjren bieten fich der Seele auf jede in Wege der Sinnlichkeit und der Reflexion feibft dar.
Wir werden fie nach diefVn verfchiede- nen Gefichtspunkten belonders betrachten.
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Erftens. Es giebt Vorftellun- gen, welche nur durch ein Sinn- organ, das zu ihrer Aufnahme be- fonders eingerichtet ift, Eingang in die Seele finden, z. B, das licht und die Farben, alsWeifs, Roth, Gelb. Blau mit ihren verfchiedenen Abstufungen, Schät- zungen und Vermifchungen, als Grün Scharlach, Purpur, Meergrün u. f. w. durch die Augen , alle Arten von Tönen len durch das Ohr; die verfehle rüche und Gefchmack«»mpfindun
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2}Q Zweites Buch,
gen das Audienzzimmer der Seele iß, einfüh- ren, f'o zerrüttet find, dafs fie . ihren Dienfl: nicht verrichten können , fo finden diefe Vor- ftellungeu keine andere verborgene Thüt oder keinen andern .Kanal, auf dem fie könn- ten eingeladen und ins Bewufstfeyn gebracht werden«
Die merkwürdigßen Vorftellungen ^ wel- che dem Gefühl angehören, find Hitze j Käl- te und Dichtheit; die übrigen, deren Inhalt theils die wahrnehmbare Verbindungsart der Theile , z» B. das Glatte und Kauhe, theils dergröfsere oder kleinere Zufarnmenhang der Theiie, z. B. Hart, Weich, Zähe, Spröde faft nur allein ausmacht , find bekannt genug.
§. i*
Alle einfachen Vorftelluhge'ß jedes Sinnes einzeln aufzuftellen ilt nicht nöthig , aber auch nicht möglich, weil es weit mehre« ie giebt, als wir mit Worten be- zeichnen können. Für die grofse Mari- cichfaUigkeit von Gerüchen , welche faft eben fo zahlreich, wo nicht noeh zahlreicher;
als
D~i.it tes Kapitel. 23q
als die Arten der Körper find, fehlt es uns faß gänzlich an Wolter, Durch die Worte wohlriechend , ftinkend, mit denen wir uns begnüngen mülTen , kürtnen wir die Ge- rüche nur in zwei Klaffen, angenehme und unangeneh;ne bringen. Aber der Geruch der Kofe und, des Veilchens Gnd 2\rar beide an- genehm, aber doch dabei ganz verfchiedene Vorftellungen. In Anfehung der verschiede- nen Gefchmackseindrucke, die wir durch den Gaumen erhalten, ift unfre Sprache nicht leicher. SüTs, Bitter, Sauer, Herbe, Sal- zig find faft die einzigen Worte, womit wir die zahilofe IVIannichfaltigkeit von Modifica- tionen des Gaumens benennen können, wel- che nicht allein bei jadeiu Gefchöpf, fondern auch bei jedem einzelnen Theile derfeiben Pflanze , Frucht und Thierart rerfchiedea find. Eben das läfst Geh auch von den Far- ben und Tönen fagen. Ich werde mich daher in der folgenden Abhandlung von den ein- fachen Vorftellungen nur auf diejeni- gen einfehränken t welche au meinem Plan Wefentlich gehören, oder an fich wenige! deutlich Gnd , ob fie gleich als Beftandtheile der zufamnaengefezten Begriffefehr
24o Zweites Buch."
oft vorkommen. Uuter die lezten gehört der Begriff der Dichtheit; ich werde daher von ihm in dem nächften Kapitel handeln«
Viertes Kapitel,
Vou der Dichtheit ('Solidity)*
Wir erlangen diefeh Begriff durch das Gefühl.
W ir erlangen den Begriff der Dicht- heit durch unfer Gefühl. Er entfpringt von dem Widerftande, welchen ein Körper dem Eindringen eines andern in den nehu.lichen Raum folange enrgegengefezt, bis er denfel- ben veTläfsti Kein Begriff wird uns durch die Sinne fo ufiabläfsig zugeführt, als diefer* Bei jeder Bewegung, bei jedem StilHtand, in jeder Lage fühlen v;ir etwas unter uns, das uns trägt, und das tiefere Einfinken verhin- dert. Die Körper , die wir täglich in Hän-
dert
V'ertes Kupitel, iftf
den haben, führen uns atirdie Währnehrriunf^ di ('s He} ?o lange He von unfern Händen ge- dvückt werden, dtnch eine unwuUrftehik he Kraft die völlige Annüherun.: derselben Ver« hindern. D;^jeni"e, w..? i!:s A:i:\; h«n:i zweie* E?r, die Geh • he&ege'ri
verbindert, nerinp ich die O i c h t h e i'i :Cri iVill hier nicht darüber ftreiten , üb di' fe Er> Klärung des Worts dicht feiner klffpt angli- chen Bedeutung näher kommt, ah die inatue-. ihafifehö. Genug; der gbxX'öhnliche ßecrnff von der Dichrxreit verfr3gt fich mit <iie em Gebrauch de* Wortes wenn er ihn at
rßi [fertige?* Wollte man übrigen? diefe Dichtheit lieber V n d ur c h d r i n « li ( .- » k< 1 1 nennen, fo habe ich niebis dagegen Nur fcheint nur tia, Wort D i c h 1 1* e i t paffenden zun: Andruck diefes Begriffs, foutfhl um: der gewöhnliche Sprachgebrauch mit diefer Be* deunmg iihereinftimmt , als auch weil er ei- nen pofitiven Inhalt hat. Die U n H n r ch* dringlichkeit ift mehr negativ und viel- leicht mehr eine Folge d^r Dichtheit, ^ls he felbft. Diefer Begriff fcheint unter allen, mitdem K&pet an: innig [tön vtikriüpft und ihm wefentlich zu feyn. Die Dichtheit wifd Q daher
f 42 Zweites Buch.
daher nur an der Materie gefunden , und ift nur an ihr vorftellbar. Und ob "wir gleich diefe Eigenfcbaft nur an gröfsern Mafien der Materie wahrnehmen , die in uns eine Vor- ftellung erwecken können , fo erweitert doch die Seele den Umfang des Begriffes , den fie nur von gröfsern Körpermafsen erhalten hat» fo weit, dafs He ihn wie die Figur, als eine Eigenfchaft des kleinften Theils der Materie, Welche exiftiren kann, und als unzertrenn- lich von dem Wefen eines Körpers , in jedem Räume und ,von jeder Beschaffenheit, be- trachtet»
§♦ 2."
Das Dichte erfüllt den Raum,
Diefer Begriff ift ein Merkmal des Kör. pers. Wir denken uns daher das Dichte als den Raum erfüllend. Der Begriff von der Erfüllung des Raumes enthält eigentlich die- fes. Wo wir uns einen Raum vorftellen, den eine dichte Subftanz einnimmt, fo den- ken wir ihn fo erfüllt , dafs jede andre dich- te Subßanz daraus ausgefchloflen ift, und 2wei Körper, die /ich in gerader Richtung
auf
Viertes Kapitel. 2/ß
auf einander zu bewegen, fich nicht berüh- ren können , woferne nicht jene Subftanz, welche zwifchen beiden ift, in einer Linie» die mit jener Richtung nicht parallel ift, aus der Mitte heraustritt. Alle Körper, mit de- nen wir gewöhnlich zu thun haben , geben uns dielen Betriff in reichlicher IVlaaLe«
§. 3.
Die Dichtheit ift von dem Räume verf c hied en,
Der Widerftand , durch welchen ein Kör. per aus dem Räume, den er einnimmt, ande- re zurückhält, ift fo grofs, dafs keine noch fo grofse Gewalt ihn überwinden kann. Wenn alle Körper der Welt einen Tropfen WalTer von allen Seiten drücken , fo find fie doch nicht im Stande, den Widerstand diefes fonft fo kleinen gefchmeidigen Körpers gegen ihre Berührung aufzuheben , bis er ihnen aus dem Wege gehet. Hierdurch u n ter fch eid et fich unfer Begriff der D ic htheit von dem desblofsen Raumes, de-? keines Wider- Randes und keiner Bewegung icihig ift, und von dem gewöhnlichen Begtiff der Härte. Q 2 Denn
244 Zweites Euch,
Denn man kann fich zwei Körper in einer ge willen Entfernung vorftellen , welche fich einander fo lange nähern, bis jhre Oberflächen zu lammen treffen , ohne dafs fie einen andern dichten Körper berühren, und aus feiner Stelle treiben. Ohne jezt auf die Zernichtung eines einzelnen Körpers zurückzugehen , frage ich nur, ob man fich nicht ein^n einzelnen Kör- per fo in Bewegung denken kann, dafs kein andrer unmittelbar an deflen Stelle fortrückt. Die Möglichkeit eines folenen Begriffes liegt, wie ich glaube, am Tage. Denn der Begriff der Bewegung eines Körpers fchliefst fo we- nig den Begriff der Bewegung eines andern ein, als der Begriff der viereckigten Geftalt eines Körpers die Vbrftellung eines andern Viereckes. Ich frage nicht , ob die Körper fo exiftieren können, dafs die Wirklichkeit der Bewegung des einen nicht von% der Be- wegung des andern abhängt, — denn eine beftimmte Antwort darauf würde die Streit- frage wegen des leeren Raums febon ent- weder bejahend oder verneinend entfeheiden, •— fondern meine Frage gehet nur dahin : ob mau fich einen Körper in Bewegung denken- könne, während dafs andre ruhen? Und
das
Viertes Kapitel, 8^5
das wird niemand verneinen. Diefes vor- ausgefezt, fo giebt uns die veriafsne Stelle des Körpers einen Begriff von dem blofsen. Baume ohne Dichtheit, welchen ein andre» Körper einnehmen kinn , ohne Widerftand zu finden , oder einen andern aus feiner Stelle fortzudrängen. Wenn der Plumo- ftock in einer Wafferpumpe gezogen ift fo bleibt der Raum, den er erfüllte, der nehrn- liche, es mag ein anderer Körper an jenes Steile treten oder nicht. Dafs die Bewegung eines Körpers, nicht auch die Bewegung ei- nes neben ihm irn Räume befindlichen nach, fich ziehen muffe, ift kein Widerspruch; die Notwendigkeit einer folchen Bewegung be« ruhet nur auf der Vorausfetzungs dafs es kei- nen leeren Raum in der Welt giebt; nicht auE den deutlichen Begriffen von Raum und dem Dichten, welche fo verfchieden find, als. Widerftand und Stofs und ihr comradik,«' tjoriTches. Gegentheil. Dafs die lVlenfchen Vorftellungen von einem nicht erfüllten Räu- me haben, beweifen ihre Streitigkeiten über den leeren Raum augenfeheinlich, wie ich an einem andern Orte zeigen werde»
Q 3 §. 4*
$4* Zweite« Bück;
§. 4-
Va ter fchei düng des Begriffs von der Dichtheit und der Härte.
Hierdurch unterfcheidet fich auch die Dichtheit von der Härte, Iene befte- het in der Erfüllung des Raums und der Aus- fchliefsung anderer Körper aus denselben; diefe aber in einem feilen Zufamraen hange der materiellen Beftandtheile in wahrnehm- baren Matten fo, dafs das Ganze nicht leicht feine Geftalt ändert» Eigentlich legen wir den Körpern nur in Beziehung auf die Ein- richtung unfers eignen Körpers Härte und Weiche bei, indem wir denjenigen hart nen- nen, der uns eher Schmerz verurfacht, als dafs er durch den Druck eines Theiles un- fers Körpers feine Geftalt veränderte ; im Ge- gentheil aber ift er weich, wenn er die Lage feiner Theile nach einem leichten und un- fchraerzhaften Druck abändert.
Allein diefe Schwierigkeit, die Lage der wahrnehmbaren Theile , oder die Geftalt des Ganzen zu ändern, giebt dem härteften Kör- per nicht mehr Dichtheit , als dem weichften«
Der
Vioi'te» Kapitel, *47
Der Diamant ift im geringften nicht dichter als das Wafler. Denn obgleich zwei Ober, flachen von zwei Marmorftücken einander eher berühren muffen, wenn nur Luft oder WaJTer, als wenn ein Diamant zwifchen ihnen befindlich ift; fo liegt doch die Urfache da- von nicht darin, dafs die ßeftandtheile des Diamants dichter find, oder mehreren Wi- derftand leiften , als die des WaiTers, fondern dafs die lezten fich leichter von einander trennen lafsen , durch eine Bewegung nach der Seite ausweichen , und der Beruh* rung der zwei Marmorplatten Platz machen. Könnte man das lezte verhindern, fo würde Luft und Wafler eben fo gut als der Diamant die Berührung der Platten in Ewigkeit ver- hindern , und ihr Widerfiand wäre nicht we- niger als der Widerftand des Diamants für je- de Kraft unüberwindlich. Der weichfte Kör- per fo wie der härteße wird dem Zufammen- treffen zweier anderer Körper unüberwind- lich widerftehen, fo lange er in ihrer Mitte bleibt, und nicht aus dem Wege geräumt ■wird. Man fülle einen weichen nacbgeben- den Körper wohl mit Waffer oder Luft an, und man wird fogleich den Widerftand def- Q 4 fclben
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2/f8 Zweites Brich..
felben beobachten; und ein mit Luft ange- füllter Ballon kann- jeden übvriena&a , dajft nicht allein harte Körper die Berührung der Hände \ erhindern können« Tvoch ein Be- weis für die Dichtheit eines lo weichen Körper* , als das Wniler lft, ilt dt*r Ver- fuch, den man, wie ich gehört habe, in Florenz mit einer hohlen Kugel von G<, d antreibe. Man füllte nehmlicb diefe mit Waß fer an, verfchlofs die Oefnung fuiafahig, und brachte fie unter eine Prelle; als fie nun durch die größte Gewalt der Schrauben zu- faunner-gedrüf kt wurde, fo öfnete (ich das Waüer einen Weg durch die Zwilchenräume dieses dichten Metalls; und da es in fich kei- nen Raum zur nähern Vereinigung feiner Theile fand, fo drängte es Reh zur äufsern Oberfläche heraus, wo es in Tropfen, als Thau herabfiel, ehe die Kugel flachen gezwun- gen werden konnten, dein heftigen Druck der Mafchine nachzugeben.
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Viertes Kapite}. zfä
§. 5k
Auf die Dichtheit gründet ("ich der Anftofs, der W i d e r f t .-i n d, und die Bewegung durch den Sjo 1s,
l).7rth diefen Betriff der Dichtheit ifl die Ausdehnung eines Körpers von der A usd eh» un s des Raumes unterfchie- den. Jene ift nichts anders als, der Zufanu ing oder Uetigt- Verbindung dichter, trennbarer und beweglicher Theüe; diefe das iNehsneinandcrfevn nicht dichter unzer- trennlicher'i heile. Auf die Dichtheit der Körper gründet lieh auch ihr gegenfei tig er Anftofs, YVi a er i'ta nd und die Bewegung durch den S t o f s, Es giebt viele Deuker — und zu dielen be- kenne ich auch mich — welche von dem blofsen Räume und der Dichtheit klare und deutliche Begriffe zu belitzen glauben; und diefe find überzeugt, dafs fie lieh einen Baum denken können, ohne dafs in demsel- ben etwas Widerftand leittet, oder von einem Körper bewegt wird. Darin beitehet eben Q 5 ^er
ä5o Zweites Buch.
der Begriff des blofsen Raums, der für fie eben fo klar ift, als die Ausdehnung der Körper; denn die Vorftellung von dem Abftande zwifchen den entgegengefezten Sei- ten einer hohlen Fläche ift eben fo klar» man mag fich dichte Theile in demfelben vorteilen oder nicht. Auf der andern Seite find fie auch überzeugt , dafs fie einen von der Vorftellung des blofsen Raum» verfchied- jien Begriff von einem Etwas haben , das den Kaum erfüllet, durch den Srofs andrer Kör- per fortgeftofsen werden , oder diefer Bewe- gung widerfiehen kann. Wenn andere diefe beiden verfchiedenen Begriffe nicht unter- Fcheiden , fondern mit einander verwech- feln und für identifch anfehen, fo begreife ich nicht, wie Menfchen, welche einerlei Begriff mit verfchiedenen Worten oder ver« fchiedene Begriffe mit einerlei Wort bezeich- nen , fich verftandigen können» Eben fo gut mag ein Menfch mit gefundem Gehör und Geficht, der klare Vorftellungen von der Far- be des Scharlachs und dem Tone der Trompete hat , über die Scharlachfarbe mit einem Blinden fprechen, der, wie ich an ei- nem andern Orte erwähne > fich die Schar- lachfarbe
Vierte» Kapitel. 25»
laehfarbe als etwas dem Trompetenfchalle ähnliches voi Hellte.
Was die Dichtheit ift.
Wenn ich gefragt werde : was die Dicht- heit ift, fo ver weife ich den Frager an feine Sinne; er nehme einen Flintenftein oder einen Ballon zwifchen feine Hände, fuche diefe zu vereinigen, und dann wird er willen, was fie ift. Wenn ihn das noch nicht befriediger, fo verfpreche ich ihm] eine Erklärung über das was die Dichtheit ift, und worin fie be- ftehet , zu geben , wenn er mich vorher be- lehret, was das Denken ift, und worin es beftehet , oder eine vielleicht noch leichtere Frage, was die Ausdehnung und Bewegun» ift, beantwortet. Unfre einfachen Vorftel- lungen find das, was uns die Erfahrung lehret. Der Verfuch , fie noch über das durch Worte klärer zu machen, gelingt nicht befler, als die Bemühung, die Dunkelheit eines Blinden du*ch die Sprache aufzuhellen, und ihm durch Worte die Vorßellungen von Licht uad
Far-
i5s Zweites Buch/
Farbe einzuflößen. Der Grund davon wird au einem andern Orfe entwickelt werden.
^Fünftes Kapitel.
"Von einfachen Vorstellungen durch. Verfehle« dene Sinnej
Die Vorfrellungen, welche wir durch mehr als einen Sinnerlangen, find die Vorftellungen vom Räume oder von der Ausdehnung, von der G e f t a 1 1, Ru he und ß e w egung, Penn diele Gegenftände machen fowohl auf die Augen als auf das Gefühl Eindrücke, und die Vorstellungen von Ausdehnung, Gettalt Bewegung und Ruhe der Körper können durch beide Sinne in die Seele geleitet wer- den, ich zähle fie hier aber biosauf, weil ich an einem andern Orte Gelegenheit finden werde, weitläufiger von ihnen zu handeln»
Sechs-
Sechstes Kapitel* 255
Sechstes Kapitel.
Von einfachen VorJullungeii der E.eflexion,
Die Fe Vorftellungen entfp ringen aus der Thätigkeit, welche das Gemüthan ihren andern Vor-
^ ftellungen' äussern
W enn das Gemüth, nachdem es die Vor- fteilnngen , weiche wir in den vorhrrgehen- den Kapiteln erwähnt haben, von Auflen em- pfangen hat, feinen Blick auf fein Inneres richtet, und die auf diefe Vorftelbnjjen ee_ richtete Thätigkeit beobachtet, fg erhält es daher andere YorftcHungen , -welche eben fo gut, ah die von Auflendingen ein Ge^enfUnd der Betrachtung werden können,
§♦' 2.
Der Begriff von dem Vorf teilen
und dem Wollen, den wir aus der Reflexion erhalten.
Das Vorf teilen (perception) oder das D enken , und das VV o llen find uu
s£>4 Zweites Buch,
weit umfarsendflten und vornehmflen Hand- lungen des Gemüths. Sie kommen fo oft vor, und bieten (ich dem Nachdenken bei fo vie- len Gelegenheiten dar, dafs fie jedermann in fich wahrnehmen kann. Das Vermögen zu denken wird der Verftand, und das Vermögen zu wollen der Wille, beide Ver- mögen oder Fähigkeiten aber Seelenkräf- te (Faculties) genennt. Von einfachen Vor- ftellungen der Reflexion diefer Art, als Er- innern, Unter fcheiden, Schlie- fsen, Urtheilen, Erkennen, Glau- ben, u. f. w» werde ich weiter unten Ge- legenheit ßnden zu handeln.
Siebentes Kapitel«
Von einfachen Vorftellungen , welche fowohl
durch die Sinne als die Reflexion gegeben
werden.
Eis giebt andere einfache Vorftel- lungen, welche auf alle mögliche Arten
durch
Siebentes Kapitel. s55
durch die Sinne und die Reflexion der Seele zugeführt werden, nehmlich Vergnügen oder Luft und das Gegentheil S c h m e r z, oder Unluft, Kraft, Exiftenz, Ein» heit«
S. 2. Vom Vergnügen und Schmerz.
Luft und UnluTt find Vorftellungen, welche fich faft mit allen Vorftellungen der Sinnlichkeit und Reflexion verbinden. Beinahe jede Einwirkung der Auflendinge auf die Sin- ne, jeder aus dem Innerften des Gemüths ent- fprungener Gedanke kann in uns Vergnü- gen oder Schmerz hervorbringen. Unter Vergnügen und Schmerz verliehe ich alles, was uns wohl thut, und zur Laft fällt, es mag von Vorftellungen des Gemüths oder von den Veränderungen des Körpers entrin- gen. Befriedigung, Luft, Vergnügen, Glück- feligkeit, und im Gegentheil, Unbehaglich- keit, Unruhe, Schmerz, Quaal, Angft, Elend u. f. w. drücken nur verfchiedene Grade ei- ner und derfelben Art von Vorftellung aus, und gehören alle zu dem Umfang der Vorftel- lungen
256 Zweites Buch.
lungen , Ver £n üsen, Schmpr?, Luft, Unluft. Ach Werde mich in den ineiften Fällen der legten Ausdrücke bedienen, um alle einzelnen Vorftellungen diei'er Art zu bezeichnen«
§. 5,
Öer unendlich weife Urheber imfers Da« feyns-gab un? eine will küh*-ji che Macht über verschiedene Theile unfers Körpers, um fie nach Gntbefinden zu bewegen oder ruhen zu lafien , und dadurch auch uns felbft und an- dere Körper neben uns in Bewegung zu feixen, worin alle Thätigfcfeit des Körpers be- fiel1 t ; ergab ferner unferm Greifte das \ er- nten, in vielen Fällen die Vpjrftellungen zu wählen , über welche er nachdenken wilh; die UrierlVchung diefes oder jenes Gegen-, ftandes mit Be.'bnnenheh und A.ufnietkfamkeit 2u verfolgen, und uns zu denjenigen trifti- gen und körperlichen Thätigkfiten zu beftim- rnen , deren wir fähig ßjid ; es gefiel endlich auch feiner Weisheit eine Vorftellung von- Luft mit verschiedenen Gedanken und Empfindungen zu verknüpfen. Ohne diefe
Ver
Siebentes Kapitel, 257
Verbindung fehlte es uns an einem Beitim.- rnungsgrunde einen Gedanken dem aridem, eine Handlung der andern, Unacutiau^vtit der Aufmerkfamkeit , Thäugkeu der Lnmä- tigkeit vorzuziehen. L!nJ dinn würden wir weder unfern Rüiper bewegen, noch unfern Geift beCchäftiger; , fondem unfre \ orltti,un- gen und Gedanken ohne Zweek und Plan herum fchwärmen, und unbemerkten ;>chatten gleich, nach dem blinden Zutall erfchemen laflen , ohne darauf zu achten. Der Menfch obgleich mit dem Verftandes- und VYiüens- vermügen auvgerüftet , würde doch in einem folchen Zufiand faul und unthätig feyn, und feine Zeit in einem trügen Schlummer ver- träumen. Der weife Schöpfer fand es daher für gut, an gewifle Objekte und ihre Voiftel- lungen, wie auch an gewitfe Gedanken unfers Geiftes ein begleitendes Vergnügen zu knü- pfen, und zwar fo reichlich und in fo ver- fchiedenen Graden, damit die Fähigkeiten, die er uns gefchenkt hat, nicht ganz ungenützt und ungebraucht blieben.
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258 Zweites Buch,
§• 4-
Der Schmerz hat mit" dem Vergnügen ei- nerlei Wirkung und Zweck, nehmlich uns zur Thätiukeit anzukörnen. Denn wir find eben fo geneigt, unfre Kräfte anzuwenden, um den Schmerz zu entfernen, als Vergnügen zu erftreben. Nur diefs verdient noch dabei unfere Aufmerkramkeit, dafs oft durch eben diefelben Objekte und Vorftellun- gen Schmerz veruifacht wird, wel- che auch Vergnügen erzeugen. Die» £e innige \ erbindung beider Gefühle, wel- che Urfache ift, dafs wir oft bei den Vorftellungen Schmerz empfinden, wo wir Vergnügen erwarteten , giebt uns neue Veranlagung, die Weisheit und Güte unfers Schöpfers zu bewundern, der zur Erhal- tung unfrer Exiftenz mit dem Verhälinifs gewifler Dinge zu unfern Körper Schmerz veiknüpfte , damit wir dadurch vor dem Uebel gewarnt, das fie anrichten könnten, uns von ihnen entfernten. SeinZweck war aber nicht unfre Erhaltung fchlechtweg , fondern die Er- haltung jedes Theils und jedes Organs in fei- ner Vollkommenheit; deswegen verwebte er ia vielen Fallen mit denjenigen Vorftellun-
gen
Siebentes Kapite1. o.Sg
gen ein unangenehmes Gefühl , welche uns fonft Vergnügen machen. So wird uns die Wärme, welche in einem beftimmten Grade fehr angenehm ift, höchft peinlich, wenn fie zu einem höhefn fteigt, und felbft das ange- nehmfte finnliche Objekt, das Licht verurfacht eine ziemlich fchmerzhafte Empfindung, wenn feine intenfive und extenfive Gröfse das rich- tige Verhältnirs zum Auge überschreitet. Diefs iß eine weife Und wohlthätige Einrichtung der Natur, damit wir, wenn ein Objekt die Sinnorgane, deren Bau äufserft fein und zart feyn mu^ste, durch feine zu ftarke Einwir- kung in Unordnung bringen könnte, durch den Schmerz gewarnt , uns von ihm entfer- nen , ehe noch das Organ ganz zerrüitet und. 'ZU feinem künftigen Gebrauche unbrauchbar gemacht wird. Die Betrachtung der Gegen- ftande, welche Schmerz hervorbringen, kann uns überzeugen, dafs das wirklich fein Zweck und Nutzen ift. Denn fo unerträglich für das Auge der hochfte Grad des Lichts ift 4 fo Wenig ift es der hüchfte Grad der Finfternifs, weil er das künftliche Organ durch keine un- ordentliche Bewegung ftöhret, fondern in fei- nem Zuftand lafst» Hingegen ift ein Ueber- R 2 raaafs
üöu Zweites Euch.
maafs von Wärme und Kalte gleich peinlich» Denn fowohl das eine als das andere zerftblv ret die Temperatur, welche zur Erhaltung des Lebens und zur Ausübung verfchiedener Functionen des Körpers nothwendig ift, und in einem gemäfsigteu Grad der Wärme, oder wenn man lieber will, in einer beftimmten Grenzen unterworfenen Bewegung der fein.- öen Tätlichen unfers Körpers belle hl.
AufseT dielem läfst fich noch ein andre? Grund entdecken, warum Gott fo ver- fchiedene Grade von Schmer» und Vergnügen mit allen Dingen, die »uns umgeben und afficiren, verwebte, und bei alle dem, was die Sin- ne und den Yeiftand befchäftiget, beide Ge- fühle mit einander verkettete. Wir foliter* nehüdich bei allem Genufs, den uns die Ge- fchöpie gewähren können, Vn Vollkommen- heit, NichtbeTriedigung und Mangel der voll« kommnen Glückfeligkt-it finden, und dadurch veranlagt werden, das alles in dem GenuTs deüea zafushea, bei dem Fülle der
Freud©
Siebentes Kapitel, 261
Freude und ewig dauernde Selig- Leit zu feiner rechten Hand ift.
§. 6.
1
Was wir hier gefagt haben , wird zwar die Begriffe von Schmerz und Vergnü" gen nicht deutlicher machen, als Ge uns die Erfahrung giebt , durch welche wir fie allein empfangen können, Allein die Unterfuchung der Urfachen , warum Schmerz und Vergnü- gen mit fo vit'en Vorftellungen verwebt find, war doch vielleicht nicht imzweckmäfsig für den Hauptgegenftand diefer Unterfuchungen, weil Hein uns die pflichtmäfsigen Empfindun- gen gegen die Weisheit und Gute dc-shöchflen Regierers der Welt erweckt, defienErkenntnifs und Verehrung der Hauptzweck aller unfrer Gedanken und die angemeflenfte Beschäfti- gung unfers Geifies ift»
§■ 7.
Exiftenz und Einheit»
Exiftenzund Einheit find zwei an»
Are Begriffe, welche durch jedes Objekt von
R 5 . Aufsen
ggg Zweites Buch.
Außen und durch jeden Betriff von. Innen dem Versande dargerei« ht werden. Alle Vor- ftellungen betrachten wir als etwas, das in Uns, und alle Objekte, als etwas aufser uns» d. h. fie exiftiereu. oder haben Wirklich- „ k e 1 1. Und alles , was wir als ein Ding den- ken können , es Tey ein reales Objekt oder eine Vorftellung, giebt dem Verftandf den Begriff von der Einheit.
.$, 8.
Kraft»
Ein audrer einfacher Begriff, den wir durch die Sinne und die Reflexion er- halten, ift der Begriff von Kra ft. Denn wir beobachten in uns felbft, dafs wir verfchiede* ne ruhende Theile unfers Körpers willkür- lich in Bewegung fetzen können, und die Wirkungen, welche ein Körper in dem an* dem hervorzubringen vermag, fiellen fich alle Augenblicke unfern Sinnen dar. Durch beides wird uns der Begriff der Kraft gG* geben.
§9.
Siebentes Kapitel. 263
§. 9.
Begriff der Folge in der Zeit.
Aufser diefen ift noch der Begriff der Fol- ge, der obgleich auch durch die Sinne, den- noch auf eine ftetigere Weife durch das , was in unferm Gemüth vorgehet, dem Verftande gegeben wird. Denn wenn wir in iinfer In- neres blicken, und über das, was hier be- obachtet werden kann , reflektiren , fo wer- den wir finden, dafs unfre Vorftellungen , in dein Zuftande des Wachens und des Vorfiel - Jens eine Reihe ausmachen, iu der unauf- hörlich die eine vorübergehet, und die andre an jener Statt zum Vorfchein kommt,
§. 10.
Die ein fachen Vo r ftellungen find die Materialien aller unfrer Erkenn tnifs.
Diefes find, wo nicht alle, doch die merk- würdigen einfachen Vorftellungen des Verbandes , aus welchen alle unfre Erkennt- nifs beftehet. Die Seele eThält fie einzig auf R 4 dem
264 Zweites Buch.
dem vorhin erwähnten Wese durch die Sin- ne und die Reflexion. Man denke nicht, dafs diefes zu enoe Grenzen für den weitum- fafTenden menfchlichen Verftand find, um fjch in denfelben auszubreiten; für den Ver- ftand, der fich über die Sterne erhebt, fich nicht in dein Raum diefer Welt befchränken läfst, fondern feine Gedanken über die Gren- zen der ausgedehnten Materie fchwingt, und in die Regionen des unbegreiflichen leeren R au mes ausfch weift. Ich gebe alles diefes zu, aber man nenne mir eine einfache Vorftellung, die nicht auf einem von je- nen zwei Wegen von der Seele aufgenom- men, oder eine zuf a m m e n ge f e z t e, die nicht aus den einfachen gebildet ift. Wenn man bedenkt wie viele Worte aus einer Zahl von 24 Buchftaben durch man- nichfnltige Zurainmenfetzungen entftehen kön- nen, fo wird man es weniger befremdend fin- den, dafs diefe wenigen Vorftellungen den fcharffinnigften und utnfafsendften Verftand hinlänglich befchäftigen, und den zureichen- den Stoff zu den mannichfaltigen Erkenntnif- feu, Pfaantafien und Meinungen aller Men- fchen hergeben follen. Noch weniger wird
es
Siebentes Kapitel. 265
es auffallen , wenn man über die mannichfal. tigen Verbindungen eines einzigen der oben angeführten Begriffe, nehmüch der Zahl, wel- che unerschöpflich und in dem eigentlichen •Sinne unendlich find, nachdenkt, und betrach- tet, welch ein grofses unerinefsliches Feld nur allein die Ausdehnung den Mathemati- kern darftellt.
Achtes Kapitel.
Noch einige Betrachtungen über die einfachen
Voiftcliunpen.
§. I.
Politive Vorftellungen aus priva. tiven Ur fachen.
-*- olgende Bemerkung mufs in Anfehung der einfachen Vorftellungen durch die Sinne nicht überlehen werden. Alles was in der Natur fo eingerichtet ift, dafs es durch Afficirung der Sinne einen Eindruck in der Seele her. R 5 vor
:.6f> Zweites. Buch.
vorbringen kann , das erzeugt dadurch auch in dem Verftande eine einfache Vorfiel- lung; und diefe wird, wenn He in eiuen deutlichen Betriff gefaxt ift, in dem Verftan- de wie jede andere Vorftellung als ein rea- ler pofitiver Begriff betrachtet, was fie auch immer für eine Urfache hat, und follte he auch vielleicht nur in einer Berau- bung des Objekts gegründet feyen.
§. 2.
So find die Vorftellungen von Hitze und Kälte, Licht und Finfternifs, Weifs und Schwarz, Bewegung und Ruhe ohne Unter- fchied gleich klare und pofitive Vor* ftel Jungen in der Seele, wenn gleich die Ui fachen von eir.igen derfelben etwas bloTs privativem in den Objekten ift , von wel- chen fie die Sinne empfiengen. Der Verftand betrachtet alle diefe nach feiner AnGcht als deutliche pofitive Begriffe, ohne auf die her- vorbringenden Urfachen Pxückficht zu nehmen. Denn die^e Unterfuchung betrifft nicht den Begriff, infofern er in dem Verftande ift, fon- dern die Natur der Dinge , die aiffser uns
find,
Achtes Kapitel. 267
find , welches wohl unterfchieden werden mufs. Denn ein andres ift es, das Weifse oder Schwarze fich vorteilen und erken- nen, und etwas ganz andres, die Unterfuchung von welcher Art und beffimmten Lage die Theile auf der Oberfläche feyn müflen, wenn ein Objekt weifs oder fchwarz erfcheinen füll,
Ein Maler oder Färber, der vielleicht nie Über die Urfachen der Farben nachdachte, be- fitzt eben fo klare, deutliche und vollkomtnne Vorftellungen von der weifsen, fchwarzen Farbe u. f. w« als der Philofoph, und fie über- treffen darin vielleicht noch die des lezten, obgleich diefer ihr Wefeu zu ergründen fuchti und zu erkennen glaubt, in wiefern jede der- selben in Etwas pofitiven oder privativen ge- gründet fey. Die Vorftellung von der fchwar- zen Farbe ift aber in feinem Verftande eben fo poütiv als die von der weisen, wenn auch die Urfache von der erften in den äufsernOb» jecten eine blofse Beraubung ift»
§♦4*
2.GQ Zweites Bück,
s- 4»
Wäre es hier meine Abficht die natürli- chen Urfachen und Entrtehung<>gründe der Vor^eHungen zu untersuchen, fo würde ich das Factuun, dafs eine privative Urfa. che, zum wenigen in einigen Fällen, ei- ne pofitive Vorftellung hervor- bringen kann, aus folgendem Grunde er- klären. Jeder Eindruck auf die Sinne wird hlofs durch verfchiedene Grade oder Arten der Bewegung in den I ebensgeiftern gewirkt, indem ße von äußern Objekten auf eine ver- fchiedene Art afficirt und in Bewegung gefezt werden. Daher inufs die Verminderung einer vorbeigehenden Bewegung eben fo gut einen neuen Eindruck hervorbringen, als die Ver- änderung oder Steigerung derfelben. Und auf diefe Art kommt eine neue Vo rft ei- lung in die Seele, welche nur allein von einer verfchiedenen Bewegung der Lebens, gtifter in dem Organ abhängt.
§. 5.
Doch ich mag hier nicht entfcheiden, ob diefe Erklärung gegründet ift, fondern berufe
wich
Achtes Kapitel. £69
mich nur auf eines Jeden ei^ne Erfahrung, ob nicht der Schatten eines Merifchen, der dcnh nur in der Abwefenheit des Lichtes befte'iet, und defto deutlicher ift, je mehr Licht fehlet» wenn itan ihn anfehauer, eine eben fo klare und pofitive Vorfrellnng in der Seele erzeu- get, als der Menfch felbft, würde er auch
vom Kopf bis auf die t'ü se von der Sonne
♦
befchienen ? Auch das Gemälde von ei- nem Schatten ift Etvv^s pofitives. Wirklich haben wir auch negative Worte, welche nicht geradezu pofitive Vorfteüungen fondern ihre Abwefenheit bezeichnen, z, B. u n- fchmackhaft, Stille, Nichts u. f. w. Sie enthalten die pofitiven VorfteHungen;, G e- fchmak, Töne, S e y n nebft der Auieige ihrer Abwefenheit,
§. 6.
Auf diefe Art kann man wirklich Tagen, dafs man die Finfternifs Gebet Man fetze ein ganz finftres Loch, von welchem nicht ein einziger Lichtftrahl zurückgeworfen wird, fo liehet man doch gevviis die Geftalt deJTel-
ben
Hrjo Zweites Buch.
ben, und es kann daher auch abgemalet wer* deti. Ob- die Tinte, mit welcher ich Ich rei- be, eine andere Vorstellung hervorbringe , das ift noch eine Frage, Die privativen Uf fachen , welche ich hie» von den poßtiven Vorftellungen angegeben habe, ftiinmen mit der gewöhnlichen Vorftellungsart überein» AHein es iafst fich in Wahrheit fchvver ent* fcheiden, ob wirklich eine Vorfiellung aus einem privativen Grunde entliehe, fo lange noch nicht ausgemacht ift, ob die Ruhe oder die Bewegung mehr eine ßea r a u b u n g i f tä
§< 7*
Voxftellutogen in der Seele* Eigen* fchaften in den Körpern,
Um die Natur unfrer Vorftellungen defto heiler zu entdecken und vernünftiger über Jfie zu denken , wird vorzüglich die Unter- fcheidung dienen , in wiefern die Vorftellun- gen Vorftellungen der Seele, und infofern fie Modifikationen der Materie in den Körpern find, welche die Vorftellungen in uns verur- facheu« Sie wird den gewöhnlichen irrihurrt
ver-
Achtes Kapitel. £71
verhüten, die Vorfiel! mren für Bilder zu halten , welchen im Objekte etwas Reales ent fpräche , da docb die meiüen linnlichen Vot- ftellungen eben fo wenig einem aufser uns exiftierenden Dmge ähnlich find, als die Worte den bezeichneten Vorstellungen , ob- gleich diefe durch jene hervorgerufen werden»
§. 8.
Was dasGemüth in fich felblt wahrnimmt, oder was das unmittelbare Objekt des ße. wufstfeyns des Denkens und Vorfteliens ifl, das nenne ich Vorftellung (Ided), die Kraft aber, eine Vorftellung in uns hervor- zubringen , Eigen fchaft (Quality) des Objekts , welches die Kraft befizt. So be- fiztder Schneeball die Kraft, die Vorftelhn- gen vom weifs, kalt, rund in uns zu erzeugen, die Kräfte, diefe Vorftellungen in uns hervorzubringen , nenne ich, infufern fie in dem Schneeball find, Eigen fc haf- ten, Vorftellungen aber, infofern fie Empfindungen oder Wahrnehmungen in dem vorteilenden Subjekte werden. Wenn ich (lauer zuweilen von Vorftellungen rede, als
^ären
27~ SJ W e i 1 4 s E ti'c h,
wären fie in den Objecten felbft, fo will ich darunter die Eigenfchaften der Objekte, durch welche fie erzeugt werden, verftandea wiflen.
§♦ 9»
Ur f pr üngliche Eigenfchaften ( Gr und eigen fc haften, prirnary Qualit ies.)
Zu diefen Eigenfchaften der Körper gehü- Ten e r ft lieh folche, welche vom Kör- per in jedem Zuftande unzertrennlich find, welche an ihnen bei allen Verände- rungen, bei allem Wechfel und bei jedem noch fo gewaltfamen Einflufs beftandig haften; wel. che die Sinne in jedem anfchaulichen Tiieil der Materie jederzeit wahrnehmen; welche fieh der Verft-and als unzertrennlich von jedem auch dem kleinften , nicht in die Sinne fallendem Theiie der Materie denket» Man theiie z. B, ein Waizenkorn in zwei Theiie, noch immer behält jeder derfelben Dichtheit, Ausdehnung, Geftalt, u n d B e w e g 1 i e h k e i t. Und wenn man die Theilung nochfo lange fortfezt, bis die Theil-
chen
Achtes Kapitel, 27$
ohen nicht mehr bemerkbar find, fo bleiben doch alle diefe Eigenfchaften und müden un- verändert bleiben. Denn die Theilung, d. h, die Zerlegung eines Körpers in feine unmerkli- chen Beftandtheile, was auch Mühlen und Mör- ferftairpfen im Grofsen bewirken, kann dem Körper jene Eigenfchaften ganz und gar nicht nehmen, fondern nur ein Stück Materie in mehrere getrennte Mafien zerlegen- Diefe ma- chen nach der Theüung eine befiimmte Zahl aus , und werden als eben fo viele Körper betrachtet. Diefe Eigenfchaften der Körper nenne ich die urfprünglichen, oder Gr u n d eige n fcha f ten, (original, prima- ry Qualities) welche, wie man leicht denken kann, die einfachen Vorftellungen der Dichtheit, der Ausdehnung, der Figur, der Bewegung, der Ruhe und der Zahl in uns hervorbringen.
§> IO,
Es giebt zweitens andere Eigenfchaften, denen in den Objekten eigentlich nichts an- dres zum Grunde liegt, als gewifie Kräfte, durch Hülfe der Grundeigenfchaften , oder derGrö- S fse
/
2^4 Zweites B u c h.
fse. Figur, Stuctur und Beweguugderkleinften Beftandtheile, mannichfaltige finnliche Vor» Heilungen z. ß. Farben, Tone, Ge'chmacks- empfiudungen zu erzeugen. Diefe nenne ich, abgeleitete (fecondary) -E ig enfc haf- ten. Man könnte aufserdiefen noch eine drit- te Art von Eigenfcbaftei annehmen; nehm« lieh folche , welche auch nur als blofse Kräf- te zu betrachten, aber doch eben fo gut reale Eigenfchaften in den äufsern Objecten find, als diejenigen, welche ich aus Gefälligkeit gegen den gemeinen Sprachgebranch Eigen» fchaften, aber zum Unterfchied von den erftern abgeleitete nennte. Denn die Kraft des Feuers durch feine " Grundeigen- fchaften eine neue Farbe oder eine andere Konüftenz an dem Ton und Wachs her- vorzubringen , ift eben fogut eine Eigenfchaft des Feuers als die Kraft, in mir eine neue Vorftellung von Wärme oder dem Brennen zu erzeugen, von denen ich durch die nehm- lichen Grundeigen fchaften vorher noch kei- ne Empfindung hatte *),
«. «,
*_) Deutlicher wird der Inhalt diefes § durch die "Vergleichung mit dem §, 23,
Achtes KapiteL yj5
§. II.
Wie die ur fpr ü n gl ic h en Eigpn- fchafcten Vorfteliungen von fich erzeugen.
>
Nächft dieTem mnfs die F™ge nnterCucht
werden , wie die Körper Vorfteliungen in uns erzeugen? Diefs gefchiehet offen- bar durch den Stofs, (Bewegung) die ein- zige für uns denkbare Weife, wie Körper auf einander wirken,
§. 12.
Da die äufsem Objekte nicht mit der See- le vereiniget lind, wenn fie in ihr Vorftellun' grn hervorbringen , und gleichwohl die Grnndeigenfchafte.". eines jeden anfehaulichen Körpers von der Seele erkannt werden, fo qrhellet daraus die Noth wendigkeit einer ge* wiffen Bewegung, w»elche von ihnen durch einige Theile des Körpers vermittelt der Ner- ven oder der Lebensgeifter bis in das Gehirn oder den Sitz des Bewuf&tfe) ns fortgepflianzt wird, um dafelbft die beftimmten \ orfte Illingen von ihnen hervorzu- S 3 hr in-
27S Zweites Buch.
bringen. Und weil wir die Ausdehnung, Geftalt, Zahl und Bewegung der Körper von merklicher GrÖfse fchon in einiger Entfernung durch das Geficht wahrnehmen können, fo muffen nothwendig gewiffe einzeln nicht wahrnehmbare Körper von ihnen in die Au- gen l'ominen , von da eine gevville Bewegung bis zu dem Gehirn fortführen, welche dann jene Vorftellungen erzeuget»
§♦ i3.
Wie die abgeleiteten Ei gen Fe haf- ten Vorftellungen von fich er- zeugen»
Eben fo Iarst fleh auch die Art und Wei- fe denken, wie die Vorftellungen Von den abgeleiteten Eigen fc ha f« ten en t ft e h en, nehmlich durch die Wir- kung gewiffer nicht wahrnehmbar xer Theilchen auf unfre Sinne. Denn es ift offenbar, dafs es eine gmfse Menge von fo kleinen Körpern giebt, dafs wir durch keinen Sinn ihre Gröfse, Geftalt und Bewe- gung entdecken können ; von welcher Art nnftreitig die Theile der Luft und des Waf- fers
Achtes Kapitel. 277
fers find : aber vielleicht giebt es noch viel kleinere, die fich gegen diele, wie VVafler- und Lufttheilchen gegen Erbfen und Hagel- fteine verhalten. Wir dürfen hier aifo an- nehmen , dafs die verfchieclenen Modificatio- nen in der Bewegung, Geftalt, Gröfse und Zahl diefer Theilchen unfcre Sinnorgane affi" ciren, und dadurch die mannichfaltigen Vor- ftellungen von den Farben und Gerüchen der Körper hervorbringen. So kann z, B, das Veilchen durch den Stofs folcher nicht an- fchaulicher materiellen Theile von verfchie- dener Geftalt und Gröfse und durch eine dem Grad und der Art nach mannichfaltige modi- hcirte Bewegung die Vorftellung von der blauen Farbe und dem Wohlgeruche diefer Blume erzeugen. Es läfst Geh zum wenig- ften eben fo ohne WiderTpruch denken, dafs Gott an folche Bewegungen Vorftellungen knüpfte, welche mit denfelbeu keine Ähn- lichkeit haben, als dafs er das Gefühl von Schmerz mit der Bewegung eines Stücks Stahl, der die fleifchigten Theile eines thieri- fchen Köipers zerfchneidet , verknüpfte, zwi- fehen welchen auch nicht die geringftc Aehn- lichkeit ltatt findet,
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Wie die abgeleiteten Eigenfchaf- teu V'orfiellungen von fich er- zeugen.
Eben fo larüt fleh auch die Art und Wei- fe denken, wie die V o r f t e 1 1 u n ° en von den abgeleiteten Ei^enfchaf. ten en t f t e h en, nchn.lich -' k u n g g e w i f f e r n i c b- Ter Theilchen »*< es ifl oflenbar , JA von fo
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fers find : aber vielleicht giebt es noch viel kleinere, die fich gegen diefe, wie VVaffer- und Lufttheilchen gegen Erbten und Hagel- fteine verhalten. Wir dürfen hier alfo an- nehmen , dafs die verfchiedenen Modifikatio- nen in der Bewegung, Geftalt, Gröfse und Zahl diefer Theilchen unfere Sinnorgane afti" ciren> und dadurch die mannichfaltigen Vor- ftellungen von den Farben und Gerüchen der Körper hervorbringen. So kann z, B, das Veilchen durch den Stofs iblcher nicht an- fchaulicher materiellen Theile von verfchie- dener Geftalt und Gröfse und durch eine dem Grad und der Art nach mannichfaltige modi- ficirte Bewegung die Vorftellung von der blauen Farbe und dem Wohlgeruche diefer Blume erzeugen. Es laTst üch zum ften eben fo ohne Wii Gott an folcbe B knüpfte, welcbj lichkeit hal Schmerz Stahl, der fchen F fch'-
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278 Z vr e i t e s Buch.
§ »4*
Was ich von den Farben und Gerü- chen gefagt h^be, läfst fich auch auf die Gelen macksempfindungen, Töne und andere ähnliche empfindbare ße- fchaffenheiien anwenden. So fehr man ih- nen auch aus Irrrhum Realiiät beileget, fo find fie doch in den Objekten nichts anders als gewiffp Kräfte, finnliche Vorfiel] 'ingen in uns zu erzeugen, und fie find von den ur* fprünglichen Ei^enfchaften abhängig.
§. IS-
Die V or ft el 1 un ge n der urfprüng liehen Eige n f c h a ft e n haben Aehnlichkeit mit den Kör. pern, aber nicht die abgelei- teten.
Hieraus ergiebt fich von felbft die Bemer- kung, dafs die Vo r ftell un gen der u r- fprünglichen E igen f c ha f t en Kopi- en der Körper find, und dafs das Ori- ginal von ihnen wirklich in diefen exiftieret. Die Vorstellungen hingegen, welche
durc;a
Achtes Kapitel. £79
durch die abgeleiteten Eigen Tc haf- ten hervorgebracht werden, haben gar kei" ne Aehnlichkeit mit den Körpern. Diefe enthalten nichts, was jenen entwicht, fondern nur gewifle Kräfte, Vorftellungen her- vorzubringen , nach welchen wir die Körper benennen. Was wir uns als Süfs, Blau oder Wann vorfallen , ift in den Körpern, denen wir diefe Prädicate beilegen , nur eine be- i'tiinmte Gröfse, Geftalt und Bewegung ihrer nicht bemerkbaren Beftandtheile.
§. 16.
Man legt der Flamme das Merkmal, heifs und helle ; dem Schnee, weifs und kalt ; dem Manna weifs und füTs bei, und das, wegen der Vorftellungen , welche fie uns mittheilen,. Man glaubt gewöhnlich, dafs diefe Eigen- fchaften in den Körpern eben das, was die Vorftellungen davon in uns, find, und dafs xwifchen beiden eine fo vollkounnne Aehn- Uchkeit ftatt findet , als zwifchen einem Ob- jekte und feinem Bilde in dem, Spiegel. Da6 Ge^entheil würden die meifleu Menfchen für Unfmn halten. Allein die Bemerkung, dafs S 4 eben
2cV> Zweites Buch.
eben dafselbe Feuer in einer gewiiTen Entfer- nuip; die Empfindung der Wärme, bei einer großem Nähe aber ein davon ganz verfehle* denes fclniif-izhaftes Gefühl hervorbringt, follte doch Jeden zum Nachdenken reitzen, aus welchem Grunde er die Wärme als in dem Feuer, und das unangenehme Gefühl als rieht in dem Feuer exiftierend fich den- ke , da doch beide Vorftellungen dureh das Feuer auf einerlei,' Art in dem Gemüthe er- zeugt werden. Warum iffc die weifse Farbe und die Kälte, und nicht auch die unange- nehme Empfindung in dem Schnee? da er doch beide Vorftellungen und zwar nicht an« ders als durch die Gröfse, GeftaU, Zahl und Bewegung feiner dichten Theile hervorbringt.
§. 17-
Die beftimmte Gröfse, Zahl, Ge- ftalt, und Bewegung der Theile des Feuers, Scbneesu. f. w. i f t wirk- lich in diefen Objekten vorhan- den, die Sinne mögen fie wahrnehmen oder nicht, und wegen diefer objeetiven Realität in den Körpern können He reale Eigen- f chaften genannt werden. Aber Licht,
Hitze,
Achtes Kapitel. 251
Hitze, Kalte, weifse Farbe haben, eben fo wen ig e in reales Dafeyn in denfelben, als Krankheit oder Seh in e r* in dem Manna. Wenn man von ihnen das Vorgeftelltwerden trennet, wenn die Augen nicht das Licht oder die Farben fehen, die Ohren nicht die Töne hören, der Gaumen nicht fchmecket, und die Nafe nicht riecht» fo verfchwinden alle diefe befondern Vorfiiel- lungcn, alle Farben, Gerüche, Gefchmacksem- pfmdungen und Töne, und es bleibt nichts übrig, als das, was fie verurfachte, d. i. die Gröfse, Gehalt, und Bewegung derTheile*
§. 18.
Ein Stück Manna von merklicher Gröfse kann in uns die Vorftellung von einer runden oder viereckigten Figur, und wenn es von einem Orte zum andern fortgerückt wird, die Vorftellung von der Bewegung verurfachen. Die lezte Vorftellung ftellt die Bewegung dar, wie fie wirklich an diefem bewegten Körper ge- funden wird. Ein Cirkel und ein Viereck in der Vorftellung und in der Natur, in der See- le und in dem Manna find ein und eben daf- S 5 felbe
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Hitze, Kälte, weifse Farbe haben, eben fo wenig ein reales Dafeyn ia denfelben, als Krankheit oder Sehn er* in dem Manna, Wenn man von ihnen das Vorgeftelltwerden trennet, wenn die Augen nicht das Licht oder die Farben fehan, die Ohren nicht die Töne hören, der Gaumen nicht fchmecket, und die Kafe nicht riecht^ fo verfchwinden alle diefe befondern Vorftel- lungen, alle Farben, Gerüche, Gefchmacksem- pfindungen und Töne, und es bleibt nichts übrig, als das, was fie verurfachte, d. i. die Gröfse, Geaalt, und Bewegung derTheile«
§. i8.
Ein Stück Manna von merklicher Gröfse kann in uns die Vorftellung von einer runden eder viereckigten Figur, und einem Orte zum * ÜMU fort, Vorftellung Die lezte 1 wie fie w funden derVr
2.Ü2 Zweites Buch.
Teibe Ding» Die Figur und die Bewe- gung und etwas Reales an dem Marina, wir mögen fie wahrnehmen oder nicht. Diefs wird von allen ohne Weigerung eingeltau- den, Aufserdem belitt das Manna vermöge der Gröfse, Geftalt, Zufammenfetzung und Bewegung feiner Theile die Kraft, Empfin- dungen von Unbehaglichkeit, ja zuwei- len von einem fchneid enden Schmerz oder Grimmen in ufA fetin Körper zu erregen. D i e- f e Empfindungen von Unbehag- lichkeit. und Schinerz find nicht i n il e m M a n n a , foudern nur Folgen fei- ner Wirkungen auf uns, und exittieren nir- gends, wenn wir fie nicht empfinden. Auch diefes wird ohne Widerrede angenommen. Gleichwohl halt es fo fchwer, die Meiifchen zu überzeugen, dafs die weifse Farbe und die Süfsigkeit nichts Reales in dem Manna find. Und doch find die weifse Farbe und die Süfsigkeit, fo wie die Unbehaglichkeit und der Schmerz, nur Erfolge von den Veränderungen, welche die Beftand- theile des Manna durch ihre Bewegung, La- ge und Geftalt — die einzige Art, wie Kör- per auf einander wirken können *- 1 dort in
dem
Achtes Kapitel. 283
dem Auge und dem Gaumen, hier in dem Magen und den Gedärmen hervorbringen. Als wenn nicht das Marina eben fo gut auf die Augen und den Gaumen als auf den Ma- gen und die Gedärme Wirken, und dadurch Vorstellungen hervorbringen könnte, deren Inhalt, wie man auch in dem legten Fall eingefieht , nicht in dem Manna felnft ent halten iß. Da alle diefe Vorftcllun»en Ertoi- ge der durch die Lage, Geftalt, Zahl und Bewegung der Theile bcfiimuiten W'irkfam- keit defselbon auf verfcniedene Theile des menschlichen iuirpers lind , warum folhen denn die Vorftellungen mehr Reahtät in dem Manna befitzen , welche lieh auf die Verän- derung des Auges und des Gaumens, als die (ich auf den veränderten Zuftand des Magens und der Gedärme beziehen ? Oder warum folbe der Unbehagliohkeit und dem Schmerze keine Wirklichkeit aufser in der Empfindung, der weitsen Farbe aber und der Süfsigkeit aufser der Vorliellung noch ein objektives Seyn in dem Manna beigeh p werden, da fo- wohl jene als diele \\ irkungen eben deflel ben Körpers auf verfchiedene Theile des menfchlichen Leibes find, und beide auf ei.
nerlei
23-£ Zweites Buch.
nerlei unbegreifliche Weife entftehen? Das müßte doch aus Gründen erklärt werden.
§• *9-
Man betrachte die rothen und weiffen Far- ben des Porphyrs ; man entferne alle Licht- ftrahlen von denifelben, fogleich verfchwin- dtn alle Farben, und er verurfacht keine \ or- fieHung mehr davon. Man gebe ihm das Licht zurück , dann bringt er die nehmliche Erlcheinung wieder hervor, lft es denkbar, dafs durch die Abwefcndheit und Gegenwart des Lichts reale Veränderungen in dem Por- phyr vorgehen , oder dafs er vom Licht he- ichienen die rothe und weifse Farbe wirk- lich in fich enthalte, da fie ihm offenbar in der Dunkelheit fehlen? Ein gewiUes Ver- hältnifs, eine gawiße Bildung der Theile, wo* durch die zurückprallenden LichtRrahlen bald dieVorftellung der rothen, bald der wei. fsen Farbe erzeugen , befizt es wirklich bei Tag und Nacht; aber diefe Farben felbft exiftieren zu keiner Zeit in ihm.
§• 20.
Achtes Kapitel« 285
§. 20.
Wenn man einen Mandelkern in dem Mür- fer zerftöfst, fü verwandelt fich die reine weifse Farbe in eine (ch mutzige und der fiifse Gefchmack in einen ölichten. Kann aber das Stofsen der Mörferkeule eine andere reale Veränderung in einem Körper bewirken, als dafs die Art der Zufammenletzung der Theile geändert wird?
§. 21,
Diete Erklärung und Unterfcheidung der Vorftellungen fezt uns in den Stand, ein Pha. nomen zu erklären, wie nemlich dalTelbe Waffer zu einer Zeit an der einen Hand die Vorftellung der Kälte und an der andern die der Wärme hervorbringen kann. Denn wä- re der Stoff diefer Vorftellungen etwas Reales in dem Waffer, fo könnte es unmöglich zu einer Zeit kalt und warm feyn. Si eilen wir uns aber unter der Wärme, inTofern fie in unfrer Hand ift, nichts anders als eine gewiffe Art, einen gewiffen Grad in der Bewegung der kleinen
Theil-
28 j Zweites 1! u c It.
Tb eilchen unfrer Nerven oder Le- bensgeifter vor, fo begreifen wir die Möglichkeit, wie daflelbe YVafler zu einer Zeit an einer Hand die Empfindung der Kälte und an der andern die enfgegengefezteder Wär- me erzeugen kann. Dicfes findet in Anfe- hung der Geftalt nie ftatt. Kein Körper er- zeugt in der einen Hand die VorfteJIung des Vierecks und in der andern die einer Kugel» Wenn aber die Empfindung der Hitze und i Kälte nichts anders ift, als die vermehrte oder verringerte Bewegung in den kleinen Thftilen unfers Körpers, welche von den Beftandthei- len eines andern Körpers gewirkt wird , fo ift es denkbar, clafs (liefe Bewegung in der einen Hand großer aU in der andern ift. Wenn die Bewegung der kleinften Beftand- thrile eines Körpers, der auf beide Hände wirkt, gröfser, als die Bewegung der orga- nifchcn Theile der einen Hand und klei- ner, als die der andern ift, fo wird he die Bewe- gung in jener vermehren , und in diefer ver- mindern, und dadurch die entgegengefezten Empfindungen von Hitze und Kälte be- wirken.
§» 22.
Achtes Kapitel. §. 22.
Ich habe mich in den Vorhergehenden viellt-icht etwas weiter in phvfikalifche Un- terfuchungen ringelaflen als meine Abliebt war. Allein da es nothwendi* war, utn die Natur einer finnlichen Vorftellung etwas auf- zuklären, und den Unter fchied zwi. fchen den körperlichen Eigen, fc haften und den dadurch erzeug- ten Vor ("teil ungen deutlich zumachen, ohne welches man nicht verftändlicb über die letzten philofophieren kann; fo wijd man mir, wie ich mir fchrneichle, die kle?ne Aus- schweifung in das Gebiet der natürlichen fhilofophie verzeihen. Es ift in diefer Unter- jochung von wefentlicheui Einflufs, die u r- fprünglichen und realen Eigen- fchaften der Körper, die von ihnen unzer- trennlich find, als die Dichtheit, Ausdeh. nung , Oeftalt, Zahl, Bewegung und Ruhe, und von uns allezeit wahrgenommen wer- den, wenn die Körper, an denen fie haften die gehörige Gröf<e haben, dafs fie der An. fchauung empfänglich find, von don abge- leiteten und uneigentlich fogeoa nuten Ei,
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288 Achtes Kapitel.
genTc haften zu unterfcheiden, welche nichts anders find , als die in den mannich- faltigen Verhältniflen der urfprünglichen Ei* genfchaften gegründeten Kräfte, wenn fie fo wirken, dafs fie nicht deutlich unterfchieden werden können. Hieraus lafst fich beftim- n;en , welche Vorftellungen mit dem in Kör- pern , die wir nach ihnen benennen, befind- lichen Realen entfprechen oder nicht ent- fprechen,
§. 23.
Es giebt drei Arten von Eigen* fchaften in den Körpern.
"Die Eigen fc haften in den Körpern find alfo nach reiflicher Betrachtung, von drei Arten,
1) Die Gröfse, Gehalt, Zahl. Lage, Bewegung oder Ruhe ihrer dichten Theile. Diefe find wirklich in ihnen» wir mögen fie wahrnehmen oder nicht. Und wenn ein Körper feiner GröTse nach anfchau- lich ift, fo erhalten wir durch fie eine Vor- fiel-
Achtes Kapitel. 289
ftellung von dieTem Dinge, wie es an fich ift. Bei Werken der Kunft ift diefs einleuchtend. Ich nenne fie urfprüngii- Che (primary) Ei gen fc h af ten.
3) Die Kraft eines K ivp^rs vermöge fei. iier nicht finnlich wahrnehmbaren urfprüng- lichen Eigenfchaften auf eine befummle Wei- fe aiif einen unlrer Sinne zu wirken, und dadurch veiTchicdene Vo r 1 1 ellu ngeu von Farben, Tonen, Geruch und Gefchmack in uns hervorzubringen. Man nennt diefe gewöhnlich finn liehe Eigen- fcha f t en»
5) Die Kraft eines Körpers vermöge der befonciern Befchallünheit f e i n e r u r p r ü H g_ liclien Eigenfc haften in der Gröfse G e f t a 1 1 , Z 11 fa in in e n f e t z u n g und Be- wegung eines ardern Körpers folche Veränderungen hervorzubringen , dafs diefer nun unfre Sinne andeis afliciert als vorher. So hat die Sonne die Kraft, das Wachs zu bleichen, und das Feuer das Blei zu fchmelzeu. Gewöhnlich nennnt man die- fe Eigenfchaften Kräfte.
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a<j)o Zweites Buch.
Die erften können , wie ich fchon gefaxt habe, mit Recht reale, ur fpr üiig 1 i c h e und erfte Eigenfchaften heilen, weil Ge in den Dingen felbft find , man nehme fie wahr oder nicht, und wed die abgeleiteten von ihren mannichfaltigen Modifikationen ab- hängen. — Die zweiten und dritten- find biofs Kräfte, auf verfchiedene Weife auf andre Dinge zu wirken, welche aus den mannich'altigen Modifikationen der erften
entfpringen *).
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§. 24.
*) Locke nennte oben §. 8. alles was in den Kör- pern Grund einer Voiftellung des Gemüthä ift, Ei^enfchdft. Eigenfchaften und Kräfte weiden da als Synonymen gebraucht. Man fiehet daher nicht recht deutlich ein , warum er hier und an andern Orten fo fehrauf Unter- fcheidung der Eigenfchaften und Kiäfte drin- get. Der TJnterlcliied beruhet darauf. Die Vorftellungen , welche durch die Eigenfchaften begründet werden , find entweder von der Art , dafs üe den Eigenfchaften felbft entfpve- chen, oder fie entfprechen ihnen nicht lu deru erften Fall werden die Eigenfchaften felbft, im andern nicht die Eigen fchahen , fondern nur ihre Wirkungen auf andere Korper vorgeftellt.
Dort
-Achtes Kapitel, agi
§• 24.
Die erften E ig enfch a f ten find objectiv wahre Kopien, die zweiten werden dafür gehal- ten, find es aber nicht, die dritten find es nicht, und wer- den auch nicht dafür gehalten.
Ob gleich die zwei letztern Arten von Eigenfchaften nichts anders als Kiäfte in Ver- hältnifs zu verfchiedenen andern Körpern, und von den Modificarionen der urfprünglichen Ei- genfchaften abhängig und, fo weicht doch 'das gewöhnliche Urtheil über die zweite Art davon ab. Die Kräfte durch Aflicirungder Sinne Vorftellungen in uns, zu er- zeugen, werden nein lieh für reale Eigen fc haften in den Dingen, die uns afiicieren; die Eigenfchaften der T 2 drit.
Dort kann die Voiftellung felbit dem Ob- jeete als Eigen fchaft beigelegt werden, abei" hier geht e» nicht an.
ar)2 Zweites Buch.
dritten Art hinsehen für blofse Kräfte gehalten. Die Vorftellungen von der Hitze oder dein Lichte, welche wir durch das Gelicht oder das Gefühl von der Soune erhalten, wären, rneint man, reale Eigen- schaften in der Soune und etwas mehr als blofse Kräfte. Wenn man die Sonne in Be- ziehung auf das dureti He gefchmolzene oder gebleichte Wachs betrachtet, fo hält man die weifse Farbe und Flüffigkoit, welche in dem Wachfe entftanden find, nicht für Etgenfchaf- ten der Sonne, fondern für Wirkungen ihrer Kräfte. Allein wenn man reiflicher nach- denkt, fo find die Eigenfchaften des Lichts und der Wärme — eigentlich nur Vorftellungen in mir , wenn ich von der Sonne beleuchtet und erwärmt werde — auf keine andre Wei- r> in der Sonne, als die Veränderungen, wel- che mit dem Wachfe bei dem Bleichen und Schmelzen vorgehen. Sie find alle beide nicht mehr und weniger Kräfte der Sonne, welche von ihren urfprünglichen Eigenfchaf- ten abhängen; und wodurch fie die Gröfse, Geft-dt , Zufainmenfetzung und Bewegung der feinften Theile meiner Augen und Hände und des Wachfes fo verändern kann, dafs
da*
Achtes Kapitel. 2g3
dadurch in jenem Fall die Vorfrellung von Licht und Warme, in dorn andern von der weifsen Farbe und dem Fl iiffig werden erzeugt wird.
25-
Die UrTaclie, warum die einen ge- wöhnlich für reale Ei gen fc hatte n. die andern für blofse Kräfte gehal- ten werden, fcheint mir darin zu Liegen* Untre Vorftellun/jen von beftimmten Farben, :i u f. w, enthalten nichts von Gröfse, Geftait oder Bewegung; die Sinne bemerken keine Spur von Mitwirkung der urfprüngü- chen Eigeni'chafteu zur Erzeugung dieferVor.- Heilungen , und es Iäfst fich keine fichtbare Beziehung oder Verbindung Zwilchen beiden entdecken. Daher ift man geneigt diefe Vpr- ftellungen nicht für Wirkungen der urfprüng- lichen Eigenfchafien , fondern für Bilder von etwas Realem in den Objecten felbft exiftiren: dfin zu halten. Dazu kommt noch, dafs dio Vernunft nicht zeigen kann, wie Körper durch ihre Gröfse, Geftait und Bewegung die Yoiftcllung von der blauen, gelben Farbe, u,
T * f. w.
394 Zweites Buch.
f. w, in der Seele hervorbiingen können. Aber in dem zweiten Fall, da Körper auf einander wirken, und einer des andern Ei- genfchaften verändert, fehen wir ganz klar» dafs die hervorgebrachte Eigenfchaft meiftens keine Aehnlichkeit mit irgend Etwas in dem Hervorbringenden hat, und betrachten fie daher blos als Wirkung einer Kräh, Wenn die Sonne in uns die \ orftellung von Licht und Wärme erzeugt , fo verfallen wir leicht auf den Gedanken, das Vorgeftellte habe Aehnlichkeit mit einer folchen Eigenfchaft in der Sonn©; nicht fo aber, wenn wir die Far- be des Wach Tes oder eines fchönen Gefichts durch die Sonne verändert fehen , weil wir keine folche Verfchiedenheit der Farben in der Sonne felbft wahrnehmen. Denn da un- fre Sinne die Aehnlichkpit oder Uliähnlich- keit der finnlichen EUenTchaften in zwei ver- fchiedenen äufsern Objecten beobachten kön- nen , fo machen wir fehr bald den Schluls, dafs die Erzeugung einer hnnlichen Eigen- fchaft in einem Objecte die Wirkung einer blolsen Kraft und keine Mittheilung einer realen in der ürf^che befindlichen Eigen- fchaft ift, wenn diefe dafelbft nicht .gefun- den
Achtes Kapitel. 2q5
den wird, Wenn aber unfre Sinne keine Unähnlichkeit zwifcfien der Vorfiellung in uns und der Eigenfchaft in dem Objecte, wel- che jene verurfachte , entdecken können, fo entfrehet leicht die Täufchung, als wären unfre Vorftellungen Bilder von Etwas in dem Objecte befindlichen, nicht aber Wirkungen von gewiflen Kräften , die in den Modificationen der urfprünglichen Eigenfchaften gegründet find, mit welchen diele von ümen bewirkten Vorftellungen keine Aehnlichkeit haben.
§. 26.
Die abgeleiteten Eigenfchaften find von doppelter Art,
Alle Eigenfchaften, welche wir aufscr den angeführten urfprünglichen Eigenfchaften, an Körpern wahrnehmen, und wodurch wir fie voneinander unterscheiden , find nichts an* ders als verfchiedene Keifte, welche vonden urfprünglichen Eigenfchaften abhängen. Durch diefe Kräfte können die Körper entweder unmittelbar unfern Körper aflicieieu, und da- durch mannichfaliige \ orftellungen in uns vcranlaüen, oder auf andre Körper wirken, T 4, und
2g6 Zweites Euch.
und ihre urrpTünilichen EigenfchaftPn fo ver- ändern, dafs fie nun neue und andere Dar- ftellungen erzeugen. Die erften von diefen abgeleiteten Eig e n fc h aft en können füglich unmittelbar wahrnehmbare, die zweiten aber, mittelbar wahrnehm- bare genannt werden»
Neuntes Kapitel.
Jfon dem Vorltellen , perceptioi!.^
§. I.
Die erTte einfache Vorftellung durch die Reflexion ift die vom Voiftellen.
Das Vor ft eilen ift das er fte Vermögen der Seele, welches fich in Beziehung auf Vorftelbiugen äußert, und der BegrifF davon der eilte und einfachste, welchen wir durch
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[Neuntes Kapital, uqj
die Reflexion erhalten. Di^fes Vermögen wird von einigen das Denken überhaupt ge- xiennt. Allein nach dem Sprachgebrauch ver- liehet tri3n unter dem Denken diejenige Wir- kung der Seele, da Ce in Beziehung auf ihra Vorflellungen thütig ift, und mit einem ge- willen Grad von freier Aufmerkfamkeit einen Gegenftand betrachtet» Bei dem blofsen Vor- teilen hingegen ift uars Gemiüh gröfstentheiis blos leidend, und was es wahrnimmt, das mufs es wahrnehmen,
§♦ 2.
Das Vorftellen beftehet bloy darin, dafs die Seele die £in- drükke empfängt.
Was das Vorftellen ift, wird Jeder beffer durch die Reflexion über das, was bei ihm vorgeht, wenn er lieht, hört fühlet u. f. w. oder denkt, als durch meine Erklärung eikenuen. VV er diefe Reflexion anftellt, dein kann es nicht an diefem Begriffe fehlen, und •wer nicht reilectirt, dem können alle Worte in der Welt keinen davon geben,
T 5 «.3,
£98 Zweites Buch.
Aber fo viel ift ausgemacht, dafs kein Vor- fielen ftatt findet, wenn nicht die Verände- rungen in dem Körper die Seele rühren, oder die Eindrücke auf die äuf%ern Theile de fiel« ben im Innern wahrgenommen werden. Das * Feuer kann wohl unfern Körper brennen, aber mit keinem andern Erfolg, als ein Papier, wenn nicht die Veränderung bis zum Gehirn fortgepflanzt wird, und da- felbft die Empfindung der Hitze oder des Schmerzens in der Seele erzeuget. Darin beftehet das wirkliche Vorf teilen.
§. 4*
Wie oft kann nicht ein Menfch die Beob- achtung an fich felbft machen, dafs während feine Seele nur allein mit der Betrachtung ei- nes Gegenftandes und forgfäitiger Erwägung gewiffer Vorfteüungen befchäftiget ift, fie nicht auf die Eindrücke tönender Körper auf das Gehörorgan achtet, obgleich eben diefelbe Veränderung vorhanden ift, die fonft die Vorftellurig eines Tons verurfachte? Der
Ein-
Neuntes Kapitel. 299
Eindruck auf das Orgi»n kann ftark genug feyn, aber da er nicht bis zum Bewufstfeyn der Seele dringt, fo erfolgt kein Vorffellen. Die Bewegung, welche die Vorftellung ei- nes Tones hervorzubringen pflegt, ift in derd Ohre hervorgebracht, aber man höret doch keinen Ton. Es erfolgt in diefem Falle kei- ne Vorftellung, nicht wegen eines Gehre chens des Organs, nicht weil es weniger afficieret wird, als 'onft beim Höien gefchie- het. fondern weil das, was fje foult hervor- zubringen pflegt, zwar in das gehörige Or gan geleitel, aber von dem vorft eilenden Sub- jeet nicht wahrgenommen, uud daher die Vorftellung in demfelben nicht eingedrückt worden ift. Wo a 1 f o eine Empfindung. eine Wahrnehmung ift, da wird wirklich eine Vorftellung hervor- gebracht, und demVerftande dar- ceftellt.
§. 5.
Kinder haben zwar Vorftellun-
gen im Mutterleibe aber keine
angeborneu.
Die Kinder erhalten daher, wie ich
nicht zweifele, wenn Gel) ihre Sinne mit den
3oo Zweites Buch.
Objecien befchäftigen, welche fie in dem Lei- be der Mutter affilieren, vor ihrer Geburt f mige wenige Vorfteliungen , als unvermeid- liche Wirkungen theils der fie umgebenden Körper, theils ihres Bedürfniffes und ihrer Unbehaglichkeit. Unter diefe gehören viel- leicht, — wenn man da Vermuihungen gel- ten lafTen will, wo keine firenge Unter fli- eh, im g möglich ift — die Vorfteliungen von Hunger und Warme , und diefe find wahr- scheinlich die erften,. welche die Kinder er- langen , und nachher wohl nicht leicht wie- der verli&ren>
Wenn es aber gleich eine vernünftige Hy- pothrfe ift, riafs die Kinder, ehe fie auf die Welt kommen , Vorfteliungen erhalten , fo ift doch zwifchen diefen einfachen Vorfteliungen und jenen angebornen Grund Tatzen, welche einige behaupten, und wir oben ver- worfen haben , ein fehr grofser Abfand. Denn diefe find nur Wirkungen gewifler Ein- drücke auf die Sinne; fie entfpringen aus den Veränderungen, welche der Körper des Kin- des
Neuntes Kapitel. bot
des im Mutterleibe erleidet, und hängen alfo von Etwas aufser der Seele ab ; auch find fie In Anfehong der Entfiehungsart von andern finnlichen Vorftellungen nur der Zeit nach verfchieden. Die fo genannten angebornen Grundfätze hingegen lind von ganz andrer Natur, indem fie nicht durch zufällige Verän- derungen in, oder Einwirkungen auf den Kör. per in die Seele kommen , fondern als ur- fprünoliche Charaktere der Seele von dem el- ften Augenblick ihres Dafeyns an eingeprägt und»
§. 7*
Welche Vo rftellungen zuerft in die Seele kommen, läfst fich nicht beftimmen.
Man darf mit gutem Grunde annehmen, dafs die Seele der Kinder im Alutterleibe ver- fchiedene Vorftellungen erhält, welche zu den Bedürfnillen ihres Lebens und Au^enc. halts dafelbft nothwendig find. Nach ihrer Geburt werden ihnen die \ orftellungen von denjenigen finnlichen Eigenfchaften am Irii- heften gegeben , welche fich ihnen am erften
dar-
3ol Zweites Buch.
dai bieten. Unter diefen nimmt das Licht auch wegen feines Einfluiles nicht die letzte Stelle ein. Wie fehr (Ich die Seele beftrebt» Vorftellungen, die nicht mit unangenehmen Gefühlen gepaaret und, zu erhalten, Iäfst fich fcbon einigermaßen aus der Beobachtung fcliliefsen, dafs neugeborne Kinder in jeder Lage ihre Augen dahin richten , woher das licht kommt. Da aber die erften bekannte. ften Vorftellungen eben fo verlchieden find, als die Umftände, unter welchen die Kinder in die Welt treten, fo ift auch die Ordnung, in welcher fie in die Seele gelangen, fehr ver- fchieden und unbeftimmbar. Doch liegt auch an diefer Eikenntuifs nicht fehr viel,
§. 8.
Sinnliche Vorftellungen werden oft durch die Urtheilskraft veränd ert.
Hier findet noch eine Bemerkung ftatt. Die Vorfiel] unge n, welche aus finnlichen Eindrücken entftehen, werden oft bei erwachlenen Men. fchen unvermerkt durcn Üriheile
ab-
Neuntes Kapitei. *5w3
abgeändert. Man (teile eine einfarbige Kugel z B. von Golil , Alabafter oder Agat vor die Augen, fo erhalt maxi unläugbar durch den Eindruck nur eine Vorftellung von einer Cirkelfläche mit verfchiedenen Graden des Lichts und Schattens. Da wir aber durch öftere Vorftellung fchon gewohnt fiud uns vor" zuftellen, wie ein rund erhabener Körper uns zu erfcheinen, und welche Veränderungen in der Brechung der Licbtftrahlen durch die verfchiedenen Geftalten der Körper zu ent- liehen pllegen , fo verwandelt die Urtheils- kraft in\ diefein Falle aus Gewohnheit die Erfcheinung in ihre Unache. Sie fchliefst nehmlich aus der Verfchiedenheit der Farbe und des Schattens, auf die Figur, macht jene zu einem Merkmal diefer und bildet die Vorftellung von einer rund erhabenem Figur und einer einartigen Farbe hinzu, da doch die Vorftellung, welche wir hier erbalten, wie aus der Malerei erhellet, nur eine Flache mit verfchiedenen Farben ift. Hieher gehö- ret ein Problem, welches der fcharflinnige und eifrige Beförderer aller WilTenfchaften, IVIolineux mir neulich in einem Briefe mit- theilte» Hier ift die Stelle feines Briefs.
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Neuntes Ka
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Gewifsheit unter/chei<' theile dieles
meinen Lefern in der Abdel mit, um in ih- nen die Bemerkm ti zu u-n , wie viel man der Erfahrung und de dr^us gefchöpf- ten Begriffen und Erkenntiiien auch (1a zu verdanken hat, wo man □ der Seite kei- nen IViutien und keine wartete; aber noch mehr Wegen girier Beierkung rieffrlben fcharfünnigeri Schriftfteller Er habe, fahrt er fort» ,.auf \ eranldln es Buchs dlefe „Frage mehreren Mänr Verband vor- j,g»-leg! . aber kaum einen Bernden, der f0. „gleich die, wie ergfai ig wahre Ant- „wort <jrg."ben h fie durch feine ,sGrüride wären überzeugt :rden4vc
§> 9-
Diefes Factum findet ch aber wohl ge* wohnlicherweife nur bei en Vdrftellungen welche wir durch den Sin des Gerichts er- halten» Denn diefer Sin der reichhaltig fte U unter
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oo4 Zweites Buch.
„WJr wollen uns einen erwach fenen Bllnd- „geborneu denken, welcher gelernt hatte, „einen Würfel und eine Kugel aus einerlei „Metall und faft von einerlei Grörse zu un- „terfcheiden, fo daTs er, wenn er beide ange- fühlt hatte, fogleich Tagen konnte, welches „die Kugel und. welches der Würfel tey* Ge- setzt der Mann wird fehend, und man legt „den Würfel und die Kugel auf einen Tifchs „vor ihm * fo fragt es lieh nun, kann er bei- „de durch das Geh cht unterscheiden , ehe er „fie noch betaftet? — Der fcharfünnige und einiichtsvolle Urheber diefes Problems be- antwortet diefe Frdge mir nein. — „Denn, fagt er, ner hat zwar die Erfahrung gemacht, „wie die Kugel und der Würfel fein Gefühl „afficieren, aber er weiß noch nicht aus Er- fahrung, dals ein Object. das fein Gefühl auf „eine gewiffe Art afficiert, auch auf feine Äu~ „gen fo oder fo wirken müfle , oder ob „ein vortpriPgerdeT Winkel des Würfeln, der „feine Hand ungleich drückt, auch feinen „Augen fo vorkommen werde. — Ich iin- terfchiesbe die Antwort ciiefes Denkers, auf deifen Freundfchaft ich ftoiz bin. Her Bun- ds wird, wie ich glaube, benn erlien Anblick
nicht
Neuntes Kapitel, 5o£
nicht im Staude feyn, mit Gewißheit zu Ta- gen, welches die Kugel oder der Würfel fpy, aber durch das Gefühl und die Veri'chie len- heit der Figuren kann er fie mit untrüglicher Gewifsheit unterlctjeiden. Ich theile dieles meinen Lefern in der Ab'icht mit, um in ih- nen die Bemerkung zu veranlagen , wie viel man der Erfahrung und den daraus gefcuöpf- ten Begriffen und ErkenntniOen auch da zu verdanken hat, wo man von der Seite kei- nen Nutzen und keine Hülfe erwartete: aber, noch mehr Wegen einte* Bemerkung defiviben fcharflinnigen Schriftftellers. ,..Er habe, fährt er fort) ,.anf \ eranl dlui.g meine« Rnrhs diefe „Frage mehreren Männern von Verltand vor- «gtJ'eg! . aber kaum einen gefunden, der f0. „g'eicii die, wie er glaube, einzig wahre Ant- „wort gegeben habe, bis ße durch feine ^Gründe wären überzeugt worden/1
Diefes Factum findet ßch aber wohl ge> wöhnlicherweife nur bei den VorhVIlungen welche wir durch den Sinn des Gerichts er- halten. Denn diefer Sinn der reicbhalti^fte U unter
gc£ Zweites Buch.
unter allen, führt der Seele nicht allein die Vorftellungen von Licht und Farben, die ihin eigentümlich angehören, fondern auch noch eine ganz andre Art von Vorftellungen zu, nehmlich die von Raum, Geftalt, und Bewe- gung, deren mannichfaltjjige Modificationen felbft die Erfcheinung der Farben und des Licht-» ändern. Die erften nach den lezten und diefe nach jenen zu beurtheilen, wird, bei uns znlezt zur Gewohnheit, Diefes ge- fchiehet in manchen Fällen bei Dingen, von denen wir viele Ei fahrungen haben, fo re°el- mäfsig und fchnell, dafswirdas, was eine \'orftellurg des Verftandes ift , für eine Wahr- nehmung der Sinne halten, und dann dient die lezte nur dazu, die crfte zum ßewufst- feyn zu bringen, ohne felbft die Aufmerkfara- keit auf (ich zu ziehen : fo wie ein Mann der aufmerkfam -und mit Nachdenken etwas lieft oder höret, wenig auf die Sprachzeichen und Laute, aber deftomehr auf die Begriffe achtet, die dadurch veranlaget werden follen.
§. 10*
Neuntes Kapitel. 807
§. IÖ.
Dafs dieres fafl ohne Bewufstfeyn gefchie- hpt, darf uns nicht Wunder nehmen, wenn wir bedenken, wie fch n eil die Ha n d l u n- gen der Seele vollzogen werden» Denn fo wie fie als ein aufsenäumii< hes nicht ausgedehntes ^efen gedacht wird, fo fcheinen auch ihre Handlungen an keine Zeit gebunden zu feyn. fodafs viele derfelben fich in einen Augenblick zulammen drängen, ich fage dieles nur in v ergleichun^ mit den Wirkungen des Körpers. Diefe Tnat fache kann Jeder an Temen Gedanken wahrnehmen, wenn er über lie refleclirt. Wie fcbnell , als wäre es in einem Augenblick, überfcliaut die Seele nicht mit einem Bück , alle Gliedert einer De. jnonftration , welche in ß< tracht der Zeit, die eserfodert, lie in Worte zu fallen, und ei- nem andern Schritt vor Schritt darzultellen, gar wohl eine lange Reine genannt werden kann. Das Auffallende jenes Fäciums verliert fich auch zweitens durch die Bemerkung, dafs die Fettigkeit eivvas zu thun . die durch Gewohnheit entftand , oft zur Folge hat, dafs U 2 man
3o8 Zweites Bncli,
man es ohne Befonnenheit thut. Vorzüglich ift das der Fall bei Fertigkeiten, zu welchen in der frühen Jugend der Grund gelegt wur- de; man thut zulezt Handlungen, wel- che fich oft unfrer Bemerkung ganz entziehen. Wie oft des Tages fchlie- fsen wir uufere Augenlieder, ohne wahrzu- nehmen, daTs wir uns ganz im Dunkeln be« finden? Wer lieh ein gewifles Beiwort ange- wöhnt hat, fpiicht faft bei jedem Satze Lau- te aus , die er weder hüret noch beobachtet, ob He gleich von andern bemerkt werden. Es darf uns daher nicht befremden, wenn unfer Gemüth oft eine Vorfte'llung {der Sinn- lichkeit in eine Vorftellung des Verßandes verwandelt, und ohne Befonnenheit die eine blos zur Erweckung der andern braucht.
§. II.
Das V o r T t e 1 1 uns« vermögen ife das U n t e r f c h e i d u 11 g s in e r k tu a 1 zwifchen den Thieren und den leblofen Dingen.
Die Vorfiellungsfähigkeit fcheint mir das
eben dem
Unter fcheidun^srneriimalzwifehen
N e u n t e 8 Kapitel. Sog
dem Trfierreiche und den andern Katurwefen auszumachen, Einige Pflanzen find zwar eines gewtffen Grades von Bewegung fähig, fie ändern auf die ver- fchiedene Berührung von andern Körpern ih- re Geftalt und Bewegung fehr rafch, und werden daher, weil ihre Bewegung mit der, weichein Thieren auf die Empfindung folget, einige Aehnlichkeit hat, empfindende Pflan. zen genannt. Doch ift alles das meines Er- achtens blofser Mechanismus, fo wie das Hüpfen des Wildhafers, wenn er durchnäfst und das Rürzerwerden eines Seils, wenn es mit Waffer begoßen wird. Allein diele Ver- änderungen erfolgen ohne Empfindung, oh- ne Vorl'tellung in diefen Ob/ecten.
$.
Das VaTfleUungsvermögerj finlet fich, wie ich glaube, bei allen Thieren von jeder Art iu einem gewiffen Qiade, wenn e> { möglich ift, du s einige fb wenige von der Natur zur Aufnahme der Eindrücke einge- richtete Organej eine fo fch wache Empfäng- lichkeit und ein fo dunkles ßewuCstfeyn für U 3 fie
3io Zweites Buch,
jie haben, dafs de andern Thierarten in An- fehung der Lebhaftigkeit und der Mannich- faltigkeit von \ orftellungen weit nachftehen. Aber diefer geringere Gtad ift für diele Thie- re zureichend , und itirem Zuftande angemef- fen , fo dafs fich die Weisheit und Güte des Schöpfers in allen Theilen des erltaunungs- würdigen Weltbaues und in allen Abftufun- gen und Rangordnungen der Gefcuöpfe offen- baret.
§. i3.
Wir können, wie ich glaube, aus dem Bai) einer Aufter oder Meerfcbnecke ganz rieh, tig fehljefsen, d.^s fie nicht fo viele und leb- hafte Sinne als ein IVIenfch oder andre Thie- re haben, und hätten fie auch diefelben, fie wären in ihrem Zuftand und bei dein Unver- mögen, fich von einem Orte zum andern zu bewegen, nicht beffer daran. Was könnte das Geticht oder Gehör einem GeCchöpfe nü- tzen . welches fich weder den Objecten nä- hern noch von ihnen entfernen kann , an de- ren es fchon in der Ferne Gutes oder Hofes wahrnimmt? Und wäre eine lebhafte Empfin-
düng
Neuntes Kapitel, Sil
düng nicht ein Uebelftand für ein Thier, das, •wo es der Zufail hingeworfen hat, fülle lie- gen, und da dem Einflufs des warmen und kalten , reinen und faulen Wallers, wie es trifft, ausgefetzt feyn mufs?
§♦ i4«
Aber eine geringe und fchwache Empfin- dung fcheint mir doch auch hei diefen ange- nommen werden zu muffen, wodurch fie fich von ganz empfiudungslofen Wefen unter- fchfiden. Für die Möglichkeit diefer Vor- aussetzung fprechen klare Thatfachen, die wir felbft bei den Meufchen finden, Man denke fich einen Greis, in dem das Alter das Ge- dächtnis feiner frühern Kenntniffe vertilgt, alle altern Vorftellungen verwircht, fein Ge- ficht, Gehör und Geruch ganz und fein Ge- fühl gröfstentheils zeiftühret , und dadurch fdft alle Eingänge für neue Vorftellungen ver- ftopft hat. Und wenn auch einige Ca- iiäle noch halb geöfnet lind , fo nimmt er doch die Eindrücke kaum wahr, und fafst fie faf*t gar nicht in das Gedä>htnifs auf. Wie weit lieh ein folcher Menfch in Anfehung fei. L1 4 ner
5n Zweites Buch.
«er ErkenntnifTe und \ erftardeskräfte. aller fo fehr ^eiühinten angebornen Grundfätze unge- achtet, über den Zuftaud einer Außer oder IVleerfchnerke erhebe, will ich der Betrach- tung meiner ' efer überladen« Hätte bei ei- nem Menfchen die er Zuftand fechiig Jahre gedauert, welches eben fo mög ich ift, als dafs er drei Tage dauert, fo würde es ein Wunder" fejn, wenn zwifchen ihm und einem Thier der niedrigen Art noch ein Unter- fcl'i^d in Anfehung dergeiftigen Vollkommen- heit ftatt fände.
§♦ i5.
Das Vorftellungsvermogen ift der einzige Kanal aller Er- kenn tn if s.
Das Vorfrellen ift der erfte Schritt und die erfte Bedingung zur Erkenntnifs, indem durch fie alle Materialien derfelben in die Seele eingeführet werden. Jewe- iliger Sinre ein Menrch oder ein andres Ge- fchöpf hat; je fchwächer und weniger die
Ein-
Neuntes Kapitel, 3x3
Eindrücke auf dierelben , und je weniger leb- haft die Seelenkräfte find , welche lieh mit derselben befehäftigen , defto grüfser iit der Abftand zwilchen ihrer Erkenntnifs und der- jenigen, welche bei andern Menfcheu gefun- den wird. Der mannigfaltige Unterfchied in den Graben derleiben, der unter den Men- fchen wahrgenommen wird» läfst iich aber bei v^rfchiedenen Thieranen , noch we- iliger bei einzelnen Individuen derfelben ge- nau beftimmen. Ich wollte hier nur bemer- ken , dafs das Vorlieben , die erfte Wirkung unfrer geiftigen Kräfte , und der Kanal ift , durch weichen alle Erkenntnifs in die Seele geleitet wird. Und für mich ili es fehr wahr- feheiniieh , dals der niedrig Ite Grad dell'ei- ben die Grenzlinie zwifchen dem Tfuerreich und den übrigen Gefchöpfen von niedrigem Range ausmacht. Doch diefs ift nur eine beiläufige Vermuthung, die, wie fie auch von den Gelehrten entfehieden werde , auf unfern Gegenftand keine ßezieaung hat,
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3i4 Zweites Buch.
Zehntes Kapitel.
Von dem Eehaltungsvermögen (Retention,),
§. i.
Von der Betrachtung.
^^as zweite Vermögen der Seele, wodurch fie (ich der Erkenntnifs noch mehr nähert, ift das Behalten oder die Aufbewahrung der einfachen, dnrch die Sinne und Reflexion er- zeugten Vorftellungen. Diefes gefchiehet auf eine doppelte Art. Erftlich können die Vor- ftellungen, welche der Seele gegeben wor- den , einige Zeitlang wirklich im Bewufst- feyn erhalten weiden. Diefes nennt man Betrachtung (.contemplation).
Von dem Gedächtnifs.
Die zweite Art be flehet in dem Vermögen, die Vorftellungtii , welche nach dem Eindru- cke
Zehntes Kapitel. 5i5
cke verfchwunden , oder gleichfam ans dem Gefichte auf die Seite gelegt worden , wieder in erneuern. Das gefchiehet z. B. wenn wir uns die Hiue, das Licht, die SüTsigkeit eder die Farbe eines nicht gegenwärtigen Objects vorftellen. Diefes Verniögea ilt das Gedächt nifs, gleichtun die Vorrathskarn- mer unfrer Vorftellungen. Denn da der be- schränkte Verftand des Menfchen nicht viele VorhVllungen auf einmal im Bewufstfeyn ha* ben und betrachten kann, fo muffte er eine Niederlage zur Aufbewahrung derjenigen ha ben, welche er ein andermal wieder brau- chen könnte. Unfere Vorstellungen find aber nichts anders als Arten des Bewufstfeyns, und fie hören mit dem Bewufstfeyn auf, etwras zu feyn. Daher bedeutet das Niederle- gen in dem Behältnifs des Gedächt- nifses nichts anders, als das Vermögen der Seele, in vielen Fällen ihre ehemals gehabten Vorftellungen mit dem ihnen anhängenden Be. wufstfeyn, dafs fie diefelben ehemals hatte, zu erneuern. In diefem Sinne lägt man auch, die Vorftellungen find in dem Gedachtnifs, da fie doch in Wahrheit nirgends find; man ver- liehet darunter nur ein Vermögen der Seele,
fie
3x6 Z W e i t e s Euch.
fie wieder zu erwecken, und gleichTatn von neuen bald mit mehrerer, bald mit geringerer Schwierigkeit, bald mit lebhaften, bald mit fchvvächern Farben zu malen. Und fo kann mau unter der Bedingung dieTc; Vermögens fagen, dafs wir alle Vorftellungen im Verftan- de haben, welche wir zwar nicht wirklich betrachten, aber doch wieder ins Eewufst- feyn bringen und darfiellen können, fo dafs fie ohne Hülfe der finulichen Ei°enfchaften, welche fie zuerft einprägten, Gegenftände ynfers Vorßellgns werden.
§. 3.
Au tmerkfamkeit, Wiederholung, Vergnügen und Schinerz fixi- ren die Vorftellungen.
Die •Aufmerkramkeit und die Wiederho- lung trafen das meifte zt:r feltem Aufbewah- rung der Vbrftellimgjeii bei. Diejenigen aber, welche gleich beim erften Vorftellen von fclbft den tiefften und dauerhafteften Ein- dru«.k machen, find die mit Vergnügen und S chiii er z vergefüif chatteten Vorftel-
luB-
Zehntes Kapitel. 3j7
lungen. Da die Sinne die wichtige Beffint- inung haben, uns auf das, was unfenn Kör- per febädlich oder vorteilhaft Ift, aufmerk- fam zu machen , fo bat es die Natur weislich veranftahet, ddfs mit dem Empfangen gewif- fer Vorftelhingcn Schinerz verbunden ift, der, indem er in Kindern die .Stelle der Uenerle- gung un 1 der Vernunft vertritt, und in £r- wachfenen gefchwiuder als die Ueherleguhg wirket, füAohl (liefe als jene, fo eilig; als es zu ihrer Erhaltung oötlnwi u ig i» beiH uit, die Urfachen des Unangenehmen G« ülds zu vt t. le Auf diese Art febäff^ der
Schmerz .ii n bedaciiiüifs Bekuuaiukeit lux die Zukunh ein.
$. 4*
Die Vor ftellu n gen vprfchwinden aus dem Gedächtntfs.
Ueber die verschiedenen Grade der Dauer mit welcher die Vofftellungen dem Gedacht« niffl eingeprägt werden , 1 Ihn Geh folgende Bemerkungen machen. Einige werden in dem \ erftanda nur durch ein Übject hervor-
g*
5i8 Zweites Buch.
gebracht, welche? dieSinne nur ein einziges- iual afficieret; andere Objecte ftellen Och den Sinnen öfterer dar, werden aber nicht lehr bemerkt, weil die Seele entweder un« achifain ift, wie bei Kindern, oder wie bei Erwachfenen, anderswo befchäftiget und auf einen andern Gegenftand gerichtet ift, einher das Gepräge nicht feit j;enug eingedrückt wird. Bei einigen Vorflellungen , welche forofältig und zu vviderholtenmalen auf- getaut werden i ift doch das Gedachtnifs fchwach i ent^eier we-en ßcfchaffenheit des Körpers oder wegen eines andern Feh- lers. In allen dieieu Fällen werden die Vor» ßellungeti matier und verfchwinden öfterer ganz, und gar aus dein VerLtan ie, ohne eine Spm oder einen Zug zurück tu lallen, wie die über ein Kornfeld liiegenden Schatten^ und dann i(t die Seele lo von ihnen . entledi- get, a!s wenn he nie in derleiben geweleni wären,
§. 5,
Auf diefe Weife gehen viele von den Vorftellungen , weiche in der Seele der Kin- der
Zehntes Kapitel. 319
der zur Zeit, als ihre Sinnlichkeit Och zu äufserii anfing, — vielleicht auch noch frü- her und vor ihrer Geburt , zumal gewille an- genehme oder unangenehme Gefühle — er- zeugt worden 'find, wenn lie nicht in den folgenden Perioden des Lebens wieJerfiolet werden, bis auf die geringste Spur verloren. Diefe Beobachtung läfst fich bei folchen Per- fönen machen , welche in ihrer frühen Ju- gend durch einen Unglücksfall ihr^s Gefichts beraubt wurden. Hier pllegtn die Vorftel- lungen von Farben, weiche nur leicht auf gefaist und nicht öfterer erneuert werden, bald verdunkelt zu werden, fo dafs nach eini- gen Jahien eben i'o wenig als bei ßiind-ebor- neu eine Vorltellun^ oder ei^e Spur ddvon in ihrem Gedächtnifs geiunden wird* Lei einigen Alenlchen ift zwar das G^la httiifs oft zum Lritaunen feite, aoer deiinocii icheint eine allgemeine Abnanu e bei aller! unleru \orftellungen l'<_iu:t den am ututen eingeklag- ten und in üeui gluQklicülH n Gedatütin s lidit zu finden. Wenn 11 e daher meut duitü wie- derholte Anwendung der öinne und der Ke« flexion auf denfeiben Gegenltand,- erneuert werden, fo gehet nach und nach das «Jtpra^e
aus
5:ö Zweites Buch,
aus , bis zulezt nichts mehr davon fichtbar ift. So fteiben die Vorftellungen gleich Kin- dern unfrer Jugend oft vor uns hin ; unfre Seele mahnt uns an die Grabmäler, denen wir uns nähern , an denen zwar das Erz und Marmor bleibt, aber die Infchriften durch die Zeit vertilgt werden, und die Bildnerei hinlchwindet. So ift auch die Malerei in üftfrer beele mit vergänglichen Farben aufge- tragen, welche verfchwinden , wenn fie nicht zuweilen aufgefrifcht werden. Ich will hier tiichi unterfuchen, in wiefern die Be- fchaffetiheit uufrer Körper und die Struktur der Lebeneoeifter dabei mit im Spiele ift, und ob nicht 3uf der Tempera -■? des Gehirns die Verffchiedenheit des Gedächtnifses beruhet, dafs e. bei einigen Menfchen die eingepräg- ten Züge der VorhVüünsen als Marmor, in andern als ein Qu-ideritein , in andern nicht viel behVr als Sand erhält Aber wahrschein- lich ift &s doch immer, dafs die Beschaffen, heit des Körpers Einflufs auf das Gedächtnis hat weil »vir oft bemerken, dafs eine Krank- heit alle Vörfielluhgfen gleiehfam abftreifet, und die Fieberhitze alle Bilier, denen wir «ine ewige Dauer verfprachen , als wären fie
in
Zehntes Kapitel. 3ar
in Marmor gegraben , in wenig Tagen in ein Chaos von Staub verwandelt;
§. 6.
Behändig wiederholte Vor Tei- lungen verlieren fieh nicht leicht.
Was aber die Vorftellungen felbft betrifft) fo ift leicht zu bemerken , dafs diejenigen (ich am fefteften dem Gedächtnifs einprägen, und am längften in ihrer Klarheit erhalten» welche durch das öftere Vorkommen der Ge- genwände und der Handlungen, aus welchen fie entftehen , am häufigiten erneuert werden« *L\i dielen gehören diejenigen , welche auf mehr als einem Wege in die Seele kommen. Die Vorftellungen von den urfprünglichen Eigen (chatten der Körper als Dichtheit» Ausdehnung, Geltalt, Bewegung und Ruhe; Vorftellungen von folchen Eigen- fchaften, welche fall immer auf unfern Körper wirken, als Hitze und Kälte; Vorftellunsen VonEigenfchafien die allen Din en von jeder Art gemein find, als Exiftenz, Dauer, Zahl —Vorftellungen, welche faß jedes Object, das unfre Sinne afficiert, jeder Gedanke, der X unfern
3^,2 Zweites Buch.
unfernGeiftbe[cbäftiget,mit Och führet, — diefe und ähnliche gehen feiten ganz, verloren, fo lange das Gemüth nur noch überhaupt einige Vorfteliungen feft halt.
§. 7.
Die Seele ift oft thätig bei Er in« nerung der Vorfteliungen.
Bei der zweiten Vorftellung, wie ich es nennen möchte, oder der Zurückrufung der Gedächtnifsvorßellungen in das Bewufstfeyn ift die Seele öfters etwas mehr als leidend, indem die Wiedeibelebung die- fer fchlummernden Bilder zuweilen von dem Willen abhängt. DdS Gemüth wirkt oft jfelbftthätig dahin, um dunkle Vorfteliungen aufzugehen, und richtet gleich/am das Auge der Seele darauf. Doch zuweilen drängen fich die Vorfteliungen von felbft empor und Jßellen fich freiwillig dem Verftande dar ; oft Xtürzen fie bei ftürmiiehen I-eidenfchaften aus •ihren dunkeln Zellen ans Licht hervor j eini- ge werden durch unfre Affecten ins Bewufst- feyn gebracht, welche aufserdem in ewiger Vergeüenheit gefchlumrnert hätten. — In
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Zehntes Kapitel. 325
AnTehuHj» der Gedächtnirsvorfldlungen und ihrer Erneuerung ift Doch zu bemerken, dafs fle nicht nur keine; neuen Vorfrellun^en find, welches das Wort Erneuern fchon mitfich bringt, fondern daTs auch das Gernüth ihre» nicht anders als ehemaliger. Eindrucke wie« der bevvufst wird, und ihre alte Bekannt- fchaft mit ihnen nur wieder erneuert, Ael- tere Vorftellungen find alfo zwar nicht immer gegenwärtig, aber bei der Erinnerung ftellt fich die Seele allezeit vor, dafs fie einft fchon gegeben d. i. gegenwärtig waren, und vor* geitellt worden find,
§. 8.
Zwei Un Vollkommenheiten des Gedächtniffes, Vergeffenheit und Langfa tu k e i t.
Nächft der VorftelIungsf;ihigkeit ift das Ge. dächtnifs für ein vorftellendes Wefen am un- efitbehrlicbften, und Von fo großem Einflufs, dafs alle unfre übrigen Vermuten ohne diefes gröTstentheils unnütz find. Wenn uns das GeiUchtnifs nicht zu Hülfe käme, fo würden X 3 . wir
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Zehntes Kapitel.
325
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beftimmt, der Seele die fchkimraernilen Vor- ftellungen in dem Maate herbeizufchaffen, als fie diefelben nöthig hat. Ein glückliches Gedächtnifs, dafs man diefe Vorftellungen bei allen Gelegenheiten in Bereitlchaft hat, macht das aus, was man Erfindungs- kraft, Einbildungskraft und fchn ei- len Witz nennt»
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Dieres find die Mängel des Gedächtnifse«, infofern wir einen Menfctien mit dem andern vergleichen. Es läfstücb aber noch eine an- dre Unvollkommenheit denken, wenn wir den Menfchen überhaupt mit einem höhern verftändigen Wefen in Vergleichung fetzen. Denn diefes kann in*An(ehung des Gedacht- niffes foweit den Menfchen übertreilen , dafs ihm die ganze Reihe aller feiner vorigen Handlungen beftändig gegenwärtig ift, und nicht ein einziger Gedanke aus dem Bewußt- feyn entfchlüpft. Die AllwüTenheit Gottes, der alle vergangene , gegenwärtige und künf- tige Dinge weifs, und dem alle Gedanken des mer.fchlichen Herzens zu allen Zeiten of- X 5 fenbar
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324 Zweites Buch,
wir in unferm Denken, Schliefsen und Er- kennen nur auf das Gegenwärtige einge- fchränkt feyn. Es find aber bei demfelben zwei Mängel denkbar. Erftlich wenn es die Vorftellungen völlig verlieret, und infotern Unwiflenheit erzeuget. Denn wir willen nur das, wovon wir eine Vorstellung haben ; ift diefe verfchwunden , fo find wir in eine völ- lige Umviilenheit verfetzt Die zweite Un« Vollkommenheit ift Langfamkeit, (Trägheit) wenn es die vorräthigen Vorftellungen nicht fchnell genug hervor langt, und den Geift nicht gehörig unterftiitzt. Ein höherer Grad diefes Fehlers heifst Dummheit* Ein JMeulcii, der wegen diefes Fehler., ciie Vorftel- lungen, die in dem Gedächtniis wirklich auf- bewahret lind , nicht in Bereitschaft hat, wenn es nöthig ift, ift nicht belTer daran, als wenn er üe gar nicht hätte, weil er keinen Ge- brauch von ihnen machen kann , und der Dumme ift nicht glücklicher bei feinen Kennt- niüen, als der ganz unwilTendej denn wäh- rend er in dem Gedächtnifs Vorftellungen fucht, die zu feinen Zwecken pailen , ift die Gelegenheit} fie zu gebrauchen fchon ver- fchwunden. Das Gedächtniis ift alfo dazu
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Zehntes Kapitel. 325
beftimmt, der Seele die fchlummernden Vor- ftellungen in dein Maafse herbeizufchaffen» als f:e diefelben nöthig hat. Ein glückliches Gedächtnifs, dafs man diefe Vorftellungen bei alieii Gelegenheiten in Bereitlchaft hat, macht das aus , was man Erfindungs« kraft, Einbildungskraft und fchn ei- len Witz nennt,
Diefes Und die Mängel des Gedächtnifse«, infofern wir einen Menfcnen mit dem andern vergleichen. Es läfstfich aber noch eine an- dre Unvollkommenheit denken, wenn wir den Menfchen überhaupt mit einem höhern verftändigen Wefen in Vergleichung fetzen» Denn diefes kann inkAnfehung des Gedächt- niffes foweit den Menfchen übertreffen, dafs ihm die ganze Reihe aller feiner vorigen Handlungen beftändig gegenwärtig ift, und nicht ein einziger Gedanke aus dem ßewufst- feyri entfchlüpft. Die AllwifTenheit Gottes, der alle vergangene, gegenwärtige und künf- tige Dinge weifs, und dem alle Gpdaiiken des mer.fchlichen Herzens zu allen Zeiten of. X 5 fenbar
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wir in unferin Denken, kennen nur auf das de (ertrankt feyn. Es find a zwei Mängel denkbar. Et! VoTftellungen völlig verlie Unwiflenheit erzeuget. De das, \\ ovon wir eine Vorlt diefe verfchwunden , fu Im lige l ■ u illi nheit verfetzi
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325 Zweites Buch.
fenbar find, kann uns von der Möglichkeit eines folchenGedächtniffes überzeugen. Denn follte Gott nicht einige feiner Vollkommenhei- ten in dem Grade als es ihm gefallt, und def- fen ein endliches Wefen fähig ift, den erha« benen Geiftern, die zunächft an feinem Thro- ne ftehen , mittheilen können? Man erzäh- let vom Pascal, diefem von Seiten des Gei- ftes außerordentlichen Manne, dafs er, fo lan- ge Kränklichkeit fein Gedächtnifs nicht fchwächte, von alle dem, was er in den Jahren des Verftandes gethan , gelefen und ge- dacht hatte, nie das geringfte vergafs, — ein Vorzug, von dem die meiften Menfchen nichts willen, und den diejenigen für unglaublich halten werden, welche andere nach dem ge- wöhnlichen Maafsftabe, nach fich meffen. Diefe Betrachtung kann aber dazu dienen, unfern Verftand die Vorftellung größerer Vollkom- menheiten des Gedacht nilTtjs in erhabenem Geiftern zu erleichtern. Denn das Gedächt- nifs des Pascal hatte doch noch immer die Einfchränkung an fich, welche von dein menfchlichen Geifte hienieden unzertrennlich ift ; es umfafste eine grof>e Mannichfaltigkeit von Vorltellungen , aber nicht auf einmal, fon- dern
Zehntes Kapitel, 327
dem nach und nach. Engel von gewiffen Ran- ge haben hingegen wahrfcheinlich einen grü- fsern Gesichtskreis , und Cnd mit dem Ver- mögen ausgestattet worden, alle ihre vorigen KenntnifTe auf einmal und neben einander zu behalten, und beftändig wie in einem Gemäl- de fich vorzuhalten. Für einen Denker unter den Sterblichen würde das, wie fich leicht den- ken liifst, kein kleiner Vortheil bei feiner Er- kenntnifs feyn , wenn ihm alle feine altern Gedanken und. Schlüfle immer gegenwärtig; wären. Diefs ift alfo wohl einer von denGe- fichispunkten, in welchem die Erkenntnifs der blo-fs geiftigen Wefen die unfrige weit hinter fich läfst.
§. Io»
Die Thicre beTitzen ein 6 e-
däcb, tnifs.
Das Vermögen , die von der Seele aufge- faßten Vorftcllungen zu behalten und aufzu- bewahren findet fich auch, wie es fcheint, bei verfchieuenen Thieren und in eben dem Gra- de als bei Mehfchen. Denn, um nnr ein X 4 Bei-
3ü8 Zweites Kapitel.
Beifpiel anzuführen , die Vögel lernen Melo- dieen, und bemühen fich , wie ruan ganz deutlich bemerken kann , die Töne richtig zu treffen. Diefs fcheint mir aufser allen Zwei- fel zu fetzen, dafs fie Vorftellungen haben, fie im Gedächtnifs behalten, und als Mufter gebrauchen. Unmöglich könnten fie fich be- ftreben, ihre Stimme mit den Noten einftim- rnig zu machen, wie fie doch offenbar thun» Wenn fie keine Vorftellungen von den Tö- nen hätten* Ich leugne nicht, dafs ein Ton* während er wirklich gefpielet wird, niecha» xiifch gewifle Bewegungen in den Lebensgei- iiem des Gehirns bei den Vögeln hervorbrin- gen kann. Diefe Bewegungen mögen fich, wohl bis zu den Mufkela ihrer Flügel fortpflan- zen , und fo können die Vö^el durch ein ge- wiffes Geräufch mechanifch fortgetrieben wer- den , weil das vielleicht zu ihrer Erhaltung abzwecken mag» Allein da die Nachahmung aoichts zur Erhaltung des Vogels beiträgt, fo kann diefs rieht als Grund angenommen wer- den, warum eine vorgefpielte Melodie — noch weit weniger aber wenn man damit auf- gehöret hat — eine folche Bewegung in fei- nen Sthmuorganen hervorbringe, dafs er die > Töne
Zehntes Kapitel. 029
Töne einer fremden Melorlie nachbildet« Aber was noch mehr ift , man kann mit kei- nem fcheinbaren Grunde vorausfetz,en , noch weniger aber beweifen , dafs die Vögel ohne Vorftellung und Gedächtnis ihre Töne nach und nach einer geftern gefpielten Melodie an- nähern können. Ifl keine Vorftellung davor* in ihrem Gedächtnifs, fo ift fie für fie gar nicht vorhanden ; fo haben fie kein AJufter zur Nachahmung, dem hefich durch wiederhol- te Verfuche nähern könnten. Denn es. läfsr. fich kein Grund denken, warum der Ton ei- ner Yogelflöte Spuren in ihrem Gehirne zu» rütk-lalle, die nicht das erltemal fondern durch ihre wiederholten Verfuche ähnliche Töne hervorbrächten : oder warum ihre ei», ren Töne nicht Spuren zurücklaflen feilten, die fie eben fo gut als die der Vogelilöte nach" ahmen konnten.
X 5 Eilf-
353 Z w e i t e s Buch.
Eilftes Kapitel.
Von dem UnteiToheidungsvermöejen und andern Thäti»ke,iten der Seele.
Ohne Unter fc he idurtg 'i ft keine F. r k e n n t n i f s,
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ir entdecken noch ein andres Vermögen in der Seele, nehmlich das Vermögen die vorhandenen Vo r f teil u n g e n zu tren. nen und zu unt er fch eiden. Es ift nicht genug, eine undeutliche Vorftellung von ei- nein Dinge überhaupt zu haben. Ungeach. tet aller Wirkfamkeit der Körper um uns, wenn de uns afficieren unbeachtet der Thä- ti<ikeit des Gemiiths im Vorftellen würde es doch nur einer fehr geringen Erkenntnifs em- pfanglich fern, wenn es nicht deutliche Vor- sehungen von verfchiedenen Objecten und ihren Eigenfchaften hatte. Auf das Unter- fcheidungsvermögen gründet heb die Evi- denz und Gewifsheit vieler Urtheile,
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Eilftes Ji.ipitel. 53 1
felbfl der allgemeinen , die bisher für ange- borne gegolten haben. Denn man überfiehet gewöhnlich die wahre Urfache, warum diefe Sätze allgemeine Beiftimmung finden , und fchreibt fie daher nur allein den angebornen einartigen Eindrücken zu , da fie doch eigent- lich in dem Vermögen der Seele gegründet ift» Vorftellungen deutlich zu unterlcheiden , und zu beftiramen, ob fie einerlei oder verfchie- ' den find. Doch davon an einem andern Ort ein Mehrere*,,
§. 2.
Unter fchied zwifchen dem Witz und dem Unheils ver mögen.
In wiefern der Mangel einer fcharfen Unm terlcheidung deT Vorftellungen in der Stumpf- heit oder andern Fehlern der Sinnorgane, oder in dem Mangel des Scharffinns, der Uebung und Aufmerkfamkeit des Verftandes, oder endlich im Leichtfinu und Uebereilung, die gewiffo.i Temperamenten natürlich find, ge- gründet fey , will ich hier nicht unterfucheru Es ift °enug, wenn ich bemerke, clafs es ei- ne von den Wirkungen der Seele ift, die
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332 . Zweites Buch.
man reflectiren und beobachten kann, Si« ift von io giofsem Einllufs auf uufre Erkennt- nifs, tia!s in dem ^eihältnifr, als diefes Ver- mögen zu ftumpf ift, oder nicht recht ange- wendet wird , um ein Ding von dem andern zu unterfeheiden , in dem \ prtiäftniTs unfre Begriffe undeutlich, unfre Urtheiie und Schlüf* fe verwirrt und fauch find. Wenn der Witz darin beftehet, dafs man die Gedächtuifsvor- ßellungen immer in Bereitichaft hat, fo macht die Deutlichkeit der Begriffe und die Fähig- keit ein Ding von dem andern bis auf die ge- ringflc Verfchiedenheit fcharf zu unterfehei- den , das treffende Urtheil und die klaren Schlüffe, worin ein Menlch dem andern über- legen ili , gröfstenthejls aus. Hieraus läfst fich vielleicht die gemeine Beobachtung er- klären, dafs Menfchen von grofsem Witz und fchnellen Gedächtnifs nicht allezeit die hellefte Beurtheilungskraft und die gründlicli- fte Einficht befitzen. Denn der Witz be- ftehet gröfstentheils nur in einer fchnellen und mannichfaltigen Zufammenftellung der Vorftellungen, die in gewiffem Grade ähnlich oder zufa mm er: paffend Gnd, um daraus rei- tzende Gemälde und angenehme Bilder für
die
Eilftes Kapitel. 355
die Phantafie zu erzeugen. Die Beurthei- ]ungs kr alt iß: hingegen das entgegengefetzte Verfahren, die Vorstellungen forgfähig von einander zu trennen, in denen die kleinfte Verfchiedenheit gefunden wird , um "nicht durch die Aehulichkeit oder Verwand fchaft getäufcht, ein Ding mit dem andern zu ver. wechfeln. Diefes Verfahren ift den Meta- phern und Anlpielungen grade entgegenge- fetzt, Worin gröfstentheils das Unterhaltende undBeluftigende des Witzes liegt. Der Witz rühret die Phantafie fehr lebhaft, und des- wegen gefällt er fo allgemein; feine Schön- heit leuchtet beim erften Anblick in die Augen und er erfodert kein angestrengtes Denken, um zu erforfchen, wie viel Wahrheit oder Vernunft in dem witzigen Einfall liege. Die Seele beluffiget fich an dem Reitz der Schil- derungen und den muntern Farben der Phan- lafie, ohne alle weitere Anfoderung. Die Aeufserungen des Witzes nach den (trengen Regeln der Wahrheit und der Vernunft zu prüfen, wäre eine Art von Beleidigung »e. gen fie; aber daraus erhellet auch fo viel, dafs fie jenen Regeln nicht völlig emfprechen,
§♦ 3,
334 Zweites B u c h ,
Klarheit der Vor Heilungen das einzige Mittel gegen die Ver- worrenheit derfelben.
Um die Vorßellungen genau zu unterfchei- den , kommt es hauptfächlich darauf an, dafs He klar und beftimmt find; dann kann nicht leicht eine Verwirrung oder ein Irr- thum veranlafst werden , wenn auch gleich die Sinne — wie es wirklich manchmal der Fall ift, — unter verfchiedenen Verhältniffen von einerlei Objett verfchiedene Vorftellun- gen erzeugen, und daher zu ii.en fcheinen» Denn obgleich einem Fieberkranken der Zu- cker bitler fch/necken kmn , dtr für ihn fonft füfs fchmeckend war, fo rnufs doch fein Ver- band die Voifteliung der Bitterkeit und der Süfsigkeit eben fo klar und deutlich unter- fcheiden, als wenn er nur allein Galle geko- ftet hätte. Beide Vorftellungen können des- wegen, weil ein Körper zu verichiedenen Zeiten beide durch den Gefchmack verur- facht, eben fo wenig verwechlelt werden» als die Vorftellungen von Weifs und Süfse, oder Weifs und Rund, weil dieie durch das nehm-
liche
Eilftes Kapitel. o.V>
liehe Stück Zucker zu einer Zeit in der Seele erzeuget werden. Die Vorftellurfgen von der himmelblauen und der Orangefarbe und eben fo klar, wenn fie beide durch die nephritifche Tinctur (infufion of lignum nephriticurn) als wenn fie durch zwei verfchiedene Körper hervorgebracht werden.
§• 4.
Vergleichung der Vo rftell iingen.
Eine andere Thätigkeit des Gemüths in AnTehung der Vorßellungen, ift ihre V e r- gleichung in Arife'iung des Urnfangs und Grades, in Anfehung der Zeit- und llaumver- hältniffe und anderer Umftände. Hieraus entspringt eine zahlreiche Verwandfchaft von Vorftellungen, welche wir unter dem Worte Verhälmifs zufammen fallen. Von wel- chem Umfang diefer Begriff iß , wird weiter unten gezeigt werden,
§. 5.
335 Zweites Buc )u
§. 6.
Auch die Thiere vergleichen Vor ft eilung en aber auf keine fo vollkommne Art.
In wiefern die Thiere an diefem Vermö- gen Antheil haben, läfst fich nicht leicht be- ftimmen; aber meines Erachtens belitzen fie es in keinem grofsen Grade. Denn he haben zwar manche klare V orfteil ungen, aber es fcheint ein Vorzug des menfchlichen Verban- des zu feyn, dafs er, wenn er gewifle Vorftel- lungen vollkommen unterfehieden , und ais- ganz entgfgengefeut und der Zahl nach ver» fchieden erkannt hat, übei legen und nach- denken kann, in welchtii Beziehungen eine Vergleichimg unter ihnen mÖg ich ift. Und daher vergleichen die Thiere, wie kh glau- be, ihre Vorfielhingen nur in Rücklicht auf einige finnliche Verhaltniile, die die Objecte felbft angehen. Das Vermögen allgemeine Begriffe zu vergleichen, welches zum abftra- cten Denken von INutzen ift, dürfte ihnen wahrfcheinlich fehlen»
Eilftes Kapitel. $5j
Von dem Verbindungsvermögen»
Nächft jenem beobachten wir in der Seele noch ein Verbi n dungs ver m ügen , wo- durch fie verfchiedene von den Sinnen und der Reflexion erhaltene einfache Vorstellun- gen verbindet , und zufainmengefetzte daraus bildet. Zu diefer Verbindung kann man auch die Erweiterung der Vorftellungen rech- nen. Obgleich hier die Verbindung nicht fo> fichtbar ift, als in zufammeugefetzten Begrif- fen, fo werden docli wirklich \ orfttdlungeu, obgleich nur einartige zufammengefetzt« So erzeugen wir den Begriff von einem Dutzend, durch Zufammenfetzung mehrerer Einheiten und die Vorftellung von einer feldwegs Län- ge durch Verbindung mehrerer Ruthen.
§♦ 7-
DieThieTe be fitzen das Verbi n- d ungs ve rmögen in einem fehr geringen Grade«
Auch darin fcheint mir der Menfch gro-
fte Vorzüge vor dem Thiere zu haben« Denn
Y ob
35s Zweites B u c lu
ob fie gleich verrchiedene Verbindungen auf- laden und behalten — fo beftehet die Vor- ftellung des Hundes von feinem HeTrn aus den einfachen Vorfteilungcn von feiner Ge- ftalt, Stimme und feinem Geruch , wenn die- fes nicht vielmehr eben fo viele einzelne Merkmale find, an denen er ihn erkennt — fo glaube ich doch nicht, dafs er felbft diefel- ben verbindet, und daraus zufammengefetz- te Vorftellwrgen bildet. Und felbft wo wir diefe bei ihnen vorausfetzfn , ift es vielleicht nur eine einfache Vorftellung, die fie bei der Erkenntnis verfchiedeuer Dinge leitet, wel- che fie vielleicht weniger, als wir glauben, durch das Geficht unterfcheiden, IVlan hat mir verfichert, dafs eine Hündin junge Füch- fe fo gut als ihre eignen Jungen fange, mit ihnen Ipiele und zärtlich thue, wenn man fie nur einmal dahin gebracht hat, die jungen Füchfe an ihren Brüften fo lange faugen zu lalTen, bis die Milch durch ihren Körper cir- Culiret. Die Thiere, welche viele Junge, auf einmal gebühren , fcheinen keine Kenntnifs von ihrer Zahl zu haben« Die Mutter ift zwar feh'r bekümmert, wenn man eines der- felben wegnimmt, fo lange fie diefelben vor
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Eilftes Kapitel. 55g
-den Augen hat, oder hüiet; aber wenn uian einige in ihrer Abwefenheit und ohne Ge- räuTch wegnimmt, fo fcheint iie diele Ihen nicht zu vermilTen, odeT zu bemerken, clafs die Zahl ihrer Junten verringert worden*
§. ö.
Bereich n ungen der Vor ft ellun- gen durch die Sprache.
Die Kinder lernen nach und nach den Ge* brauch der Zeichen , wenn firh ihre Vorftel- lungen durch wiederholte Eindrücke rn dem Gedüchtnifs fixirt haben, und nach erhngtpr Fähigkeit die Sprachorgane zu Hervorbrin« gung articulirter Töne lelbltthaiig anzuwen- den, fangen fie an, fich der Worte zu be- dienen, um andern ihre Vorftellungen rnitzu- theilen. Sie borgen «liefe Spr^chzeichen theds von andern, tbeüs bilden fie fie fe!hu\ So bemerkt man, dafs fie beim Anfange ihres Sprachgebrauchs den Gegenftänden oft neue ond ungewöhnliche Benennungen geben.
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3/i(j Zweites B u c li.
f. 9.
Abftract ion.
Die Woite werden als äufsere Zeichen unTier innern Vorltellungen gebraucht. Da diefe von einzelnen Dingen aufgenommen find, fo tnütste es eine unendliche Zahl von Sprachzeichen geben, wenn jede einzelne VorlteJlung , die wir empfangen , eine hefon- dere Benennung haben follte. Da hilft fich aber die Seele damit, dafs fie die befondern Vorftellungen zu allgemeinen erhebt, und zwar auf folgende Art, Sie betrachtet Ge als innere, von allen andern existierenden Din- gen, von allen zufälligen Befchaffenheiien der realen Exiftenz als Zeit und Raum und allen andern begleitenden Vorfiellungen ab- geänderte Veränderungen der Seele. Diefeff heifst Ab Strahieren, Die Vorftellurgen einzelner Objecte werden dadurch allgemeine Begriffe der ganzen Gattung, und ihre Sprach- zeichen bekommen eine allgemeine Anwend- barkeit für alles, was mit diefen abftrakten Begriffen einftimmig ift. Der Verftjnd be- wahret diefe beftimmten, blos geiftigen Vor- ßellungen mit den anhängenden Sprachzei- chen auf, ohne darauf zu achten, wie, we- he«
Eilftes Kapitel. ZAl
her und mit welchen begleitenden Vorfiel« Junten fie in die Seele komme, und betrach- tet lie als Regeln , für die Klaffificirung und Benennung der exiftierenden Dinge, infofern fie mit ihnen als Muttern übereinftimmen. Wenn ich heute die nehmliche Farbe an dem Kalk oder dem Schnee beobachte, die ich gertern an der Milch fand , fo betrachtet der Verftand diefe Vorftellung befonders , und macht fie zur Stellvertreterin der ganzen Art; und der Ausdruck, weifs, womit fie be- zeichnet wird, bedeutet nun diefe Befchaf- feuheit, wo fie nt:r gefunden oder vorgeftellt wird. Auf diefe Weife werden allgemeine Begriffe und Spracheeichen gebildet,
5. 10.
Die Thiere abftrahiren nicht.
Sollte es vielleicht zweifelhaft feyn, ob die Thiere auch auf diefe Art und in einem gpwilfrn Grade ihre V'orfteJJungen zufammen* fetzen und erweitern, fo glaube ich es ert- fcheldend verneinen zu können. Das Ab- ftrakiionsvermügen fehlet den Thicren durch« Y 5 aus.
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Eilftes Kapitel.
341
her und mit welchen begleitenden Vorfiel- hingen fie in die -Seele komme, uud betrach- tet fie ah Regeln , für die Klaffificirung und Benennung der existierenden Dinge, infofern fie mit ihnen als Muftern übereinftimmen. Wenn ich heute die nehmliche Farbe an dem Kalk oder dem Schnee beobachte, die ich geftern an der Milch fand, fo betrachtet der Verftand diele, Vorftellung befonders , und macht fie zur Stellvertreterin der ganzen Art; und der Ausdruck, weifs, womit fie be- zeichnet wird, bedeutet nun diefe Beschaf- fenheit, wo fie nt:r gefunden oder vorgeftellt wird. Auf diefe Weife werden allgemeine Begriffe und Sprachzeichen gebildet.
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IO.
Die Thiere abftrahiren nicht.
Sollte es vielleicht zweifelhaft feyn, ob die Thiere auch auf diefe Art und in einem gpwiifen Gra-de ihre Vorftellun^en zufammen- fetzen und erweitern, fo giauh^ ich es ent- fcheidend verr ' kör - Ab-
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542 Zweit£s Buch.
aus. Die Fähigkeit allgemeiner Begriffe ift das vollkorii.i.' nfte Unterid eidnngsmerkmal Zwilchen Menfch und Thieren , und eine Vollkommenheit, weiche die Kräfte der lez- tern nicht erreichen können. Denn wir be- obachten an ihnen nicht die geringfte Spur von allgenri inen Zeichen zum Ausdruck allge- meiner yprftellfingen , und daraus läfst fich mit G»und ichiiefsen, dafs He kein AbTonde- rrihgs- kein Bildungsvenuögen allgemeine* Jte^riffe beliuen.
§. II.
Auch kann es nicht an dem Mangel an Sprachorganen liegen, dafs fie weder allge- meine Worte kennen noch gebrauchen. Denn die Erfahrung lehrt, dafs einige folche Töne nachbilden und einige Worte fehr deutlich ausfprechen können, aber ohne diele Anwen- dung zu machen. Auf der andern Seite find diejenigen Rlenfthen, welche wegen eines Fehlers in den Organen der Sprache beraubt find, noch immer vermögend, ihre allgemei- nen Begriffe durch andre Zeichen, welche die Stelle der V\ orte vertreten, auszudrücken.
Die-
E i 1 f t e s Kapital, 3^5
Di efes Vermögen fehlet denThicrcn offenbar. -Ans diefem Grunde darf man wohl anneh- men, dafs die Thiere in diefem Punkte von den Mcnfchen verfchieden find, und dafs zu- lezt in diefem Unterfcheidungsmerkmal der grofse Abftand, der beide Gattungen trennt, gegründet lft. Denn vorausgefetzt, dafs fie überhaupt Yorftellungen haben, und nicht biofse Mafchinen find, — wie einige gern behaupten möchten — fo können wir ihnen einen gewilTen Grad von Vernunft nicht ab- fprcchen. Es ift zum' werigften für mich eben fo gewifs , dafs einige Thiere in gewif- fen"Tällen fchliefsen, als dafs He Sinnorgane haben. Aber freilich äufsern fie diefes \ er- mögen nur an 'concreten Yoifielliirgen , fo wie fie diefelben von den Sinnen empfangen-. Auch die vol'lvomrnenfien Thiere find in diefe engen Grenzen cingefchränKt , und bf fitzen , wie ich glaube, kein \ ermögFii , ihre Vor- itellungen durch Abfiraktionen zu erweitern,
§. 12.
Dummheit und Wahnfinn.
Inwiefern bei einfiiltigen Menfchen Man- gel oder Schwache eines oder aller vorhinge-
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5/f4 Zweites Buch.
dachten Vermögen anzutreffen fey , kann die Beobachtung ihrer mancherlei Vormunden unftreirig entdecken. Wo die Empfänglich- keit fchwach ift, oder die erhaltenen Voritel- lungen nicht gut aufbewahret, mit Mühe wieder erneuert und zufammengpfetzt werden, da fehlt es an Materialien zum Denken. Wer nicht unterfcheideu , vergleichen und abstra- hieren kaun, der befitzt wenig Fähigkeit zum Verftehen und Gebrauch einer Sprache; er denkt und urtheilt nur wenig und fehr un- vollkommen über gegenwärtige und finnliche Gegenftände. Das Nichtdafeyn oder die feh- lerhafte BefVhaffenheit eiues der obigpn Ver- mögen hat dfo unftreitig beträchtliche Män- gel in der Einficht und Erkcnntnifs eines Menfchen zur Folget
§. i5»
Kurz die Fehler einfältiger Menfchen fcheinen aus dem Mangel an l cbhaftigkeit, Tbätigkeit und Reubarkpit der Geisteskräfte zu entfpringen, wodurch fie des Vemunhge- b'rauchs beraubt find, die Wahn finnigen hingegen liegen vielleicht an dem entgegen-
gefetz-
Eilftes Kapitel. 3/j5
gefetzten Extrem krank. Sie haben , wie mir dünkt, das Vermögen zu fchliefsen keines- weges verloren, fondern nur gewiffe Vorftel- lungen fehlerhaft verbunden , und halten fie aus Tänfchung für Wahrheiten. Sie irren, wie Menfehen , die aus falfchen Grundfätzen richtig folgern. Denn durch übermäßige Lebhaftigkeit ihrer Phantafie geblendet, fehen fie gewiife Einbildungen für Wirklichkeiten an, und leiten daraus ganz richtige Folgerun- gen her. So wird man finden , dafs ein Ver- rückter , der fich für einen König heilt, ganz richtig eine angemefTene Bedienung , Ehrer- bietung und Gehoriam fodert. Andere, die lieh einbilden , Ge wären aus Glas se'-'ildet, beobachten alle Behutfamkeit , welche nöthi^ jft , um einen fo zerbrechlichen Körper zu er- halten. Wenn daher durch einen plötzlichen und zu heftigen Eindruck, öder durch zu lange Fixirung der Phantafie aoFeirie Art von Vorftellungen , gewifle unZufämtnenhangeride Voiftellungen fo feite verknüpft worden, dafi fie nicht wieder getrennt Werden können , fu kann ein Menfch, der fonft in allen Dingen einen guten Vetftand und richtige Beurthei- hing zeigt, in einem Punkte ein fo grofser * 5 Narr
5:\6 Zweites Buch,
JSarr werden, als irgend ein Bewohner des Bedlam. Doch es giebt in dem Wahnfinu, wie in der Dummheit Grade , und daher fin» det man das regelioie Verknüpfen der Vor- ftellungen bei einem mehr, jjci dem andern weniger. JVlit einem Worte , der Unterlchied zwifchen Einfältigen und Wahnfinnigen fcheint darin zu liefen, dafs die letztern -die Vorfteilungen fehlerhaft verbinden , und fo falfche Satze bilden , ob fie gleich hernach richtig daraus folgern; die erftern hingegen wenig oder gar nicht urtheilen und fchhelsen,
S. H-
Gang der Unter fuchung.
Diefes find', wo ich nicht irre, die erften Vermögen und Wirkungsarten der Seele, welche bei dem Denken vorkommen. Sie beziehen Geh zwar auf alle Vorstellungen überhaupt; aber die Beifpiele , welche bisher gegeben worden, find vorzüglich von einfa- chen Vorftellungen gewählt, und ich liefs die Erklärung diefer Seelen Kräfte fogleich auf die Betrachtung der einfachen Vorftellungen fol- gen,
Eilftes Kapitel. 547
gen, ehe ich noch zurUnterfuchung derzufaui- mengefetiten fortging; beides aus folgenden Gründen, Erfteus. Einige von dielen Seelenkräfien befchäftigen fich zuerft uud, vorzüglich mit den einfachen Vorstellungen, Ich glaubte alfo, wir würden, wenn wir den gewöhnlichen Gang der Natur verfolgten, ihre erüen Keime , ihre Ausbildung und Ver- vollkommnung aufipüien und entdecken. Zweytens, Wenn man beobachtet, wie die Seelenkräfte bei den einfachen Vorftellungea verfahren, welche gewöhnlich bei den mei-r -iien Menfchen, klarer, befUmmter und deut- licher als die zufammengeietzteu find , fo kann man deho beiler beobachten, wie das Geinüth die zufammengefetzten \ orftellungen, bei denen man weit leichter irren kann, ab- ftrahiert, mit Worten bezeichnet, vergleichet, und fofort die übrigen Verzügen an ihneu befchäfiiget. Drittens. Diu TUati^keiten desGemüths in Anfehung der durch diebinne erlangten Voritellnngen machen eine andre Reihe von Vorftellungen aus, welche aus der zweiten Quelle unfrer Erkenntnifs , der Re- flexion entfyringen. Es war daher kein fchick- hcherer Elatz zur Betrachtung derfelben , als
gleich
3/j8 Zweites Buch.
gleich nach den einfachen Vorftellungen der Sinne. Von der Zufauunenfetzung, Verg ei- chung, Abftraction u« f. w. der Vorftellungen werde ich an andern Orten weitläufiger handeln»
§♦ i5.
Das ift alfo die kurze aber doch, wie ich glaube, wahre Darftehung von dem erlten Urlprunge der tnenfchlichen Er kenntnifs. Jch habe gezeigt, woher der Seele die erften Objecte gegeben werden ; wie fie weiterhin immer mehr Vorftellungen aufnimmt und fammlet, aus welchen die fammtiiche für fie mögliche Erkenntnifs be- ftehet. Was die Wahrheit diefer Darftellung betrifft, fo mufs ich mich auf die Erfahrung und Beobachtung berufen. Denn der befte Weg, die Wahrheit zu finden , ift, die Dinge unterfuchen , wie fie wirklich find, aber nicht vorausfetzen, fie feyen das, wofür wir fie nach eignen oder fremden Vorfiel lungert halten.
§. iö.
Eilftes Kapitel. ty'j
§♦ tjfu
Es ift das, wie ich aufrichtig verGehern tann, der einzige für mich denkba- re Weg, auf welchem der Verftand z. u Vorftellungen von Objecten ge- langen kann. Sind Andere im ßeGtz von angebornen Begriffen oder eingegi.ffenen Grundfäuen, fo haben fie das Recht, fich derfelben zu erfreuen, und wenn fie davon überzeugt find, fo kann man ihnen diefen Vorzug, vor ihren Nebenmenfchen nicht ftreitig machen- Ich kann nur von dem re. den, was ich in meinem Selbft finde, und was denen Vorftellungen enifpricht, welche wie fich aus einer Unterfuchung des ganzen menfehlichen Lebens nach allen Altern, Län- dern und Erziehungsanen ergeben dürfte, auf dem von mir gelegten Grunde gegründet und mit diefer Methode vollkommen einftiuunig find.
§♦ ff.
Ich maafse mir nicht an ^u belehren; ich will hier nur unterfuchen, und ich mufs da- her
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Zweites Buch.
gleich nach den einfachen Vnrftellungen der i f. Von der Zufammeufetzung, \ erg ei- chun^, Abrtraclion u. f. w. der X'orftellnngea werde ich an andern Orten weitläufiger handeln,
§. i5.
Du ifl alfo die knrre aber doch, wie ich glaubt-, wahte DatAeüung von drin trltt-n l rij'ruii^e iJ < r tu c n f c h I ic li e n Er k e n i » t n i I s. Ich habe ßtieigt, woher der
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aufnimmt und f.unmlet, ans welchen die
tntliche ffil ße mögliche Erkenntnifs be- ll: int. Was die Wahrheit diefer Darftellung k h mich auf die Erfahrung Dfid itung berufen. Denn der bi-lte
Weg, die Wahr heir ru finden, ift , die Dinge unterziehen, wie fie wirklich find, aber nicht vorausfeuen , he feyen da«, wofür wir
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§♦ 16.
Es ift das, wie ich aufrichtig verGehern kann, der einzige für mich denkba- re Weg, auf welchem der Verftand zu Vorhellungen von Objecten ge- langen kann. Sind Andere im Beult von angebornen Begriffen oder eingegi ffenen Grundfäuen, fo haben fie das Recht, fich derfelben zu erfreuen, und wenn fie davon überzeugt find, fo kann man ihnen diefen Vorzug, vor ihren Nebenmenfchen nicht ftreitig machen- Ich kann nur von dem re. den, was ich in meinem Selbft finde, und was denen Vorftellungen enifpricht , welche wie fich aus einer Unterfuchung des ganzen menfehlichen Lebens nach allen Altern, Län- dern und Erziehungsarten ergeben dürfte, auf dem von mir gelegten Grunde gegründet und mit diefer Methode vollkommen einftiuimig Und.
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55o Zweites Eucii.
her bf kennen, dafs die innere und äußere Sin- neneindrücke für inich die einzigen Kanäle, ■weiche dem Verfiande Kenritnifie zuführen, die ein/igen Fenfter find, durch welche Licht in das dunkle Zimmer der Seele gebracht wird. Denn der Vefßaüd ift, wie mir dünkt, nicht unähnlich einem ganz finfterm Zimmer, mit einer einzigen kleinen Oefnung, um die finn- lichen Bilder oder Vorftellungen von Auilen- diugen einzulallen. Dauerten diefe Abbildun« gen länger, und reiheten fich nach einer ge- willen Ordnung an einander, dafs fie bei Ge- legenheit wieder aufgefunden werden könn- ten, fo würde die Aehnlichkeit mit dem menfchlichen Verf'r.nde in Beziehung auf die Objekte und Vorftellungen des Gefichts noch treffender feyn.
Diefes find meirfe Gedanken über die Mittel, wodurch der Verftand einfache Vor- ftellungen nebft ihren Beftim murigen erlangt und aufbewahret, und über einige andre da- mit in Verbindung flehende Wirkungen der Seele. Ich gehe jr-zt weiter , und unterziehe einige von dielen Vorftellungen mit ihren Beitimmungen ausführlicher«
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Zwölftes Kapitel, 55i
Zwölftes Kapitel,
Von zufummen gefetzten Voi Heilungen,
§. I.
Die einfachen Vo r ftellu ngen Hnd die ßefta n d theile der zufam- mengefetzten«
W,
ir haben bisher die Vorfiellungen betrach- tet, bei deren Empfang das Geuiüth blos lei- dend ift , nehmlich die einfachen, welche uns die Sinne und die Reflexion geben. Die Seele kann eben fo wenig diefe felbftthätig hervorbringen als andere bilden, die nicht die einfachen zu Beftandtheilen haben. So •wie aber das Gemüth dabei fich ganz leidend verhält, fo übt es auch an denfelben verfchie- dene Thätigkeiten aus, wodurch au< den ein. fachen Vorstellungen , als den Materialien und Gründen aller übrigen neue gebildet wer- den. Vorzüglich find es drei Handlungen wodurch der meufchlkhe üeift leine Macnt
über
ääa Zweites Buch.
über die einfachen Vorftellungen ausübt, l) Die Verbindung mehrerer einfachen \ orliel- lungen zu einer ; daraus entftehen alle zu- fammengefetzten. 2) Die Zufammenftellung zweier Vorftellungen fowohl einfacher als zu- fammengefetzter , fo dafs beide ohne in eine Vereiniget zu werden, zugleich einen Ueber- blick gewähren. Auf diefem Wege erhält man alle Vorftellungen von Verhältnif- f e n 2) Die Trennung einer Vorstellung von allen übrigen , welche mit ihr an exiltieren- den Dingen vergefellfchaftet find, oder die Abftraktion, wodurch fämmtliche allgemeine Begriffe erzeuget werden» Es erhellet daraus , wie das Vermögen und die Wirkungsart des Menfchen in der mate. licllen und geiftigen Welt beinahe von einer- lei Art ift. In beiden kann er die Materialien weder fchaffen noch zernichten ; fein ganzes Vermögen beftehet nur darin, fie zu vereini- gen , oder neben einander zu fiellen, oder \-ö!lig zu trennen. Ich fange hieT mit der erften Thätigkeit an, und betrachte die zu- fanTtnengererzfen Vorftellungen. Auf die übrigen werde ich au feinem Orte fortgehen, So wie einfache Vorftellungen an realen Ob.
jeden -
Zwölftes Kapitel. 5J5
jecten auf verschiedene Art mit einander ver» einiget gefunden werden, fo hat auch die Seele das Vermögen, mehrere auf di< fe Ait verbundene Vorftellungen als eine zu be- trachten, und zwar nicht allein infofern fie in äufsern Objecten verbunden find , ionderri auch inrofern fie felbft diefelben verbunden hat. Vorftellungen, welche aus der Verbin- dung verfchiedener einfachen entftanden find, nenne ich zu fäm menge fetzte (complex) 2. B.Schönheit, Dankbaikeit, ein Menfch, eine Armee, das Ü n i v er fu m. Die Seele kann diefe, ob fie gleich aus ver- fchiedenen einfachen befteheri, doch jede an lieh als ein voliftändiges durch ein belondrtä Wort bezeichnetes übjeet betrachten*
§. 2.
ihre Bildung ift ein Akt der Frei* heir.
In Anfehung des Vermögens , die Vorftel- lungen zu erneuern und zu verbinden, befizt die Seele eine grofse Freiheit, die Objrcte ihres Denkens, über das , was die Sinne und die Reflexion geben, auf unendliche Weife zu Z Veir
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Zwölftes Kapitel.
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uf verfchiedene Art mit einander ver- gefunden werden, fo hat auch die as Vermögen , mehrere auf di< fe Axt erie Vorftellungen als eine zu be^ n, und zwar nicht allein infofern fie ern Objecten verbunden und , londerri nroferri fie felbft diefelben verbunden Vorftellungen, welche aus der Verbin- rfchiedener einfachen entßanden find, ch zu fäm menge fetzte (complex) chönheit, Dankbarkeit, ein h, eine Armee, das Ü n i v er f u m. le kann diefe, ob fie gleich aus ver- en einfachen belteheri, doch jede ari ein vollftändiges durch ein belondrts ezeichnetes Object bedachten.
[Bildung ift ein Akt der Frei- heit.
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35/f Zweites Buch,
verändern, und zu vervielfältigen. Bei dem allen ift fie aber doch nur auf die einfachenVorftellun« gen eingefchränkt , welche aus jenen beiden Quellen entfpringen, und zulezt die einzigen Materialien bei allen ihren Verbindungen ausma- chen. Denn die einfachen Vorftellungen rühren von den Dingen felbft her, und von ihnen kann die Seele nicht mehrere und keine andere ha- ben, als ihr gegeben werden. Sie kann kei- ne andere Vorftellungen von den finnlichen Eigenfchaften haben, als fie von Auken durch die Sinne erhält, noch von den Thätigkei- ten einer denkenden Subftanz, als he in ih- rem Selbft findet. Wenn fie aber einmal die- fe einfachen Vorftellungen erhaben hat, £o ift fie nicht mehr durchaus an das, was Geh von Aufsen und Innen ihr darbietet, gebun- den; fie kann nun felbfhhatig die Vorftel- lungen verbinden, und zufammengefetzte bilden , welche ihr fo verbunden nie gegeben worden.
§• 9-
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3«3 |
§• |
3. |
\ |
Die zu fammen^e fetzten Begrif- fe find tbeils B ef t i in in un gen theils Subltanzen, theils V e r- hältniff ef
Obgleich die zufammengefetzten Vorfiel« lungen, welche dem menfchlicheu Verftande Stoff und Beschäftigung geben, auf inannich- faltige Weife verbunden und abermals verbun- den werden, und fo unendlich fie auch dtt Zahl Und Mannichfal igkeit nach find, fo laf- fen fie Geh doch alle auf folgende Klaffen, Accidenzen (Beftim mutigen), Sub- ftanzen und Verhältnilfe zurück* führen,
§• 4<
B e ft im m un gen,
Beftimmungen Accidenzen (rno* des) nenne ich die zufaramengefeuteu Be- griffe, welche, wie auch die Art ihrer Ver- bindung ift, doch nichts für Geh felbft befte- hendes enthalten , fondern nur als etwas Ab* Z 2 k*a-
556 Zweites Buch.
hängiges, als Beftimmungen von Subftanzen betrachtet werden; z.B. die Begriffe, Tri- angel. Dankbarkeit, Mord. Wenn ich mich des Wortes möd e in einer von dem gewöhn« liehen Sprachgebrauche etwas abweichenden Bedeutung bediene, fo mufs ich um Verzei- hung bitten. In Unterfuchunge*h, welche von gewöhnlich angenommenen Begriffen ab- weichen, kann man nicht umhin, entweder neue Worte zu bilden, oder den alten eine neue Bedeutung zu geben; Das letzte ift in unferm Fall vielleicht das Erträglichere.
§♦ 5*
Reine und gemifchte Beft im- mun gen.
Es giebt zwei Arten cliefer Beftimmungent welche eine befondere Betrachtung verdie- nen. Einige find nur Veränderungen oder verlcbiedene Verbindungen einer und derfel- ben einfachen Vorftellung, ohne Einmifchung einer andern, z. B. ein Dutzend, ein Schock, welche nichts anders als Begriffe von eben fo vielen mit einander verbundenen Einheiten
find.
Zwölftes Kapitel. 35?
find. Ich nenne diefe reine Beftimraun- gen (Otnple modes) weil ihre Zufainmenfe- tzuug auf eine einzige einfache Vorftellung eingefchränkt ift. Zweitens. Andere ent- halten eine Verbindung von verfchiedenarti- gen einfachen Verkeilungen, in eine Vorftel- lung zufammengefafst. Die Schönheit z» B. ift eine beftimmte Zufammenfetzung von Farben und Geftalten, die mit Vergnügen an- gefchaut wird; der Dieb ftahl, die heimli- che Veränderung des Befitzßandes eines Din- ges, ohne Einwillung des Eigenthüiners. Heide enthalten offenbar eine Verbindung ver- fchiedener nicht einartiger Vorftellungen. Ich nenne Ce gemifchte B eft i mraungen (mixed modes)t
§♦ 6.
Einzelne und collective Sub- ftanzen.
Die Begriffe von Subftanzen find folche Verbindungen einfacher Vorftellungen, welche gebraucht werden, um befondere für fiefa beftehende Dinge vorzuftellen. In die- fer Verbindung ift der vorausgefetzte oderun- Z 5 deut-
558 Zweites Buch.
deutliche Begriff der Subftanz, (o wie er ift. allezeit der erfte und vornehmfte. Man feue z. B. zu dem Begriff der Subftanz die einfache Vorftelhmg von einer dunkel weifs- lichten Farbe mit einem gewiffen Grad von Schwere, Härte, Ziehbaikeit und Schmelz- baikeit, und man bekommt den Begriff von Blei Die Verbindung der Vorftellungen von ejner gewiffen Geftdlt, von Bewegungsfähig- keit, Denk- und Schliefcvermögen mit dem Begriff der Subftanz macht den gemeinen Be- griff vom Menfchen aus. Die Begriffe von Subftanzpn find wieder von gedoppelter Art, Begriffe von einzelnen für fich befte- henden Subftanzen, als Mensch, Scbaaf, und Begriffe von Aggregaten einzelner S bfranzen z. B. eine Armee, eine Heerde von Schaafen. Jpder diefer colleciiven Begriffe, welche aus der Vereinigung mehrerer ein- zelrer Subftanzen in einen Begriff entftehen, ifi: Co gut ein einzelner BegTiff, als der von einem Menfchen oder einer Einheit,
*• 7.
Zwölftes Kapitel. 5%
$• 7.
Verheil tniff e.
Die dritte und letzte Art der zufammenge* fetzten Begriffe fafst die Vr erh ältnif fe in Cch , welche in der Betrachtung und Verglei« cfcung einer Vorftellung mit einer andern be- ftehen. In diefer Ordnung werden wir die- fe Arten einzeln abhandeln.
Auch die tieffinnigften Begriffe entfp ringen aus den zweiOuel- len aller Erkenntnifs.
Wenn wir dem Fortgange des Verftandes nachfpüren , und mit Aufmerkramkeit beo- bachten , wie er die einfachen von den Sin. nen und der Reflexion abgeleiteten Vorftel- lungen wiedeiholet, zufammenfetzt und ver- einiget, fo wird uns das weiter führen, als wir vielleicht anfänglich glaubten. Denn wir werden, wo ich nicht irre, durch eine behuifam angeftellte NacbfoTfchung über den Urfprung unfrer Begriffe finden, dafs fogar
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5<?o Zweites Buch.
dietieffinnigften Begriffe, fo weit auch ihre Ableitung von den Sinnen und den Thä'igkeiten des Gemüths entfernt zu feyn fcheint, doch keine andern als von dem Ver- ftande gebildete Begriffe find , indem er die Vorftellungen , welche er von finnlichen Ob- jeeten oder feinen darauf beziehenden Thä- tigkeiten empfing, wiederholt und verbindet. Diefes gilt auch fogar von den weituinfaffen- den a b f tr a k ten Begriffen. Sie eniTpringen von finnlichen Eindrücken oder von der Re- flexion. Die Seele kann fie erhalten , und erhält Ge wirklich, durch den natürlichen Gebrauch ihrer Kräfte, und durch ihre An- wendung auf die Vorftellungen , welche ihr von den Gegenftänden der Sinne oder ihren eignen darauf gerichteten Thätigkeiten gege- ben werden. Ich werde diefes an unfern Vorftellungen, von Raum, Zeit, Unend- lichkeit und einigen andern, weiche, wie es fcheint, von diefen Quellen am weiteften abliegen , zu zeigen fuchen.
Drei-
Dreizehntes Kapitel. 55»
Dreizehntes Kapitel,
Von reinen Beftimmungen , und zwar znerft von den reinen Beiüiiimungen des Raums.
§. I. Reine Beftimmungen,
■*n dem vorhergehenden Theil habe ich oft der einfachen Vorftellungen gedacht, welche in chsr That die Materialien aller unfrer Er- kenntnis find; doch handelte ich dafelbft von ihnen mehr in Beziehung auf die Art, wie He in die Seele kommen . ohne fie von zurammengefetzten zu unterfcheiden. Es wird, daher nichts fchaden, lie hier noch einmal in diefen Gefichtspunkt zu ftellen, und die verschiedenen Modificationen einer und derfelben Vorftellung zu be- trachten, welche der Verftand theils an wiik- lich exiftierenden Dingen findet, theils ohne das und ohne einen Stoff von Aufien zu er- hallen, in lieh felbft bildet,
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Zweite» Buch.
dietieffinnigften Begriffe, fo weit auch ihre Ableitung von dm Sinnen und den Thj igkeiten des Gemüths entfernt zu feyn fcheint , doch keine andern als von dem \ er- stände gebildete Begriffe find , indem er die Vorftelhingpii , welche er von finnlichen Ob- jeeten oder feinen darauf beliebenden Tha- tigkeiten empfing, wiederholt uud yerbiudet. Diefe» gilt auch fogar von den weitumfaffen- den a bft r a k t en Begriffen. Sie entfprin.sen von finnlichen Eindrücken oder von der Re- flexion. Die Seele kann fie erhalten , und erhalt Ge wirklich, durch den natürlichen Gebrauch ihier Kräfte, und durch ihre An- wendung auf die Vorftellungen , welche ihr von den GegenOänden der Sinne oder ihren eignen darauf gerichteten Tbätigkeiten gege- ben werden. Ich werde diefes an unfern Vorftellnngen , von Raum. Zeit, Unend- lichkeit und einigen andern, welche, wie es fcheint, von diefen Qug|| abheben, zu teilen fu'
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35»
Von reinen Befümmiin^en , und zwar znerft ron den reinen BeiLunmungen des Raums.
§. I. Reine B e f t i in m un g en,
-"■n dem vorhergehenden Theil habe ich oft der einfachen Vorftellungen gedacht, welche in der That die Materialien aller unfrer Er- kenntnis find; doch handelte ich dafelbft von ihnen mehr in Beziehung auf die Art, wie fie in die Seele kommen > ohne he von zu(ammengefetzten zu unterfcheiden. Es vVir4 daher nichts fchaden, fie hier noch einmal in dielen Gefichtspunkt zu ftellen, und **;«» vermiedenen M » •' : f «' ca t io n en
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552 Zweites Buch.
Diefe Modificationen einer ein- fachen Vorftellung oder wie ich fie oben nannte, reine Bef t i m m u n g en find eben fo durchaus verfchiedene und beftimmte Vorftellungen, als die von ganz entgegengefetz- ten und widerftreitenden Objecten, Die Begriffe von Zwei und Eins find fo verfchie* den, als die Voiftellungeu von der blauen Farbe und der Hitze, oder als diefe von den Zahlen, obgleich der erfte von der Zwei nur durch die wiederholte Verbindung des Be- griffe der Einheit entliehet. Aus folehen Wie- derholungen, in eine Vorftellung zufammen» gefafst, beliehen z. B. die einfachen Beftim- mungen , von einem Dutzend, einer Million, einer Gröfse»
§. 2. Die VorTtellung vorn Raum,
Ich mache hier den Anfang mit der ein- fachen Vorftellung des Raumes» Dafs wir diefe fowohl durch das Geficht als durch das Gefühl bekommen, ift fchon oben 3 B» 4 K.) gezeigt worden. Da das, wie
mir
Dreizehntes Kapit-1. 365
mir fcheint, fo evident ift, fo würde ein Be- weis, dafs das Geficht zwifchen Körpern von verfchiodener Farbe oder zwifchen den Thei- len eines Körpers einen Abftand wahrnimmt, eben fo überfliifsig feyn , als dafs man die Farben felbft anfchauet. Eben fo einleuch- tend ift es, dafs man den Abftand im dun- keln durch das Gefühl wahrnehmen kann. .
§. 5.
. Ranm und Ausdehnung.
Der Raum blos der Länge nach zwirchen zwei Körpern betrachtet, ohne Rückficht auf das was etwa zwifchen beiden befindlich ift, heifst die E n t fer n u n g (Diftance): Nach der Lange, Breite und Dicke betrachtet, kann er der Umfang (Kapacität) heifsen. Der Ausdruck A usdehnung wird gewöhn- lich von dem Raum in jeder Rückücht ge. braucht,
§. 4.
364 Zweites Euch.
§ 4-
TJnerme fslichk eit.
Jede Entfernung ift eine andre Modifica- tjon des Raums, und jede Vorftellung einet befondem Entfernung oder eines verfchiede- nen Bauines ift eine reine Beftimmung diefer Vorftellung. Aus Gewohnheit und zur Er- leichterung desMeflens nehmen die Menfchen gewifte beftimmte Längen zum Maafsftabe an z. B. Zoll, Fufs, Elle, Klafter, Meile, Erd- mefler u, f. w. alles blos verfchiedene Vorftel- lungen des Raums. Man kann diefe, wenn fie einmal geläufig geworden, in der Vorftel- lung fo oft als man will wiederholen und an einander fetzen, ohne die Vorftellung von einem Körper oder von fonft etwas mit ein- zumifchen. Und (o lallen fich an den Kör- pern unfrer Welt oder an etwas aufser der Kqrperwelt die Vorstellungen von einfachen oder Quadrat ■ und Ktibik- Schuhen, Ellen und Klaftern bilden. Durch immer erneuerte An- einanderfetzung diefer Längen kinn die Vor- ftellung vom Raum foweit als man will, er- weitert wf rden. Das Vermögen eine Länge zij wiederholen, zu verdoppeln, eine an die an- dere
Dreizehntes Kapitel. 565
dere zu fetzen, und das fo vielmal als man will, ohne an eine Grenze zu kommen, über welche hinaus man die Vorftellung nicht mehr erweitern könnte, giebtuns.den Begriff von
4er U n e r in e fs 1 i c h k e i i.
§; 5.
Die Figuri
Eine andere Modification eben derfelben Vorftellung ift das VerbältnifSj in welchem die Theile der Grenzen einer Ausdehnung oder eines begrenzten Raumes zu einander Rehen. Dieies entdeckt das Gefühl an Körpern , die es umfallen kann, und das Auge an Körpern und Farben deren Grenzen in dt-h behpunkr. fallen. Man beobachtet, wie lieh die äufser- iten Flächen endigen * ob iri geraden oder krummen Linien, und ob diefe in merkliche oder unmerkliche Winkel zufammenftofsen. Die allfeitige Betrachtung des VerhältnilTes der Linien und Winkel an den Grenzen eines Körpers oder Raums giebt der Seele die Vor- ßellung von der Figur. In diefem Begriff liegt eine unendliche Mannichfaltigkeit. Denn aufser der ungeheuren Zahl von Figuren, wie
ÜB
566 Zweites Bück.
fie an zufammenhängenden Mafien der Mate- rie in der Körperwelt exiftieren , befuzt die Seele noch in fich felbft einen grofsen uner- fcböpflichen Schatz davon, indem He die Y'or- ftellung vom Räume auf mannichfaltige Wei- fe verändern, immer neue Verbindungen ma« eben, diefe Vorftellungen beliebig wiederho- len und verbinden, und dadurch die Figuren ins Liiendliche verdoppeln kann,
§. 6.
Denn die Seele hat das Vermögen eine gerade Linie mit einer andern in derfelben Richtung zu verbinden; fie verdoppelt die gerade Linie: oder beide mit einer beliebigen INeigung an einander zu fetzen; fie bildet jede beliebige Art von Winkel. Sie kann jede Linie abkürzen , dureb Wegnahme der Hälf- te, des vierten Theiles u. f. w. Da diefe Theilung keine Grenze hat, fo kann de je- dem Winkel jede beliebige Gröse geben» So können die Schenkel eines Winkels von unendlich manuichfaltiger Länge feyn ; iujf liefen laffen fich wieder andere Linien von verfchiedener Länge und uater verfchiederen
Wi*-
Dreizehntes Kapitel, 3^7
Winkeln verbinden, bis der Raum völlig ein- gefchloflen ift. Hieraus erhellet alfo, dafs die Seele die Figuren fowohl ihrem Umrifs als ihrem Umfange (Kapacitat) nach ins unendliche vervielfältigen kann. Und alle diefe find eben l'o viele reine Modifikationen des Raums. Was mit geraden Linieu gefche- hen kann, ift auch mit krummen und beiden zufamraengenommenen , und was mit Linien gefchehen kann, das ift auch mit Flachen möglich. Diefes giebt uns noch mehr Stoff zum Nachdenken, welche unendliche Man- nichfaltigkeit von Figuren die Seele wilikühr« lich bilden , und dadurch die reinen Beftim- loungen des Raums vervielfältigen kann*
§. 7-
Vom Ort*
Ein andrer Begriff, der unter diefe Gat- tung gehört, ift der vom Orte. So wie wir uns im blofsen Räume das Verhältnifs der Entfernung zwifchen zwei Körpern oderPunc- ten denken, fo betrachten wir, wenn von dem Begriff des Ortes die Rede ift, das Ver- hältnis
368 Zweites Buch.
hältnifs der Entfernuno; zwifchen einem Din- ge und zwei oder mehreren Punkten , die man fich unbeweglich und als immer gleich weit von einander abftehend denkt. Wenn wir einen Körper in denselben Verhältnifs mit zwei oder mehreren Punkten beobachten, mit welchen wir ihn geftern verglichen , und die tmterdefsen den Abftand von einander nicht verändert haben , fo lagt man , er ift noch an demfelbeii Orte; ift aber feine Entfernung von einem diefeir Punkte anders , fo fagt man, er hat feinen Ort verändert. Doch ift nach der gerneinen Sprache und den gewöhn- lichen P»egriffen nicht durchaus erfoderlich, dafs der Abltand zwifchen beftimmten Punk- ten fcharf beobachtet werde: es ift genug, wenn es mit gröfserii Theilen finnischer Ge- genftände gefthiehet, mit welchen man lieh aus gewiflen Gründen einen Körper im Ver- hältnifs des Abftandes denkt*
§. 8.
So fagt man, eine Partie Schachfteine Tej iioch an demfelben Orte, wenn lie noch auf demfelberi Viereck des Schdchbretes fteiien,
wo
Dreizehntes Kapitel. Z6g
wo fie gelaffen worden , wenn auch das Schachbret felbft unterdeflen in ein andres Zimmer gebracht wird. Denn wir fehen bei Beftimmung diefes Orts nur auf die T heile des Bretes, welche ihre Lage gegen einander nicht verändert haben. Das Schachbret ift nach der gemeinen Vorftellungsart In demfel- ben Orte, wenn es nur an derlelben Stelle der Kajüte noch ift.-wenn gleich unterdeflen das Schilt fortfegelt ; und fo auch das Schiff, wenn es nur in derlelben Entfernung von ge- wiflen Puucten des feften Landes bleibt, füllte- auch unterdefTen vielleicht die Erde lieh umgedrehet , und die Schachfteine, das Schachbret und das Schiff ihren Ort in Be- ziehung auf entferntere Körper, bei denen ei- nerlei Ortverhältnifs fortdauerte, verändert haben Man beftimmt hier den Ort d^rSchach- fteine.des Schachbrets und desSchiffes nach der Entfernung von gewillen Theilen des Schach- bretes, der Kajüte, des feiten Landes, und man kann in dieler Beziehung von jenen Dingen fagen, dafs de ihren Ort behielten, wenn gleich ihre Entfernung von andern Dingen, die wir jezt nicht in Betrachtnng ziehen, und alfo auch ihr Ort in dieler Hmlicht hch abge- A a ändert
3jo Zweites BucL-,
ändert hat. Und fo muffen wir Such deü- ien, fdbald wir veranlaßt werden, fie in Beziehung mit entferntem Körpern zu fetzen*
Diefe Beftimmung der Entfernung, oder fler Ort ift nur für das gemeine Leben , um, wo es nöthig ift, die beüimrnte Lage eines Dinges zu bezeichnen. Daher betrachtet und beftimmt man diefen Ort nur in Beziehung auf die nächften Dinge, welche zu diefem Zweck am tauglichften find, ohne auf ändro Xu fehen, welche zu einer andern Abficht <ien Ort des nehmlichen Dinges beffer be- itimmen könmen. Es würde der Abficht, Warum man auf dem Schachtbret den Ort der Steine bezeichnet, mehr hinderlich als betör» derüch feyn , wenn man ihn nicht nach den viereckigten Feldern, fondern nach etwas an- dern beftimmen wollte. Gefetzt aber, diö Schachfteiue würden in einem Sack aufgefteilr, fo mülste man die Lage des fchwarzen Kö- nigs nach den Theilen des Zimmers, und nicht nach den \ ierecken des Erets beftim- men» Denn hier findet eine andre Abhcht
als
Dreizehntes Kapitel. gj-j-
als bei dem Spiele ftdtt , und <'aher rr.ufs auch die Bezeithnungsart des Orts geändert werden. Wenn iuan gefragt würde, wo find die V'erfe, welche die Gefchichte des I\ifu$ und Eurialus enthalten, fo würde die Ant- wort: an dem und dem T heile der Erde oder in der Boule/anifcheu Bibliothek, fehr un- paffend feyn , und den Ort fehr fchJetht an- geben; lichti-er wird er bezeichnet, wenn man fagt, Rr find in den Weiken des Vir^üj ungefähr in der Mitte des q. Buchs der Ae- neide, welche Stelle fie beftändig eingenom- men haben, fo lange als Virgils Werke ge- druckt worden find. Diefe Antwort ift ricfo. ti- , hatte auch das Buch taufendmal feinen Ort verändert. Denn die ßeftinirnur,£ des Orts (oll hier nur dazu dienen, dafs man wif- fe, in weichern f heile des Buches diefe Ge- fchichte ift, und fie dalelbft, wenn es nöthh» ift , auflüchen könne.
Dafs unfer Begriff vom Orte nichts an- ders ift, als die I age eines Dinges in Bezie- hung auf ein andres, ift, wie ich glaube, klar, Aa ß und
372 Zweites Buch.
und man wird ihm defto eher beiftimmen, vvenu man bedenkt, dafs keine Vorftellung von dem Orte des Univerfums aber wohl aller Theile deflelben möglich ift. Denn über da^ U.averfum hinaus ift nichts als der ein- förmige Raum oder die Ausdehnung zu finden, worin kein Mannichfaltiges , keine Merkmale zu unterfcheiden find, und es fehlt uns da-
• Her die Voifttllung von fixirten beftimmten einzelnen Körpern, mit denen wir die Ent- fernung des Univerfums in Verhä!iiiirs fetzen könnten. Die Redensart, die Wejt ift ir- gendwo , oog'eich vom Orte entlehnt, bedeu- tet doch nicht die Lage, fomlein nur die Exiftenz der Welt. Wer den Ort des Uni-
• verfums finden und deutlich und beftimmt fich vorftellen kann, der mufs uns auch fagen können, ob es fich in dem nicht unterfcheid- baren Leeren des unendlichen Raums be- wege oder ruhe. Nach einer weniger be- ftimmten Bedeutung des Worts, da es jeden Kaum bedeutet, den ein Körper einnimmt, ift freilich auch das Univerfum an einem Orte. Wir erhalten aKo die Begrifle von Raum und Ort, wovon der leztere nichts anders ift, als der erfte unter einem befchräuktern Gefichts-
punkte,
Dreizehntes Kapitel, 5?3
punkte, auf einerlei Weife , nehmlich durch das Geficht und das Gefühl. Denn Leide Sinne geben der Seele die Vorftellungen von der Ausdehnung und der Entfernung,
S. ii.
Ausdehnung uAd Körper find nicht einerlei.
Einige Philofophen möchten uns gerne bereden , dafs Körper und Ausdehnung iden- tifch.find. Allein fie verändern entweder die Bedeutung der Worte, oder verwecbfeln zwei verfchiedene Begriffe mit einander. Das erfte möchte ich nicht gerne von denen argwohnen, welche fremde S) fteme fo ftren- gc verurtheilen , weil fie auf der unbefh'inm- ten Bedeutung oder täufchenden Dunkelheit zweifelhafter oder nichts bedeutender Kuuft- worte beruhen *), Wenn fie alfo die Aus- A a 3 drücke
*3 Tch vermullie zu Anfinge diefes § eine Liicke in dem Original. Denn es Fehlt derGegenfatz zu „who eitlier change tlie fiünification of VYoids." In dem £xempUr des Poley war
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Dreizehntes Kapitel,
573
punkte, auf einerlei Weife , nehmlich durch das Geficht und das Gefühl. Denn b'ide Sinne geben der Seele die Vorftellungen von der Ausdehnung und der Entfernung,
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Ausdehnung ubd Körper find nicht einerlei.
Einige Philofophen möchten uns gerne bereden , dafs Körper und Ausdehnung iden- tifch find. Allein fie verändern entweder die Bedeutung der Worte, oder verwechfeln zwei verfchiedene Begriffe mit einander. Das erlte möchte ich nicht gerne von denen argwohnen, welche fremde S) Iteme fo ftren- gc verurtheilen , weil üe auf der unbeftimm- ten Bedeutung oder täufchenden Dunkelheit zweifelhafter oder nichts bedeutender Kunft- worte beruhen *)♦ Wenn fic alfo die Aus- A a 3 , drücke
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5^4 Zweites Buch.
drücke Körper und Ausdehnung in der gewöhnlichen Bedeutung nehmen, und unter einein Körper Etwas dichtes und aus* gedehntes, delfen Theile auf mannichfaltige' Weife trennbar und beweglich find, unter der Ausdehnung aber btos den Kaum verfie- len , der zwifchen den Grenzen diefer dich-» ten zulainmenhängenden Fhrile inne lieget, Und von diefen erfüllt wird, fo verwechfeln
fie
entweder diefe Lücke niclit , oder der Uebeu- fetzer füjlte fie eigenmächtig ans, wie ich auch für nöihig hielt. Er überfetzt nehmlich: s, Allein fie verändern entweder, die Bedeutung
der Wörter, oder fie vermengen zvveene
Begriffe mit einander, die ganz verschieden find." Doch kann man auch vielleicht ein Anaco'uthoii der Rede annehmen. — Die Phi- lofophen, welche Locke hier bestreitet, find kei- ne andern, als die Cartefianer. In den Princi- piis Philof. P. 11. §.4. fagt Cartes: quod agentes , pereipiemus , natnram materiae fiye corporis in nniverfum fpeetati, non confiftere in eo, quod fit res dura, vel ponderofa , vtl colorata, vel alio aliqno modo fenfua afficiens; fed tantum in eo , quod fit res extenfa in Ion» gum latum et profundus,
Dreizehn tcs Kapitel. 575
i\e zwei ganz verfchiedeiie Begriffe. Denu ich berufe mich auf jedes IVk'iifcheri Verftand, ob nicht die Vorftellung vom Räume eben fo verfchieden von der Dichtheit als von der Scharlacbfarbe ift. Es ift wahr, weder die Dichtheit noch die Scharlacbfarbe kann ohne Ausdehnung exiftieren, aber daraus folgt nicht, dafs die Vorffellungen davon nicht verfchie- den find. Viele Begriffe fetzen andere als Bedin- gungen ihrer "Wirklichkeit oder VqrftVIlbar- keit voraus, und doch find fie verfchiedne Be- griffe. Die Bewegung ift nicht möglich noch. yOTittilbar ohne Raum, und doch ift die Bewegung nicht der Raum noch der Raum die Bewegung; der Raum kann ohne Bewe- gung feyn; beides find verTchiedene Begriffe. Und f o , dünkt mich, ift es auch mit dein Raum und der Dichtheit, Diefe ift aber fo unzertrennlich vom Begriff eines Körpers, dafs durch lie nur die Erfüllung des Raums, die Berülming, der Auftofs und die Mit- theilung der Bewegung möglich ift, Wenn man fchliefsen darf , ein Geift ift vom Kör- per verfchieden, weil das Denken nicht die Vorstellung der Ausdehnung einfchliefst , fo muls auch derfelbe Schlufs zum Beweife, dafs A 4 da*
576 Zweites Buch.
der Raum kein Körper ift, gültig fein, weil jener nicht den Begriff von der Dicht- heit, in fichfafst. Raum und Dichtheit find fo verfchiedene Begriffe als Denken und Aus- dehnung; fie können in dem Verftande völlig von einander getrennt werden.
§. 12, i3, 14.
Es ift alfo einleuchtend, {Iah Körper und Ausdehnung verfchiedene Begriffe find. Denn er f 1 1 ich nicht die Ausdehnung, aber wohl der Körper fchliefst Dichtheit und Widerftand ge"en die Bewegung ein. Zweitens. Die Theile des blofsen Raums find unzertrenn- lich, fo daTs ihr ftetiger Zufammenhang we- der wirklich noch in Gedanken aufgehoben werden kann. Man verfuche es nur, ob man auch nur in Gedanken einen Theil von dem andern angrenzenden wegnehmen kann. Die wirkliche Theilung und Trennung beftehet meiner Meinung nach darin, dafs man einen Theil von dem andern entfernt, und dadurch zwr-i Obetfiächen macht, wo vorher ein zu- farnmenhängendes Ganzes war; und die Thei- lung in Gedanken beftehet darin, dafs man
dieses
Dreizehntes Kapitel. 37 7
dieles in der Vorftellung vornimmt, und fich rorftellt. Die Theilung ift aber nur da mög- lich, wo fich das Gemitth etwas trennbares vorftellt; wo ein Ding durch die Trennung neue befondere Oberflächen erhält, die es vorher nicht hatte, aber haben konnte. Allein weiler die erfte noch die zweite Art von Trennung ift mit dein blofsen Räume ver- einbar. — Es ift wahr , man kann von ei- nem Räume nur einen gewiflen Theil, etwa foviel, als ein FuTs ausmacht, betrachten. Diefes ift aber keine Theilung in Gedanken, foncrern nur eine theilweife Betrachtung. Denn man kann weder in Gedanken theiien, ohne zwei getrennte Oberflächen zu denken, noch wirklich theiien, ohne zwei getrennte Oberflächen zu machen. Eine theihveife Be- trachtung ift aber noch keine Theilung. M;in kann fich das Licht der Sonne ohne ihre HitzG', und die Beweglichkeit eines Körpers ohne feine Ausdehnung denken, ohne an ihre Trennung zu'denken. Jenes ift die par- tiale Vorftellung, die lieh nur auf ein Ding beziehet; diefes die Vorstellung von zweien als getrennt exiftierenden Dingen. — Drit- tens. Die 1 heile des blofsen Raumes find A a 5 un-
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aum kein Körper ift, gültig fein, ener uicht den Bejriff von der Dicht- in fichfafst. Raum und Dichtheit find fo .riffe als Denken und Aus- dehnung; fie -m Yerftande völlig von einander getrennt werden.
§. 12, l5, l.|.
inleuchfend, d»U Körper und
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diefes in der Vorftelb Yorftellt. Die Theilunr lieh, wo (ich das (-» vorftellt; wo ein Dinr neue befondere Ol vorher nicht hatte weder die erfte Trennung ift mit einbar. — Es ift nein Räume nur foviel, als ein Diefes ift abt fondern nur Denn man kan ohne zwei noch wi
379
wenn
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die aufser
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unbeweglich — einp Folge ihrer Uniettrenn* iichkeit. Die Bewegung ift die Veränderung der Entfernung zwifchen ^wei Dingen. Un- zertrennliche Theile können (ich alfo nicht bewegen, fie muffen unaufhöilich gegen ein- ander ruhen.
So ift alfo clor beftimmte, Begriff des Rau- mes klar und hinlänglich vom Körper unter- fchieden; denn feine Theile find unzertrenn- lich, unbeweglich und wklerffcehen der Be- wegung eines Körpers nicht.
Die D efin itio n von der Ausdeh- nung erklärt nicht, was der Raum ift.
Was ift aber der Raum von dem hier die Rede ift? Diefe Frage will ich dann beantworten, wenn man mir erklaret, was die Ausdehnung ift. Denn die gewöhn- liche Erklärung , Ausdehnung ift fo- vicl, als Theile aufs er einander haben, fagt nicht mehr als: Ausdehnung ift Aus de an u n gt Bin ich wohl beßex
über
Dreizehntes 'Kapitel. 379
über die Natur dcrfelben belehrt , wenn man Tagt: die Ausdehnung ift foviel als Thei- le haben die ausgedehnt find, und die aufser den ausgedehnten Theilen find, d, Fi. die Ausdehnung beftehet aus ausge- dehnten Theilen? Gerade, als wenn man einem auf die Frage, was eine Fiber fey, zur Antwort gäbe, fie fey ein aus ver- fchiedenen Fibern z!i(ammengefetztes Ding* "Wird er nun wobl beflt'r verliehen, was eine Fiber ift, als vorher? Oder wird er nicht rjiif Hecht denken, dafs man auftatt einer ernfi- haften Belehrung feiner nur Ipoiten wolle?
Die Eint h eilung der Dinge in Körper und Geifter be weifet nichts für die Identität des Raums und des Körpers.
Dif jenigen , welche die Identität des Raums und des Körpers behaupten, ßel- len folgendes Dilemma auf. Der Raum if$ entweder etwas oder nichts, In dc-i-i letzten Fall ift nichts zwifchen swei Korperu , und
fie
3jJo Zweites Buch.
fie muffen fich rothwendig berühren. In dem erften Fall, fragen fie ob er ein Körper oder ein Geift ift? Ich antworte ihnen mit einer andern Frage : Wer hat ihnen ge^°t, dafs nur dichte (ausgedehnte) Wefen nicht denken können , oder dafs nur denkende We- Jen nicht ausgedehnt find? Denn das ift der ganze Inhalt ihrer Begriffe, welche fie mit den Ausdrücken, Körper und Geift ver- binden»
Die Subftanzialität, welche wir nicht kennen, ift kein Be- weis gegen einen körperlee- ren Raum,
Auf die gewöhnliche Frage: ob diefer körperleere Raum eine Subftanz oder ein Accidenz ift? antworteich ohne mich zu bedenken : ich weifs es nicht. Und ich werde mich dieTer UnwiflVnheit fo lange nicht zu fchämen haben, als diefe Frager mir nicht einen klaren , beftiunuten Begriff von der Subftanz aufweifen.
§. 18,
Dreizehntes Kapitel, 58 1
§. 18.
Ich biete alle meine Kräfte auf, um mich von den Tiiufchuiigen loszumachen , in die man lieh fo leicht verwickeln kann, wenn man Worte für Dinge nimmt. Es hilft unfrer Unwiffcnheit nichts, durch das Geräufch von Tönen ohne klare und beftimmte Bedeutung mit Erkenntnifs zu prahlen , wo keine ift. Willkührlich gebildete Worte ändern nicht die NatiiT der Dinge, und werden uns nur infofern verftändlich, als he beltimmte Begrif- fe bezeichnen. Wenn doch diejenigen , wel- che fo viel Gewicht auf den zweifylbigen Ton Subftanz legen, überlegten, ob er auf den unbegreiflichen unendlichen Gott auf ei- nen endlichen Geilt,, und auf einen Körper angewendet, in dem neliiilichen Sinne ge- braucht werde, oder ob man eiue.lei Begriff damit verbinde, wenn jedes dieler fo ver- fchiedenen W'efen Subltauz genennt wird l IMüfsten denn nicht Gott, Geilt und Körper, wenn lie in Anfehung des gemein fchaft liehen Begriffs der Subftanz einitiunnig wären« duich blotse iModiucationen der Subltanz vei.chie- den fevn, Jo wie ein Kaum und ein Kieiel-
itein,
332 Zweites Buch.
fiein, welche in einerlei Sinne Korper findi und in Anfehung der allgemeinen Natur ei- nes Körpers übereinftiminen, nur durch Mo- dificadonen der gemein fchaltiichen Materie vtrchietlen find? Gewifs eine fehr harte Lehre, Aber vielleicht fdgen fie, das Wort werde in Beziehung auf Gott, Geift, Körper in drei verfchiedenen Bedeutungen gebraucht, und es bedeute einen andern Begriff, wenn von Gott gefagt wird, er fey eine Subftanz, als wenn man diefes der Seele oder dem hö « per bedegt. Dann würden fie aber wohl thun» wenn fie die drei verschiedenen Begriffe kenntlich machten, oder fie zum wenigften durch drei Worte bezeichneten, um bei ei- nem fo wichtigen Begriff der Verwirrung und dem Irrthum vorzubeugen, welche nothwen- di-* aus dem unbeftimmten Gebrauch eines fo zweideutigen Worts fol-en muffen. Allein Weit entfernt, dafs diefes Wort drei ver. fchiedene Bedeutungen hätte, fd hat es im gewöhnlichen Gebrauch kaum einen deutlich beftimmten Sinn, Und wenn de drei vef- fchiedene Begriffe von Subrranz unt.eTfchei- den , warum füllte ein anderer vielleicht nicht auch den vierten noch hinzu finden?
Dreizehntes Kapitel. 383
S» i&
15 ie Begriffe Sutrtah'z und Acci- denz f i n iT von wenigem Nutzen in der P hi lofophie«
Diejenigen , welche tuerft auf den Be- griff, Accidenz, kamen, um etwas Reales an- zuzeigen 4 das rioth wendig etwas anders vor- ausfetze, in dem es fubflßirie , muhten qotbr wendig den Begriff Subftanz erfinden, um jenes gleichfam zu tragen. Hatte jener a*me Indianifche Philo?"-- auch die
Erde müfste eil ... die*
fes Wort gedacht, fo hätte er (ich die Mühe erfparen können, einen Kiephamen zum Tra- ger der Erde, und eine Schildkröte zum Trä- ger des Elephanten ausfindig zu machen; das "Wort Subftanz hatte beides geleiftet. Hätte der Indianifche Philoloph getagt , die Sub« ftanz. die er nicht kannte, tr^e (ylP Erde, fo müTste das für eine eben fo befriedigende Erklärung gelten, als die der Europäifchen Philofophen: die Subftanz, von der fie eben fo wenig einen Begriff haben , fey das Sub- ftrat der Accidenzen. Wir haben alfo kfin^n
fleut*
384 Zweites Buch.
deutlichen Begriff, von dem , was die Sub- ftanz ift, fondern nur einen verworrenen, Von dem was lie wirketi
§i SO.
Wir wollen mehr fragen, was die Gelehr- ten in diefem Falle thun mögen. Aber ein verßändi»er Amerikaner, der die Natur der Dinge zu erforfchen, und unfre Bauart ken- nen zu lernen wünfehte, würde kaum mit der Erklärung zufrieden feynj ein Pfeiler fey fo eiwas das von einem Fufsgeftelle getragen -werde, vv.d das . Fufseeftell fey etwas, das den Pfeiler trage. Für Spötterei würde er fo etwas, rieht für Belehrung halten. Würde woh! einer, der nichts von der Belchaffenheit der Bücher und ihrem Inhalt weifsj fehr beiehrt werden, wenn man ihm fagte : alle gelehrte Bücher befiehen aus Papier und Buch- ftaben; die Buchfhben find Dinge, welche an dem Papier haften, und das Papier ift ein Ding, welches die Buchftaben in Cch hält. Gewifs eine fonderbare Art, klare Begriffe von Papier und Buchftaben mitzutheilen» Wenn man an die Stelle der lateiniieheu Wor- te
Dreizehntes Kapitel. 385
te I n h * ere n tia und Subftahtia andere ihnen entlprechende ans den neuem Sprachen fetzte, fo würde es deutlicher werden , wie grofs die Klarheit ift, welche in der Lehre von der Subftanz und dem Accidenz herrfcht, und wie brauchbar beide Begriffe zu* Eni" ichcidung philoFophifcher Fragen find.
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Es g i e b t ar. fser den Grenzen der Körper weit einen leeren Raurri.
Doch wir kehren zu dem Begriff vom Räume zurück. Wenn er. Gott gefiele einen Menfchen an die lezte Grenze der Körperwelt zu Hellen — vorausgefetzt nehmlich, dafs die Körper nicht unendlich find, welches aber wohl Kie'mand behaupten dürfte, — fo fradt es fich, kanh diefer feine Hand von dem Körper ausfirecken ? Kann er es, fo :nufs er feinen Arm in einen Raum bringen, wo vor- her kein Körper wsr , und zwifchen feinen ausgeftreckten Fingern wird noch immer kör- perleerer Raum feyn. Kann er es nicht, fo inufs es ein äufserer Widerftand verhindern. Denn wir fetzen voraus , dafs er lebendig ift B b mV*
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Dreizehntes Kapitel,
385
te I n b ? e r e n t i a und Subftantia andere ihnen enüprechende aus den neuem Sprachen fetzte, fo würde es deutlicher werden, wie grofs die Klarheit ift, welche in der Lehre von der Subftanz und dem Accidenz herrfcht, und wie brauchbar beide Begriffe zur Eni" fchcidung philofophifcher Fragen lind.
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§♦ ai.
Es giebt aufser den Grenzen der Körper weit einen leeren Raum.
Doch wir kehren zu dem Begriff vom Räume zurück. Wenn es Gott gefiele einen Menfchen an die leite Grenze der Körperwelt zu ftellen — vorausgefetzt nehmlich, dafs die Körper nicht unendlich find, welches aber wohl Niemand behaupten dürfte, — fo fräst es fi'ch, kann diefer feine Hand von dem Körper ausftrecken ? Kann er es, fo inufs er feinen Arm in einen Raum bringen, wo vor- her kein Körper war, und zwifcher ausgeftreckten Finp ^1 noch i
pferleerer Raum inufs es ein är Denn wir fc
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3g6 Zweites Buch.
und die K;?,ft hefitzfe, alle Glieder feines Kor- peis zu bewe^err, eine Voran sfetzung, die au (Ich nicht unmöglich ift, wenn es Gott fo haben wollte; zum wenig&en wäre es für Gott nicht unmöglich, ihn fo zu bewegen. Und nun frage ich : Ift das, was fich der Aus- ftreckung feiner Hand widerfetzt, e-iueSubftanz oder ein Accidcnz, Etwas oder Nichts? W-er die fe Frage entfeheiden kann, wird auch im Stande feyn, die andere au fzuiöfen, was da* Unkörperlicbe, Undichte ift, was lieh zwi- fchen zwei Körpern in einiger Entfernung befindet, oder befinden kann, Indefien ift doch der Schlufs, dafs wo nichts ift, das VVi- ilerftand leiftet — man vergefse nicht, dafs wir an den äufserften Grenzen der Körper- weit find — ein In Bewegung gefetzter Kör- per lieh fort bewegen kann , xiun wenigfien . eben fo richtig, ais der, dafs zwei Körper, zwiiclun denen nichts ift, fich noth wendig beruh» 6« rutÜTea. Denn der biofse Raum zwifchen zwei Körpern kann fchon dieNoth- weridigkejt der gegenseitigen Berührung auf- hebe«», abev nicht die Uewegung hindern. , Riefe Pfeil© fophea mi'iifen in Wahrheit entwe. der ein^v.i::...,ii , was üe aber unfeine thun,
dafs
Dreizehntes Kapitel. 58^
dafs die Körperwelt unendlich ift, oder he* hanpten , dafs der Raum kein Körper ift* Denn Heil Denker will ich feben , der in fei- nen Gedanken dein Räume oder der Dauer Gienzen fetzen kann, oder dadurch hei bei- den an ein Ende tu kommen hofft, Wenn daher fein Be^rjit von der Bwigkeit unend- lich ift, fo riiufs es auch fein Begriff von di-t Unerinefslichkeit fcvn". Der eine wie äer andre ift entweder cn dlich oder unendlich»
§- 22.
Die Möglichkeit d e t Z e t k i c h« tu 11 g i f t ein Beweis f ü t den 1 e e.
reu U a u ui.
Diejenigen, welche die Unmöglichkeit des Leeren Raums behaupten* müileti ferner nicht nur die Körper uuendlich machen, fon« dem auch Gott die Macht abfprechen, einen Theil der Materie zu zernichten* Niemand wird wohl leugnen, dafs Gott alle Bewegung drr Materie aufbeben , alle Körper des'Uni- verfums in einen völligen Ruhe und Still- itand verfetzen , und darin, (a lange er will, ß b 2 er-
33$ Zweites Buch.
erhalten kann. Wer nun eingeftehet, dafs Gott während einer folchen allgemeinen Ruhe entweder diefes Buch oder den Körper des Lefers zernichten kann, der mufs notwen- dig die Möglichkeit eines leeren Raums ein« geftehen. Denn offenbar bleibt der von dem zernichteten Körper eingenommene Raum noch übrig, und wird von keinem Körper er- füllt, und die umgebenden Körper bilden» bei der allgemeinen Ruhe eine unüberwindli- che Mauer gegen das Eindringen jedes an- dern Körpers in diefen Raum, Die Noth* \vendigkeit der Bewegung eines Theils der Materie in einen Raum, der von einem andern Theile geräumt worden, ift in der That nur eine Folgerung von der Hypothefe des erfüll- ten Raums, und fie bedarf daher eines gründ- lichem Beweifes, als eine vos?ausgefetzte That- lache iß, die kein Verfuch durch Erfahrung erweifen kann. Dafs aber keine nothwendi- ge Verknüpfung zwifchen Raum und Dicht- heit ftatt findet, davon können uns unfre klaren und deutlichen Begrifie vollkommen überzeugen , indem das eine ohne das andre denkbar ift» Diejenigen, welche gegen oder für das Leere fliehen, geftehen , fchon da- durch
Dreizehntes Kapitel. 5$a
durch ein, dafs fie deutliche Begriffe von dem leeren und erfüllten Räume, alfö auch von ei- ner Ausdehnung ohne Dichtheit haben, nur dafs lie der letzten die Wirklichkeit abfpre- chen. Ohne das würden Ge um nichts flrei- ten. Wer die Bedeutung der Worte fo fehr ändert, dafs er die Ausdehnung zum Körper macht, und das Wefen des letztem in der blo- fsen Ausdehnung F ohne Dichtheit beftehen läfst , kann freilich nur Ungereimtheiten über den leeren Raum fchwatzen. Denn die Aus- dehnung kann ohne Ausdehnung nicht feyn. Der leere Raum , man mag feine Exiftenz behaupten oder leugnen , ift nichts anders, als ein Raum ohne Körper, deffen reale Mög- lichkeit niemand leugnen kann, ohne der Materie Unendlichkeit zu geben , oder Gott die Macht ab z ufprechen, einen Theil der Materie zu zernichten.
§♦ 23.
Die Bewegung ift ein Beweis für den leeren Raum»
Doch wir dürfen nicht einmal um einen
leeren Raum zu finden, über die Grenzen
B b 5 der
5qo Zweites Buch.
der Körperwelt hinaussehen, oder uns auf die Alimacht Gottes berufen; die Bewegung der Körper in unfrer Nahe uud vor unfern Aijyen fcheint mir Fchon laut riafür zu fpre« cheu. Denn man rasche den Verfuch , ob es möglich ift einen dichten Körpchr von jeder beliebigen Gröfse fo zu theilen, dafs die dich, ten Theile innerhalb den Grenzen der Oher- fische fich auf und nieder in jeder Richtung frei bewegen können, wenn nicht ein leerer Raum innerhalb, derfelben , fo grofs als der kleinfte der zerlegten Theile, übrig gelaflen ift. Wenn diefef Theil fo grols oder rnillionen- mal kleiner als ein Senfkcun ift, fo mufsauch der leere Raum innerhalb den Grenzen der Oberfläche des get heilten Körpers zur freien Bewegung der Theile eben fo grofs feyn. Denn gilt cliefes bei einem Theile, fo inufs es auch bei dein andern und fo ins Unendli- che fort gehen. Der leere Raum fey fo klein als er will , die Hypothefe von dein erfüllten Räume wird doch entkräftet. Man fetze ei- nen leeren Raum, der dem kleinften Theile d] r exiftierenden Materie gleich ift, fo ift es «och immer ein Raum ohne Körper und der Unterfchied zwifchen einem Körper und dem
Raum
Dreizehntes Kapitel. 5g,t
Ranm wird dadurch fo grofs, als wäre iwi- fchen beiden die gröfste Kluft beieftrget. Diefe Folgerang behält ihre Gültigkeit» wenn wir auch ein anderes Verhältnifs zvvifehen dem zur Bewegung erforderlichen Räume und den kleinften 'j'heilen der zerlegten Ma- terie annehmen»
§. 24.
Die. Begriffe von Kaum und Kor- per find v er fchieden.
Doch wir befchäftigen uns hier nur mit der Frage; ob der Begriff des Rau- mes oder der Ausdehnung mit dem des Körpers identifch ift? Es ift da. her nicht nothwendig, die reale Exiftenz des leeren Raums , fondern nur die Wirklichkeit des Begriffs davon zu erweifen. Und die- fer ift eine offenbare Thatfache , da Eini- ge über die Exiftenz oder Nichtcxiftenz des leeren Raumes forfchen und ftreiten. Denn wie könnte man ohne Begriff von einem körperleereu Räume, diefem feine Exiftenz ftreiiig machen? Auch könnte man nicht die B b 4. durch.
892 Zweites Buch.
durchgängige Erfüllung des Raumes in der Welt bezweifeln, wenn der Begriff des Kör- pers nicht noch etwas mehr als den Begriff des blofsen Raumes enthielte. Denn da Kör- per und Raum dann nur verfchiedene Ausdrü- ckefür einen und denfelben Begriff wären, fo wäre fchon die Frage, ob es einen Raum oh- ne Körper gebe, fo ungereimt als diefe, ob es einen Raum ohne Raum , oder einen Kör- per ohne Körper gebe,
§. 25.
Die Ausdehnung ift zwar vom Körper unzertrennlich aber deswegen nicht einerlei mit d e m f e f b en.
Es ift wahr, die Ausdehnung ift mit allen fichtbaren und den meiften fühlbaren Eigen- fchaften fo enge verbunden , dafs man nur wenige äuföere Objecte fühlen aber keins derfelben fehen kann, ohne zugleich Eindrü- cke von der Ausdehnung mit aufzunehmen. DieTer Umftand war, wie ich verrauthe, die Veranlailung , dafs einige das Wefea des gan- zen
Dreizehntes Kapitel. 3g"5
zrn Körpers in der Ausdehnung feuien. Auch darf man fich darüber eben nicht fo fahr wundern , da die beiden gefchaiti^ften Siune, die Augen und das Gefühl, das Genaüth fo fehr mit Vorfte Hunden, die ßch auf die Ausdehnung beziehen , erfül- len und einnehmen, dafs einige Menfchen fogar keinem Dinge , wenn es nicht ausge- dehnt war, ein Dafeyn beilegten Doch ich will jetzt nicht gegen diefe ilreiten, welche die befchränkten und groben Vorftellungen ihrer PhantaQe zum Maafsftab der Möglichkeit aller Dinge machen. Ich habe es jezt nur mit denen zu thun , welche das Wefen de? Kör- pers in der Ausdehnung fetzen, weil fie, wie he fagcn , lieh keine Hunliche Beschaffenheit des Körpers ohne Ausdehnung voi Hellen kön- nen. Hatten fie doch nur fo aufmerkfam über die Vorftellungen des Gelchjnacks und Ger xuehs als über die des Gelichis und G< k nachgedacht, oder auch nur das Gcfüiil von Hunger und Dürft und andern unangeueh- men Empfindungen unterfucht, fie würden gefunden haben, dafs fie die \'orftelIunor der Ausdehnung gar nicht einfchlieTsen, Die Ausdehnung ift nur eine Beftimmung des Kör- B b 5 per«
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zen Körpers in der Ausdehnung fetzten. Auch darf man fich darüber eben nicht fo fehr wundern , da die beiden gefchumgiten Sinne, die Augen und das Gefühl, das Geuiüth fo fehr mit Vorftellun^en , die fich auf die Ausdehnung beziehen , erfül- len und einnehmen, dafs einige Menfchea fogar keinem Dinge , wenn es nicht ausge- dehnt war, ein Dafeyn beilegten. Doch ich will jetzt nicht gegen diele theiten, welche die befchrankten und groben Vorftellungen ihrer PhantaGe zum Maafsftab der Möglichkeit aller Dinge machen. Ich habe es jezt nur mit denen zu thun, welche das Wefen des Kör- pers in der Ausdehnung fetzen , weil .ie, wie iie fa°cn , lieh keine Hnnliche Beichten heit des Körpers ohne Ausdehnung vor freuen kön- nen. Hätten fie doch nur fo aufmerken über die Vorftellungen des Gefchancks und Ge- ruchs als über die des Gehchis und Gefühls nachgedacht, oder auch Hunger men gef- A
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pars, fb ^ie «Jie fifjri'gen: durch die Sinne malUOT&ibiaiibase» Elgeafekafte», und die Sinne ißjsaä wöM ta-sina rekasff genug , um ia das rei* me Wefeo d«r Ifege einiudringea.
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Weam dlie Yerßelluagen > welclie beftäi?- dig mit anders verknüpft find , deswegen für das Weife» «ieijeäigea- Pinge lnüfstea gehal- ten wer<dea# aüt derea Begriffne unzertrenn- lich vetbvmden Snd„ f» ift die Einheit un&relslg tbs Wefea aller Dinge* Denn je- des öbjeel der Sinnlichkeit und der Refle- xion fährt diefea BegrifF bei Heb» Doch die Schwäche diefes Scblufles ift bereits hinläng- lich aufgedeckt worden.
§. 37.
Die Begriffe, de* Raums und" der Dichtheit find ver f chieden.
Was endlich aach die Marlene* über die WirUiclifccrit des leeren Raumes denken mö- gen, fo ift doch für mich fo viel klar, dafs wir einen deutlichen Begriff von deai Räume
haben*
Dreizehntes Kapitel. 5q-
habpp ♦ und ihn fo fcharf von der Dichtheit^ diefe von der Belegung und niefe von dem R.-.t nie unterfebeiden können . als es nur bei andern Vorftelluneen möglich ift. Der Raum i!i eben fo vorf+ellbar ohne Dich'hrit, als der Körper oder der Raum ohne Bewe- gung, wenn es auch noch fo ausgemacht ift, dafs weder Körper noch Bewegung ohne Raum exißiren kann. Ob der Raum nur ein Verkahnils fey , das aus der Exiftenz anderer entfernten Wefen entfpringt, oder ob die Worte Salpracfs; der Himmel und der Him- mel der Himmel kann dich nicht falsen, oder die V\ orte Paulus: in ihm leben, weben und find wir, buc-hitjiblich zu verliehen feyen, das mögen andere entfeheiden. Genug unfer Begi iff vom Räume ift, wie ich gezeigt ha- be, von dem des Körpers verfchieden. Man betrachte den Raum an der Materie, als das Auseinander.^ yn der dichten, zurammeijh;in- genden 'Meile, oder als zwifchen <un Gren- zen eines Körpers nach allen feinen Durch- mcllungen liegend , oder endlich Zwilchen zwei Körpern oder Dingen liegend, ohne Rücklicht darauf zu nehmen, ob zw liehen beiden Materie ift oder nicht; man nenne
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396 Zweites Ruch.
ihn in der erften Beziehung die Ausdehnung, in der zweiten die Länge, Breite und Dicke, und in der dritten die Entfernung: es ift doch immer cliefelbe einartige und einfache Vor- frellung des Raums , wie er auch genennet oder betrachtet wird». Diefe Vorftellung ent- fpringt von denÖbjecten, mit welchen unfre Sinne befchäftiget find. Die beftimmten Vor- ftellungen von ihnen können wir in unferm Selbft erneuern, wiederholen und zu einan- der fetzen, fo oft es uns gefällt, auch den Raum oder den Abftand zwifchen ihnen in der blofsen Vorftellung entweder als mit etwas Dichten erfüllt, oder von allem Dichten ent- lediget betrachten , fo dafs im erften Falle ein andrer Körper, ohne das Dichte aus fei- ner Stell» zu treiben, nicht eindringen, im zweiten aber ein Körper von derfelben Gröfse als der Raum iß, denselben erfüllen kann, ohne ihn vorher körperleer zu machen. Um aber alle Verwirrung in diefer Sache zu ver- meiden, dürfte man wohl wünfehen , dafs das Wort Ausdehnung nur von der Ma- terie oder der Entfernung der Grenzen eines Körpers, Ausfpannung (Expanfion) hin. gegen nur von dem Raum überhaupt, er fsy
mit
Drcirehntes Kapitel, 397
mit Materie erfüllt oder nicht, gebraucht würde, fo dafs man fagte, der Rar. m ift ausgefpannt, der Körper ift ausge- dehnt. Doch das ift nur ein Vorschlag zur. Beförderung der Deutlichkeit in der Sprache; jeder behält darin feine Freiheit]
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DTe Menfchen find in Anfehung der klaren einfachen Vorftel- 1 u n g e n wenig uneinig.
Die fcharfe Bfeftlmrinuri* der Bedeutung der Worte würde in diefem fo wie in andern Fällen bald allen Streitigkeiten ein Ende mä- chen. Denn wenn die Menfchen ihre einfa- chen Vorftellungen unterfuchten, fo würden fjfi wohl bald finden, d;ifs iie allgemein ein- ftimmigfind, ob fie gleich in ihren Unterre- dungen einander durch die verfthiedenen Worte verwirrt machen. Diejenigen Män- ner, Welche im Stande lind, ihre eignen Be- griffe aufmerkfam zu beachten und. zu unter- fcheiden , können fchwerlich lehr in ihrem Denken abweichen, fo lehr lie auch einander
duidi-
3f)8 Zweites Buch.
dinch blois.o Worte »n Verlegenheit fetzen mögen, wenn fie in Her Sprache ihrer Scr.u- le oder Sekte reden. Wenn man aber weqjg denkt, feine eignen Begriffe nicht forgiäihg und gewiüenhaft prüfet, lie nicht von den gewöhnlichen Ausdrücken lostrennet, fon. dem mit Worten verwechsle, dn kann des Zankens, Streitens und des unVerftändlicheji Gewäfches kein, Eni e ft) n , befonders unter Mä -nern» die ihre Gelehrfamkeit aus Bü- chern haben, einer Sekte und ihrer Sprache 'klavifch anhängen, und nur andern nachbe- ten. Sollten aber zwei Denker wirklich we- fentlich. verfchiedene Begriffe haben j To fehe ich nicht, wie fie mit einander disputiren und {breiten wollen. Man würde ßch aber fehr irren, wenn man glaubte, jedes flüchtige Phan- tahenbild gehörte unter die Reihe von Vor- Heilungen s von denen hier die Rede ift. Es ift keine leichte Arbeit für den Verftand , alle verworrene Begriffe und Vorurtheile abzule- gen, die er aus Gewohnheit, Uuachtfamkeit und dem gemeinen Leben eingelbgen hat; es körtet eine anhaltende Anftrengungt ü:n feine Begriffe zu unterfuchen , und he in die klaren, beftimmten, einfachen Voröel-
lunsen
Dreizehntes !Ka^patt«L
lnnnrpn anf/ulöfen, ans jfl-eiaea» Sü« -iMfornmea • /t lind, um; \\n\e.i «liefen düsjKWsusi*-«» »a untoifcheiden, weldie in nvtk-waiü.i«*rr Veeg-- knupftrng oder fte-ziehn»'.» fiel»«». £*g> HfiBB«« aber ein Menfc'h <"! i e Ts mit «$(••« «ife« rbc fpri'iGg'icher. Begriffen von «3ceffl Di.a^a c:.;'.t thnt, -fo lange baut er a.uf irda«rüid3üeBsSeB ujsd- gewiffe Grund f.: rze , und wird üiiiu «jtttt ta Vtr - legenbeu gefetzt und geflawJfidiaK Ssdea *\
Vierzflintc
Von der Dauer ftiitl 'flrr .s HWIeise-
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Die Dauer ift die Hi««ir*e««Ie äks- d e b n u n «.
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giebt eine andere Art ro»« ASsftuad Länge, deren VorfteHuatg wir ssic&t von dem
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*) Locke fliehte Sz-n empia ifcLm CrfjMrwm» «Jen \ Britellosig vca dem Rauac jakf^ «i. k. da
4°o Zweites Buch.
beharrlichen Theilen des Raumes , fbndern von den flielleuden, immer wech feinden Theilen einer fucceffiven Reihe isrhalten: V\ ir nennen fie Dauer, Ihre einfachen ßeftim- numgen find dieverfehiedenen Grofsen — Län- gen derfelben, infofern fie von uns vorge» ftelli. werden, als Stunden, Tage, Jahre u. f. w, Zeit und E \v i g k e i t.
welche Data , ourch weiche Vorftellungen fie veranlafst oder erzeugt weide. Ei ,&ieng alfo von feinern Germilh heraus, und fuclite den Grund diefer Vorftellun» nicht in feinem Selb/t, Sondern in der Außenwelt,, an dem Abfiande der Tlieile eines Körpers von einander, oder eines Körpers von dein andern. Er bemerkte «licht, dafs Ahftan d. , Theiie, Entfernung u. f, w fcliuu Raum voraus fetzen , mir im Raurn vorf'ellb.ir und , und konnte es auf feinem Wiege nicht wohl bemerken. Zwar kam er dein reinen Begriff vom Räume etwas näher, in 'dem ev den Kaum, von dem Raumeii'ül. 1 en de u unterfchied ; aber immer betrachtete er doch den erfüllten und leeren Raum als ein aufser uns befindliches reales Dirig, weil ev die Vorßelhing davon als eiiien von aufsein Objekten abftraluuten Begrifi betrachteten.
Vierzeh ntes Kapitel. -qoi
§. 2.
Die Voiftellung der Dauer ent- fpringt aus der Reflexion ü b e £ die Folge unfier Varftellun-
Die Antwort eines grofsen Mannes *) auf die Frage, was die Zeit fey : wenn ich nicht gefragt werde, fo weifsich es, welche fo viel bedeutete als: jemehr ich darüber nachdeiike, deftu weniger verliehe ich davon, könnte leicht den Gedanken ver_ anlafsen, dafs die Zeit, welche alles andre offenbar macht, felbft etwas unerforfchliches fey. Und man glaubt in der Thal nicht oh- ne Urfache, dafs in der Natur der Dauer, Zeif und Ewigkeit etwas fchwer zu ergründendes liege. So wenig begreiflich aber auch diefe Vorftellungen fcheinen , lo zweifle ich doch nicht, dafs wir ihren UrTprung, durch unfer Nachforfchcii , in einer, von den be»den Quellen aller unfrei Erkenntnifs, in der Sinit-
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402 Zweites Buch,
lichkeit oder der Reflexion, entdecken ton- nen. Es wird fich zeigen , dafc wir daraus von diefc-n Obiecten eben Co klare und deut- liche Begriffe erlangen , als von andern nicht weniger dunkeln Gegen [landen , und dafs felbft der Begriff von der Ewigkeit aus der gemeinfchaftlichen Quelle aller unfrei Vorfiel- hingen entfpringt,
5. 5.
Zur richtigen Einficht in die Begriffe rort Zeit und Ewigkeit muffen wir den Begriff von der Dauer und feine Entftehungsart aufmerk- fam unteifuchen. Dafs in dein wachenden Zuftande eineReihe von Vorftellungen unauf- hörlich auf die andre folgt, ift eine Thatfache die jedem Beobachter der innern Veränderun- gen feines Gemülhs einleuchten mufs, Die Reflexion über den Wechfel der einander ab- jöfenden Vorfrellungen giebt uns den Begriff von der Folge, Succellion. Der Ab- ftand zwifchen den Gliedern diefer Folge, oder zwifchen dem Bewufsfeyn zweier Vor- ftellungen der Seele, ift das was wir Dauer Kgrjncn, Denn während wir denken > oder
Vor-
Vierzehntes Kapitel» 4*3
Vorftellungen nach einander in die Seele auf- nehmen, find wir unfres Dateyns bewirfst; und dahet nennen wir die fort gefetzte Exi- ftenz unfrer Selbü oder eines andern mit un- term Henken coexifh'erenden Dinges, infofera fie durch die Folge unfrer Vorftellurgen ge» tneüeu Wirtin, die Dauer chefer Dinge«.
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DaTs wir unfern Begriff von der Folget und der Dauer aus diefer Quelle, nehmlich der Reflexion^ über die Zeitfolge unfrer Vor- ftellungen erhalten , fcheint fich mir dadurch zu beftätigen, weil wir nur infofern eine Vor- flellung von der Dauer haben , als wir di© Folge der in unferrn Gemüthe wechfelnden Vorftellungen betrachten. Mit diefem Wech- fei hört auch jene Vorftellung auf — eine Erfah- rung, die jeder an fich im tiefen Schlafe, ma- chen kann. Er fchlafe eine Stunde, einen Tag, einen Monat, oder ein Jahr; er hat voa dieTer Zeit, während er fchläfr oder nicht denkt , keine Vorftellung , Ge ift für ihn ver_ loren; der Augenblick, wo fein BewufstTeyn aufhört, und der, wo es wieder anfangt, Cc 2 fche^i-
404 Zweites Euch.
fcheinen ihm durch keinen Abftand auseinan* der gerückt zu teyn. Das würde ohne Zwei- fel auch der Fall in dein wachenden Zuftande feyn , wenn es möglich wäre, ohne Wechfel und Folge anderer Vorfteilungen nur eine in dem Bewufstfeyn feit zu halten. So läfst ein MenfGh, der feine Gedanken auf einen Ge- genftand heftet , und über diefer Betrachtung den Wechfel anderer Vorfiellungen wenig beachtet, unvermerkt einen' grofsen Theil diefer Dauer aus der Rechnung aus, und glaubt die Zeit fey kürzer gewe- fen, als fie wirklich war. Im Schlafe flie- fsen aber gewöhnlich entfernte Zeittheiie in einander , weil dann kein Wechfel von Vor- fteilungen in dem Gemüthe vorgehet. Denn wenn man träumt, und eine Reihe von Vor- fteilungen, eine nach der andern ins Bewufst- feyn kommt, fo hat man auch in dem Trau- me ein Bewufstfeyn von der Zeit und ihrer Län^e. Alles diefes überzeugt mich, dafs der Begriff von der Dauer von der Beobach- tung des Wechfels unfrer Vorfteilungen abge- leitet ift. Wenn man nicht wahrnähme, wie eine VorftHlung auf die andre folgt, fo wür- de kein Wen Ich eine Vorßelhmg von der
Dauer
Vierzehntes Kapitel, i\oS
Dauer haben, was auch fonft für Veränderun- gen in der Welt vorgehen möchten.
§. 5.
Der BegViff von der Dauer ift auch während des Schlafs auf die Dinge anwendbar,
Die Menfchen haben alfo in der That den Begriff von der Dauer durch die Reflexion über die Folge und Zahl ihrer Vorfiellungen erhalten. Er kann aber gleichwohl auch auf Dinge angewendet werden, die während fie nicht denken, exiftieren, fo wie der Begriff von Ausdehnung der Körper, obgleich aus den Eindrücken des Gefichts oder Gefühls ent- fprungen , auch auf die entfernten Räume an- gewendet wird, wo kein Körper fichtbar oder fühlbar ift. Zwar kann man die Lunge der Zeit nicht wahrnehmen, welche in dem Schla- fe oder Kichtbewufstfeyn verfliegt. Allein nachdem man einmal den Wechfel des Tages und der Nacht und die Länge diefer Perioden beobachtet hat, welche in der Erfchcinung Tegclmäfsig und einerlei ift, fo läfst fich un -•. C c 5 der
406 Zweites Buch,
der Voraussetzung, cUfs clieler Wechfel währ rend des Schlafes und des Nichtbewufstfeyn$ eben fo regelmässig als zu andern Zeiten er- folgie, auf'i die Omer des Schlafes vor- ftellen und ungefähr beftimmeu. Wenn aber Adam ur.d blva. da lie noch aHeine wa- ren , anftatt der gewöhnlichen Zeit £.'l Stirn" clen in einem fort gefchiafen hatten , (o wäre diefe Zeit unwiderbringlich für lie verloren und aus ihrer Zeitrechnung ausgewichen ge- vveien.
$. 6.
Der Begriff von der Folge ent- fpringt nicht von der Bewe- gung,
Vielleicht glaubt Mancher, diefer Begriff muffe nicht aus der Reflexion über den Wech- fel unfrer Vorftellun^en, fondern vielmehr aus der Wahrnehmung der Bewegung durch die Sinne entftehen. Allein er wird meiner Meinung beitreten, wenn er überlegt, dafs die äiifsere Bewegung diefen ßegvifi auf kei- ne andre Weile erzeugen kann, als in dem fie eine Itete Reihe von unterftheidbjren Vor-
ftellun-
Vierzehn t e s Kapitel, 407
Heilungen in unferm Gemüthe hervorbringt. Ja man kann felbft einen bewegenden Kör- per anfchauen, ohne die Bewegung zu bemer- ken, wenn nicht dadurch eine ftete Reihe von auf einander folgenden Vorftellungen verur facht wird. So kann ein Menfch auf der See, an einem heitern windftillen Tage, dem feften Lande aufser Geficht, die Sonne, die See, das Schiff flundenlang betrachten, ohne die geringfte Bewegung wahrzunehmen ; und doch ift es gewifs , dafs während diefer Zeit einige oder alle diefe Gegenftände einen groTsen Kaum zurückgelegt haben. So wie er aber bemerkt, dafs der Abftand diefer Kör- per von einem andern fich verändert hat, und dadurch eine neue Vorfteliung in ihm erzeugt wird, fo hat er auch die Bewegung wahrge- nommen. Man fetze aber einen Menfchen an einen Ort, wo alle Körper um ihn herum in Ruhe find: er wird, wenn er nur eine Stunde denkt, durch den Weckfcl feiner Vor- ftellungen und Gedanken, eine Folge in fiqh finden , wo er keine Bewegung beobachten konnte.
C c 4, §. 7.
4p5 Zweites Buch.
§• 7-
Diefs iß wohl die Urfache, warum wir langfame obgleich anhaltende Bewegun- gen nicht wahrnehmen. Denn indem ein Körper von einem wahrnehmbaren Punkte zum andern fortrückt, wird die Entfernung fo lan^fam abgeändert, dafs dadurch keine neue Vorftellung als nach Verflufs einer ziem- lichen Zeit erweckt wird; es entflehet alfo keine ftetige Reihe von neuen Vorftellungen, die unmittelbar auf einander folgen. Man hat alfo keine Vorftellung von der Bewegung; denn diefe als eine ftetige Folge kann nicht wahrgenommen werden, wenn nicht eine fte- tige Fol^e von \ orftelluijgen in uns verur- facht wird»
§. 8.
Im Gegentheil wird auch keine Bewe- gung an denjenigen Körpern wahrgenommen, welche Geh fo gefih wind bewegen, dafs fie die Sinne die verschiedenen Entfemungspunkte in der Bewegung nicht wahrnehmen laden, und deswegen keine fucceflive Reihe von Vor-
fteüun-
Vierzehntes Kapitel. 4°9
ftellungen in dem Gemiithe verurhchen. Wenn ein Körper fich in einem Kreile in kleineren Zeittheilen beweget, als unfere Vorftellungen aufeinander zu folgen pilrgen, fo wird die Bewegung nicht wahrgenommen, es fcheint vielmehr ein ganzer vellftändiger Kreis von gewiiTer Materie öder Farbe , nicht aber ein Theil eines bewegten Kreifes, lieh den Augen dariuftellen.
Die Fol^e unfrer YorftrI hingen hat einen gewiffen Grad von G e f c h vv i n d i g k e i t.
Sollte nicht daraus wahrfohcinlich wer- den, dafs unfre Yorftelmngcn in dem wa- chenden Zuftande in einem gewUTen AbPtande auf einander folgen, faß fo wie die Bikler in dem innern Kau me einer Laterne von der tiitz. • des Lichts herumgedrehet werden, Iiire fuccefrive Eritheinung kann zwar zuweilen fchneller oder laugfamer feyn, aber fie h.it do$h in einem wachenden Menfchen pine nicht lehr veränderliche Norm. Die Folge der Ccö Vor-
»jl» Zweites Bucli.
Vorftellungen fcheint an gewiffe Grenzen der Gefehwindigkeit und Langfamkeit gebun- den zu feyn , welche fie weder auf diefer noch jener Seite überschreiten kann»
§• 10,
Diefe fonderbar fcheinende Mutbma- fsung gründet fich auf die Bemerkung, dafs wir die Folge der Eindrücke, wodurch die £iinne afficiret werden, nur in einem gewiflen Grade wahrnehmen können. Wenn fie zu fchneil auf einander folgen, fo haben- wir Zveitjen Sinn dafür , fo gewifs es auch ift, dafs eine' wirkliche Folge ftatt fand. Wenn eine Kanonenkugel beide Wände eines Zimmers durchbohret, und unterweges einem Men- fchen ein Glied oder Theil feines Leibes ab- reifst, fo ift es fo klar, als eine Demonftration, dafs alles diefes nicht auf einmal, fondern nach und nach gefcheheu mufste. Gleich- wohl hat gewißi noch kein Menfch, der fich in diefem Falle befand, weder bei der Wun- de und dem Schmerze noch in dem Schall, wennq die Kugel an beide Wände anprallte, dno Folge wakrgenommexi. Eine Dauer die-
fer
"Vier zehntes Kapitel. 411
fer Art, in der keine Folge bemerkbar ifr, ift das , was wir einen Augenblick nennen können. Der Augenblick erfüllt nur die Zeit einer einzigen Vorstellung in dem Gemüthe, ohne dafs eine andre darauf folgt. Und da- her iil in demfelbea keine Folge rorftdlbar,
5, 11,
Diefes ereignet fich auch d*nn, wenn die llewegung zu langram iu% dafs fie den Sinnen J'eine ftetige Reihe von neuen V'orftellungen in der befrimmten Zsit dirbietet, in weichet das Gemüth neue Vorftelhuigen aufnehmen kann. Es wird unfren \ orltellungen Zeit gelaflen, unterdeffen ins Bew-.ijtfejn zukom- men, und die Reihe dt-r Vorlteliungen , wel- che der bewegte Körper durch die Sinne ver- anlafst, zu unterbrechen, und die Wahr* nehmung der Bewegung geht verlornen. Ein füleher Körper fcheint ftille zu liehen, weil er ungeachtet feiner wirklichen Bewegung, doch das Raumverhältnus zu andern Körpern nicht fo fchnell auf eine merkliche Weife verändert, als die Vorfleliungen u^iers Gq-
n;üth>
Hiz Zweites Buch.
müths in Reihen auf einander folgen. An den Zeigern der Uhren, dem Schatten der Sonnenuhren und bei andern langfamen Be- wegungen kann man fich davon überzeugen. N-cii einiger Zwi^henzeit läfst fich an dein veränderten Abitande bemerken, .dafs fich diere Dinge bewegt haben , aber die Be- wegung felbft wird nicht wahrgenommen.
§. 12,
Die Fe beftimmte Folge unfrer Vorftelluugen ift der Maafs- ftab für jede andre Folge.
Die einförmige und regelmäßi- ge Folge dfr V o r f t el I u n ge n in dem wachenden Zuftand fcheint alfo gleichfam der Maafsftab und die Regel für jede andere Folge zu feyn. Wo daher eine Bewegung oder Folge entweder zu fchnell oder zu langfam erfolgt, daTs fie dem Gang urfrer Vorftelluugen entweder zu- vorläuft, • oder mit dentelben und ihrer be- fiiminten Zeitfolge nicht gleichen Schritt halt, da ift die Vorftellung von einer gleichförmig
fort-
Viei' zehntes Kapitel. 41a
fortfchreitenden Folge verTchwunden , und wir bemerken fie nur in gewiilen Zwischen- räumen der Ruhe. Ein Beispiel von jenem Fall ift, wenn zwei Töne oder fchmerz hafte Empfindungen fo gefchwind auf einander fol- gen, dafs fie nur die Zeit einer einzigen Vorftellung einnehmen; und von diefern. wenn eine oder mehrere Vorftellungen mit gewöhnlicher Gefchwindigkeit ins Btwufst- feyn kommen, und die Reihe derer unterbre- chen, welche dem Geficht von den befiimm- ten Entfernungsweiten eines bewegenden Kör- pers u, f, w. gegeben werden.
§. i5.
Das Gemüth kann nicht lange Zeit auf eine unveränderliche Vorftellung haften.
Allein, könnte man Tagen, wenn wirklich unfre Vorftellungen, fo lange wir einige ha- ben, unaufhörlich wechfeln , und auf einan- der folgen, fo ift es unmöglich, einige Zeit- lang über ein Object nachzudenken, Meinj man damit foviel, als man könne eine und
d i e-
4t4 Zweites Buch,
diefelbö Vorftellung ganz ifolitt und ohne alle Abwechfelung, eini- ge Zeitlang in dem Bewufstfeyn erhalten, fo ift es. wie ich glaube, als Thatfache unmög- lich. Da ich nicht weifs, wie die Vorftel. lungen der Seele gebildet werden , aus wel- chem Stoff üe beftehen , woher fie ihr Licht erhalten, und wie he Och dem Bewufstfeyn dsrftellen, fo kann ich dafür freilich keinen andern Grund als die Erfahrung anführen. Man verfuche es alfo, ob man eine einzelne Vor. ftellung ifolirt einige Zeit hindurch unverän- dert in den Gemüthe gegenwärtig erhalten kann,
$. 14.
Marh nehme t. B. eine Figur, einen" ge? willen Grad von Licht oder Farbe , oder was man fonft wilf, und man wird nur zu bald die Schwierigkeit empfinden, alle andern Vorlleilungen entfernt zu halten. Verfchie. ■dene Betrachtungen über den vcrgefteiiten Gegenftand (wovon eine jede eine neue Vor- fietluBg ifi) oder Vorftellungen andrer Art
wer-
Vierzehntes Kapitel. ifö
Werden immer mit einander wechfelh , fo fehr man es auch vermeiden will.
§• i?
Alles was der Mm/ch, in diefetn Fall ver- mag, ift, die Vorfteliungen, die vor feinem Bewufstfeyn vorbeigehi-n , zu beachte; 5 eine gewifse Reihe von Yrirftellungen zu beftirn- men, und diejenigen herbeizurufen1 , welche zu feinem Nutzen oder Vergnügen abzwecken. Aber die beständige Aufeinanderfolge neuer Vorfteliungen zu hemmen, das fleht wob[ nicht in feiner Macht; doch kann er will- kührlich beftimmen, welche davon er auf- aierklam beachten wilk
Wie auch Vorfteliungen entffe- hen, fo fchlieffen f i e doch kei- ne Empfindung von Bewegung ein.
Ob diefe rcannichfaltigen Vorfteliungen der Seele durch gewifle Bewegungen entfle- hen , will ich dahin geftelit feyn lalfen. So
vie
/jx6 Zweites Buch,
viel ift aber gewifs, dafs fie bei ihrer Erfchel- nung keine Bewegung einfchliersen. Hätte daher der Menfch den Begriff von der Bewe- gung nicht anders her, er würde gar keinen haben. Diel es ift fchon zu meinem Zweck hinreichend, und zeigt offenbar, dafs die Beobachtung u n frer Vorfteüungen und ihrer A u fei n a nd erfolge der Seele ausfcbliersüch den Begriff von Folge und Dauer giebt. Es ift al'b nicht die Bewegung* fondern die beftändige Folge der Vorfteüungen - unfers Genui'.hs in dein wachen- den Zulrande» welche uns den Begriff der Dauer zuführet« Die Bewegung trä^t, wie ich ichon oben gezeigt habe, nur info- fern dazu bei , als fie eine ftetige Folge von Vorfteüungen in unfern) Gemüthe veranlagt. Die Vorftellungen von Folge und Dauer wer* den aber fo klar durch' eine Reihe von fuccef- fiven Vorftellungen, die den Begriff von Be- wegung nicht voriusieizen , als durch eine Ileihe andrer durch die ununterbrocbne wahrnehmbare Veränderung des Abftandes zweier Körper, alfo" durch Bewegung verur- fächten Vorftellungen dem Gemüthe gegeben. Die Vorftellüng von der Dauer könnte daher
auch
Vierzehntes Kapitel. 4x7
auch ohne alle Vorftellung von der Bewe- gung feyn, » "
$• 17»
Die Zeit ifi eine durch ein be- ftimmtes JVlaaf» bezeichnete Dauer.
Nach Erlangung des Begriffs der Dauer hat der Verfhnd zunächft darauf zu denken, ein gewifles Maafsfür diefe allgemeine Dauer feftzufetzen, ura ihre Länge und die beftimra- te Ordnung , worin die Dinge exiftieren, zu beurtheilen. Denn ohne das würde ein gro« fser Theil unfrer Kenntnifle verwirrt und ein beträchtlicher Theil der Gefchichte un- brauchbar werden, Diefe Betrachtung der Dauer, infofern fie durch gewiife Perioden beftimmt, und durch gewiife Maafse oder merkwürdige Begebenheiten bezeichnet wird, ift das, was, wo ich nicht irre, am fchick- lichften Ze it genennt wird.
D d §. 18,
4l£ Zweites Buch.
§. l8»
Ein gutes Zeitmaafs mufs ihre ganze Länge in zwei gleiche Zeiträume eint heilen.
Zur Ausmeflung der Ausdehnung ift nichts weiter erfoderlich , als eine ilegel oder ein IVlaafsftab, dellen wir uns gewöhnlich bedie- nen , wenn wir die Gröfse der Ausdehnung eines Diuges wiiTen wollen. Bei der Dauer gehet diei's aber deswegen nicht an , weil man nicht zwei Theile einer Zeitfolge neben einander fetzen kann, um einen mit dein an- dern zu rneflen. Für die Dauer kann es kein andres Maafs als die Dauer, und für die Aus- dehnung kein andres als die Ausdehnung ge- ben. Daher haben wir für jene, welche in einer beftändig wech feinden Folge befiehef kein fo f eftfte hendes , unveränderliches Maafs als für den flaum beftiminte 1 ängen, als Zol- le, Fufse, Ellen, die an beharrlichen Thei- len der Materie bezeichnet find. Nur Eins konnte daher einen tauglichen Zeitmefler ab- geben, was nehiniich die ganze Länge feiner Dauer durch regeimähug wiederholte Reihen
von
Vier teil ntes Kapitel. 419
Von Erfcheinungen in fcheiubar gleiche Thei- le abgefoudert hat. Alle Theile der Dauer» die nicht durch diefe Perioden untcrfchieden und gemeffen, oder als foiche. betrachtet wer- den , gehören eigentlich nicht unter dea Zeilbegriff, wie auch fchon aus den Aus- drücken vor aller Zeit, wenn Lein© Zeit mehr feyn wird, eihellet.
§. '9-
Der Umlauf der Sonne und des Monds ift das f chic kl ie hf tö Zei t m a ä fs.
jDie tägliche und jährliche Umwälzung; der Sonne, welche von Anfang der Welt einför- tnig, regelmäfsig, für alle Menfchen ein Ge- genwand der Wahrnehmung, und wie man vorausfetzte, immer von gleicher Länge war, wurde mit Recht zum Maafse der Dauer an* gewendet. Die durch die Bewegung der Son- ne beftimmte Unterfcheidung der Tage und Jahre hat aber den Irrthum veranlafst, als wäre die Dauer der Maafsftab für die Be- weguug, und diefe wieder für die Daner, D d a Die
420 Zweites Buc h.
Die Menfchon waren bei Beftiminung der Zeitlänge gewohnt, an Minuten. Stunden, Ta- ge, Monate, Jahre zu denken, und bei jeder Erwähnung der Zeit und Dauer pflegten fie diefe fich au vergegenwärtigen» Da aile die- fe cQeile durch die Bewegung der Him-
...ciskörper btftiromt waren, fo war das Ver« anlafsung, Zeit und Bewegung miteinander zu verwechfeln, oder wenigstens eine noth- Vendi^e Verknüpfung zwischen beiden zu denken» Allein eine gleichförmige periodi- sche Erfcheinung, oder ein regelmäfsig, allge- mein bemerkbarer Wechfel der \ orftellungen in einem fcheinbar gleichen Abftande würde die Zeiträume eben fo gut unterfchieden ha- ben, als jene Bewegungen. Gefetzt die Son- ne, welche einige für Feuer hielten, würde in derfelben Zeit, in der fie jezt jeden Tag in den Mittagszirkel tritt, angefteckt, und dann nach 12 Stunden wieder ausge- löscht, und fie nehme in der Zeit einer jähr- lichen Umwälzung merklich an Hitze und Glanz zu und ab, würde nicht diefe regel- roaf ige Erfcheinung für alle diejenigen , wel- che He beobachteten, eben fo gut mit und oh- ne Bewegung ein fchickliches Zeitmaafs feyn ?
Ge«
Vierzehnte» Kapitel. 42t
Gewifs fie würde es auch ohne Bewegung feyn , wenn fie nur regelmäfsig in gleichen Perioden erfolgte, und von allen wahrge- nommen werden könnte«
§♦ V-
Aber nicht durch die Bewegung fondern durch die periodifch« Erfcheinung.
Die Menfchen könnten eben fowohlnach dem Gefrieren des WalTers , oder der Blüte- zeit der Pflanzen, wenn fie in allen Erdthei- len in einerlei Perioden wiederkehrten, als nach den Bewegungen der Sonne ihre Jahre rechnen. Das thun auch wirklich einige Völker in America, welche ihr Jahr nach der Ankunft und Abreife gewifler Vögel in beftimmten Jahreszeiten berechnen. So könnten auch die Anfälle des kalten Fie- bers 1 die Empfindungen des Hungers und Durftes gewifle Geruchs • und Gefchmacksera» pfinHungen, die Ablaufszeit einer fucctTfi- vpn Reihe meffpn, und die ZwifchertTaiime der Zeit unterfcheiden , wenn fie in beftimra- D d 3 ten
^Sft Zweites Buch,
ten gleichen Perioden zurükkehrten und ein Gegenftand der Wahrnehmung für alle wären. Auch fehen wir, daTs BUudgeborne die Zeit fehr gut nach Jahren berechnen, ob fie gleich den Abiauf derfdben nicht nach Bewegun- gen der Himmelskörper, die fie nicht fehen, beftimraen können* Und follte ein Blinder, der feine Jahresrechnung nach der Hitze des Sommers, oder der Kälte des Winters, oder dem Geruch einer Blume im Frühling, oder nach dem Genufs einer Herbftfrucht befumm- le, nicht ein befferes Zeitmaafs haben, als die Römer vor Verbeflerung ihres Kalenders durch Julius Cäfar, oder viele andere Völker, deren Jahre ungeachtet ihres Vorgebens, dafs fie nach der Bewegung der Sonne berechnet wä- ren, fehr unregehnäfsig find? Es verurfacht keine kleine Schwierigkeit in der Chronolo- gie , dafs man die befummle Länge des Jah- res bei verrchiedenen Nationen nicht genau beftimmen kann, weil fie alle von einander, und man kann wohl allgemein fagen , von der Bewegung der Sonne abweichen. Und wenn,, wiß ein fcharffinniger Schrift- fleüer vor kurzem annahm , die Sonne von der Schöpfung bi§ auf die Sündfluth fich
be-
Vierzehntes Kapitel, ^jg
v
beftandig in dem Aequafdr bewegte, Licht und Hitze über alle bewohnbare Theile der Erde in gleichem Grade verbreite- te; wenn alle Tage von gleicher Lange wa- ren, weil lieh die Sonne nicht wie jetzt jahrlich den Wemleciikeln näherte, und von ihnen wieder entfernte, fo fcheint es eben nicht fehr wahrscheinlich, dafs die Menfchen vor der Sund flu th vom Anfange der Welt an, ungeachtet der Bewegung der Sonne, nach Jahren gerechnet und die Zeit nach Perioden gemeflen haben , welche kein in die Augen fallendes Unterfcheidungsmerkmal hatten»
§* 2r.
Ob zwei Theile der Dauer einan- der gleich find, kann man nicht gewifs erkennen.
Allein wie könnte man wohl ohne eine reguläre Bewegung z, B. der Sonne odei ei- nes andern Körpers , erkennen , dafs folche Perioden gleich find? Gerade fo wie man D d 4 <*ie
424 Zweites Buch.
die Gleichheit jeder andern zurückkehrenden Reihe von Erfcheinungen oder die Gleich- heit der Tage erkennt, oder vielmehr fürs erfte nur erkannt zu haben glaubte, nehm- lieh durch die Reihe von Vorftellungen, wel- che in der Zwifchenzeit in dem Gemüthe ab- lief. Da man nach diefer Beftjmmung eine Ungleichheit in den natürlichen Tagen , aber nicht fo in den künftlichen wahrnahm , fo glaubte man , die letztern wären von gleicher Länge, und das hielt man für zureichend, um fie zum Zeitmaafs zu gebrauchen. Ob- gleich feitdem eine fchärfere Unterfuchung Ungleichheiten in dem täglichen Umlauf der Sonne entdeckt hat, und man nicht weifs, ob es mit dem Jahreslauf nicht auch fo feyn könnte, fo find doch die künftlichen Tage wegen ihrer angenommenen und fcheinbaren Gleichheit eben fo brauchbar zur Meffung der Zeit, als wenn ihre Gleichheit aufs fchärf- fte erweislich wäre. Nur find fie zur genauen AbmefTung der Theile der Dauer nicht taug- lich. Daher inufs man forgfältig zwifchert der Dauer felbft, und dem gewöhnlichen Maafs- ftabe zur Beurtheilung ihrer Lange unterfchei- den. Die Dauer felbft ift als eine ftetig glei- che
Vierzehntes Kapitel. 42^
V
che, einförmig ablaufende R.ei he zu betrachten. Aber es lüfet (ich nicht beftimmen, ob irgend ein zu ihrer Meffung gebräuchliches Maafs auch fo befch?ffen fey. Es ift ungewifs, ob die abgemarkten Theile oder Perioden in Vergleichung miteinander von gleicher Dauer find; denn keine Demonftration kann dar- thun , dafs zwei fucceflive Längen der Dauer, wie fie auch geineüen werden , einander gleich find. Man hat, wie fchon gefügt wor- den, in dem Lauf der Sonne, der fo lange Zeit und fo zuverläfsig als ein genaues Zeit- maafs in der Well gebraucht worden, Un- gleichheiten entdeckt. Zwar hat man fpäteT- hin die Pendel , als eine ftetigere und regel- mäfsigere Bewegung als die der Sonne (oder richtiger der Erde), dazu gebraucht; allein man würde gewifs fehr in Verlegenheit feyn, wenn man durch eine Demonftration bewei- fen follte, dafs die zwei auf einander folgen- den Bewegungen der Pendel einander gleich find. Denn wir willen nicht, ob die Urfache diefer Bewegung, die uns unbekannt ift, im- mer gleichförmig wirkt, dahingegen es ge- wifs ift, dafs das Medium, in welchem fich die Pendel bewegt , nicht immer von einer- D d 5 lei
426 ^Zweites Buch.
li 1 ße'chaffenheit it't. Jede Veränderung in beiden kann die Gleichheit der auf einander folgenden Schwingungen abändern, find da- durch die Geuhsheit und Richtigkeit des lYIaafses aufheben. Ebenda-» kann aber auch bei aniJern Reihen von Erfcheinungen ge- schehen. Der Begriff der Dauer felbft bleibt aber immer klar, wenn auch die Richtigkeit des Maafses für diefeibe nicht fcharf bewie- fen werden Kann. Da man alfo zwei Theile der Zeitfolge nicht nebeneinander halten kann , fo ift es unmöglich, ihre Gleichheit mit Gewifsheit zu erkennen» Wir können alfo bei Meflung der Zeit nichts anders thun, als ein folches Maafs anzunehmen, welches durch eine fietige fuccefiive Reihe ven Er- fcheinungen in fcheinbar gleichen Perioden belHmnit wird, und für diefe fcheinbare Gleiuiheit ift kein andrer Maafsllab möglich, als der durch die Zeitreihe unfrer Vorftellun- gen in dem Gedächmifs aufgeftellt ift, wo- durch wir uns nebft einigen andern wahr- fcheinlichen Gründen von derfelben überzeu- gen kennen»
$. 22.
Vierzehn t es Kapitel. \VI
§. 22.
Die Zeit ift nicht das Maafs der
Bewegung,
Da die Menfchen wie es am Tage liegt, die Zeit durch die Bewegung der grofsen und fichtbaren Weltkörper meilen , fo ift es mir fehr auffallend, dafs man doch die Zeit als das Maafs der Bewegung erkläret, Ein kleiner Grad von Nachdenken mufs jedeii überzeugen , dafs zur Meflung'derfeJben der Baum fo nothwendig ift, als die Zeit, und wer noch etwas tiefer eindringt, wird finden, dafs man nicht richtig darüber urtheilen kann, ohne die Gröfse des bewegten Kör- pers mit in Rechnung zu bringen. Die Be- wegung trägt auch in Wahrheit zur Meffung der Dauer at;f keine andre Weile bei, als dafs f:e eine btfiändig wiederholte Reihe von ge- wifien finnJichen Vorftellungcn in gleich fchei- »enden Perioden hervorbringt. Wäre die Bewegung der Sonne fo ungleich als die eines von verändcr'ichen Winden getriebenen Schif- fes , bald fehr langfam , bald unverhähmfs mäfsig 'gei'dmind; oder wenn auch immer
gleich
428 Zweites Buch.
gleich gefchwind, doch nicht kreisförmig, und brächte fie nicht immer diefelben Er- scheinungen hervor , fo würde fie eben fo wenig als die fcheinbar ungleiche Bewegung eines Kometen zum Zeituiaafse brauchbar feyn.
§• 23.
Minuten, Stunden, Jahre find kein $0 th wen diges Maafs der Dauer.
Minuten, Stunden, Tage und Jahre find alfo nicht notwendiger, die Dauer oder die Zeit, als die an einer Materie bezeichneten Zolle, Fufse, Ellen und Meilen, die Ausdeh- nung zu meffen. Durch den beßändigen Ge- brauch derfelben, in fo fern fie als durch den Umlauf der Sonne beftimmte Perioden oder Theile derfelben betrachtet werden , haben fich zwar in unferm Erdtheile einmal gewiffe Vorftellungen von folchen Längen der Dauer in unferm Gernüthe feftgefetzt, und wir wen- den fie auf alle Tbeile der Zeit an, deren Länge wir beftimrnen wollen; aber dennoch
kann
Vierzehntes Kapitel, 429
kann es andere Gegenden geben , wo diefe Zeiunaafse eben fo wenig im Gebrauche find, als es unfere Zolle, Schuhe und Meilen in Japan Gnd. Unterdefsen mufs doch etwas ihnen analoges feyn. Denn ohne gewiile re- gehnätsig und periodifch wiederkehrende Er- fcheinungen könnten wir keine Länge ei- ner Dauer ineilen, oder für andre bezeich- nen, wenn auch in der Welt, wie jezt, alles in Bewegung wäre, aber ohne regelmäfsige Vertheilung in fcheinbar gleiche Zwifchenräu- me. Alle verfchiedenen Zeitmaafse aber, welche nur irgendwo gebräuchlich find, än- dern den Begriff der Dauer, die das zu mef- fende itt, eben fo wenig, als die verfchiedenen Maafse von Schuhen und Ellen den Begriff der Ausdehnung.
Unfer Zeitmaafs i Tt auf die Dauer vor der Zeit anwendbar.
Der Verftand kann diefes Zeitmaafs von dem jährlichen Umlaufe der Sonne auch auf die Dauer auwenden, in weicher diefes Maafs
felbft
43o Zweites Euch.
felblt nicht emittierte, und mit welchem Qe iii Riickficht ihres realen Dafeyns nichts zu thtm batte^ Wenn man Tagt: Abraham war in dem 2712 Jahr der Julianüchen Zeitrechnung geboren, Co ift das eben fo denkbar, als wenn man diefe Jahre von Anfing der Welt an rechnete, obgleich fo weit znrürk kein Sonnenumlauf noch eine andere Bewegung vorhanden war» Gefetzt auch, wir fetzten den Anfang der Julianifchen Zeitrechnung einige hundert Jahre früher, als Tage, Nach* ^te und Jahre mit dem he befUu.uienden Son- nenlauf exifiierten, fo rechnen und beiiimmen wir doch die Dauer eben fo richtig, als wenn die Sonne damals, wie iczt, mit ihrem regel- mäßigen Umlaufe wirklich gewefen wäre» Die Vorstellung einer der jährlichen Umlaufs« zeit der Sonne gleichen Dauer läfst fich in Gedanken eben fo leicht auf die Dauer an- wenden, in der keine Sonne noch keine Be- wegung war, als die Vorftellung von einem Fufs oder Elle, ein von Körpern unfrer Erde entlehntes Längenmaafs.auf Entfernungen auf. feihalb den Grenzen der Körperwell:, y,o keine Körpc-r find»
§; 25,
Vierzehntes Kapitel, 45i
Gefetzt, der entferntere Körper des Uni/ verfums von diefcr Stelle wäre 5639 Meilen oder Millionen Meilen entfernt (denn da das Univerfum endlich ift, fo mufs feine Entfer- nung auch beftimmbar fevu ) ; Gefettt es wä- ren von dem erften D.tfeyn eines Körpers beim Anfange der Welt bis auf unfre Zeit 50^g Iahre verlloflen, fo können wir in Gedanken da^ Maafs einer Jahrslänge at:f die Dauer vor der Schöpfung oder über dtn Anfang der Dauer der Körper und der Bewegung ; und das Maafs einer Meile auf den Raum auf-er der Körperu elt anwenden, und in jenem Fall eine Dauer, wo keine Bewegung, um\ in dicTem einen Raum nullen , \vj kein Kör- per ift. f
§♦ 26.
Hier mufs ich einem möglichen Einwurfe begegnen. Ich hätte, könnte man nehmlhh Tagen, bei Erklärung der Zeit vorausge fetzt, was nicht vorausgeletzt weiden dürfe, dafs die Welt weder ewig noch unendlich u-y.
Allein
A32 i Zweites Buch.
Allein es war hier zu meinem Zweck nicht nö- thig, die Endlichkeit der Welt fowohl der Dauer als der Ausdehnung nach durch Gründe tu bewerfen. Und da ße zum wenigften eben fo denkbar ift, als das Gegentheil, fo hatte ich unftreitig eben fo viel Recht, die Endlich- keit, als ein Andrer hat, das Gegentheil an- zunehmen. Wenn Jemand darüber nachden- ken will; fo kann er ohne allen Zweifel fich fehr leicht den Anfang der Bewegung, aber nicht aller Dauer, vorftellen, und an eine Stel- le kommen, über welche hinaus keine Bewe- gung mehr vorftellbar ift; eben fo vermag er in Gedanken der Körpcrwelt und ihrer Ausdehnung, aber nicht dem körperleeren Räume Grenzen zu fetzen. Die äufserften Gren- zen des Raums und der Dauer kann kein Ge- danke erreichen , fo wie die letzten Grenzen der Zahlen alle Faflungskraft des Verftandes überfteigen. Beides hat einerlei Grund , den Wir an einem andern Orte kennen lernen Wollen,
§• 27*
Vijii tlintes Kapitel. 4^3
Ewigkeit,
Auf demfelben Woge und aus derfelbenQuel« le aus der wir den Begriff der Zeit erhielten, entfteht auch der Begriff der Ewigkeit. Wenn wir über die Reihen unfier Vorftellungen refle* ctiren, welche entweder lieh felbft in dem wa- chenden Zuftande dem Bevvufstfejn darftei- len, oder durch äufsere, die Sinne nach einander afficierende Objekte verurfacht wer- den, wenn wir dadurch die Begriffe von Succef- fion und Dauer, fo wie durch den Umlauf der Sonne Vorftellungen von gewiflen Längen der Dauer erhalten , fo können wir diefe Längen in Gedanken eine an die andre fetzen fo oft als wir wollen , und fie auf die vergan- gene oder künftige Dauer anwenden , und das zwar in6 Unendliche fort, ohne an ge- wilfe Grenzen oder Schranken zu kommen. Auf diefe Art lärst Geh die Länge des jährli- chen Umlaufs der Sonne auf die Dauer an- wenden , welche vor der Sonne oder über- haupt vor dem Anfange der Bewegung ange- nommen wird. Dabei findet fich fo wenig £ e Schwie-
/pjj Zweites Buch.
Schwierigkeit oder Widerfpruch, als bei An- wendung der Zeillänge, in welcher fich der Schatten auf der Sonnenuhr von einer Stunde zur andern beweget, auf die Dauer einer Be- gebenheit in der letzten Nacht, z. B auf das Brennen eines Lichtes. Diefe Erfcheinung iß zwar von aller wirklichen Bewegung des heu- tigen-Tages völlig getrennt, und es i(t fo un- möglich, dafs die ßundenlange Dauer diefer Flamme von voriger Nacht mit einer Bewe- gung, die heute erfolgt oder erfolgen wird, als dafs ein Theil der Dauer vor dem Anfange der Welt mit der gegenwärtigen Bewegung der Sonne, coexiftire. Allein dieTes hindert uns gar nicht, die Dauer des Lichtes in ver- gangener Nacht, fo gut als die Dauer eines jezt exiftierenden Dinges, durch die Länge, welche die Bewegung des Schattens auf der Sonnenuhr von einem Stundenzeichen bis zum andern befchreibt , beßimmt zu meffen. Man darf Och nur vorteilen , dieSonne fc^ei- ne hei Nacht und bewege fich in demfelben Verhältni s als bei Tage; unter diefer Vor- ausfetzung würde der Schatten auf derSon« nenuhr, während die Flamme des Lichts
fort-
Vierzehntes Kapitel. 455
fortdauert, von einer Stundenlinie zur an- dern fortgerückt feyn»
§• 29.
Eine Stunde, ein Tag, ein Jahr ift nur eine Vorftellung von der Länge gewiffer re- gelmäßiger periodischer Bewegungen, von welchen keine auf einmal ganz exiftiert, au- fser nur in der Vorftellung, welche aus dem Sinneneindruck und der Reflexion entftand, und in dem Gedächtnifs niedergelegt wurde» Dalier kann ich mit einerley Leichtigkeit und, aus einerlei Grund in Gedanken diefe Zeit- längen auf eine Dauer, die vor allem Anfan» jeder Art Bewegung vorhergehet, oder auf ein Ding anwenden, welches nur eine Mi- nute oder einen Tag eher als die Bewegung der Sonne , die in diefem Augenblick wirk- lich ift, exiftierte. Alle vergangene Dinge find eins wie das andre in gleicher und voll- kommner Ruhe, und in diefer Hinficht ift es ganz einerlei, ob fie vor dem Anfange der Welt oder erll geftern exulierten. Das Mef- Ten einer Dauer durch die Bewegung hängt daher gar nicht davon ab, dafs das Ding, def- E e 2 fen
^36 Zweites Buch.
fen Dauer beftimmt werden foll, mit diefe* Bewegung oder andern Zeitperioden wirk- lich coexiftire, Tondern dafs ich in meinem BewufstTeyn ejne klare Vorßellr.ng von der Länge einer bekannten peviodifcben Bewe- gung oder andrer Zwischenräume der Dauer h. , und üa auf die Dauer eines Dinges anwende.
§. 3o.
Daher fehen wir, dafs einige Menfchen die Dauer der Welt von ihrem Anfange an bis zu dem Jahr i6ß9 n. Ch. G. auf 5659 Jah- re oder Umlaufszeilen der Sonne , andere aber weit höher berechneten. Die Aegyptier zählten zu Alexanders Zeit 20000 Jahre von Regierung der Sonne an, und heut zu Tage rechnen die Chine er noch das Alter der "Welt auf 0.269,000 und noch mehrere Jahre. Die- fe längere Dauer der Erde kann ich mir fo gut vorftellen, als die Aegyptier und Chine- fer, fojite auch ihre Berechnung, wie ich glaube, nicht richtig Feyn , und ich weifs fo gewifs, dafs fie greiser i!t als 'die gewöhnli- che, denn dafs Methufah langer lebte, als
Enoch,
Vierzehntes K a p'i t e I, 487
Enoch, Wenn auch die gewöhnliche Berech- nung des Welfalters wahr ift, und das kann fie fo gut als eine andre feyn , fo hindert mich doch das nicht, andere zu verliehen, wenn fie die Welt 1000 Jahr älter machen. Denn ob man das Alter der Welt auf 5oooo oder 565g Jahre fetzt, ift in Anfehung der Verftellbarkeit völlig einerlei.
§. 3i.
So können wir, um die Anwendung da- von auf Mofis Schöpfungsgefcuichte zu ma- chen , uns vorftelien , dafs das Licht drei Ta- ge vor der Sonn« und ihrer Bew.egurtg exi* liierte, und zwar durch die blofse Vorftel- hing, die Dauer des Lichts vor ErfchafFung der Sonne fey fo grofs, als die Zeit, welche die Sonne, wenn fie fchon exiftierei hätte, würde gebraucht haben, um ihren drehten Umlauf zu endigen. Eben fo Ufst es lieh denken, dafs das Chaos oder die Engel eine Minute, eine Stunde, einen Tag, ein Jahr oder 1000 lahre vor dem Lichte oder eiuer ftetigen Be- wegung erfchafreu worden. Denn wenn eine »linutenlange Dauer vor dem Dafeyn der B«, E e 5 we-
4^3 Zweites Bück.
vvegung oder eines Körpers denkbar iß, fo kann ich eine Minute zur andern bis auf 60 und eben fo auch Stunden und Jahre (oder welches gleich viel ift , folche Sonnenumläu- fe oder einige Theile derfelben , oder ande- re ZeitgröTsen) immer zu einander hinzufe- tzen. Wenn wir damit ins Unendliche fort- fahren, und eine Dauer vorausfetzen, welche jede mögliche Zurammenfetzung folcher be- fthninten Perioden überfieiget , fo kommt man, wie ich glaube, auf den Begriff der Ewigkeit, von deren Unendlichkeit wir keinen andern Begriff haben , als von der Unendlichkeit der Zahl , zu welcher fich im- mer eine neue hinzufetzen läfst, ohne an ein Ende zu kommen.
§. 32*
Es ift alfo, wie ich glaube, einleuchtend, dafs wir aus den zwei Quellen aller Erkennt- jiifs, der Reflexion und der Empfindung die Vorftellungen der Dauer und ihrer Zeitmaa- fse erhalten. Denn erftlich, wenn wir beobachten, was in unferm GemtUhe vorge- bet, wie die Vorftellungen eine unaufhörli- che
Vierzehntes Kapitel, v 459
che fuccenive Reihe ausmachen, in der eini- ge verfchwindeo , und andere zum Vorfchein kommen, fo erlangen ' wir den Begriff von der Folge. Zweitens, die Beobachtung des Abftandes zwifchen den Gliedern der Fol* ge giebt uns den Begriff von der Dauer, Drittens, wenn wir durch die Sinne ge* wiffe Erfcheinuugen beobachten , welche in beftimmten regelmäfsigen und gleichfcheinen- den Perioden erfolgen , fo erlangen wir die Vorftellungen von gewifien Längen oder Zeitmaafsen z. B. Minuten , Tagen, Jah- ren, - Viertens, da es möglich ift, diefe Zeitmaafse oder beftimmten Längen der Dauer in Gedanken fo oft als man will zu wieder- holen , fo gelangt man zur Vorftellung einer Dauer, in der kein Ding wirklich exiftieret, z. B. Vorftellung von Morgen, vom rachften Jahre, oder den fieben künftigen Jahren. Fünftens. Da man eine Vorftellung von einer Länge der Zeit in Gedanken, fo oft als man will, wiederholen, und eine zur an- dern hinztifetzcn kann, ohne je der Gren- ze diefer Zufammenfetzung näher zu kom- men, als den Grenzen der Zahlenverbindung, fo erhält man den Begriff der Ewigkeit, E e 4. 2, B,
44° Zweites Buch.
z. ß« die ewige künftige Fortdauer der See- le, die Ewigkeit des unendlichen Wefens, wel- ches zu jeder Zeit' nothwendig exiftieret, Sechftens. Die Betrachtung eines Theils der unendlichen Dauer, infofern fie durch pe- riodifch wiederkehrende Erfcheinungen be- grenzt ift, giebt uns den Begriff von der Zeit überhaupt *).
FunF-
*) Wenn Locke glaubte den Grund der Vor- ftellung von der Zeit gefunden zu haben, fo irrte er fich ; er fand nur die empirifche Ent- ftehungsart diefer Vorftellung ; das worauf fie beruhet, blieb ihm verborgen. Er fuchte den Urfprung derfelben an gewiffen Begebenhei- ten, die in der Zeit auf einander folgen, und gewiffen Objecten auf, die in der Zeit behar- ren , nehmlich den Vorfiellungen in uns, und den Dingen aufser uns. Er gehet -von der innern Wahrnehmung aus, dafs alle Vorfiel- lung^en unaufhörlich wechfeln. Eine Reihe folcher wechfclnden Vorfiellungen, gleichlam eine Linie , die wir in der Vorftellung zie- hen.
Fünfzehntes Kapitel. 44»
Fünfzehntes Kapitel.
Von der Dauer und der Ausdehnung in Beziehun9 auf einander betrachtet.
$. I.
Beide Find einer Vermehrung und Verminderung fähig*
vyb wir gleich bei der Betrachtung des Baums und der Dauer in den vorhergehen- den Kapiteln fehr lange fchon verweilt haben, üö wird doch vielleicht eine Vergleichung E e 5 bei-
• hen, ift das, was er Dauer nennt. Wird lie als eine Linie vorgeftellt , welche auf bei. den Seiten ins Unendliche verlängert werden kann, oder ohne Grenzen ift, fo ift es die Ewi gkeit. DieZei t ift einTheil der Dauer, infofern lie durch gewifieperiodifcli wiederkeh- rende Erfcheinungen gemelfeu und begrenzt ilt. Da er diefe Begriffe von Dingen, die in der Zeit find, abftrahirte, fo mnfste er noth- wendig die Zeit mit allen ihren Beitüoimun- gen lui etwas Wiikliches halten.
442 Zweites Buch.
beider .mit einander nicht unzweckmäßig feyn, weil beide Begriffe fo allgemein wichtig find, und ihre Natur manches eigentümliche und dunkle entluilt. Vielleicht können auch die Begriffe an Klarheit und Deutlichkeit gewin- nen , wenn fie neben einander geftellt und verslichen werden. Den Raum oder den Ab- ftand, feinem reinen abftrakten Begriffe nach, nenne ich, um Verwirrung zu vermeiden, Ex* panfion, und unterfcheide ihn dadurch von der Ausdehnung, unier welcher einige nur den Abftand dichter Theile der Alaterie von einander verftehen. Die Ausdehnung fchliefst alfo den Begriff vom Körper ein, oder führet doch auf ihn hin; der Begriff vom blofsen Baume aber enthalt nichts davon. Auch zie- he ich das Wort Expanfion dem Räume darum vor, weil das letztere oft fowohl auf den Abftand vergänglicher, fuccefliver nicht neben einander exiftierender , als auf den Abftand beharrlicher Theile_ angewendet wird. Von beiden, dem Raum und der Dauer, hatderVer- ftand die gewöhnliche Vorftellung von fteti« gen Langen , die einer gröfsem oder kleinern (^uanti.ät empfänglich find. Denn die Vor- ftellung von dem Unterschiede der Länge ei- ner
Fünfzehntes Kapitel. 445
ner Stunde und eines Tages ift fo klar, als von dem Unterfchiede der Länge eines Zolls und eines Fufses,
§. 2,
Der leere Raum ift nicht durch die Materie befchränkt.
Die Vorftellung von einer Länge des Raums, z. B. eine Spanne, ein Schritt u. f, w. kann der Verftand , wie fchon gefagt wor- den, wiederholen, eine an die andre letzen, und fo die Vorftellung von der Länge erwei- tern. Er kann fich alfo eine Länge von zwei Spannen oder Schritten vorfieilen , und iie immer vergrofsern, bis fie der Entfernung des einen Erdtheils von dem andern, ja der Erde von der Sonne und dem entfernteften Sterne gleich kommt. Wenn man von einem ge- w illen Tunkt ausgehet, fo kann man durch diefe fortfchreitende Vergröfserung immer weiter kommen, und alle Längen überfchrei- ten , ohne in oder aufser der Körperwelt ei- ne Grenze zu finden. Der Verftand kommt zwar fehr bald in Gedanken an die Grenze des erfüllten Raumes und der Körperwelt;
ift
444 Zweites Buch.
ift er aber einirnl dahin gelangt, fo findet er dann auch weiter nichts, das feinen Fortgang in den grenzenlofen leeren Raum , deflen Ende man weder finden noch vorftellen kann, hinderte. Man Tage ja nicht, aufscr- halb der Grenzen der Körperwelt fey gar nichts, man würde fonftGott in die Grenze» der Materie einfchliefsen. Salomo der wei- fe König, fcheint andrer Meinung gewefen zu ieyn, wenn er la£t: der Himmel, und der Himmel der Himmel kann dich nicht faf- Ten. Und mich dünkt, es ift eine AnmaaTsung des Verftandes. wenn man wähnt, man kön- ne feine Gedanken noch weiter ausdehnen, als, wo Gott exiftieret, und lieh einen Raum denken, wo Gott nicht ift»
§. 3/
Die Dauer ift nicht durch die Be- wegung eingefchränkt.
Eben fo verhält es Geh mit der Dauer, Der Verftand kann die Vorftellung von jeder Länge der Dauer verdoppeln, vervielfältigen, und üe nicht nur über feine Exiftenz , fon-
dera
Fünfzehntes Kapitel. i^tfe
dem auch über die aller körperlichen Wefen und über jedes Zeitmaafs erweitern , welches durch die Bewegung der Himmelskörper be* ftimmt ift. Ob wir aber gleich uns die Dauer als grenzenlos vorftellen, wie fie es denn auch wirklich ift, fo wird doch Jeder leicht eingeftehen, dafs wir fie nicht üker alles Dafeyn hinaus ausdehnen können. Gott erfüllt die Ewigkeit , darin ftimmt jeder Menfch ein, und es läfst lieh kaum ein Grund denken, warum er nicht eben fo den unermefslichen Raum erfüllen füllte. Sein unendliches Wefen ift in beiden Rückfichten gleich fchrankenlos. Und man dürfte wohl der Materie zuviel bej legen, wenn man be- haupten wollte, wo kein Körper ift, da fey gar nichts,
§. 4-
Warum die Menfchen geneigter find, eine unendliche Dauer, als einen unendlichen Raum anzunehmen.
Hieraus laTst fich die Urfache einfehfii, warum Jeder ohne das geringfte Bedenken
von
446 Zweites Euch.
von der Ewigkeit als einer bekannten Sachs fpricht und der Dauer Unendlichkeit beile- get, dahingegen fich viele Bedenklich keiten und Zweifel gegen die Annahme eines un- endlichen Raumes machen. Der Grund - fcheint mir nehmlich darin zu liegen, dafs die Dauer und die Ausdehnung als Beftim- rnungen andrer Wefen betrachtet werden» Bei Gott flehen wir uns, und zwar unver- meidlich eine ewige Dauer vor. Die Aus- dehnung hingegen legen wir nicht diefem Wefen, fondern nur der endlichen Materie bei. Infofern alfo die Ausdehnung nur als eine Befiimmung der Materie gedacht wird, glaubt man eher berechtiget zu feyn , an ei- uer Ausdehnung ohne Materie zu zweifeln. Wenn daher die Menfchen die Regionen des Raums durchlaufen , fo pflegen fie gewöhn- lich an den Grenzen der Körperwelt Halt zu machen , als wenn da der Raum auch zu En- de wäre , und nicht weiter reichte ; und wenn auch ihre Betrachtungen fie etwas wei- ter führen, fo nennen fie doch das, was au- fser den Grenzen des Univerfuins ift , einen eingebildeten Raum ; als wäre er deswegen nichts, weil ksin Körper in demfelben exi-
ftiert.
Fünfzehntes Kapitel. fyyj
ftiert. Hingegen halten fie die Dauer vor dem DaTeyn der Körper und der Bewegungen, wodurch jene gemeflen wird, keines weges für eine blofs eingebildete Zeit, weil fie diefelbe nie ohne eine reale Exiftenz denken. Wenn die Worte unfern Verftand auf den Urfpruno- der Begriffe leiten können, (und das können fie in einem hohen Grade, wie ich glaube) fo dürfte man wohl aus dem Worte d u r a t i o fchliefsen , dafs man fich eine gewille Ana- logie zwifchen der Fortdauer der Exiftenz und einer Art von Wider (fand gegen zerftöh- rende Kräfte und einer fortdauerndem Dicht- heit (.welche mit der Härte leicht verwech- felt werden kann, und in Rückficht auf die kleinften zerlegbaren Theile der Materie we- nig davon verfchieden ift) dachte, und dafs dieTes zur Bildung zweier fo ähnlichen Worte als durare und durtis find, Veraniaffung gab. Aus einer Stelle des II o raz hebet man, dafs das Wort durare fowohl in der Bedeutung von Härte als von Exiftenz gebraucht wird *), Doch wir lallen das dahin geftellt.
Soviel
') Epodon XVI. v. 65. Acre dehinc ferro du. rauit faecula. _
4'|8 Zweites BucL;
Soviel ift ab^r gewifs, wer feine Gedanken verfolget, wird finden, dafs fie fich zuwei- len über die Körperwelt hinaus in den un- endlichen leeren Raum verlaufen. Der Be- griff des letzten ift von dem eines Körpers und jedes andern Dinges durchaus unter- fchieden und getrennt. Diefs kann den Lieb- habern folcher Unterfuchungen Stoff zu wei- term Nachdenken geben.
§. 5.
Die Zeit verhält fich lur Dauer, wie der Ort zum Rautne»
Die Zeit verhält fich überhaupt zur Dauer wie der Ort zum Raum e. Sie find gewifie Theile des grenzenlofen Oceans der Ewigkeit und Unermefsiichkeit, infofern fie von den übrigen gleichfain durch Grenz- fteine abgeraarket find und dazu gebraucht weiden, um disZeit - und Ortverhältnifle ei- nes endlichen realen Wefens in Rückficht auf ein andres zu beftimmeu. Nach richtigen Begriffen find l\e nichts als Vorftellungen ei- nes beftiranuen Abftandes von gewiffen be- kannten
Fünfzehnte» Kapitel. 443
kannten feften Punkten an hnu liehen unter- fc.u ivlbaren Objecten, von dem-n man vor- ausfetit, dal's he ihren Abttand von einander nicht verändern. Von diefen feiten Puncten zählen und mefft n wir gewifle Theile der unendlichen Gröfee deT Dauer und des Raums und diere und denn das , was wir Zeit und Ort nennen. Denn da die Dauer und der Kaum an fich gleichförmig und grenzenlos find, fo würde ohne folche beltimmte 'er- kennbare Puncte alle Ordnung und Lage der Dinge verfchwinden , und alles in einer Ver« wirrfirig liegen, au» der heb. niemand heraus* finden könnte.
§. &
Zeit und Ort werden für denje- nigen Theil der Dauer und des Raumes g-e nomnien, welcher durch dieExiftenz und Bewe- gung der Körpers beftimmt iff,
Infofern man unter Zeit und Ort bcRiimnte , untrrfcheidbare Theile der un* endlichen Dauer und des unendlichen Rau- mes verftehet, welche wirklich oder hy- F f puthe«
<j5o Zweites Buch.
pothetifcb von andern Theilen durch beftimm-
te Puncte und Grenzen abgefordert werden
i
haben beide eine gedoppelte Bedeutung,
Erftens. Die Zeit überhaupt bedeutet eine beftimmte Gröfse der unendlichen Dauer, welche durch die Exiftenz und Bewegung der grofsen Weltkörper , infofern fie für uns erkennbar find, gemefTen oder mit ihnen co- exiftierend iit. In diefer Bedeutung fangt die Zeit an und hört wieder mit unfern! Wehbau auf. Dahei die Redensarten : vor aller Zeit; wenn keine Zeit mehr fevn wird. Eben fo bedeutet der Ort zuweilen den Theil des unendlichen Raums, welcher von der Körperwelt erfüllet, und dadurch von dem übrigen Baume unterschieden wird. Ei- gentlicher ift das nicht fowohl der Ort als der erfüllte Raum, Innerhalb den Grenzen diefer Zeit und des Ortes wird die individu- elle befondre Zeitdauer, Ausdehnung und Ort der Körper begrenzt , und durch be- ftimmte Grofsen gern eilen.
§♦ 7*
Fünfzehntes Kapitel. tfii
§■ 7-
Zuweilen werden fie für die je« gen T heile der Dauer und des Raumes genommen, welche durch gewifse von der Ausdeh- nung und Bewegung der Kör- per entlehnte JYIaafse Leftimrat werden.
Zweitens. Das Wort Zeit wird zu- weilen in einem weitern Sinne genommen, und auf diejenigen Theile der unendlichen Dauer angewendet, welche durch die reale Exiftenz und durch die periodischen Bewe- gungen der zum ZeitmeiTen beftimmten Kör- per nicht wirklich abgesondert und abgemef- l'en liiul , fondern nur in der V orftellung ge- wiflen Langen der gemeüenen Zeit gleich, und dadurch begrenzt und beftnnmt gedacht wer« den, Wenn wir annähmen , die Schö- pfung der Engel fiele in den Anfang der lulianilchen Periode, lo könnte man im et- gentlicben Sinne und ganz verbindlich fagen, die Schöpfung der Engel fey 76 1. Jnhr früher §ekheheu, als die Schöpfung der Welt, und F f 2 man
4$2 Zweites B u c iw
mau würde dadurch foviel von der unbe- grenzten Dauer abzeichnen, als der Zeit ent- fpucht, in welcher die Sonne 764 mal ihren jährlichen Umlauf endiget. Eben fo fpricht man vom Orte, Abßande und GtöTse in dem grofsen leeren Räume aufser der Kör- perwelt. l\lan ftellt fich dann foviel von dem Räume vor , als einem Korper gleich ift, oder einen Körper von beftimmter Grüfse z. B. von einem Ktibikfufs fallen kann, oder denkt fjch einen gewilTen Punkt in einer bellimmten Entfernung von einem 'fheiie des Univenumj,
s. s.
Seit und Raum gehören für alle W e f e u.
Wo und Wenn, find Fragen, die fich auf alle endliche existierende Dinge beziehen. Bey Beftimmurig derfelben , gehen wir alle- zeit von gewilTen bekannten TL eilen derlinn- lichen Welt und von gewiilen durch die Be- wegung der Körper befttinmten Zeiträumea aus. Ohne iblche feite Puncte und Perioden würde lieh für unfern endlichen Yerftand
- die
Fünfzehntes Kapitel.' ^55
die Ordnjung der Dinge in dem grenzenlo-. fen unveränderlichen Oce3n der Dauer und. des Raumes verlieren, welches alle emiliche Wefen umfafst und in feinem ganzen Umfan- ge nur der Gottheit zukommt. Daher darf man (ich nicht wundem, dafs wir fie nicht begreifen, und fo oft in Verlegenheit kom- men , wenn wir Ge entweder in Abftracto an lieh , oder gewifTermaTsen als Attribute des
r^eillichcu Wefens betrachten. Allem in Beziehung auf einzelne endliche Wefen ift. die Ausdehnung eines Körpers ein fogTofse* '1 heil des unendlichen Raumes, ah der Um- fing diefes Körpers einnimmt; und der Ort, cfäs Verhältnifs eines Körpers in gewifi'en Ent- fernungspuneten von andern Körpern. So wie die beftiinmte Dauer eines Dinges die Vorßellung von demjenigen Theile der un- endlichen Dauer ift, welcher während der Exifienz deffelbcn verfließt, fo ift die Zeit, in der ein Ding exiftieret, die Vorftellung von iler Grösse der Dauer, welche zvyifchen bekannten unveränderlichen Zeiträumen unt.1 der Exifienz deffelben Dinges vcrlliefst. Je-
beftimmt den Abfiand von den Grenzen
des Umfangcs oder tue Lange der Exiftenz
F f 3 ddle!-
/j54 Zweites Buch.
deflelben Dinges; diefes die Entfernung Fei- nes Orts oder Dafeyns von gewiflen andern Planeten des Raums oder der Dauer. In je- ner RÜLkficht fa^t man, es nehme einen Raum von einem Quadrat Schuh ein , und es habe zwei Jahre gedauert; irr diefer, es fey in der Mitte des Linconls Ira fields, in dem J, 1671 von Chr. G u. f, w. Alle diefe Entfernungen werden durch gewiiTe feftge- fetzte Längen des Raums und der Zeit ge- * aieflen.
§> 9*
Alle Theile der Ausdehnung find ausgedehnt und alle Thei- le der Zeit hefte hen wieder aus Zeitt heilen.
Raum und Dauer ftimmen auch noch in diefem Punct fehr mit einander überein, dafs iie fich nicht ohne alle Zufauimenfetzung deutlich vorfiellen lalTen, ob fie gleich mit Recht unter die einfachen Vorstellungen ge- zählt werden. Denn das Wefcn beider be- gehet darin , dafs fie aus Theilen zufainmen- gefetzt find. Da aber diefe Theile alle ein.
artig
Fünfzehntes Kapitel. ^55
artig find, und keire andre Vorftellung einge- mifcht ift, fo behaupten fie dennoch ihre Stelle uner den einfachen Begriffen *) Könn- te der Verftand, wie bey der Zahl, auf fo ei- nen kleinen Theil der Ausdehnung oder Dauer kommen , der alle Theilbarkeit aus- fchliefst, fo würde er im ftrengen Sinne eine untlieilbare Einheit oder Vorftellung feyn, durch deren Zufammenfetzung die vielum- faffVndften Vorstellungen der Ausdehnung und Dauer gebildet würden. Allein die Vor- ftellung eines Raumes ohne Theile ift nicht möglich, und daher bedient fich der \ er- F f 4 ftand
*3 Hier wurde dem englifchen Philofoplicn der Einwurf gemacht; wie die Vorftellung dc> Raums eine einfache Vorftellung feyn könne, da lieh kein Raum ohne Theile neben einan- der vorftellen laffe. Er antwortet darauf t Sie Einfachheit, welche er reiftehe , febüe- fse nicht r.othwendig alle Ziifammeiifefzung, foiubnn nur die Verbindung verfcliicdenarii- ger Vorftellungen aus ; und die Vorftellung des Piaums fev daher noch immer einfach, in- folcrn jeder Raum zwar aus Th eilen aber aus Xheilen toii einer Art, d. i, aus Räumen befiehl
/j56 Zweites B u c h.
ftand anftatt derfelben der gewöhnlichen Maa- fse, welche in jedem Laude durch öftern Gebrauch dem Gedächtnis eingeprägt find, al- einfacher Vorstellungen, und bildet aus die- len Belandtheilen n;>ch Gelegenheit die viel- umfaflendeften Vorftellungen. Auf der an- dern Seite wird das gewöhnlich kleinfte Maafs des Raumes und der Dauer als eine Einheit in der Zahl betrachtet , wenn fieder Verftand durch Divifion auf kleinere Brüche zurückzuführen fucbt. Doch wenn eine be» fiimmte Vorftellung des Raumes oder der Dauer durch da-. Zufammenfetzen oder Thei« len zu grofs oder zu klein wird , fo wird dio . freftimmte Gröfse in beiden Fällen dunkel und verwirrt, und die Zahl der wiederhol- ten Verbindungen und Trennungen bleibt al- lein klar und deutlich. Um fich davon auf eine leichte Art zu überzeugen, fo durchlau. fe man mit fein'en Gedanken die unermeßli- che Ausdehnung des Raums oder die unend- liche Theilbarkeit der Materie. Jeder Theil der Zpit ift wieder eine Zeit; jeder Theil der Airdehnung ift wieder ausgedehnt; beide find einer Vermehrung nnd Verminderung ins Unendliche fähig, Aber vielleicht ift es uns
am
Fünfzehntes Kapitel. 4^7
am angemeffenftrn, den khinflen Theil der Driuer und des Raums, d°n i ir noch klar und deutlich vorfallen können, als die ein- fachen VorfrellungafT dierer Art zu betrach- ten , aus welchen unfre zufammengefetzten Beftünmungen des Raums nnchder Dauer be- liehen, und in welche c"efe wieder aufge- löft werden können. Ein folcher kleiner Theil der Dauer könnte ein Augenblick genennt werden f welcher die Zeit ift, wel- che eine Vorstellung in den gewöhnlich wech- felnden Reihen erfüllet. Ich weils nicht, ob ich für den kltinften Tbeil der Materie oder des Raumes, der noch unterfchieden werden kann, in Ermangelung eines beftiinmtea Worts, die Benennung , ein finnlichev Pnnct vorfchbgen darf. Ein folcher Punet ift gewöhnlich ungefähr eine Minute grofs, und erfcheint dem fchürfften Auge feiten kleiner, als dreyfsig Securulcn eines Cirkels, wovon, das Auge der MitteJpuiict ift.
F f 5 §• 10.
/j5S Zweites Buch.
§♦ IO.
Die Theile des Raums und der Dauer find unzertrennlich.
Der Raum und die Dauer haben noch dlefes mit einander gemein, dafs, obgleich beide als aus Theilen beliebend gedacht wer- den, die Theile doch, felbft in Gedanken, unzertrennlich find. Aber die Theile der Körper und der Bewegung, oder befler der Folge unfrer Vorftellungen im Gemülbe, von welchen wir das Maafs des Raums und der Dauer hernehmen , können unteibrochen und getrennt werden, wie das bey dem ei- nem durch die Ruhe, bei dem andern durch den Schlaf, welcher auch eine Art von Ru» he ii't, gefchiehet,
§• II
Die Dauer wird als eine Linie, der Raum als ein Dichtes betrachtet.
Jedoch findet Geh zwiTchen beiden auch der offenbare Unterft.hied , daTs die Länge des Raums nach allen Richtungen vorgeftellt
wer-
Fünfzehntes Kapitel. 469
werden kann, und alfo eins Fläche mit Brei- te und Dicke ausmacht ; die Dauer hingegen glpichfam nur die l änge einer geraden ins unendliche ausgedehnten Linie, und keiner Mannichfaltigkeit verfchiedener Richtungen oder Figuren empfänglich ift. Die Dauer ift nur ein gemeinschaftliches Maals jeder Exi- ftenz, an welchem alle Dinge, fo lange fie exiftieren, gleichen Antheil nehmen. Denn diefer Augenblick ift allen Dingen gemein, die jert ein Dafeyn haben , und befafst jeden Theil ihrer Exiftenz auf gleiche Art, gerade als wären fie alle nur ein einzelnes Wefen ; und man kann in Wahrheit lagen , dafs alle existierende Wefen in demfelben Augenblick exiftiereu. Ob die Enge! oder Geifter darin in Anfehung öes Raumes einige Aehnlich- keit haben, das überfielet meinen Verftand. Und vielleict fallt es nur uns , deren Ver- ftandes - und Begreiftmgs*rer mögen der Er- haltung und den Endzwecken unfers Dafeyns, aberzieht der Realit.it und der Sphäre aller andern Dinge angepaßt I I , r,> fchwer, die Exiftenz eines realen Wefens ohne alle Aus- dehnung, fo wie ohne alle Datier zu denkm. Und ddher wifien wir nicht, was die Geifter
mit
4$o Zweites Buch,
mit dem Haume zu thun haben, oder wie he an dmifelben Aniheil nehmen. Alles was wir darin' willen , ift, dafs jeder einzelne Körper leinen eignen Theil vom Kanrne nach Verhältnis des Umfangs feiger dich» en lliei- Ijb einnimmt, nnd fo lange er denfelben er- füllt, alle andre Körper daraus ausschliefet.
f* 12,
Ind°r Dauer find nicht zwei T h e i 1 e zugleich, in dem Räume alle zugleich.
Die Daner und ein Theil derfelben die Zeit ift die Vorftellun.g von dem wech fein den Abftande, von wel- chem nicht zwei T heile zugleich exifiierer), f o n d e i n einer auf den andern folgt; der Raum ift die Vor» fteljung von dem beharrliehen Ab- ftande, deffen Theile alle zu» gleich find, ohne einer Folge em- pfänglich zu fern. Wir können daher keine Dauer ohne Folge denken, noch uns Yörflellefl, dafs ein Bivg zugleich jezt und
mor-zen
Fünfzehntes Kapitel. 461
jungen exiftiere, oder jezt ir ehr als einen Augenblick der Zeit einnehme. Deinungeach- tet können wir die ewige Dauer de* Alb) Meh- ligen, als ganz verfchieden von der Daaer des Menfchen od< r eines andern endlichen V^efens denken. Denn ilic E*kenntnifs und JWacbt des Menfcher. umfafst nicht alles Ver- gangene und Künftige; f i' eGedanken gehen nur bis auf Gehern zurück, und er weife nicht, was der morgende Tag an das Licht ^ringen wird. VA as einmal vergangen ift, kann er nicht wieder zurückrufe.'!, nicht dää Künftige zu dem G geuyvärtigen machen. Wa$ ich von dem Menfcben (a(.e, gilt vom allen endlicl en Wefen , welche, fo (ehr le auch die Menfchen an Kenntnifs und M.aejit über- treffen mögen, doch in VeTgleiehung mit Gott felbft nichts mehr ah < as geringfte Ge» fchöpf find. Das Fndlitle, wie grofs es auch fey , ftehet doch in keinem Verhältnifs mit dem Unendlichen. Da Gottes Ewigkeit mit unendlicher Macht und Erkenntnifs ver- knüpft ift, lo fiehet er alles Vergangene und Künftige, und da:, alles ift von feiner Er- kenntnis und Anfchaunng nicht weiter ent- fernt, als das Gegenwärtige; zu jeder Zeit
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Sechszehntes Kapitel,
| o n Qti Zahl.
1.
Die Zahl ift der ein fach ft« nd allgemein fte Betriff.
^nter allen fo mannichfahigen Vorfteungen wird kpine dei ' ihe durch fo
genftände brt, und k.inc ift I
als der Begriff der Einheit. Er er' die geringfte Spr von JMai. keit oder Zufammenletzung. J> das uufre Sinne befcbafliget , Stel-
lung, jeder Gedanke der Seele führt n mit fleh D^her ift er mit allen unferr, innigft verwebt, und in Rücklicht fei*r Be- ziehung auf alle Du.ge der allgemeine Be- griff Denn er w ird auf Men eben , n^el, Handlungen, Gedanken, kurz, auf aUi was exiftiert, oder aucii nur denkbar iß wendet. ,
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462 Zweites Buch,
kann er was er will , ins DaTeyn rufen« Denn von feinem Willen hängt die Exiftenz aller Dinge ab; fie exütieren, fobald er denkt, dafs fie exiftieren follen. — Endlich niüfsen wir noch bemerken , dafs der Raum und die Dauer einander wecb felsweife umfallen und einfchliefsen.' Jeder Theil des Raums ift in jedem Theil der Dauer, und jeder Theil der Dauer in jedem Theil des Raums. Eine fol- che Verknüpfung zweier fo verfehiedener Be- griffe wird nicht leicht wieder bei der grofsen IVIaunichfaltigkeit unfrer Vorftellungen gefun- den werden , und fie kann daher Stoff zu liefern Unterfuchungen geben.
Sech«
Secliszehntes Kapitel. 4&3
Sechszehntes Kapitel»
Von d e v Zahl»
Die Zahl ift der ein fach fte und allgemeinfte Begriff.
IT
*^nter allen fo mannichfalligen Vorftellungen wird keine dem Gemülhe durch fo viele Ge- gerilij.nle zugeführt, und keine ift fo einfach, als der Begriff der Einheit. Er enthalt nicht die geringfte Spur von JVlannichfaliig- keit oder Zufammenletzung, Jedes Ubjecr, das uufre Sinne be'chafüget , jede Vorftel- lung, jeder Gedanke dei Seele führt ihn mit fleh Darier ift er mit allen unfern Gedanken innigft verwebt, und in Rücklicht (einer Be- ziehung auf alle Dir,ge der allgemeinfte Be- griff Denn er wird auf Men chen , Engel, Handlungen, Gedanken, kuri auf alles was exiftiert, oder auch nur denkbar ift, ange» wendet. ,
464 Zweites Buch,
f. 2.
A i 1 e B e f t i m munden der Zahl entfte« hen durch die Zufammen fetzung.
Durch Wiederholung diefes Begriffs und Zufawmenfetzung mehrerer derfelben gelangen wir zu den zufammengefetzten Begriffen der Beliiinmungen der Zahl. Z. B. durch die Verbindung von Eins und Eins entftehet der Begriff von Zwei, durch die Verbindung von zwölf Einheiten, der Begriff von einem Dutzend ; eben fo die Begriffe von einem Schock, einer Million uad jeder andern Zahi,
Jede Zahlgröfse ift von der andern ve rfchied en.
Die einfachen Befti in niungen der Zahl find unter allen die deutlich» ften Begriffe. Die kieinfie Veränderung einer Zahl , welche in der Einheit beßehet, unterfcheidet jede Verbindung fo klar von der ihr am nächften kommenden , als von der
entfern-
Sechszehntes Kapitel. ^65*
entferotcflen. Zwei ift von Eins fo verfchie- den, als von Zweihundert, und Zwei vor* Drei als die GröTse der Erde von der GiöTse einer Mübe4 Bti andern einfachen Beftim- mungen ift es uns nicht fo leicht, vielleicht nicht einmal möglich, zwei annähernde Vor- stellungen zu unterscheiden • wenn fie gleich wefentlich ver Schieden Gnd. Denn wer ge- traut fich wohl den Unterfchied «cwifcben dem Weifsen diefes Papiers und dem nächfifoleen- den Grade zu beftimmen; oder wer kann fich den kleinftcn Gradunterschied in der Aus- dehnung klar vorftellen ?
§
Daher findet fich in den arith> metifchen De m o n f t rationeu die g reifste Präcifion.
Die Klarheit und die Unterscheidung jeder Zahlbeftimmung von allen andern, auch den nächfien ift, wie ich glaube, die Urfache, dals die Demonftrationen in Zahlen , wo nicht evidenter und genauer, als die von Raum. verhältnilTen, doch von allgemeinerm Ge- G g brauch
466 Zweites Buch.
brauch und beftiminter in ihrer Anwendung find* Denn die Zahlenbegriffe find beftimm- ter und deutlicher als die Yorflellungen von der Ausdehnung. Hier läfst Geh nicht jede Gleichheit und Differenz fo leicht bemerken und meffen, weil der Verftand den kleinften Theil des Raumes, über welchen er nicht hinaus gehen darf, wie bei den Zahlen die Einheit ift, nie in der Vorftellung erreichen kann. Es ift daher nicht möglich , die Quaa« titäl oder das Verhältnifs des kleinften Rau- mes fo zu beftimmen, wie bei den Zahlen, wo 9! f:ch fo beftimmt von go als 9000 un- terfcheiden läfst, obgleich yi die nächfie Dif. ferenz von 90 ift. Bei dem Räume ift es hin- gegeben nicht fo leicht eineGröfse von etwas mehr als einem Fufse von einem Fufse eu unterscheiden; von zwei Linien, die gleich lang fcheinen, kaiin die eine beträchtlich län- ger feyn. Mau kann nicht einmal den Win- kel angeben, der an Giüise dem rechten am »ächlten Kommt»
§.5,
Sechszehntes Kapitel, . ifiy
§. 5.
Bei den Zahlen find gewiffe Be- nennungen noth wendig.
Durch die Wiederholung des Begriff«; einex Einheit, und durch die Verbindung nellelben mit dem entern, kann man allo den collecti- ven Begriff von Zvvey erzeugen. Wer die Zufammenfeuung der coüectiven Zablb' griffe immer weiter fortfetzeh, und fie durch Worte bezeichnen kann , der kann zählen, d. h, er hat eine VoruVIlung von vtrlchiedenen colle- ctiven Begriffen der Einheiten, infofern et eine Reihe von Aufdrücken für die folge« den Zahlen in feiner Gtwalt hat, und das Ge- dächtnifs diefe Zahlenreihen n.it ihren ßenen- nungeil behalten karin. Denn da«. Zal leri beltrhet in nichts arcierm . als dafs man eine Einheit zu eineT ändern hin zu fetzt, und je» dem Ganzen als in einen begriff zufainniei^e- fa^t, eine beftirntnte Benennung eieht um es von jedem a- dern in der Reihe vorhfTee- henden oder folgenden Inbegriff der Einheiten zu unterscheiden. Wei aliu Eins zu l . <2 und fo fert hinzufetzen , jede DeueZablgröf: e G g 2 benen-
^6Q Zweite^ Buch.
benennen, und fie durch Abziehen der Ein- heiten wieder verringern kann, der hat alle Z thlenbegriiTe , die in dem Umfang feiner Sprache liegen , oder fü« welche er Ausdrücke hat, aber vielleicht auch nicht mehrere, in feiner Gewalt. Denn da die verfchiedenen einfachen Btftimmungen der Zahlen eben fo viel« Veibindungen der Einheiten find, wel. che in fich nichts Mannichfaltiges und Unter- fcheidbares aufser dein Gradunterfchied von Mehr und Weniger enthalten, fo fcheinen für jede \ eibindung befondere Au-drücke oder Sprachzeichen notwendiger zu ft , n, als bei jeder andern Art von Vorfteihmgeji. Ohne dieles find die Zahlen beim Rechnen nicht wohl anwendbar , vorzüglich wo eine Zahlengröiae. eine grofse Vielheit von Einhei- ten in lieh be^ieitt, und grorse Summen oh- ne Ausdrücke für jede bwftiinmte Zufarnmen- fetzung vxerden fchwerlich etwas anders als . ein chaotiuher Haufen fern.
6,
Diefs wnr wohl die Urfache, warum eini- ge Amerikaner, die ich gefp rochen habe,
ob
S e c h s 7. ehntes K a p i t c 1. 4%
ob fle gleich fonft klug genug waren , bis 2o aber nicht bis moo zählen konnten, und von der letzten Zahl gar keinen deutlichen Begriff hatten. Denn bei der Armutl) ihrer Sprache, welche nur den wenigen Kedürfnifsen einer höchft einfachen Lehensart angepafst war, und bei ihrer Unkunde mit dem Handel- und der Mathematik, fehlie es ihnen an einem Ausdruck für die Zahl 1000. Wenn daher die Rede von grüfsern Zahlen war, Co ] Heg- ten fie auf ihr Haupthaar zu zeigen, t<rn da- mit eine grosse unzählbare Vielheit anzudeu- ten. Ihr Unvermögen, weiter zu zählen, Tührte alfo, wie ich glaube, nur aHein von dem Mangelan Worten her. Die Touou- pinambos hatten keine Worte für die Zah- len über Fünfe; zur Bezeichnung grösserer Zahlen bedienten fie fiel) ihrer und anderer Anwefenden Finger *). Ohne Zweifel wur- den wir auch viel gröfsere Summen deutlich zählen können, wenn wir nur gewifle paffen- de Benennungen ausfindig machen konnten, G g 5 und
*) T. de T cry Hifiohe d'un Vnynge fait en Ia terre du Brefil c, ~o.
4?° Zweites B u c l;,
und z, B. anftatt millionenmal Millionen, mil- lionenmal Millionen Millionen u. f, \v. eine Billion, Trillion u. f. w. Tagten. -
§♦ 7-
Warum die Kinder nicht frühzeiti- ger zählen.
/
So zählen die Kinder nicht fehr früh und in keiner ftcten Reihe fort, als bis fip einen ziemlichen Vorrath von andern Vprftellungea gerammlet haben, weil es ihnen entweder an Worten für die verfchiedenen Zahltnogref- fionen fehlet j oder weil f\e noch nicht die Fähigkeit haben, einzelne zerftreuete Vorftel- lungen in einen zurammengefetzten Begriff zu fallen, die Begriffe auf eine beftinunte Art zu ordnen, und fo in dem Gedächtnifs auf- zubewahren , welches bei dem Rechnen rioth- wendig ift. Man kann oft die Beobachtung machen, dafs einige Kinder von vielen Din- gen klare Vorftellungen haben , ziemlich gut fprechen und denken, ehe he bis 2o zählen können» Auch fiud manche erwachfene Men fchen ihr ganzes Leben hindurch nicht ver- mögend
S echsz eli n t es Kapitel. 471
mögend zu rechnen , oder eine grofee Reihe von Zahlen auszufprechen, weil ihr Gedächt- nis zu fchwach ift , fo verfchiedene Zahlen- gruppen mit ihren Ausdrücken in ihrer be- ftimmten Ordnung, und die lange Reihe von Zaiiiprogreffionen mit ihren Verhältniflen zu behalten. Denn um 2o zu zählen , inufs man willen dafs 19 vorhergehet , und die Benen- nungen von beiden nebft ihrer beftimmten Ordnung kennen ; wo eins von beiden fehlt, entftehet eine Lücke, die Kielte zerreiTst, und der Fortgang im Zählen wird gehemmt. Zum richtigen Rechnen wird alfo erfodert 1) dis- genaue Untencheidung zweier Zahlbegriffe, die fith blos durch die Summe oder Billerenz- von Eins unterfcheiden j 2) D.^s Aufbehalten der Ausdrücke oder Zeichen für die %-erfcbie- deuen Zul<munen(etzungen von Eins bis auf die beftiinmte Zahl und zwar nicht verwirrt, oder auf beliebige Weife , fondern in der be- ftimmteri Ordnung als die Zahlen aufeinander folgen. Ein Verfehen in der einen oder an- dern Art verwirrt das ganze Gefchäft des Zablens ; es fehlt dann an deutlichen dazu erroderiiehen ße^rillen , und es bleibt nuv G g 4 eine
472 r Zweites Buch.
eine verworrene Vorltellung einer Vielheit übrig.
§. 8.
Durch die Zahl wird alles Mefs- bare gemeffen.
Noch verdient hier bemerkt zu werden, daTs fich der menfchlithe Geift der Zahl zur Meffung alles delTen bedienet, was von uns gemeffen werden kann, wohin vorzüglich der Raum und die Zeit gebore!, Selbft der Begriff der Unendlichkeit auf Raum und Zeit angewendet , ftheint nichts anders als die Ziifammenletzung gewiffer vorgestell- ter Theile 'der Zeit und des Raums, die nie begrenzt ift , und der alfo keine Zabl ent- fpricht? Und es ift einleuchtend, dafs die Zabl der einzige Begriff ift, der uns eine fol- che unerfrböpflichc Mannichfaltigkeit darbie- tet, Man falle ei e noch fo grofre Zahl in eine Summe ztifsmmen , fo bleibt doch die Möglichkeit, neue ZjblgrÖfsen hinzuzufetzen vor wie nach; es bleibt noch immer fo viel hinzuzufVuen übrig, ?ls wenn noch nichts davon genominen wäre. Die Zahlen find
alfo
Sechszchn Les Kapitel. 475
alfo ein unerfchöpfiicher Schatz. Diefe dem Verftande fo einleuchtende, endlole Ver- mehrung oder wenn man lieheT will, Ver- inehrharkeit der Zahlen giebt uns, mei- ner Meinung nach, den klärften und deut- iichften Begriff von der Unendlichkeit. Doch davon ein mehreres in dein folgenden Iva. pitel.
Siebzehntes Kapitel.
Von der Unendlichkeit.
§. 1.
Die Unendlichkeit wird in der urTprünglichen Bedeutung des Worts dem Raum, der Dauer und der Zahl beigelegt.
** enn man willen will, von welcher Art
der Betriff der Unendlichkeit ift, fo verfahrt
man am fcWeckraäfsigften , wenn man unirr-
Gg 5 ' l'ucht,
4" 't Zweites Euch.
fucht, welchen Gegenftänden die Unendlich- keit unmittelbar beigelegt wird, und wie der Verüand dielen Betriff bildet,
s
Endlich und Unendlich fcbeiut der Verftand als Beithnuiungeit der Grüfse zu be- trachten , und in der erlten urfprünglicheii Bedeutung nur denen Dingen beizulegen» welche Theile haben; und durch Hinzjufü- gung oder Abziehang des kleinften Theiles einer Vermehcung oder Verminderung em- pfänglich find. Von dieser Art find die \'or- liellurgen vom Raum, Zeit und Zahl, Es iß wahr, wir muffen uns Gott, von dem und durch welchen alle Dinge find , als unbegreif- lich und unendlich denken. Allein wenn wir nach un lerer ich wachen und befchränkten Einficht diefen Begriff auf das höchfte VVefea anwenden , fo gefchieht es doch vorzüglich in Rück ficht auf feine Dauer und Ailgegen- vvart, aber un eigentlicher, wie mir fcheint, in Beziehung auf leine Macht, Weisheit, Gü- te und andre Eigenfehaften, welche im ei- geVüiciien Sinne, unerfchöpfiieh und unbe- rreiriieh find. Werden diefe auch unendlich genannt ä fo beziehen '.vir doch den Begriff
eigent"
Siebzehntes Kapitel, 475
eigentlich mehr auf die Vielheit und den Um- fang der Handlungen, durch welche, und der Gegenftände, an welchen lieh diefe Eigen- fchaften äufseru, welche nie fo grofs oder fo vielfältig gedacht werden können, dafs fie nicht den grüfsien Gedanken und \\ie grö ste Ziihl überfteigen , und weit hinter lieh küTen follten. Ich maafse mir nicht an, $.u beftiinrnen , wie djefie Eigenfcliafren in Gutt find, der unendlich weit über unfern eingefchränkten Begriff erhaben ift, und he vereinen unftreitig alle mögliche Vollkom- menheiten in fich. Ich rede hier nur von untrer Art, üe in ihrer Unendlichkeit uns \ pr^uftelleiu
§. 2,
Der Begriff der Endlichkeit ift leicht iu finden,
Da alfo Endlichkeit und Unendlichkeit von dem l erftande als Befiimmungcn des R.-iums und der Dauer betrachtet werden, fo rnüflen wir nun zimächfi unterf lachen , wie er zu diefen Begtiffen gelanget. In Anfehung des Begriffs der Endlichkeit hat das keine
Seh wie
47<5 Zweites Euch.
Schwierigkeit. DieTheile der Anlehnung,-" die unfre Sinne gewötialicb affineren, füh- ren der Seele 7uoleich diefen Betriff zu» Alle periodifche lleihcn von Begebenheiten» wodurch die Zeit und die Dauer gemeflen wird, find bcgränzte Läufen. Die Schwie- rigkeit trifft nur- die Entftehungsart der gren. zenlofen^ Vorftelhmgen der Ewigkeit und Un- ermefslichkeit, Weil alle Objecte, die uns be- fchäftigen, in keinem Verhältnifs, auch nicht der Annäherung, zu jenen ftehen,
§. 3.
Wie wir den Begriff der Unend- lichkeit erlangen.
Jeder der eine Vorftellung von einer be- Simulien Länge des Raums, z. B. ein Fufs hat, findet, dafs er diefe länge verdoppeln, und die Vorftellung von einer zweifchuhigten Länge bilden, und zu diefer wieder einen Schuh und fo fort hinzuretzen kann, ohne damit an ein Ende zu kommen. Jede andre Länge z. B. eine Meile, ein ErddurchmeHer, lärst fich auf eb' n die Art unaufhörlich verdop- peln. Wenn man eine Lange noch fo viel- mal
Siebzehntes Kapitel. 477
mal verdoppelt , oder multiplicirer, und die Vorttellung davon fo fehr als man will erwei- tert hat, fo findet lieh doch kein Grund, da- mit aufzuhören, und die möglichen Addilio. nen find fo wenig, als beim Anfange er- fchopfr. Die Möglichkeit, den Be«nlf des Raumes durch neue Zufet/.ungen zu erwei- tern, bleibt immer die nehmliche. Ddher entltehtdie Yoritellung von dem unendlichen Räume.
§. 4.
Die Vorftellung von dem Räume ift grenzenlos.
Eine ganz andre Unterfuchung ift es , ob der Raum, den lieh tue Seele als unendlich vorftellet, auch an fich wirklich un- endlich ift. Denn von unfern Vorftel- lungen kann man nicht allezeit fehliefsen, dafs ihre Objecte auch wirklich fo befchaffen find. Da wir aber ei.imal auf die'e Fra°ege- ftof>en find, fo darf ich wohl behaupten, dafs wir uns den Baum wirklich an fich als un- endlich denken können. Der Begriff vom Räume führt uns fcho« von felbfl darauf.
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Siebzehntes Kapitel.
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§. 4.
Die V orftellung von dem Räume ift grenzenlos.
Eine ganz andre Untcrfuchung ift es , oh der Raum, den lieh die Seele als unendlich vorftellet, auch an fich wirklich un- endlich ift. Denn von unfern Vorfiel- hingen kann man nicht allezeit fehliefsen, dafs ihre Objecte auch w»»w,;'-h fo befchaflen find. Da wir aber^ ftofsen find, 1 wir uns den endlich den Räume füb
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478 Zv7eit53 Euch.
Denn man denke fich den Raum als von Kör- pern angefüllt , oder an fich ohne alle dichte Materie, deffen nothwendi^e Exiftenz oben bewiefen worden (2 B. «5 K, §. n. ff.) Co ift es in beiden Fallen, fo weit man auch fortgefchritten ift, gleich unmöglich, an ge- wille Schranken zu kommen, oder fie nur zu denken, über welche hinaus man fich keinen Raum mehr vorftellen könnte» Gefetzt ein Körper oder eine diamantne Mauer machte diefe Schranken aus, fo würde diefes kei- nes weges das weitere Vordringen des Ver- itandes in dem Räume aufhalten, fondern es vielmehr erleichtern , und ihm noch mehr Spielraum geben. Denn fo weit diefer Kör- per reichte, wiire die Ausdehnung des Rau- n;es aurser allem Zweifel gefetzt, und was könnte dem Verftand, wenn er fich an tue äufserfte Grenze jenes Körpers verfetzte, wei- ter aufhalten, oder ihn überzeugen, dafs er an die Grenze des Raums gekommen fey, da er diefe nicht wahrnimmt, ja aus Grün- den erkennet, dafs fich ein Körper auch au- hex diefer Grenze bewegen kann? Wenn fich ein Körper bewegen foll, fo roufs es in der Körperwelt einen leeren Raum geben,
er
Siebzehntes Kapitel, ')»
sr fey fo klein, als eT will; in und durch denfelben ift die Bewegung möglich; ja kein Tbeil der Malerie kann lieh anders als in folchen leefeil Räumen bewegen. Die Mög- lichkeit der Bewegung eines Körpers in dem leeren Raum dt aber eben in klar und ein- leuchtend innerhalb als aufletbalb d.°r Kör- perwelt, und der Begriff \on dem leeren blo- fsen Räume ift in diefem und jenem Fall in nichts als in der Grofse unterfchieden. Nichts kann alfo einen Körper hindern, fich in den leeren Raum aufser den Grenzen der Körper- welt foifztibewegen. An welche Stelle des leeren Raumes in oder aufser der Körper- welt man Geh alfo in Gedanken auch cerfetzt, fo ift doch nirgends eine Grenze in dem ein- artigen Begriffe des Raumes zu finden. Aus der Na:'ir und der Vorßellung jedes TheHs des Raum-, folgert alfo derYerfiand nothwen- djg , dafs er wirklich unendlich ift.
! &
a8o Zweites Buch.
§. 5.
Auf eben die Art entftehet der Begriff von der Unendlichkeit i der Dauer.
So wie wir durch die Möglichkeit, jede Yorftellnng eines Raumes fo oft als man will, zu verdoppeln, zu dein Begriff der Uner- niefslichkeit gelangen , fo eihalten wir auch den Begriff der Ewigkeit, durch die Möglichkeit, jede \ orltellung einer Zeitlänge durch alle endlofe Zufam inen fetzung der Zah- len zu verdoppeln- Denn die Verbindung jeder Vorftellung einer Zeitgröfse oder Zahl- gröfse zu einer andern hat keine Grenzen. Was die Zahlen betrifft, fo ift es zum we- ni^ften jedem einleuchtend. Ob wir aber gleich einen Begriff von der Ewigkeit habcjn, fo ift es doch eine ganz andre Frage: ob es wirklich ein reales VVefen gieht, deffen Exiftenz ewig ift? Da ich aber fchon an einem andern Orte davon ge- handelt habe, fo bemerke ich nur diefs, dafs man ron der Betrachtung eines exiitie- renden Wefens noth wendig auf etwas Ewi- ges geführt wird. Ich gehe jezt zu andern
Unter-
Siebzehntes Kapitel. 481
Unterteilungen über den Begriff der Unend« lichkeit fort*
t
Warum andere Vorfteliungen der Unendlichkeit nicht em- pfänglich find»
Wenn es an dem ifl; , daTs der Begriff def Unendlichkeit aus der Möglichkeit unfre Vorstellungen unaufhörlich zu vergrofsern enifprin^t, fo entfteht die Frage: warum die Unendlichkeit nicht wie auf die Zeit und den Raum,fo auch auf an d er e Vor ftellu ngen angewendet wird? Die Vorsehungen z. B. der Süfsig*- keit, derweiTsen Farbe, können fo leicht und fo oft wiederholet werden, als die einer Elle* eines Tages; und doch fpricht niemand voa der Unendlichkeit der SüTsigkeit oder der weifsen Farbe. — Allein nur diejenigen, Vorftellungen gewähren uns den Begriff der Unendlichkeit , welche als aus Theilen befte- hend betrachtet werden, und einer Ver- mehrung durch das Zu fetzen gleicher oder II h klei-
<j82 Zweites Buch.
kleinerer Theile empfänglich Gnd; weil mit der endlofcn Wiederholung derfelben eine endlofe Erweiterung unzertrennlich verknüpft ift. Bei andern Vorftellungen ift das nicht « fo. Ich kann den weitumfanendfttn Begriff vom Raum und Ztsit iinüier noch durch Hin- zufetzung eines kleinen Tiieiis, ni> üt fo aber die voilkcmmenfte Yorlidlung von uemhöch- ften VVeifs durch Hinzufü^ung einer Vorftel- lung von einem gleichen oder geringern Gra- de diefer Farbe, vergröfsern oder erweitern. Die Vorftellung eines höhern Grades ift aber unter jener Bedingung nicht einmal möglich. Daher heifsen auch die verfchiedenen Vor- * ftelhxngen des Weifsen Grade. Wenn ich die weifse Farbe des Schnees geftern und heute anl'chaute, und beide Vorftellungen mit einander verbinden will, fo fchmelzen beide in eine zufainmen , ohne die Vorftellung der Farbe zu erhöhen. Die Zufammenfetzung eines kleinern und gröfsern Grades einer Far- be giebt auch in der Verbindung keinen grö- fsern iondern vielmehr einen kleinern Grad, Die Vorftellungen, welche nicht aus Thei- len beliehen, können alfo nicht in jedem beliebigen Verhältnifs vergröfsert, und über
üen
Siebzehntes Kapitel. 483
den Grad, in welchem wir fie von der Sinn- lichkeit erhielten , erweitert werden. Hin- gegen Raum, Zeit und Zahl find durch Wie- derholung ihrer Verbindung einer Vergröße- rung empfänglich; He lallen in der VorfieJ- lun» unaufhörlich eine Stelle für noch meh-
D
rere Zuteilungen übrig; und weil diefes bei andern Vorftellungen nicht ftatt findet, fo führen fie unfern Geift allein auf den Begriff der Unendlichkeit.
$• 7-
Unterfchied zwifchen der Un- endlichkeit des Raums und dem unendlichen Räume.
Unfer Begriff von der Unendlichkeit ent- liehet zwar aus der Betrachtung der Quanti- tät und ihrer endlofen Vermehrung durch wiederholte Zufetzung beliebiger Theilgrö- fsen. Allein es müfste gewifs grofse Verwir- rung in unfern Gedanken hervorbringen, wenn wir die Unendlichkeit mit irgend ei- ner vorftellbaren Grofse verbinden , und ei«j Tte unendliche Grofse z. B, einen unendli- chen Raum, eine unendliche Zeit denken H h 2 woll-
484 Zweites Buch.
wollten. Denn der Begriff der Unendlich- keit ift meines Eedünkens nur eine der endlofen Ver gr öfser un g fähige Idee, aber die Vorftellung jeder Gröfse ift, infofern fie vorgeftellt wird , begrenzt , und kann nicht gröfserfeyn, als fie wirklich ift. Die Unendlichkeit mit einer Quantität ver- binden, ift foviel , als einen unveränderlichen Maafsftab an einewachfende Gröfse anpafsen. Es ift daher wohl keine unnütze Speculatior, wenn man erinnert, die Vorftellung von der Unendlichkeit des Raums, von der Vorftellung des unendlichen Raums forgfältig zu unterfcheiden. Die er- fte Vorftellucg ift nichts als die problematifch gedachte grenzenlofe Progreffion des Verftan- des über jede willkührlich rorgeftellte Grö- fse des Raums, Aber den unendlichen Raum fich wirklich vorftellen , hei fst foviel, als an- nehmen , der Verftand habe alle diefe durch wiederholte Verbindung erzeugte Vorftellun- gen von Räumen , die keine endlofe Pro- greffion je ganz darfteilen kann, fchon durch- gegangen und in ein Bewufstfeyn zufammen- gedrangt, welches ein offenbarer Wider« fpruch ift.
Si ebzclintes Kapitel.' ißi
§. 8.
Wir haben keine Vorftellung vo»' dem unendlichen Räume«
Vielleicht wird das klärer, wenn wir die Unendlichkeit der Zahlen betrachten. Diefe beftehet darin , dafs man zu einer Zahl im- mer noch mehr hinzufetzen kann, ohne da- mit an ein Ende zu kommen , und leuchtet jedem ein, der darüber nachdenkt. r So klar 3ber die Unendlichkeit der Zahlen ift, eben fo einleuchtend ift auch die Ungereimtheit des wirklichen Vorfteliens einer unendlichen Zahl, Jedepofitive Vorftellung eines Raums, einer Zeit, einer Zahl von- welcher Gröfse man will, ift immer endlich; wenn man lieh dabei einen unerfchüpflichen grenzenlofen Reft vorftellet, in welchem dein Verftande ein endlofea Fortfehreiten und Erweitern der Vorftellungen möglich ift, ohne die Idee je völlig zu erreichen , fo hat man die Vorftel- lung der Unendlichkeit, So klar nun auch diefes an (ich ift , wenn man dabei nur au£ die Verneinung der Grenze liehet, fp entlie- het doch eine fehr dunkle und verwirrte Vor- H h 5 ftellung
486 Zweites Buch.
ftellung, wenn man fich den unendlichen Raum oder die unendliche Zeit vorftelien will, weil fie aus zwei 'fehr verfchiedeneni vielleicht gar nicht zu vereinbaren denBeftand« theilen beftehef. Denn man bilde eine Vor- stellung von einem Raurae oder einer Zeit, von welcher Gröfse man will, fo fetzt fich doch der Verftand offenbar einen Ruhepunkt und eine Grenze, welches dem Begriff der Unendlichkeit, d» i, der Möglichkeit eines endlofen Fortfehritts, widerfpricht. Und daher mag es wohl kommen, dafs man fich fo leicht verwirrt, wenn man über den un- endlichen Raum oder die urendliche Zeit rä- fonnirt. Man erblickt nicht die Unverein- barkeit beider Beftandtheile in einer Ideej und wenn man daher aus dem einem Folge- rungen ableitet , fo verwickelt der andere in unauflösbare Schwierigkeiten, gerade fo als wenn man aus einem Begriff von einer nicht fortfehreitenden (d. i, mit andern Worten ei- ner ruhenden) Bewegung fchliefsen wollte. Nichts anders fcheint mir die Vorftellung ei- nes unendlichen Raurm, oder einer unendli. chen Z*ahl, das heifst eine Vorftellung von einem Räume, der wirklich vorgeftellt und
atfo
Siebzehntes Kapitel. 4Ö7
alfo begrenzt gedacht wird, und doch zu- gleich fo befchaffen ift, dafs ihn der Ver- ftand durch keine fortgefetzte endlofe Erwei- terung und Progreflion in eine Vorftellung fallen kann. Denn fo grofs auch ein Raum ift, den ich mir jetzt vorftelle , fo ift er doch nicht gröfser, als ich ihn wirklich vor- ftelle, wenn ich ihn gleich den folgenden Augenblick und fo fort ins Unendliche ver- doppeln kann. Nur das ift unendlich, was keine Grenzen hat, und diefe Grenzenlosig- keit denkt man fich in dem Betriff der Un- endlichkeir,
'S* 9*
Die Zahl giebt uns den klärften Begriff von der Unendlickeit.
Unter allen andern Begriffen giebt uns die Zahl, wie wir fchon gefagt haben, die klär Tte und beftimmtefte Idee von derUnendlichkf it, deren wir empfang. lieh find. Denn auch bei Raum und Zeit bedient man fich der Zahlen, um fich dem Begriff der Unendlichkeit zu nähern. Eine Million Meilen , Jahre find foviel befummle H h 4 Theil-
f|8ö Zweites Buch,'
Theilvorftellungeri des Raums und der Zeit, und die Zahl verhindert es allein, dafs fie nicht in der chaotifchen Vielheit verfchwin* den, in welche lieh felbfi: der Verftand ver- liert. Wenn man fo vielmal als man will, Millionen von beftitnrnten Langendes Raums und der Zeit zufäinm^ng6ffet£t hat, fo erhält man die kläifte Vorftellung von der Unend- lichkeit durch dem nicht zu unterfcheiden? den und nicht aufzufallenden Reft von end- los hinzuzufetzenden Zahlen, bei welchen kein Stillftand und keine Grenze fichtbar ift,
§» lo.
Verfchiedene Vorstellungen des xnenfehlichen Verftandes, von der Unendlichkeit der Zahl, der Zeit und des Raums.
Vielleicht wird eine andre Betrachtung noch meht Licht über den Begriff der Unend- lichkeit verbreiten , und zugleich darthun, dafs die Unendlichkeit nichts andres ift, als die Unendlichkeit der Zahlen auf ge wif fe deutlic h vorgeftellte Theile angewendet. Raum und Zeit können als unendlich gedacht werden , aber
nicht
r Siebzehntes Kapitel. 489
nicht fo fchlechthin die Zahl. Diefes kommt daher, weil wir bei der Zahl gleichfam an dem einem Enäe find. Denn da in den Zah- len nichts kleiner ift, als die Einheit , fo fte- hen wir bei derfelben Rille , und befinden uns an einer Grenze» Der Zufetzung oder Vermehrung der Zahlen hingegen können wir keine Grenze fetzen. Die Zahl ift daher gleichfam eine Linie , wovon das eine Ende bei uns begrenzt , das andere aber über je- den möglichen Kreis der Vorftellüngen aus- gedehnt ift. Mit dem Raum und der Dauer verhält es lieh hingegen anders. Denn die Dauer wird fo betrachtet , als wenn diefe Linie), welche eine Zahlengröfse vorftellt, auf beiden Seiten in eine nicht vorftelibare, unbegrenzte und unendliche Weite ausge- dehnt wäre. Einleuchtend wird diefs durch, die Unterfuchung des Begriffs der Ewigkeit, welche doch wohl nichts anders ift, als die Anwendung der Unendlichkeit der Zahl auf die Zeit fowohl rückwärts als vorwärts, oder wie man fagt, a parte ante und a parte polt» In jenem Fall fangen wir von uns oder der gegenwärtigen Zeit an, durch- laufen eine Reihe Jahre, Jahrhunderte oder H h 5 an-
~,go Zweites Buch.
anderer Längen der vergangenen Zeit, mit der AusPicht auf eine mögliche Fortfetzung diefer Zufarnrnenfetzung durch alle Unend. lichkeit der Zahlen hindurch. In diefem Fall gehen wir ebenfals von uns aus, rech- nen mit muhiplicirten Perioden der künfti- gen Zeit, und dehnen diefe Zahlreihe ins Unendliche aus. Beide unendliche Zeilrei- hen machen die unendliche Dauer oder die Ewigkeit aus, weiche uns vopwärts und rück* wärts unendlich erfcheint, weil wir auf bei- den Seiten der Möglichkeit, immernoch mehr hinzuzufetzen , inne werden»
§. II.
Eben fo ift es mit dem Räume. Wir fe- tzen uns gleichTatn in den Mittelpunkt def- felben , und verfolgen von allen Seiten jene grenzeniofen Zahlenreihen» Wir meflen eine Elle, eine Meile, einen Erddurchmeffer, und vergrößern .diefe Grüfsen fo oft wir wollen, durch alle Unendlichkeit der Zah* Jen. Da wir aber weder hier noch bei den Zahlen einen Grund finden, mit diefen Zu-
fainmen-
Si-ebszehnte« Kapitel. 49 l
Jammenfetzungen aufzuhören, fo erlangen wir dadurch den Begriff von der Une r ine fs- 1 i c h k e i t«
$. 12. Unendliche Theilbarkeit.'
Unfre Gedanken können bei einem Stück Materie nie auf eine letzte Theilung kom- men. Hier bietet Geh uns alfo wieder eine Unendlichkeit dar, welche ebenfalls eine Unendlichkeit der Zahlen doch auf eine et- was andere Art in fich fchliefst. Bei derUn« endlichkeit des Raums und der Zeit bedient man Geh der Addition, hier aber der Thei- lung einer Einheit in ihre Brüche, In diefer Divifion kann der Verftand ins Unendliche fortfehreiten , wie in der Addition, und die Divifion ifb auch in Wahrheit nichts anders, als eine fortgefetzte Addition von neuen Zahlen. Aber man kann weder durch jene Addition einen pofitiven Begriff von einem unendlich grofsen, noch durch diefe Divifion einen pofi- tiven Begriff von einem uneudlich kleinen Raum erlangen. Unfer Begriff von der Un- endlich«
4g2 Zweites Buch,
endlichkeit ift gleichfam eine durch unendli- che Progreffion wachfende Idee , die uns nie Stand hält»
Es giebt keine pofitive Vorftel« 1 u n g des "l^n endlichen.
Es dürfte wohl fchwerlich ein fo gedan- kenlofer Menfch gefunden werden, der be- haupten wollte, er habe eine pofitive Vor- sehung von einer unendlichen Zahl , weil diefe Unendlichkeit gerade in der Möglichkeit beftehet, zu jeder Zahl fo oft man will jede beliebige Gröfse hinzuzufetzen. Gleichwohl giebt es einige, welche fich einbilden, fie hätten pofitive Vorftellungen von einem un- endlichen Räume und einer unendlichen Zeit» obgleich die Unendlichkeit hier wie dort in einer grenzenlofen Vergröfserung beftehet. Um fie von der Nichtigkeit diefer pofitiven Vorftellungen und von ihrer Täufchung zu überzeugen, darf man fie nur fragen, ob fie %u derfelben etwas hinzufetzen können, oder
nicht
Siebzehntes Kapitel. /}g3
nicht? Eine pofltive Vorftellung vom Raum und der Dauer ift nicht anders möglich, als durch die Zufammenfetzung einer beftiinm- ten Zahl von Längen des Raums und der Zeit, wodurch der Raum und die Dauer aus- gemeHen und ihre GröTse beftimmt wird. Da aber die Vorftelluug eines unendlichen Rau« mes, und einer unendlichen Dauer aus un- endlichen Theilen beftehen mute , fo kann keine andere Unendlichkeit als die der Zahl, oder die grenzenlofe Möglichkeit imme neuer Zufetzungen, aber keine wirklich pofuive Vorftellung einer unendlichen Zahl, dabei ftatt finden. Denn keine Zufammenfetzung end. liehet Dinge, dergleichen alle unfre pofiti- ven Vorftellungen von Längen find , kann auf eine andere Art die Vorftellung der Un- endlichkeit erzeugen, als die Zahl. Diefe ift, zwar nur eine Verbindung endlicher Einhei- ten, aber fie veranlafst doch infofern den Be- griff von der Unendlichkeit , als es möglich ift, jede ZahlgröTse d"rch immer neue Zufe- tzung eben derfelben Einheiten ohne Ende zu vermehren.
§♦ *4»
494 Zweites Buch,
§. '4-
Dafs die Verkeilung des Unendlichen po- fijiv fey, fucht man , wie mir dünkt, durch einen fonderbaren Schlul's zu beweifen. ]Vl;in fchliefst" nehmlich fo: die Verneinung einer Grenze mufs etwas Poßtives feyn, weil die Grenze etwas Verneinendes ift. Allein wenn man bedenkt , dafs die Grenze eines Körpers das Aeufserfte oder die Oberfläche deflelben ift, fo wird man nicht fehr geneigt feyn, die Behauptung zu unterfthreiben, dafs die Grenze etwas Verneinendes fey; die Wahrnehmung , dafs das Ende der Feder weifs oder fchwarz ift, zeigt vielmehr, dafs es etwas mehr als eine Verneinung ift. Die Grenze der Dauer ift nicht die blofse Ver- neinung der Exiftenz, fondern eigentlicher der letzte Augenblick derfelben. Und wenn man auch diefs behaupten wollte, fo könnte man doch nicht leugnen, dafs der Anfang der Dauer der erfte Augenblick der Exiftenz eines Dinges, alfo keine Verneinung ift. Und fo folgt aus ihrem eignen Schlufse, dafs die regreffi- ve Idee der Ewigkeit, oder einer Dauer oh- ne Anfang , eine blofs negative Idee ift.
§. i5.
Siebzehntes Kapitel. 49**
§. 15»
Was in unferm Begriff der Un- endlichkeit pofitiv und nega- tiv ift.
Der Begriff der Unendlichkeit enthält, ich geftehe es, bei jeder Anwendung auf ein Ding, etwas pofitives. Um uns einen unend- lichen Raum oder eine unendliche Zeit vof- zuftellen, bilden wir erft eine viel umfallen de Vorftellung von etwa einer Million Meilen oder Jahrhunderten , und mnliipliciren viel- leicht noch einigemal diefe Giöfse, Was wir auf diefe Art in eine Vorftellung fallen, ift das Pofitive, ein Aggregat von- einer grofsen Zahl poGtiver Vorftellungen von Räumen und Zeilen. Aber von dem, was aüfser diefer ' GrÖfse noch übrig ift, hat man eben fo we- nig eine polilive Vorftellung, als der Schiffer von der Meerestiefe, wenn er einen grofsen Theil des Senkbleies hinabgelaffen hat, ohne den Boden zu erreichen. Er weifs, wie vie- le Klaftern die gemeflene Tiefe beträgt, aber nicht, wie viel Klaftern er noch bis zum Meeresgrund zu meflen hat. Könnte er im- mer eine neue Schnur anknüpfen, und wür- de
496 . Zweites Buch,
de das Senkblei unaufhörlich fir.ken, fo wür- de er fich beinahe in einerlei Lage mit dem menfchlichen Verftande befinden , wenn die« fef nach einen vollendeten und pofitiven Be- griff des Unendlichen ftrebt. Gefetzt die Klafter fev 10 oder 10000 Klafter lang, fo ent- deckt fie nicht mehr und nicht weniger was darüber ift; fie giebt nur eine dunkle und comparative Vorftellung, dafs das noch nicht die ganze Länge ift, und dafs man immer weiter fortfchreiten kann. Der Verftand hat nur infoferne eine pofitive Vorftellung von dem Räume, als er denfelben in eine Vorftel- lung zufamraenfafst; gehet er weiter und fucht fie unendlich zumachen, fo bleibt fie doch immer unvollendet, fo fehr er üe auch erweitert und ausdehnt. Nur fo weit, ift ein deutliches Bild, eine pofitive Vorftellung von der Gröfse des Raums möglich, als die Ein- bildungskraft davon umfafst; aber das Unend- liche ift immer noch gröfser. Der Begriff von einer beftimmten Gröfse ift klar und po- fitiv; von dem Gröfsern ift auch ein klarer, aber nur ein Vergleichungsbegriff; von deni fo vieluial gröfsern, als man nicht begreifen kann, ift er offenbar nicht poütiv, fondern ne- gativ.
Siebzehntes Kapitel. 497
gativ. Denn wo der Abfland der entfernte- ften Punkte einer Ausdehnung nicht gemef- fen und in eine Vorftellung gePaCst wird, da ift keine klare pofitive Vorftellung von der Grüfse derlelben. Nach einer folchen Vorftel. lujtg des Unendlichen firebt man, aber fie ift nicht möglich, und keiner wird fich derfel- ben rühmen. Das Vorgeben , Jemand hab« eine klare Vorftellung von einer Gröfse, ohna zu willen, wie grofs fie ift, ift wohl fo wenig vernünftig, als daTs Jemand eine klare Vor- ftellung von der Zahl der Sandkörner an dem Meeresufer habe, der nicht weifs, wieviel, fondern nur, dafs es ihrer mehr als zwanzig find. Nicht beffer ift die Vorftellung desjeni- gen von dem unendlichen Raum oder der unendlichen Dauer, der Taget, fie find grof- fer als eine Raum - oder Zeitläuse vou einer Million Meilen oder Jahren, Und doch ift: das der ganze Inhalt unfers Begriffs von dem Unendlichen, Was in demfelben aufser der pofitiven Vorftellung liegt, dasift dunkel, ver- worren, unbeftiinmt, wie es in negativen Begriffen zu feyn pflegt; man kann nicht alles iaffen, was in demfelben liegt, es ift für ein endliches befchränktes Vermögen zu viel, I i Der-
4gS - Zweites Buch,
Derjenige Begriff mufs nothwendig noch fehr weit von dem vollständigen pofitiven Begriffe entfernt feyn, in welchem der gröfste Theil deffen , was man zufammenfaffen wollte, feh- let, und nur durch das unbeftiimnte Merkmal, es fey gröfser als jede beftimmte Gröfse, an- gedeutet wird. Wenn man einen Theil ei- ner Gröfse geraeffen hat , und noch nicht da- mit ans Ende gekommen ift, fo geftehet man, dafs fie noch gröfser ift. Die Verneinung der Grenze einer Quantität ift alfo eben fo viel, als fie ift gröfser; und eine gänzliche Vernei- nung der Grenze heifst nichts anders, als mit allen wirklichen und möglichen progreffiven Vorftellungen undBeftimmungen diefer Quan- tität immer die Vorfiellung verbinden, dafs fie noch gröfser ift, Ob eine folche Idee ein pofitiver Begriff fey, mögen andre en$- fcheiden.
§. 16.
Wir haben keinen pofitiven Be- griff von der unendlichen Dauer*
Wenn einige behaupten , fie hätten einen uofiliven Begriff von der Ewigkeit, fo
frage
/ '
Siebzehntes Kapital, 490,
frage ich, ob ihr ReprifT von der Datier eine Succeffion in fich fchliefst oder nicht? Iß das Iettte, fo füllten (ie den Uriterfchied die« fes Begriffes anheben, wenn er auf ein un« endlichem oder endliches VVefen angewendet wird» Denn es möchten wohl einige f wor- unter ich auch mich zähle, in diefem Punkte die Schwäche ihres Y?erftande5 bekennen, und eingeftehen , dafs fie zufolge ihres Begriffs von der Dauer fich nothwendig vorftellen müden, dafs alleä, was nur eine Exiftenz hat, heute eine längere Dauer hat, als es geftern hatte» Sollten fie, um der Succeffion in der ewigen Exiftenz auszuweichen , zu dem punctum ftans -der Schule ihre Zu« flucht nehmen, fo werden fie ihre Sache we- nig beflem , und uns keinen klärern und po- fitivern Begriff von der unendlichen Dauer ausmitteln. Denn für mich ift zum wenig- ften nichts unbegreiflicher als eine Dauer ohne Fol_:e. Aufserdem kann dieles punctum Itans gar nichts mit der Dauer zu thun haben, weil es , wenn es anders nur etwas bedeutet, kei- ne weder endliche noch unendliche Grüfse ift» Wenn es daher für unfern fch wachen Verftand unmöglich ift, das Nacheinanderfeyn 1 i 2 von
5o» Zweites Buch.
von der Dauer zu tn nnen , fo kann auch nn- fer Begriff von der Ewigkeit nichts anders feyn , als die unendliche Folge der Augen- blicke der Dauer, in Jenen ein i'it'g exiitirt. Ob nun Jemand eine pofhive Idee von einer unendlichen Zibl hat oder haben kann, mag er fo lange überlegen, bis feine unendliche Zahl fo grofs ift, dafs er keine Zahlgröfse mehr hinzusetzen kann. So lange er he aber noch vermehren kann , wird er wohl felbft feine Vorftellung für zu befchränkt halten, als dafs er fie mit dem poütiven Unendlichen meffen follte.
§• 17»
Jedes vernünftige Wefen , welches über fein und andrer Dinge Dafeyn nachdenkt, wird, wie ich glaube, unvermeidlich auf den Begriff eines ewigen weifen Wefens , das keinen Anfang hat , geführet. Diefen Be- griff einer ewigen Dauer habe ich ficherlich auch. Allein diefe Verneinung des Anfanges, welche etwas pofitives iß, kann mir frhwer- lich eine pofitive Vorftellung von der Unend- lichkeit
Siebzehntes Kapitel. 5o«
liehkeit geben. Das Beftreben, meine Gedan- ken fo weit zu erweitern, um fie zu umfaflen. ift um foult, die Vorltellung davon überfteigt »ein Vermögen.
§. JÖ.
Es giebt keine pofitive Vorftel- lung ron einem unendlich kleinen Raum*
Wer fich einbildet, eine pofitire Vorfiel- Jung von dem unendlichen Räume zu haben, wird nach einigen Nachdenken finden, dafs er weder den gröfsten noch den klein* ften Raum fich vorftellen kann. Das letzte fcheint noch am leichteften zu feyn, und noch mehr, als das erfte, in dem Kreife untrer FaiTungskraft zu liegen. Und doch haben wir hier nur einen Vergleichungcbe. griff von einer Kleinheit, die immer kleiner ift; als jede Kleinheit, die wir uns pofitiv vorftellen. Alle i.nfre Vorftellungen von ei- ner Quantität, es fey einer grofsen oder klei- nen , haben allezeit ihre Grenzen ; aber die Vergloichungsbegriffe , wodurch wir unauf- li 5 hör-
5o2 Zweites Buch.
hörljch zu einer Grofse hinzufetzen, oder von ihr wegnehmen könren, find grenzen^ los. Denn das, was bei Vergleich ungen grö- sser odez kleiner ift, ift nicht mit in der po* fitiven Vorfteliung begriffen , und daHer dun* jkel, und man ftellt fich dabei nichts als die Möglichkeit vor, das eine uuai.fi örlich zu vergrößern und das andre zu verkleinern» Ein MörTer kann ein Stück Materie fo bald zur Untheübarkeit bringen, als der fchärffte Gedanke eines Mathematikers, und ein Feld- melier nia.4 mit leiner Mefskette einen un- endlichen Raum fo fchnell aushelfen, als ihn ein Philosoph mit dem fchnellften Fluge fei» »es Geifccs durchlaufen oder durch ein poü< tivcs Denken umfallen kann. Wer eine klare und pofiiive V7or Heilung eines Würfels von einem Zoll im Durchmeffer hat, kann fich, eine eben fo klare Vorftellung von einem Würfel von 1/2, i/f, j/B Zoliim Durchmefle, bilden, und fo fortfahren, bis er fich etwas lehr kleines vorftellt. Allein das reicht noch sucht an die unbegreifliche Kleinheit, wel- che die Theäiung hervorbringen kann. Die Kleinheit , die noch zu theilen übrig bleibt, ift von feinem Gedanken noch immer fo weit
ent.
Siebzehntes Kapitel. 5o3
entfernt, als da er zu theilen anneng. Und daher bekommt man nie eine klare pofitiva Vorftellung von dem Kleinen, welches der unendlichen Theübarkeit angemeflen ift.
s §» 19.
Wer auf die Unendlichkeit hinblickt, bil- det zuerft eine viel umfallende Vorftellung von demjenigen, worauf er die Unendlich- keit anwendet, 2. B* Raum, Dauer, und ftrengt feinen Verftand aufi äufserfte an, die- fe Vorftellung durch die Vermehrung auf» höchfte zu fteigern. Immer bleibt aber ein grofser Reit übrig, den er in keine Vorfiel* lung fallen kann, und er kommt dem pofiti- ven Begriff des Unendlichen nie um einen Schritt näher. Es gehet ihm wie jenem Land- mann, der über einen Flufs gehen und war- ten wollte, bis der Strom abgelaufen wäre *).
1*4 §• 20,
*} Horatius Epiilol. II. 2, v. 42 , 43.
Rufticus exfpectat dum tvanfeat amnis , at illa Labitur et labetnv in onuie volubilis aeumn.
5o4 Zweite» Buch.
§. 20.
Einige meinen, fie hätten eine pofitive Vor ft eilung von der Ewigkeit, aber nicht von dem unendlichen Räume,
Ich habe «inige Denker kennen lernen, welche einen fo grofsen Unterrdiied zwi* fchen der unendlichen Dauer und dem unend« liehen Räume annahmen , dafs fie glaubten, fie hätten eine pofitive Vc-rftellung von der Ewigkeit, hingegen fogar eine Vorftellung des unendlichen Raums für unmöglich hiel- ten. Diefer Irithum mag wohl aus folgen- dem Grunde entstanden feyn. Nach gründ- licher Betrachtung der Urfachen und Wir- kungen erkannten fie die Notwendigkeit, ein ewiges -Wefen anzunehmen, und feine reale Exifienz fo zu denken, dafs fie ihre Vorftellung von der Ewigkeit erfchöpfte. Auf der andern Seite hingegen fchien es in« nen nicht nur nicht nothwendig, fondern auch ungereimt , einen unendlichen Körper anzunehmen. Da nun eine Vorftellung von einer unendlichen Materie nicht möglich ift,
Cm
Siebzehntes Kapitel. 5o5
fo fchloffen fie, könne man auch keine Vor- stellung von einem unendlichen Räume ha- ben. Diefer Schlufs dürfte aber nicht fehr richtig feyn. Denn die Exiftenz der Materie ift eben fo wenig nothwendig zur Exiftenz des Raums, als die Exiftenz der Sonne oder der Bewegung zur Exiftenz der Dauer, ob- gleich diefe durch die Bewegung pflegt ge- melTen zu weiden. Man kann fich ohne Zweifeleinen Raum von 10,000 Quadratmei- len und eine Zeit von 10000 Jahren vorftel- len , wenn gleich kein Körper fo grofs und fo alt ift. Die Möglichkeit der Vorftellung des leeren Raumes fcheint mir fo klar, als die Vorftellung von der Weite eines Scheffels ohne Getraide , oder von der Holung einer Rufs ohne Kern. Der Begriff von der Un- endlichkeit des Raumes und die Exiftenz ei- nes unendlich ausgedehnten Körpers ftehen in keiner nothwendigern Verknüpfung, als der Begriff von der unendlichen Dauer und. die Ewigkeit der Welt. Und warum follte man die reale Ex:ftenz der Materie als ein© Bedingung der Vorftellung vom unendlichen Baume betrachten, da man fich eines eben fo klaren Begriffs von der Unendlichkeit der I i 5 künfti-
5 dS Zweites Buc h."
künftigen als der vergangenen Zeit bewirfst ift , ohne deswegen in die künftige Zeit die Exiftenz eines Dinges noihwendig zu fetzen. Es ift auch eben fo unmöglich, die Vorfiel- lung rnn der künftigen Dauer mit der von der gegenwärtigen oder vergangenen Exi- ftenz zu verbinden , als die Vorßellungen von Geflern, Heute und Morgen zu identi- fchen Vorftellungen zu machen, oder die vergangenen und künftigen Jahrhunderte als gleichzeitig neben einander zu (teilen. Wenn aber jene Denker meinen , fie hätten eine klarere Vorftellung von der unendlichen Dauer als von dem unendlichen Räume, weil es eine ausgemachte Wahrheit ift, dafs Gott von Ewigkeit exiftiert, keine reale Ma- terie aber den unendlichen Raum erfüllet, fo giebt es andere Philofophen , welche dafür halten, dafs der unendliche Raum eben fo' von Gottes Allgegenwart erfüllt werde, als die unendliche Dauer von feinem ewigen Dafeyn. Dann müfste man doch wohl den letztern einen eben fo klaren Begriff vo.n dem unendlichen Räume, als den erfiern von der unendlichen Dauer einräumen» Indeflen werden wohl weder die elften noch die letz- ten
Siebzehntes Kapitel. 5o""
ten von der Unendlichkeit des Raums oder der Dauer einen pofitiven Begriff haben. Denn da jeder pofitire Begriff einer Gröfse durch Multiplication vermehrt werden kann, fo müfste es auch bei diefen Vorftellungen fiatt linden; und fo könnte man zwei unend- liche Gröfsen zufammen addiren, oder die eine unendlich gröfser als die andre ma- chen , — Ungereimtheiten , die keine Wi- derlegung verdienen.
§• 21.
Die vermeintlichen pofitiven Vorftellungen des Unendli- chen verurfachen Irthümer.
Wenn einige nach allen diefen Gründen doch noch glauben, das Unendliche pofitiv vorftellen und fallen zu können, fo mufs man ihnen freilich den GenuTs diefes Vorzugs un- geftÖTt laflen. Möchten fie nur ihre Vorfiel* hing andern mittheilen, die fich nicht deffel- ben Vorzugs rühmen können ; fie würden fich durch diefe Belehrung feil verbindlich machen. Denn ich glaubte bis jezt immer,
dafs
5o8 Zweites Buch.
dafs die großen unauliöslichen Schwierigkei- ten, in welche (ich alle unfere Räfonnemens über die Unendlichkeit des Raums, der Zeit und der Theilbarkeit unaufhörlich verwickel- ten, untrügliche Merkmale von der Unvollkonr menheit unfrer Begriffe , und der Unange. meflenheit diefes Gegenftandes für die Faf- fungskraft unfres befchrankten Vermögens -wären. Denn wenn die Menfchen über den unendlichen Raum oder die unendliche Dauer ftreiten und disputiren , als hätten fie fo voll- ständige und pofitive Begriffe davon , als von den fie bezeichnenden Ausdrücken oder von endlichen Gröfsen, fo darf man fich nicht wundern , dafs die Unbegreiflichkeit diefer Gegenftände fie in Schwierigkeiten undWi- derfpriiche verwickelt, und dafs ihr Verfiand einem Gegenftände unterlieget , der zu grofis ift, als dafs er überfchaut und behandelt wer- den könnte»
$♦ 2,2 1
Ich habe mich fehr" lange bei der Be- trachtung des Raums, der Dauer, der Zahl,
und
Siebzehntes Kapitel. Sog
und der Unendlichkeit, die aus der Refle- xion über jene entfpringt, verweilet» Allein die Befchaffenheit diefer GegenfUinde machte das nothwendig. Denn es giebt wenig ein- fache Vorftellungen, deren Beftimmungen den menfehlichem Geift fo fehr befchiiftigten als diefe. Ich will nicht behaupten, dals ich fic voHftändig erfchöpft habe. Es war für mei- nen Zweck hinreichend , zu zeigen, wie das Gemüth diefe Vorftellungen , fo wie fie find, von der Empfindung und Reflexion erhält, vund wie felbft der Begriff der Unendlichkeit, fo wenig Beziehung er auch auf ein finnli- ches Object oder eine Thätigkeit der Seele zu haben fcheint, doch mit andern Vorftel- lungen einerlei Urfprung hat. Einige Mathe- matiker von tiefem Speculationsgeift mögen vielleicht die Begriffe von dem Unendlichen auf eine andre Art ableiten; allein dem un- geachtet konnten fie, wie andre Menfchen, den erften Begriff davon auf die oben be- schriebene Weife erhalten haben.
Acht
5lo Zweites Buch.
Achtzehntes Kapitel.
Von andern einfachen Beftimniungen,
Beftimniungen der Bewegung,
I
n den Vorhergehenden Kapiteln habe ich gezeigt, wie der Verftand von den einfachen durch die Sinnlichkeit erzeugten Y'orftellun^ gen ausgeht, und fleh fogar bis zur Unend- lichkeit ausbreitet. So weit auch der Be- giiff der Unendlichkeit von allen fißnlichen VorftelJungen entfernt fcheint, fo beftehet doch fein Inhalt nur aus einfachen, durch die Sinne gegebenen und nachher durch da* Veriia mies vermögen zufammengefetzten Vor- fielluägen. Zu Beifpieien von einfachen Mo- dincationen einfacher Vorltellnngen der Sinn- lichkeit und zur Darflellung der Art und Weife, wie der Verftand zu diefen gelangt» könnte es nun fchon an dem Gegebenen ge*
xius
'Achtzehnte« Kapitel. 5l.
11 ug Heyn. Wir wollen aber doch noch eini« ge der Ordnung wegen, doch ganz kurz an- führen , und 'dann zu den zufamuiengefeu- tern Begriffen übergehen»
§. 2»
GlitTchen, rollen, wälzen, gehen, krie- chen, laufen, tanzen, fpringen hüpfen und f. w. find eben fo viele verfchiedene Modifi- cationen der Bewegung, welche fich jeder fogleich klar vorftellt, als er die Worte hört und v erfleht. Die Beftiramungen der Bewe- gung entfprechen den Beftimmungen der Ausdehnung. Gefchwindigkeit und Langfamkeit find zwei verfchiedene Vor- stellungen der Bewegung, infüfern fie zu- gleich durch die Länge der Zeit und des Raums gemeffen wird; alfo zurammengefetz- te Begriffe, indem fie aufser der Bewegung auch Raum und Zeit enthalten.
§♦ 5.
£ 12 Zweites Buch.
§. 5.
Älödificationen der Töne.
Bei den Tönen finden wir eben diefe Rlannichfahigkeit, Jedes articulirte Wort ift eine andre Modification des Tons. Daraus erhellet, welche faft unzahlbare Men- ge verfchiedener Vorftellungen die Seele von dem Gehörfinne durch diefe Modifikationen erhält. Wenn Töne (das Gefchrei derTbie- re und Vögel ausgenommen) von verfchiede- ner Höhe, Tiefe und Länge nebeneinan- der geftellt werden, fo entftehet die zufam- mengefetzte Vorftellung einer Melodie, Ein Mu fiter kann fich diefelbe vorftellen , ohne einen Ton zu hören oder hervorzubringen indem er blos über die Töne reHectirt, die er ohne äufsern Laut in. leiner Einbildungs- kraft zufammenfetzt.
5- 4-
INI odificationen der Farben,
Die Moditicationen der Farben find eben- falls fear mannichfaltig. Einige davon wer- den
Achtzehntes Kapitel/ 5i3
den als verfcbifdene Grade oder Sthartirun- gen einer und derfelben Farbe betrachtet. Selten wird aber entweder zum Ver^nü^en oder zum Nutzen, eine Partie Faibeai zu- fatnmeneefetzt , ohne eine gewiffe Figur mit einzumifchen , und daran 1 heil nehmen zu lauen , wie in Gemälden, in der Weberei» Stückerei u, f. w. Diefe gehören daher zu den gemifchten ßeßiinmurgen , welche aus verfchiedenartigen Vorftellungen als Faiben und Figuren zufammengefetzt find z. B. die Schönheit, der Regenbogen.
§. 5.
Modificationen des Gefchmacks»
Jeder zufammengefetzte Gefchmack und Geruch ift ebenfalls eine aus den einfachen Vorftellungen diefer Sinne zufammengefetzte Modilication : Da aber die Sprache für die meiften derfelben keine Worte hat , fo läfst fich nicht viel über fie bemerken und fchrei- ben, fondern fie muffen ohne Aufzählung der Erfahrung des Lefers überlaflen werden.
K k $. G.
5*4 Zweites Buch.
§. 6.
Ueberhaupt gilt hier die Bemerkung, dafs die einfachen Be f t i mm u n g en , wel- che nur als verfchiedene Grade derfel- ben einfachen Vorftellung betrach- tet werden, obgleich einige derfelben fehr verfchiedene Vorftellungen find, doch ge- wöhnlich, wenn der Unterfchied fehr klein ift, kein befonderes Wort in der Sprache ha- ben, und nicht als verfchiedene Vorftellun- gen unterfchieden werden. Ob man diefe Modifikationen überfehen und mit keinen Worten bezeichnet hat, weil es entweder an fcharfen Unterfcheidungsmerkmslen fehlte, oder weil , wenn das gefchehen wäre, ihre Kenntnifs von keinem allgemeinen und be- trächtlichen Nutzen gewefen wäre, mögen andere unterfuchen. Es ift für meinen Zweck hinreichend, wenn ich zeige, ciafs die Seele alle diete einfachen Vorßellungeii einzig; durch die Empfindung und I ton erhält,
dafs he diefelb&n auf mannicbfaj'.ige Art wie- derholen , verbinden und daraus neue zu- fararnengeretzte Vorftellungen bilden kann, Wfcün gieich jene einfachen Vorftellungen
nicht
Achtzehntes Kapitel« 5i£
nicht weiter beftimmt und zu neuen Vorftel- lungrn zufaunnengefetzt worden find, um fie mit Worten zu bezeichnen, uoJ in ge- wiiTe KLilTen zu ordnen , fo ift doch das mit andern z, B. Einheit, D^uer, Bewegung Denken , Vermögen geschehen.
§. 7-
Warum einige Mo dif ica tio neri mit Worten bezeichnet find, andere nicht.
Die Urfache davon fcheint die^e gewefen zu feyn. Die wichtigfte Angelegenheit der Menfchen betrifFt ihre gegenfei'ige Verbin- dnng. Dazu war die Kenntnifs der Men- fchen und ihrer Handlungen und die gegen» feitige Mitiheilung unumgänglich norhwen« dig. Daher unterfchieden fie die Vorftel- lungen von den Handlungen fchaTf nach al len Unterfcheiduigsmerkmalpn , und drück- ten drefe zufammengcfetzten Begriffe durclj Worte aus, um diejenigen Ohjpcte, mit wcl* chen fie täglich umgehen, von denen fie im- Kks met
5i6 Zweites Buch.
• iner Kenntnifle mittheilen und empfangen
muffen, defto leichier unterrcheiden , defto licherer aufbewahren ui:d ohne Umfchweife und Umfchreihungen davon fprechen zu köm en» Kurz die Menfchen Iafsen fich bei Bildung mancher zufammengefetzten Begriffe und Bezeichnung derfelben gröfstentheils durch den Zweck der Sprache überhaupt lei- ten, welche der kürzefte und ficheifte Weg ift, einander Vorftellungenmitzutheilen, Die- fes zeigt fich offenbar bei den Kunftworten für gewifle zufammengefefzte Begriffe von befonders eingerichteten Handlungen, wel- che zu der Abficht erfunden worden , um defto beftim tnter und kürzer über ditfe Ge- genftände Anordnungen zu machen, und da- von fprechen zu können» Solche Begriffe werden nicht von allen Menfchen gebildet, noch ihre Ausdrücke durchgängig verftanden, weil nicht alle mit folchen Operationen zu thun haben. Solche Worte find z. B, tiltri- len » Gohobation» Die zufammengefetzten Bügriffe , welche dadurch ausgedrückt wer_ dens findet man nur bei weuigen Menfchen, deren befondre Beschäftigung fie beftändig in ihr Bevvufstfeyn bringt, und die Worte
wer«
Achtzehntes Kapitel. 5iy
werden gewöhnlich nur von Chemikern ver- banden, welche fie crft gebildet haben, und einander wieder mittheilen. So ift eine grofse Mannichfaltigkeit von einfachen Ver- keilungen des Geruchs und Gefchmacks und ihrer Modificationen durch die Sprache nicht bezeichnet und in Klaffen geordnet worden, weil man fie entweder nicht allgemein genug beobachtete , oder weil ihre Kenntnifs für die menfehlichen Angelegenheiten und Ge- werbe von keinem grofsen Nutzen ift. Ein Mehreres wird darüber in der Abhandlung von den Sprachzeichen gefagt werden.
K k 3 Neun
5i8 Zweites Buch,
Neunzehntes Kapitel,
Von den Modificationen des Denkens.
§. I.
Empfindung, Erinnerung, Bc t r a c h t u n g u. f. w.
enn die Seele einen Blick auf ihr innres richtet, und ihre eignen Handlungen be- trachtet, fo ftelit (ich ihr zuerft das Denken dar. In dem leiben Jaflen ßch eine grofse Mannichfaltigkeit von Modificationen unter- fcbeiden, woraus verfchiedeue Begriffe ent- liehen. So ift die Vorsehung , welche mit dem Eindrucke eiues äufoern Objects verknüpft ift, eine Modificatinn des Denkens , welche lieh von allen andern unterfcheidet, Sie giebt^dera \ erftande den Begiiff einer Em- pfindung (fenfation/, welche gleich fam die Einführung einer Vorftellung in den Ver- band veruiitteift der Sinne ift. Wenn eben diefflbe Vorftellung ohne Einwirkung ihres Objects wieder in das Bewufstfeyn kommt,
f©
Neunzehntes Kapitel. Jicj
fo ift es die Er in n er ung. Sucht das Ge- müth diefelbe wieder hervor, und ruft fie mit Mühe und Anftrcngung ins Bewufstfeyn zurück, fo ift es das Entfinnen, Be- trachtung heifst die Art des Denkens, wenn das Gemüth bei einer Vorftellung lan- ge mit Aufmerkfamkeit verweilet. Wenn die Vorftellungen in dem Gemütbe ohne Re- flexion oder Beachtung des Verftandes a.b- und zufirümen, fo heifst das Trau m er e i» Werden die Vorfiellungen, welche fah felbft darbieten; beachtet, und gleich fam in das Ge- dächtnifs eingetragen, fo ift das die Aut- ln erkfamkei t. Wenn der Verßand mit Jntcrrfle und eigner Wahl feinen Bück auf eine Vorftellung heftet, he von allen Seiten betrachtet, und fich durch keinen Reitz an- drer Vorftellungen lofsreifsen läfst, fo nennt man dasForfchen und Studium. Der traumlofe Schlaf iß der Znftand, da alle die* fe Thätigkehen ruhen. Das Träumen ift der Zuftand des Getnüths , da die äufsern Sin- ne verfchloifen find, und nicht mit der fonft ^ewübnlichen Lebhaftigkeit Eindrücke auf- nehmen. Das Gemüth hat Vorftellungen, aber üe werden durch keinen äufsern Gegenft^nd Kk 4
620 Zweites Buch.
oder fonftige bekannte Veranlagung" geweckt, und flehen nicht unter der Wahl und der Leitung des Verftandes. Die Entzückung ift vielleicht ein Träumen bei offenen Augen» Doch überlaffe ich das andern zur Unter- fuchudg«
§.
Diefes find nur einige wenige BeiTpiele von den mannichfaltigen Modifikationen des Denkens, die man in Geh beobachten , und eben fo deutlich vorftellen kann, als aufsere Gegenwände z. B, einen Kreis, ein Viereck. Es ift hier nicht meine Abficht, diefe ganze Reihe von Voift: Illingen der Reflexion voll- ftändig darzuftellen , und ausführlich zu be- handeln : diefes würde ein ganzes Buch er- fodern. Ich begnüge mich an wenigen Bei* fpiclen gezeigt zu haben , von welcher Art diele Vorfiel! ungen find, und wie fie die Seele erhält, um fo mehr, da ich weiter un- ten Gelegenheit finden werde, von i\en nieikwürdigften Thüti^keiten des Gemiiths und den Befthnmungen des Denkens, als dem
Urthei-
Neunzehntes Kapitel, 52i
Urtheilen , Schliefsen , Erkennen und Wol- len ausführlicher zu handeln.
§•
Von den verfchiedenen Graden der A uf mer kfa m kei t beim Denken.
Was wir vorher von der Aufmcrkfanv kfit, der Träumerei, dem Traume u. f. vv. fagten, führt uns hier auf eine Betrachtung des verfchiedenen Zuftandes des Gemüths beim Denken — eine kleine Abfchweifung, die man uns defto eher verzeihen wird , da fie Ins von unferm Gegenltand nicht weit ab- führet. In dem wachenden Zu Rande find immer einige Vorfteilungen von einerlei oder verfchiedener Art der Seele gegenwärtig, diefs lehrt die Erfahrung, Der Verftand be* fchäftiget fich mit ihnen in verfchiedenen Graden der Aufmerksamkeit, Zuweilen rich- tet er die Aufmrrkramkeit mit dem größten IniereiTe auf die Betrachtung gewiffer Gegen- ftände, unterfucht diefe Vorßellungen von allen Seiten , bemerkt alle Yerhältnifle und Umftände , fafst jedes Merkmal fo fcharf und Kk 5 anse-
.0-2 Zweites Buc h.
angelegentlich auf, dafs alle andere Gedan- ken ausgefchloffen, und die gewöhnlichen Eindrücke auf die Sinne nicht bemerkt wer-* den, die bei einer andern Stimmung des Ge- müths fehr lebhafte Vorftcllungen würden veranlagt haböa« Zu eiuer andern Zeit wird die Reihe von VorfteSIungen, welche auf ein- ander folgen, blos beobachtet, ohne Lei- tung und weiteres Nachdenken des Verftan- Ces, Endlich ^ehen fie zuweilen , wie mat- te Schattenbilder, die keinen Eindruck ma- chen, faß ganz unbeachtet vorbei.
5'
Es wird daraus wahr fchein lieh, d a f s das Denken eine Hand- lung, nicht das Wefen der See- le itt.
Diefen Unterfchied zwifchen Anßren- gung und Erschlaffung der Denkkraft, nebft eiuer grofsen Mannichfaltigkeit von Graden zwifchen dem ernftlichen Nachdenken, und dem Nichtiiadidenken hat wohl jeder Menfch
in
Neunzehntes Kapitel. 5;3
in (ich erfahren. Kur noch einen Schritt weiter, und wir finden die Seele fcblafend, gleich fam zurückgezogen von den Sinnen und dem Wirkungskreife der Veränderungen in den Sinnorganen, die foult; lebhafte \ or- ftellungen erzeugten. £s iß nicht nöthig zum Belege Beifpiele von Menfchen anzuführen, welche eine ganze ftünnifche Nacht hindurch fchlafen, ohne den Donner zu hören, die Blitze zu fehen, oder die Erfchütterungcn des HauTes zu empfinden, welche den wa- chenden merklich genug find. Unge.ichtet diefer Abgezogenheit von den Sinnen behalt doch die Seele noch eine fehr regellofe und unznfammenhängende Art 2u denken, die man das Träumen nennt. Endlich ziehet auch hjer ein gefunder Schlaf diefen letzten Vorhang zu, und läfst alle Erfcheinungeu verfchwinden, Diefe Erfahrungen hat wohl -jeder an fich felbft gemacht, und die Beob- achtung über fich felbft leitet ohne Schwierig- keit auf diefe Bemerkungen. Was ich dar- aus folgere, iß diefes. Da die Seele ihre Denkkraft bald anfpanner. bald wiederum herabftimmen kann, dafs ihre Gedanken matt, dunkel oder wohl gar wenig mehr, als nichts
find,
5^4 Zweites Buch«
lind, da fie in ihrer Abgezogenheit in dem tiefen Schlafe endlich alle ihre Vorftellungen gleichfam aus dem Gefjcht verliert j und alles diefes eine unleugbare Erfahrung und That- fache ift , fo frage ich, ob es nicht wahr- fcheinlich fey , dafs das Denken eine Thä t igkei t a ber nicht das Wefen der Seele ift? Denn die Wirkungen eines handelnden Wefens find eines höhern und mindern Grades empfänglich • aber bey dem Wefen eines Dinges lälst fich kein folcher Gradunterfchied denken. Doch diefes be- merke ich nur im Vorbeigehen»
Zwan.
Zwanzigftes Kapitel, 5a5
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Zwanzigftes Kapitel,
Modiilcationen des Vergnügens und Schnierzens
Vergnügen und Schmerz find ein- fache V o rf t eilungen,
^♦nter den einfachen Vorftellungen , welche wir fowohi ans der Empfindung als der Re- flection erhalten , liehen Vergnügen und Seh m e rz oben an. Ein Eindruck in dem Körper ift entweder eine blofse Veränderung oder mit Vergnügen und Schmerz verknüpft. Eben fo ift jede Vorftellung der Seele entwe. der eine blofse oder eine mit Vergnü- gen und Schmerz, Luft und Unlufc verg efe 11 fc haftete Vorftellung.
Diefe können fo wenig, wie andre einfache Vorftellungen befchrieben, oder ihre Aus- drücke erkläret werden; der einzige Weg fie zu erkennen, ift die Erfahrung. Denn wenn man fie auch als ein gegenwärtiges Gut oder
Lebe!
5:6 Zweites Buch;
Uebel erkläret, To läfst fich doch das auf kei- ne ai:dre Art erkennen , als wenn man refle- ctin, was man empfindet, wenn uns das Gute undBöTe nach Verfchiedenheit der Rich- tung und Befrachtung auf mannichfaltige Art äfficieret*
f. 2,
Was das Gute und Büfe ift.
Die Dinge find nur gut oder boTe in Be* Ziehung auf Vergnügen oder Schmerz. Gut nennen wir dasjenige, was in uns Vergnü- gen erwecken, vermehren und Schmerz vermindern; oder was den Befitz eines andern Gutes ver- schaffen und fichern, und ein Uebel entfernen kann. Böl'es hin- gegen ift was Schmerz verur Fachen oder vermehren und das Vergnü- gen vermindern, was uns ein an- dres Uebel zuwege bringen, oder eines Guten berauben kann. Man ffiuTs hier Vergnügen und Schmerz fowohl- 4es Körpers als des Geiftes vergehen, fo
wie
Zwanzigftes Kapitel, 527
wie fie gewöhnlich unteTfchieden werden. Im Grunde find fie aber beide nur verfchie- dene Befthninnngen des Gemüths, welche bald durch den Zuftaud des Körpers, bald durch gewifle Vorftellungen der Seele vevur- facht werden,
§♦ 5.'.
Die Lei denfe haften werden durch das Gute und ßöfe in ße'.veguUg gefetzt*
Vergnügen und Schmerz, und was fie hervorbringt, Gutes und Eüfes find die An- geln in welchen Geh unfre Leidenfchaften drehen» Wenn wir in uns beobachten , wie diefe in verfchiedener Richtung auf uns wir- ken , welche Modificafionen und Stimmun- gen des Gemüths und fo zu Tagen innere Em- pfindungen fie hervorbringen, fo können wir daraus die Begriffe von unfern Leiden- fchaften ziehen.
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528 Zweit «3 Buch.
§. 4. Liebe.
I>!ß Reflexion auf die Empfindung der Luft, weiche ein gegenwärtiger oder abwe- fenrier Gegenftand erzeugen kann , giebt den Begriff von der Liebe. Wenn ein Menfcb, Tagt , er liebe die Weintrauben , es fey im Herbft, wenn er fie ifst , oder zu einer an- dern Jahrszeit , da fie noch nicht find , fo iffe es fo viel, als das Eflen derfelben ifi: für ihn angenehm. Gehet aber eine Verände- rung, in feiner Gefundheit oder körperlichen Befchaffenheit vor , weiche diefe angeneh- me Empfindung zerftöhret, To kann man nicht mehr fagen , er liebe diefe Frucht«
§. 5. Hafs,
Hafs ift im Gegentheil die VorßelfuHg der Utiluft, welche ein gegenwärtiger oder abwefentier Gpgcnftand hervorbringen kann» Wenn lieh nickt meine Abficht auf die bJofse
Dar
Zwanzigstes Kapitel. 5ig ~
Darftellung der begriffe von Leidenfchaftenr als Modifikationen der Luft und Unluft ein- fchränkte , fo würde ich noch bemerken, dafs fich Liebe und I Jafs gegen Ieblofe Dinge gemeiniglich auf die Luft und Unluft grün- det, welche" durch ihren oft mit Zerftöhrung verknüpften Gebrauch für die Sinne und ihr Verhähnifs zu diefen entftehet. Liebe und Hafs gegen empfindende Wefen ift oft nur die Luft und L'uluft, welche in uns aus der Vo.rftellung ihres Lebens und Wohlfeyns ent- flehet. So liebt ein Vater feine Kinder, ein Freund den andern, weil ihr Leben und Wohlfeyn ein beftändig,eT . Gegenstand des Vergnügens ift. Doch es ift hier genug, be- merkt zu haben , dafs unfre Empfindungen der Liebe und des Haffes nur Beftimmungen des Geraüths in Beziehung auf Luft und Un- luft überhaupt find, ohne alle Rückficht auf den Entftehung'igrund derfelben,
'§. 6, Verlangen»
Das Verlangen ift die Unluft, die ein
Menfch aus der Abvvefenheit eines Dingts L 1 ein-
S3o Zweites Buch.
empfindet, deflen GenuTs mit Vergnüge» verknüpft ift. Das Verlangen ift um fo grö- fser oder kleiner als es die Unluft ift. Viel- leicht ift hier die Nebenbemerkung nicht oh- ne Nutzen, dafs Unluft und Schmerz wo nicht die einzige doch die vorzüglichfte Triebfeder der menfehlichen Thätigkeit ift» Denn was für ein Gut man fich auch vor- teilt, wenn die Abwefenheit deftelben kein Mifsvergnügen , oder Unluft bei fich führet, wenn man ohne dafTelbe vergnügt und zu- frieden ift» fo entftehet kein Verlangen, kein Beftreben darnach , fondern nur ein blofses Wollen (Velleity), der niedrigfte Grad des Verlangens , oder eigentlich das , was dem Nichtverlangen am nächften kommt. In die- fem Falle ift die Unluft über die Abwefenheit eines Dinges fo klein, dafs fie nur einige fchwache Wünfche nach demselben hervor- bringt, ohne thatige und ernftliche Anwen düng der Mittel zur Erlangung deflelben. Das Verlangen wird auch durch die Meinung von der Unmöglichkeit oder Unerreichbar- keit des Guten erftickt oder gefch wacht, in^ forern die Uniuft durch diefe Befrachtung gehoben güsi gemindert wird. Diefs kann
Stoff
Zwanzigftes Kapitel. 65 1
Stoff zu weitem Unterfuchungeu geben, die aber nicht hieher gehören,.
$• 7- Freude.
Freude ift das Vergnügen der Saele, aus Betrachtung des gegenwärtigen oder doch des zuverlässigen nahen Befitzes eines Gutes. Man ift aber dann im Befitz eines Gutes, wenn man es fo in feiner Gewalt hat, dafs man es zu jeder Zeit geniefsen kann. So freuet fich ein Ausgehungerter» wenn ihm Lebensmittel gebracht werden, noch ehe er fie genieffet. Ein Vater, dem das Wohlfeyn feiner Kinder Vergnügen macht, ift fo lange im Befitz diefes Gutes, als feine Kinder in diefem Zuftande fich befinden; denn er braucht nur daran zu denken, uni es zu em- pfinden«
'§'. 8 — 13.
Traurigkeit, Hofnung, Furcht, Verzweiflung, Zorn, Neid.
Traurigkeit ift die Unlufl: der Seele. welche aus der Voiftellung eines verlornen LI 2 G
55a Zweites Buch.
Gutes, das man länger hätte genießen können, oder aus der Empfindung eines gegenwärti- gen Uebels entfpringt. Die Hofnung ift das Vergnügen aus der Vorftellung des künf- tigen Genaues eines Dinges, welches Ver- gnügen erwecket, Furcht ift Unluft aus der Vorfiellung eines künftigen Uebels, das einen wahrfcheinlich überfallen wird. Ver- z weifelu n g ift die Vorftellung von der Unerreichbarkeit eines Guts , welche auf das menfchlicbe Gernüth nicht auf einerlei Weife wirkt, fondern bald Unlufi und Schmerz, bald Ruhe und Gleichgültigkeit hervorbringt. Zorn iß Unluft oder Beunruhigung des Ge- müths über eine empfangene Beleidigung mit dem VorTatz fich fogleich zu rächen. Neid ift die Unbebaglichkeit des Gemülhs, welche aus der Vorftellung entfpringt, dafs e^in an- derer ein Gut, das Object unfers Begehrens, erreicht hat, welches er unfrer Meinung nach nicht vor uns hätte erlangen follen»
$. i4.
Zwanzig ft es Kapitel. 533
§♦ 14.
Welche Leidenfchaften bei al- len Menfchen gefunden wer- den.
Zorn und Neid werden nicht fchlechthin durch Vergnügen und Schmerz erzeugt, f0n_ dem es find mit denfelben noch gewiffe ver- mifchte Rückfichten auf uns und andre ver- webt, nehmlich die Schätzung des Verdien- ftes und der Vorfatz der Rache, Daher fin. det man fie nicht, bei allen Menfchen, weil nicht alle dL-fe Rückfichten haben. Alle übrigen Leidenfchaften, welche fich blos auf Vergnügen oder Schmerz beziehen, können wohl bei allen Menfchen gefunden werden» Denn wir lieben, verlangen, freuen uns und hoffen zuletzt doch nur in Rückficht auf das Vergnügen, wir hoffen, fürchten und betrü- ben uns nur in Beziehung auf Schmerz. Kurz alle Gegenftande erregen nur infofern© Leidenfchaften . in wiefernc fie als Urfachen der Luft und Unluft erfeheinen, oder als mit Vergnügen und Schmerz auf gewiffe Weife verknüpft gedacht werden. Der Hafs er- ftreckt fich gewöhnlich auf das Object, wel- L 1 5 ches
r>54 Zweites Buch.
ches uns webe gethan hat, zum wenigften, wenn es ein empfindendes und mit Freiheit Handelndes Wefen ift; denn die Furcht, die es zurücklägt, äft ein unaufhörlicher Schmerz. Hingegen liebt man nicht fo fortdauernd das- jenige, was uns Gutes gethan hat, weil d^s Vergnügen nicht fo ftark als der Schmerz auf uns wirket, und weil man nicht geneigt ift, zu hoffen , es werde ein andermal wieder fo gegen uns handeln. Doch diefs ift nur eine Nebenbeinerkung.
§. 15» 16. Was Vergnügen und Schmerz ift.
In diefem ganzen Abfchnitt mufs unter Vergnügen und Schmerz, Luft und Unluft nicht allein körperliches Vergnügen und kör. perlicher Schmerz, fondern auch jede Luft und Unluft verftauden werden, welche aus einer angenehmen oder unangenehmen Em- pfindung oder Reflexion entfpringt. In Be- ziehung auf die Leidenfchaften wird auch die Entfernung und Verringerung eines Schmer?,es als ein Vergnügen und die Ent- fernung oder Verminderung eines Vergnügens als ein Schmerz betrachtet,
§• 17.
ZvranzigTtes Kapitel. &3»
§• 17*
Schaam»
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Die meißen Leidenfchaften wirken auch auf den Körper, und bringen in demfelbea mancherlei Veränderungen hervor, Diefe Foleen machen aber kein notwendiges Merkmal des Begriffes von jeder Leiden- ichaft aus, weil fie nicht allezeit wahrnehm- bar find. So wird die Schaam d. i. eine Unlufl, welche aus dem Gedanken entflehet, dafs «nan etwas gethan hat, welches unan- Händig ifl, oder die Achtung anderer gegen uns verringern kann, nicht allezeit von ei- nem Erröthen begleitet.
Die atigeführten Beifpiele zei- gen uns, wie die Vorftellun- gen von Leiden fc haften aus der Empfindung und der R e* flexion entfp ringen, i
Was ich in diefem Ab(chnitt gefagt habe, darf ja nicht für eine Abhandlung' von den Leidenfchaften angefehen werden. Es giebt
noch
535 Zweites Euch.' 2o Kap.
noch mehrere, als ich angeführt hahe, und jede derfelben erfodert noch eine weit aus- führlichere und fchärfere Umerfuchung. Die angeführten find hier nur als eben fo viele Beifpiele von den Modifikationen der Luft und Uuluft, welche aus der verfchiedenen Betrachtang des" Guten und Büfen entfprin- gen, aufgeftellt worden. Ich hätte zu die- fen vielleicht noch andre einfachere Modifi- cationen wählen können, z. B. die Empfin- dung des Hungers und Durftes ; das Vergnü- gen des Eflens und Trinkens ; den Schmerz reizbarer Augen ; das Vergnügen der Mufikj das Mifsveignügen über eine verfängliche nicht belehrende Zänkerei und das Vergnü- gen aus der vernünftigen Unterhaltung mit einem Freund, oder aas dem wohlgeordne- ten Gebrauch 3er Verüandeskräfte in Erfor« fchung der Wahrheit. Allein ich wählte die- fe fJeifpieJe lieber von Leiden fchaften, weil fie uns mehr interefliren, um zu zeigen, wie ufifre Vorftelluiigen von ihnen aus der Em- pfindung und der Ruflexion abgeleitet find»
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§. II*
Die Seele i ft fich nicht allezeit des Denkens bewufst»
Ich räume ein, dafs die Seele in einem ■wachenden Menfchen immer denkt, denn dar- in befteht eben das Wachen. Ob aber ein Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des ganzen Menfchen, der Seele fowohl , als des Körpers fey, ift eine Frage, die wohl ver- diente, von einem Wachenden unterfucht zu werden. Denn es ift kaum denkbar, dafs ein Wefen denke, ohne fich deffen bewufst zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla- fenden Menfchen denkt, aber ohne Bewufstfeyn, fo frage ich : bat fie während d:m Denken ein Gefühl von Luft und Uuluft, ift fie der Glückfeligkeit oder des Elends em- pfänglich? Allein ich denke ein folcher Menfch ift deflen fo wenig empfänglich, als das Bette oder die Erde, worauf er liegt* Denn glückfelig oder elend feyn, ohne davon ein Bewufstfeyn zuhaben, fchefnt tc.ir wi derfprechend und .unmöglich. Oder wenn es möglich ift, dafs die Seele, wäh- rend
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Erftes Kapitel.
rend deflen der Körper fchläft, für fich den- ket, für lieh ihren eignen Genurs, Kummer, Vergnügen und Schmerz hat, wovon der Meufch nichts weifs, woran er keinen An- theil nimmt, fo ift gewifs der fchlafende Sokrates und der wachende Sokra- tes nichteine und diefelbe Perfon , fondern d<-r wachende Sokrates, der aus Leib und Seele beftehet , und die Seele des Sokrates, wenn er fchläft, find zwei Perfonen. Denn der wachende Sokrates hat keine Kenntnifs von dem, was feine Seele in dem Schla e denket, und ift fo gleichgültig gegen das ganz ifolirre angenehme oder unangenehme Gefühl derfelben in diefem ihm unbekannten Zuftan- de, als gegen das Glück oder Unglückeines unbekannten Menfchen in Indien. Denn worinn follte man noch die Identität der Per- fon fetzen, wenn man alles Bewufstfeyn un- frer Handlungen und Empfindungen, vorzüg. lieh des Vergnügens und des Sehmerzens, und des damit verknüpften Interefles aufhebt?
§» 12.
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Ich räume ein, dafs die Seele in einem wachenden Menfcben immer denkt, denn dar- in befteht eben das Wachen. Ob aber ein Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des ganzen Menfchen, der Seele fowohl , als des l\örpers fey, ift eine Frage, die wohl ver- diente, von einem Wachenden unterfucht zu werden. Denn es ift kaum denkbar, dafs ein Wefen denke, ohne fich deffen bewufst zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla- fenden Menfchen denkt, aber ohne Bevvufstfeyn, fo frage ich : bat fie Während dem Denken ein Gefühl von Luft und Unluft, ift fie der Glückfeligkeit oder des Elends em- pfänglich ? Allein ich denke ein fclcher Menfch ift deffen fo wenig empfänglich, als das Bette oder die Erde, worauf er liegt. Denn glückrelig oder elend feyn, ohne davon ein Bewufstfeyn zuhaben, fchefnt irir wi derfprechend und .unmöglich. Oder wenn es möglich ift, dafs die Seele, wäh- rend
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Elftes Kapitel.
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Zweites Buch. §. II.
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Die Seele ift fich nicht allezeit des Denkens bevvufst»
Ich räume ein, dafs die Seele in einem wachenden MenTchen immer denkt, denn dar- in befteht eben das Wachen. Ob aber ein Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des ganzen Menfchen, der Seele fowohl , als des Körpers fey, ift eine Frage, die wohl ver- diente, von einem Wachenden unterfucht zu werden» Denn es ift kaum denkbar, dafs ein Wefen denke, ohne fich deflen bewufst zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla- fenden Menfchen denkt, aber ohne Bewufstfeyn, fo frage ich : bat fie während dem Denken ein Gefühl von Luft und Unluft, ift fie def Glückfeligkeit oder des Elends em- pfänglich? Allein ich denke ein folcher Menfch ift deflen fo wenig empfänglich, als das Bette oder die Erde, worauf er liegt» Dennglückfelig oder elend feyn, ohne davon ein Bewufstfeyn zu haben, fchefnt irir wi derfprechend und .unmöglich. Oder wenn es möglich ift, dafs die Seele, wäh- rend
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Erfte9 Kapitel.
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Die Seele ift fich nicht allezeit des Denkens bewufst»
Ich räume ein, dafs die Seele in einem "wachenden Menfchen immer denkt, denn dar- in befteht eben das Wachen. Ob aber ein Schlaf ohne Traum, nicht ein Zuftand des ganzen Menfchen, der Seele fovvohl , als des Körpers fey, ift eine Frage, die wohl ver- diente, von einem Wachenden unterfucht zu werden» Denn es ift kaum denkbar, dafs ein Wefen denke, ohne fich deffen bewufst zu feyn ! Wenn die Seele eines fchla- fenden Menfchen denkt, aber ohne Bewufstfeyn, fo frage ich: bat Jie während dem Denken ein Gefühl von Luft und Unluft, ift fie der Glückfeligkeit oder des Elends em- pfänglich? Allein ich denke ein folcher Menfch ift deßen fo wenig empfänglich, als das Bette oder die Erde, worauf er liegt» Dennglückfelig oder elend feyn, ohne davon ein Bewufstfeyn zu haben, fchefnt mir wi tlerfprechend und .unmöglich. Oder wenn es möglich ift, dafs die Seele, wäh- rend
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