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VIRGIL IM MITTELALTER.

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VIRGIL IM MITTELALTER

VON

DOMENICO^COMPARETTI.

AUS DEM ITALIENISCHEN ÜBERSETZT

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HANS DÜTSCHKE,

DR. PHIL.

LEIPZia,

DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER. 1875.

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Vorrede des Uebersetzers.

Eine Geschichte Virgils im Mittelalter erscheint auf den ersten Anblick als eine literargeschichtliche Specialität, die mehr oder weniger nur für Fachgelehrte bestimmt ist. Wird sie jedoch von einem so umfassenden Gesichtskreise ans dargestellt, wie in dem vorliegenden Buche Dom, Comparetti's, so darf sie wol auf ein allgemeineres Interesse rechnen. In der That hat es der Verfasser verstanden, den scheinbar so entlegenen Stoff zu einem Culturbilde von Bedeutung auszudehnen, dessen Betrachtung in den religiösen Kämpfen der Gegenwart für uns Deutsche ebenso anziehend als nützlich sein dürfte. Und hierin liegt zugleich ein anderer Grund, welcher mir eine Uebertragung des italienischen Werkes ins Deutsche als lohnend erscheinen liess. Es ist ja eine nicht mehr zu be- schönigende Thatsache, dass in dem grossen Culturkampfe gegen den römischen Geist der Finsterniss und Unfreiheit Deutschland fast allein die Ehre gebührt, den Streit mit jugendlichem Muthe und männlicher Umsicht auszufechten, ohne dabei von seinen politi- schen Freunden imterstützt zu werden. Um so wolthuender muss es deshalb wirken, wenn wir einen Italiener einmal frei und rück- haltslos sich äussern hören über die traurigen Zustände, mit denen die Herrschaft des Papstthums und des mittelalterlichen Clerus die Menschheit beschenkt haben. Erbarmungsloser als in Comparetti's Buch ist das Mittelalter wol freilich nie verdammt worden, und es steht dahin, ob das rechte Maass dabei stets eingehalten ist. Was ferner die allgemeinen Urtheile des Verfassers über das Christenthum betrifft, so hoffe ich, dass die Mehrzahl der deutschen Leser die- selben ebensowenig unterschreiben werden, wie dies jedem Ueber- setzer zu thun in den Sinn kömmt. In Italien freilich, wo die

jv Vorrede des Uebersetzers.

grosse Masse des Volkes entweder dem Aberglauben oder dem noch bequemeren Skepticismus unterliegt, und wo ein Bindeglied zwischen Vernunft und Empfindung, etwa in der Weise des deutschen Pro- testantismus, undenkbar wäre, werden derartige Ansichten kaum auffallen, für deren richtige Beurtheilung sich der Leser also auf einen speciell italienischen Standpunkt zu stellen hat.

Von Missverständnissen des Originals ist, wie ich hofie, meine üebertragung frei; wenigstens ist bei einigerraaassen schwierigen Stellen die besondere Erklärung des Verfassers zu Rathe gezogen worden. Was endlich die Form des Buches anlangt, so habe ich mich natürlich aller der Freiheiten bedient, welche mir bei einer deutschen üebertragung zum Zwecke der Verständlichkeit des Wer-. kes geboten schien, so dass dasselbe an einigen Stellen den Charakter einer freien Bearbeitung angenommen hat. Eine wört- liche Verdeutschung wäre bei der stark rhetorischen Färbung und der füi* uns Deutsche etwas zu künstlichen Ausdrucksweise des Originals gar keine Verdeutschung gewesen!

Florenz, April 1875.

Hans Dütschke.

Vorrede des Verfassers.

In dem vorliegenden Buche gedenke ich die ganze Geschichte des Ruhmes, den Virgil die Jahrhunderte des Mittelalters hindurch genoss, zu behandeln, seine verschiedenen Entwickelungsstufen dar- zulegen und Natur und Ursachen derselben, so wie die Beziehungen, welche sie mit der europäischen Culturgeschichte verknüpfen, zu untersuchen. Ich unternehme also Etwas, das noch kein Anderer unternommen hat, wenngleich der Virgil des Mittelalters schon Gegenstand einiger Monographieen gewesen ist. Die kleinen Schriften von Siebenhaar (l) und Schwubbe (2) bieten nur einige und auch nur allgemein bekannte Bemerkungen dar. Mit grösserer Gelehr- samkeit und auf einem höheren Standpunkte stehend haben Piper (3) und Creizenach (4) die eine Seite dieses Ruhmss besprochen. Michel (5), Genthe (6) und Milberg (7) wollten zwar den Stoff in seiner Gesammtheit darstellen, aber widmeten demselben doch ver- hältnissmässig sehr kurze Arbeiten und beschränkten sich darauf, ihn

(1) De fabulis quae media aetate de Public Virgilio Marone circum- ferebantur. Berlin, 1837. 8 Seiten.

(2) P. Virgilius per mediam aetatem gratia atque auctoritate floren- tissimus. Paderborn, 1852. 18 Seiten.

(3) Virgilius als Theolog und Prophet des Heidenthums in der Kirche im „Evangel. Kalender." Berlin, 1862. p. 17—82.

(4) „Die Aeneis, die vierte Ecloge und die Pharsalia im Mittelalter." Frankfurt a. M., 1864. 37 Seiten.

(5) „Quae vices quaeque mutationes et Virgilium ipsum et ejus car- mina per mediam aetatem exceperint." Lut. Par. 1846. 75 Seiten.

(6) „Leben und Fortlebeti des Publius Virgilius Maro als Dichter und Zauberer." Leipzig, 1857. 40 Seiten.

(7) „Memorabilia Vergiliana." Misenae, 1857. 3* Seiten. „Mira- bilia Vergiliana." Misenae 1867. 40 Seiten.

yj Vorrede dee Verfaseers.

nur beiläufig und obenhin in anekdotischer Weise und ohne irgend welche wissenschaftliche Tiefe zu behandeln. Das, was bei dem Ruhme Virgils während des Mittelalters besonders hervorstach und allgemein auffiel, was femer durch seine Berühmtheit und Eigen- thüralichkeit am meisten anzog, war die Sage vom Zauberer Virgil, welche von vielen Schriftstellern erwähnt ward, die vom sieb- zehnten Jahrhundert an in Schriften und Sammelwerken aller Art dieselbe, wie es der Zufall mit sich brachte, berichteten und als eine Merkwürdigkeit betrachteten, ohne sich auf eine genauere For- schung einzulassen (l). Der Erste, welcher ihre planmässige Unter- suchung in einem freilich mehr durch seine Reichhaltigkeit und Neuheit der Bemerkungen, als durch Methode und Urtheil aus- gezeichneten Werke unternahm, war Du Méril (2). Die eigentlich richtige, historische Forschung hat auf jene Sage zuerst Roth (3) angewandt, dessen Arbeit ohne Zweifel unter allen, welche bis jetzt über diesen Gegenstand erschienen sind, die beste und wich- tigste ist.

Aber der Zauberer Virgil bildet nur eine Seite und Stufe in der Geschichte von dem Ruhme Virgils, die nicht zu verstehen ist, wenn man sie gesondert von den anderen betrachtet. Jene Vor- stellung entspringt zwar im Volke, aber verbreitet sich doch in der Literatur und unter den Gelehrten, was nicht möglich gewesen wäre, wenn sie hier nicht gleichartige Bestandtheile vorgefunden hätte. Hieraus ergibt sich die Trennung meiner Arbeit in zwei Theile; und zwar vperden im ersten die Umwandlungen, welchen der Ruhm Virgils in dem Kreise der überlieferten, gelehrten Lite- ratur unterlag und zwar innerhalb des vor der Renaissance liegen- den Zeitraumes, der für die Italiener in dem Virgil Dante's seinen glänzenden Abschluss findet, untersucht werden, während im zweiten erforscht und gezeigt wird, wie sich jener Ruhm gestaltete, als die Volkssage in den neuen, aus der Entwicklung der von der über-

(1) Unter ihnen zeichnen sich durch die Reichhaltigkeit von Be- merkungen aus: Hagen, Gesammtabenteuer, III. CXXIX CXLVII und Massmann, Kaiserchronik III, 421—460. "

(2) „De Virgile Tenchanteur" in seinen „Melanges archeologiques et litteraires." Paris, 1850. p. 424—478.

(3) „Ueber den Zauberer Virgilius" in Pfeiffers Germania IV, 257 298.

Vorrede des Verfassers. VII

lieferten Kunstweise unabhängigen Volksliteraturen hervorgehenden Gedankenkreis eindrangen. Für den ersten Theil, welcher der wesentlichste und schwierigste ist, habe ich den Boden fast ganz unvorbereitet gefunden. Nur hier und da und in geringem Maasse konnte mir eine Arbeit Zapperts (l) von Nutzen sein, in Avelcher der Verfasser zum grössten Theil mit einer Fülle von Beispielen eine Thatsache erläutern wollte, welche ich auf eine ganz andere Art betrachtet und dargestellt habe (2). Empfindlich war für mich besonders eine Lücke der Wissenschaft, welche sich in dem Mangel einer vollständigen und gründlichen Geschichte der klassi- schen Studien im Mittelalter zeigt. Bei der Zunahme unserer Kenntnisse hat das Werk von Heeren heute nur noch eine imter- geordnete Bedeutung; auf keinen Fall genügt dasselbe, wenn man sich die Vorstellung, welche das Mittelalter vom Alterthume und den grossen alten Schriftstellern hatte, klar machen will. Die Er- klärer des Dante, welche, was den Virgil der Divina Commedia betrifft, Gelegenheit gehabt hätten, den Euhm des Dichters in der mittelalterlichen Literatur zu untersuchen, begnügten sich gar zu sehr mit allgemxcinen Bemerkungen, so dass ich zu der aus mehreren Gründen wichtigen Untersuchung der Eigenthümlichkeit des Dante- schen Virgils auf einem zwar vor mir noch nicht betretenen, doch wie ich vermuthe, richtigen Wege vordringen musste. Indem ich diese Bemerkungen mache, möchte ich jedoch nicht missverstanden werden. Ich will nur sagen, dass ich hier nicht wiederhole, was schon einmal gethan ist; doch bin ich weit entfernt davon, die Verdienste derer, welche auf irgend eine Weise vor mir eine ähn- liche Arbeit unternommen haben; zu verkennen. Obgleich ich die ganze Behandlung dieses Gegenstandes nach einem vollständig neuen und mir angehörigen Plane entworfen habe, gestützt auf Gedanken und Thatsachen, die sich mir zi;m grössten Theil aus meinen eigenen Studien und Forschungen ergeben haben, so habe ich doch für einige Theile nicht geringen Nutzen aus dem bereits gesammelten und von Gelehrten durchforschten Stoffe geschöpft,

(1) „Virgils Fortleben im Mittelalter." Wien (Ak. d. Wiss.), 1851. 54 Seiten in Folio.

(2) Vgl. S. 145 Anm. 1 und S. 208 Anm. 2.

YJII Vorrede des Verfassers.

welche letztere von mir einzeln an den betreffenden Stellen genannt werden, und gegen deren Wissen und edle Mühen ich auch nicht im Geringsten ungerecht erscheinen möchte.

Was eine streng wissenschaftliche Behaudhmg dieses Stoffes in seiner ganzen Ausdehnung erschwert, und worin vielleicht der Grund liegt, dass man denselben bis jetzt nicht behandelt hat, ist der Umstand, dass ein Gelehrter nur gar zu selten das Studium der klassischen nddt dem der romantischen Literatur verbindet. Beide begegnen und vennischen sich in der Geschichte Virgils im Mittelalter der Art, dass ein Verständniss jener ganzen Geschichte und der Beziehung ihrer Theile zueinander nicht möglich ist, wenn man seine Studien auf die eine von beiden Literaturen beschränkt. Was meine Richtung, mag man dieselbe glücklich oder unglück- lich nennen, so wie die sich daraus ergebende Ausdehnung meiner Studien anlangt, so ist es mir gelungen, mit gleicher Liebe diese beiden Zweige des Wissens zu umfassen, die mir durchaus nicht so miteinander unvereinbar scheinen, wie es vielen noch heute vor- kömmt. Ich habe sie beide mit Neigung und Interesse gepflegt und mich bemüht, auf beiden Gebieten über den einfachen Dilettan- tismus hinauszugehen. Es schien mir demnach, dass meine Ver- trautheit mit jenen beiden Seiten des heutigen Wissens sich mit Glück bei einem Werke dieser Art verwenden Hesse, obwol ich mir nicht verhehlt habe, wie schwer die Aufgabe war. Einen ersten Abriss veröffentlichte ich vor einigen Jahren in der „Nuova Antologia" (l), wobei der hauptsächlichste Theil aber nur eben erst entworfen war. Zeit iind weiterer Arbeit bedurfte es, um jenen ersten Abriss des Werkes in der Form wie in den Ver- hältnissen der Theile zueinander zu Ende zu führen, wie dasselbe heute dem Leser vorliegt.

Mancher wird sich darüber wundern, dass mein Buch mehr liefert, als der Titel verspricht, und dass ich, anstatt mich auf das Mittelalter zu beschränken, meine Darstellung mit der Zeit selbst, in welcher der grosse Dichter lebte, beginne. Dazu war ich jedoch genöthigt, damit man die Voi'stellung des Mittel-

CD Vol. I (1866), p. 1—55; IV (1867), p. 605-647; V (1867), p. 659-703.

Vorrede des Verfassers. IX

alters in ihren Ursachen verstehen und sie aus dem, was ihr voraufging, erklären konnte. Hiervon habe ich jedoch nur geredet, so weit es die Natur und Ausdehnung des Zweckes verlangte, und für die dem Mittelalter voraufgeheuden Jahrhunderte nur die wesentlichsten Grundzüge meines Stoffes angegeben. Deutlicher und gründlicher hätte ich dabei sein können, wenn es mir ver- gönnt gewesen wäre, den Gedanken von dem Einflüsse, welchen Virgil in diesen Jahrhunderten auf die literarische Thätigkeit aus- übte, weiter zu entwickeln; aber dies hätte mich dazu gebracht, diesem Theile meines Werkes eine Ausdehnung zu geben, wie sie bei einem Buche, dessen Hauptzweck ein anderer ist, nicht ge- stattet gewesen wäre. Eine gründlichere Behandlung dieses Stoffes ist dem vorbehalten, welcher die Geschichte des Stils und der Sprache des literarischen Lateins während der Kaiserherrschaft, so wie die der grammatischen Wissenschaften bei den Kömern schreiben wird : Arbeiten, die noch nicht unternommen sind, und für die noch nicht einmal der gesammte Stoff hinreichend vorbereitet und be- arbeitet ist.

In der Absicht, mein Buch, was den Virgil des Mittelalters betrifft, so vollständig wie möglich zu machen, erschien es mir nützlich und für den Leser angenehm, die hauptsächlichsten Texte der Virgilsage beizufügen^), von denen einige noch nicht heraus- gegeben waren, die meisten aber in verschiedenartigen xmd nicht leicht zu beschaffenden Werken zerstreut sind. Sie alle publiciren zu wollen, wäre zu viel gewesen. Ich habe mich auf die für die Geschichte der Sage wichtigsten Texte beschränkt, welche ich be- sonders den drei Literaturen entlehnt habe, in denen jene in her- vorragender Weise zur Darstellung kam, der italienischen, französi- schen und deutschen. Da ich ferner Gelegenheit hatte, bei den Virgilsagen des italienischen Volksbuches vom Zauberer Pietro Bar- liario zu gedenken, so hielt ich es für zweckmässig, am Schlüsse des Werkes auch dieses Büchlein mit abzudrucken, das in Italien mehr dem Volke als den Gelehrten, ausserhalb Italiens aber voll- ständig unbekannt ist.

Der einsichtige Leser wird leicht begreifen, weshalb bei

1) Sie sind in der vorliegenden üebersetzung fortgeblieben.

^ Voiiede des Verfassers.

einem Werke von der Natur des vorliegenden in einigen Capiteln weniger unmittelbar und bestimmt von Virgil die Rede ist. Durch Erzählung alter Fabeln und sonderbarer Thatsachen ergötzen und überraschen zu wollen, ist nicht der Zweck meines Buches. Was mir dieses Studium Averth machte und so viel Mühe darauf ver- Avenden liess, ist vielmehr jener wichtige Theil von der Geschichte des Menschengeistes, der sich in den mannigfachen und zahlreichen Erscheinungen, die seinen Stoff ausmachen, wiederspiegelt. Der Leser wird bemerken, ob ich mich getäuscht habe, wenn ich meinte, dass man über einen solchen Gegenstand nachdenken und etwas Ernsteres und Tieferes schreiben kann, als ein Werk, das blos gelehrte Merkwürdigkeiten enthält. Ich habe ferner als Italiener nicht vergessen, dass mein Stoff seiner Natur nach italienisch ist und für Italiener Interesse hat. Ich habe in der That ohne Leiden- schaft geschrieben und mich bemüht, so weit als möglich sub- jective Verblendung fernzuhalten oder zu beschränken. Wenn eine derartige Empfindung mich doch dazu gebracht haben sollte, zu irren, so Avürde mir dies leid thun; ich Avürde dann aber auch den allzustrengen Richter bitten, sein eigenes Gewissen wol zu be- fragen, ob er in der That das Recht hat, deshalb den ersten Stein auf mich zu werfen.

Pisa, im Juni 1872.

D. Comparetti.

Inhalt.

^bersetzers

Seite III

erfasserd

Erster Theil.

Yirgil in der Literatur bi^

; auf Dante.

. . V

Vorrede des

Erstes Capitel.

Bedeutung der Aeneis für den Ruhm Yirgils. Neigung der Rö- mer zur epischen Poesie. Nationale Grundlage der Aeneis und ihre Beziehungen zum Nationalgefühl. Der erste Eindruck des Gedichtes 2

Zweites Capitel.

Wichtigkeit des grammatischen, rhetorischen und gelehrten Elementes in der Aeneis für die Beurtheilung des Dichters. Die ersten kritischen Arbeiten und Urtheile über Virgil .... 13

Drittes Capitel.

Beweise der Yolksthümlichkeit des Dichters iu den ersten Zeiten der Kaiserherrschaft. Virgil iu den Elementarschulen und den grammatikalischen Werken 22

Viertes Capitel.

Virgil in den Schulen und Werken der Rhetoren. Reactionäre Strömung zu Gunsten der ,, Alten", und Verhältniss Virgils zu denselben. Fronto und die Froutouianer. Aulus Gellius. Die Verehrung des Dichters. Sortes Virgilianae 32

Fünftes Capitel.

Die Zeit des Verfalls. Die Berühmtheit der Virgilverse und die Centonen. DieCommentatoren Donat undServiua. Philosophische Erklärungen. Historische Allegorieen in den Bucolica. Virgil wird als Rhetor betrachtet. Rhetorischer Commentar des T. Cl. Douatus. Macrobius. Die Idee von der Allwissenheit und Un- fehlbarkeit Virgils. Autorität des Dichters für die Grammatik. Donat und Prisciau. Der Ruhm des Dichters zur Zeit des Zu sammensturzes des Kaiserreiches 47

XII Inhalt.

Sechstes Capitel. Seite

Christenthum und Mittelalter. Natur und Grenzen der alten Schul tradition. Virgil als Repräsentant der Grammatik. Stellung der Klassiker dem Christenthume gegenüber 70

Siebentes Capitel.

Virgil als Prophet Christi 90

Achtes Capitel.

Die philosophische Allegorie. Gründe der allegorischen Aus- legung Virgils. Fulgentius; Bernhard v. Chartres; Johann v. Salisbury; Dante 97

Neuntes Capitel.

Die grammatischen und rhetorischen Studien im Mittelalter und ihre Benutzung Virgils HO

Zehutes Capitel.

Schicksale der Virgilbiographie. Die literarischen Erzählungen von dem Leben des Dichters uud ihr Unterschied von der Volks- sage. Poetische Uebungen der Rhetoren über die verschiede- nen Virgilthemata 123

E ilftes Capitel.

Betrachtungen über die mittelalterliche lateinische Poesie klassi- scher Form. Geringe Befähigung des Clerus für dieselbe. Die rhythmischen Dichtungen . . 142

Zwölftes Capitel.

Das Ideal des Alterthums bei den Geistlichen des Mittelalters. Stellung Virgils zu demselben und daraus folgende Bedeutung des Dichters auch für diese Epoche 150

Dreizehntes Capitel.

Vorbereitende Tendenzen des Mittelalters für die Renaissancen. Thätigkeit der Laien. Die volksthümliche Literatur und die Vulgärsprache. Beziehung Italiens zu dieser Entwickelung . Iö7

Vierzehntes Capitel.

Dante. Sein Charakter und seine geistige Richtung. Seine Kenntniss des Alterthums; seine Berührung dabei mit dem mittelalterlichen Clerus und sein Abstand von diesem. Dante als Vorläufer der Renaissance und seine Empfindung für die klassische Poesie. Das römische Alterthum und das italienische Nationalgefühl bei Dante. Gründe, weshalb sich Dante zu Virgil hingezogen fühlt. Der vollendete Stil Dante's und Virgils 176

Fünfzehntes Capitel.

Virgil in der Divina Comedia; historischer wie symbolischer Grund für diese Erscheinung. Weshalb nicht Aristoteles Dante's Führer ist. Der Unterschied des Dante'schen vom mittelalter- lichen Virgil. Virgil und das Christenthum bei Dante. Weis- heit und Allwissenheit Virgils; sein Charakter. Die Prophe- zeiung von Christus Vil-gil uud Statins. Virgil und die Idee des Kaiserreichs 187

Inhalt. XIII

Sechzehntes Capital. s^"« Virgil im Dolopatho3. üebergang von der überlieferten ge- lehrten Vorstellung zur romantischen 201

Zweiter Theil.

Virgil ili der Volkssage.

Erstes Capitel.

Die romantische Literatur und ihr Verhältniss zur klassischen Ueberlieferung. Das klassische Alterthum wird romantisirt. Der Aeneasroman. Noch einmal der Virgil des Dolopathos. Zauberer und Weiser in den romantischen Compositionen. Italien mid seine Production in der Romantik. Ursprung der Sage vom Zauberer Virgil unter den Neapolitanern; ihr üebergang in die romantische und gelehrte Literatur 207

Zweites Capitel.

Die Neapolitanische Sage im 12ten Jahrhundert. Konrad von Querfurt. Gervasius von Tilbury und Alexander Neckam . . 220

Drittes Capitel.

Natur und Ursprung der neapolitanischen Sage. Die Virgilsage

in Monte Vergine; Verhältniss zur historischen Ueberlieferung. 227

Viertes Capitel.

Verbreitung der Sage ausserhalb Italiens. Minnesänger und Gelehrte 245

Fünftes Capitel.

Die Virgilsage auf Rom bezogen. Die Salvatio Romae . . . 249

Sechstes Capitel.

Erweiterungen und Veränderungen der Sage im 13ten Jahr- hundert; Image du Monde, Roman des sept sages, Cleomadès, Renart contrefait, Gesta Romauorum, Jans Enenkel .... 255

Siebentes Capitel.

Combination des Propheten und Zauberers Virgil. Virgil und die Sibylle in den Mysterien. Der Prophet Virgil und die Sal- vatio Romae; Roman de Vespasien. Sagen vom Zauberbuche Virgils. Philosophische Darstellung des Zauberers Virgil in der „Philosophia" des Pseudo- Virgil von Cordova. Die Vorstellung vom Zauberer durch biographische Einzelheiten ergänzt. Ver- einzelte Theile der Virgilsage 261

Achtes Capitel.

Der Zauberer Virgil und die Frauen. Das Abenteuer von der Kiste; seine Entstehung und Ausbreitung. Die „Bocca della verità" 276

Neuntes Capite!.

Der Virgil der Sage in Neapel und im übrigen Italien. Die „Cronica di Partenope", Ruggiero aus Apulien, Boccaccio, Cino da Pistoja, Antonio Pucci. Die Sage in Rorn und Mantua.

XIV Inhalt.

Seite Buonamente Aliprando. Verhältniss der Sage zur antiken Virgil- biographie 290

Zehntes Capitel.

Zusammenfassende Darstellungen der Sage und die romantische Virgilbiographie. Les faits merveilleux de Virgile. ,,La fleur des histoires" des Jean d'Outremeuse. Die Romauze von Virgil. Das Verschwinden der Sage aus der Literatur nach dem 16ten Jahrhundert; ihr Fortleben in der mündlichen Ueberlieferung in Süditalien bis auf die Gegenwart 303

Berichtigungen.

S. 5 Z. 4 V. 0. 1.: „gebannt" f. „gebannten".

6 18 „besten jener Epen" f. „besten Epen".

6 22 „fühlte" f. „fühlt".

9 4 „Geistes" f. „Geschmackes".

13 4 „mag" f. „mögen".

16 32 „ward" f. „wird".

27 16 „und" f. „man".

33 23 „Rhetoriker" f. „Rhethoriker",

35 1 „Rhetoren" f. „Rethoren".

37 6 „rhetorisches" f. „rhethorisches".

42 1 „dieser" f. „diese".

45 5 „Rhetorik" f. „Rhethorik".

5U 11 „auswendig gelernt" f. „gelernt".

53 33 „zurückwies" f. „zurückweist".

67 14 „welcher" f. „welche".

83 9 „nur" hinter „nicht".

103 23 „bellende" f. „beiende".

111 33 „Aldhelm" f. „Aldelm".

111 35 „Rhabanus" f. „Rabanus".

112 31 „in der Schriftsprache noch überall" f. „überall" 112 33 „die Vulgärsprache" f. „das vulgäre Latein". 114 .'i „von diesen" hinter „mau". 171 15 „hier beim" f. „beim". 209 33 „Hessen" f. „Hesse". 221 36 „Hippokrene" f. „Hipokrene",

Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Titynis et frnges Aeneiaque arma legentur Koma triumphati dum caput orbi« erit.

Ovid. Am. I, 15, 25.

O anima cortese mantovana

Di cui la fama ancor nel mondo dura

E durerà quanto '1 mondo lontana.

Dante, Inf. 2, 28.

Virgil ist der Hauptrepräsentant jener Dichterschule, welche seine Zeitgenossen als „die neuen Dichter" bezeichneten ; und neu waren jene Dichter in der That. wie auch die Zeit, in der sie lebten.

Es war jene Zeit, in welcher das Neue in der römischen Welt allgemein als ein Bedüi-fniss empfunden wiu-de. Jener Co- loss, der so lange und mit so vernichtender Kraft gegen seine Umgebung an seiner Grösse gearbeitet hatte, wollte diese nun auch geniessen, sein Selbstgefühl in tausend Formen zur Erschei- nung bi-ingen und sein materielles wie geistiges Leben veredeln und verfeinern. Eoh und dürftig erschien ihm das Leben der re- publicanischen Zeit. Man konnte dasselbe wol bewimdern, aber nicht wieder zurückrufen, nachdem Wesen imd Empfindung der Gegenwart sich so ganz verändert hatten. Sieht man auf die po- litischen Ergebnisse, welche diese Umwälzung, dieses Sichlosreissen von der strengen alten Tradition zur Folge hatte, so lässt sich wol ein hartes Urtheil fallen; blickt man indessen auf Kimst und Wissenschaft, in denen jene Eevolution völlig neue Tendenzen hervorrief, so muss man sich gestehen, dass die künstlerischen Producte, die sie erzeugten, geradezu imvergleichlich sind, ja, dass sie den ei'habensten Gi^rfelpunkt in der Entwickelung des römischen Geistes bilden. Es ist uns freilich nicht gestattet, auf den Ursprung, Charaktei- und die wechselnden Schicksale jener neuen Dichterschule einzugehen; weder auf alles das, was ihre Grösse und ihren Er- folg hervorrief, noch auf die Kämpfe , die sie mit den Anhängern der alten Zeit, die ja in keiner Eevolution fehlen, zu bestehen hatte. Der engeren Aufgabe unseres Werkes nach haben wir es ausschliesslich mit Virgil zu thun, dem grossesten Dichter jener

Com pareti i. Viri^il im Mittelalter. 1

Schiile und gi-össesteu römisclieu Dicliter überhaupt. Eine Kritik seiner Werke wird man hier nicht erwarten, da unsere Aufgabe nicht die ist, zu sagen, was Virgil war, sondern vielmehr was er schien, nicht, wie man ihn jetzt, sondern wie mau ihn ehemals be- urtheilte. Selbstverständlich wäre das nun aber nicht ausführbar, ohne dass uns dabei als bestimmtes Princip unsere Ansicht, die wir über den wirklichen Werth Virgils hegen, leitete, .eine An- sicht, die indessen dui'chaus nicht so subjectiver Natur ist, dass man uns nicht ihre Begründung schon am Anfange des Werkes erlassen könnte. Sei es denn gestattet da doch der Weg lang genug ist, auf dem uns der Leser begleiten soll von dem Ein- druck auszugehen, den Virgils Poesie, und vor allem seine Aeneis auf die römische Welt machte. Obgleich der ßuhm des Dichters schon durch seine in der That höchst bedeutenden „Bucolica" und „Georgica" sehr gestiegen war, so ist doch der Gipfel desselben in der Aeneis zu suchen, dem genialsten Producte der römischen Poesie, das Virgil nicht blos zum ersten sondern auch zum wesentlich na- tionalsten der römischen Dichter stempelt. Hierauf also müssen wir zuerst unseren Blick richten.

Erstes Capitel.

Das höchste Ideal des Epos lag für die Alten wie für uns iu den Gedichten Homers: sie galten dem Dichter bei der Coni- positiou, wie dem Publicum bei der Beurtheilung als Massstab. Jenes Ideal stand so hoch, dass, obgleich die Möglichkeit ihm gleichzukommen ausgeschlossen war, der Dichter trotz seiner In- fei'iorität doch eine wunderbare und imponirende Höhe erreichen konnte. Bei der Beurtheilung Virgils nahmen denn auch die Römer sofort zu jenen unvermeidlichen Vergleichen ihre Zuflucht; sie unterschieden zwischen der göttlichen, wirklich schafienden Kraft des Dichters und der mühevollen Arbeit des Nachahmers, sie erkannten in der That die Inferiorität ihres Dichters gegen- über dem griechischen an, (die Uebertreibungen einiger Enthu- siasten bilden doch nur die Ausnahme von der Regel) ^), aber sie

1) Wie viel auf Rechnung der Freundschaft kommt in dem Properz- ischen: „Nescio quid maius nascitur Iliade", geht aus desselben AVorten hervor, die er von seinem Freunde Ponticus, dem Verfasser einer später völlig vergessenen Thebais, gebraucht (I, 7, 1 3).

„Dum tibi Cadmeae dicuntur, Pontice, Thebae

armaque fraternae tristia militiae,

atque, ita sim felix, primo conteudis Honiero, etc."

Virj^'il ili der Literatur bis auf Danto. M

begriffen auch, dass von allen Versuchen im Epos in griechischer wie römischer Sprache der des Virgil der glücklichste wai-.

Dies Urtheil, sofern es sich auf einen äusserlichen Vergleich beider Gedichte beschränkte, war gewiss gerecht. Sobald man den- selben jedoch auf die Natur und die den beiden Epen zu Grunde lie- genden Bedingungen ausdehnte, wurden Homer und Virgil inlhüm- lich von den Alten, die doch das wahre Wesen der Homerischeu Poesie niemals so wie wir seit Vico's Auftreten erkannt haben, als zwei Individuen augesehen, die mir durch den Grad ihrer Be- gabung wie durch die Zeit, in der sie lebten, von einander ver- schieden seien; man hätte also nur ungerechter Weise Virgil weniger günstig, als wir heute im Stande sind, beurtheilen können. Wir unter- scheiden das primitive, nicht von einem Individuum herrührende, wahr- haft künstlerische Volksepos von dem gelehrten Kunstepos, dem Werke eines einzelnen, welches nur in historischeu Zeiten vermittelst Re- flexion zu Stande kommt; und wie wir dem griechischen Volksepos unter allen ähnlichen Erzeugnissen der anderen Völker den Preis zuertheilen, so gestehen wir auch zu, dass unter allen Versuchen im Kunstepos, seien dieselben von Griechen, Römern, Italienern oder anderen modernen Völkern ausgegangen, keine Schöpfung wie die des Virgil jenen relativen Grad von Vollendung erreicht hat. Nur diese Distinction vermag Virgil seine richtige Stellung zuzu- weisen; nur wenn unsere Vergleichung der Aeueis mit der Ilias dem ungeheuren Abstände Rechnung trägt, der zwischen den na- türlichen Grmidlagen beider Gedichte besteht, vermögen wir die luferioi-ität Virgils zu erklären oder zu entschuldigen, was bei den Römern nicht möglich war. Aber wenn auch der Grad des Verständnisses, das jener Epoche eigen war, für den Dichter we-' uiger günstig sein konnte, als das der Modernen, so wurde dies doch reichlich aufgewogen durch die Sympathie, die zwischen jenem Gedichte und den Gefühlen und Bedürfuissen des Volkes, für wel- ches dasselbe geschrieheu war, bestand. Man hat vielfach gesagt, dass das Virgilische Epos der Nationaleitelkeit Nahrung gab und deshalb so beifällig aufgenommen sei; allein dieser etwas triviale Gedanke darf doch, auch wenn er bis zu einem gewissen Grade wahr ist, nicht so aufgefasst werden, wie er gewöhnlich klingt. Das römische Volk, oder richtiger die römische Welt bildet eine durch ihre Natur, ihr Leben und ihre Zusammensetzung so einzig dastehende Individualität, dass man sie nur aus Unverstand nach denselben Normen, nach denen man ein anderes Volk abschätzt, beurtheilt. Sie ist ein par excelleuce historisches Wesen; ihr

1*

4 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Leben eine fortwährende Expansion von den kleinsten bis zu den riesenhaftesten Proportionen und zwar unter dem Zwange eines gleichsam unberechenbaren, unwiderstehlichen Impulses, der sich schon im ersten Momente seiner Entstehung, in dem historischen Factum der Gründung Koms offenbart. Diese ferne Grenze der nationalen Erinnerungen ist der Keim fortwährender Vergrösse- rung des Volkes und hängt so eng mit der Natur des sich weiter entwickelnden nationalen Lebens zusammen, dass selbst die Fabel seines Ursprungs wie anderer darauf folgender Begebenheiten so- gleich einen politisch-praktischen Charakter annimmt^). Die Er- innerung an ein der politischen Thätigkeit ganz fernstehendes he- roisches Zeitalter, in welchen; die nationalen Elemente zersplittert bleiben und sich nicht zu dem einzigen Zwecke, welcher in der Zukunft der Nation besteht, vereinigen, ist bei den Römern nicht vorhanden. Der kleine latinische Stamm, aus dessen Schooss jener Keim zur Grösse heranwuchs, wurde freilich nicht vergessen; aber zwischen ihm und Rom blieben doch deutlich alle jene Differenzen bestehen, welche in zwei verwandten aber verschiedenen Individua- litäten Mutter und Tochter bezeichneten.

Dieses historische Wesen, das vom Momente seiner Entstehung an das Bewusstsein seiner Mission in sich hatte, dessen Thätigkeit stets auf ein reelles und bestimmtes Ziel los steuerte, das sich selbst und der eigenen Energie Erfolg und Grösse verdankte, musste natürlich auch in der Betrachtung seiner selbst eine mäch- tige poetische Inspiration finden. Es existirte, so zu sagen eine ganz

1) Die deutschen Gelehrten begehen oft einen grossen Irrthum, wenn sie die Ideen und Gefühle des römischen Volkes, das sich auf eine Stadt concentrirte und sein Bestehen „ab urbe condita" berechnete, nach denselben Grundsätzen wie das griechische beurtheilen, und die hellenische Nation dabei nicht ausser Augen lassen können. Die römische Sage konnte nicht weit aus jenem Gebiete der v-ztcsig tiÖIscov herausschreiten, die unter den Griechen natürlich nicht den Hauptbestandtheil des natio- nalen SagenstofFes bildeten. Wenn aber die Phantasie der Römer, in Betreff der Vergangenheit des Volkes, wie uothwendig, ihre politische und praktische Tendenz offenbart, so entbehrt sie darum doch nicht der Poesie. Um so überraschender sind die Worte eine« gewiss nicht der Parteilichkeit für die Römer überwiesenen Mannes, der einen Aufsatz über die Erzählung von Coriolan also beschliesst: ,,Wer in diesen Erzählungen nach einem sogenannten geschichtlichen Kern sucht, wird allerdings die Xuss taub finden: aber von der Grösse und dem Schwung der Zeit zeugt die Gewalt und der Adel dieser Dichtungen, insbesondere derjenigen von Coriolan, die nicht erst Shakespeare geschaffen hat." Mommsen, im Hermes, IV, p. 26.

Virgil ili der Litoralur bis auf Dante. 5

besondere Empfindung, die wir als die „historische" bezeichnen können, weil sie aus jener Idee von einer grandiosen geschichtlichen Thätigkeit hervorging, eine Empfindung, die nicht in die Grenzen einer einzigen Nation gebannten, sondern den verschiedensten Stämmen eigen war, die Kom sich zu unterwerfen und zu assimiliren verstanden hatte, die sich aber unterschied von dem Nationalgefühl, das jedes Volk in abstracto für sich hat, und sogar die römische Herrschaft selbst überlebte. Eben sie flösste den Herrschern wie den Beherrschten die gleiche Begeiste- rung ein, i;nd unter all den Formen, in denen sie z. B. in der Literatur zum Ausdruck gelangt ist, findet sich kein Unterschied, mögen die Schriftsteller Römer, Griechen, Etrusker, Gallier, Iberer oder Africaner sein.^)

Man begreift also, dass die Kömer eine natürliche Hinneigung zum historischeu Heldengedicht haben mussten, und der Beweis dafür liegt in der Menge ihrer historischen Epen von Naevius bis auf Claudian'^), einer Thatsache, der man nichts ähnliches aus der griechischen Literatur zur Seite setzen kann. Aber eben dies Ge- fühl, welches die ganze römische Welt erfüllte, und welches der äusseren Gestaltung bedurfte, konnte doch seiner Natur nach nur schwer in der epischen Form zum Ausdruck kommen. Es scheint zwar, als ob eine derartige Empfindung ganz von selbst zum Epos hindrängen müsse; so oft man jedoch nach einem Stoffe suchte, um demselben eine concrete und adäquate Form zu geben, bot sich dem Dichter die Geschichte als Grundlage, und zwar als eine sehr nachtheilige, dafür dar; denn mit der geschichtlichen Begeben- heit, wenn sie sich als solche dem Geiste darstellen soll, ist dem Epos in keiner AVeise gedient. Dazu müsste sie erst wieder „epische Begebenheit" werden. Das erfordert aber die Thätigkeit der Fantasie nicht eines einzelnen, sondern eines jugendlichen Volkes; der Geist eines historisch reifen Volkes ist nicht mehr fähig dazu. Zur Lösung dieses schwierigen Pi'oblems hatten die Griechen selbst nichts beigetragen, weil sich ihnen, deren Charakter von Haus aus ein anderer war, ein solches Problem niemals dargeboten

1) Vgl. die vielen Stellen, in denen diese Begeisterung Ausdrack ündet bei Lasaulx, Zur Philosophie der römischen Geschichte, p. 6 ff., wozu sich noch manche andere fügen Hessen^, abgesehen von der speciellen Tendenz vieler Schriftsteller, wie z. B. des Livius, der, man mag ihn mit welchem Griechen man will vergleichen (obgleich sich unter diesen nichts seinem Werk ähnliches findet) der schlagendste Beweis für unsere Behauptung ist.

2) Vgl. die Aufzählung bei Teuffei, Gesch. d. röm. Lit. p. 27.

f, Viigil in der Literatur bis auf Dante.

hatte. Ihr bckanutester Versuch im historischen Epos war in der klassischen Zeit das Gedicht des Choirilos von Samos über den Perser- krieg, ein zwar ruhmvolles Ereigniss, das aber doch nur einen Zwischenfall im Leben der Nation bildet und keineswegs das "Wesen dieser selbst zur Darstellung brachte, weshalb denn das Gedicht auch nur einen vorübergehenden politischen Erfolg hatte. Das griechische Nationalgefühl hatte sich in der Poesie bereits viel leuchtender und in viel geeigneterer Form dargestellt. Nun aber war das Natioualgefühl der Römer so stark und kräftig, ihr Charakter als historisches Volk so prouoncirt, dass ihre historischen Epen nicht allein zahlreicher als die anderer Völker Avaren, son- dern auch mehr Erfolg hatten als man selbst von den besten der Gattung hätte erwarten können, wenn nämlich die natürliche Kälte derselben nicht als Gegengewicht so viel ^\'änue dos Ge- fühls gefunden hätte, welches zu erregen eben der Zweck des Epos war, und worin es selbst seinen Grund hatte. In der mo- dernen Zeit, wo dieses Gefühl nicht mehr vorhanden ist, bleiben auch die besten Epen wirkungslos. Obgleich nun aber zwar so- wol das historische Epos wie jene Gedichte, welche in einer etwas sonderbaren Weise Sage und Geschichte mit einander verschmolzen (wie z. B. die Epen des Ennius und Naevius), einen relativen Er- folg hatten, so fühlt sich doch das nationale Bedürfniss, theils aus formalen Gründen theils in Folge des wenig poetischen Stoffes dabei nicht völlig befriedigt. Die Lösung dieses schwierigen und verwickelten Problems ist daher gerade ein Hauptverdieust Virgils und eine der Hauptursachen für die Begeisterung, welche sein Epos erweckte, und Avelche andauerte, so lange sich jenes Gefühl lebendig erhielt, dessen treuestes, edelstes und vollständigstes künstlerisches Abbild eben die Aeneis war. Der nationale Zweck, den Virgil wie andere augusteische Dichter verfolgte, ist nicht zu bezweifeln; er erscheint aber nicht blos als die Wirkung eines unbewussten, instinctiveu Dranges, wie bei so vielen anderen römischen Schriftstellern, sondern ist so- gar oft mit künstlerischem Bewusstsein erstrebt. Virgil dachte nicht daran ein Epos von blos literarischem oder gelehrtem Cha- rakter abzufassen in der Art der Alexandi'iner, und er griff daher nicht wie andere vor und nach ihm zu einem Thema aus der reichen griechischen Sage, wie der kleinen Ilias, der Thebais, der Achilleis oder andeni Stoffen, denen jeder nationale Werth für die Römer abging. Geleitet von einem für einen Epiker jener Zeit bewunderungswürdigen, künstlerischen Instinct, vermied er glück- lich alle historischen Stoffe, welche andere Dichter und auch ihn

Virgil in der Litoratm- bis auf Dante. 7

zuallererst angelockt hatten , und entschied sich unter den da- uials bei den Römern bekannteren für den einen, in welchem sich jener ideale heroische Charakter, das unabweisbare Erforderniss für ein Epos mit einem wenn auch nicht dem Ursprünge, so doch der Bedeutung nach nationalen Charakter vereinigte^). Wie er durch die Kraft seines Genies dahingelangte, indem er nach und nach den ersten Entwurf seines Werkes modificirte, erhellt aus manchen Anzeichen mit völliger Klarheit und darf, wenn man den Dichter billig bcurtheilen will, nicht übergangen werden. Aus den genannten allgemeinen Gründen bot auch ihm sich zuerst die Idee eines Stoffes aus der latinischen oder römischen Geschichte für ein National- gedicht dar. Noch bevor er die Bucolica schrieb, hatte er an ein Ge- dicht über die albanischen Könige gedacht; diese Idee gab er je- doch schnell auf, wie seine Biographie sagt: „offensus materia"^). Erst später, als er schon in Beziehung zu Augustus getreten war, nahm er alles Ernstes den Plan eines Gedichtes wieder auf, und abermals stellte sich seinem Geist ein historischer Stoff dar. Die Grossartigkeit der Zeitereignisse und die Freundschaft des Fürsten, der bei jenen eine so hervorragende Rolle spielte, lenkte seine Wahl ganz natürlich auf ein Thema wie die Thaten des Octavian'"'). Dass er wirklich vorhatte, diesen Stoff zu bearbeiten, erklärte er selbst, als er im Jahre 29 dem aus Asien ^) zurückgekehrten Au- gustus in Atella^) seine Georgica vortrug. Von diesem Jahre aus- gehend kam er, den ersten Entwurf den künstlerischen Zwecken gemäss modificirend, endlich im Laufe von elf Jahren (vom Jahre 29 V. Chr. bis zu seinem Tode) bei der Composition der Aeneis

1) „Novissimum Aeneidem inchoavit, argumentum varium et multi- plex, et quasi amborum Homeri carminum instar, praeterea nominibus ac rebus graecis latinisque commune, et in quo, quod maxime stude- bat, romanae simul m-biä et Augusti erigo contineretur." Douat. Vit. Vergil. (bei ReifFerscheid, Svetonii praeter Caesarum libros reliquiac, Lips. 1860) p. 59. [Die Citate der dem Donat beigelegten Virgilbio graphie beziehen sich stet.s auf die genannte Ausgabe].

2) Donat. Vit. Vergil. p. 58. Serv. ad. Bucol. VI, 3.

3) Dies -war der erste Plan und Zweck der Aeneis, und so erklärt sich auch die Notiz des Servius (p. 2. ed. Lion) „postea ab Augusto Aeneidem propositam scripsit."

4) „Mox tarnen ardentis accingar dicere pugnas Caesaris et nomen fama tot ferre per annos, Tithoni prima quot abest ab origine Caesar."

Georg, ili, 46. .5) Donat. Vit. Vergil. p. 61.

8 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

an. Im Jahre 26 kannte schon Properz einige Theile des Epos und sprach mit gi'osser Begeisterung davon, allein er erging sich noch weit mehr in dem Lobe der Bucolica und Georgica, welchen der Dichter bis zur Zeit seinen grössten Ruhm verdankte. Aus den Worten des Properz, wie auch aus dem damals an Augustus ') gerichteten Briefe des Dichters geht hervor"), dass die zu jener Zeit vollendeten Partieen auch später in der Aeueis erhalten blieben dass aber Virgil noch an dem Gedanken festhielt, sein Gedicht von Aeneas bis auf Augustus fortzuführen. Der künstlerische Tact verbot ihm jedoch schliesslich jeden Gedanken an eine Erzählung rein historischer Thatsachen und Personen, und diese wurden nur vor- übergehend und gelegentlich aus künstlerischen Gründen ange- bracht; der wirklich heroische und poetische Charakter der Ereig- nisse, welche die Hauptgrundlage des Gedichtes bilden, blieb unan- getastet. Der Werth dieses Verfahrens entging den alten Kritikern nicht, welche wol darzulegen wussten, wie tief in dieser Beziehung Lucan unter Virgil stand ^). Und so zeigt uns die Entstehungs- geschichte der Aeneis auf das deutlichste, wie sehr Virgil durch seinen Stoff wie seine künstlei-ische Empfindung den besten Dich- tern seiner Epoche überlegen war, einer Epoche, die nach der Entstehung der grossen griechischen Schöpfungen als die glän- zendste in der Kunstgeschichte überhaupt bezeichnet Averden muss. Die moderne Kritik hat mit Recht gewisse veraltete Ideen über historischen Werth und Ursprung der Aeneassage abgewiesen^): sie wird aber niemals im Stande sein, jene Thatsache wegzudis- putiren, dass diese Sage schon seit dem ersten puuischen Kriege den Römern geläufig war, und dass sie, durch die Behandlung der Dichter, Geschichtsschreiber, durch Theater, bildende Kunst, Cultus

1) „De Aenea quidam meo etc." bei Macrobius, Sat. I, 24, 11.

2) Actia Vergilium custodis litora Phoebi Caesaris et fortes dicere posse rates, qui nunc Aeneae Troiaui suscitat amia jactaque Lavinis moenia litoribus. cedite Romani scriptores, cedite Orai : nescio quid maius nascitur Iliade."

Properz. III, 34, (U 66.

3) „Hoc loco per transitum tangit historiam quam per legem artis

poeticae aperte non potest ponere Lucanus namque ideo in numero

poetarum esse non meruit quia videtur historiam composuisse non poema." Serv. ad Aen. I, 382; vgl. Martial XIV, 194. Pronto p. 125. Quintil. X, 1, 90.

4) Vgl. Schwegler, Rom. Gesch. I, p. 279 ff.; Preller, Rom. Mythol. p. 660 ff'.

Virgil in der Literatur bis auf Dautc. 9

und die politiachen x\cte des Staates selbst volksthümlich geworden, /AU- Zeit Virgils die Bedeutung einer Nationalsage erhalten hatte, die allen Römern sympathisch war und völlig mit der Poesie des römischen Geschmackes im Einklang stand ^). Freilich, wenn es sich um die Composition eines Epos von dem Charakter des Ho- merischen gehandelt hätte, würde auch jene Sage mit ihren' ganz heterogenen Bestaudtheilen und Charakteren schlecht dazu gepasst haben ; aber das , was das Virgilische Epos auszudrücken hatte, war seiner Natur nach ganz von dem Homerischen Epos verschieden, und eben deshalb waren die immerhin dem Stoffe anhaftenden Mängel weit weniger bemerkbar. Homer bewegt sich in einer ganz idealen Atmosphäre; er kann seinen Blick noch nicht auf die

1) Niebuhr (Rom. Gesch. 1, 206 ff.) irrt völlig, wenn er meint, dass Virgil sein Gedicht den Flammen preis gegeben habe, in der Meinung, es mangle demselben die nationale Basis. Eine solche Idee konnte Virgil niemals beikommen ; dass sie absurd gewesen wäre, beweist schon der un- geheure Erfolg der Aeneis, die dem römischen Geschmacke nichts we- niger als fremd war. Es ist bekannt, dass auch sein Zeitgenosse und Bewunderer Livius mit der Aeneassage sein Geschichtswerk beginnt, das, wie kein anderes, vom lebendigsten römischen Nationalgefühl getragen ist. Seine Anschauungsweise und die Stellung die er bei der Erzählung jener Sagen einnimmt erklärt er selbst in seinem Prooemium in einer Weise, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt, mit jenen herr- lichen, so oft citirten Worten: „Et si cui popolo licere oportet consecrare origiues suas et ad Deos referre auctores, ea belli gloria est populo ro- mano etc. etc." Wie die Aeneassage mit dem Geist, welcher die anderen römischen Ueberlieferungen durchweht, im Einklang steht, ersehen wir aus der Lyrik des Horaz, wo dieser (B. IV, 4, 53 ff.) den Hannibal sagen lässt:

„Gens quae cremata fortis ab Ilio

Jactata Tuscis aequoribus sacra

Natosque maturosque patres

Pertulit Ausonias ad urbes,

Duris ut ilex, etc. etc.'' Die Aeneis war kaum erschienen, als Horaz dies schrieb (Die Oden des vierten Buches wurden, wie man meist annimmt, 18 v. Chr. heraus- gegeben). Die Sympathie des Kaisers für Troja, als die den Römern und der gens Julia heilige Stadt, ist lebendig dargestellt in der bekannten Rede der Juno unter den Göttern, die sich in der 3. Ode des 3. Buches, das gewiss älter ist als die Aeneis, findet.

In all diesem und ähnlichem Rhetorik und Schmeichelei sehen zu wollen, die berechtigte Existenz dieses Gefühls, dem die Grösse des Reiches wie seine Geschichte so völlig entsprach, nicht anerkennen zu wollen, heisst doch, die Sache sich ziemlich leicht machen und Wahr- heit und wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit paradoxen Tendenzen und eingebildeten Vorurtheilen aufopfern.

ID Viigil i.i der LiUratiir l.is auf Datitc.

Geschichte lenken, die erst mehrere Jahrhunderte nach ihm l»e- giniit. Die natürlichen Schranken und Verhältnisse der mensch- lichen Natur und Thätigkeit stehen seinem Geiste noch so fern, dass er höchst selten und nur im Gleichnisse an die ärmliche Natur des wahren und leibhaftigen Menschen erinnert (oloc vvv ßqoxoi elaiv); Kind einer ausserhistorischen Zeit, ist er der Inter- pret eines nationalen Ideals, welches schon ausschliesslich und an sich poetisch ist. Der lateinische Dichter hingegen, der in der Epoche der höchsten historischen Entwickelung seiner Nation lebte, musste, wenn er bei der idealen Umgebimg, die das Epos verlangt, bleiben wollte, als einziges Ziel die Geschichte ins Auge fassen, in welcher ja eben jenes universelle Gefühl wurzelte, welches da- mals seine stärkste Intensität erreicht hatte und mehr als je einer grossai'tigen Entfaltung bedurfte^). Indem sich der Dichter dieser seiner Pflicht bewusst war und bei der Ausübung derselben von der ganzen ihm eigenen Genialität unterstützt wurde'^), brachte er sein Gedicht im Stoff und in der Form der römischen Geschichte so nahe, dass man es eine Vorstufe zu dieser nennen kann und zugleich eine poetische Wiedergabe des Eindrucks, den die Ge- schichte im Geiste aller derer hinterliess, welche sich mit ihr be- schäftigten'^). Und wie es immer geschieht, wenn die hmgersehnte

1) Der Titel des Gedichtes soll nach einigen zuerst nicht „Aeneis" sondern „Thaten des römischen Volkes" gelautet haben: „unde etiam in antiquis invenimus opus hoc appellatum esse non A enei dem sed Gesta populi Romani; quod ideo mutatura est, quod nomen non a parte sed a toto debet dari." Servius zur Aen. VI, 752.

2) Unmöglich ernst gemeint kann die von einigen modernen Kri- tikern (s. unter anderen Teuffei, Gesch. d. röm. Lit. p. 39) ausge- sprochene Ansicht sein, als sei die weiche und sanfte Natur Virgils für das Epos nicht geeignet gewesen. Man nenne mir doch den Epiker von derselben Kategorie, zu der Virgil gehört, den man wirklich für das Epos geschatfen erklären kann. Etwa den platonischen Tasso, den frommen Milton oder den mystischen Klopstock V Unter so vielen, durch Natio- nalität und Charakter so verschiedenen Dichtern, hat der weiche Virgil allein das beste Gedicht in seiner Art geschaften, während der viel- seitige Titane Goethe als er ein heroisches Epos dichten wollte, es nur bis zu einer so unvollkommenen Schöpfung wie die Achilleis bringen konnte !

3) „Qui bene coneiderat inveniet omnem romanam historiam ab Aeneae adventu usque ad sua tempora summatim celebrasse Vü-gilium, quod ideo latet quia confusus est ordo : nam eversio Ilii et Aeneae errores adventus bellumque manifesta sunt: Albanos autem reges, romanos etiam consules, Brutos, Catonem, Caesarem Augustum et multa ad histo- riam romanam pertinentia hie indicat locus^ caetera quae hie intermissa

Virgil iu der Literatur bi.i auf Dante. H

Formel aufgefunden ist, welche das ganz ausdrückt, was allen un- hewusst im Herzen lag, so ward auch die Aeneis mit dem allge- meinsten Enthusiasmus von der römischen Welt aufgenommen.

Es ist wunderbar zu sehen, mit welchem Interesse sich alle (rebildeten über den Fortgang des grossen Gedichtes inforrairten, und welchen sichtbaren Einfluss dasselbe von Anfang an auf die lateinische Literatur ausübte. Während der Dichter an der Ab- fassung des Epos arbeitete, beschäftigten sich Augustus, Maecenas und die ganze sie umgebende Schaar von Freunden, Hofleuten, Dilettanten, Dichtern und Ehetoren mehr oder weniger eifrig mit dem Fortgang der Composition, welche zum grossen Theil nach imd nach vom Autor in diesen Kreisen vorgetragen wurde. Bei des Dichters Tode war sein Werk nur auf diese Weise in die Deflentlichkeit gedrungen, obwol kein Theil desselben zu der Vollen- dung herangereift war, die der Verfasser erstrebt hatte. Aber ein grosses Publikum war von der Existenz des Epos unterrichtet, und gross war, in Folge der durch die Recitation im Freundeskreis be- kannt gewordenen Stücke, die allgemeine Erwartung. Die Publi- cation erfolgte durch die beiden Freunde Virgil s, Varius und Tucca, denen seine Schiiften vermacht waren, und welchen Au- gustus jenes delicate Amt übertragen hatte. Wie viel Zeit sie auf die Vorbereitung zur Veröffentlichung gebraucht haben, wissen wir nicht, sie konnte wol nur eine kurze sein. Der Eindx-uck, den das Gedacht machte, war überall tief und äusserst lebendig. Alle erkannten darin das grösste Werk der lateinischen Poesie^), und durch eben dasselbe wui-de Vii-gil für die Römer, wie ihn später Vellejus nannte, „der Fürst der Gesänge')"". Das Studium des Vii-gil und seiner Phraseologie erkennt man schon in seinem grossen Zeitgenossen Titus Livius, bei dem sich deutliche Reminiscenzen von Phrasen aus der Aeneis vorfinden^). Besonders reich an

sunt iu àaniòonouu commemorat." (Serviiis zur Aen. VI, 752. Vgl. auch Probus zu Geor-if. III, 46, p. 58 f. Keil).

1) Ovid ist für uns der älteste Gewährsmann der dies ausdrücklich ausspricht:

,,Et profugam Aenean^ altaeque primordia Romae, quo nullura Latio clarior extat opus."

Ars amator. III, 3o7.

2) „Inter quae (ingenia) maxime nostri aevi eminet princep^^ carnd- num Vergilius, Kabirius etc." Veli. Patere. II, 37.

3) Vgl. Wölfflin im Philologus, XXVI, p. 130.

\'2 Virgil in der Littrahir bis auf I»aute.

bolcheu Reunuisceuzeii zeigt öicli aber Ovid^), der bei dem Tode des gi-osseu Dichters 24 Jahre alt war und diesen nur von An- sehen gekannt hatte"). Und dabei darf man nicht vergessen, dass sich für Livius und Ovid dies nicht aus dem Gebrauche des Virgil in der Schule erklärt, wie es sj^äter für so viele andere lateinische Dichter und Prosaiker anzunehmen ist. Aus den Erinnerungen des älteren Seneca^) sehen wir gleichfalls deutlich, dass iu dem ersten Jahrzehend nach des Dichters Tode die Aeneis keinem fremd war, und man Verse daraus als bekannt citirte. Vorzüglich anziehend war für einen gewissen Theil des Publikums die tragische Dich- tung von den Schicksalen der Dido'*), welche später noch den h. Augustin zu Thränen rührte'*), und, wie wir sehen werden, auch in den folgenden Jahrhunderten von allen Theileu des Epos stets am meisten bewundert wurde.

Eine übertrieben strenge und anspruchsvolle, eine paradoxe und nicht vorurtheilsfreie Kritik mag immerhin über diesen grossen

1) Man vergleiche die sehr zahlreichen Belege bei Z in gerì e in seinem Werke: „Ovidius und sein Verhältniss zu den Vorgängern und gleichzeitigen römischen Dichtern". Innspruck, 1869—71, II, p. 48—113.

2) „Vergilium vidi tantum." Trist. IV, 10, 15.

3) Diese Erinnerungen, die sich auf die Rhetoren der Augusteischen Zeit beziehen, bieten uns die ältesten Citate von Versen der Aeneis. Die Hauptstellen : „Sed ut sciatis sensum bene dictum dici tarnen posse melius, uotate prae ceteris quanto deceutius VergiUus dixerit hoc, quod valdc erat celebre, „belli mora concidit Hector": „Quidquid apud dm-ae etc." (Aen. XI, 288). Messala (f 8 v. Chr.) aiebat hie Vergilium debuisse de- sinere, quod sequitur „et in decimum etc." explementum esse. Maeceuas hoc etiam priori comparabat" Suasor. 2; „Summis clamoribus dixit (Arellius Fuscus) illum Vergili! versum „Scilicet is superis etc." (Aen. IV, 379). Auditor Fusci quidam, cuius pudori parco, cum hanc suasoriam de Alexandre ante Fuscum diceret, putavit aeque belle poni eundem ver- sum ; dixit: „Scilicet is superis." Fuscus illi ait: si hoc dixisses audiente Alexandre, scires apud Vergilium et illum versum esse" capulo tenus abdidit ensem" (Aen. II, 553). Suasor. 4; „Montanus Julius qui comis fuit, quique egregius poeta, aiebat illum (Cestium) imitar! voluisse Ver- gili descrii^tionem : „Nox erat et terras etc." [Aen. VII, 26.) Controv. 16. (Cestius kam nach Rom kurz nach Virgil's Tode; vgl. Meyer, Oratorr. romanorr. fragmenta, p. 357) Vgl. auch Suasor. 1.

4) „Et tarnen ille tuae felix Aeneidos auctor contulit in Tyrios arma virumque toros Nee legitur pars ulla magis de corpore toto, quam non legitime foedere junctus amor."

Ovid. Trist. 2, 533.

5) Coufessiou. lib. I; I, 60.

Vlrgil in der Literatur bis auf Daute. 13

Dichter wie über so manche andere grosse lateinische Schriftsteller ui'theilen, wie es ihr behagt. Die Wissenschaft wird aber schwer- lich die Uebertreibungen einer geistigen Eeaction acceptiren können, so fruchtbar für den Fortschritt sie auch immer sein mögen. Das Werk Vii-gils ist und bleibt, wenn man es, wie recht und billig, nach seiner Stellung und nach einem geschichtlichen Mass- stabe betrachtet, ein Gedicht, das seines Gleichen weder vorher noch nachher hat; der Zauber, den es durch Jahrhunderte auf alle Gebildete ausübte, hat seine volle Berechtigung. Nachahmer ist Virgil allein im Beiwerk, und auch dann noch ist er gross. Nachahmer ist er, weil er es sein musste, und weil kein noch so mäch- tiges Genie sich dieser Bedingiing damals entziehen durfte. Eine Emancipation von all den Regeln der Kunst, wie sie die noch so lebendigen Schöpfungen der Griechen vorschrieben, konnte keiner wünschen noch wollen, und wäre nur mit Unwillen als etwas ganz Monströses und Unverständliches aufgenommen worden. Das Genie kann sich nicht zu jeder Zeit und in allen Lagen des menschlichen Geistes frei bewegen. Dessenungeachtet offenbart es sich doch als Genie für jeden, der sehen kann, und es ist kein Grund vor- handen, es dann herabzusetzen und zii verkleinern oder es, wie mit Virgil geschehen, verächtlich als „Virtuosität" zu bezeichnen. Seiner Natur, seinen Bestandtheilen, seinem besonderen Zwecke nach steht Virgils Werk auf einem von der Homerischen Poesie, wie von dem griechischen Epos^) so verschiedenen Standpunkte, dass es in Anbetracht der Intention des Dichters wol eine neue Schöpfung genannt werden kann. Eine Dosis Hellenismus lag auch im rö- mischen Geiste, mithin auch im Dichter selbst, und dieser hätte sich selbst widersprochen, wenn er jenen Hellenismus nicht in seinem Gedichte auch offenbart hätte. Aber der eigentliche Cha- rakter Virgils beruht darauf, dass der Dichter, wie es Petronius mit richtiger Einsicht ausspricht, vor allem „Römer" ist').

Zweites Capite].

Zu jenen Resultaten gelangte jedoch der Dichter nicht blos

vermittelst seiner natürlichen Genialität, die für die damalige

Zeit nicht hinreichte, so wie sie niemals zur Schöpfung grosser

1) Avich Teuf fei gibt zu, dass Ton und Geist der Aeneis zu Homer in diametralem Gegensatze stehen. Gesch. d. röm. Lit. p. 400.

2) „Homerus testis et lyrici, vomannsque Virgilius et Horati curiosa felicitas." Petron. Sat. 118.

14 Yii-gil iu dei- Literatur bis auf Dante.

Kunstwerke in einer Culturepoche von Bedeutung ausreicht. Die augusteische Poesie wie der grösste Theil der römischen Dich- tungen, überhaupt erhielt von selbst wie durch den Einfluss der griechischen Zeitgenossen einen wesentlich gelehrten Charakter aufgeprägt. Ein Dichter musste viele philologische und wissen- schaftliche Studien gemacht haben, um die künstlerische Form zu erlangen, die den Anforderungen der Cultur seiner Zeit entsprach. Der Charakter der griechischen Poesie jener Epoche war unter der Herrschaft der Alexandriner ein derartig gelehrter geworden, dass weder die Sprache der Dichter eine wirklich lebendige, nocli die Poesie selbst das Eigenthum anderer als der Gelehrten war. Wenn etwas jenen Grad poetischer Genialität, den auch die Römer besassen, ins Licht setzen kann, so ist es die Vergleichuug zwischen Griechen und Römern in Betreff der Benutzung und Nach- ahmung der antiken Muster. Von Alexander an ist der Verfall der gi-iechischen Poesie ein solcher, dass der, welcher ihre Geschichte studiren will, zur Ausfüllung der grossen Lücke, die er vor sich sieht, gezwungen ist, sich an die Römer zu wenden, bei denen er allein eine geistige wie formelle Fortsetzung der griechischen Poesie findet.

Die Gelehrsamkeit und das Studium, nicht allein der grie- chischen sondern auch der altrömischen Schöpfungen, hindern die hervorragendsten i,-ömischen Dichter nicht, ihre Werke mit jener wahren Poesie und jenem nationalen Geiste zu erfüllen, der den Alexandrinern völlig abgiug. Die Römer schrieben nicht für einen engen Kreis von Gelehrten, sondern für ein grosses und gebil- detes Publicum, welches im Dichter auch den Rhetor, Gramma- tiker und Gelehrten verlangte. In diesen für einen römischen Dichter so wesentlichen Vorzügen hat nun aber Niemand den Virgil übertroffen, der, abgesehen von einem eingehenden Studium der Kunst, auch die Sprache sowol in ihrer gegenwärtigen Ge- stalt wie in ihren literarischen Antecedentien durchforschte, um sie so geschmeidig wie möglich und seinen künstlerischen Ab- sichten dienstbar zu machen. Ebenso eifrig schöpfte er aus Büchern und erlernte auf Reisen, was er von Localkenntniss, Mythologie, Alterthümern und dergl. für sein Gedicht für nöthig erachtete'). Er verstand sich auf das Geheimniss, diese seine

•, 1) Dem Augustus, der während des Krieges mit den Cantabrern über den Zustand der Arbeit unterrichtet sein wollte, antwortete er: de Aenea quidenuneOjSimeherclejani digunm auribus haberenituis,]ibouterniitterem ;

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 1;'

grosse Gelehrsamkeit nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen und ihr niemals die Poesie unterzuordnen. Die Alten begriffen das sehr wol)^), und der Dichter erreichte also den doppelten Zweck, sowol den Gelehrten von Fach wie zugleich dem ganzen Publicum zu gefallen. Die wunderbaren Vorzüge der Virgiliani- sehen Poesie im Gebrauch und der Erschaffung einer dichterischen Redeweise, in der metrischen Structur, die Genauigkeit der ge- lehrten Forschung, die er anstellte, um seinen Erzählungen das richtige Colorit zu geben, sind so deutlich, dass selbst die strengste und missgünstigste Kritik unserer Zeit in dieser Hin- sicht das von den Alten dem Dichter gespendete Lob hat aner- kennen müs^n-).

sed tanta inchoata res est, ut paene vitio mentis tantum opus ingressus mihi videar, cum praesertim, ut scis, alia quoque studia ad id opus multoque potiora impertiar. Macrob. Sat. I, 24, 11. Bei einer so schwie- rigen und delicaten Arbeit überrascht die Mittheilung des Biogi-aphen nicht (p. 59): traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus, ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, uon ab- surde Carmen se informe more ursae parere dicens et lambendo demum effingere. Aeneida prosa prius oratioue formatam digestamque in XII libros particulatim componere instituit, prout liberet quidquid, et nihil in ordinem arripiens, ut ne quid impetum moraretur quaedam imperfecta transmisit, alia levissimis verbis veluti fulsit, quae per iocum pro tibi- cinibus interponi aiebat, ad sustinendum opus, donec solidae columnae advejirent. Auf die Composition der Aeneis, wie sie heut uns vorliegt, verwandte er 11 Jahre. Der Tod unterbrach sein Werk; denn er hatte sich vorgesetzt noch 3 fernere Jahre an demselben zu arbeiten und zu feilen, und in eben dieser Absiebt unternahm er die für ihn verhängniss- volle Reise nach Griechenland. Donat. p. 62.

1) „Vergilium multae antiquitatis hominem sine ostentationis odio peritum." Gell. V, 12, 13. Dasselbe bringt auch Quintihan bei .seiner Vergleichung Virgil's und Homers in Anrechnung, indem er sagt: ,,et hercle ut illi naturae codesti atque immortali cessserimus: ita curae et diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum et quantum eminentibus vincimur fortasse aequalitate pensamus" Inst, or. X, 1, 86.

2) Vgl. Bernhardy, p. 437. Teuffei, p. 397. Hertzberg, (Uebers. der Aeneis), p. XI, ff. Hermann, Elem. doctr. metr. 357. Müller, De re metr. p. 140 ff., 183, 190 f. Xiebuhr, Rom. Gesch. I, p. 112 (3. Ausg.). Ueber die Aeneassage und die Art ihrer Behandlung durch Virgil vgl. ausser Klausen, Aeneas und die Penaten, 11, p. 12. 49 f. Rubino, Beiträge zur Vorgeschichte Italiens, p. 68 ff. 156 ff. 173 und besonders das Lob über die Genauigkeit und Gelehrsamkeit des Dichters p. 121 128. Mit einer oft oberflächlichen und freien, aber nicht unver- ständigen Kritik hat Weidner in der Vorrede zu seinem Commentar zn

10 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

Tendenz und Charakter des römischen Nationalgefühls waren der Art, dass der Eindruck, den schon die äusseren und rein for- malen Vorzüge des Gedichtes hervorriefen, ausserordentlich tief war." Ja, dieser Eindruck blieb in allen Gestaltungen, denen sich die Schöpfung des Dichters anbequemte, lebendig, selbst noch in den schlechtesten Reproductionen des lateinischen Mittelalters. Die Vollendung des sprachlichen Ausdruckes war für die Kömer von solcher Wichtigkeit bei einem Kunstwerk , dass man sie als einen Massstab bezeichnen kann, nach welcher dasselbe beurtheilt wurde , ja , dass man sie allein vielen anderen Vorzügen gleich stellte. Die Stellung der römischen Dichter war bisher eine von den Griechen ganz verschiedene: bei diesen waren die Kunstfor- men, nachdem sie sich aus dem natürlich fortgeschrittenen Na- tionalgeiste heraus entwickelt hatten, von einer stets in gleicher und entsjDrechender Weise entwickelten Sprache unterstützt wor- den, so dass die Dichter ohne grammatisches und philologisches Studium dieselbe ihren Intentionen gemäss leicht formen und ge- stalten konnten. Der Entwickelungsprocess der römischen Lite- ratur ist weit weniger natürlich gewesen. Eine i'ohe, i'auhe und uncultivirte Sprache einer literarischen Form, die ihrem Ur- sprünge nach nicht national und gleichsam plötzlich von aussen hereingebracht war, dienstbar zu machen, war ein Unternehmen von ausserordentlicher Schwierigkeit, mit der die ältesten lateini- schen Schriftsteller zu kämpfen hatten, und welche ihre volle Thätigkeit in Anspruch nahrn^). Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die römische Literatur von Livius Andronicus an bis auf Cicero und Virgil geradezu als eine blose Reihe von Versuchen, die aus dem fortwährenden Bestreben hervorgingen, die Sprache für die ästhetischen Anforderungen, welche der grie- chische Einfluss dem Gefühl und Geschmack auferlegt hatte, ge- lenkig zu machen^). Eben aus jenem Grunde sowie in Folge des Einflusses der griechischen Cultur wh-d die grammatische For-

Vergil's Aeneis, Buch I und II (Leipz. 1869) p. 5;^. ff. die Verdienste des Dichters resumirt.

1) Vgl. L er seh, die Sprachphilosophie der Alten, I, p. 103.

2) Lucrez, der starb, als Virgil ir> Jahr alt war, lässt in seinem Ge- dicht nicht nur einen derartigen Versuch erkennen, sondern spricht sogar ganz offen darüber, Hib. I, 135).

,,Xec me animi fallit Graiorum obscura reperta difficile inlustrare latinis vers^ibus esse, multa novis verbis i^raesertim cum sit agendum, propter egestatem linguae et rerum iiovitateni."

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 17

schung von jedem lateinischen Schriftsteller schon geübt, bevor noch die Literatur sich vollständig entwickelt und der National- geist Formen aufgefunden hatte, in denen er sich vollkommen aus- prägen konnte. Dieses letzte Resultat haben erst Cicero für die Prosa und Virgil für die Poesie erreicht. Beide haben jenem Ideale einer vollendeten Sprache, jenem Bedürfniss nach Schärfe, Fein- heit und Harmonie des Ausdruckes so ganz und so richtig ent- sprochen, dass mit ihrer Arbeit das Streben endlich seinen Ab- schluss gefunden hat, jeder weitergehende Versuch aber unglück- lich auslaufen musste. Dieses gewiss nicht kleine Verdienst wurde zuallererst von den Alten bemerkt und war, da es dem allgemeinen Bedürfnisse so entgegen kam, eine Hauptursache des Ruhmes jener beiden. Die Wirksamkeit des Redners wie des Dichters hing so genau von jenem Vorzug ab, dass man danach den Redner als Redner und den Dichter als Dichter beurtheilen konnte.

Allerdings ist dieses Gewicht, welches auf die Bedeutung einer rein formellen Eigenschaft von dem urtheilenden Publicum gelegt wurde, abgesehen von der damit verbundenen Gefahr, das essentielle nach dem Werthe des formalen abzuschätzen, nicht das, was man bei einer gerechten Beurtheilung des künstlerischen Werthes eines Schriftstellers verlangen muss. Ohne dem zu harten Ausspruche Mommsen's über das Verdienst Cicero's als Redner beizupflichten, bleibt doch unzweifelhaft, dass die grosse Berühmtheit auch des Redners Cicero zum grossesten Theil aus seiner Bedeutung als lateinischer Schriftsteller hervorgeht, mehr wie aus seinen Ver- diensten als Redner^). Aus eben diesem Grunde galt Terenz das ganze Mittelalter hindurch mehr als Plautus, so viel höher auch dieser als Komiker über jenem stand ^). Wenn nun aber das Ur-

Vgl. auch I, 831 und III, 257. Heffter, Geschichte der lateinischen Sprache während ihrer Lehensdauer, p. 124 und Herzog, Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der griechischen und lateinischen Sprache, (Leipz. 1871) p. 196 ff., der jedoch über die augusteischen Dichter mit grosser Leichtfertigkeit urtheilt (p. 213) und ganz und gar die Bedeu- tung und den Einfluss der Sprache Virgils auf die Schule, die grammati- kalischen Werke und die literarische Production vergisst.

1) Vgl. Blass, Die griech. Beredsamkeit in dem Zeitraum von Alexan- der bis auf Augustus, p. 125 ff'.

2) „Sciendum tamen estTerentium propter solam proprietatem omnibus comicis esse praepositum, quibus est, quantum ad cetera spectat, inferior" Serv. zur Aen. I, 410. Schon viel früher hatte Cicero (ad Att. VII, 3,

10) gesagt: „secutusque sum, non dico Caecilium malus enim auctor

latinitatis est, sod Torentium cuius fabellae propter elegantiam sermonis

Comparetti, Virgil im Mitulalter. 2

18 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

theil der Alten über Cicero wegen ihrer Vorliebe für spracliliclie Vorzüge von der richtigen Bahn ablenkte, in sofern sie ihm einen Rang einräiimten, der von dem in der Geschichte der Beredsam- keit ihm gebührenden durchaus abweicht, so hielt sich doch ihr Urtheil über Cicero in einer der Wahrheit entsprechendem Sphäre, als das über Virgil, da es der ürtheilsfähigkeit der Alten näher stand; denn durch die Praxis der Rede und das republikanische Leben waren in der That die Römer fähiger geworden, einen Redner als einen Dichter zu beurtheilen, dessen Eigenthümlichkeit weniger als bei dem ersteren auf dem nationalrömischen Geiste beruhte. Und so finden wir denn wol über Cicero ürtheile von allgemeinem Cha- rakter, wobei sowol seine Eigenthümlichkeit als Redner berück- sichtigt, als auch seine Kunst in ihrem Werthe an sich wie in ihrer Beziehung zu den griechischen und lateinischen Rednern ei'läutert wird. Ein Urtheil hingegen, welches die Eigenthümlichkeit Virgils, ich will nicht sagen, in gerechter, aber erschöpfender Weise darlegt, findet sich nicht. Und doch ist über ihn mehr geschiiebeu worden als über irgend einen anderen lateinischen Schriftsteller. Dieselbe Begeisterung, welche die Aeneis nicht allein bei ihrem ersten Erscheinen, sondern auch während der Poet noch an der Arbeit war, und man nur einige Bücher oder Proben des Werkes kannte, erweckte, rief auch eine Menge Schriften und Kritiken hervor ^).

Den masslosen Albernheiten einzelner Feinde, nicht Kritiker des Dichters, halten die zahlreichen Beweise enthusiastischer Be- wunderung, die ohne Zweifel den Grad und die Natur des allge- meinen Eindrucks treu wiedergeben , vollkommen die Waage. Aber Enthusiasmus und Sarkasmus sind nicht Kritik. In wie weit die Schriften zeitgenössischer Grammatiker sowie solcher des ersten Jahrhunderts der Kaiserzeit sich bezüglich Virgils auf ästhetische Fragen einliessen, ist nach den uns gebliebenen Notizen schwer

putabantur a. C. Laelio scribi." Und doch räumte Vulcatius Sedigitus Caecilius unter den Komikern den ersten Platz ein, den zweiten Plautus, und den sechsten Terenz. (Gell. XV, 24).

1) üonatus (Vit. Vergil. p. 15) zählt einige einfältige Parodien über die Bucolica und Georgica von anonymen Verfassern auf, die Aeneo - mastix" des Carvilius Pictor, ein Werk des Herennius über die P'ohler^ eins des Perellius Faustus über die Entwendungen Virgils und acht Bücher „Homoeon elenchon" von Q. Octavius Avitus, in denen sich aufgezeichnet fand „quos et unde versus transtulerit." Asconius Pedianus, der unter Claudius lebte, schrieb ein Buch zur Vertbeidigiing Virgils gegen jene Leute und andere ihres Gleichen.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 19

zu beurtheileu; abex" es steht fest, dass wenn die Kunst Virgils in denselben in bemerkenswerther und hinreichender Weise de- finirt worden wäre, die uns bekannte Ueberlieferung der Gramma- tiker, die voll von dem Lobe des Dichters ist, uns dies auch be- wahrt haben würde. Statt dessen besteht das Beste, was uns jene erhalten hat, in einer zwar gerechten, aber unzureichenden Observation des Domitius Afer, welcher ganz äusserlich Virgil einen Rang in jener Dichterhierarchie, deren Haupt Homer ist, anwies ^). Die Alten vermochten eben wol mit Gerechtigkeit aber doch nur äusserlich die Beziehung zwischen der Poesie Virgil's und Homer's zu erkennen. Von den Urtheilen der Zeitgenossen wird uns nur ein einziges überliefert"), das, wenngleich boshaft aus- gedrückt, mit einiger Wahrheit eine allgemeine Charakteristik der Virgilischen Kunst gibt; aber es berücksichtigt den Dichter nur von einem oratorischen Standpunct und könnte auch auf einen Red- ner passen^). Diejenigen ferner, welche Vii-gil einen Vorwurf aus der Benutzung Homers machten, waren augenscheinlich feindlich gegen ihn gesinnt, denn sie vergassen, dass so viele andere gi-osse

1) „Utar enim verbis eisdem quae ex Afro Domitio juvenis excepi, qui mihi interroganti quem Homere crederei maxime accedere: secundus, inquit, est Vergilius, propior tameu primo quam tertio." Quintil. X, 1, 8G. Domitius Afer, Praetor im J. 26 n. Chr., starb 59. Vgl. dasselbe Urtheil versificirt von Alcimus Avitus (5 6. Jahrh.) in der Anthologia lat. (Meyer) No. 259.

2) „M. Vipsanius a Maecenate eum suppositum appellebat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nee exilis sed ex commuuibus verbis, atque ideo latentis." Donat. Vit. Verg. p. 65.

3) Wahr und gerecht sagt auch HorazT(Sat. J, 10, 45):

„molle atque facetum Vergilio annuerunt gaudentes rure Camenae." Jedoch ist zu bemerken, dass diese Worte, nie das ,,rure'"' deutlich be- weist, sich nur auf Bucolica und Georgica beziehen. Als Horaz das erste Buch der Satiren (vom .Jahre 41 bis zum Jahre 35 v. Chr. nach den Meisten) schrieb, dachte Virgil noch an gar keine Aeneis. Der Dichter beschäftigte sich in jener Zeit mit den Georgica. Wenn die Meinungen über die Daten nicht so verschieden und ungewiss wären, könnte man behaupten, dass die Worte des Horaz sich nur auf die Bucolica bezögen. Hätte Horaz das Gedicht gekannt, so würde er sich gewiss nicht be- gnügt haben, die Poesie seines Freundes mit jenen Worten zu charakte- risiren. Virgil war todt, und sein Gedicht schon veröffentlicht, als Horaz die Ars poetica (9 oder 10 v. Chr.) schrieb; aber die einzige Erwäh- nung Vii-güs, die sich daiin findet (v. 53), betriflft nur einen Vergleich zwischen der alten and neuen Schule im allgemeinen in Bezug auf die Sprache.

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20 Viigil in der Literatur bis auf Dante.

Dichter der früheren Zeit^), sowol Römer wie Griechen, sich dasselbe erlaubt hatten, und dachten ausserdem (wie Virgil selbst auf solche Vorwürfe zu antworten pflegte)^), nicht an die grosse Schwierig- keit dieses Unternehmens, wenn es gut ausfallen sollte. Die ziem- lich freie Benutzung der früheren griechischen wie römischen Dichter von Seiten Virgils hatte ihre Berechtigung in einer eigenen Anschauungsweise und in einer den antiken Völkern gemeinsamen und gleichraässigen Tradition. Daraus dem Dichter einen Vor- wurf machen wäre damals ungerechter und gehässiger gewesen, als uns heute scheinen kann, die wir über solche Dinge ganz an- ders denken^).

Im allgemeinen beschränkt sich die Kritik jener Gramma- tiker auf Einzelheiten; man spricht über Wortformen, metrische Structuren, über Partieen des Organismus der Erzählung, man be- merkt einige Inconsequenzen und Widersprüche und erörtei-t ge- lehrte Fragen. Spärlich und stets auf Einzelheiten bezüglich sind die Observationen über den Stil, sie beschränken sich meist auf Vergleiche: dort ist ein Bild, das Virgil besser oder schlechter als Homer behandelt, hier eine Beschreibung, in der ihn Pindar übertroflFen hat. Im Ganzen zeigt sich in allen diesen Bemerkungen"*) eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit des Urtheils: Virgil wird, wenngleich man ihn auf dem Felde der Grammatik, Rhetorik und Erudition als höchste Autorität betrachtet in dieser ersten Epoche der gelehrten und vernünftigen Grammatiker, nicht blind bewun- dert. Man erkennt und beleuchtet viele Fehler an ihm, und sogar Asconius Pedianus gesteht dieselben in seinem Buche, das er gegen die Neider und Kiitiker des Dichters schrieb, zu. Aber Leute,

1) Vgl. Walther, de scriptorum romanorum usque ad Vergilium studiis homericis. Vratisl. 1867.

2) „Hoc ipsum crimen sie defendere assuetum ait (Asconius Pedianus) : cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere." Donat. Vit. Ver- gib p. 66.

3) Man vgl. hierüber die feine und richtige Bemerkung Hertzbergs in der Einleitung zu seiner Uebersetzung der Aeneis p. VI. In diesen s. g. Entwendungen Virgils, wie Teuflei (Gesch. d. röm. Lit. p. 392) will, einen Beweis von Mangel an Originalität beim Dichter erblicken, ist ein schwerer Irrthum.

4) Eine kritische Uebersicht der Bemerkungen, welche die Alten über Virgil machten, findet man in den Prolegomena bei Ribbeck, c. VlIT. Im Allgemeinen beziehen sich diese Bemerkungen auf die Aeneis, selten auf Bucolica und Georgica.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 21

welche eine feindliche Gesinnung gegen den Dichter zur Kritik trieb, finden sich nur unter den Zeitgenossen desselben. Die kri- tischen Observationen des Hygin und Probus so wie die etwas stren- geren und zahlreicheren, aber weniger gerechten des Annaeus Cor- uutus ^) tasteten in keiner Weise den Euhm Virgils an. Man hielt die Fehler für unvermeidliche Mängel, die jeder menschlichen Schöpfung anhafteten, und die mau auch beim Homer wahrnahm. Im allge- meinen galt die Ueberzeugung, dass der grosse Dichter sie ent- fernt haben würde, wenn ihn der Tod nicht an der Vollendung seines Werkes gehindert hätte. Ja, man ging auch wol so weit, dem Dichter die Absicht unterzuschieben, durch Anwendung von Schwierigkeiten in seiner Dichtung, das Verständniss und den Scharfsinn der Grammatiker auf die Probe zu stellen^).

So vermochte man also schon in dieser ersten Epoche den Werth der Virgiliauischen Poesie mehr zu fühlen, denn zu definiren. Als treuestes Organ des Nationalgefühls, als künstlerisches Pro- duct, das durchgängig auf das feinste mit dem Geschmacke, den Tendenzen der Cultur und den Bedürfnissen des Zeitgeistes har- monirte, übte sie einen ungeheuren und wolberechtigten Zauber aus, vor welchem selbst der Euhm des grossesten römischen Redners er- blasste und farblos ward. Aber sobald man von diesem allge- meinen Eindruck zu den Ursachen und zur Analysis des Gedichtes übergehen wollte, blieb man bei einem rein äusserlichen und for- mellen Theile stehen, weil hieraiif ganz besonders das Studium gerichtet war, und die literaturgeschichtUche Betrachtung nicht za einer wahren Einsicht in das Wesen des Epos gelangen konnte. Diese Art der Kritik störte nicht wenig, wie bereits bemerkt wor- den, auch die Ai;ffassung der Ciceronianischen Beredsamkeit, obgleich

1) Dieser Grammatiker, der Lehrer des Lucan und Persius, scheute sich nicht vor harten Ausdrücken (abiecte, sordide, indecore etc.) in seiner Kritik des Virgil. Aber seine allgemeinen Bemerkungen, so weit wir von ihnen Kenntniss haben, beschränken sich auf nichtige Sophismen oder offenbare Irrthümer. Und doch war auch er ein Bewunderer des Dich- ters, wie aus seinen Worten hervorgeht: „jamque exemplo tuo etiam principes civitatum, o poeta, incipient simiUa fingere." Charis. p. 101 (ed. Keil). . .

2) „Asconius Pedianus dicit se Vergilium dicentem audisse, in hoc loco se grammaticis crucem fixisse, volens experiri quis eorum studiosior iuveniretur." Servius zu den EM. III, 105. Cf. Philargyr., und Scholl. Bern, ebend. Aber wahrscheinlich citirte Asconius die Autorität an- derer, da er noch nicht einmal geboren war, als Virgil starb. Vgl. Ribbeck, Prolegg. p. 97 ff.

22 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

die Römer für die Redekunst mehr coiiipetente Richter waren, und man bei einem Vergleiche zwischen Cicero und Demosthenes sich auf einem viel festeren Boden befand, als bei einem solchen zwischen Homer und Virgil. Was letzteren betrifft, so beschränkte die Kritik den Werth des Dichters auf ein Gebiet, das für einen so grossen Namen, für die Art und die Universalität des Enthusiasmus, welchen er erweckt hatte, gar zu eng war. Der poetische und nationale Werth dieses Namens, das, was zwar im allgemeinen gefühlt, aber auf jenem engen Gebiete nicht in seiner Wahrheit zur Er- scheimm'g kommen konnte, war gleichsam das Ferment, durch welches die definirbare Seite des Gedichtes, die rein gelehrten Vorzüge, immer grössere und übertriebenere Proportionen annahm. Der Gedanke an ein universelles Wissen des Dichters ist zwar noch nicht vorhanden, wol aber der Gedanke an seine litera- rische Universalität, wodurch Vii-gil in der Poesie und Prosa, in der Grammatik und Rhetorik, d. h. in den ersten und am meisten charakteristischen Bestand theilen der Cultnr der Zeit, massgebend wird; jedermann ist geneigt, wenn er von ihm spricht, die Zahl und Mannigfaltigkeit seiner Verdienste zu übertreiben; nicht ein- mal Martial äussert eine ihm allein angehörige Idee, wenn er sagt, dass Virgil, falls er sich hätte im Drama und in der Lyrik versuchen w^ollen, ohne Zweifel die grossesten Lyriker und Tragiker würde übertroffen haben ^). Von Anfang an also finden sich in dem Ruhme des Dichters die Zeichen und Ur- sachen einer Verin-ung, die aber, wie wir sehen werden, noch ganz andere Formen und Verhältnisse annehmen.

Drittes Capitel.

Virgil gehörte zu der kleinen Anzahl von Dichtern, die in

jeder Hinsicht vom Glücke begünstigt wurden. Bewundert wegen

der seltenen Gaben nicht allein seines Talentes sondern auch seines

Charakters, die ihn zu einem der liebenswürdigsten Menschen

1) „Sic Marc uec calabri tentavit carmina Flacci, Pindaricos nosset cum superare modos; Et Vario cessit romani laude cothurni, Quum posset tragico fortius ore loqui.

Martial., VITI, 18. Man muss hier jedoch gestehn, dass Virgil, wie sichtbar auch sein Eia- fluss auf die Prosa war, er doch als Prosaiker keinen gi-osseu Namen hinterliess. „A'^ergilium illa felicitas ingeni in oratione soluta reliquit." Seneca, Controv. 3, 361 (Bursiau) vgl. Donat. Vit. Verg. p. 58.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 23

uiachteuM, trugen sämmtliche Dichter seiner Zeit kein Bedenken, tacine Ueberlegenheit anzuerkennen und priesen ihn wetteifernd in enthusiastischen Worten, wie wir aus den erhaltenen Stellen dieser Dichter sehen. Es fehlte ihm freilich nicht an Feinden, weil solche dem Genie niemals fehlen, aber sie verschwanden vor der Achtung der bedeutenden Männer jeden Ranges und des römischen Volkes, welches beim Anhören seiner Verse im Theater sich ein- müthig erhob und dem zufällig anwesenden Dichter ein Zeichen der Achtung zu Theil werden Hess, wie sonst nur dem Augustus selbst^). Aus dem Maasse, in dem man bei seinen Lebzeiten sein Werk pries, konnte er einen sichern Schluss auf die Fort- dauer und Unsterblichkeit seines Namens machen.

In allen Kreisen der Gesellschaft offenbarten sich die Spuren von des Dichters Popularität. Unter den Vornehmen, die der Mode wegen ein Interesse für Literatur zeigten, behandelte die gebil- dete Frau, wie sie luvenal beschreibt, (nach dem Scholiasten wäre es Statilia Messalina, das Weib Nero's), in einem Kreise von Grammatikern und Rhetoren mit grossem Pathos und einem Ueberfluss von Worten die literarischen Fragen des Tages; sie sprach von Dido und verglich abwägend Virgil und Homer mit einander^). Polybius, der Freigelassene des Claudius, ein sehr einfiussreicher Höfling und literarischer Dilettant, wahrscheinlich von der Art wie sein Herr selbst, unternahm eine lateinische Paraphi'ase Homers und eine griechische Virgils, und Seneca spen-

1) „Cetera saue vitae et ore et animo tarn probum coustat ut Nea- poli Parthecias vulgo appellatus sit.' Donat. Vit. Vergil., p. öl. „anima candida". Horat. Sat. I, 5, 41. Einige alte Commentatoren des Horaz haben auch Virgil, wenn gleich mit Unrecht, in den Worten: „Iracun- dior est paulo etc." Sat. I, 3, 29 S. erkennen woUen.

2) „Malo securum et secretum Vergili recessum, in quo tarnen neque apud divum Augustum gratia caruit, neque apud populum romauum no- titia. Testes Augusti epistulae, testis ipse 2)opulus, qui, auditis in theatro Vergili versibus, surrexit universus, et forte praesentem spectan- temquc Vergilium veneratus est sie quasi Augustum." Dial. de Ora- torr. lo. Seine „apud populum romanuui notitia" geht auch aus der Biographie hervor: „ut.... si quando Romae, quo rarissime commeabat, viseretur in publico, sectautis demoustrautisque se suifugeret in proxi- nium tectum." Donat. Vit. Vergil. p. 57.

3) Sat. VI, 434 fi.:

„Illa tarnen gravior, quae cum discumbere coepit laudat Vergilium, periturae iguoscit Elisae, committit vates, et comparat; inde Maronem, atque alia parte in trutiua suspendit Homerum.

24 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

dete ihm in der ihm gewidmeten Schrift für sein Werk ^) ebenso aufrichtige Complimente wie seinem Kaiser, dem späteren Helden der Apokolokynthosis. Anch das Theater war ein Feld, auT dem sich die grosse Popularität des Dichters zeigte. Hier recitirte man nicht nur zu Virgils Lebzeiten und mehrere Jahrhimderte nach seinem Tode hindurch seine Verse ^), sondern man benutzte die- selben sogar zu besonderen Darstellungen. Der von allen Seiten bedrohte Nero , da er sein Ende herannahen sah , gelobte , wenn er am Leben bliebe, selbst eine pantomimische Composition Tur- nus, deren Stoff er der Aeneis entnehmen wollte, zur Aufführimg zu bringen^). Es gehörte ferner zu einem Raffinement der Mode, bei reichen Gastmälem unter anderen Unterhaltungen auch Vir- gilische und Homerische Verse recitiren zu lassen. So sehen wir bei der üppigen Tafel des Trimalchio die Homeristen eine Rolle spielen, und hören, wie ein declamirender Sklave den fünften Gesang der Aeneis misshandelt^). Unter den Geschenken (Xenia), die man der Sitte nach zu gewissen Zeiten machte, be- fanden sich auch hin und wieder Bücher, die gerade in der Mode waren; und darunter einige der kleineren Gedichte, wie die gan- zen Werke Homers \ind Virgils, häiifig mit dem Bildnisse des

1) Homerus et Vergilius tarn bene de humano genere meriti quam tu et de omnibus et de illis meruisti, quos pluribus notos esse voluisti quam scripserant, multum tecum morentur." Dial. XI, (Ad Polyb. de consci.) 8, 2. „Agedum illa quae multo ingeni tui labore celebrata sunt, in manus sume, utriuslibet auctoris carmina, quae tu ita resolvisti ut quamvis structura illorum recesserit, permaneat tarnen gratia. Sic enim illa ex alia Lingua in aliam transtulisti, ut, quod difficillimum erat, omnes virtutes in alienam te orationem secutae sint." Ebend. 11, 5.

2) „Auditis in theatro Vergili versibus." Dial. de Oratorr. a. a. 0. „bucolica eo successu edidit ut in scena quoque per cantores crebro recitarentur" Donat. Vit. Vergil. p. 60.

3) „Sub exitu quidem vitae palam voverat, si sibi incolumis status permansiaset, proditurum se partae victoriae ludis etiam hj-draulam et choraulam et utricularium, ac novissimo die histrionem, saltaturumquc Vergili Turnum." Sueton. A'^I, 54. vgl. Jahn, im Hermes II. p. 421. Friedlaender, Sittengeschichte II. 274.

4) .,Ecce alius ludus. Servus qui ad pedes Habinnae sedebat, iussus, credo, a domino suo, proclamavit subito canora voce: „Interea medium Aeneas iam classe tenebat." Nullus sonus unquam acidior percussit aures meas; nam praeter recitautis barbarie aut adiectum aut deminutum cla- morem, miscebat Atellanicos versus, ut timo primum me Vergilius ofFen- derit." Petron. Sai. 68.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 25

Dichters geschmückt und sauber auf ein kleines Format ge- schrieben ^).

Der Name Virgils und der Dichter der neuen Schule blieb aber nicht blos auf Rom beschränkt, sondern durchlief in einem Augenblicke auch die Provinzen. Unter den zahlreichen Inschriften, die man auf den Mauern von Pompeji eingekratzt sieht, befinden sich einige Verse aus Ovid und Properz , aber weit häufiger Verse aus Virgil^). Einer von diesen zeigt uns den TOsten Vers der S.Ekloge :

Carminibus Circe socios mutavit Ulixis; ein anderer lautet:

Eusticus est C'orydon^), ein dritter, der einen traurigen Eindruck in der zerstörten und ver- lassenen Stadt macht:

Conticuere om(nes).

Die Inschriften rühren wahrscheinlich von Schülern her, von denen auch die Alphabete oder Theile solcher herstammen, die an einigen Stellen in Pompeji auf die Wand aufgezeichnet sind**). Als sich die Katastrophe Pompejis 79 nach Chr.

1) „Accipe facundi Culicem, studiose Maronis

ne nugis positis Arma virumque canas."

Mart. XIV, 185. „Quam brevis immensum cepit membrana Maronem ! Ipsius Tultus prima tabella gerit."

Ebend. XIV, 186. Ausser Homer und Virgil finden wir unter diesen Xenien im Martial Menander, Cicero^, Properz, Livius, Sallust, üvid, TibuU, Lucan, Catull.

2) Vgl. Bücheier, die pompejanischen Wandinschriften im Rh. Mus. N. F. XII, 250 ff. Garrucci, Graffiti, tav. VI, 5 (Aen. II, 148). Neue Ausgrabungen vermehren diesen Bestand der Virgilischen Verse, wie anderer Schriftsteller. In der Sammlung Zangemeisters „Inscriptiones parietariae pompejanae^ herculanenses, stabianae" (IV Vol. des Corp. insc. latt.) Berlin 1871 sind Virgilische Verse oder Theile solcher die Nummern 1237 (Aen. V, 110) 1282 (Aen. I, 1) 1524 (Ecl. 2, 56) 1527 (idem) 1672 (Aen. I, 1) 1841 (Aen. II, 148) 2213 (Aen. II, 1) 2361 (Aen. I, 1) 3151 (Aen. II, 1) 3198 (Aen. I, 1). Dazu kommen noch zwei andere im „Giornale degli Scavi di Pompei" 24. Serie Voi. I, 281 publi- cirte Inschriften p. 281 (Aen. I, 234), Voi. II, p. 35. (Aen. I, 1).

3) Die gewöhnliche Lesart ist: rusticus es Corydon, aber der Cod. Rom. hat est wie die pompejanische Inschrift.

4) Vgl. Garrucci, Graffiti, tav. I. Wie bekannt unterrichteten die Elementarlehrer im Freien, auf Plätzen, Strassen und unter Portiken. Vgl. Ussing, Darstellung des Erziehungs- und Unterrichtswesens bei den Griechen und Römern (übers, von Friedrichsen, Altena 1870) p. 100 f. Ueber die auf die Schule bezüglichen Darstellungen der alten pompeja- nischen Wandgemälde vgl. Jahn: „Ueber Darstellungen des Handwerks und Handelsverkehrs auf antiken Wandgemälden" (Leipz. 1868) p. 288 ff.

26 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

ereignete, war Virgil seit 98 Jahren todt, aber obwol ohne Zweifel der grössere Theil der eingekratzten Inschriften in den Zeitraum zwischen der letzten Katastrophe und der, welche ihr um 16 Jahre vorausging, zu setzen ist, sind doch viele sicher weit älter; eine von ihnen gehört bestimmt dem Jahre 79 vor Chr. an, und eins der Alphabete muss man auch, wie es scheint, der Zeit der Kepublik zuschreiben^). Virgils Name war in Campanien, seinem Lieblingsaufenthalt, schon so lange er lebte, sehr berühmt; durch sein Grab in Neapel aber wurde derselbe auf eine ganz be- sondere Weise localisirt. Nichts hindert uns daher zu glauben, dass jene Verse auf den Mauern Pompeji's aus einer dem Leben des Dichters sehr viel näher stehenden Epoche stammen, viel- leicht gar aus der Zeit, in der er noch lebte. Die Verse „Rusti- cus est Corydon" und „Conticuere omnes" sind noch heute zwei der allerbekanntesten Stellen des Virgil, deren sich jeder erinnert, der die Schule besucht hat. Allein nicht blos die pompejanischen Graffiti liefern den Beweis für die Popularität Virgils; auch un- ter den speciell sogenannten Inschriften begegnen uns auf den Gegenständen der verschiedensten Art Verse des Dichters: auf einem silbernen Löffel, einem Ziegel, einem Flachrelief, das eine Wildprethändlerin darstellt, sowie endlich auf Grabdenkmälern^). Aber der bemerkenswertheste Triumph, den Virgil und an- dere augusteische Dichter feierten, war doch der Umstand, dass ihre Werke einen Platz im Untemcht erhielten. Nachdem ein- mal durch dieselben die Lücke, die sich seit so langer Zeit in der lateinischen Literatur bemerkbar gemacht hatte , ausgefüllt war, wäre es Thorheit gewesen, wenn man in der Schule der alten Tradition hätte folgen und nicht vielmehr von dem neuen leben- digen Elemente, das sich den Studien darbot, Nutzen ziehen wollen. Ohne Zweifel mehr, als gewisse Reformen des Augustus, trug die Entwickelung der Literatur und der Grad der Vollen- dung, den dieselbe mit Cicero und Virgil erreicht hatte, zum Aufl^lühen der grammatikalischen Studien, als einer Specialwissen- Unter den pompejanischen Graffiti ein sehr sonderbarer grammatika- lischen Inhaltes bei Garrucci, tav. 17. Jahn, a. a. 0. p. 288.

1) Bücheier, a. a. 0. p. 246.

2) Auf einem silbernen Löffel liest man den 17. Vers der 1. Ekloge, auf einem Flachrelief der villa Albani die Verse 607 ff. des ersten Ge- sanges der Aeneis; S. Jahn, Ber. d. süchs. Ges. d. Wiss. 1861 p. 365; auf einemi Ziegel aus dem 1. Jahrhundert die beiden ersten Verse der Aeneis. S. Archäolog. Anz. 1864 No. 184. p. 199. Virgilische Verse auf Grabinschriften bei Marini, Frat. arv. p. 826 f. Papiri diplom. p. 332 f.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 27

Schaft, bei. Kaum waren die neuen Dichtungen zu Tage getreten, als sich Grammatiker ihrer im Unterricht bedienten, unter ihnen als der erste vermuthlich Q. Caecilius Epirota, ein Fi-eigelassener des Atticus, welcher nach Sueton zuerst in seinem Elementar- unterricht die Knaben in der Leetüre Virgils und anderer neuer Dichter unterwies ^). Für einen , der nicht Specialstudien über den Zustand der Cultur und den Unterricht jener Epoche gemacht hat, ist es schwer, sich genau vorzustellen, wie gross die Macht und der Einfluss der Grammatiker auf die Bildung und Entwickeluug lite- rarischer Berühmtheiten war. Bei dieser fieberhaften literarischen Production, die nicht blos durch den Geschmack eines Fürsten hervorgerufen, sondern auch in Folge des äussern Glanzes der Zeit Modesache geworden war, weshalb sich sogar ein Trimalchio als Literat gerirte, waren die Mittel die zu Popularität und Gunst führten auf das eifrigste begehrt. So bezahlte man bei den reci- tationes die Claqueurs^), man verschmähte kein niedriges Mittel, um sein Werk in den Schulen der Grammatiker einführen zu können, und so die armseligen Producte der eigenen Muse durch den Unterricht gleichsam einer höheren Weihe für würdig er- achtet zu sehen. Die Verachtung, mit der Horaz von diesen Mitteln spricht, beweist, wie sehr sie angewandt wurden^). Sicher ist es , dass es sich der Mühe verlohnte nach der Ehre zu stre- ben, in den Schulen gelesen zu werden. Denn eben die Grammatiker waren es, die jenen Kanon von Poeten auswählten, der allein auf dem Wege durch die Schulen auf uns gekommen ist. Viele Schriften wären nicht verloren, wenn sie das Glück gehabt hätten, von den Lehrern als mustergiltige Lectüi-e eingeführt zu werden; und so sind auch viele andere erhalten, die diese Ehre eigentlich nicht verdienten. So lange noch ein gewisser guter Geschmack herrschte, behauptete Virgil in den Schulen den ersten Platz, und zugleich mit ihm Terenz, Horaz, Ovid, Catull imd die anderen auf uns gekommenen Dichter der guten Zeit. Später, als die Rhe- torik mehr und mehr den Platz der Poesie eingenommen hatte,

1) „Primus dicitur latine ex tempore disputasse primusque Vergilium et alios poetas novos praelegere coepisse." Sueton. de gramm. et rhet. 16.

2) Vgl. Helwig, de recitatione poetanim apud romanos, p. 20 f.

3) „Non ego ventosac plebis suffi-agia venor Impensis coenarum et tritae munere vestis: Non ego nobilium scriptorum auditor et ultor Grammaticas ambire tribus et pulpita dignor."

Hör. Epist. I, 19, 37 ff.

28 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

bediente man sich Lucan's, Juvenals, Statins' und anderer als mustergiltiger Schriftsteller, für die jedoch der Vergleich mit den ersteren mehr zum Nachtheil ausschlug. Indessen wurden auch die älteren fortwährend zugleich mit den jüngeren weiter gelesen und studirt; vor allen Virgil, der mit Homer (so lange die grie- chischen Studien noch gepflegt wurden) den- Anfang des Unterrichts- cursus bildete ^).

Das ganze erste Jahrhundert der Kaiserzeit wie einen Theil des zweiten hindurch kommt das grammatikalische Studium zu hoher Blüthe, beherrscht das ganze Gebiet der Literatur und gibt Specialisten Gelegenheit zu wichtigen und gelehi'ten Werken, die dann von den Grammatikern der späteren Zeiten geplündert wer- den. Ihr Vorbild fanden diese Arbeiten bis zu einem gewissen Grade in den grammatikalischen Studien der Griechen. Obgleich mau aber für die Erklärung Virgils eben so viel that, als fiiiher für Homer geschehen war, musste doch die Benutzung des ersteren als einer grammatischen Autorität sehr verschieden von der Art sein, wie die Griechen den Homer behandelt hatten. Hierin weicht der Ruhm Virgils von dem Homers, mit dem er ja äusserlich so viele Bei'ührungspuncte hat, durchaus ab. Homer war von den Alexandrinern zwar viel studirt imd illustrirt wor- den, aber seine Sprache und Form hatten damals nur einen hi- storischen Werth; und wenn sie immerhin noch in gewissen Dich- tungen aus künstlerischen oder akademischen Gründen angewandt werden konnte, so hätte sie doch niemals die Basis für eine grammatikalische Theorie abgeben können, welche dazu bestimmt gewesen wäre, den allgemeinen Sprachgebrauch der Schrift- steller zu beherrschen. Virgil hingegen, in welchem sich die la- teinische Dichtersprache am schönsten und bestimmtesten ent- wickelt hatte, war und musste die feste Basis imd unantastbare

1) „Ideoque optime institutum est ut ab Homero atque Vergilio lectio inoiperet." Quint. I, 85.

,,Cui tradas, Lupe, filium magistro (juaeris sollicitus diu rogasque. Omnes grammaticosque rhetorasque Devites moneo; nihil sit illi Cum libris Ciceronis aut Maronis."

Mart. V, 56. üummodo non pereat, totidem olfecisse lucernas Quot stabant pueri, cum totus discolor esset Flaccus, et haercret nigra fuligo Maroni."

luveual. VII, 215 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 29

Autorität für jede grammatische Theorie und Thätigkeit über- haupt sein^). Er ist zugleich der Polarstem für alle Gramma- tiker und in das Studium des Virgil vertieft sich jeder, der sich jener Wissenschaft widmet^'). Ohne Zweifel gab es kei- nen anderen lateinischen Schriftsteller, über den so viele Gram- matiker geschrieben haben, keinen, der so wie er zur Abfassung gi-ammatischer Werke beigetragen hat.

Seine literarische Bedeutung wie seine grammatikalische Au- torität erforderten eine grosse Sicherheit in der ursprünglichen Lesart seines Textes, imd mehrere Kritiker beschäftigten sich da- mit, nicht allein denselben durch Conjecturen zu verbessern, son- dern auch durch Herbeiziehung wichtiger, von seinen Erben her- stammenden Manuscripten und Autographeu, die es noch zu den Zeiten des Plinius, Quintilian und Gellius gab, zu emendiren^). Ausser der Textkritik bildete die Erklärung schwieriger Stellen, Wörter, mythologischer und geographischer Citate , wie stilistische Be- trachtungen dieser oder jener Stelle für sich und im Vergleiche mit einem anderen griechischen Schriftsteller, die Hauptgegen- stände der gelehrten Abhandlimgen des Hygin, (eines Freundes des Ovid und der neuen Dichterschule) ''^) , des Probus, den man den lateinischen Aristarch nennen darf, des Annaeus Cornutus und anderer nicht einmal vollständig bekannter Grammatiker, deren Aiifzähluug wir übergehen können; während andere wie

1) Quintilian, indem er von corte x, das als masculinum und fe- mininum gebraucht wird, spricht, sagt: .... „quorum neutrum reprehendo, cum sit utriusque Vergilius auctor" I, 5, 35. Die Grammatiker der spä- teren Jahrhunderte halten an dieser Tradition unverrückbar fest : „stiria dicuntiu; ab stillis, quae Vergilius genere feminine, Varrò neutro dixit; sed vicit Vergili auctoritas." Lib. de dubiis nominib. Keil. V, 590; „mella tantum trijitotou est; vicit propter auctoritatem Vergilianam." Fragm. bot. de. nomine. Keil V, 558.

2) „Grammaticus futurus Vergilium scrutatur." Seneca Epist. 108.

3) „lam vero Ciceronis ac divi Augusti Vergilique (monimenta manus) saepenumero videmus." (Plin. Nat. bist. XIII, 83). Quo modo et ipsum (Ciceronem) et Vergilium scripsisse manus eorum docent." Quintil. I, 7, 11. „Quod ipse (Hyginus) invenerit in libro qui fuerit ex domo atque familia Vergib," Gell. N. A. I, 11, 1. „in primo Georgicon, quem ego, inqmt (Probus), manu ipsius . correctum legi." Ebend. XIII, 2, 4. „qui scripse- runt idiographum librum Vergili se inspexisse." Ebend. IX, 14, 7; . . . . ostendisse mihi librum Aeneidos secundum mirandae vetustatis, emptum in sigillariis viginti aureis, quem ipsius Vergili fuisse credebatur." Ebend. II, 3, 5.

4) „Vatum Studiosus novorum" nennt ihn Ovid. Trist. III, 14, 7.

30 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Asper Commentare schrieben, welche des Dichters Werke erläu- terten.

Abgesehen von den direct auf Virgil bezüglichen Arbeiten, gab es nun aber auch viele grammatikalische Werke , in denen die aus Virgil angeführten Beispiele die aus anderen Schriftstellern ent- lehnten bei weitem überwogen. Daher entstand eine Wechsel- wirkung zwischen den Commentaren zum Virgil und den gram- matikalischen Arbeiten, in Folge deren sich eine Bemerkung die zu den ersteren gehört, in letzteren wiederfindet und umgekehrt^). Jene Schriften sind uns freilich nicht unmittelbar bekannt, aber die späteren Grammatiker, die sich derselben für ihre Compilationen bedienten, können uns eine Idee von der Art geben, wie man den Dichter benutzte. Der hauptsächlichste Vorzug, in Folge dessen Virgil in jenen Werken als der König der Schriftsteller er- scheint, war die Proprietät seiner Sprache^). Einen klaren Be- leg für die Autorität des Dichters bei den Grammatikern haben wir z. B. in dem gegen das Ende des 3. Jahrhunderts verfassten Werke des Nonius, in welchem der Autor wenig oder nichts von sich selbst gab und sich darauf beschränkte, frühere Werke zu compiliren, was für uns gerade von Werth ist. In dieser nicht allzu vimfangreichen Schrift, in der wii- so zu sagen die Summe aller der von fi-üheren Grammatikern angeführten Autoritäten be- sitzen, belaufen sich die aus Virgil entnommenen Beispiele auf 1500^), an welche Ziffer keiner der zahlreichen andern citirten Schriftsteller weder aus der Zeit der Republik noch der Kaiser- herrschaft (der jüngste ist Martial) nur von fern heranreicht. Und dasselbe Uebergewicht findet man auf dem ganzen Gebiete gram- matikalischer Studien, wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man z. B. das Verzeichniss der citii'ten Autoren in der Keu- schen Ausgabe überblickt. Um es kurz zu sagen, der Gebrauch, den die Grammatiker von Virgil machten, ist so ausgedehnt, dass, wenn auch alle Handschriften des Virgil verloren wären , man mit Hilfe der Notizen, welche uns die Alten über die Dichtungen Virgils gellen, und der daraus allein von den Grammatikern ci- tirten Stellen Bucolica, Georgica und Aeneis zum gTössten Theile

1) Vgl. Keil, Gramm. Lat. V, 7. (Praef. ad Cledonium).

2) „Quis ad sophisticas Isocratis conclusiones, quis ad entliymeiiiata Deuiosthenis, ant opulentiam Tulliauam aut proprietatem nostri Marouia accedat?" Auson. Epist. XVII, 3.

.S) Schmidt, de Nouii Marcelli auctoribus grammatici^, p. 4. f. 96. fl'.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 31

reconstniii-en könnte^). Der grössere Theil dieser Beispiele hätte ohne Zweifel auch einem anderen Autor entlehnt werden können; aber die Autorität Virgils war eben geradezu die erste, Virgil war gleichsam die Bibel jener Leute, das erste aller scholastischen Bücher, das Jedermann zur Hand hatte.

Die Schule und der mündliche Unterricht bildeten den Mittel- punct für die Thätigkeit aller dieser Grammatiker. Das jedoch, was wir mittelbar von ihren Schriften kennen, gehört sicher nicht in die niederen und elementaren Regionen des Unterrichtes. Va- lerius Probus, der ausgezeichnetste unter den Erklärern Virgils, hielt keine eigentliche Schule, sondern sprach nur über gelehrte Gegenstände vor einem kleinen und gewählten Zuhörerkreise. Nichts destoweniger wurden einige gelehrte und wichtige Abhand- lungen, wie z. B. die des Asper, für den Unterricht geschrieben, und im allgemeinen benutzte man viele Observationen und Erläu- terungen, die sich in kritischen imd gelehrten Abhandlimgen fan- den, für die Schule. Vermittelst der auf uns gekommenen gelehr- ten Literatur jener Zeit lässt sich beinahe der Gang des Elemen- tarunterrichtes errathen. Virgil war das erste lateinische Buch, das die Kinder in die Hände bekamen, nachdem sie lesen und schreiben gelernt hatten, und später diente dasselbe ebenso zum höheren, wie zum Elementarunten-icht. Zuerst benutzte es der Lehrer um den Schüler siungemäss lesen zu lehren, indem er da- lie! zeigte, wann die Stimme pausiren, wann sie sich heben und senken müsse"). Diese Wahl des Virgil fwie auch des Homer) als Leetüre für die Schule wird von Quintilian gelobt nicht allein wegen der Schönheit ihrer Poesie, sondern auch wegen des ehren- haften und edlen Gefühls, welches beide Gedichte athmeu; „obgleich", so fährt er fort, ,,zum Verstau dniss ihrer Schönheiten ein reiferes Urtheil gehört; doch dafür sorgt die Zeit, denn man liest diese Werke nicht blos einmal^)". Ferner bediente sich der Gramma- tiker derselben Leetüre, um die Knaben darin zu üben, die poe- tischen Perioden in Prosa zu verwandeln, die Quantität der Worte zu erlernen und alles das wahrzunehmen, was unregelmässig,

1) S. die Anmerkungen in der Ausgabe von Ribbeck.

2) Quintil. I, 8, 1.

3) „Quamquam ad intelligendas eorum virtutes fu-miore iudicio opu.s est; sed huic rei superest tempus, neque euim semel legentur. Interim et sublimitate heroici carminis animus assurgat, et ex magnitudine rerum spiritum ducat, et optimis imbuator. Quint. I, 8, 5.

32 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

fremd und nicht spracbgemäss ist, „abtr nicht um die Dichter zu tadeln, denen aus metrischen Gründen viele Freiheiten gestattet sind^)". Und so kommt der Knabe mit Hilfe dieser Uebung da- hin, sich in der Erklärung und Erläuterung zu versuchen. Freilich hing dies alles mehr oder weniger von der Kenntniss der Gramma- tiker ab, die im allgemeinen nicht allzu gross war. Manche unter ihnen waren sogar ziemlich ungebildet, um von vielen Char- latanen ganz zu schweigen. Den weniger gebildeten empfiehlt Quin- tilian das, was sich in den am häufigsten bei dem Elementar- unterricht angewandten Handbüchei-n, fand").

Viertes Capital.

Einen ähnlichen Rang wie bei dem grammatischen Unterricht behauptete nun aber auch Virgil bei dem rhetorischen Studium, welches unmittelbar auf jenen folgte und eng mit ihm zusammen- hinge). Viele Lehrer, besonders in der älteren Zeit, gaben sich mit beiden Unterrichtsgegenständen zugleich ab '*). Aber wäh- rend die Grammatik im ersten Jahrhundert aufblühte, sank die Rhetorik immer tiefer. Sie ist eine Schmarotzerpflanze, der mit dem Aufhören der Freiheit jeder nährende Boden entzogen ist, und die sich nur künstlich aufrecht erhält, indem sie in das Feld der Literatur eindringt, wo sie dieser ein neues Colorit gibt und ihre Producte verfälscht. Bei der fieberhaften Declamationssucht, die so allgemein war, dass sich nach ihr Zweck, Wissenschaft und Methode des Unterrichtes und der allgemeinen Erziehung gestalteten, war der Gebrauch Virgils sehr verschieden. In der Theorie der Rhe- torik, in allem was sich auf die Vorschriften iind Regeln derselben

1) Quinti). I, 8, 13 ff.

2) „Et grammaticos officii sui commonemus. Ex quibus si quis erit plane impolitus et vestibulum modo artis huius ingressus, intra haec quae profitentium commentariolis vulgata sunt consistet; doctiorcs multa adicient." Quintil. I, 5, 8.

3) „Enimvero iam malore cura doccat (grammaticus) tropos omnes, quibus praecipue non poema modo, sed etiam oratio ornatur, Schemata ntraque idest figuras etc. etc." Quintil. I, 8, IG.

4) Veteres grammatici et rhetoricam docebaut ac multorum de utraque arte commentarli feruntur ; secundum quam consuetudinem posteriores quo- que existimo, quamquam iam discretis professionibus, nihilo minus vel reti- nuisse vel instituisse et ipsos quaedam genera institutionum ad eloquentiam praeparandam ut problemata, paraphrasis, allocutiones, ethologias atque alia hoc genus ; ue scilicetsicci omnino atque aridi pueri rhetoribus trade- rentur." Suet. De grammat. et rhetor, 4.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 33

bezog, entnahm man natürlich für- die Exemplification sehr viel aus dem Dichter, der schon durch den vorangegangenen Elementai'- unterricht bekannt und beniitzt genug war, und nach welchem der Grammatiker die Knaben im Aufsuchen von Tropen und Fi- guren eingeübt hatte. In der Praxis, die für die Schulen die Hauptsache war, zog man aus Yirgil, abgesehen von den Stoffen für die Declamation, Sentenzen, Bilder, Gedanken, rheto- rische Kunstmittel, ahmte seine Beschreibungen nach imd copii^te einige glückliche Ausdrücke. Und dieser Gebrauch des Dichters inner- wie ausserhalb der Schule findet sein Vorbild schon in frühester Zeit unter den ausgezeichnetsten Rhetoren des Augustei- schen Zeitalters, unter welchen ganz besonders Arellius Fuscus, einer der zahlreichen Freimde des älteren Seneca, um sich bei Maecenas in Gunst zu setzen^), viel von Virgil annahm. Dem- selben Zwecke hatte auch bereits früher Homer gedient, in wel- chem die Alten das fi-üheste Denkmal des rhetorischen Studiums erkannten; sah man doch sogar die Reden der Helden von einem rhetorischen Standpunct aus an. Selbst der nüchterne Quintilian ge- räth in Enthusiasmus, wenn er von den Vorzügen der in jeder Hin- sicht so grossen Homerischen Beredsamkeit spricht^). Viel leichter aber war es, rhetorische Vorzüge aus Virgil herauszufinden, wel- cher in der That nicht weniger als alle Dichter der Augusteischen Zeit die Schule der Grammatiker und Rhethoriker durchgemacht hatte. Ovid beweist in seinen Herolden i^suasoriaej deutlich das rhe- torische Studium jener Dichter. Es kann ferner auch nicht blos Zufall sein, werm die ältesten Citate Virgilianischer Verse sich in dem Munde von Rhetoren finden, die des Dichters Zeitgenossen waren und sich derselben für ihre Compositionen bedienten^).

Wenn die .Augusteischen Dichter die Rhetorik noch insofern ab- zuwehren wussten, als sie dieselbe nicht mit der Poesie identificirten,

1) „Solebat autem ex Vergilio Fuscus multa trahere ut Maecenati imputaret." Senec. Suas. 3.

2) „Hie enim quemadmodum ex Oceano dicit ipse amnium fontiumque cursus initium capere, omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum

dedit Xam, ut de laudibus, exhortatiouibus, consolationibus taceam,

nonne vel nonus über quo missa ad Achillem legatio continetur, vel iu primo inter duces illa contentio, vel dictae in secundo sententiae omnes litium ac consiliorum explicant artes?.... Jam similitudines, amplifica- tiones, exempla, digressus, signa rerum et argumenta ceteraque probandi ac refutandi sunt ita multa ut etiaui qui de artibus scripserunt plurimi harum rerum testimonium ab hoc poeta petant." Quint. X, 1, IG iF.

3) Man sehe die oben citirten Beispiele aus dem älteren Seneca.

C omparett i, VirRÜ im Mittelulter. ^

34 Yirgil in der Literatur bis auf Dante.

uuteiiagcu Jie späteren völlig dem Einfliisse dieses für die rö- mische Literatur so wesentlichen Factors, und Lucan, Silius Ita- licus, Valerius Flaccus, Statius sind in Wahrheit nur versificirende Rhetoren. Diese Gleichstellung von Poesie und Ehetorik brachte es mit sich, dass beide Gattungen sich gegenseitig ihre Mittel abborgten. Da der Geschmack vom Rhetor dasselbe wie vom Dichter verlangte, so musste die Poesie bei der Rhetorik Unter- stützung suchen. Die Redekunst aber war inhaltslos geworden und kümmerte sich nicht mehr um die logischen Hilfsmittel, welche eine verständige Ueberredung bezwecken; sie beschränkte sich auf literax'ische und formale Mitttel, und fiel schliesslich jeder sub- jectiven Grundlage baar, Aufgaben anheim, die jeder Realität* und jedes Interesses entbehrten. Dadurch kam der Redner in die Lage des Poeten, und war fortan bestrebt, den künstlerischen und idealen Charakter der Poesie auch der rein praktischen Rhetorik aufzuprägen. Indem man begeisterungslos über kindische, fingirte und interesselose Gegenstände oft aus dem Stegreif zu decla- miren begann, musste der Mangel an Wärme und lebendiger Eegeisterung künstlich verdeckt werden. Man nahm also zu dem Zauber der poetischen Sprache seine Zuflucht, um so mehr, als der Geschmack des Publikums sich daran gewöhnt hatte, den Wortklang und die affektii-te Phrase zu bewundern ^). Unter allen Dichtungsgattungen aber entsprach keine so dem Geschmacke jener Leute, als die epische, weil sie am wenigsten subjectiv und am reichsten an stilistischen Abwechselungen und rhetorischen Situazionen war. Was poetische wie rednerische Vorzüge anlangt, so stand Virgil nach allgemeiner Anschauung unter allen Dichtern nur dem Homer nach, und dies gibt auch Quintilian zu, der sonst den übermässigen Gebrauch der Dichter seitens der Redner missbilligt und z. B. von dem poetisch armen Lucan geradezu sagt, er sei für die Redner wichtiger als für die Dichter"). Wie

1) Eine Probe der poetischen Productionen, welche in dem von Do- mitian veranstalteten Capitolinischen Wettkampfe ausgezeichnet wurden, besitzen wir in der Inschrift zu Ehren des 12jährigen Knaben Q. Sul- picius Maximus, welcher sich dm-ch die Improvisation griechischer in der Inschrift angegebener Verse ausgezeichnet hatte. Sie sind ihrem Ton und Inhalt nach rein rhetorisch. Von der Poesie ist nichts als das Vera- nlass übrig geblieben. Vgl. die Ausgabe C. L. Visconti's „11 Sepolcro di Q. Sulpicio Massimo" Roma 1871.

2) „Ut dicam quod scntio, magis oratoribus quam poetis imitaudus" X, 1, 90. Dass die Redner am Virgil und Hovaz lernen sollen, wird

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 35

sehr Virgil vou den Rethoreu damaliger Zeit benutzt wurde, sehen wir zur Evidenz aus Annius Florus, welcher im Anfang des 2. Jahrhunderts in einer Specialschrift die Frage behandelte: „ob Virgil mehr Eeduer als Dichter sei^j". Natürlich war die Au- torität Cicero's unter den Rhetoren gross, die Virgils war es aber in dem Grade, dass, wie der Verfasser des Dialogus de Oratori- l)ns bemerkt, es leichter war, jemanden zu finden, der von Cicero als von Virgil schlecht spräche^}.

Es war das Schicksal dieses Dichters, stets zu glänzen, mochte die Zeitströmung, die ihn der Nachwelt überlieferte, klar oder trübe sein. Seneca, welcher Declamation und rhetorische üeber- treibung mit der Philosophie zu verschmelzen suchte und auch trotz aller Mängel dabei durch seinen Geist überrascht, citirt keinen Autor so oft wie Virgil, den er hoch verehrt, und den sein Vater noch persönlich gekannt hatte ^). Er gefiel den Rhe- toren schlechten Schlages wie denen, welche sich der Zeitströ- mung entgegen setzten; er gefiel Quintilian*), der sich unuöthig bemühte, die stilistischen Studien auf den richtigen Weg zurück- zubringen, wie dem Verfasser des Dialogus de Oratoribus imd, falls beide nicht eine Person sind, dem Tacitus, der, so hoch er über dem gemeinen Geschmacke und den Tendenzen der Schule stand, doch nicht selten zeigt, den Virgil gut gelesen und studirt zu haben ^). Aber die Universalität dieser Bewunderung wird ganz besonders dadurch charakterisirt , dass sich auf dem Felde der

auch im Dialogus de Üratoribus, 20 vorgeschlagen: „exigitur enim iam ab oratore etiam poeticus decor, non Acci aut Pacuvi veterno inquinatus, sed ex Horati et Vergili et Lucani sacrario prolatus."

1) „Vergilius orator an poeta." Von der Schrift ist nur der Anfang erhalten, zuerst von Ritschi, dann von Jahn im Florus (Leipz. 1852) publicirt.

2) Flures hodie reperies qui Ciceronis gloriani quam qui Vergili de- tractent." De Or. 12.

3) Diese Verehrung drückt er enthusiastisch so aus: „Clamat ecce maximus vates et velut divino ore instinctus salutare Carmen canit: optima quaeque dies etc." Dial. X (de brev. vit.) 9, 2. An einer anderen Stelle: „Homerus et Vergilius tam bene de humano genere meriti:" Dial. XI (ad Polyb. de Consol.) 8, 2. „vir disertissimus." Dial. Vili, 1.

4) „Auctor eminentissimus" I, 10, 10. „acerrimi iudicii" Vili, ?,, 24. „poesis ab Homero et Vergilio tantum fastigium accepit" Xll, 11, 26.

5) Vgl. ausser Ernesti auch die Bemerkungen Dräger's „Syntax und Stil des Tacitus" Leipz. 1868.

3*

3(3 Viigil in der Literatiu- bis auf Daute.

Literatur eine den Augusteischen Dicbteini ungünstige Eeactiou erhebt, deren Ausdehnung wir kenneu lernen müssen, ura uns zu erklären, wie gerade Virgil und einige andere Poeten seiner Zeit davon keinen Schaden gelitten haben.

Unter den vielen Kunstmitteln, durch welche die Rhetoren der verschiedenen Schulen bei der grossen Beliebtheit der Decla- mationeu dem Verlangen nach Neuheit Rechnung trugen, suchte man der Rede einen ernst feierlichen Charakter zu geben, indem man sie verschränkte und dunkel machte. Einfach, klar xind natürlich zu schrei- ben wäre für viele wie für manche Schriftsteller der Gegenwart ein Majestätsverbrechen gegen die Rhetorik gewesen. Ein Redner sagte zu seinem Schüler: „Dunkler, dunkler!", und der Schüler machte es dunkler. „Genug!" i*ief der Lehrer endlich zufrieden aus, „so ist's gut; jetzt ist es sogar mir vmmöglich, etwas davon zix verstehen^)". Diese AfFectirtheit, die durch den Schein von Tiefe und Gelehrtheit imponiren wollte, führte auch zum Gebrauche un- gewöhnlicher und veralteter Wörter, somit zu einer Reaction gegen die letzte grosse Dichterschule und einem Hervorsuchen der älteren Schriftsteller. Die Reihe von Versuchen, durch die sich bei den Römern die Literatursprache bildete, brachte es natürlich mit sich, dass auch nach der Auffindung einer bestimmten Form für Poesie und Prosa, selbst den Schriftstellern, welche zwar nicht selbst das Ziel ei-reicht, doch aber zu seiner Erreichung beigetragen hatten, eine gewisse Autorität blieb. Abgesehen von den wirklichen Ver- diensten welche die Verehrung der alten Poeten und Prosaiker bewirkten, gab es mei'kwürdiger Weise geradezu eine theoretische Tradition, welche im grammatischen Studium und der philologi- schen Bildung auch für den Schriftsteller der besten Zeit die Au- torität der Alten fest hielt. Somit hatten die Grammatiker jener Sphäre, aus der die Bildung jedes Schriftstellers hervorging, Gelegenheit, fortwährend die alte Literatur zu berücksichtigen. Die neue Richtung aber, das Resultat der Einwirkung Cicero's und Virgils, bot zwar in diesen beiden Mustern einen reichen Schatz gewählter Ausdrucksformell dar, der jedoch für den, welcher mit den rein mechanischen Regeln der Grammatik nicht auch feinen, natürlichen Geschmack verband, nicht so leicht zu ver- werthen war. In einer Zeit, in der philologische Bildung und Gelehrsamkeit allgemein bewundert und vom Publicum bei den Schriftstellern verlangt ward, einer Zeit, in der ein beträchtlicher

1) Quintil. VIIT, 2, 12 ff.

Virgil iu der Literatur bis auf l>iintt'. 37

Theil des literarischen Besitzthums der Nation in einer grossen Zahi unvollkommener aber gleich wol nicht verächtlicher alter Autoren bestand, konnte der Geschmack des Schriftstellers iu der Auswahl und Anwend\mg der Musterautoren leicht fehl greifen. Veraltete Wörter sind oft von besonderer Wirkung und bilden ein wirksames rhethorisches Mittel ^). Aber bei ihrer Anwendung keinen Fehler zu machen, verlangt ein ausgesuchtes künstlerisches Urtheil, das nicht jedem gegeben ist^). An Grammatikern und Schriftstellern, welche für den alten Stil und die antiquirten Wörter eine Vorliebe zeigten, fehlte es auch in der besten Zeit der la- teinischen Poesie und Prosa nicht. Schon Cäsar ^) tadelte dies Streben, ebenso Horaz, Virgil^) imd noch später Seneca, Quin- tilian u. a. Allein die Blüthe der Prosa und Poesie unter Augustus so wie der damals herrschende feinere und mehr geläuterte Geschmack Hessen nicht zu, dass jene Richtung gi'össere Dimen- sionen annahm. Als aber die Form bei den Werken die Oberhand bekam und der Inhalt immer mangelhafter wurde , machte sie sich zur Zeit der Antonine wieder fühlbarer. Die gräcisii'endeu Tendenzen einiger Kaiser, ihre Vorliebe (besonders des Hadriau) für literarische Pröducte der Alexandriner, die Bewunderung, die das Pomphafte, Mysteriöse, Fremde fand, (das ganz besonders in dieser Charlatanen ungemein günstigen Epoche dominirte), das Bedürf- niss endlich, dem Mangel künstlerischer Schöpfungen durch künst- liche Mittel zu Hilfe zu kommen , führten von selbst zum Archais- jiius und zu ungewöhnlichen Wörtern, womit leeren, hochtrabenden Phrasen ein Reiz vmd eine scheinbare Wichtigkeit verliehen wer- den sollte.

Der bekannteste Repräsentant dieser Richtung ist der Cicero jener Zeit, M. Aurelius Pronto, des Antoniuus Pius Lehrer, ein Altmeister der Pedanterie, von dem auch die Vorschrift herrührt, „insperata atcpie inopinata verba" aufzusuchen und den Werken eine alterthümliche Färbimg zu geben („colorem vetusculum

1) „Propriis (verbÌ!<) diguitatem dat autiquitas. Xamque et sanctiorem et magis admii-abilem faciimt oratioueru; quibus uou quilibet fiierit usii- rus." Quintil. VIII, 3, 24.

2) „Odiosa cura; uam et cuilibet facilis, et hoc pessima quod rei btudiosus, non verba rebus aptabit, sed res extrinsecus arcessit quibus haec verba conveniant." Quintil. Vili, 3, 24. 30.

3) ..Tamquam scopulmn sie fugias inauditura atque insolens verbum" ap. Gell. I, 10, 4.

4) Catalect. 2.

38 \'iigil iu der Litoi-atui- bis auf Dautc.

uppingere"). So weit wir aus seinen Schriften urtlieileu können, machte er von den Augusteischen Dichtern in seinen stilistischen und Sprachstudien sehr wenig Gebrauch. Hie und da findet sich wol eine Reminiscenz aus Virgil und Horaz ^), die jedoch auf Rechnung des allgemeinen Einflusses der Schule, in der er selbst gebildet wai-, kömmt. Den Virgil erwähnt er kaum ein Mal^), und von Horaz spricht er wie von einem nicht unerwähnenswerthen Dichter^). Fronto war in der That das Haupt einer ausgedehnten lihetorschule , deren Traditionen besonders in Gallien mächtig waren ^). Indess beschränkte sich doch dieser EinÜuss auf das enge Gebiet der rein rhetorischen Prosa imd hat iu den auf uns ge- kommenen Schriftstellern nicht sehr deiitliche Spuren zurückge- lassen. Uebrigens glaube ich aus mancherlei Anzeichen schliessen zu können, dass nicht alle Frontonianer in der Beurtheilung und Benutzung der Augusteischen Schriftsteller ihrem Meister folgten. In dem Kreise der Freunde und Bewunderer Fronto's selbst fin- den wir Männer, welche nicht allein Virgil in ihren grammatischen und gelehrten Abhandlungen stark benutzen, sondern denselben

1) Vgl. Herz. Renaissance mid Rococò not. 76. Fronto schrieb man früher das Werk zu, das den Titel führt „Quadriga, seu exempla elocu- tionum ex Vergilio Sallustio Terentio Cicerone"; das jedoch, wie man später gesehen, von Arusiauus Messius herrührt. Vgl. Bernhardy p. 878.

2) Gellius 11, -20, 1.

3) „Plane multum mihi facetiarum contulit istic Horatiiis Flaccus, luemorabilis poeta, mihique propter Maeceuatcm ac maecenatianos hortoB meos non alieuus." Ad Caes. II, 1. Die Dichter, die sein kaiser- licher Schüler best, sind Plautus, Accius, Lucrez, Enuius, „aut le

Plauto expolires, aut Accio expleres, aut Lucretio delenires, aut Euuio iuceuderes." De feriis Alsicusibus, .'J. p. 224 (cd. Du Rieu). Die Schule der entgegeugesetzten Richtung, welcher Quiutilian und der Autor des Dialogus de Orat. angehören, Hess Virgil, Horaz und Lucan lesen; vgl. Dial. de or. 20.

4) Die meisten Autoren, von denen Fronto gelobt wird, sind Gallier: Ausonius, Claudius Mamertus, Eumenius, Sidonius. Auch der Gramma- tiker Consentius, der den Fronto citirt (Keil, V, 334), ist ein Gallier. Leo, der Rathgeber des Gotenkönigs Eurich rühmte sich, von Fronto abzu- stammen. Ihm schreibt sein Freund Sidonius: ., suspende perorandi illud (quoque celeberrimum flumen quod non soluni gentilitium sed doniesti- cum tibi, quodque in tuum pectus succi duas aetates ab atavo Frontone trausfunditur." (Sid. VIII, 3). Fronto gefiel auch seinen Landsleuten in Africa, wie man aus Minutius Felix und Marcianus Capella sieht. Sein grösster Lobredner bleibt jedoch, abgesehen von seinem Zeitgenossen Gellius, Sidonius, der vor allem seine „gravitas" bewundert.

Adirgli in der Lik-ratur bis auf Dante. ol'

auch zum Gegenstände von Specialarbeiten machen, wie z. ß. Sulpicius Apolliuaris , der Lehrer des Pertiuax, welcher seiner Aeneisausgabe jene 3 berühmten Disticha vorausschickte, die sich auf den Befehl des sterbenden Dichters, sein Wei'k zu verbrennen, bezogen, imd welcher die Inhaltsangaben der einzelnen Bücher yersitìcirte ^). Sicher ist, dass diese Bewegung des Froutonia- nismus sich in der Literatur nur in beschränkter Weise geltend machte und nicht auf die Volksschulen, welche im Kaiserreiche das Fundament der Erziehung bildeten, erstreckte. Hier blieb die Au- lorität Virgils und der anderen Dichter bestehen, trotz Fronto, und es war keine Gefahr vorhanden, dass sie etwa dui'ch die des Fjinius, Lucilius oder Lucrez verdrängt werden könnte.

Diese Reaction und wiedererwachende Verehrung der Alten war freilich nicht allein von Fronto und den Frontoniauern reprä- sentirt. Bei Fronto zeigte sich die Uebertreibung mehr in seiner Lehrmethode und der Auswahl der Musterbeispiele als in seinem Stile; andere, die unbekannter geblieben sind, betrieben die Sucht nach dem antiquirten in noch ganz anderer Weise. Dennoch über- trieb Fronto auch selbst gegenüber den Leuten, die sonst seinen Geschmack theilten; denn Niemand unter allen Verehrern der Literatur wäre je so weit gegangen, deshalb das Studium des Virgil ausser Acht zu lassen.

Ein für die Keuntniss des Ideenkreises der Schriftsteller und die Richtung der Studien dieser Zeit wichtiges Buch ist die Schrift des Gellius. Gellius ist kein Frontonianer ; welcher Schule er als Grammatiker angehörte, lässt sich überhaupt nicht sagen ^j. Er ist nichts anderes als ein gebildeter Dilettant, der über verschie- dene Gegenstände Bemerkungen samm.elte, die er theils aus Büchern iheils aus literarischen, von ihm frequentirten Kreisen zusammen- trug. Mit Vorliebe beschäftigte er sich mit der Geschichte der Sprache, und alles, was die Grundbedeutung und den Gebrauch

1) Donat. Vit. Verg. p. 63. Bemerkenswerth seiner Begeisterung wegen ist das letzte Distichon:

„Tnfelix gemino cecidit prope Pergamou igni, et paene est alio Troia cremata rogo." Vgl. die dem Sulpicius mit Recht zugeschriebenen Inhaltsangaben in der Anth. lat. No. 653 (ed. Riese). Mit Virgil beschäftigte sich Sulpicius auch in seineu Briefen (vgl. Gellius II, 16, 8 sqq.) Ueber sein Verhältniss zu Fronto Gellius XIX, 13, 1.

2) Die Richtigkeit der gegentheiligen Ansicht, die Hertz äussert und Kretschmer wahrscheinlich findet, de auctoribus A. Gellii gramma- ticis p. 3, will mir nicht einleuchten.

40 Mrgil in der Literatur bis auf Dante.

der Wörter angeht, hatte für ihn einen besonderen Reiz '). Er war Antiquar und Liebhaber von philologischen Curiositäten ; daher seine Verehrung der alten republikanischen Schriftsteller, die er förmlich anbetet, während er einige Grammatiker der Kaiser- zeit und sogar den Ven-ius Flaccus^) nur oberflächlich behan- delte^). Von Tacitus oder Quintilian sagt er kein Wort, den Seneca'^) misshandelt er so wie ihn Pronto misshandelte, nicht allein weil seine Sprache und sein Stil nachlässig ist, sondern weil er die Freunde des Archaismus und die Verehrer der alten Dichter verspottet. So bewegte sich also Gellius in derselben At- mosphäre wie Fronto, von dem er deshalb auch mit Achtung spricht und dessen Geschmack er theilt. Obgleich sich nun aber seine antiquarische Liebhaberei in seinem Stil und seiner Sprache erkennen lässt, ist doch das Gebiet, das er cultivirt, zu verschie- den von dem Fronto's, als dass man ihn einen Frontonianer nennen könnte ''). Besonders bemerkenswerth ist in der Hinsicht ein Ca- pitel, in i^elchem Gellius einige Worte des Favorinus gegen den Archaismus ohne sie zu tadeln referirt*'). Aber in diesem für die Kenntniss der Literatur jener Zeit in und ausser Rom bedeuten- dem Buche ist für uns nichts so wichtig, als der so häufige Ge- brauch Virgils.

Bei Gellius figurirt Virgil als ein Schriftsteller von grossester Autorität für die Reinheit und Eleganz der Spi-ache '). Er wird von ihm nicht allein als Autorität citirt, sondern auch gegen die

1) „Ei libro (Aeli Melissi) titulus est ingeutis cuiusdam iulc- ccbrae ad legendum; scriptus quippe est De loquendi proprietatc" XYIII, 6, 3.

2) „Cum pace cumque venia istorum, si qui sunt, qui Verri Flacci auctoritate capiuntur." XVII, 6, 4.

3) ,,Isti novicii semidocti" XVI, 7, lo; „turba graniiuaticoruui novicia" XI, 1, 5; cf. auch XVII, 2, 15.

4) Er geht sogar so weit, den Se~neca ,,ineptu.s atque insubidus homo" zu nennen. XII, 2, 11.

5) Ich stimme hier nicht mit Bernhardy (p. 872) übereiu. Fronto ist ein Redner und seine Schule eine Rednerschule; nur auf einem solchcu (Jebiete kann man Frontonianer suchen wollen; es ist nicht nöthig, an Fronto zu denken, um gewisse Eigenthümlichkeitcn der Sprache des Gellius zu erklären.

6) „Vive moribus praeteritis, loquere verbis praesentibus" I, 205 f.

7) „Poeta verborumdiligentissimus " 11,26,11; „elegantissimus poeta" XX, 1, 54; „multae antiquitatis hominem sine ostentationis odio pcri- tum." V, 12, 13.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 41

Bemerkungen Jer Grammatiker der vorhergehenden Epoche ver- theidigt^), z. B. gegen Hygin und Annaeus Comutus, die mit harten Worten getadelt werden"). Selten gesteht Gellius zu, dass Virgil ein Wort unpassend oder falsch gebraucht hat^). Einige Be- merkungen, die sich auf thatsächliche Inconsequenzen oder Wider- sprüche beziehen, werden wiederholt, die verschiedenen Erklärungen besprochen, aber nicht weiter kritisirt. Diese ganze minutiöse Kritik hält sich aber auch da in engen Grenzen, wo die Kunst des Virgil in Betracht kömmt; sie beschränkt sich auf einige Parallelen zwischen Virgil und einigen griechischen Dichtern, aber nur mit Bezug auf diese oder jene Stelle. Hier erscheint Virgil als ein glücklicher, dort als ein unglücklicher Nach- ahmer des Homer , hin und wieder kommt er auch tiefer zu stehen als dieser; Favorinus vergleicht die Beschreibmig des Aetna in der Aeneis mit der berühmten des Pindar (Pjth. l) und findet sie weniger vollendet*), worin er auch unzweifelhaft Recht hat. Aber von wenig Belang sind die Gründe, die er dafür anführt; er weiss nur Ausdruck mit Ausdruck zu vergleichen, aber nicht den künstlerischen Grund davon einzusehen , noch zu unter- scheiden, worin die natürliche Verschiedenheit zwischen zwei ein- ander so entgegengesetzten Dichtungsarten wie Lyrik und Epik besteht, zumal wenn die erstere jenen wunderbaren Aufschwung wie bei Pindar nimmt. So weit verstieg sich die Schule jener Zeit nicht. Wo sie sich unabhäaigig zeigt und nicht ansteht, die Mängel eines Schiiftstellers von solcher Autorität anzuerkennen, hält sich ihr (nicht immer richtiges) Uriheil doch nur an Aeusser- lichkeiten, au jenen formalen Theil, welcher den ausschliesslichen Gegenstand der literarischen Routine der Zeit bildete.

Es war Mode, dass die Grammatiker ihr eigenes Wissen zur Schau trugen, und so gab es auch ein Publicum, das nach solcher Un- terhaltung lechzte. Einer von diesen Leuten war nach Brundisium

1) „Grammatici aetatis superioris haud sane iudocti neque ignobiles" 11, 6, 1.

2) „Insulsa et odiosa scrutatio" nennt er eine Kritik des Cor- iiutus, IX, 10, 5; „sed Hvginus nimis hercle iuejDtus fuit cum etc." VII, 6, 5.

.3) Einmal wird der Tadel durch ein einfaches „existimatur" (X, 29) ausgedrückt, ein andermal ausdrücklich bestätigt. I, 22, 12.

4) ,,Ut Pindaro quoque, qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est, insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit . . . . Au- dite nunc Vergili versus, quos inchoasse eum verius dixerim quam fe- cisse etc." XVII, 10, 8 ff.

42 Yirgil iij tifi- Litcrutiu- Lis luif Dante.

ln-rufen worden, als Gelliuö in diese Stadt anlaugte; er trug hier da« 7. Buch der Aeueis vor und lud das Publicum ein, ihm .schwierige Fragen vorzulegen. Gellius fand , dass er barbarisch las imd auf eine von ihm gestellte Frage in lächerlicher AVeisc antwortete^). Von ähnlichen Charlatauen sju-icht Gellius ziemlich häutig. Wir sehen aber, wie 'allgemein auch solche Leute von A'irgil Gebrauch machten. Einige zogen in der That den Lucan (lern Horaz, Ennius oder Lucrez dem Virgil vor; allein das waren Ausnahmen"). Einer der berühmtesten unter ihnen war der Kaiser lladrian^); jedoch verhinderte ihn seine Bewunderung für Ennius nicht, Virgils Verse im Munde zu führen und den Virgil als Stechbuch zu benutzen'*). Die Worte, die Gellius gebraucht, wo er von eijiem so genannten Ennianisten spricht, der den Ennius im Amphitheater von Pozzuoli recitirte, zeigen deutlich, dass eine Vorlesung dieser Art sehr ungewöhnlich war. Martial, der als Dichter wie als Mensch seiner ganzen Anlage nach zu keiner literarischen Clique gehörte und , Avas die Literatur betiifft, das allgemeine Urtheil am besten ausdrückt, war des Beifalls der meisten sicher, als er den Kömern einen Vorwurf daraus machte, den Ennius weiter zu lesen, während es einen Virgil gab, und mit einem beissendeu Epigramme einen jener unklaren Köpfe ver- sjiottete, die dem Vii-gil den unverständlichen Helvius Ginna vor- zogen'). Die Gelehrten beklagen es ja im allgemeinen stets, dass

1) „Oves biileiitcs dictae quod duos tantum dontos haljoaut." XVI, 6, 9.

2) „iniqui Lucilium pro lloratio et Lucretium pro Vergilio legunt quos more prisco apud judicem fabulautcs non auditores sequuutur, non populus audit, vix deuiquo litigator perpetitur." Dial. de Or. 23.

3-) „Ciceroni Catonem, Vorgiiio Enniiuu, Sallustio Coelium praetulit, eademque jactatione de Homoro ac Platone judicavit." Spartiau. Ha- drian. 16.

4) Spartiau. Hadr. 2; „quos versus (Aen. VI, 869 ft") cum aliquaudo in horto spatians cantitaret" Spartian. L. Ver. 4. Der wollüstige Lucius Verus, der den Ovid und Apicius noch im Bett bei sieh führte, wusste seine Liebe für Martial nicht besser auszudrücken, als dass er ihn „seinen Virgil" nannte. L. Ver. 5.

5) „Ennius est lectus, salvo tibi, Koma Marone" Ep. V, 10.

,^Scribere tc, quae vix intelligat ipso Modestus

et vix Claranus, quid, rogo, Sexte, juvat?

non lectore tuis opus est, sed Apolline, libris.

judice te, maior Cinna Marone lüit. Sic tua laudentur: sane mea carmina, Sexte, grammaticis placeant et sine grammaticis."

Ep. X, 21.

Virgil iu der Literatur bis auf Üaiilo. 43

die alten Schril't«teller nicht mehr ein Gegeuötaud des Studiums sind^).

Uebrigens war doch unter allen Augusteischen Dichtern Virgil auch denjenigen, welche für die alten Schriftsteller eine Vorliebe hatten j der willkommenste. In den „noctes Atticae" werden am häutigsten citirt: Ennius, Laberius, Plautus, Caesar, Cicero, Luci- lius, Nigidius Figulus, Cato, Sallust , Varrò und Virgil^). Die grainimatische und literarische Autorität Vii-gil's steht somit den Schriftstellern aus der Zeit der Republik gleich. Von den Augusteischen Dichtern wird in den attischen Nächten nur noch Horaz einige Male angeführt. Bei Nonius findet dasselbe Verhält- niss statt: Die höchste Autorität ist bei ihm Virgil, dann folgen nach einem grossen Zwischenraum Cicero, Plautus und Varrò und endlich in absteigender Lüiie Lucilius, Terenz, Accius, Afranius, Pmnius, Lucrez, Sallust, Paeuvius^ Pomponius, Caecilius, Naevius, Novius, Turpilius, Titinius, Laberius, Livius Andronicus u. s. w. Augusteische Dichter oder solche der Kaiserzeit überhaupt werden bei Nonius seltener als alle übrigen citirt. Abgesehen von anderen Gründen, derentwegen man Virgil als grammatische Autorität be- trachtete, hatte diese Zusammenstellung mit Schriftstellern einer ihm ganz fremden Zeit noch einen speciellen Grund. Virgil hat es allein von allen Augusteischen Dichtei'n verstanden, sich veralteter Wörter zu bedienen, ohne affectirt zu werden. Seine Poesie Hess .ein scharfes und sorgfältiges Studium der alten la- teinischen Schriftsteller erkennen, und so befriedigte er die ver- schiedensten Richtungen. Er behauptete seine Autorität nicht allein für die modernen, wie Seneca, dem Antipoden eines Gellius und Pronto, sondern auch die Alterthumsforscher räumten ihm eifrigsteinen hohen Rang ein unter jenen „hircosi", denen er doch als Künstler fern genug stand. Quintilian spricht einmal von der Schwierigkeit, sich mit Glück veralteter Wörter zu bedienen und

1) „Legerat (Probus) in provincia quosdam veteres libellos apud graramatistam , durante adhuc ibi antiquorum memoria, uecdum omnino abolita sicut Romae; .... quamvis omues contemui magisque oppro- brio legentibus quam . gloriae et fructui esse animadverteret" : Sueton. De gram, et rhetor. 24.

•2) In einer Unterredung mit einem Grammatiker zweiten Ranges werden vor allen Plautus, Sallust, Ennius und Virgil als Autoritäten iu Anspruch genommen. An einer anderen Stelle sagt ein geschwätziger Grammatiker zu Gellius: „si quid ex Vergilio, Plauto, Ennio quaerere habes, quaeras licet". (XX, 10, 2.)

44 Viigil in der Literatur bis auf Daute.

bemerkt dabei, dass hieriu Virgil Meister sei uud der einzige, der diese Kirnst verstanden habe^). Seneca glaubte, dass Virgil jenes ai'chaisirende Element in seine Poesie eingeführt habe dem „populus Ennianus" zu gefallen^); ein Urtheil, das freilich, hier wo es sich um einen Dichter handelt, der den feinsten Geschmack besass, etwas roh klingt und auch nur bei Seneca möglich war, der den Virgil ebenso bewunderte, als er die alte Literatur vor- achtete. In der That gehörte auch Virgil zu jenem „populus En- nianus", aber er war doch Künstler genug, um zu wissen, wie weit er in der Benutzung des Ennius und anderer alter Dichter gehen könne; und er wusste es besser als Horaz, der wiederum die Regel über den Gebrauch richtiger zu formuliren verstand') als sie anzuwenden, wenn es darauf ankam.

Der Ruf des Dichters litt also keineswegs unter der reactio- nären Strömung, die auf einem Felde der Literatur aubbrach, so wenig er immerhin dem Fi'onto sympathisch gewesen zu sein scheint. Die Kraft seines Namens war zu mächtig, als dass ilim irgend eine Richtung hätte schaden können. Einem Jahrhim- deii, welches einen Appulejus bewunderte, einen zwar talentvollen, aber doch seines Schwulstes und seiner fremdländischen Redeweise wegen lächerlichen und unerträglichen Schriftsteller, einem Jahr- hundert, das diesem eine Statue errichtete nnd bewundernd auf die neue, von einem Africaner geschriebene und gesprochene Spi-ache hinbnruhte, hätte doch Virgil farblos, matt und j\'eichlich er- scheinen müssen. Und doch war sein Name so gross, seine Aiito- rität, welche die bedeutendsten und gelehrtesten Männer der ver- gangenen Generationen geschaffen hatten, so zwingend, dass selbst zur Zeit, da jener schlechte Geschmack triuniphirte, ein unwiderstehlicher Zauber und der Zusammenhang seiner Dichtung mit der allgemeinen Erziehung ihn nicht sinken Hess. Li den Schulen der Grammatiker und Rhetoren unter jeder einigermassen gebildeten ('lasse blieb er stets verehrt, und diese Verelunmg nahm in Mitten des Ruins der lateinischen Literatur, vornehmlich seit Marc Aurei, nur immer noch zu.

1) „Eoque ornamento acerrimi judicii P. Vergilius un ice est usus" Vili, 3, 24; „vetustatis, euius amator un ice Vergilius fuit". IX, 3, 14. „Vergilius amantissimus vetustatis". 1, 7, 16.

2) „Vergilius quoque noster non ex alia causa duros quosdani ver- sus et enormes et aliquid supra mensuram tiahentes interposuit, quam ut Ennianus populus agnosceret in novo Carmine aliquid autiquitatis". Bei Gellius XU, 2.

3) Epist. 11, 1, 64 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 45

Nichts destoweniger bewirkten aber doch die veränderten Be- dingungen des intellectuellen Gesichtskreises, unter dem er er- schien, nothwendig eine gewisse Veränderung. Eine wahrhaft poe- tische Schöpfung fehlte ja dieser wie der noch folgenden Epoche der römischen Literatur durchaus. Die Rhethorik war an Stelle der Poesie getreten, und diese lebte von der Nachahmung des Virgil, ihrem höchsten Muster. Homer beeinflusste ehemals ge- radezu die lebendige Entwickelung der griechischen Kunst und Poesie als das erste Moment dieser selbst, mit dem alle spätei'en Producte organisch und innerlich zusammenhängen. Virgil hingegen wirkte auf die theils im Sterben liegende, theils schon todte la- teinische Dichtung, die selbst mehr eine Dichtung der Form als des Inhaltes ist, in rein formeller Weise. Das sorgsame Studium des Dichters, die Anwendung und oft sklavische Nachahmung seiner poetischen Redeweise, vermochten nicht den Abgrund fortzulügen, der in der Stellung der Dichtkunst zwischen den späteren und den Augusteischen Dichtern bestand. Wenn nun aber das Publicum trotzdem viele der ersteren in hohem Grade begünstigte, so scheint es unmöglich, dass man zugleicii ein richtiges Gefühl für die Poesie Virgils gehabt und nicht vielmehr in die Bew'underung des grossen Dichters jenen falschen und verkehrten Geschmack hineingetragen haben sollte, dem zufolge man seinen schwülstigen und pomphaften Nachahmer Statins bewunderte^).

Ohne Zweifel ging der Ruhm des Dichters weit über den Horizont seiner Zeit hinaus. Indem seine missverstandene tradi- tionelle Grösse den Geistern imponirte, erzeugte sie eine fast aber- gläubische Verehrung. Wir finden schon unter den Antoninen die auch von den Kaisern ausgeübte Sitte, das Schicksal zu befragen, indem man auf gut Glück Virgils Gedicht aufschlug; darin be- stehen die sogenannten „sortes VirgUianae", die auch Hadrian zu Rathe zog, von denen uns die Verfasser der Kaisergeschichte viele Beispiele darbieten und welche das ganze Mittelalter hindurch fortgedauert haben. Dieser Gebrauch beweist nicht allein die unge- heure Popularität des Virgilischen Textes sondern auch die hohe Verehrung, welche derselbe genoss. Virgil hatte sie nur noch mit

1) „Curritur ad vocem jucundam et Carmen aniicae Thebaidos, laetam cum fecit Statins urbem, Promisitque diem, tanta dnlcediue captos Affieit ille animos tantaqne libidine vulgi Auditur".

Jnvenal. VIT, 82 0.

46 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

einigen andern, wegen ihrer gi'ossen Heiligkeit oder ihrer ausser- ordentlichen Weisheit verehrten Werken gemein, den Gesängen Homer's, den Sibyllinischen Büchern und si^äter der Bibel ^). Wenn auch einmal der närrische Caligula, zur Beleidigung aller, beinahe die Bilder und Werke Yirgils aus den Bibliotheken genommen hätte"), so nannte doch zwei Jahrhunderte später Septimius Se- verus Virgil den Piaton der Dichter und setzte sein Bildniss in ein besonderes Lararium neben die des Achilles und andei-er He- roen und Schriftsteller ^j. Aber schon früher war Virgil von mehreren Poeten fast vergöttert worden. Silius Italiens feierte den (reburts- tag des Dichters und besuchte andächtig sein Grabmal wie einen Tempel"*); und wie einen Tempel betrachtete es auch der Neapo- litaner Statins"). Martial spricht von den Iden des October wie von einem dem Virgil heiligen Feste, so wie die Iden des August der Hekate, die des Mai dem Mercur geheiligt waren''). Virgil

1) Ueber diese Art, das Schicksal zu befragen s. Hi st. lit. de la France III, p. 11 if. und die merkwürdigen Capitel im Rabelais IIT, 10 ff.

2) „Sed et Vergili ac Titi Livi scripta et imagines paulum abfuit quin ex omnibus bibliothecis amoveret, quorum alterum ut nullius iu- geni minimaeque doctrinae, alterum ut verbosum in historia negligen- temque eaqjebat''. Suet. IV, 34.

3) „Vergi! ium autem riatouem poetarum vocabat, eiusque imaginem cum Ciceronis siiuulacro in secnndo larario habuit, ubi et Achillis et magnorum virorum." Lamprid., Alex. Sever. 30.

4) ,,Quas (imagines) non babebat modo verum etiam venerabatur. Vergili ante omnes, cuius natalem religiosius quam suum celebrabat, Neapoli maxime ubi monimentum eius adire ut tempìum solebat". Pliu. Ei)ist. III, 7. 8. Diese Verehrung für Virgil, die eine fixe Idee von Si- lius Italicus gewesen zu sein scheint, wird auch von Martial in mehr als einem Epigramme bestätigt. VII, 63. XI, 48. 49. Dem Silius wid- mete Comutus ein Werk über Virgil: „Annaeus Cornutus ad Italicum de Vergilio"^. Chans, p. 100. vgl. p. 102 (ed. Keil).

j'i) . . . . Maroneique sedens in margine temigli

Sumo animum et magni tumulis adcanto magistri".

Stat. Silv. 4, 54. . . . . nee tu divinam Aeneida tenta Sed longe sequere et vestigia semper adora."

Stat. Theb. XII, 8, 15. 6) „Maiae Mercurium creastis Idus Augustis redit Idibus Diana Octobrcs Maro consecravit Idus. Idus saepe colas et has et illas Qui magni celebras Maronis Idus."

Afart. XII, G7. Martial i.st voller Emphase, wenn er von Viigil spricht. Er neimt

Virgll in dei- Literatur bis auf Dante. 47

galt also geradezu als der heilige unter den Dichtern. Von allen Ver- götterungen aber, die das kaiserliche Rom vorgenommen hatte, war diese wenn auch noch so unbegründete und übertriebene vielleicht die einzige, die von einem wirklich edlen Gefühle ein-

Fünftes Capitel. Wenig erfreulich erscheint das Schicksal der römischen Lite- ratur im 3. und 4. Jahrhundert der Kaiserherrschaft. Zu einer Zeit, da jeder Bauersmann und Barbar, wofern er Macht über die unwissende Soldatesca hatte, den Thron der Caesaren besteigen durfte, und bei Hofe wie beim grossen Publicum das Interesse allein auf diese Dinge gerichtet war, konnte es keine für die Li- teratur günstige Strömung geben. Die Beziehungen zwischen lite- rarischer Production und Publicum wurden immer äusserlicher und beschränkten sich allmälig auf eine Classe von Leuten, die ihren Wirkungskreis in der Schule hatten. Auf diese Weise musste sich auch der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache immer fühlbarer machen, und das Latein des gewöhnlichen Volkes immer kühner hervordrängen; das Geschäft des Gramma- tikers ward immer bedeutungsloser, und es galt schon viel, nur richtig schreiben zu können. Diesen Zuständen entspi-icht denn auch die Productivität der Grammatiker, die zwar quantitativ reich aber, was die Originalität der Gedanken anlangt, ausser- ordentlich arm ist. Keiner wagt es mehr, einen Schritt zu thun, ohne sich an die Alten anzulehnen. Wie in der Kunst so ist auch hier alles geistlose Nachahmung oder Compilation. Die Literatur beschränkt jetzt ihren Haushalt auf das nothwendigste und legt vor allem ein grosses Bestreben nach Abkürzungen und Compendien an den Tag. Durch sie suchte man sich das Lesen einer grossen Menge von Schriftstellern zu ersparen, und eben dieser Zeit gehören auch die meisten der auf ims gekommenen grammatikalischen Compilationen an. Leider verschwanden auf diese Weise vor den unglücklichen Arbeiten jener Scheingelehrteii viele alte Arbeiten für immer. Auch die Kaiser dieser Zeit fuhren zwar

ihn: „magnum" (IV, 14), „summum" (XII, 4), „immensum" (XIV, 186), ,,aeternum" (XI, 52). Der Gedanke über die Ideu des October wiederholt sich später bei Ausonius (323, 23):

Sextiles Hecatae Latonia vindicat Idus, Mercurius Maias superorum adiunctus honori, Octolires clini Maro genitns dedicai Idus".

48 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

fort, Grammatiker zu balteu, und mancher Kaiser beschützte sie wie die Philosophen und Rhetoren, aber mehr zum Luxus und aus Laune, oft auch aus Feigheit, wenn man sich nämlich vor den Angriffen ihrer Feder fürchtete, wie dies von Alexander Se- verus gesagt wird^). Uebrigens hatten jene Kaiser, so lange sie die Literatur begünstigten, meist eine Vorliebe für griechische Studien, ohne dass sie darum fähig gewesen wären, einen wohl- thätigen Einfluss auszuüben; im Gegentheil richtete sich der Ge- schmack immer mehr auf das nichtige und leere. Geta, welcher als ein Freund des Alphabetes gelten wollte, indem er Gerichte zubereiten hiess, deren Namen sämmtlich mit einem bestimmten Buchstaben anfingen, ergötzte sich auch manchmal daran, Gram- matiker zu sich zu rufen, um sie dann u. a. nach Zeitwörtern zu fragen, welche die Stimmen verschiedener Thiere ausdrückten").

Nach Alexander Severus, welcher neben seineu griechischen Liebhabereien auch den Virgil verehrte (vielleicht mehr als Philo- soph denn als Dichter), wurde die Pflege der Literatur am Hofe in der That sehr selten. Die alte Tradition des Kaiserthumes war gebrochen, und unter denen, welche sich um die höchste Gewalt stritten, gehörten Leute, wie der ältere, übrigens wenig bedeu- tende Gordian ^) schon zu den Seltenheiten. Ganz anders wie früher stand jetzt das militäi'ische Interesse dem literarischen gegenüber und zog sogar die Leute, welche eine Art von wissenschaftlicher Bildung erhalten hatten, von der Liebe zu den Studien ab. Die Verfasser der „historia Augusta", Leute, die in der That sich zeigen wie sie sind, geben uns eine ziemlich deutliche Idee von dem geistigen Standpunkt dieser Zeit, besonders der militärischen und politischen Kreise. Vopiscus wundert sich darüber, dass sein Gross- vater bei der Erzählung von der Ermordung des Aper, dessen Mörder Diocletian die Worte in den Mund gelegt habe: „gloriare Aper Aeneae magni dextra cadis", „was mich", sagt er, „bei einem Soldaten Wunder nimmt, obgleich ich weiss, dass gar viele Leute Worte der Komiker und anderer Dichter, sowol griechischer wie römischer zu citiren pflegen*^)". Clodius Albinus (2. Jahrb.), der

1) ,,Amavit litteratos homines, vehemeuter eos etiam reforiuidans HO (juid de se asperum scriberent". Laniprid. Alex. Sev. 3.

2) Spartian. Autouin. Geta, 5.

8) „Uic enim vita veuerabilis, cum Piatone seniper, cum Aria^otelf, cum Tullio, cum Yergilio cett-risiiuo veteribus ageus etc." Capitoliu. (iordian. 7.

4) Vopiöc. Numeriaa. 13.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 49

nichts weniger als ein Freund der Literatur war, hatte doch als I{jiabe in der Schule den Virgil stiidirt; aber dies Studium hatte ihm nur dazu gedient, seinen militärischen Instinct zu bethätigen^). Trotzdem sind auch unter diesen Leuten die Eeminiscenzen aus Virgil häufig, weil eine Menge seiner Verse sprüchwörtlich und die Kenutniss des Dichters durch Schule imd Theater ganz allge- mein geworden war. Und so finden wir Virgilische Verse be- züglich auf politische Ereignisse nicht allein im Munde des älteren Gordian, der ein gebildeter Mann war^), sondern auch in einem Briefe des Diadumenos an seinen Vater Maciiaus^) und in einem anderen des älteren Tetricus an Aurelian*). Unter Alexander Severus drückte der Praetorianertribun Julius Crispus seinen Un- muth durch Virgilische Verse aus, die für ihn verhängnissvoll wurden^): Aus zwei Halbversen Virgils war ein Spruch des Cii-cns componirt zu Gunsten des Diadumenos gegen Macrinus ^), und ebenso findet mau einen Halbvers aus Virgil unter den Accla- mationen, mit denen der Senat den schon alten Tacitus auf den Thron berief).

Wenn aber in Mitten der Orgien und Verbrechen des kaiserlichen Hofes einmal die Muse Virgils sich hören liess, so war das noch kein Beweis für die Feinheit der poetischen Em- pfindung; es zeigt nur, wie sich die Popularität des Dichters selbst iu dieser Zeit imd an solchem Orte ei'halten hatte. Sein Buch

1) „Omnem pueritiam in Africa transegit, eruditus litteris graecis et latinis mediocriter, quod esset animi iam inde militaris et superbi. Fertur in scholis saepissime cantasse iuter puerulos: arma amens capio; nee sat rationis in annis (Aen. II, 314)." Capitolin. Clod. Alb. 5.

2) „Cantabat praeterea versus senex, cum Gordianum filium vidisset, hos saepissime : ostendent terris hunc tantum fata etc." (Aen. VI, 869 f.) Capitol. Gerd. iun. 20.

3) „Si te nulla movent etc." (Aen. IV, 274 ff.) Lamprid. Ant. Dia- dum. 8.

4) „Versus denique illius fertm*, quem statim ad Aurelianum scrip- serat: „eripe me bis invicte malis" (Aen. VI, 365). Treb. Poli. Trig. tyrann. 24.

5) Jvo avógccg xwv inicpuvàv àné-/.xsiv£v 'lovliov Kqlgiiov j;t/ltof^- Xovvra xàv SoQVcpóqoìv, ozi àx&saO'slq rij zov itoXéfiov kcckcìgsi tnog xi Tov Màgavog zov nonqzov nuQScp&éy^cizo, èv a xri." (Aen. VI, 371 f.) Dion. Cass. 75, 10.

6) „Egregius forma iuvenis, dignus cui pater band Mazentius esset" (Aen. VI, 862; XII, 275). Capitolin. Opil. Macrin. 12.

7) „Et tu legisti „iucauaque menta regis romani" (Aen. VI, 809) dixe- runt decies." Vopisc. Tacit. 5.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 4

50 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

war jetzt ein Schulbuch für die Knaben und ein Spielzeug für die Erwachsenen geworden. In der Schule wai'd dasselbe dermassen tractirt, dass es etwas ganz gewöhnliches war, dasselbe von An- fang bis zu Ende auswendig zu wissen. Aus dieser Popularität des Dichters in einer Zeit, die an künstlerischen Schöpfungen selbst so arm war, enttstauden jene „Centonen", mit denen man sich die Zeit vertrieb, ilan fand Spass daran, die Verse und Halbverse Virgils auf verschiedene Weisen z\isammen zu stellen und so dem Dichter alle möglichen Stoffe in den Mund zu legen, die er be- singen musöte. Die Idee solcher „Centonen"^) konnte nur unter Leuten aufkommen, die den Virgil mechanisch gelernt hatten und nichts nützlicheres mit all den Versen anzufangen wussten, mit denen sie sich den Kopf beschwert hatten. Uebrigens musste die Art, mit der man Virgil wie so viele andere Dichter zu allen möglichen Arbeiten verwandt hatte, nothwendig auf diese Cen- tonen führen-). Schon zu den Zeiten Tei-tullians hatte ein ge- wisser Hosidius Geta aus Virgilischen Versen eine Tragödie Medea zusammengesetzt, die noch erhalten ist; ein anderer in derselben Weise eine Uebertragung der „tabula" des Cebes. Später Hessen Christen den Virgil über ihren Glauben reden, Proba Fal- tonia'^) fabricirte aus Versen Virgils eine Geschichte des alten

1) Die älteste Sammlung Virgilischer Centonen befindet sieb in dem berühmten Codex Salmasiauus, dem ersten Kern der lateinischen Antho- logie, und gebt wenigstens bis ins 8. Jahrhundert hinauf. Kr enthält 12 Centonen verschiedener Verfasser und von verschiedenem Alter, unter ihnen auch die Medea des Hosidius Geta. Ein einziger nur ist von christlichem Inhalte, und wurde weder von Burmann noch von Meyer in ihren Ausgaben der lateinischen Anthologie veröffentlicht. Erst Su- ringar (de ecclesia, anonymi cento virgilianus ineditus. Traiect. ad Rh. 1867) hat ihn publicirt, danach Riese in der „Anthologia latina" (Leipz. 1869. I, p. 44). Eiue vollständige Sammlung der antiken Virgilischen Centonen existiit nicht (versprochen von Suriugar). Ueber die Cen- tonen im allgemeinen und die Virgilischen im besonderen vgl. Ha sei - berg. Commentai, de centouibus, Puttbus 1846; Borgen, De centonibus homericis et virgilianis, Havniae 1826. Revue analytiquc des ouvrages ccrits en centons depuis les temps anciens jus(iu'au XIX siede, par un bibliophile belge (Delepierre), Londres (Trübner) 1868. Müller, De re metr. p. 465 f.; Milberg, Memorabilia virgibaua p. 5—12.

2) Bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist die dem Virgil zugeschrie- bene Ciris, die wenn sie auch nicht wirklich ein Virgilischer Cento ist, so doch beinahe wie ein solcher aussieht.

3) Vgl. Aschbach, Die Anicier und die rüniische Dichterin Proba (Wien 1870) p. 57 tf.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 51

Testamentes, Marius Victorinus (4. Jabrh.) einen Hymnus auf Ostern, Sedulius (5. Jalirh.) ein Gedicht über die Menschwerdung- Christi u. s. w.^). Der Kaiser Valentinian, der dem Virgil das Loh eines keuschen Dichters nicht zu gönnen schien, compouirte aus seinen Versen ein obscoenes Gedicht und zwang den Ausonius, sich mit ihm in dieser Kunst zu messen. Auf diese Weise ent- stand der berühmte „cento nuptialis", übrigens offenbar der beste seiner Gattung. Heute sieht man dergl. als unwürdige Spielerei an, damals glaubte man dadurch seine Achtung vor dem Dichter zu bezeigen und bewunderte Gedächtniss und Geschick der Verfertiger-). Virgil sollte ganz wie Homer behandelt werden^ von dem es ja auch Centouen gab. Die Leute, welche besonders geschickt zu solchen Flickarbeiten waren, nannten sich „Homerische" oder „Virgilische Dichter^)". Den Gipfel des lächerlichen erreichte aber ein ge- wisser Mavortius, der es als Verfasser eines Virgilischen Cento über das Parisurtbeil so weit brachte, dass er VirgiHsche Centonen „improvisirte" (!) Eine dieser „Improvisationen", für die er aber den Titel des „modernen Virgil" bescheiden zurückwies, besitzen wir noch^).

Auf die Beurtheilung Virgils, welcher das Pimdament des wissenschaftlichen Unterrichtes bildete, mussten nun aber die Commentare, mit denen er in der Schule erklärt wurde, grossen Einfluss haben. Eine kritische Geschichte derselben ist, abgesehen

1) So allgemein waren diese christlichen Centonen, dass der Papst Gelasius in seiner Bemerkung über die canonischen Bücher es für ange- messen erachtete, jene Centonen für apotry^ih zu erklären: „Centimetrmn de Christo, Virgilianis compaginatum versibus, apocryphuin." Decret. Gelas. Pap. (i. J. 494) ap. Lab be', IV, p. 1264.

2) Ausonius entschuldigt sich jedoch seines Cento wegen in dem an seinen Freund Paulus gerichteten Brief: „Piget vergiliani carminis digni- tatem tam ioculari dehonestasse materia. Sed quid facerem? iussum erat; quodque est potentissimum imperandi geuus, rogabat qui rubere poterat,' S. imperator Valentinianus, vir meo iudicio eruditus."

3) Eine alte römische Inschrift lautet : „Silvano coelesti | Q. Glitius Felix I Vergilianus poeta d. d.; OrelH-Henzen 1179. In einer griechischen Inschrift aus Aegypton liest man einen Homerischen Cento, und hier nennt sich der Verfasser '„Homerischer Dichter". Vgl. Letronue, In- cript. de FEgypt. II, 397.

4) Im Codex Salmas., publicirt zuerst von Quicherat, Bibl. de l'e'cole des chartes, II, 132. S uringar, der ihn für unedirt hielt, und ihn nochmals herausgegeben hat, hat weder den Namen des Autors noch das Thema selbst errathen; nicht so Itiese in der Anthologia latina 1 p. 48.

^2 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

von dem Versuche Suringar's ^) , noch immer ein leerer Wunsch geblieben, der auch nicht eher erfüllt werden kann, als bis ein- gehende Specialstudien dies verwickelte Thema aufgeklärt haben. Die Virgilcommentare, die sich bei ihrer Unentbehrlichkeit für den Unterricht bis ins späteste Mittelalter hinein vervielfachten, un- terlagen dabei den mannigfaltigsten Veränderungen. Kein Lehrer trug Bedenken, nach Gutdünken zu modificiren und zu excerpiren. Der eine compilirte aus den ältesten Grammatikern aber unter eignem Namen, der andere fügte Bemerkungen aller Art hinzu, ohne sich zu nennen, wieder ein anderer schmückte die gebräuch- lichen Commentare durch eigne Zuthaten imd Interpolationen aus, aber unter dem Namen des alten Verfassers. Und so gleicht denn die Masse der auf uns gekommenen Arbeiten einem Strome, den die verschiedensten Zuflüsse getrübt haben. Es sind entweder Com- pendien oder Compilationen, kein einziges Werk ist in der ur- sprünglichen Gestalt erhalten. Diejenigen, welche unter dem Namen des Probus oder Asper auf uns gekommen sind, beweisen, wie man das Werk besserer Grammatiker verdarb. Die meisten gram- matischen Compilationen wie die Auszüge aus den Virgilcommen- taren gehören dieser Epoche des Verfalls an, aus der sich be- sonders zwei berühmte Autoreu erhalten haben, Donat und Servius.

Für die Beurtheilung Douat's^), dessen Commentar heute verloren ist, den aber sein Schüler Hierouymus unter den in den Schulen gebrauchten Büchern^) erwähnt, gibt uns Servius einen Anhalt*). Donat wollte Kritiker sein und urtheilte sehr frei über

1) Historia critica scholiastarum latinorum (Lugd. Bat. 1834) vol. H. Einige Specialarbeiten sind geliefert von Wagner, Teuber, Riese u. a. Vgl. auch die Prolegomena von Ribbeck (p. 114-198), wozu unent- behrlich Hagen, Scholia Bernensia ad Vergili Bucolica et Georgica. Lips. 1867. p. 696 ff.

2) Ribbeck (Proleg. p. 179) behauptet mit Unrecht, dass man nur von einem Commentar des Aelius Donatus zu den Georgica imd zur Aeneis, nicht aber zu den Bucolica weiss. Die Biographie des Dichters, die unter Donats Namen auf uns gekommen ist, stand vor dem Commentar zu den Bucolica und schliesst mit allgemeinen Bemerkungen über diese selbst. Vgl. Hagen, Schol. beni. p. 740 ff.

n) „Puto quod puer legeris Aspri in Vergilium et SalUisüum com- mentari'os; Vulcati in orationes Ciceronis; Victorini in dialogos eins et inTerenti comoedias praeceptoris mei Donati, aeque in Vergilium". Hie- ron. Apol. adv. Rufin. I, 367.

4) Vgl. die auf Donat bezüglichen Stellen des Servius, zusammen- gestellt von Suringar p. 37 ff. und Ribbeck, proleg. p. 178 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 53

den Dichter, an dem er manches zu tadeln fand. Er urtheilte aber nicht allein vex'kehrt, sondern bewies auch oft solche Nach- lässigkeit, dass er sich in den gewöhnlichsten Regeln der Prosodie irren konnte. Das verhinderte ihn freilich nicht, den Dichter zu bewundern, aber seine Bewundenmg war doch der Art, dass er seinen Schülern Virgil in ganz falschem Lichte darstellte, ihm, wie alte Philosophen schon mit Homer gethan, ein ausserordent- liches Wissen zuschrieb und in seinen Versen verborgene Gelehr- samkeit und philosophische Zwecke aufsuchte, an die Virgil niemals gedacht hatte. Er erklärt die Reihenfolge der Gedichte auf fol- gende Weise: „Man muss wissen, dass Virgil bei der Composi- tion eine Ordnung befolgte, die der im Menschenleben gleich kommt. Der erste Zustand des Menschen war das Hirtenleben, und so schrieb Virgil zuerst die Bucolica; darauf ward der Mensch Landmann, und so entstanden die Georgica. Mit dem Wachs- thum der Völker wuchs dann auch die Liebe zum Kriege; und so ist denn Virgils drittes Werk die Aeneis, das an Kämpfen über- reiche Gedicht^)". Wir werden weiter unten sehen, wie sich die Sucht, im Virgil Allegorien zu suchen, weiter entwickelt hat.

Der Commentator des Virgil aber, der von allen am meisten im Gebrauch war und der (fi-eilich nicht intact) auf uns gekom- men ist, war der in den Schulen eingeführte Servius. Er ist auch heute noch von Wichtigkeit, nicht allein wegen seiner Er- klärungen als besonders wegen mancher werth vollen von ihm auf- bewahrten Notiz. Ueber sein Werk, so wie es heute vor uns liegt, zu urtheilen, ist schwer; denn einerseits ist klar, dass er aus älteren Commentatoren und Grammatikern compilirte, anderer- seits hat er selbst mannigfache Veränderungen erfahren und ist im ganzen Mittelalter interpolirt worden, oft so einfältig, dass man im Commentare des Servius den SerArius selbst citirte^). Er war ein für seine Zeiten ausgezeichneter und dem Donat überlegener Grammatiker, dessen Irrthümer er oft mit Geschick und Verstand zurückweist. Trotzdem hat er viele Fehler, an denen die Ge- lehrten seiner Zeit litten, nicht vermieden. In der grammatikalischen Tradition dieser Epoche sowie das ganze Mittelalter hindurch zeigt sich etwas stereotypes, auch in der Praxis des Unterrichtes, dessen Grundlage die Auslegung der Schriftsteller bildete. Und

1) Serv. prooem. Ecl. p. 97 (ed. Lion); vgl. auch den von Quiche- rat, bibl. de récole des chartes II, p. 128 publicirten Text.

2) „Ut Servius dicit" ad Ecl. I, 12. III, 20. IX, 1.

54 Virgil in cltT Literatur bis auf Dante.

60 hat sich auch bei Servius vieles festgesetzt, woran nicht eigent- lich er selbst, sondern mehr die ältere Tradition Schuld hat. Jene wichtigen Streitfragen, die \mter den Alexandiinern z. B. in Be- treti" Homers so beliebt waren ^), imd an denen Tibei'ius einen Gefallen fand^), wurden auch auf Virgil angewandt und lassen sich an ihrer regelmässigen Formel auch bei SeiTius wieder- erkennen^). Eine gewissenhafte Kritik und sichere Gelehrsamkeit waren für das, was die Mode in dieser Hinsicht verlangte, ent- l)ehrlich , da sich die Grammatiker hiebei nur zu oft auf dem Felde blosser C'harlatanerie befanden^), imd es bei den Fragestellungen und Antworten mehr auf das spitzfindige, unerwartete und glän- zende, als auf das nützliche, richtige imd wahre ankam. Ein merk- würdiger Beleg hierfüi' sind jene 12 oder 13 Virgilstellen , welche der Meinung nach unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten soll- ten ^). Es war dies fönulich zu einem Glaubensartikel geworden. An- statt dass der Grammatiker an ihre Erklärmig ging, hielt er sich lieber gar nicht damit auf und sagte nur: „dies ist eine Stelle von den zwölfen". Und doch bieten einige von denen, die uns Servius unter ihnen aufzählt, durchaus keine Schwierigkeiten dar. So viel Interpolationen im Servius man auch zulassen will, muss man doch gestehen, dass luanche allegorische Auslegungen

1) Vgl. Lauer, Gesch. d. hom. Poesie p. tj 1. Griifcnban, Ge-sch. d. class. Philolog. im Altcith. 11, ]i. 11 f. lieber die ivcraziiioi und IvTLXoi s. Lehrs. De Aristjirchi stud. hom. p. 199—224.

2) Su et. Tiber. 70. vgl. Gell. XIV, ß. Lauer a. a. U. p II.

3) „Cur" oder ,.quomodo dixit ? Solvitur sie..." Zu Acu. 111.

203, 276, 341, 379. IV, 399, 545 u. s. w.

4) ut forte rogalus,

Dum petit aut thermas aut Phoebi balnca, dicat Nutricem Aucbisae, noracn putriamque novercac Anchemoli^ dicat quot Acestes vixerit annis Quot Siculi Phrygibus vini donaverit urnas."

luven. Vir, -231 ff.

5) „Sciendimi est locum hunc esse unum de XII lal. XIII) Vergili sive per naturam obscuris. sive iusolubilibu.s, sive emeudandis, sive sie rclictis ut a nobis per historiae antiquae ignorautiam liquide neu intelli- jrantur." Serv. Ad. Aen. IX, 368. ,,8cienduni tarnen et locum hunc esse unum de his, quos insolubiles diximus supra." Ebendas. IX, 412; vgl. auch zu XU, 74; V, 6-22. Lehrs, de Aristarchi stud. hom. p. 219 f.; Kibbeck, proleg. p. 109 ff. In diese Kategorie gehören auch jene .,antapodosis" (quibus locis commemorantm- quae non sunt ante j^raedicta), von denen eine Aen. IX, 453 von Servius als „zehnte" aufgezeichnet wird. Vgl. Kibbeck, pro!, p. 108 f.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 55

desselbeu z. B. jene von dem goldenen Zweige, mit welchem Aeneas zur Unterwelt hinabsteigt^) u. a., zu sehr mit dem Geiste der Zeit übereinstimmen, als dass man sie dem Servius absprechen könnte. Wenn demungeachtet einige Verse und Partien in der I<]rzählung des Virgil von Servius in philosophischer Weise ge- deutet werden, so findet sich doch in dem ganzen Commentar keine Spur von einer systematischen allegorischen Erklärungsweise, die das ganze Gedicht aus einem einzigen verborgenen Gedanken ableitete. Eine solche Art der Auslegung wird uns weiter unten beschäftigen, imd wir werden alsdann diese Kategorie genauer ihrer Anlage und Entstehung nach betrachten.

Virgil hat allerdings von der Allegorie Gebrauch gemacht, be- sonders in den Bucolica; aber nur, wenn es sich mehr um Thatsachen als um Ideen handelte. Eine gewiss authentische Tradition, die bis auf Asconius Pedianus und die Zeiten des Dichters selbst zurückgeht, deutete darauf hin, dass Virgil in den Bucolica versteckt auf Er- eignisse seines Lebens oder seiner Zeit angespielt habe. Aber diese vage und etwas allgemeine Notiz liess doch wieder darüber im unklaren, wie weit der Dichter mit seiner Allegorie gegangen sei, so dass die Meinungen auch der ältesten Ausleger hierüber getheilt Avaren. Einige fassten gewisse Stellen wörtlich auf, oder, wie Ser- vius sich ausdrückt „simpliciter", andere erklärten sie „per allegoriam" und hielten sich für verpllichtet, allen möglichen Thatsachen nachzu- spüren, auf welche der Dichter habe anspielen wollen. Servius strebt in seiner Beurtheilung dieser verschiedenen Ansichten da- nach, die allegorische Erklärungsweise, die er oft als „non neces- saria" bezeichnet, zu beschränken und entscheidet sich dann für das „simpliciter^)". Daraus folgt freilich nicht, dass nicht auch er bisweilen die allegorische Erklärung als möglich zugesteht,

1) „Ergo per ramum virtutes dicit esse sectandas, qui est y litterae imitatio, quem ideo iu silvis dicit latere, quia re vera in huius vitae confusione, et maiore parte vitiorum virtutis integritas latet." Serv. Ad. Aen. VI, 136. Wegeu dieser Bemerkung findet man in den ältesten Virgilausgaben die dem Dichter zugeschriebeneu Verse des Maximin in Betreff der symbolischen Kraft des Buchstabens. (Antliol. lat. No. 6;3'2. ed. Riese):

,,Littera Fytagorae, discrimine secta bicorui, Humanae vitae specimen praeferrc videtur etc."

2) „Refutandae enim sunt allegoriae in bucolico Carmine, nisi cum ex aliqua agrorum perditorum necessitate descendunt." ad Ecl. III, 20.

56 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

selbst wenn sie jedes vernünftigen Grundes entbehrt^). Ihn ganz von der Schuld loszusprechen und alles seinen Interpolatoren zur Last legen zu wollen, hiesse seine Verdienste übertreiben und die Zeit, in der er lebte, verkennen. Wie weit aber damals eine solche Erklärungsweise sich versteigen konnte, sieht man aus dem An- fang des Commentars zur ersten Ecloge. Nachdem kaum gesagt ist, dass unter der Person des Titjrrus Virgil zu verstehen sei „zwar nicht immer, sondern nur wo dies aus vernünftigen Grün- den zu verlangen ist" wird das „sub tegmine fagi" für eine wun- dervolle Allegorie erklärt, weil „fagus" vom griechischen „qDcvyeri/" „essen" herkömmt, und der Dichter also mit diesem „fagus" auf den Besitz anspielt, der ihm zum Lebensunterhalte diente, und der ihm durch die gütige Protection des Augustus wieder erstattet wurde. Weiterhin in den Worten . . . . ipsae te, Tityre, pinus, Ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant" will man wieder in Tityrus Virgil, in den Pinien Rom, in den Quellen die Dichter oder Senatoren und in dem Gebüsch die Gelehrten sehen. Viel- leicht hat Suringar Recht , wenn er diese Erklärung dem Servius abspricht^), aber für uns genügt die Wahrnehmung, dass derartige Interpretationen nicht allein zu Servius Zeiten, sondern schon früher möglich waren.

Unzweifelhaft gehört dem Servius wie seiner ganzen Zeit die übertriebene Idee von der ungeheuren Gelehrsamkeit Virgils au, eine Idee, die an mehreren Stellen des Commentars zu Tage kommt. Mit sichtlicher Genugthuung citirt er die Ansicht Metrodors , dass einige mit Unrecht den Virgil beschuldigt hätten, nichts von der Astrologie zu verstehen'^), und am Anfang des 6. Gesanges der Aeneis bemerkt er: „Der ganze Virgil ist voller Gelehrsamkeit, besonders in diesem Buche, dessen Haupttheil dem Homer ent- nommen ist. Einiges ist einfach zu verstehen, anderes der Geschichte entlehnt, vieles stammt von der Weisheit ägyptischer Philosophen und Theologen her, sodass man ganze Tractate hierüber geschrie- ben hat."

1) Vgl. Schaper, Ueber die Entstehungszeit der VirgilischenEclogen, in den Jahrb. f. Philol. u. Paed. Vol. 90 (1864) p. 640 ff.

2) Hist. erit. scholiastt. lat. II, 79. Die Ausgabe von Lion hat da- gegen für „arbusta, frutcta, id est scholastici" „arbusta, fructeta scho- lastici vocabant."

.3) Ad Georg. I, 320. Es fehlt nicht an Ausdrücken der Bewunderung wie: „unde apparet divinum poetam aliud agentera verum semper attin- gere" ad Aen. III, 349.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 57

Der Commentar des Servius war wesentlich eine grammatische Arbeit, welche in dem grammatischen Unterricht für die Erklärung des Dichters dienen sollte. Es fehlt darin nicht an rhetorischen Beob- achtungen, weil der Unterricht in Ehetorik und Grammatik sich an vielen Stellen berühi-te, aber die rhetorische Erklärung ist nicht der Hauptzweck des Commentars. Ehetorisch hingegen ist der Com- mentar des Tiberius Claudius Donatus zurAeneis, der etwas später lebte als der oben erwähnte Donat. Der Verfasser schrieb sein "Werk, ohne mit den Worten sehr zu sparen, um den Mängeln der damals gebräuchlichen Commentare abzuhelfen^). Er glaubt, dass Virgils vornehmstes Talent sich in der Ehetorik zeige, und der Dichter anstatt von Grammatikern vielmehr von Ehetoren erklärt werden müsse-). Deshalb sind seine Bemerkungen auch nicht grammatikalisch, sondern begnügen sich, die einzelnen Stellen der Aeneis nach ihrer rhetorischen Bedeutung zu erklären. Für das Verständniss des Dichters oder die Kenntniss des Alterthums bietet der Commentar wenig für mis, und daher erklärt sich, weshalb sich die Gelehrten so wenig um ihn bekümmert haben. Die letzte Ausgabe desselben stammt aus dem 16. Jahrhimdert.^) Im Unter- schied von seinen Zeitgenossen hat sich der Verfasser so wenig bemüht, seinem Werke ein gelehrtes Ansehen zu geben, dass er absichtlich jede gelehrte Anmerkung fortliess und auch nicht einmal von dem technischen und schematischen Theil der Ehetorik den Ge- brauch machte, den man erwarten sollte. Bei dieser farblosen Un- bestimmtheit konnte er in gewisser Beziehimg gerechter sein in der Beurtheilung des wii'klichen Zweckes der Aeneis. Er findet in derselben nichts anderes als die Thaten des Aeneas, die Verhen-- lichimg Eoms und des Augustus dai-gestellt, und durchaus kein

1) melius existimans loquacitate quadam te facere doctiorem,

quam tenebrosae brevitatis vitio iu erroribus linquere.'' Praef.

2) ..Si Maronis carmina competenter atteuderis et eorum meutern commode comprehenderis. invenies, in poeta rhetorem summum; atque inde intelliges Vergilium non grammaticos sed oratores praecipuos tradere debidsse." Praef.

3) Idi benutze hier eine venezianische Virgilausgabe (Giunt.) 1.544. Eine andere Ausgabe erschien zu Neapel 1.5.35 und zu Basel (G. Fabri- cius) 1561. Crinitus machte aus dem Commentar nach einem Floren- tiner Codex 1496 einige Auszüge, war aber wenig befriedigt davon: ,,videtiir

opera ludi, non enim omnino doctus hic Donatus." Vgl. Mommseu

Rhein. ^Mus. N. F. XVI, 139 f.

5!^ Yirgil in der Lilcratur bis auf L)aiitL'.

wissenschaftliches und philosophisches Werk '). (Dies war gegen die Kritiker gerichtet, welche dem Dichter Inconsequeuzen und Wider- sprüche in Bezug auf philosophische Grundsätze zur Last gelegt hatten.) Nichts destoweniger ist er ebenso wie die andern Conuuen- tatoren von Virgils ausserordentlichem \ind mannigfaltigstem Wissen überzeugt, so dass nach seiner Ansicht der Mensch für die allerverschiedeusten Beschäftigungen bei Virgil nützlichen Kath holen kaun^). Das stimmt auch mit der Idee vom vollendeten Ivedner überein, der ja, wie schon Cicero bemerkte, ein Mensch von uni- versellem Wissen sein muss^).

])onat konnte in der That zufrieden sein, was den Gebrauch Virgils von Seiten der Khetoren anlaugt. Die erste Erklärung des Dichters lag natürlich den Grammatikern ob; al)er die Art, wie sich seiner die Rhetoren bedienten, Hess auch nichts zu wünschen übrig. Besonders in der Lehre von den Figui-en, wählten sie aus ihm die Beispiele, wie man aus mehreren Commentaren und kurzen Abhandhmgen über die Figuren sieht, die sich in manchen Virgil- Ir.indschriften finden^). In dem Tractat des Julius Kufinianus sind die Beispiele fast ausschliesslich dem Virgil entnommen-'). Aus vier der ersten Schulautoren, Virgil, Sallust, Terenz und Cicero, zog Arusianus gegen Ende des 1. Jahrhunderts seine „Exempla lo- cutionum" zum Gebrauch in den Khetorschuleu''), Zu derselben Zeit vereinigten die Rhetoren Titianus und Calvus in einem Special- werke die aus Virgil entlehnten Themen, die zu Beispielen der Redekunst verarbeitet waren ^). Wir besitzen noch Declamationen

1) .... iuveniemus Vergilium id esse professum ut gesta Aeneae per- rurreret, non ut aliquam scieutiae intcriovis vel philosophiae partem quasi assertor assumoret." Praof. (Vgl. auch was den Zweck der Acueis l'ctriftt, den Anfang der Pracfatio).

•J) ,,lnti'rea hoc quoque ujirandum debet advcrti, sie Aeneae laudein esse dispositam nt in ipsa cxquisita arte omniajnaterianim genera con- venireut, quo Ht ut Vei'giliani carni inis lector rhetoricis praeceptis iustrui possit, et omnia vivendi agendique officia reperiri." Praef.

.S) Vgl. Quintil. II, 21.

4) Vgl. Hagen, Scholia Bernensia, p. 733, 984.

5) Rhetoros latini minores, ed. Halm p. 38 ff. ,

6) Vgl. Haupt im Hermes, IIJ, p. 2-2:{.

7) „Et Titianus et Calvus qui themata omnia de Vergilio elicuerunt et adformarunt ad dicendi usum, in exemplo contro versiarum has duas posuerunt allocutiones, Venerem agere statu absolutivo cum dicit lunoni ,. causa fuisti periculorum his quibus Italiani fata concesserunt. Innonem vero niti statu causativo et relativo, per quem ostcndit non sua causa

Virgil iu ilcr Literatur bia auf Dante. 50

in Vers und Prosa über Themen aus Virgil, welche dieser Epoche angehören^). Eine gelehrte rhetorische Arbeit, heute verloren, rührte von Avienus her, der es unternommen hatte, in Versen ausführlich über die von Virgil nur kurz berührten Sagen und Begebenheiten zu handeln^). Mitten in den krankhatten Ueber- treibungen, zu denen sich die alle Köpfe beherrschende Rhetorik verstiegen hatte ^), hörte Virgil also nicht auf zu glänzen, wenn gleich nach dem Geschmacke der Zeiten sich nun sein Ruhm von einer andern Seite gezeigt und das Irrationale desselben mehr ent- wickelt hatte.

Wer also jene Schulen der Grammatiker und Rhetoriker ver- liess, hatte gelernt, Virgil als Vorbild des Grammatikers und Rhe- tors zu betrachten, als den Hauptschriftsteller, der in sich alle jene hohen Begriffe von Wissen und Cultur, die dem Zeitalter eigen waren, vereinigte. Das Ergebniss dieser Ansicht bei einem gebildeten Manne und Fachgelehrten zeigt sich in den Satumalien des Macrobius, die den Virgil als Avunderbaren Schriftsteller eines encyklopädischeu Wissens verherrlichen.

Macrobius (4 5. Jahrh.) verfasste das Werk, welches allein unter den auf uns gekommenen (abgesehen von den Commentaren) über Virgil gleichsam ex professo handelt. Zum Nutzen seines Sohnes wollte er die aus jeder Art von Lectüre geschöpften Bemerkungen zusammenstellen. Um nun aber diese lose Masse miteinander zu vereinigen, Ijediente er sich nicht allein, wie andere vor ihm, der Form des Dialoges beim Gastmahl, sondern er reducirte denselben fest ganz auf eine Discussion über die Verdienste und das Wissen Virgil's, entwickelt so verschiedene Zweige des Wissens und zeigt die damalige Bedeutung Virgils für dieselben. Dadurch ist das Werk aus einer Kritik über die Vorzüge Virgils zu einer

Troiauos laborassc, sed Vcueris." .Serv. zur Aeu. X, 18. Zu derselben Zeit wurde -die Sitte, Themen aus Virgil zu wählen, auch in den Rhetorschulen Africas befolgt, wie wir aus Augustin, Confess. I, 17 wissen.

In Prosa die Declamation des Ennodius „verba Didonis cum iibeuntem videret Aeneam" über Aen. IV, 365 ff. (Dictio XXVIII); über die in Versen weiter unten.

2) Vgl. Ribbeck, Proleg., 186 f.

a) „Post apicem divinitatis ego illa suiu quae vel romniendo si sint facta vel facio .... ; nos regna rogimus et imperantes salubria iubemus .... tuto scipiones et trabeas et pomposa recitatio . . . . Poetica, juris iieritia, dialectica, arithmetica cum me utantur quasi genitrice, me tamen asse- rente sunt pretio." Dies sagt die Rhetorik bei Ennodius, Opusc. VI.

60 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Verherrlichung desselben geworden. Zu einer solchen stempelt es der darin herrschende Ton enthusiastischer Bewunderung, so wie das l'rogramm des auf Virgil bezüglichen Theiles, wie es im ersten Buche festgesetzt ist. Selbst ein ausgezeichneter Gelehrter für seine Zeit führt Macrobius die gelehrtesten seiner Zeitgenossen redend ein und erhebt sich mit diesen zu einer weit über dem gewöhn- lichen stehenden Betrachtungsweise des grossen Dichters. Die Thätigkeit der Schule Virgil gegenüber hält er für klein und niedrig und des Dichters nicht würdige); er sieht in ihm weit mehr, als die Grammatiker seiner Zeit darin zu sehen gewöhnt waren, und eben deshalb will er die schönsten Vorzüge des Dichters, die andere iiiclit bemerkt haben, auseinandersetzen. Trotzdem aber wird er in dieser Arbeit, die eigentlich eine Reaction gegen die falschen und dürftigen Ideen der Zeit sein will, von dieser selbst so beein- tiusst, dass er oft selbst, ohne es zu merken, von der Bahn des rich- tigen Urtheils ablenkt.

Der Vii-gil des Macrobius ist nun aber nicht allein auf allen Gebieten des Wissens bewandert, sondern geradezu unfehlbar^), ^lacrobius gibt nicht zu, wie noch viele Grammatiker vor ihm, dass in den Schöpfungen des Dichters ein Fehler oder Irrthum vorkomme, bondem stellt es ganz der Fähigkeit des Lesers und Studirenden anheim.

1) Auf den Gebrauch Virgil's in der Schule iu dieser und der fol- genden Zeit spielt ausser Macrobius auch Orosius (I, c. 18) an: „Aeneas qualia per triennium bella excitaverit, qiiaiitos populos iinplicuerit, odio excidioque afflixerit, ludi literari disciplina nostrae quoque raemoriae inustum est"; und auch Fulgentius iu einer dem Macrobius noch mehr verwandten Weise: ,,sed illa tantum quaerimus levia quae men- sualibus stipendis, grammatici distrahunt puerilibus auscidtationibus." De Verg. contin. p. 742; si me scholarum praeteritarum non fallit me- moria" ebend. p. 748. „ünde et infantibus, quibus haec nostra (Vergili) materia traditur, isti sunt ordiues consequoudi" cbend. p. 747. Im 4. Jahrh. wurden, wie wir aus Ausonins ersehen, Virgil uud Homer in den Schulen wie zu den Zeiten Quintiliaus gelesen, und mit ihnen Menander, Terenz, Horaz, Sallust. Idyll.4,46*ff. Ein Grammatiker wird vonAusoniu8(Epigr. 13.5) bezeichnet als: „arma virumque docens atque arma virumqué peritus"; Sidonius Apollinaris (5. Jahrh.) stellt in dem Pauegj^ricus zu Ehi-en des Anthemius Virgil als den hauptsächlich von jenem studii-ten lateinischen Schriftsteller hin, und erst nach ihm Cicero, Livius, Sallust, Varrò, Plautus, Quintilian und Tacitus; Carm. 11, 184 ft".

•2) „Nullius disciplinae expers." In somn. Scip. I, 6, 44 ; „discipli- narum omnium peritissimus" ebend. l, 15, 12; „omnium disciplinarum peritus" Sat. I, 16, 12.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 61

derartige Schwierigkeiten aufzulösen^). „Ueber das reiche Material", sagt er, „was in seinen Werken ist, und worüber die meisten der Ei-klärer ohne weiteres hinwegzuschreiten pflegen, gerade als ob es einem Grammatiker unmöglich ist, etwas anderes als Worte zn

verstehen " will er den Leser aufklären. „Wir," fährt er

fort, „die wir für feinere Dinge Gefühl haben, wollen den Zugang zn dem heiligen Gedichte eröffnen, uns bemühen den Pfad aufzu- spüren, auf welchem man zu den verborgenen Ideen desselben gelangt, und der Verehrung der Gelehrten das verborgene Heilig- thum zugänglich machen^)." Im Dialog selbst repräsentirt ein gewisser Euangelus den Gegner des Dichters. Allein mit dieser Figur ist es nicht ernst gemeint. Man kann nicht geradezu sagen, dass in ihr die Ansicht der vorurtheilsfreien Kritiker der frühereu Zeit dargestellt sei, aber noch weniger der späteren, weil damals eine derartige Persönlichkeit gar nicht esistirte. Sie bietet vielmehr nur durch ihre gelegentlichen Bemerkungen Gelegenheit zu Lobreden auf Virgil; und da der Verfasser fürchtet, dass ihre Worte immer- hin auch einmal ernst genommen werden könnten, so bemüht er sich, da wo er den Euangelus einführt, ihn mit den schwärzesten Farben zu zeichnen, als einen Bösewicht von verdorbenem Cha- rakter und höchst unangenehmen Gesellen. Kaum wird sein Er- scheinen gemeldet, so geben alle ihren Abscheu zu erkennen^); sobald er den Mund aufthut, um etwas gegen Virgil zu sagen, überfällt alle ein Schauder*). Einige seiner Bemerkungen waren auch früher schon von Kritikern gemacht worden; aber im allge- meinen sucht er gerade die am wenigsten anfechtbaren Ideen zu bekämpfen und will sogar läugnen, dass Virgil, der in einem Dorfe der Veneter geboren sei, überhaupt etwas vom Griechischen und von gi-iechischen Schriftstellern habe wissen können-''). Eine solche

1) „Quem nullius unquam disciplinae error involvit" in S. Scip. II, 8, 1. „manifestum est omnibus, quid Marc dixerit, quem constai erroiis iguarum: erit enim iugenii singulorum invenire, quid possit amplius pro absolvenda hac quaestione conferri" in S. Sei]). II, 8, 8.

2) Sat. I, 25, 12 fif.

3) „Corrugato indicavere vultu plerique de considentibus Euangeli iuterventum otio suo inamoenum, minusque placido conventui congruen- tem. Erat enim amarulenta dicacitate et lingua proterve mordaci procax, ac securus offensarum, quae sine delectu cari vel non amici in se passim verbis odio sereutibus provocabat." Sat. I, T, 2.

4) „Cumque adhuc dicentem omnes exhorraissent." Sat. T, 24, 8.

5) „Unde enim veneto rusticis parentibus, inter sylvas et frutices educto, vel levis graecarum notitia literarumV" Sat. V, 2, 1.

62 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Albernheit dient dann natürlich wieder zum Verwände, das tiefe Wissen, welches "Virgil vom Griechischen besass, hen'^orzuheben, ein Thema, über das fast das ganze fünfte Buch handelt. Und ebenso gibt eine andere Bemerkung des Euangelus Veranlassung zu der ganzen Discussion über Virgils Verdienste , welche den Haupt- bestandtheil des ganzen Werkes ausmacht. Euangelus sieht in Virgil nur einen Dichter einfachster Art, dessen Werk voll von Fehlern stecke und eigentlich verdiene , verbrannt zu werden ^). Dagegen behauptet wieder Symmachus, dass Virgil sich nicht allein für den Unterricht der Knaben, sondern noch zu weit höheren Zwecken eigne. „Du scheinst mir", erwidert er dem Euangelus, „den Virgil von dem Standpunct aus zu betrachten, von dem aus wir es thaten, als Avir noch Kinder waren und in der Schule seine Verse her- sagten; allein der Ruhm Virgils steht so hoch, dass weder Lob ilin vergrössern, noch Tadel vermindern kann." Und hier wird dann das Gespräch von den Uebrigen aufgenommen, die sich gegen Euangelus vereinigen, sich verpflichten, jeder über einen Zweig des dem Virgil eigenen Wissens zu reden, und so den Inhalt der folgenden, heute leider unvollständigen Bücher festsetzen. Eustathius will die Erfahrenheit Virgils in der Astrologie und Philosophie beweisen, Flavianus und Vettius seine Kenntniss des Augural- und Pontifical- rechtes, Symmachus seine Fertigkeit in der Rhetorik, Eusebius seine Gewandtheit in der Rede, Eustathius seine Benutzung griechischer Schriftsteller; Furius Albinus zeigt, wie viel Virgil von den alten lateinischen Dichtern für die Verse, Caecina Albinus, wie viel er für die Sprache gelernt hat; Servius, der Hauptkeuner Virgils, soll sich über einige schwierige Stellen des Dichters verbreiten. Der ganze Theil des Werkes, der die Astrologie und Philosophie enthielt, ist ver- loren, allein man kann sich denken, was hier von einem Neu- platouiker zu erwarten war, zumal da wir noch eine Probe davon in der Schrift über den „Traum des Scipio", wo Macrobius in dem Virgilischeu „Terque quaterque beati" die Pythagorische Zahlenlehre wiedererkennt, besitzen"). Auf festerer Grundlage l)eruht nur, trotz

1) „Qui euim moriens poema suum legavit igni, quid uisi famae snae, posteritati suV)traliendi curavitV Nee immerito; urubuit (juippe de se futura iudicia, si legeretnr petitio Deae precantis tilio arma a marito cui soli nupserat, nec ex eo prolem suscepisse se noverat, vel si mille alia nudtum pudenda, seu iu verbis modo graecis modo barbaris, sen in ips-i dispositioue operis dt'jntdionderentur." Sat. I, 25, G, 7.

2) In 8. Scip. i, G, 44. Den Inhalt dieses Theiles ersieht mau aus den Worten des ersten Buches: „de astrologia tota(iue pliilosophia, quam

Virgil in iler Literatur bis auf Dante. G3

der auch hier vorhandenen Uebertreibungen, der Theil, welcher sich auf das Auguralrecht, die Bildung Virgils und den Vergleich zwischen Griechen und Römern bezieht^), ein Theil des Werkes, der für lins, wenn gleich aus einem ganz andern Gesichtspuncte betrachtet, der wichtigste ist. Uns überrascht hier bei einem Schriftsteller dieser Zeit sowol die Kenntniss einer so grossen Zahl griechischer und römischer, damals nicht mehr gelesener Autoren, als auch eine gewisse Feinheit in der Beobachtung bei Vergleichen Virgils mit anderen Dichtern. Freilich hat sich Macrobius zum grossen Theil darauf beschräaikt, zu compiUren, nicht allein aus Servius, der selbst compilirte, sondern auch aus vielen älteren grammatischen und ge- lehrten Werken, die er oft, ohne es zu sagen, wörtlich copirt'). So hat er dem Werke des Gellius u. a. auch die Parallele zwischen Virgil und Pindar bei der Beschreibung des Aetna entlehnt. In der Zusammenstellung aller solcher, gemss älteren Arbeiten über Virgil entlehnten Vergleiche ist die Absicht des Macrobius, Virgil zu verherrlichen, unverkennbar. Zuerst führt er die Stellen an, in denen Virgil den Homer übertrifft, dann die, in denen er ihm gleich kommt. Das, worin er ihm unterlegen ist, behandelt er zuletzt, und zwar nicht ohne dabei die Ausdrücke zu mildern ^). Ebenso hält er es für nöthig, bevor er von dem Gebrauche spi-icht, den Virgil von den alten lateinischen Dichtern gemacht hat, zu beweisen, dass darin kein Fehler liege sondern man im Gegen- theil dem Dichter Dank wissen müsse dafür, dass er in seinem Werke Dinge verewigt habe, die sonst vergessen oder verachtet wi-rden wären; übrigens, meint Macrobius , klängen diese Stellen in

parcus et sobrius operi suo, nusqnam reprehendendus aspersit." Sat. J, 24, 18.

1) Die Gelehrsamkeit Virgils im Griechischen wird vou Eustatbius l'olgendei-massen definirt: ,,Cave, Enangeli, graecorura quemquam, vel de sumniis auctoribus, tantam graecae doctrinae hausisse copiam credas quantani sollertia Maronis vel adsecuta est, vel in suo opere digessit," Sat. V, 2, 2.

2) Er sagt das ganz offen in der Vorrede (4) : „nee mihi vitio vertas si res quas ex lectione varia mutuabor, ipsis saepe verbis quibus ab ipsis auctoribus enarratae sunt exjilicabo .... et boni consulas oportet si uo- titiam vetustatis modo uostris non obsciire modo ipsis antiquorum fide- liter verbis recoguoscas."

3) „Et quia non est erubescendum Vergilio si minorem se Homero vel ipse fateatur, dicam in quibus mihi visus est gracilior auctore." V, 13, 1.

64 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

der Dichtung Virgils viel lierrlicber, als iu den Originalen'). Die beiden Abhandlungen, die sich auf Virgil als Rbetor und Orator beziehen, sind nicht vollständig auf uns gekommen. In dem Ab- schnitte, der uns von der ersteren erhalten ist, wird die Frage aufgeworfen, ob der Redner mehr von Cicero oder Virgil lernen kann, was uns nach dem, was wir von den vorhergehenden Epochen gehöii haben, nicht Wunder nehmen kann. Bei allem Respect gegen Cicero und bei allen Protesten gegen das Verfahren, zwischen zwei so hohen Geistern als Schiedsrichter auftreten zu wollen, fallt doch schliesslich die Entscheidung zu Gunsten Virgils aus, Cicero, sagt Eusebius, hat nur eine Eigenthümlichkeit des Stils („cojjiosum") , Virgil besitzt deren vier („copiosum, breve, siccum, pingue"). Er ist wie die Natur, die auch an verschiedenen und einander widersprechenden Formen reich ist; man kann sagen, dass er in sich alle Eigenschaften der zehn attischen Redner vereinige, und man wüi-de doch noch nicht genug sagen ^). Dieser Enthusias- mus des Macrobius für die Beredtsamkeit Virgils erinnert an Quintilian, der in Homer die universelle Vollendung der Redekunst erblickt. Am geschmacklosesten ist aber der Theil, der die Rhe- torik Virgils betrifft. Das uns erhaltene handelt besonders von der Erregung der Affecte und beschränkt sich auf den einfachen Beweis, dass Virgil die auf das „Pathos" bezüglichen rhetorischen Gesetze beobachtet hat; dieselben Averden aufgezählt und für jedes einzelne dann die entsprechenden Virgilstellen zum Belege ange- führt. Schon die Rhetoren citirten beim Aufstellen dieser Gesetze oft Virgil als Autorität, viele geradezu als die erste; Macrobius

1) „Cui etiam gratia 'hoc nomine est habenda, quod nonnulla ab illis in opus suum quod aeterno mansurum est, transferendo^ feeit ne om- nino memoria veterum deleretur: quos, sicut pi'aesens sensus ostendit, non solum neglectui, verum etiam risui habere iani coepimus. Deniquo et iudicio transferendi et modo imitaudi consecutus est ut quod apud illum legeriraus alieimm, aut illius esse malimus aut melius hie quam ubi natum est sonare miremur." Sat. VI, 1, 5, 6.

2) „Nam qualiter eloquentia Maronia ad omnium mores integra est, nunc brevis, nunc copiosa, nunc sicca, nunc üorida, nunc simul omnia, interdum levis aut torrens; sie terra ipsa hie laeta segetibus et pratis, ibi sii vis et rupibus hispida, hie sicca arenis, hie irrigua fontibus, pars vasta aperitur mari. Ignoscite uec nimium nie vocetis qui naturae rerum Vergilium comparavi. Intra ipsum onim mihi Visum est si dicerem deceni oratorum, qui apud Athenas atticas floruerunt, stilos inter sc diver.sos huuc unum permiscuisse." V, 1, 19, 20.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 65

dagegen rühmt ihn, weil er den Vorschriften der Rhetoren gefolgt sei. Und so erscheint jene Partie seines Buches wie ein umge- kehrtes Capitel der Rhetorik, was es wol auch in der That ist.

Macrobius fand füi- sein Werk den Boden auf das günstigste vorbereitet, sowol in materieller wie geistiger Hinsicht. Denn der Verfall des Geschmackes, der sich darin trotz aller Anstrengungen des Autors so deutlich offenbart, währte schon eine geraume Zeit; wir haben die ersten Anzeichen davon und das allmälige An- wachsen jenes alle Gränzen überschreitenden Ruhmes des Dichters iu einer nunmehr ihrem Ende sich zuneigenden Periode kennen gelernt. In dem Auflösungsmomente der alten Welt wird das Eigenthümliclie jener hohen Meinung, die man von dem Dichter in den letzten Augenblicken des Heidenthums hatte, durch das Werk eines dieser Zeit angehörigen bedeutenden Mannes in cha- rakteristischer Weise formulirt, als Virgils Ruhm eben im BegriÖ' war, in den ganz anders gearteten Auschauungskreis des chi'ist- lichen Mittelalters üb einzugehen, dessen Grenzen wir nunmehr fest- zustellen haben.

Dieser Epoche des Verfalls und noch den Traditionen des Heidenthums anhängend^), gehören indessen noch zwei Autoren an, welche nicht ohne Einfluss auf die Fortpflanzung des Ruhmes des Dichters die Jahrhunderte der Barbarei hindurch waren; die grossen Grammatiker, Donat und Priscian. Diese beiden Com- pilatoren, der Zeit nach fast 2 Jahrhunderte von einander getrennt, beherrschten die Schulen der Grammatiker während des Mittelalters derartig, dass ihr Einfluss theils direct theils indirect sich bis auf imsere Zeiten erstrecken konnte^). Donats Ruhm beruht nicht eigentlich auf dem durch Servius verdrängten Virgilcommentar, sondern auf seiner Grammatik, die in den Schulen so viel gebraucht wurde, dass man schliesslich mit Donats Namen die Grammatik überhaupt bezeichnete. Priscian aber ei'langte durch seine ausführlicheren und gelehrteren Compilationen eine solche Autorität, dass die Schriftsteller des Mittelalters ihrer Verehrung für ihn oft den begeistertsten Ausdruck leihen^). Ohne sich von

1) Als solcher zeigt sich überall in seineu Schriften Priscian, ob- gleich Christ, wenigstens in seiner Auswahl der massgebenden Schrift- steller. Ganz anders der wenig spätere Isidor.

2) Vgl. Keil, Grammat. lat. II, p. IX, f. XXIX ff. IV. f. XXXV ff.

.3) Eine Probe davon bei seinem im Mittelalter viel benutzten Schüler Eutychis: „de quibus omnibus terminationibus et traductionibus quia ro-

Compai-etti, Virgil im Mittelalter. 5

66 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

der Ueberlieferung der älteren Grammatiker, aus denen sie com- pilirten, zu eutfei'neu, wählen Priscian und Donat aus Virgil mehr als aus jedem anderen Schriftsteller ihre Beispiele aus, so dass, wenn Virgil wenig gelesen und beachtet wäre, sie durch ihre Au- torität ihm hätten Leser und Verehrer verschalfen müssen ^). Priscian zeigt uns in einer sehr gebrauchten Specialschrift die Art und Weise, mit der man sich des Vii-gil beim grammatischen Un- terricht bediente: er nimmt nämlich von jedem Buche der Aeneis den ersten Vers heraus und der Schüler muss jedes einzelne Wort metrisch und grammatisch analysiren. So findet er Stoff genug, an diesen Beispielen den Schüler die Hauptregelu und Bestimmungen der Grammatik und Metrik wiederholen zu lassen^). Bemerkenswerth ist, dass Lucan, der während des Mittelalters sehr in Mode war, von Priscian fast so oft wie Horaz citirt wird; aber der Autor, den er nächst Virgil am öftesten anführt, ist Terenz.

Indess auch ausserhalb des Kreises der Gelehrten und Scho- lastiker blieb der Dichter populär. Man fuhr fort, die Stoffe thea- tralischer Darstellungen seiner Dichtung zu entnehmen; besonders häufig waren in der Beziehung die Schicksale der Dido, welche die Leute bis zu Thränen rührten und so beliebt waren, dass man sie auf Stickereien, Gemälden und anderen bildlichen Dar- stellungen oft abgebildet fand'^). Es fehlte auch nicht an öftent-

manae lumen facuudiae, meus immo communis omnium boniinum prae- ceptor in quarto de nomine libro summa cum subtilitate disseruisse cognoscitur." etc. Eutychis Ars de verbo, bei Keil, Gr. 1. V, 456. Vgl. Thurot, Notices et extraits t. XXII, p. 63.

1) Unter den etwa 100 Beispielen des Donat in seiner Ars maior stammen wol 80 aus Virgil. Eine sehr grosse Menge von Citaten bietet Priscian in seinen weit ausgedehnteren und gelehrteren Schriften dar. Virgil wird von allen Autoren am meisten, mehr als 1200 Mal citirt, Terenz, der doch nächst Virgil am meisten gelesen wurde, nicht halb so oft; dann folgen Cicero und Plautus, Horaz, Lucan, luvenal, Sallust, Statins und Ovid; endlich Lucrez, Persius u. a. Bei der Aufzählung in dem ersten Abriss dieses Werkes in der Nuova Antologia, sind leider Fehler mit eingelaufen, die jedoch hier zu verbessern überflüssig wäre.

2) Partitiones XII versuum Aeneidos principalium , bei Keil, Gr. 1. III, 459—515.

3) „Quod ita elegantius auctore (Apollonio Rhodio) digessit ut fa- bula lascivientis Didonis, quam falsam novit universitas, per tot tarnen saecula speciem veritatis obtineat et ita pro vero per ora omnium volitet, ut pictores fictoresque et qui figmentis liciorum contextus imitantur eftìgics hac materia vel maxime in efficiendis simulacris tamquam unico argumento decoris utantur, nee minus histrionum perpetuis et gestibus

Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 67

liehen Vorlesungen und noch im 6. Jahrhundert hörte das dicht gedrängte Volk auf dem Trajansforum die Aeneis recitireu ^). Da- bei darf man nicht vergessen, dass zu derselben Zeit die schlechten Verse Arator's über die Thaten der Apostel Begeisterung hervor- riefen, und dieser wol sieben Mal aufgefordert wurde, sie öffentlich vorzutragen"). Den Namen Virgil legte man schon so unbedeu- tenden Männern bei, dass Ennodius darüber sehr erzürnt war^). Die Hand eines Consuls emendirte und copiiie den Text Virgils in dem kostbaren Codex, der uns geblieben isf^), Auszeich- nungen, die übrigens auch schwachen Geistern dieser traurigen Zeiten zu Theil wurden.

Aber wie verändert hatte sich doch damals das Aussehen Eoms und des römischen Volkes! Die pomphafte und leere Rhe- torik der Panegyriker wie des Symmachus, welche die glücklichen und heiteren Prophezeihungen der vierten Ecloge^) auf die Zeiten Gratians anwendet, lassen den Ruin nur noch trauriger erscheinen. Weit natürlicher und richtiger war das Gefühl des Hieronymus, der, als er in seiner Einöde im Osten von Roms Einnahme durch Alarich hörte, mit den Worten des Psalmisten schmerzli« Ii bewegt ausrief: „Deus venerunt gentes in haereditatem tuam'')!" Der Er-

et cautitus celebretur." Macrobiua Sat. V, 17, 5. „Quod Maro Phoe- nissae cantatur et Naso Coriunae." Victorin. Ep. ad Salm. 73. Vgl. Auson. Epigi-. 118.

1) .,Aut Maro Traiano leetus in urbe foro"

Veuant. Fort. VI, 8, 26. „Vix modo tarn nitido pomposa poemata cultu Audit Traiano Roma verenda foro."

Ebend. TU, 20, 7.

2) Vgl. V. Labbé, Bibl. nova mss. I, p. 688.

3) „In tantum prisci defluxit fama Maronis, Ut te Vergilium saecula nostra darent.

Si fatuo dabitur tam sanetum nomen homullo

Gloria maiorum curret iu opprobrium etc."

Ennod. Carm. II, 118 tf. Manche glauben mit Unrecht, dass es sich hier um den Grammatiker Virgil handelt. In der Zeit des Verfalls und im Mittelalter besassen oder nahmen viele den Xamen Virgil an. Vgl. Ozanam, La civilisat. ehret, chez les Francs, p. 426.

4) Vgl. über den Codex Ribbeck, Prol. p. 209 ff.

5) „Si mihi nunc altius evagari poetico liceret eloquio, totum de novo saeculo Maronis excm-sum, vati similis, in tuum nomen excriberem. Dicerem de coelo redisse justitiam etc. etc." Symm., Land, in Gratiau. arg. 8, ed. Mai p. 27.

6) VgL Am. Thierry, Saint Je'rome, II, p. 191. ff.

6*

ßg Virgil in der Literatur bis auf Dante.

innerung an eine glorreiche Vergangenheit stand die traurige That- sache des Verfalls gegenüber, die für den stolzen Eömer erniedri- gende Berührung mit den entfesselten Barbaren und die Ahnung einer finsteren und noch trauervolleren Zukunft. Obgleich Korn und seine Weltherrschaft zusammenbrach, blieb doch eine Einheit so vieler Völker bestehen, in deren Schöpfung Rom seine eigent- liche Mission erfüllt hatte. Ln Geiste aller stand Rom immer als Mutter aller Cultur und Civilisation da, ein Symbol wunderbarer Gewalt, ein höchstes und poetisches Ideal jeder menschlichen Grösse. Jenes starke und universale Römer -Bewusstsein, dem Virgil sein Epos so vortrefflich angepasst hatte, war auch nach der Zer- störung des Reiches noch zu wesentlich mit der lateinischen Cultur verknüpft, als dass es hätte, so lange jene bestand, untergehen können. Die breite Spur, welche die römische Herrschaft hinter sich zurückliess und die Wolthaten, welche der Menschheit dar- aus entsprangen, geben den zahllosen Aeusserungen jenes das Reich selbst überdauernden Bewusstseins eine feste und reelle Basis, die uns zeigt, dass jene nicht blos eine maschinenmässige und äusserliche Reproduction des antiken Geistes ist. Freilich waren die Verhältnisse tief umgestaltet und für einen grossen Theil der antiken Cultur konnte jenes Gefühl nur passiv sein oder sich nicht innerlich mit jeuer Cultur vereinigen. Der Geschmack war durchaus verdorben, ästhetischen und künstlerischen Idealismus gab es nicht mehr.

Die seelischen Kräfte, aus denen die Kunst entspringt, v/aren gebrochen, oder mussten sich auf einem ihnen fremden Gebiete bethätigen. In diesen Zeiten grosser moralischer und socialer Um- wandelungen gab es zwar immer noch einen ungeheuren Vorrath poetischer Kraft, die sich aber an Stelle einer künstlerischen Aeusse- rung, nur noch auf die grossartige und imponirende Thatsache jener Neuerung selbst bezieht. Christus war kein Dichter, aber wie viel Poesie offenbarte sich nicht in seiner Persönlichkeit und Thätigkeit, wie in der seiner zahlreichen Anhänger! Die Kunst, mitten inne stehend zwischen dem unvollkommenen Denken und Empfinden einer vergehenden und entstehenden Welt, in der sich die heterogensten Elemente mischten und bekämpften, entbehrte der für ihr Wesen nothwendigsten Bedingungen, Der Geist der Völker war verirrt, zerstreut und ästhetischen Eindrücken ver- schlossen, das künstlerische Gefühl verwildert oder erloschen. Gleich- sam erstarrt folgte es noch der antiken Cultur, vor dem Geiste standen immer noch ihre Producte, aber Zwecke und Ideale des-

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 60

selben waren zu sehr verändert, als dass man meinen sollte, dass jene antiken Werke, wenn auch noch so studh't und bewundexi;, einen stärkeren Eindruck hätten hervorbringen können, als den einer Ijlossen Phantasmagorie. Wie wir aus Macrobius, den Grammatikern und übrigen Schriftstellern ersehen, nahm Virgil den ersten Platz in jenem Complexe von gelehrten scholastischen Traditionen ein. Seine Gelehrsamkeit, nach der man schon von Anfang an den dichte- rischen Werth in ziemlich inexacter Weise beurtheilt hatte, war jetzt als der einzige Gegenstand der Bewunderung übrig geblieben. Xunmehr ward dieselbe gemäss den Tendenzen der damaligen An- schauung übertrieben, symbolisch aufgefasst und ging in Allegorie und Mysticismus über, was sich aus der Herrschaft des Neuplato- nismus wie des siegreichen Christenthums erklärt. Die Dichter konnten nur noch mittelmässige oder schlechte Verse machen, welche oft ihren Ursprung in der Schule der Grammatiker imd Rhetoren hatten. Die Ktmst des grössten lateinischen Dichters er- schien diesen Leuten wie ein Mysterium, dessen Schlüssel man in der unbegränztesten und verborgensten Weisheit suchte. Es galt als ein Beweis eines feinen und hohen Verstandes, wenn man in seinen Werken wissenschaftliche Kenntnisse jeder Art und tiefe philosophische Gedanken entdeckte.

Als der Mittelpunkt der ganzen überlieferten lateinischen Li- teratur, als ein Repräsentant der Weisheit der Alten, als Interpret jenes universellen römischen Gefühls, welches das Reich über- lebte, erlangte Virgils Name eine Bedeutung, die ihn, in dem la- tinisii-ten Europa den Wirkungen der Civilisation überhaupt gleich stellte ^). Mit solcher Mission von dem sterbenden Heidenthum beauf- tragt, das sich noch im Todeskampfe anstrengte, die Züge seiner glän- zenden und ruhmreichen Vergangenheit festzuhalten, erschien er den folgenden Geschlechtern. Einige Jahi-hunderte bevor Dante den Virgil „virtù somma" nannte, mochte Justinian, als er das ge- waltige Denkmal, welches die practische Weisheit der Römer uns hinterlassen hat, anfertigen Hess, wol eben so denken, indem er

1) In dem Panegyricus zu Ehren des Avitus lässt Sidouius Apolli- uaris den Gotenkönig sagen: (v. 495 S.)

„mihi Romula dudum Per te jura placent; parvumque ediscere jussit Ad tua verba pater, docili quo prisca Marouis Carmine molliret Scythicos mihi pagina mores."

70 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Virgil dem göttlicheu griechischen Ei^iker an die Seite setzte, der für ihn „der Vater aller Tugenden war\)."

Sechstes Capital. Es liegt ims nunmehr ob, die Schicksale Virgils während des Mittelalters zu verfolgen. Die Barbaren und das Christenthum hatten die Gestalt der alten römischen Welt völlig verändert. Auf der einen Seite drohte die Poesie den Schlägen des religiösen Fa- natismus zu erliegen oder unter der Masse der theologischen Lite- ratur zu ersticken; auf der anderen zeigte sich, dass die rohen und ungesitteten Völker, welche jetzt in die civilisirte Welt ein- drangen, keineswegs der Civilisation wegen oder um klassische Studien zu treiben gekommen waren. Unterdrücker wie Unter- diückte, Laien und Geistliche waren zu sehr in Anspruch ge- nommen von der Sorge um ihr Leben und Seelenheil, als dass der Geschmack für die Schönheit der antiken Literatur sich bei ihnen hätte regen können. Und dennoch fand sich auch für sie noch ein Rettungsmittel. Das Latein blieb überall die Schrift- wie Kirchen- sprache. Aber um es nur einigermassen schreiben zu können, be- durfte es bereits eines nicht geringen Studiums. Während es zur todten Sprache herabsinkt, sind zwar die Sprachen des romanisii-ten Europa schon im Begi'iffe, sich zu bilden, aber noch weil entfernt von dem endgiltig abgeschlossenen Organismus eüier literarisch reifen Sprache. Die Schulen, besonders die der Grammatiker, bestanden daher weiter fort und man betrachtete, wie früher, die Grammatik als ^Mittelpunkt aller der Disciplinen, die man für die neuen Zwecke, besonders auf religiösem Gebiete für nöthig hielt. Wenn wir auch nichts von den Stellen wüssten, welche von den Gelehrten zum Beweise des Bestehens der Schulen im Mittelalter gesammelt sind, so würde dies schon aus dem einen Umstand erhellen, dass man nämlich nicht aufhörte, sich einer von der gesprochenen Sprache verschiedenen Schriftsprache zu bedienen. Man muss jedoch nicht diese Schulen für etwas höheres ansehen wollen, als sie in WirkHchkeit sind. Man lernte hier nur das aUernothwendigste. Denn die Studien profaner Wissenschaften waren nicht mehr sich selbst Zweck, sondern mir Vorbereitung zu höheren.

1) „Sicuti cum poetam dicimus nee addimus nomen subauditur ajrad Graecos egregius Homerus, apud nos Vergilius." lustin. Instit. §. 2; .... et apud Homerum, patrem omnis viiiutis"; ebend. in fin. prooem. Digest.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 71

Daher wurden die s. g. „sieben Künste", in welche man schon vor Augustus den Unterrichtsstoff zerlegte^), mit der Zeit in immer engere Grenzen gebracht und im Mittelalter immer mehr beschränkt. Einst nahm die Anfertigung von Compendien, wie Cato und Varrò solche verfassten, doch nur einen bescheidenen Raum in der Literatur ein , weil das reale Leben selbst alle diese Zweige des Wissens, welche man in jenen Werken zusammenfasste, durch- drang. Nachdem jenes Leben aber erloschen war und die einzelnen Fächer der profanen Wissenschaften nichts mehr producirten son- dern immer mehr zusammenschrumpften, mussten nothwendig der- artige Compendien entstehen und einen weit bedeutenderen ßestandtheil der Literatur ausmachen. Dies beweisen die Encyclo- pädien der sieben Künste eines Cassiodor, Capeila, Isidor, Beda und anderer, die günstige Aufnahme, welche ihnen zu Theil wurde, so wie ihre Berühmtheit während des ganzen Mittelalters, Man bemerkt, dass in diesen Encyclopädien von allen Wissenschaften die Grammatik den Verfassern am nächsten liegt; ihr dienten die anderen nur gleichsam als Gefolge und zur Ergänzung. Die Be- handlungsweise des Ganzen ist dabei eine derartige, dass man den Verfasser des Werkes eigentlich immer nur als Grammatiker be- zeichnen kann. Die Grammatik wird als erste unter den freien Künsten angesehen und es verdient Beachtung, wenn man liest, wie der Barbarenkönig Athalarich, in einem an den römischen Senat gerichteten Befehl Betreffs der Besoldung der Professoren der freien Künste die Grammatik preist, als wäre er selbst- ein Römer. „Die erste Schule der Grammatiker," sagt er, „ist die herrlichste Grundlage der Literatur, die ruhmreiche Mutter der

Beredtsamkeit, die richtig zu denken und zu sprechen versteht

Die Grammatik ist die Lehrerin der Rede, sie ziert das Menschen- geschlecht, das durch den Gebrauch einer schönen Literatur s^ich

der Rathschläge der Alten bedienen lernt Den Barbaren ist sie

unbekannt Waffen besitzt auch jedes andere Volk, aber die

Kunst der Rede stand nur den siegreichen Römern zu Gebote ''^j." Wo nun aber die Grammatik herrschte, da herrschte auch ihr unzertrennlicher Begleiter Virgil, der ihr ja selbst die Gesetze vor- schrieb. Virgil und die Grammatik hören im Mittelalter geradezu

1) Vgl. Eitschl, QuaestiouesVarrouianae, Bonn, 1845. M er cklin im Philologus XIII, 736 ff. Jahn, Ueber die röni. Encyklopädien , Ber. d, Sachs. Ges. 1850, 263 ff.

2) Cassiodor. Variarum IX, 21.

72 ^'^irgil in der Literatur bis auf Dante.

auf, zwei verschiedene Dinge zu sein und werden sjmonym. So, heisst es bei Gregor von Tours (6. Jahrh.) dass Andarchius in seiner Jugend „in den Werken Virgil's, im Codex Theodosianus und im Rechnen unterrichtet wurde ^);" unter diesem Unterricht „in den Werken Virgil's" ist aber nur die Grammatik zu verstehen; ebenso wie es in dem Leben des S. Bonitus heisst, dass dieser „in den Elementen der Grammatik und den Gesetzen des Theodosius" unterrichtet ward^). Deshalb verglich man auch einen guten Grammatiker mit Virgil'"'). Einen weiteren merkwürdigen Beleg dafür bietet jener Grammatiker aus Toulouse (vielleicht aus dem 6. Jahrb.), der zwar ein Latein von sehr sonderbarem Gepräge schrieb imd lehrte, wovon weiter \inteu, sich aber doch P. Virgilius Maro nennen wollte und unter diesem Namen a\xch allein bekannt ist. Dieser Zustand dauerte nun aber das ganze Mittelalter hin- durch, bis mit dem Wiedererwachen der moderneu Literatur aucli die Laienwelt za geistiger Thätigkeit erwachte und sich dem Stu- dium weltlicher Dinge widmete. Die mittelbaren Gründe, welche den Clerus des Mittelalters zur Pflege der sieben Künste antrieben, waren nicht von der Art, dass sie neues Leben schaffen und einen Aufschwung der Wissenschaften hätten hervorbringen können. Die antike Tradition, die schon in den letzten Zeiten des Heidenthuras imfruchtbar geworden, trat diesen vom Geiste des Christenthums durchaus beheiTschten Jahrhunderten entgegen, gleichsam wie eine Substanz, die in eine völlig heterogene Flüssigkeit gethan wird, sich zusammenballt und dann zu Boden sinkt; eine todte Materie, die aus der einen Hand in die andere geworfen, und nur durch die rauhen und sonderbaren Berührungen, die sie ab und zu er- leidet, modificirt wird. Wenn hie und da jenes Studium schliess- lich einmal ganz erlischt, so erhebt sich wol, hervorgerufen durch das Bedürfniss, irgend Jemand, der es wieder anfacht. Aber auch so ändert es seine Natur nicht. Die Neuerung besteht nur darin, dass man den schon so genug reducirten Stoff noch mehr zu ver- dichten sucht. Neue, noch handlichere Compendien zu erfinden

1) De operibus Vergili, legis Theodosianae libris, arteque calculi ad- prime eruditus est." Greg. Turou. IV, 47.

2) ,,Grammaticorum imbutus initiis, necnonTheodosiedoctus decretis," bei Mabillon, Acta S. III, 1, p. 90.

3) ;„Et si aliquis de Aquitanis panmi didicerit gi-ammaticam , mox putat se esse Virgilium," Adémar. Epist. (11. Jahrh.) bei Mabillon, Annales ord. S. Bened. IV, 725. Giesebrecht, De literar. studd. etc. p. 18.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 73

ist der alleinige Zweck ^). Carl der Grosse konnte wol die klassischen Studien wieder aufnehmen, aber nicht erneuem. Die Grammatik, die auch dieser Fürst unter den sieben Künsten am meisten be- günstigte, bleibt, abgesehen von der kindlichen Unwissenheit der Compilatoren und Verfertiger der Auszüge, wesentlich dieselbe wie in den letzten Zeiten des Heidenthums, bis endlich im 12. Jahr- hundert auch sie den Einflüssen der Scholastik unterliegt^). Als schon die moderne Literatur erwacht war, und sich der mensch- liche Geist in neuen Bahnen bewegte, da behauptete die Grammatik noch denselben Posten, den ihr einst im 6. Jahrhundei-t der König der Ostgoten angewiesen hatte '^j. Was aber von der Grammatik gilt, das gilt auch vom "Virgil, der in ihr während des Mittelalters seine Stellung bewahrte. Mit dem Material des Unten-ichtes für die Laien überkam das Mittelalter aus den Zeiten des Verfalles den Kanon der antiken Autoren. Die alte Bedeutung Virgils, die ihm schon in jenen sinkenden Zeiten des Heidenthums zugeschrieben ward, klingt im ganzen Mittelalter nach, selbst noch in den naiven Aeiisserimgen, deren eine so niedrige Stufe der Cultur und eine der antiken so entgegengesetzte Ideenwelt fähig war.

Das klassische Alterthum erhielt sich aber im Mittelalter nur noch auf den Bänken der Elementarschule, und alle alten Schrift- steller verdankten ihren Ruhm nur den Schulmeistern. Als erste Dichter neben Virgil, den sie wie Planeten umkreisten, herrschten in den Schulen Ovid, Lncan, Horaz, luvenal, Statius und dann die

1) Man kam endlich dahin, Grammatiken für die Reise zu verfassen, so die des Phokas (5. Jahr.) wie die Verse der Vorrede bemerken:

„Te longinqua petens comiteni sibi ferre viator Ne dubitet i:iarvo pendere multa vehens."

Ars Phocae grammatici de nomine et verbo, bei Keil. Gr. 1. V,

p. 410.

2) Man vgl. die wichtige Schrift vonThurot: „Notices et extraits de divers manuscrits pour servir à rhistoire des doctrines grammaticales au moyen àge. Paris, 1868. (der 22. Band der „Notices et extraits des ma- nuscr. de la bibl. imp.").

3) In der Legende von Karl dem Grossen beisst es: „premièrement fist Karlemaiue paindre dans son palais gramaire qui est mère de tous les ars." In der ,, Image du monde" wii-d aus diesem Ansehen der Gramma- tik in mystischer Weise gefolgert, dass diese die Wissenschaft des Wortes ist, durch das Wort aber Gott die Welt erschuf

„Par parole fist Dex le monde Et tous les biens qui ens habunde." Vgl. lubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf II. p. 417.

72

Yirgil in der Literatur biiauf Dante.

auf, zwei verschiedene Dinge zai sein ui werden s;yTionyin. So, heisst es bei Gregor von Tours (6. .Ihrh.) dass Andarchius in seiner Jugend „in den Werken Virgil , im Codex Theodosiamis und im Rechnen unterrichtet wurde');" iter diesem Unterricht „in den Werken Virgil's" ist aber nur ili' Grammatik zu verstehen; ebenso wie es in dem Leben des S. imitus heisst, dass dieser „in den Elementen der Grammatik und ( 1 1 Gesetzen des Theodosius" unterrichtet ward^). Deshalb verglic^l man auch einen guten Grammatiker mit Virgil^). Einen wehren merkwürdigen Beleg dafiii- bietet jener Grammatiker aus 'J'ilouse (vielleicht aus dem 6. Jahrh.), der zwar ein Latein von >hr sonderbarem Gepräge schrieb imd lehrte, wovon weiter untei sich aber doch P. Virgilius Maro nennen wollte und unter diesem N;' en auch allein bekannt ist. Dieser Zustand dauerte nun aber as ganze Mittelalter hin- durch, bis mit dem Wiedererwachen d modernen Literatur auch die Laienwelt zu geistiger Thätitrkeit wachte und sich dem Stu- dium weltlicher Dinge widmete. Die ittelbaren Gründe, welche den Clerus des Mittelalters zur Pflege r sieben Künste antrieben, waren nicht von der Art, dass sie uem Leben schaffen und einen Aufschwung der Wissenschaften hättPi lervorbringen können. Die antike Tradition, die schon in den lei/ n Zeiten des Heidenthums imft'uchtbar geworden, trat diesen voi, Geiste des Christenthums durchaus beherrschten Jahrhunderten i, gegen, gleichsam wie eine Substanz, die in eine völlig heteiogei Flüssigkeit gethan wird, sich zusammenballt und dann zu Bodivi sinkt; eine todte Materie, die aus der einen Hand in die andere geworfen, und nur durch die rauhen und sonderbaren BerühruuLii, die sie ab und zu er- leidet, modificirt wird. Wenn hie imdia jenes Studium schliess- lich einmal ganz erlischt, so erhebt ^i' wol, hervorgerufen durch das Bedüi-fniss, irgend Jemand, der e- vieder anfacht. Aber auch so ändert es seine Natur nicht. Die Mluerung besteht nu dass man den schon so genug reducirtti Stoff noch m^ dichten sucht. Neue, noch handliche^ Compendie

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1) De operibus Vergili, legis TheodosiS prime eruditus est." Greg. Turon. IV, 47. ,

2) „Grammaticorum imbutus initiis, bei Mabillon, Acta S. III, 1, p.

3'i .,Et si aliquis de AquitE putat se esse Virgilium.'" Ac Annales ord. S. Bened. IV, p. 18.

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ist der alleinige Zweck ' , SUidien wieder aufnehm die auch dieser Fürst i. günstigte, bleibt, abge-' Compilatoreu imd Verfei i in den letzten Zeiten di hundert auch sie den V.\ schon die moderne Litei liehe Geist in neuen Bali noch denselben Posten, der Ostgoten angewiesci gilt, das gilt auch vom seine Stellung bewahrt. . die Laien überkam da> den Kanon der antiken ihm schon in jenen sinkm ward, klingt im ganzen M Aeusserungen, deren ein. antiken so entgegenge-.i Das klassische AlUn noch auf den Bänken d. r steller verdankten ihren i Dichter neben Virgil, den in den Schulen Ovid, Lm :

1) Mau kam endliili ' 80 die des Phokae (5. Jil

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Ars Phocae grammati( i

p. 410.

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1er Grosse konnte wol die klassischen :v nicht erneuern. Die Grammatik, n sieben Künsten am meisten be- on der kindlichen Unwissenheit der er Auszüge, wesentlich dieselbe wie euthums, bis endlich im 12. Jahr- ■n der Scholastik unterliegt^! Als wacht war, rmd sich der mensch - vegte, da behauptete die Grammatik

einst im 0). Jahrhundert der König '). Was aber von der Grammatik der in ihr wähi-end des Mittelalters dem Material des Unterrichtes tiir ilter aus den Zeiten des Verfalles 1. Die alte Bedeutung Virgils, die ;iten des Hcidenthums zugesehrieben ter nach, selbst noch in den naiven edrige Stufe der Cultur und eine der •enwelt fähig war. jrhielt sich aber im Mittelalter nur lentarschule, und alle alten Schrift-

nur den Schulmeistern. Als erst« vie Planeten umkreisten, herrs'chten onvA, Fuvenal, Statins und dann dif

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Virgil in der Literatur bis auf Dante.

anderen je nach dem Geschmacke des Lehrers. Im Hementar- unterricht suchte man den Kindern die Namen der vrnehmsten antiken Schriftsteller und Grammatiker einzuprägen. Wr mau er- wachsen oder schriftstellerte man, so war es unmJ^glich. ne Schul- reminiscenzen, welche auch durch die Schriftsprache s^ist festge- halten wurden, aufzugeben. So kam man dazu, jene Atoren fort- wähi-end zu citiren. Aber das christlich asketische Gethl musste auch schweren Widerwillen gegen die Repräsentanten üs Heiden- thums empfinden, und wir haben daher nunmehr die Steling VirgiLs und der anderen antiken Autoren zu beobachten, wein von den christlichen Schriftstellern besonders nach dem vollstämyen Siege ihrer Religion so hart angegriffen wurden.

Die Kirchenschriftsteller ^j konnten gegen die heidrechen eine starke Abneigung hegen, und Arnobius Tertullian und ädere Apo- logeten ihnen mit dem Rufe „adversus gentes" entegentreten mit einer Heftigkeit, welche durch erlittene Verfolgunpn und re- ligiöse Begeisterung kaimi gerechtfertigt wird. Allein raussten sie doch lesen und studiren, theils um sie zu widerlepn, theils, weil sie die Grundlage der allgemeinen Bildung warei und man nur durch sie die Schriftsprache erlernen konnte, mit eren Hilfe man selbst wieder die Laienwelt belehren musste. Lrum eben war das Decret des Kaisers Julian so verhasst, \slches den Christen den Unterricht und somit auch das Studium 1er Gram- matik und Rhetorik verbot. Julian sagte , dass es niot gut sei, wenn die, welche sich über die moralischen und reügiösen Schriften der heidnischen Autoren so sehr erzürnten, chselben als Grundlage ihres Unterrichtes benutzten^), wie diet auch die

1) Wir können uns hier nur mit dem Westen beßchiligen, und lassen deshalb die klassischen Studien in den Ländern der riechischen Cultur und orientalischen Kirche bei Seite. Trotzdem könrm wir kurz bemerken, dass das Resultat fast dasselbe wie im Westen ist, aigenommen, dass die griechische Kirche sich hier wie in manchen an -en Dingen etwas mehr erleuchtet und toleranter als die Kirche dob oendlandes zeigt. Die Homilic des Basilius über das Lesen heidnisch. Bücher ist bekannt genug.

2) ccxonov [Lsv oiuai tov§ i^rjyovfiévovg xovxmv ànai,fiv rovs vn avzwv xifirjQ-ivrccg Qsovg. lulian, Epist. 42, p. 422. Xaa dem Ver- bote konnten die Christen nicht Lehrer der Grammatik ud Rhetorik sein (Ammian. Marc. XXII, 10, 7; Joh. Chrysost. II, p. ''9 u. s.w.), also auch nicht die Schulen besuchen, denn den H< i u würden sie ihre Kinder nicht anvertraut haben. Vgl Las au Ix, D< Untergang des Hellenismus p. 65; Kellner, Hellenismus und C bristen thm (Köln 1866) p. 226 f.

Virgil in der Literatur bis auf Dante.

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i.n mehr, die jene Schriftsteller verbieten"). Da-

li A tu nisten erwähneuswerth scheint Isidor zu sein. -- Auch Sma- ragdus ',' larh.) sagt ausdrücklich, Beispiele aus der Vulgata zu nehmen.. .''gl. Thurot, a. a. O. \). f>'ò): „quem libellum non Marouis aut CiceroJiif. el etiam alioruui i)aganonuu auctoritate fulcivi, scd divi- narum sri . arum sententiis iidornavi, ut lectorem meum iucuudo pa- riter artn. iucnndo scripturaruni poculo propinarem, ut gramniatioae arii> t scripturarum i)ariter valeat comprehendere sensuni."

Sili tract. in part. Donat. bei Keil, De quibusdain gram-

mati.-. ..liinae aetatis. (Erlangen 18G8) p. 20. Auch für die lihe-

torik er. 1:/. . > sich dasselbe. Vgl. Beda „de schematibus et tropis": „Sed ut . ^cas, dilectissime tili, cognoscant omnes qui haec legere volueriiif I. sancta scriptum ceteris scripturis omnibus non solum

auctorital. a divina est, vel utiütate quia ad vitani ducit aetornani, scd . itc et ipsa praeeminet positione dicendi, placuit mihi

coli. txemplis estenderò, quia nihil hniusruodi scheuiatum

sivo leut praetendere saecularis eloquentiae magistri, quod

non in iii ecesserit"; bei Halm, Uhett. latt. minores p. CO?.

•2) i'i. vir alten, alier apokryphen „Constitutioius .Xiiostoloruni" können nichtals kanonische Autoritä,t gelten. Nach dem iJeiste des

74 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

anderen je nach dem Geschmacke des Lehrers. Im Elementar- unterricht suchte mau den Kindern die Xamen der voruehm-sten antiken Schriftsteller und Grammatiker einzuprägen. War man er- wachsen oder schriftstellerte man, so war es unnioglich, jene Schul- reminisceuzen, welche auch durch die Schriftsprache selbst festge- halten wurden, aufzugeben. So kam man dazu, jene Autoren fort- während zu citiren. Aber das christlich asketische Gefühl musste auch schweren AViderwillen gegen die Repräsentanten des Heiden- thums empfinden, und y\ir haben daher nunmehr die Stellung Virgils und der anderen antiken Autoren zu beobachten, welche von den christlichen Schriftstellern besonders nach dem vollständigen Siege ihrer Religion so hart angegriffen wurden.

Die Kirchenschriftsteller ^) konnten gegen die heidnischen eine starke Abneigung hegen, und Arnobius Tei-tullian und andere Apo- logeten ihnen mit dem Rufe „adversus gentes" entgegentreten mit einer Heftigkeit, welche durch erlittene Verfolgimgen und re- ligiöse Begeisterung kamn gerechtfertigt wird. Allein sie mussten sie doch lesen und studiren, theils um sie zu widerlegen, theils, weil sie die Grundlage der allgemeinen Bildung Avaren, und mau nur durch sie die Schriftsprache erlernen konnte, mit deren Hilfe man selbst wieder die Laienwelt belehren musste. Darum eben war das Decret des Kaisers Julian so verhasst, welches den Christen den Unterricht und somit auch das Studium der Gram- matik und Rhetorik verbot. Julian sagte, dass es nicht gut sei, wenn die, welche sich über die moralischen und religiösen Schriften der heidnischen Autoren so sehr erzürnten, dieselben als Grundlage ihres Unterrichtes benutzten^), wie dies auch die

1) Wir könneu uns hier nur mit dem Westen beschäftigen, imd lassen deshalb die klassischen Studien in den Ländern der griechischen Cultur und orientalischen Kirche bei Seite. Trotzdem können wir kurz bemerken, dass das Resultat fast dasselbe wie im Westen ist, ausgenommen, dass die griechische Kirche sich hier wie in manchen anderen Dingen etwas mehr erleuchtet und toleranter als die Kirche des Abendlandes zeigt. Die Homilio des Basilius über das Lesen heidnischer Bücher ist bekannt genug.

2) ätonov (isv oiuai tovg iè,rjyov(iévovg tee Tovzmv àtifié^fiv tovg vii avtiùv TLfirj&évTag &sovg. Tuli an, Epist. 42, p. 422. Nach dem Ver- bote konnten die Christen nicht Lehrer der Grammatik und Rhetorik sein (Animi an, Marc. XXII, 10, 7; Joh. Chrysost. II, p. 579 u. s. w.), also auch nicht die Schulen besuchen, denn den Heiden würden sie ihre Kinder nicht anvertraut haben. Vgl. Lasaulx, Der Untergang dos Hellenismus p. (55; Kellner, Hellenismus und Christenthum (Köln 1866) p. 226 f.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 75

wärmsten und intolerantesten Asketen gesagt hatten. Dagegen begriffen die klügeren und mehr in-actischen Christen sehr wol, welche Bosheit in dem Decret Julians lag; denn, das Christen- thum von der antiken Cultur losreissen und demselben zu ver- bieten, sich gewissen Anforderungen anzubequemen, war das beste Mittel, die Entwickelung desselben in der graecoromanischen Cultur zu verhindern. Allein das Decret Julians half so wenig wie seine anderen Massregeln. Gegen den unwiderstehlich herandringenden Strom war kein Damm fest genug. Nachdem das Heidenthum aufgehört hatte zu existiren, und man der Polemik gegen die Heiden überdrüssig ward, stand die Uebei'liefermig für die christ- lichen Schulen bereits fest, und es war nicht möglich, das ganze Mittelalter hindurch ihren Chaiakter zu ändern. Es gab zwar Leute, welche wünschten, au Stelle der heidnischen Schriftsteller christliche in den Schulen einzuführen: aber wie hätten wol die Grammatiker in diesen ein Aequivalent sehen können? luden neuen grammatischen Compilationen fügte man zu den antiken Beispielen auch oft solche aus der Vulgata und einigen christlichen Au- toren-'), aber massgebend blieben doch immer nur die ersteren.

Die Nothwendigkeit einer radicalen Reform fühlte man nicht, denn das Heidenthum war todt, und jeder verständige sah ein, dass eine Wiederbelebung desselben durch die Schulen unmöglich war. Und so finden wir denn auch keine Verordniingen kirch- licher Obrigkeiten mehr, die jene Schriftsteller verbieten^). Da-

1) Am meisten erwähueuswerth scheint Isidor zu sein. Auch Sma- ragdus (9. Jahrh.) sagt ausdrücklich, Beispiele aus der Vulgata zu nehmen.... (Vgl. Thurot, a. a. 0. p. 63): „quem libellum non Marouis aut Ciceronis vel etiam aliorum paganoi-uui auctoritate fulcivi, sed divi- narum scripturarum sententiis adornavi, ut lectorem meum iucundo pa- riter artium et iucundo scripturarum poculo propinarem, ut grammaticae artis ingenium et scripturarum pariter valeat compreheudere seusum." Smaragd. Prol. tract. in part. Donat. bei Keil, De quibusdam gram- maticis latinis infimae aetatis. (Erlangen 1868) p. 20. Auch für die Rhe- torik ereignete sich dasselbe. Vgl. ßeda „de schematibus et tropis": „Sed ut cognoscas, dilectissime fili, cognóscant omnes qui haec legere voluerint, quia sancta scriptura ceteris scripturis omnibus non solum auctoritate quia divina est, vel utilitate quia ad vitam ducit aeternam, sed et autiquitate et ipsa praeeminet positione diceudi, placuit mihi collectis de ipsa exemplis estendere, quia nihil huiusmodi schematum sive troporum valent praetendere saecularis eloquentiae magistri, quod non in illa praecesserit" ; bei Halm, Rhett, latt. minores p. 607.

2) Die zwar alten, aber apokryphen „Constitutiones Apostolorum" können nicht als kanonische Autorität gelten. Nach dem Geiste des

76 Viigil in der Literatur bis auf Dante.

gegen zeigt sich uns die scheinbar befremdliche Thatsache, dass man die Alten als Heiden hasst und vei-flucht, sie aber eifrigst liest und studirt. Von einigen einsichtigen werden sie daneben auch als gelehrte und geistvolle Schriftsteller bewundert. Das kam daher, weil das Mittelalter sich gewissenhaft m einer von früher her vorgeschriebenen Bahn bewegte. Die Kirchenväter hatten /war viel gegen die Alten geschrieben, sich ihrer aber doch immer wieder bedient. So las man sie denn auch in den Schulen weiter, und citirte sie auch wo es nöthig war, sogar in den theologischen Controversen und der Auslegung der Schrift, gelegentlich aber wer- den sie auch als „heidnische Hunde" gemisshaudelt. Hiero- nymus, dem seine Vorliebe für Cicero in jenem berühmten Traume sogar Schläge von Seiten der Engel eintrug, die ihm dabei zu- liefen: „Ciceronianus es non Christianus", nannte den Virgil: „nicht den zweiten, sondern den ersten Homer der Römer ^)". In dem Briefe an Damasus über den verschwenderischen Sohn aber tadelt er heftig jene Priester, ,, welche anstatt der Evangelien und Propheten Comödien lesen, aus den Bucolica citireu, den Virgil nicht aus den Händen lassen imd daraus eine Sünde machen, was für die Kin- der eine Nothwendigkeit ist". Damit stimmen freilich nicht die Worte Augustin's überein, der es nicht tadelt, wenn „die Kinder von früh an den Virgil lesen und den vor allen anderen erlauch- ten Poeten so in sich aufnehmen, dass sie ihn so leicht nicht

primitiven einfachen Christenthums, welchen sie athmeu, rathen sie von dem Lesen heidnischer Bücher ab und verweisen auf die Bibel, als auf eine Encyklo- pädie, in der sich das Gute jener Bücher alles beisammen fände (C. A. c. 4). Im 4. Concil von Carthago (5. Jahrb.) beisst es cap. 16: „Ut episcopi libi'os gentilium non legant, haereticorum autem pro necessitate et tempore," und Isidor sagt im „Liber sententiarum" III, 13: „probibetur christianis figmenta legere poetarum" und beweist dies weitläufig. Na- türlich ist dies alles nicht buchstäblich aufzufassen sondern gilt nur als Rath und Ermahnung den Gebrauch der antiken Autoren zu beschränken. Man setzt keine Strafe darauf, sondern überlässt alles dem Gewissen. Isidor beweist durch seine eignen Schriften, wie er die Stelle im Lib. sent. verstanden wissen wollte. Die Stelle aus Isidor und das Gesetz aus dem Concil von Carthago findet man unter den von Grazian gesammelten Beschlüssen, dist. 89. Vgl. dazu Berardi I, 193 ff. Zahlreiche Stellen aus den griechischen und lateinischen Kirchenvätern, die sich theils' für. theils gegen jene Studien aussprechen, theils sie nur bedingungsweise gestatten, bei Cotelerius, Patr. temp. apost. I, p. 204. Vgl. Loaise und Arevalo zu Isid. lib. sent. III, c. 13; Gazaeus, zu Cassian. Coli. XIV, c. 12.

1) Comm. iu Michaeam., Op. VI, 518.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 77

mehr vergessen^)". Diese Reminiscenzen aus den profanen Studien müssen übrigens manche bedenkliche Seele beunruhigt haben, und der Eremit Cassianus dachte sich endlich ein Mittel aus, dem abzu- helfen^). Wie schwer es aber war, beweist Hieronymus, dem selbst mitunter, ohne es zu wollen, Stellen aus klassischen Schrift- stellern unter die Feder laufen. Als er von den Krypten Rom's spricht , welche die Gräber der Apostel und Märtyi-er aufweisen, und von dem Dunkel, das hier herrscht, sagt er: „Hier schreitet man nur allmälig vorwärts und umgeben von finsterer Nacht kann man sich der Worte Virgils erinnern: „Horror ubique ani- mos simul ipsa silentia terrent". Und dies sagt derselbe Hierony- mus der an einem anderen Orte in heiligem Glaubenseifer ausruft: „Was hat Horaz mit dem Psalter zu schaffen, was Virgil mit dem Evangelium oder Cicero mit den Aposteln^)?''. Derartiges kann man vielfach in seinen Werken finden. Seine Gegner ersparten ihm aber deswegen keine Vorwürfe. Als er z. B. zu Bethlehem eine Schule der Grammatik gründete und den Knaben Virgil und andere gi-iechische und lateinische Profanantoren erklärte, da schleuderte ßufin Anklagen gegen ihn, die ihn schwer verwunde-

1) „Vergilium pueri legunt ut poeta magnus omniumque praecla- rissimus atque optimns teneris imbibitus annis, non facile oblivione possit abohri." De civ. Dei, I, c. 3. In dieser Stelle haben viele legant aus legunt gemacht. Auch Roth spricht davon wie von einer Ermahnung, Virgil zu lesen. Im Text steht aber legunt, und muss hier auch so heissen.

2) „Germanus: . . . . speciale impedimentum salutis accedit pro illa quam tenuiter videor attigisse notitia litterarum, in qua me ita vel in- stantia paedagogi, vel continuae lectionis maceravit intentio, ut nunc mens poeticis velut infecta carminibus, illas fabularum nugas historiasque bellorum quibus a parvulo primis studiorum imbuta est rudimentis, ora- tionis etiam tempore meditetur, psallentique vel pro peccatorum indul- gentia supplicanti, aut impudens poematum memoria suggeratur, aut quasi bellantium heroum ante oculos imago vei'setur, taliumque me phan- tasmatum imaginatio semper eludens, ita mentem meam ad supernos intuitus asi^irare non patitur ut quotidianis üetibus non possit expelli." Nosteros: ,,De hac ipsa re unde tibi purgationiä uascitur desperatio ci- tum satis atque efficax remedium poterit oboriri, si eamdem diligentiam atque instantiam quam te in illis saecularibus studiis habuisse dixisti, ad spiritalium scripturarum volueris lectionem meditationemque transferre. Necesse est enim etc." Cassian Coli. XIV, cap. 12, 13.

3) Comm. in Ezech. c. 40.

4) Epiat. ad Eustochium, Op. I, 112.

78 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

ten ^). Wer aus allen Kirchenvätern die Stellen zusammensuchen wollte, in denen gegen das Lesen heiduiöcher Bücher so wie das Profanstudium überhaupt geeifert wird, der würde deren unge- mein viele finden; noch mehr aber würde der entdecken, welcher die Stellen sammeln wollte, in denen das Gegentheil gesagt ist. In der That verdankten die Dichter und christlichen Autoreu, ja alle, die nur irgend ein literarisches Verdienst hatten, das was sie leisteten der Kunst der Alten, deren Schüler und oft skla- vische Nachahmer sie waren. Sie empfahlen daher geradezu das Studium der Alten. Ein Brief des Sidonius ApoUiuaris (5. Jahrh.) führt uns in ein schönes Landhaus in Gallien, dessen Besitzer dort alle möglichen geistigen und körperlichen Genüsse vereinigt hat. Unter den Büchern liegen da heilige und profane, christ- liche und heidnische bunt durcheinander; und das beweist uns, wie wenig die Declamationen einiger Fanatiker Erfolg hatten^). Als Cassiodor seine Mönche zum Studium der sieben Künste an- trieb, konnte er^) dafür sowol das Beispiel des Moses anführen, welcher in aller Weisheit der Aegypter erzogen ward, als auch

1) Maronem suum comicosque ac lyricos et historicos auctores tra- ditis sibi ad disceudum Dei timorem puerulis exponebat, scilicet ut prae- ceptor fieret auctorum geutilium." Kufin. Apol. 11, bei Hieron. p. 420. Vgl. Am. Thierry, Saint Jerome, I, p. 314.

2) „Qui inter matronarum cathedras Codices erant, stylus his reli- giosus inveniebatur; qui vero per subsellia patrum familias, hi cothurno latialis eloqui nobilitabantur. Licet quaepiam volumina quorundam aucto- rum servarent in causis disparibus dicendi paiilitatem. Nam similis scientiae viri, hinc Augustinus, bine Varrò, bine Horatius, bino Prudentius, lectitabantur. „Sidon. F.pist. I, 9- Von hier ist jedoch noch weit bis zu der Idee des Herrn Chaix (Sidoine Apollinaire, Paris 1867) sowie an- derer moderner Katholiken, dass die Kirche stets ,,eine grosse Beschützerin" der antiken Cultur gewesen sei. Vgl. Kaufmann in den Gott. gel. Anz. 1868, p. 1009 f. Der Grammatiker Virgil (bei Mai, Class, autores V, p. 5) spricht davon, dass es Sitte gewesen sei in der Kirche die christ- lichen und heidnischen Autoren in zwei gesonderten Bibliotheken aufzu- bewahren: ,,.... bocce subtilissime statuerunt ut duobus librariis com- positis, una fidelium philosophorum libros, altera gentilium scripta con- tinerent." Wir nehmen jedoch die Versicherung eines so bizarren Autors nicht so wörtlich wie 0 z an am (La civilisat. ehret, chez les Francs, p. 434 f.). Dass eine solche Eintheilung bisweilen stattfand, geht aus der Stelle des Sidonius hervor; allein nichts beweist, dass dies eine Verordnung der Kirche war. Im Gegentheil werden in Catalogen mittelalterlicher Bibliotheken christliche und heidnische Autoren durcheinander an- geführt.

3) Divin. lection. cap. 28.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 79

„der heiligen Väter, welche anordneten, dass das Studium der profanen Literatur nicht versäumt werden dürfe und welche sich selbst darin sehr bewandert zeigten, wie man aus Cyprian, Lac- tanz, Ambrosius, Hieronymus, Augustin und anderen ersieht. Und wer könnte da noch zweifeln?" Es ist dies der Gemeinplatz, mit dem sich alle Geistlichen entschuldigten, wenn sie über welt- liche Stoffe schrieben^). In den Klöstern, in denen das Schweigen Regel war, bediente man sich für gewisse Dinge conventioneller Zeichen, Wenn man z. B. das Buch eines heidnischen Autors haben wollte, so pflegte mau sich bei dem Zeichen eines Buches wie ein Hund hinter den Ohren zu kratzen; denn „man vergleicht mit Recht einen Heiden einem solchen Thiere"^). Man verachtete sie, aber man las sie. Die Regel einiger jüngerer Mönchsorden wie der des Isidor, des Dominions und Fi*anciscus verbot das Lesen heidnischer Autoren und gestattete dasselbe nur nach besonderer Erlaubnisse). Andere und bedeutendere Klöster vei*boten es eben- falls, erlaubten es aber in den Schulen des Ordens und befahlen

1) In einem von Stefanus von Ronen (12. Jahrh.) verfassten Compen- dium aus den Institutiones des Quintilian, wovon sich ein handschrift- liches Exemplar auf der kais. Bibliothek zu Paris befindet, entschuldigt sich der Verfasser folgender Massen : „. . . . Hoc pariter notandum quod ecclesiae doctores gentilium libros non incognitos habebant .... Probat hoc et beatus Augustinus qui de discipliuis liberalibus libros singulos edidit .... Beatus etiam Ambrosius cuiusdam philosophi epistulam in quadam sua epistula integram ponit. Origenes vero philosophorum libros adolescentibus summopere edisceudos praecipiebat, diceus eorum ingenia in divinis scripturis capaciora et tenaciora fore cum horum sub- tilitates et ingeniorum acumina animo perceperint. Quod .Julianus au- gustus, magnus quidem jibilosophus, sed errore maior, considerans, post- quam a fide discessit, edicto publicato prohibuit ne cbristiauorum filii artem oratoriam addiscerent, quod quanto in eloqueutiae studiis edocti forent tanto in Christiana fide ac religione, ut in revincendis gentilium, quos sequebatur, erroribus acutiores ac disertiores existerent; simul dicens hostes adversariorum armis non armandos. Karoli etiam magni ma- gister Alcuinus de hac arte dialogum sub proprio Karoli nomine con- scripsit etc."

2) „Pro signo libri scholaris quem aliquis paganus composuit, praemisso signo generali libri, adde ut aurem digito tangas sicut canis cum pede pruriens solet; quia non immerito infidelis tali animanti comparatur." Bernard. Ordo cluniac. in Vetus disciplina monast. p. 172. (Zappert, Virgil's Fortleben im Mittelalter, p. 31).

3) ,, Gentilium autem libros vel haereticorum volumina monachus legere caveat." Holst. Cod. regni, monast. p. 124; vgl. Heeren, Gesch. d. ci. Lit. im Mittelalter I, p. 70; Le Clerc, in Hist. litt, de la France, XXIV, p. 282,

80 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

das Abschreiben von Mauuscripten ohne Unterschied der Autoren ^), welche eben durch diesen Umstand auf uns gekommen sind. Wenn man der Strenge des Christenthums hätte genau folgen wollen, so hätte man die heidnischen Schriftsteller dui-chgängig verbieten oder gar vernichten können, vor allem die, welche für jede Re- ligion als unmoralisch gelten müssen, wie Ovid und Martial, Und doch figurirten die „ars amatoria" Ovids und die schmutzigen Epi- gramme Martials in den Klosterbibliotheken neben anderen Pro- fanschriftstellern , sogar neben der Bibel und den Kirchenvätern. Die zahlreichen Handschriften, die wir davon besitzen, wurden zum grossen Theil von Mönchen abgeschrieben und stammen aus Klöstern. Freilich hatte der Abschreiber nicht immer den Muth, manche Stellen ganz zu copiren, und dieselben wurden dann ent- weder weggelassen oder willkürlich moralisch umgeändert^). An- dere wieder copirten alles getreulich, machten sich dann jedoch in einer Randbemerkung Luft, wobei sie dem Autor gerade keine Ehrentitel gaben ^). Aber im ganzen hatte man ein viel weiteres Gewissen, als man heute glaubt. Horaz, von dem schon Quintilian

1) In Folge der modernen Entdeckungen von Palimpsesten haben einige wenig unterrichtete gemeint, dass die Mönche aus Hass gegen die Heiden systematisch deren Schriften ausgelöscht und solche von frommem Charakter an ihre Stelle geschrieben haben. Das ist ein grosser Irrthum. Häufig war das ausgelöschte ein christliches Werk, sogar von Kirchen- vätern, auch Texte der Bibel, und profanes darüber geschrieben, z. B. über den Text des Paulus der der llias. Leider wird, wie ich aus Er- fahrung weiss, der Gelehrte oft genug in der Hinsicht getäuscht, wenn er in einem Palimpsest nach klassischer Literatur sucht und sich un- nöthig dabei quält. Ausführlicheres hierüber bei Mone, de li bris pa- limpsestis. Carlsr. 1855 und Wattenbach, das Schriftwesen im Mittel- alter (Leipz. 1871) p. 174 f.

2) In einer Ovidhandschrift der Züricher Bibliothek ist bei dem Verse „hoc est quod pueri tangar more minus" (Ars am. Ili, 683) das minus in nihil verwandelt und eine Note dazu am Rande sagt: „ex hoc nota quod Ovidius non fuerit sodomita." VgL L. Müller im Jahrb. f. Phil. n. Paed. 1866 p. 395. In dem bekannten Pariser Excerptencodex (Notre Dame 188) sind viele Verse auf diese Art zugestutzt; z. B. Ti- bull, (I, 1, 25). „lam modo non possum contentus vivere parvo" wird zu „Quippe ego iam possum contentus vivere parvo" und Tib. I, 2, 89: „lusisset amores" zu „dampnasset amores". VgL Wolf f li u im Pbilo- logus XXVII (1867) 154.

3) Unter den Griechen widerfährt dies am häufigsten Luci an, wel- chen die Byzantinischen Copisten oft am Rande mit : „cö KccKiats àv&Q(ÓTtcav, (0 (iiaQcórats^' u. a. beehren. Vgl. L. Müller im Jahrb. f. Phil. u. Paed. 1866, p. 395.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 81

einige Stücke in den Schulen nicht interpretirt wissen wollte^), wurde nicht allein ganz gelesen, copirt und von den Mönchen glossirt, sondern einige seiner sinnlichsten Oden wm-den von ihnen gar nach der Melodie von heiligen Hymnen gesungen, die sich in mehr als einer Handschrift notirt findet").

Einer kleinen Zahl von Hitzköpfen stand also eine ganze Menge Gemässigter gegenüber. Anselm rieth geradezu zur Leetüre des Virgil^) und Lupus von Ferneres, der dem Regimbert dasselbe empfahl, wie aus seinen Briefen hervorgeht^), suchte überall nach Handschriften klassischer Autoren. Er wandte sich sogar an den Papst Benedict III. mit der Bitte, ihm einen Ci- cero, einen Quintilian und einen Terenzcommentar zu leihen^). Viele Invectiven gegen das Studium der Alten sind leere Decla,- mationen und rhetorische Ergiessungeu ohne Ernst. Sobald die Rhetorik in die Literatur eindringt, ist es ja überhaupt schwer zu sagen, wenn man nach der eigentlichen Ansicht der Schrift- steller fragt, wo die Wahrheit aufhört, und die Phrase beginnt.

1) ;,,.... nam et graeci (lyrici) multa licenter, et Horatium nolim in quibusdam interpretrari." Quintil. I, 8, 6.

2) In einer Horazhds. von Montpellier begleiten die Ode an Phyllis (IV, 11). „Est mihi nonum superantis annum" Noten, in welchen man die Melodie der berühmten Hymne: „üt queant laxis Resonare fibris" wiedererkannt hat. Vgl. Libri, Catal. génér. des MSS. des bibl. pubi, des depart. I, 454 f.; Nisard, Archives des miss, scient. et litt. 1851, 98 ff.; Baiter, Horat. II, p. 915 ff.; Jahn im Hermes II, 419.

3) „Et volo quatenus ut fiat quantum potes satagas, et praecipue de Vergilio et aliis aucto'ribus quos a me non legisti; exceptis bis in quibus aliqua turpitudo sonat " Anselm. op. 351. Und so noch manche andero. In einem alten Gedichte, „ad pueros" betitelt, heisst es:

„Pervigil oro legas cecinit quod musa Maronis Quaque Sophia docet, optime, carpe puer."

Vgl. Amador de los Rios, Hist. crit. de la litt. Espaii. II,

pp. 238, 339.

4) „Satius est ut apprime sis, et in Vergiliana lectione, ut optime potes, proficias." Lup. Ferrar. Ep. 7.

5) Epist. 103. Vgl. auch ep. 1, 5, 8, 16, 37, 62, 104, in denen er Handschriften des Cicero, Gellius, Servius, Macrobius, Boethius, Caesar, Quintilian, Sallust verlangt oder übersendet. Seine Correspondenz recht- fertigt das, was er von sich selbst zu Einhard (Ep. 1) sagt: „Amor lite- rarum ab ipso fere initio pueritiae mihi est innatus, nee earum, ut nunc a plerisque vocantur, superstitiosa otia fastidio sunt. Et nisi inter- cessisset inopia praeceptorum, et longo situ coUapsa priorum studia pene interissent, largiente Domino, meae aviditati satisfacere forsitan po- tuissem."

Comparetti, Virgil im Mittelalter. (J

^2 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Gregor von Tours erhebt laut seine Stimme gegen die Fabeln und die verderbliche Gelehi-samkeit der „Philosophen" oder alten Au- toren; wenn er aber die Aeneis nach ihren Hauptbegebenheiten durchnimmt und die poetischen Mythen der Reihe nach verdammt, scheint es ihm selber zu entgehen, dass er mit seiner Gelehrsam- keit blos prunkt, da er doch eben dadurch beweist, dass er die geschmähten Schriftsteller recht gut kennt und studirt hat^). Ernster klingt seine Rede nur da, wo er über das Elend der Zeiten und den grossen Verfall der literarischen Studien sich be- klagt"^).

Ganz besonders eifern aber gegen die Profanstudieu die Ver- fasser der Heiligeuleben, die es natürlich für besser halten, das Leben eines Heiligen, als die Schicksale des Aeneas zu lesen ^). Nur wenige unter ihnen sind Gelehrte, die Mehrzal roh und unwissend. Aus dem niedrigsten Mönchthume hervorgegangenen, verachten sie alles Ir-

1) „Non enim oportet fallaces commemorare fabulas, neque philo- sophorum inimicam Deo sapientiam sequi, ne in iudicium aeternae mortis Domino discernente cadamüs . . . . Non ego Saturni fugam, non lunouis iram, non lovis stupra, non Neptuui iniuriam, non Aeoli sceptra, non Aeneadum bella, naufragia vel regna commemoro: tacco Cupidinis emissi- onem; non exitia saeva Didonis, non Plutonis triste vestibulum, non Proserpinae stuprosum raptum, non Cerberi triforme caput: non revol- vam Anchisae colloquia, non Ithaci iugenia, non Sinonis fallacias: non ego Laocoontis cousilia, non Amphitrionidis robora, non lani conflictus, fugas, vel obitum exitialem proferam etc." Gregor. Turon. (6. Jahrh.) Lib. miracul. 714.

2) „Vae diebus nostris quia periit studium litterarum a nobis! i raet.

Hist. eccl. Frano.

3) „En meliora meo nan-antur Carmine gesta,

Non "ladios nec tela refert pharetramque Camillae." Milo Vit. S Amandi, Act. S. Febr. I, 881. f. Vgl. Petrus, Vit. S. Theobaldi, Act. S. IV, 165; Anon. Vit. S. RemacU, Act. S. II, 469 etc. Vgl. Zappert, a.a.O., 62. Das gewöhnlichste bei den christlichen Dich- tern ist, dem Ruhme eines Homer und Virgil ihren bescheidenen aber christlichen Stoff entgegenzuhalten. So im Prologe des luvencus zu seiner Versification der evangelischen Geschichte. Beda schreibt: „Bella Maro resonet, nos pacis dona canamus, Munera nos Christi, bella Maro resonet." (Hist. Angl. p. 295). Dasselbe thuen auch andere Prosaschriftsteller und Historiker'; z. B. Wipo: im Prolog zur Vita Chuouradi imp.: „Satis in- consnltum'est, Superbum Tarquinium, Tullum et Ancum, patrem Aeneam, ferocem Rutulum et huiusmodi quoslibet et scribere et legere: nostros autem Carolos atque tres Ottones, imperatorem Heinricum secundum, Chnonradnm imperatorem patrem gloriosissimi regis Heinrici tercii, et euudeni Heinricum regem in Christo triumphantem onuiiuo negligere."

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 83

dische , auch wenn es die Pflege des Geistes betrifift , und rühmen sich noch dazu in cyxiischer Weise ihrer Unwissenheit^). „Der Leser", so schreibt einer von diesen Autoren, „möge sich nicht an tlie grosse Menge von Barbarismen stossen, die er in diesem Büchlein findet. Vielmehr neige er sein gläubiges Ohr zu der Wahrheit, die sich in der gemeinen Rede zeigt; er möge einfach lesen, was hier gesckrieben steht und es machen wie jemand, der in einem Misthaufen nach einem Edelsteine sucht". Auch andere gestehen nur ihre Soloecismen und Barbarismen nicht zu, son- dern rühmen sich derselben noch. Gelegentlich nahmen wol auch be- deutendere Leute zu dieser gemeinen Rhetorik ihre Zuflucht^) und

1) „Curiosum ceterum lectorem admoneo ut barbarismorum foedam congeriem in hoc opusculo flocciiDendat, et vevitati in vulgari eloquio fidai aurem apponat, et quod hie inveniet simpliciter perlegat et acsi in sterquilinio margaritam exquirat." Wqlfhard (9. Jahrh.) Vita S. Wal- purgis, Acta SS. IV, 268: „Sed et si quis movetur rusticitate sermonis soloecismorumque inconcinnitatibus, quas minime vitare studui, audiat quia regnum Dei non est in sermone sed in virtute, neque apiid ho- mines bonos interesse utrum vina vase aureo an ligneo propinentur." Miracul. S. Agili, Act. SS. II, 312; vgl Anon. Vita L. Geraldi, A. SS. IX, 851. Manche, die sich, was die Grammatik anlangt, nicht ganz sicher fühlen, bekämpfen in sehr revolutionärer Weise die ,, tyrannischen Regeln Donats.'' Vgl. Indiculus luminosus (no. 20) von Alvarus Cordubensis (9. Jahrb.): „Agant eructuosas quaestiones philosophi et Donatistae genis impuri, latratu canum, grunuitu porcorum, fauce rasa et dentibus stridentes, saliva spumosi grammatici ructent. Nos vero evangelici (1) servi Christi discipuli rusticanorum sequipedi u. s. w." Diese Worte stinimen wunderbar zu einer schauderhaften Biographie Donats, die einen gleichen Ton anschlägt, in einem Cod. Paris; ed. Hagen, Anecdota Helvetica p. 259. Und doch zeigt sich Alvarus in seinen Worten als fleissigen Leser Virgils. Vgl. Almador de los Rios a. a. 0. II, 102 fi".

2) Einer von diesen ist auch Gregorius Magnus: „non metacismi collisionem fugio, non barbarismi confusionem devito, situs motusque praepositionum, casusque servare contemno: quia indignum vehementer existimo ut verba coelestis oracuH restringam sub regulis Donati.'' Praef. Hiob. T. I, p. 6. Durch diese affektirte Kenntniss der grammatischen Technik will der grosse Mann wol zeigen, dass sein Xichtwolleu durch- aus kein Nichtkönnen ist. Seine Schriften beweisen wenigstens seine ünkenntniss keineswegs. Der Widerwille Gregors des Grossen gegen die Profanstudien ist von vielen übertrieben worden, die, nicht von mittel- alterlichen Specialstudien ausgehend, den Werth gewisser Ausdrücke nicht erwogen haben. Gregor stellt sich dem klassischen Alterthum gegen- über wie hundert andere ausgezeichnete Theologen des Mittelalters. Durch falsche Interpretation einer Stelle des Johann von Salisbury (Polycr. II, 26) kam man zur Annahme, dass Gregor die Palatinische

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entgegneten, wenn mau sich über ihre oder des Clerus Unwissen- heit beschwerte, mit dem schönklingenden Gemeinplatz: „dass das Reich Gottes nicht in Worten, sondern in der Tugend besteht", und dass „das Evangelium zu rohen un«l ungebildeten Fischern und nicht zu gewandten Redekiinstleru kam*)". Als sich die Bischöfe Galliens zu Eheims vereinigten und über die Unwissen- heit der römischen Geistlichkeit beklagten, antwortete der aposto- lische Legat Leo, Abt von S. Bonifacius, in seinem Briefe an die Könige Hugo imd Robert: „dass die Vicare und Schüler des h. Petrus nicht Plato, Virgil, Terenz und andere von dem „Philo- sophenvieh" zu Lehrern haben wollen, die in ihrem Stolze wie die Vögel in der Luft herumfliegen, wie Fische in den Meeres- grimd hinabtauchen oder wie Schafe auf der Erde wandeln. So lange die Welt steht, waren die auserwählteu. Gottes nicht Redner und Philosophen , sondern Leute die nichts von der Wissenschaft wussten!"^) Dass man solche Phrasen nicht für baare Münze neh- men kann, liegt auf der Hand. Denn sowol Kläger wie Beklagte zeigten auf der anderen Seite einen Prunk und Luxus, der nichts weniger als apostolisch war. Es Hess sich nicht leugnen, dass

Bibliothek habe verbrennen lassen, während jene Stelle nur von astro- logischen, theurgischen u. ähnlichen Büchern .spricht, die auch Kaisefr (z. B. Valens) hatten verbrennen la^^sen. Als ob auch nach der Gotcn- und Vandalenherrschaft in Rom für Gregor noch Bibliotheken zum Ver- brennen übrig geblieben wären! Vgl. hierüber das gerechte Urtheil von Gregorovius, Gesch. d. St. R. II, p. 90 ff. Man begreift nicht, wie Teuf fei (Gesch. d. r. Lit. p. 1026) noch an jenem Irrthum fest halten kann. Die These des Herrn Leblanc, ütrum Gregorius Magnus litteras humaniores et ingenuas artes odio persecutus sit, Paris 1852, ist eine Apologie, zu der ihn blos sein katholischer Standpunkt gebracht hat.

1) Diese Gemeinplätze hat der in Wahrheit sehr bescheidene Ver- fasser der Miracula S. Bavonis (10. .Jahrb.) zusanimengefasst: „Sus- cipiant alii copiosam variae excusationis supellectilem, videlicet quod veritas nativa vivacitate contenta, non quaerat altrinsecam colorum ad- hibitionem; et quod christianae fidei rudimenta, non ab oratoribus sed a piscatoribus et idiotis sint promulgata; et quod regnum Dei magis virtutis quam sermonis constet efficacia; aUaque perplura in id orationis cadeutia: mihi facilis apologiae patet occasio, scilicet cui nullius eru- ditionis favet exercitatio." Act. SS. II, 389. Vgl. Sul pie. Sev. Op. I, 2. Felix, Vit. S. Guthlaci, Act. SS. III, 59. Anon. Vit. S. Conwoionis, A. SS. VI, 212. Anon. Vita S. Martini, A. SS. I, 557. Warmannus, Vit. S. Priminü, A. SS. IV, 128. Othlo Vit. S. Bonifatii bei Pertz, Mon. Germ. II, .358 etc. Zapp er t, a. a. 0. 62.

2) Leonis Epist. bei Pertz, Mon. Germ. 5, 687. Vgl. Gregorovius a. a. O. Ili, 527.

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 85

ilie vor den Rheimser Bischöfen berührten Zustände beklagens- werth waren, aber die geistliche Rhetorik wusste sie doch zu rechtfertigen.

Man bemerkt auch, wie sich bisweilen in jenen Declama- tionen gegen die Profanstudien etwas Eifersucht gegen die ver- räth, welche unter den Ordensgenossen des Schriftstellers als sehr tüchtig in jenen Studien galten. Allein abgesehen hier- von, darf man nicht vergessen, dass die kirchlichen Schriftsteller, selbst die aufgeklärtesten, unter dem Einflüsse eines starken und tiefen religiösen Gefühls schrieben, das sich oft zum glühendsten Enthusiasmus steigerte. Indem ihr Geist immer auf das höchste Gut und das einige Leben gerichtet war, fielen sie wie alle Gemüther, die ganz in der Religion aufgehen, auch dem Scrupel anheim, in Folge dessen sie sich dann eben widersprachen. Augustin, der eine Zeit lang sich das unschuldige Vergnügen gönnte, täglich ein halbes Buch Aeneis zu lesen um sich dabei auszuruhen, klagte, als er 43 Jahr alt geworden, über diese Zeit, in der ihn der Tod der Dido zu Thränen rühren konnte und wo er nicht bemerkte, dass er selbst dabei aufhörte in Christo zu leben. Diese glühenden Worte, die seiner Seele in einem Moment der Sehnsucht nach Gott entströmten, hinderten ihn aber später nicht, den Dichter der Aeneis hoch zu schätzen, und in seinem im 7 2. Lebensjahre beendeten „de civitate dei" macht er oft von den Versen desselben Gebrauch. Als er 74 Jahre alt war, gereute es ihn dann wieder, sich des Wortes „fortuna" so oft bedient und, wenngleich nicht im Ernst, die Musen erwähnt zu haben, als wären sie Göt- tinnen. Alcuin, der nach Aussage seines anonymen Biographen die „Bücher der alten Philosophen und die Lügen Virgil 's" ge- lesen hatte und im eilften Jahre den Vergil noch lieber, als die Psalmen mochte ^) , wollte davon im Alter nichts mehr wissen und litt nicht, dass die Schüler jenen Dichter lasen: „Die göttlichen Dichter", sprach er zu ihnen, „können Euch genügen, und es ist nicht nöthig, dass Ihr Euch mit der üppigen Beredtsamkeit. Vir- gils befleckt". Trotzdem gelang es ihm nicht, die anderen ebenso bedenklich zu machen, und den Sigulf musste er strenge tadeln, weil dieser heimlich seinen Schülern den Virgil erklärte^).

1) „Et plorare Didonem mortuam quia se occidit ob amorem, cum iuterea me ipsum in bis a te morientem, Deus vita mea, siccis oculis ferrem miserrimus." Augustin. Confess. I, op. I, 53.

2) Vit. beati Alcuini, A. SS. IV, 147; vgl. Monnier, Alcuin et Charlemague p. 9 f.

86 ^irgil in der Literatur bis auf Dante.

Manchem^) erscheinen diese Bemerkungen des Biographen unglaub- lich, weil sich in den Briefen Alcuins öfter Virgil citirt findet. Ich glaube jedoch, dass nach dem oben gesagten einleuchtet, dass diese Thatsache nicht ihr Gegentheil ausschliesst-J. Ganz das- selbe fand auch bei Theodulph statt, der sich in seinen Versen entschuldigt, Virgil, Ovid, Pompeius und Donat gelesen zu haben, um anderer zu geschweigen^). Auch war Alcuin nicht der einzige, der es für nöthig fand, den übergrossen Eifer für diese Studien zu dämpfen*).

Manchem raubten derartige Zweifel gar den Schlaf. Herbert, Bischof von Xorwich, erzählt, dass ihm eines Xachts Christus im Traume erschien und also zu ihm sprach: „Ich wusste, dass du von Jugend an bis zu deinem grauen Alter die Dienste eines Priesters erfüllt hast. Warum aber gibst du dich ab mit den Lügen Ovids und den Erfindungen Virgils? Es geziemt bich nicht, dass derselbe Mund, der Christum prediget, auch den Ovid recitirt. Da gedachte ich der Schläge des Priesters Hieron jmus und sprach : ich habe gefehlt, ich gestehe es, und nicht allein, weil ich die heidnischen Schriftsteller gelesen, sondern weil ich sie auch nach- geahmt habe""j. Der Verfasser des Lebens des heiligen Odo er- zählt, dass dieser einst, da er es gewagt hatte, Virgil zu lesen, im Traume ein Gefäss sah, das von aussen schön war; aber innen war es voller Schlangen, die ihn alsbald umzingelten; als er er-

1) Wright, Biographia britannica literaria; Anglo-Saxon period, p. 42. Vgl. über Alcuins Neigung für und seinen Hass gegen die Olassiker Lorenz, Alcuin's Leben (Halle, 1829) p. 267 u 277.

2) Die Berner Bibliothek besitzt eine Virgilhds., die von der Hand Alcuins herrühren oder wenigstens Copie nach seinem Exemplare sein soll. Vgl. Müller, Analecta Bernensia, III, p. 23 25.

3) „Et modo Pompeium, modo te, Donate, legebani. Et modo Vergilium. te modo, Naso loquax;

In quorum dictis quamquam sint frivola multa, Plurima sub falso tegmine vera latent."

Theodidph, Carm. IV, 1.

4) Merkwürdig ist in der Beziehung die ironische Ermahnung eines Anonymus des 11. Jahrh. (bei Riese, Anth. lat. no. 765):

„Tityre tu fido recubans sub tegmine Christi, Divinos apices sacro modularis in ore. Non falsas fabulas studio meditaris inani. Ulis uam capitur felicis gloria vitae, Istis succedunt poenae sine fine perennes. Unde cave frater vanis te subdere curis etc."

5) Herbert. De Losinga. Epist. p. 53—56, 63, 93.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 87

wachte, erkannte er, dass das Gefass Virgil, und die Schlangen, die sich darin bargen , die Weisheiten der alten Dichter seien ^). Ein Anonymus des 11. Jahrhunderts berichtet von einem Schüler, der, als er einmal im Fieber phantasirte, zu schreien anfing, weil er eine Legion von Teufeln erblickte, welche die Gestalten des Aeneas, Turnus und anderer Personen aus der Aeneis annahmen ^). Während nun einige von solchen Scrupeln geplagt waren, trieben wieder andere die Bewunderung Virgils bis zum Fanatis- mus. Ratbert gab seine Stimme im Capitel mit Versen Virgils ab. Der Mönch Probus begeisterte sich so für Virgil und Cicero, dass er, wie seine Brüder sjiotteten, sie unter die Heiligen ver- setzen wollte^). Rigbod, der Bischof von Trèves, soll die Aeneis besser als das Evangelium gekannt haben*). Dieser Fanatismus zeigt sich auch sehr charakteristisch in der Legende. Ein Schrift- steller des 11. Jahrhunderts erzählt nämlich folgendes: „Zu Ra- venna pflegte Wilgard die Grammatik mit allzu grossem Eifer, wie die Italiener immer zu tliuen pflegen. Wegen seines Wissens hatte er angefangen sich zu brüsten, als in einer Nacht die Dä- monen, in der Gestalt des Dichters Virgilius, Horaz und Juvenal ihm erschienen, ihm mit lügnerischen Worten für das Studium dankten, das er auf sie verwendete und ihm versprachen, ihn an ihrem Ruhme dereinst Theil nehmen zu lassen. Also verführt durch solche Künste der Teufel, fing er an, Dinge zu lehren, die dem heiligen Glauben zuwider waren, und zu behaupten, dass man den Worten der Dichter in allen Stücken glauben müsse. End-

1) Johannes, Vita S. Odonis, A. SS. saec. V, p. 154. Vgl. Brucker, Hist. Philos. III, p. 651; Du Méril, Mélanges archéolog, p. 462. Eine ähn- liche Erzählung vom h. Hugo, dem Abte von Cluny bei Vincenz von Beauvais (Spec. hist. 26, 4): „Alio tempore cum dormiret idem pater, vidit per aomnium sub capite suo cubare serpentum multitudinem et ferarum, subitoque capitale excutiens et exquirens supposita, invenit librum Maronis forte ibi collocatum; mox, abiecto codice singulari, in pace requievit, cognovitque modum materiae libri visioni congruere, quem obscoenitatibus et gentilium ritibus plenum indignum erat cubiculo sancti substerni." Vgl. Liebrecht in FfeiflFer's Germania X, 413, der aber fälschlich vermuthet, dass es sich hier um das Buch von der Negro- mantik handele, welches das Volk dem Dichter zuschrieb. Eine ähnliche Legende bei Jacopo da Vitry; vgl. Lecoy de la Marche, La chairc fran9. au moyen age p. 439 und Passavanti, Specchio di vera penitenza, dist. prima, cap. 20.

2) Vita S. Popponis. A. SS. Vili, 594. 4) VgL Lupi Ferrar. Epist. 20.

4) V. Ozanam, la civil, ehr. chez les Francs, 485, 501, 546.

8S Virgil in der Literatur bis auf Dante.

lieh ward er der Ketzerei angeklagt und vom Erzbischof Petrus verui-theilt". „In Italien", fügt der Geschichtsschreiber hinzu, „fand sich's, dass gar viele Geister von denselben Meinungen angesteckt waren" ^). Eine andere Legende berichtet, wie einst zwei Schüler sich aufmachten, das Grab Ovids zu besuchen, um dort Lehren zu empfangen. Der eine fi-agte, welches der beste Vers des Dich- ters sei, und eine Stimme aus dem Grabe antwortete:

„Virtus est licitis abstinuisse bonis". Der andere wollte wissen, welches der schlechteste Vers sei, und da rief die Stimme:

„Omne juvans statuit Jupiter esse bonum". Da hielten es die beiden Schüler für gut, für die verlorne Seele zu beten und sagten Pater Noster und Ave Maria her: aber die Stimme, welche von der Kraft solcher Gebete nichts wissen wollte, schrie ungeduldig:

„Nolo Pater Noster: carpe, viator, iter." Derartige Scrupel und Bedenken dauerten lange. Nicht einmal Boccaccio hielt es für überflüssig, sie zu bekämpfen^), imd jeder- mann weiss, dass sie sich sogar heut zu Tage wieder geräusch- voll geltend gemacht haben. Aber heute wie im Mittelalter behauptet die antike Tradition das Feld"'). Im 12. Jahrhundert fand eine Partei unter Anführung eines Individuums, das auch unabhängig von der Religion Historiker und Dichter für verderblich erklärte und die Lehrer der Rhetorik, Gi-ammatik und Dialektik verachtete, ihren heftigsten Widersacher in dem gelehrten und aufgeklärten Johann von Salisbury "). Jacob von Vitry und Arnold von Humblières berührten gleichfalls die Streitfrage und trugen kein Bedenken, das Studium der Alten für nützlich zu erklären, wenngleich sie dabei zur Vorsicht rietheu ^). Den besten Beweis für den schliess-

1) Glaber, Histor. bei Bouquet, Reo. des bist. X, 23; vgl. Oza- nam, docum. inéd. 10. Giesebrecht, de litterarum studila ap. Italos primis medii aevi saeculis p. 12 f.

2) Bei Wright, A selection of latin stories from MSS. of the XIII and XIV centuries, p. 43 f.

3) Comm. zu Dante, Inf. I, 72.

4) Heute hat dieselbe sogar unter den Jesuiten Vertheidiger gefunden auf einem Gebiete das mehr als die Poesie dem Christenthum nahe steht. Vgl. das Werk des Pater Kleutgen „die Philosophie der Vorzeit ver- theidigt." Münster. 1860—63.

.5) Metalogicus I, 3 ff. Vgl. Bist. lit. de la France XIV, 13. S chaar- schmidt, Johannes Saresberiensis p. 212 ft.

6) Vgl. Lecoy de la Marche „La chaire fran9aise au moyen age" (Paris 1868) p. 438 f.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 89

liehen Sieg des Classicismns in den Zeiten des Wiedererwachens der Studien liefert aber der nur aus antiken Profanschriftstellern bestehende Katalog der Privatbibliothek des Papstes Nicolaus V. ^). Die Declamationen einiger intoleranter Leute waren also von wenig Gewicht gegenüber der praktischen Nothwendigkeit , welche auch für die kirchlichen Studien die Vorbereitung durch Profanstudien verlangte. Die Mönche fuhren fort, Manuscripte zu copiren, und die grammatischen Schulen blieben bestehen , wenn auch ihre Zahl wegen Lehrermangels oder anderer Gründe abnahm. In den Kata- logen einiger Klosterbibliotheken figuiiren Kirchenschriftsteller und Profanautoren nebeneinander^), letztere oft imter dem Titel: „libri scholares". Vii'gil, der ältere und jüngere Donat, Priscian und eine Menge anderer grammatischer Werke spielen unter denselben die Hauptrolle^). Die grosse Anzahl von Virgil- handschriften, besonders die in aller Eile hingeworfenen, die für die Textkritik so gut wie nichts bieten, beweist, wie sehr man den Dichter in den Schulen gebrauchte. Einige Virgilcodices tragen noch heute die Widmung an irgend einen Heiligen, z. B. den h. Martinus oder h. Stephanus, meistens den Schutzpatron der Kirche oder des Klosters, welchem das Manuscript geschenkt war*).

1) Herausgegeben von Amati, im Archivio storico III ser. T. III, 1 (1866) p. 207 f.

2) Am Ende eines Handschriftencataloges des Klosters Pomposa (im 11. Jahrb. verfasst) bemerkt der Verfasser, in Voraussicht dass der eine oder andere am Vorhandensein heidnischer Manuscripte in jener Biblio- thek Anstoss nehmen könnte, . . . . Sed .... non ignoramus futurum fore quosdam supertitiosos et malevolos , qui ingerant procaci cura indagare cur idem venerabilis abbas Hieronymus voluit gentilium Codices fabulas- que erroris, exactosque tyrannos, divinae inserere ventati, paginaeque librorum sanctorum. Quibus respondemus etc." Vgl. Blume, Iter Itali- cum 11, p. 117.

3) Vgl. die Beispiele bei Zappert a. a. 0. Note 42, denen sich noch viele hinzufügen Hessen.

4) In einer Vaticanhds. des Virgil (No. 1570) aus dem 10. oder 11. Jahrh. finden sich nach der Erklärung des Mönches, dass er den Codex abgeschrieben hat, „um sich zu beschäftigen und etwas nützliches zu leisten", die Worte: ,,Quem (codicem Vergili) ego devoveo Domino et Sancto Petro perpetualiter permansurum per multa curricula temporum, propter exercitium degentium puerorum laudemque Domini et Aposto- lorum principis Petri." Ueber einen andern , dem h. Stephanus gewid- meten Codex s. Pez, Thesaur. I, Dissert. isag. XXV. In einem Codex der Berner Bibliothek heisst es: „Hunc Vergili codicem obtuUt Berno, gregis B. Martini levita, devota mente Domino ut eidem Beato Martino perpetuiter habendum; ea quidem ratione ut perlegat ipsum Albertus

90 Vü'gil in der Literatur bis auf Dante.

Oft waren solche Handschriften auch durch ihren Einband, ihre Miniaturen oder als kalligraphische Kunstwerke sehr kostbar und wurden dann mit den Bibeln, Messbüchern, Breviarien, Leuchtern, Kelchen und Ostensorien merkwürdiger Weise in dem Inventar der Kostbarkeiten von Klöstern, Abteien und Kirchen aufgeführt.

Siebentes Kapitel.

Der Inhalt des vorangehenden Kapitels scheint vielleicht wegen seines allgemeinen Charakters von dem besonderen Zwecke unserer Aufgabe mehr als nöthig abgelenkt zu haben. Und doch steht mit jenem Inhalte der Name Virgils im engsten Zusammenhange. Aus der Art, wie man ihn zum Ausdruck des Hasses und der Verachtung der Liebe und Achtung für die alten heidnischen Schriftsteller gebrauchte, spi-iugt in die Augen, dass man ihn als Haupt- repräsentanten der antiken Tradition ansah; und wir begi'eifen, unter welchen Bedingungen sich sein Ruhm jene lange Epoche des Mittelalters hindurch erhalten konnte. Eben dies aber müssen wir jetzt im einzelneu und mehr aus der Nähe betrachten.

Wenn die Ersten der Kirche und des Staates etwas für das Studium der sieben Künste thuen wollten, so geschah dies, abge- sehen von dem Beispiel, welches die grossen Kirchenväter gegeben hatten, zunächst zum Zwecke der heiligen Studien. So handelten Cassiodor, Beda, Alcuin imd andere. Nicht zu vergessen ist auch in erster Linie das von Karl dem Grossen i. J. 787 an die Aebte und Bischöfe gerichtete Circular. Der Monarch sagt darin, dass er in den ihm aus mehreren Klöstern zugesandten officieUen Schrift- stücken eine grosse Rohheit des Ausdrucks wahrgenommen habe, was wol sicher daher rühre, dass man das Studium der Literatur vernachlässige. „Deshalb", bemerkt er weiter, „befüi-chten wir, dass, wenn man nicht mehr zu schreiben versteht, man auch nicht mehr verstehen wird, die heiligen Bücher auszulegen. Wie schädlich schon die Wortfehler sind, so wissen wir doch, dass die Denkfehler noch viel schlimmer sind. Wir ermahnen Euch daher, das Studium der Literatur nicht nur nicht zu vernachlässigen, sondern darin auch eifiige Fortschritte zu machen, damit Ihr sicher und leicht in die Mysterien der heiligen Schriften eindringt. Da sich in den-

consobrinus ipsius et diebus vitae suae sub praetextu B. Martini babeat, et post suum obitum iterum reddat S. Martine." De Sinoer, Catal. cod. MSS. bibl. bern. I, 627.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 91

selben auch Figuren, Tropen und anderer Redeschmuck finden, so ist es klar, dass jeder um so leichter deren geistige Bedeutung erfasst, je mehr er dazu durch den Sprachunterricht vorbereitet ist." ^) Das war gewiss das sicherste Bollwerk, welches die klas- sische Literatur vor ihrem gänzlichen Verfall bewahrte. Indem Karl der Grosse bestimmte, dass die heiligen Schriften die Grund- lage der Erziehung bilden sollten,^) sorgte er zugleich überall für Sprachlehrer und belebte so, wie allbekannt, auch den profanen Theil des Volksunterrichtes ^). Aber die Kirchenschriftsteller betrachteten die alten Autoreu nicht blos als Meister in Tropen und Figuren; wenn sie in ihren Werken eine Stelle fanden, die ihnen zum Be- weise ihrer Glaubenssätze dienen konnte, so bedienten sie sich der- selben gern, manchmal sogar, indem sie dazu erst den Sinn ver- drehten oder verfälschten. Da nun Virgil als ein Mann von un- gemeiner Weisheit, als erster unter den alten Dichtern galt und den Begriffen von Zucht und Sitte am wenigsten entgegenstand, so übte er auch auf viele christliche Theologen einen grossen Ein- fluss aus. Man verkehrte lieber mit ihm, als mit den andern heidnischen Dichtern und verschmähte es nicht, ihn zu citiren, ent- weder zum Beweise gewisser Glaubenssätze des Christenthums, oder wenigstens um zu zeigen, dass er unter allen Heiden sich am wenigsten vom Christenthum entfernte. Die zahlreichen Virgil- centonen christlichen Inhaltes zeigen nicht nur, wie der Dichter bei den literarisch gebildeten Christen noch gerade so beliebt war, als bei den Heiden, sondern geben auch den lebhaften Wunsch zu erkennen, einen Stoff, mit dem sich der Geist so sehr be- schäftigte, aiich den Empfindungen des Herzens zu assimiliren. Die bewunderten Klänge des Dichters wollte man den Ideen des neuen Glaubens anpassen, sie dadurch moralisch verbessern und reinigen von dem einzigen Fehler, den der Christ in ihnen wahrnahm, dem

1) Encycl. de literis colendis bei Sirmond. Cono. Gali. II, p. 127.

2) Balut, I, 327. (Capitular. v. J. 789).

3) Vgl. J. Launoii, De scholis celebrioribus seu a Carolo Magno seu post eundem Carolum per occideutem instauratis über, in dem Iter-Germanicum von Mabillon, Hamburg 1717; und Baehr, De literarum studiis a Carolo Magno revocatis ac schola Palatina instaurata, Heidelb. 1856. Bekannt ist, dass Virgil in dieser schola Palatina einen Ehrenplatz behauptete, und sich manche Akademiker nach ihm und seineu Werken nannten; so gab es einen Virgil, einen Dametas, einen Menalias u. s. w.

Virgil in der Literatur is auf Dante.

Geiste des Heidenthunis ^). Uuter dei übrigen heidnischen Autoren aalt Yii-gil ftir den, auf welchen mar die Worte des Evangeliiims anwenden konnte: „sie hörten, das^ Jesus vorüberging" (Math. 20 30\ Es erregte ]SIitleid, wenn lan bedachte, dass zur Zeit der faUeheu und lügenhaften Götteiüeser grosse Mann geboren waa-d, den seine Werke und das üb^ sein Leben überlieferte, als eine so schöne und lautere Seele d stellten, die vor allen fähig war, Christi Wort anzunehmen. Er ist her der erste unter denen, die Dante, in welchem doch das religi' - Gefühl des Mittelalters am treuesten und tiefsten zum Ausdruck lam, nicht wagte, unter die Verdammten zu setzen, sondern au in Ort brachte, der für die ohne Schuld dem Christenthume fern 'henden bestimmt war. Das Gefühl des Mitleidens sprechen aiii esten jene zu Mantua noch im 15. Jahrhundert in der St. Pani lesse gesimgenen Verse aus, in denen ei-zählt wird, vde der Ap tei Paulus nach Neapel ge- gangen sei um Virgil' s Grab zu be^i. en und dort heisse Thränen vergossen habe, indem er ausrief: Tas wäre aus_dir geworden, grösster Dichter, wenn ich dich uocl: m Leben Andererseits war es von den ersten jologeten, einen auch im Heidenthuni vorhan.i en sie nähernden Geist nachzu^

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92 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Geiste des Heidenthums ^). Uuter den übrigen heidnischen Autoreu galt Virgil für den, auf welchen man die Worte des Evangeliums anwenden konnte: ,,sie hörten, dass Jesus vorüberging" (Math. 20j 30). Es erregte Mitleid, wenn man bedachte, dass zur Zeit der falschen und lügenhaften Götter dieser grosse Mann geboren ward, den seine Werke und das über sein Leben überlieferte, als eine so schöne und lautere Seele darstellten, die vor allen fähig war, Christi Wort anzunehmen. Er ist daher der erste unter denen, die Dante, in welchem doch das religiöse Gefühl des Mittelalters am treuesten und tiefsten zum Ausdruck kam, nicht wagte, unter die Verdammten zu setzen, sondern an den Ort brachte, der für die ohne Schuld dem Christenthume fernstehenden bestimmt war. Das Gefühl des Mitleidens sprechen am besten jene zu Mantua noch im 15. Jahrhixndert in der St. Paulsmesse gesungenen Verse aus, in denen ex'zählt wird, wie der Apostel Paulus nach Neapel ge- gangen sei um Virgil's Grab zu besuchen und dort heisse Thränen vergossen habe, indem er aiisrief: „Was wäre aus dir geworden, grösster Dichter, wenn ich dich noch am Leben gefunden hätte !"^) Andererseits war es von den ersten Apologeten an üblich gewesen, einen auch im Heidenthum vorhandenen sich dem Christenthume nähernden Geist nachzuweisen. So scheint man z. B. zur Zeit des Arnobius von heidnischer Seite an den Senat eine Eingabe ge- macht zu haben, mit der Bitte, gewisse Bücher zu vernichten, die, wie Cicero's de natura deorum, nicht gerade die stärkste Seite des Heidenthums zeigten und den Christen Gelgenheit zu Angriffen gaben ^). Aus solchem Ideengang entwickelten sich Legenden, wie die von der Bekehrung des Seneca, Plinius u. a., welche auch von aufgeklärten Männern und lange Zeit hindurch geglaubt wurden. Ich selbst habe noch in einer Schule in Rom die Worte

1) „Vergilium cecinisse loquar pia munera Christi." Proba, Praef. ad Cent.; „dignare Maronem, Mutatum in melius divino agnoscere vcrsu" sagt ein Grammatiker bei seiner Widmung eines Virgilcentons von christlichem Inhalt an den Kaiser Honorius. Vgl. Riese, Anth. lat. 735.

2) „Ad Maronis mausoleum, Ductus fudit super eum, Piae rorem la- crymae; Quem te, inquit, reddidissem. Si te vivum invenissem, Poetarum maxime!" Bettinelli, Risorg. d'Ital. II, 18. Daniel, Thes. Hymnolog. V, 266. Mit Unrecht hat man behauptet, dass jene Worte noch heute in Mantua während der St. Paulsmesse gesungen würden.

3) Arnob. Adv. gentes 111, 7. Vgl. Bernhardy, Grundr. d. röm. Litt. p. 92.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 93

wiederholen hören, die Cicero sterbend ausgerufen haben soll: „causa causarum misererò mei!"

Augustin, Hierouymus, Lactanz, Miuucius Felix und andere Kirchenväter und Schriftsteller citiren oft Vii-gilverse, in denen sie philosophische und theologische Grundsätze erkennen, die mit christlichen eine gewisse Aehnlichkeit haben, wie die von der Einheit, Spiritualität und Allmacht Gottes ^ ). Doch brauchen wir uns hier- bei nicht aufzuhalten, da dasselbe auch bei anderen antiken Schriftstellern wiederkehrt und also für Virgil nicht besonders characteristisch ist^). Bemerkenswerther ist, dass der Dichter sich durch seine 4. Ecloge unter den Christen den Rang eines Pro- pheten erwarb, der Christi Erscheinen voraussagte^). Die Vor- ahnung einer bevorstehenden Erneuerung der Welt in einem Zeit- alter des Glückes, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, die mit dieser Erwartung zusammenhängende Geburt eines Kindes, das alte Ansehen . der Sibylle , auf welche die ganze Weissagung zurückgeht, das alles war in der That gar zu verlockend für die Christen, als dass sie dabei nicht hätten an die Geburt Christi denken sollen, sowie an die Erneuerung der Welt, die er in seiner reinen imd milden Lehre der Menschheit verheissen hatte. Es würde zu weit führen, hier die Ursachen und Schicksale der Mes- sianischen Weissagung bei den Juden und in der griechisch-römi- schen Welt zu verfolgen und an die sonderbaren und langen Arbeiten der Sibyllisten sowol in jüdischem wie christlichem Sinne zu erinnern. Genug, dass zu dieser complicirten und nur schwer ohne Yorurtheile und störende Eindrücke zu behandelnden Geschichte auch die schon bei Schriftstellern des 4. Jahrhimderts häufige christKche Erklärung der vierten Ecloge gehört. Die ausführlichste Auslegung der Art findet sich in einer vor

1) Vgl. Piper, Vergilius als Theolog und Prophet des Heidenthums in der Kirche, im Evangelischen Kalender v. J. 1862 p. 17 55.

2) Es fehlt nicht an Sammlungen derartiger auf das Christenthum bezogenen Stellen z. B. in einem Ms. der Wiener Bibliothek: „Veterum quorundam scriptorum graecorum ethnicorum praedictiones et testimonia de Christo et Christiana religione, nempe Aristotelis, Sibyllae, Piatonis, Thucydidis et Sophoclis." Vgl. Oehler, im Philologus XIII, 752. XV, 328.

3) Vgl. Verworst Essai sur la 4. Eclogue de Virgile. Paris 1844. Freymüller, Die Messianische Weissagung in Virgils 4. Ecloge. Metten 1852. Beide Schriften sind mir nicht zu Gesicht gekommen. Piper a. a. 0. p. 55 80. Creuzenach, Die Aeneis, die vierte Ecloge und die Pharsalia im Mittelalter. Frkf. a. M. 1864. p. 10—14.

94 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Ecclesiastikern gehaltenen Rede des Kaisers Consantin^). Hält mau sich an Eusebius, der uns dieselbe niittheilt, so wäre sie erst vom Kaiser lateinisch gehalten und dann von den Auslegern in's Griechische übersetzt worden^). Jedenfalls lässt die Ueber- setzung der Ecloge in griechische Verse ^), die sich in jener Rede findet, leider die Thätigkeit der alten Sibyllisten erkennen. Sie entfernt sich mehrmals willkürlich vom Originale und verkehrt den Sinn in der Absicht, ihn der in der Rede behandelten christ- lichen Erklärung anzupassen"*). Der Kaiser findet also bei seiner speciellen Untersuchung des Gedichtes darin die Weissagung auf das Erscheinen Christi aus mehrfachen Gründen ausgedrückt: Die zurükkehrende Jungfrau ist Maria; die neue vom Himmel gesandte Nachkommenschaft Jesus; die Schlange, die nicht mehr sein wird, der Versucher; das Amomum, welches überall wächst, ist die zahl- reiche christliche Gemeinde, gereinigt von der Sünde {ä^cofiog = untadelhaft) u. s. w. Er behauptet, dass Virgil mit klarem Be- wusstsein von Christus geweissagt, aber dunkel gesprochen und auch heidnische Götter in seinen Gedankenkreis mit hineingezogen habe, um nicht dem Heidenthum zu sehr vor den Kojjf zu stossen und sich den Zorn des Fürsten zuzuziehen. Die Kirchenschriftsteller dagegen, welche die Ecloge ihi Interesse ihres Glaubens auslegten, glaubten nicht, dass Virgil den Sinn der Sibyllinischen Weissagung verstanden habe: der Dichter habe dieselbe nur auf die Geburt eines Sohnes des Polio oder aus einem anderen vornehmen Hause anwenden wollen. Zur selben Zeit fasste auch Lactanz die Ecloge im christlichen Sinne auf, bezog sie aber als Anhänger der Lehre vom tausendjährigen Reiche nicht auf die Geburt Christi, sondern auf seine verheisseue Wiederkehr, als triumphiren- der Herrscher der Gerechten'''). . Augustin, der die Existenz von heidnischen, das Erscheinen Christi verkündigenden Propheten zu- gibt, citirt ebenfalls die Ecloge, wendet aber besonders die Verse

1) Coustautini M. Oratio ad sauet, coet. c. 19—21. Diese Rede bildet den Gegenstand einer noch immer nicht vollendeten Arbeit von liossiguol, Virgile et Constantin le grand, Paris 1845. Der Autor ver- spricht darin den Beweis, dass die Rede ein Werk nicht des Constantin sondern des Eusebius ist.

2) Euseb. Vit. Const. IV. 32.

3) Zuletzt herausgegeben von Heyne, Excurs. I ad Bue. und Ros- signol a. a. 0. p. 96 ff.

4) Rossignol, a. a. 0. p. 181 ff.

5) Lactant. Div. instit. 1. VII, c. 24.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 95

13 14 auf den Erlass der Sünden durch die Verdienste deb Heilan- des an^).

Gegen die Meinung derer, die Virgil für einen Christen ohne Christus halten, erhebt sich Hieronymus. Er verspottet das als leeres Gerede und Possen und stellt es auf eine Reihe mit den Virgilcentonen und ähnlichen Albernheiten^).

Trotzdem muss man bemerken, dass eine bestimmte theolo- gische Lehre und manche Stelle im Evangelium dazu hindrängte, auch imter den Heiden Propheten von Christi aufzusuchen. Es existirten ferner sibyllinische Orakel, welche wie das berühmte Akrostichon von Christus sprachen, aber die Ungläubigen sagten, dass sie ein apokryphes Machwerk der Christen seien; das war in der That richtig und das Gegentheil schwer zu beweisen. Daher genoss denn aber gerade die auf das sibyllinische Orakel gebaute Ecloge Virgils, welche doch auf keinen Fall für apokryph gelten konnte, das höchste Ansehen und von diesem Gesichtspunkte aus betrachten sie sowol Constantin in seiner Rede, wie Augustin. So erschien Virgil selbst denen, welche nicht glaubten, dass er die Bedeutimg jener Ecloge erkannt habe, auch in seiner Unwissenheit als ein Glaubenszeuge. Indem aber diese Anschauung^) albnälig populär wurde, ward Virgil der Begleiter der Sibylle und trat zu-

1) „Nam omuino non est cui alteri praeter dominum Christum dicat genus humanum:

Te duce, si qua manent sceleris vestigia nostri,

Irrita perpetua solvent formidine terras. Quod ex Cumaeo, id est ex Sibyllino Carmine se fassus est transtulisse Vergilius; quoniam fortassis etiam iUa vates aliquid de unico Salvatore in spiritu audierat quod necesse habuit confiteri." Augustin., Epist. 137; adVolusian. e. 12. Opp. ed. Bened. T. II, p. 309 f. vgl. Epist. 258 e. 5. Upp. II, 670; de civit. X, 27.

2) Quasi non legerimus Homerocentones et Vergiliocentones ; ac non sic etiam Maronem sine Christo possimus dicere Christianum qui scripserit: lam redit et virgo etc. PuerUia sunt haec et circulatonun ludo similia, docere quod ignores." Hierou. Epist. 54. ad Paulin. e. 7. Opp. I. 273.

3) Vgl. Fulgentius ,De contin. Vergü.' p. 761; Scholl. Bern. (ed. Hagen) p. 775 fiF. Christianus Druthmar (9. Jahrh.) bemerkt zu Matthäus 20, 30: ,,audierunt quia Jesus transiret" „Judaei audierunt per prophetas, gentes quoque non per omnia ignoraverunt, sed sophistae eorum similiter denuntiaverunt; unde illud Maronis: lam nova progenies etc." Bibl. Patr. max. (Lugd.) XV 147. S. auchAgnellus, Lib. Pon- tific; Vit. Gratios. c. 2 bei Muratori, Script, rer. It. II, p. 1 u. 180; Cosm. Prag., Chronicon bei Pertz, Mon. Germ. IX, p. 30.

Virgil ili der Literat? bis auf Dante.

gleich mit David, Jesaias und den andern Propheten in den Hei- ligendarstellungen oder Mysterien auf. Diese zur Legende ge- wordene Idee berührte sich dam wiederum auf die verschie- denste Weise mit der volksthüml len Vorstellung vom Zauberer Virgil, worüber im zweiten Thci gehandelt werden soll. Aus derselben Anschauung entstanden kehrung von Heiden infolge jene die durch Dante berühmt gewoi<l die der drei Heiden Secundianus, plötzlich erleuchtet durch die Christenvei-folgern Märtyrer wurd richtet, wie der Bischof von Fi' vor seinem Tode in der Versamni bei der Ablegung seines Gluiii Worte des Dichters: „Jam nova j er seinen Geist aufgab^).

Pabst Innocenz III. citirte Glaubens in einer Weihnachtipre wurden sie auch von grossen Gei- m des Mittelalters wie Dante^), Abälard^) xmd Marsilius Ficinus" ufgefasst. Auch von der christ- lichen Kunst finden wir Virgil ii. len Kirchen sehr oft unter den Propheten Christi dargestellt. In Chore der Kathedrale von Za- mora (12. Jahrh.) in Spanien fi let sich unter den zahlreichen Figuren der Propheten des u m Testamentes der römische Dichter, kenntlich durch das bei- jhriebene „progenies^)". In der- selben Weise figurirt Virgil in n Malereien Vasari's in einer Kirche von Rimini, imd in den I isken Rafaels in S. Maria della Pace in Rom ist die Cumäisch» Sibylle durch die Worte „Jam nova progenies" gekennzeichnet. Seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften stritten die Gel- teu für und wider die christ- liche Auslegung " jener Belöge''^ d noch heute, wo das Mittel-

rner Legenden, welche die Be- vierten Belöge erzählten, z. B. 3 Bekehrung des Statius^) und rcellianus und Verianus, welche erse „Ultima Cumaei" aus ^). Eine andere Legende be- ■le, Donatus (9. Jahrh.), kurz lg der Confratres erschien und sbekenntnisses vor ihnen die •genies etc." vorbrachte, worauf

.e Verse zur Bekräftigung des yf*), und im christUchen Sinne

-^

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1) Vgl. Ruth in Heidelb. Jahr 1849. p. 905 £F.

2) Vincent. Bellovae. Spe. bist. XI c. 50; Act. SS. Aug. II, 407.

3) Ozanam, Documens inédit- >. 55.

4) Serm. II in fest. Nativ. Don 3pp. p. 80.

5) Purgator. XXII, p. 67 ft'.

6) Introd. ad. Theolog. lib. I, '21; Epist. 7 ad Helois. p. 118.

7) De Christ, relig. c. 24.

8) S. Street, Some acount of tthic architecture in Spaio. (Lond. 1869) p. 95.

9) Vgl. Piper a. a. 0. p. 75 ti

Vii-gil in ti

dui- bis auf Dante.

97

alter zwar schon lauge z viele gibt, welche gern >■ bewahren möchten, fehlt belei für ei-nst nehmen ^ i.

Liufgehört hat, aber es doch noch Hinterlassenschaften desselben auf- 'it an solchen, welche die alte Fa-

Wenn sich auf der Yirgil den Christen durci andererseits auch ein Mitt- die Immoralität und den ^ dern. Lange vor dem Clu wie Xenophanes, Heraklii die Dichter, welche die My. bestand zwischen ihnen ui Band, als dass jene exceu kung hätten haben können . die so wunderbaren Erzeui' würdigen verstanden, suol grossen Dichter mit den J' zu setzen und kamen so in darbietende Allegorie"^), W' schaftliche Weihe gaben. Bedeutung, welche in ihr- so wie infolge des Zusamui' practis.chen Moral ganz besi'i konnten sie auch den best-.- sondern mussten ihn als > und seine eigentliche Bed' Allegorie musste aber noci die antike Religion nicht i gegenüber stand, sondern a fortgeschrittenen Entwickln i Religion, sowie dem Fanatici des Sieges alle Mittel in

s Capite].

Seite die Classiker und besonders

Verdienst empfahlen, so gab es in Widerwillen der Christen gegen rsinn der antiken Mythen zu mil- thum hatten ja schon Philosophen, 1. ihr Verdammungsurtheil gegen fortpflanzten, ausgesprochen. Doch 111 (i eiste der Nation ein zu enges len Meinungen irgend welche Wir- idere, welche toleranter waren und e des nationalen Geistes besser zu die Sagen und die Autorität der taten der Philosophie in Einklang e ^ich in solchen Fällen von selbst

vor allen die Stoiker eine wissen-

en sie ^och in Folge der grossen

\vstem die religiöse Idee einnahm,

Inges zwischen dieser Idee und der

is darauf angewiesen. Eben darum

'■-len Volksglauben nicht vernichten,

richtiges Element berücksichtigen,

ng feststellen^). Das Mittel der

1 mehr in Aufnahme kommen, als

einer Klasse von kalten Denkern

m1 und Leben mit der einer soweit

les Geistes viel mehr homogenen

von Leuten, welche zur Erlangung egung setzten, zu streiten hatte.

1) Z. B. Verworst in ''< Redemption du genre humaii peuples. (trad, de l'allem. par

2) Vgl. Gräfenban, i. p. 211 ff.

3) Vgl. Z e 11 e r , Die 1 .300 ff.

C'oinparetti, Virgil iin Mitt.

wähnten Dissertation. Vgl. Schmitt, onct'e par les traditions de tous les irion) Paris 1827, p. 122 ff. der klass. Philologie im Alterth. I,

■phie der Griechen, III, 1, p. 290 f.

96 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

gleich mit David, Jesaias uud den andern Propheten in den Hei- ligendarstellungen oder Mysterien auf. Diese zur Legende ge- wordene Idee berührte sich dann wiederum auf die verschie- denste Weise mit der volksthümlichen Vorstellung vom Zauberer Virgil, worüber im zweiten Theile gehandelt werden soll. Aus derselben Anschauimg entstanden ferner Legenden, welche die Be- kehrung von Heiden infolge jener vierten Ecloge erzählten, z. ß. die durch Dante berühmt gewordene Bekehi-ung des Statins^) und die der drei Heiden Seeundianus, Marcellianus und Verianus, welche plötzlich erleuchtet durch die Verse „Ultima Cumaei" aus Christenvei-folgern Märtyrer wurden^). Eine andere Legende be- richtet, wie der Bischof von Fiesole, Donatus (9. Jahrb.), kurz vor seinem Tode in der Versammlung der Confratres erschien und bei der Ablegung seines Glaubensbekenntnisses vor ihnen die Worte des Dichters: „Jam nova progenies etc." vorbrachte, worauf er seinen Geist aufgab^).

Pabst Innocenz HL citirte jene Verse zur Bekräftigung des Glaubens in einer Weihnachtspredigt '^), und im christlichen Sinne wui-den sie auch von grossen Geistern des Mittelalters wie Dante ^), Abälard^) und Marsiliiis Ficinus^) aufgefasst. Auch von der christ- lichen Kunst finden wir Virgil in den Kirchen sehr oft unter den Propheten Christi dargestellt. Im Chore der Kathedrale von Za- mora (12. Jakrh.) in Spanien findet sich unter den zahlreichen Figuren der Propheten des alten Testamentes der römische Dichter, kenntlich durch das beigeschriebene „progenies*)". In der- selben Weise figurirt Virgil in den Malereien Vasari's in einer Kii-che von Rimini, und in den Fresken Rafaels in S. Maria della Pace in Rom ist die Cumäische Sibylle durch die Worte „Jam nova progenies" gekennzeichnet. Seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften stritten die Gelehrten für und wider die christ- liche Auslegung "jener Ecloge'') und noch heute, wo das Mittel-

1) Vgl. Ruth in Heidelb. Jahrb. 1849. p. 905 S.

2) Vincent. Bellovac. Spec. bist. XI c. 50; Act. SS. Aug. II, 407.

3) Ozanam, Documeus inédits. p. 55.

4) Serm. II in fest. Nativ. Dom. Opp. p. 80.

5) Purgator. XXII, p. 67 ff.

6) Introd. ad. Theolog. lib. I, c. 21; Epist. 7 ad Helois. p. 118.

7) De Christ, relig. c. 24.

8) S. Street, Seme acouut of gothic architecture in Spain. (Loud. 1869) p. 95.

y) Vgl. Piper a. a. 0. p. 75 ff.

Virgil in der liiteratur bis auf Dante. 97

alier zwai- s(;lion lange zu sein aufgehört hat, aber es doch noch viele gibt, welche gern einige Hinterlassenschaften desselben auf- bewahren möchten, fehlt es nicht an solchen, welche die alte Fa- belei für ernst nehmen^).

Achtes Capitel. Wenn sich auf der einen Seite die Classiker und besonders Virgil den Christen durch ein Verdienst empfahlen, so gab es andererseits auch ein Mittel, den Widerwillen der Christen gegen die Immoi'alität und den Widersinn der antiken Mythen zu mil- dern. Lange vor dem Christenthum hatten ja schon Philosophen, wie Xenophanes, Heraklit a. a. ihr Verdammungsurtheil gegen die Dichter, welche die Mythen fortpflanzten, ausgesprochen. Doch bestand zwischen ihnen und dem Geiste der Nation ein zu enges Band, als dass jene excentrischen Meinungen irgend welche Wir- kung hätten haben können. Andere, welche toleranter waren und die so wunderbaren Erzeugnisse des nationalen Geistes besser zu würdigen verstanden, suchten die Sagen und die Autorität der grossen Dichter mit den Resultaten der Philosophie in Einklang zu setzen und kamen so auf die sich in solchen Fällen von selbst darbietende Allegorie^), welcher vor allen die Stoiker eine wissen- schaftliche Weihe gaben. Waren sie wdoch in Folge der grossen Bedeutung, welche in ihrem System die religiöse Idee einnahm, so wie infolge des Zusammenhanges zwischen dieser Idee und der practis.chen Moral ganz besonders darauf angewiesen. Eben darum konnten sie auch den bestehenden Volksglauben nicht vernichten, sondern mussten ihn als ein wichtiges Element berücksichtigen, und seine eigentliche Bedeutung feststellen^). Das Mittel der Allegorie musste aber noch viel mehr in Aufnahme kommen, als die antike Religion nicht mehr einer Klasse von kalten Denkern gegenüber stand, sondern auf Tod und Leben mit der einer soweit fortgeschrittenen Entwicklung des Geistes viel mehr homogenen Religion, sowie dem Fanatismus von Leuten, welche zur Erlangung des Sieges alle Mittel in Bewegung setzten, zu streiten hatte.

1) Z. B. Ver wer st iu der erwähnten Dissertation. Vgl. Schmitt, Redemption du genre humain aunoncée par les traditions de tous les peuples. (trad. de Tallem. par Henrion) Paris 1827, p. 122 ff.

2) Vgl. Gräfenhan, Gesch. der klass. Philologie im Alterth. I, p. 211 ff.

3) Vgl. Zell er, Die Philosophie der Griechen, III, 1, p. 290 f. 300 ff.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 7

98 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

In jenen langen und erbitterten Kämpfen diente die Allegorie, mit der ja Jedermann vertraut war, auf beiden Seiten als vorzüglichste Vertheidigungswaffe. Die Heiden griffen zur Allegorie, weil ihre Eeligion, überwältigt durch die nunmehr reife Kraft des Ver- standes, den natürlichen Drang in sich fühlte, sich mit diesem zu vereinen. Als dann in der letzten Phase der antiken Religion sich auch der Zugang zu den positiven, dogmatischen und mehr theologischen Religionen des Orients, welche mehr als der alte natura- listische Mythos mit Abstractionen angefüllt waren, eröfifnete, so diente auch dieser Umstand dazu, den Sieg des Christenthumes vor- zubereiten. Eine zwar gutgemeinte aber nicht sehr kritische Philo- sophie breitete ihren Mantel über die gar zu argen Blossen der antiken Götter und Heroen aus, welche doch immer wieder aus den lebendigen Quellen der allgemeinen Cultur vor Jedermanns Augen auftauchten. Dies vermochte nun zwar nicht die antike Religion vor der Niederlage zu bewahren, aber beschützte doch die antike Literatur vor der Christenheit, die entweder noch im Kampfe begriffen war oder ruhig die Früchte ihres Triumphes genoss. Allegorie, Anagoge und Symbol galten im Christenthum selbst für etwas ganz gewöhnliches. Die Aussprüche der Propheten und die Gleichnisse Jesu hatten die Christen längst daran gewöhnt, unter der materiellen Bedeutung der Worte einen tiefen und verborgenen Sinn zu suchen. Selbst die Bibel, die gött- liche Basis von Judenthum und Christenthum, welche doch von den Werken der klassischen Dichter so ganz verschieden war, musste sich später vielfach mit den Fortschritten der Erfahrung und Reflexion auseinander setzen. Schon die alexandrinischen Juden machten starken Gebrauch von der Alle- gorie, um (so sagten sie, denn in Wahrheit thaten sie das um- gekehrte) die Philosophie mit der Bibel in üebereinstimmung zu bringen. Bekannt ist ferner, wie sich die christliche Exegese zu jeder Zeit der Allegorie bedient hat^). Man erklärt dieselbe oft ungerechter Weise für das Product einer kalten Berechnung oder einen frommen Betrug zu religiösen Zwecken. Die Allegorie ist ein Mittel, dessen sich gleichsam instinctiv und auf Treu und Glauben diejenigen bedienen, deren Geist zu gleicher Zeit von zwei sich entgegengesetzten, und doch nicht zurückzuweisenden Kräften

1) Schon Celsus, der sich der Allegorie für die heidnischen Mythen bediente, klagte Christen und Juden des Missbrauchs dieses Mittels für ihre Mythen an; IV", 50, 51.

Virgil in der Litoiatur bis auf Dante. 99

beherrscht wird. Sie ist das Resultat einer dialectischeii Halluci- nation, die aus warmer Ueberzeugung und einer lebhaften und kühnen Empfindung entspringt.

Die Allegorie ward von den Alten bei der Erklärung ihrer Mythen und besonders bei der Darstellung derselben durch die Dichter angewandt, welche ja in Ermangelung eines religiösen Codex die alleinige Autorität für den allgemeinen Glauben waren. Die einzigen alten Poeten jedoch, welche eine vollständige allego- rische Auslegung erfuhren, waren, freilich in einer ganz beson- deren Weise, Homer und Virgil. Homer war, theils wegen seines vorhistorischen Alters, theils wegen der wunderbaren Kraft seines Genius von jeher die oberste Autorität für den Volksglauben ge- wesen. Hesiod genoss ein solches Ansehen erst in zweiter Linie, und man begreift, wie Herodot dazu kam, Homer den Vater der grie- chischen Religion imd Moral zu nennen. Die zahlreichen allego- rischen Erklärungen Homers, welche von den Philosophen ausgingen, verbreiteten sich daher auch über die Philosophenschulen hinaus ^). Virgil, der doch Homer gegenüber ein wesentlich moderner Dichter ist, besass lange nicht diese Autorität, und so lange er ein moderner Dichter war, konnte auch sein Gedicht, so viel Maximen man auch aus demselben zog, nicht als eine allegorische Composition be- trachtet werden. Seneca sagt uns, was Virgil bei dem Grammatiker und Philosophen") galt. Letzterer suchte in dem Dichter noch keine Allegorien (Seneca würde als Feind der Allegorien sonst da- von gesprochen haben), sondern beschränkte sich darauf, die vor- handenen philosophischen Gedanken des Dichters zu entwickeln. Als jedoch der geistige Gesichtskreis ein anderer wurde, und der Dichter eine ganz unvei'hältnissmässige Bedeutung gewann, blieb auch er nicht von der allegorischen Auslegung verschont. Das geschah indessen nur, weil die Allegorie Mode war, und die zu einer phantastischen Speculation sieh hinneigenden Menschen meinten, dass ein so weiser Dichter wie Virgil nothwendig unter den einfachen Sagen der Aeneis etwas tieferes und bedeutenderes verborgen habe. Man erklärte also den Virgil allegorisch, nicht um die antike Religion vor den Angriffen der Christen zu verthei- digen, sondern einzig und allein von einem philosophischen Stand- punkte aus, und weil sich eben von der Weisheit Virgils eine so

1) Vgl. Bernhardy, Griech. Litt. II, 1, p. -201 f.

2) Epist. 108, 24—29.

7^

100 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

sonderbar übertriebene Vorstellung gebildet hatte. Deshalb be- dienten sich denn auch bei seiner Erklärung Heiden wie Christen mit gleicher Ueberzeugung und ohne Polemik, der Allegorie, Der verborgene Sinn, den sie aufsuchten, war rein ethischer und philosophischer, man möchte sagen religiöser Natur und bezieht sich gewöhnlich auf die Schicksale des menschlichen Lebens in seinem Streben nach Vervollkommnung.

Bei dem Verluste so vieler Denkmäler der alten Literatur sind uns heute nur spärliche Reste jener Auslegung geblieben, wie wir schon bei der Erwähnung des Donat, Servius und Macrobius bemerkten. Der beträchtlichste Ueberrest besteht in dem Werke des Fabius Planciades Fulgentius, eines christlichen Schriftstellers, dessen Lebenszeit sich noch nicht genau hat bestimmen lassen^), der aber sicher nicht jünger als das 6. Jahrhundert ist. Die Schrift „De Continentia Vergiliana", in welcher Fulgentius nach- weist „was Virgil enthält" oder vielmehr „was in ihm verborgen ist" muss als eins der merkwürdigsten Bücher des lateinischen Mittelalters und das am meisten charakteristische Denkmal für den Ruhm des Dichters inmitten der Barbarei der chi'istlichen Zeit gelten "''). In der Von-ede erklärt der Autor, dass er sich auf die Aeneis be- schränken will, weil Bucolica und Georgica von so tiefem mystischem Inhalte seien, dass es unmöglich wäre, denselben ganz zu erfassen.

1) Sicher ist nur, dass Fulgentius jünger als der von ihm citirte Marcianus Capella ist, der nach den Untersuchungen seines Herausgebers Eyssenhardt (Leipz. 1866) vervollständigt von L. Müller (Neue Jahrb. f. Phil. u. Päd. 1867 p. 791 f.) etwa um 4.31» geschrieben haben muss. Was aber den Endpunkt seiner Lebenszeit anlangt, so hat man zu keinem positiven Resultate gelangen können. Zink (der Mytholog Fulgentius, Würzburg 1867) setzt die Redaktion des Mythologicon zwischen 480 und 484 an. Reifferscheid, der sich dabei der von ihm ans lacht ge- zogenen, und wahrscheinlich demselben Fulgentius angehörenden Schrift: „de aetatibus mundi et hominibus" bedient, setzt die Abfassung des Mythologicon in die Zeit des Königs Hunnerich (.523) fest. L. Müller (N. .Tahrb. 1867, p. 796) nahm das Jahr 456 an. Jungmann (Quaestiones Fulgentianae in den Acta societatis philologae Lipsiensis, ed. Fr. Ritschelius Lipsiae 1871. 1, p. 49 ff.) meint, dass F. um 480 geboren und das Buch Mythologicon 523 oder 524 verfasst sei. lieber die älteren Ansichten vgl. L er seh „De abstrusis sermonibus." Rom 1844, p. 1 f.

2) „De Continentia" ist publicirt in den Mythographi latini von van Staveren (Lugd. Bat. 1742). Eine moderne ki-itische und bessere Aus- gabe existirt nicht.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 101

Er verzichtet also darauf^) weil, wie er meint, ihm das nöthige Wissen dazu fehle, da ja das erste Buch der Georgica sich ganz auf die Astrologie, das zweite auf die Physik und Medizin, das dritte auf die Wahrsagekunst, das vierte auf die Musik bezöge, ja am Ende sogar apotelesmatisch würde, eine Auf- zählung, die sich auch bei den Bucolica wiederholt. Der gute Manu will eigentlich als Philosoph gelten, „aber", sagt er, „indem ich die etwas abschmeckend gewordene Schärfe der Chrysippischen Niesswurz bei Seite lasse , will ich mich lieber mit den Musen unterhalten" und hierauf lässt er fünf Hexameter folgen, in denen er für das grosse Werk was er unternimmt die Gunst der Musen anruft, und zwar „aller neun, weil eine nicht genug sein würde ^). Durch deren Hilfe wird es ihm zu Theil, den Geist Virgils vor sich erscheinen zu sehen. Das Benehmen dieser ehr^vürdigen Er- scheinung ist höchst imponii-end und ernst. Der Dichter ist ganz versunken in den Gedanken neuer Schöpfungen. Mit einer Be- scheidenheit, die eigenthümlich von der schwatzhaften Eitelkeit, wie sie sich hier und in den andern Schriften des Fulgentius zeigt, absticht, bittet der Verfasser den Virgil, von seiner Höhe herab- zusteigen und ihm die Geheimnisse seiner Poesie zu enthüllen, nicht die tiefsten, sondern nur die, welche der Verstand eines armen Barbaren zu fassen vermag'^). Virgil verspricht dies, ob- gleich er nur mit einer fast furchterregenden Strenge nnà wie im Zorne*) zu ihm spricht, ihn auch z. B. behan-lich ,, Menschlein" an- redet. Er erklärt dann, dass er in den zwölf Büchern der Aeneis ein

1) „Bucolicam Georgicamque omisimus in quibus tarn mysticae sunt interstinctae ratioues etc." p. 738. ,,.... Ergo doctrinam mediocritatem teraporis excedentem omisimus, ne dum quis laudem quaerit norainis fragmen reperiat capitis" p. 739. lu der Bibliothek von Padua existirt ein Ms. aus dem 14. Jahrh. mit dem Titel: „Fulgentius super Bucolica et Georgica Vergili" (vgl. Lerscb p. 96). Ich habe mich jedoch davon überzeugt, daes der Name des Fulgentius willkürlich hinzugefügt ist. Vgl. meinen Aufsatz in der Revue critique, August 1869, p. 136.

2) ,, Malus opus moveo, nee euim mihi sufficit una, Currite Pierides etc." p. 740.

3) „Serva istaec, quaeso, tuis Romanis quibus haec nosse laudabile competit et impune subcedit. Xobis vero erit maximum si vel extremas tuas contigerit pL-rstringere fimbrias." p. 742.

4) ,,Quatinus, inquit, tibi discendis non adipata crassedo iugenii, quam temporis formido periculo reluctat, de nostro torrentis ingenii impetu umulam praelibabo quae tibi crapulae plenitudine nauseam movere non possit. Ergo vacuas fac sedes tuarum aurium. quo mea commigrare possint eloquia" p. 742.

102 ^ irgil in der Literatur bis auf Dante.

Bild lies menschlichen Leben habe geben wollen. Indem er aber daran geht, diesen philosophischen Gedanken im einzelnen zu ent- wickeln, hält er sich ziemlich lange bei dem ersten Verse auf, der den Inhalt des Gedichtes zusamment'asst, und kommt erst nach den seltsamsten Umschweifen auf die verborgene Bedeutung der drei Worte „arma, virum, primus" zu sprechen. „Aus drei Stufen", sagt er, „besteht das menschliche Leben, die erste heisst „besitzen"; die zweite: „den Besitz regieren"; die dritte: „das was man regiert, verherrlichen". Diese drei Grade findest du in meinem ersten Verse. „Arma", d. h. Tüchtigkeit, bezieht sich auf das körper- liche; „virum" d. h. Weisheit auf das geistige: „primus" d. h. Fürst auf das, was verherrlicht und schmückt; so dass du also hier der Reihe nach , die drei Begrifte ,haben , regieren und v(*rherrlichen' erhältst. Auf diese Weise habe ich s^'mbolisch das normale Verhältniss des menschlichen Lebens dargestellt; zuerst die Natur, dann die Gelehrsamkeit, endlich das Glück". Darauf beginnt der Dichter den Stofl" der einzelnen Bücher zu erklären. Vor Fulgentius scheint er dabei freilich wenig Achtung zu haben; denn er sagt, bevor er weitergehe, wolle er sich überzeugen, dass er nicht etwa arkadischen Ohren predige, und als ob er zweifle, dass jener jemals die Aeneis gelesen habe, fragt er ihn nach einer kurzen Inhaltsangabe des ersten Buches^). Fulgentius ist dadurch keineswegs beleidigt, sondei-n erfüllt den Wunsch des Dichters, worauf denn Virgil wieder fortfährt. Wir beschränken uns indessen hier nur auf einen kurzen Abriss des Ganzen, denn die Albern- heiten im Einzelnen durchzugehen, wäre für uns ebenso lästig wie für den Leser.

Virgil erklärt also, dass der Schiffbruch des Aeneas die Ge- burt des Menschen bedeutet, welcher unter Schmerz und Thränen in das stürmische Leben eingeht; Jmio ist die Göttin der Geburt, und Aeolus, ihr Diener, das Verderben"). Achates bezeichnet die Schmerzen der Kindheit''), der Gesang des Jü[)as ist der Gesaug der Ammen. Die «Begebenheiten des zweiten und dritten Buches beziehen sich gleichfalls auf die Kindheit, die begierig ist nach Fabeln und Wundergeschichten. Auch der Cjclop am Ende des

1) ,,Sed ut sciam me non arcadicis expromptare fabulam auribus, primi nostri continentiam libri narra." p. 747.

•2) ,, Aeolus enim graece quasi Aiouolus id est saeculi iuteritus dicitur" p. 748.

3) „Achates enim graece quasi àx^v f&og id est tristitiae consuetudo." p. 7.Ó0.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 103

di-itten Buches mit dem einen Auge auf der Stirn ist Symbol des geringen Verstandes und des Hochmuthes, welchen Ulysses, das heisst der Verstand, bändigt. Diese Periode schliesst mit dem Tode und dem Begräbnisse des Vaters Anchises, das heisst: das lünd wird mündig. Der nun freie Mensch (viertes Buch) ergibt sich den Genüssen der Jagd und der Liebe. Ein Schwindel (das Ungewitter) bringt ihn zu unerlaubten Verhältnissen (Dido), bis er, vom Verstände (Mercurius) ermahnt, wieder zu sich kömmt; die Flamme der Liebe sinkt in Asche zusammen (Tod der Dido). Im fünften Buche ruft der Geist das Andenken an den Vater zurück und ergibt sich edlen Uebungen (Leicheuspiele zu Ehren des AnchisesJ. Der triumphirende Verstand vernichtet die Werk- zeuge der Verirrung (Brand der Schiffe). So erstarkt (sechstes Buch), kehrt er zur Weisheit zurück, (Apollo's Tempel), nachdem er zuvor von seinen Hallucinationen befreit ist (Palinurus ^) und die Eitelkeit ab- gethan hat (Begräbniss des Misenus)^). Mit dem goldenen Zweige, d. h. mit dem Verständniss, welches den Zugang zu den verborgenen Wahrheiten eröffnet, geht er auf philosophische Entdeckungen aus (^Eingang in die Unterwelt); da erscheinen ihm zuerst die mensch- lichen Uebel in ihrer traurigen Gestalt, er überschreitet, geführt von der Zeit (Charon)^), die durch die jugendlichen Thaten auf- geregte Welle (Acheron'^), er hört das Wehgeschrei der sich ent- zweienden Menschheit (der beiende Cerberus) und erlangt endlich die süsse Frucht der Weisheit. So schreitet er fort in der Er- kenntniss des zukünftigen Lebens, in der Unterscheidung des Guten und Bösen und denkt über die Leidenschaften (Dido) und Neigun- gen (Anchises) seiner Jugend nach. Nachdem nun der Geist (siebentes Buch) verständig geworden ist, entwächst er der Zucht des Lehrers (Begräbniss der Amme Cajeta), gelangt in das ersehnte Ausonien, er nimmt au Güte zu^), wählt sich zum Weibe die Mühe (Lavinia)'') und macht den Guten (Evander) zu seinem Gefährten (achtes Buch). In solcher Genossenschaft lernt er die Triumphe der Tugend über das Böse kennen (Her-

1) ,, Palinurus enim quasi Planonurus, id est errabuoda visio" 753.

2) „Misio eniin graece obruo dicitur(?); aivog vero laus vocatur." 753.

3) „Caron vero quasi Cronon id est temjjus" p. 756.

4) „Acherou enim graece sine tempore dicitur" p. 756.

5) ,, Ausonia enim dna rov av^ävstv dicitur, id est creraento" p. 763.

6) „Et uxorem petit Laviniaui, id est laborum viam." p. 763.

1Q4 Viigil in der Literatur bis auf Dante.

cules und Cacus). Nachdem er sich endlich einen Panzer aus seiner glühenden Seele gemacht hat (die von Vulcan geschmiedeten AYaffen), stürzt er sich in den Kampf und streitet (neuntes bis zwölftes Buch) gegen die Raserei (Turnus)^), welche geführt von der Trunkenheit (Metiscus) und Hartnäckigkeit (Juturna-diutuma), in ilarem Gefolge die Gottlosigkeit (Mezentius, der Verächter der Götter) und die Thorheit (Messapus)^) hat. Die Weisheit trium- phirt schliesslich über sie alle. So sonderbar schon der Inhalt des Werkes in dieser gedrängten Uebersicht erscheinen muss, wird man sich doch von der Sonderbarkeit des Originals kaum eine Vorstellimg macheu können. Es ist klar, dass man für blose Phantastereien keine solide Basis verlangen darf, und doch entbehren sie oft nicht einer gewissen geistigen Feinheit und Schönheit, die sie anziehend machen kann. Allein das Verfahren des Fulgentius ist so gewaltsam und unzusammenhängend, jede Kegel des gesunden Menschenverstandes wird so offenbar, man möchte sagen in brutaler Weise mit Füssen getreten, dass man nicht begreift, wie ein gesunder Geist ein solches Narrenwerk im Ernste hat unternehmen können, aber noch weniger, wie gesunde Geister es einer ernsten Uebei'leguug für werth hielten. Fulgen- tius kehrt sich so wenig an irgend ein Gesetz, dass er nicht einmal seine eigenen Fictioneu consequcnt festhält und den Virgil hie und da sprechen lässt, als wäre er Fulgentius^). Zu der Gedanken- losigkeit kömmt dann noch die Unwissenheit hinzu, wie wenn Vir- gil z. B. den Petronius und sogar den noch späteren Tiberianus citirt! Dieser groben Nachlässigkeit muss mau es auch zuschreiben, wenn das Buch, so wie wir es besitzen, keinen Abschluss hat; denn der Autor vergisst am Ende ganz, dass er, nachdem Virgil so lange geredet hat, nun selbst wieder auftreten und sich vom Leser verab- schieden muss*). Au ein richtiges Verhältniss der Theile zu einander ist bei dem Werke natürlich nicht zu denken. Ueber den ersten Vers

1) ,, Turnus euiui graece dicitur quasi d'ovgog i'orc, furibundus sensus" p. 764.

2) „Messapus, quasi fttffwr sttos" p. 765.

3) Virgil sagt an einer Stelle: „Tricerberi autem fabulam jam superius exposuimus" (p. 756). In Wahrheit wird hierüber in einem anderen Werke des Fulgentius 'Mythologicon' I, 5 gehandelt."

4) Ziuk (a. a. ü. p. 27) glaubt, dass das Ende des Werkes abhan- den gekommen oder das ganze unvollendet ist. Jungmanii a. a. 0. p. 73, beweist aber, dass weder das eine noch das andere mögHch ist. Man sieht deutlich, wie der Autor vom 8. Buche an die Lust verliert und nun auf diese rohe Weise zum Ende eilt.

Virgil in der Literatur big auf Dante. 105

der Aeiiels verbreitet sich der Verfasser mehrere Seiten hing und übersi^ringt ganze Bücher mit zwei Zeilen. Am längsten hält er sich beim sechsten Buche auf, welches, wie wir gesehen haben, schon dem Servius für das tiefsinnigste galt. Von der Sprache darf man kaum reden; sie ist der Abschaum einer unwissenden uud geschmaklosen Barbarei, will aber doch in ihren merkwürdig verdrehten und gekünstelten Phrasen, den aus allen möglichen Orten zusammengesuchten uud noch dazu falsch angewandten fremdartigen Wörtern für gewählt gelten^); die willkürlichen und gleichsam mit der Axt zugehauenen Etymologien dürften sich wol selbst bei keinem alten Schriftsteller wdeder finden.

Bemerkenswerth ist, wie Virgil selbst von Fulgentius darge- stellt wird; er erscheint als ein mümscher, finsterer und stolzer Mann, also grade das Gegentheil jener milden, sanften Bescheiden- heit, die seine Poesie athmet, die ihm alle seine Biographen bei- legen und die Dante so trefflich gezeichnet hat. Für jene bar- barischen Geister musste der Idealtypus des Weisen sich mit Finsterniss umhüllen, wie das Wissen der Zeit selbst, das wieder zum poetischen Mysterium zurückgekehrt war, mit dem es begonnen hatte. Wie man nicht nur bei Fulgentius, sondern schon bei Macrobius (besonders in seinem Traum des Scipio), bei Marcianus Capella, Boethius und so vielen Anderen sieht, erscheint die Ge- lehrsamkeit immer verbunden mit einer Art von poetischem Rausche. Sie tritt von Aussen an den rohen und unvorbereiteten Geist heran, ihn gleichsam betäubend und fanatisirend, und bewirkt z. B. bei Capella, Boethius und Fulgentius jenes Ineiuandermischen von Vers und Prosa. Niemand vermöchte wol in solcher krankhaften Aufgeregtheit jenen Funken von Poesie zu erkennen, welchen der Geist hervorzubringen vermag, wenn er die Wahrheit erschaut. Der grösste Weise musste geradezu als ein mystisches gleichsam überirdisches Wesen erscheinen, und so zeigt sich denn auch Virgil dem Fulgentius. Sieht man genauer zu, so hat sich dieser Typus aus dem entwickelt, was wir schon bei Macrobius und überhaupt bei den Heiden während der Zeit des Verfalles wah]nahmeu. Fulgentius .that nur noch hinzu, was ihm die Barbarei imd Roheit seiner Zeit darbot. Freilich gab es in dieser auch höher begabte Geister, aber von ihm ist der Kreis des profanen Wissens, wie er sich da- mals vorfand, w^ol am getreusten dargestellt. Die Grundidee seiner

1) Die Latinität des Fulgentius bat Zink a. a. 0. p. 37- 62 genau untersucht.

106 ^'irgil i" der Literatur bis auf Dante.

Ausleguug kann man nicht originell nennen, da sich dieselbe schon vor ihm bei Andern findet. Noch weniger originell erscheint aber die Idee seines anderen grösseren Werkes, des Mythologicon. Wie viel davon auf seine, wie viel auf anderer Kechnung zu setzen ist, wird nicht leicht zu bestimmen sein. Für unser Thema ist vor Allem der Umstand bemerkenswerth, dass Fulgentius, obgleich er sich als eifrigen Christen zeigt, weder Mythologicon noch De Continentia mit dem apologetischen Zwecke verfasst hat, die heid- nische Ueberlieferuug mit dem Chi-istenthume zu versöhnen. Nichts spielt auf den Kampf der Christen gegen das Heidenthum an. Von einer Vertheidigung desselben gegen irgend welche Angriffe ist nicht die Rede; die eigentlich bestimmende Grundidee des Werkes ist rein philosophisch und bezweckt die Verschmelzung der alten Mythen nicht mit dem Christenthum, sondern der Philo- sophie. Das später geschriebene^) Buch, „de Continentia" verhält sich wie ein Anhang zu dem Mythologicon. Bei der Stellung, die Virgil in der damaligen Cultur einnahm, musste uatui-gemäss, nachdem man angefangen hatte, die Allegorie auf die philosophische Auslegung der zahllosen alten Mythen anzuwenden, ein gleiches sich auch bei der Aeneis wiederholen, die sich aus dem ganzen Sagen- kreise als speciell römisch aussonderte. Zu der allgemeinen Vorstellung von der Erhabenheit des Alterthums kam aber hier noch die Idee eines ausserordentlichen Wissens und einer wunder- baren Tiefe des Dichtergeistes hinzu. Darum treten im Mytholo- gicon Urania und Pbilosophia, in De Continentia Virgil selber redend auf. Fulgentius zeigt sich also als ein Nachfolger der Stoiker, wie der Philosophen und Grammatiker der Verfallzeit; und sein Christenthum hat auf das Werk keinen Einfluss. In De Continentia sieht mau deutlich, welche bevorzugte Stellung Virgil bei den Christen einnahm. Es herrscht hier die Meinung, dass er vermöge der wunderbaren Kraft seines Geistes den ethischen und philosophischen Grundsätzen unserer Religion sehr nahe gerückt ist. Wenn er z. B. etwas äussert, was nach dieser nicht zulässig ist, so fällt ihm Fulgentius ins Wort und drückt sein Erstaunen darüber aus, wieder, welcher sagen konnte ,,Jam redit et virgo etc.""),

1) Das geht auch aus der Bemerkung jj. 756: ,,tricerberi autem fa- bulam jam superius exposuimus" hervor.

2) ,,0 vatum latiiiris autenta! itane tuum ingenium clarissimum tam stultae defensionis fuscare debuisti caligiue? qui dudum in Bucolicis mystice persecutus dixeras: „Jam redit et virgo etc." p. 761.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 107

in eineu solchen Irrtbuiu geratheu kauu. Virgil antwortet: „Wenn sich bei mir nicht unter so vielen Wahrheiten der Stoiker auch ein epicuräischer Irrthum fände, so wäre ich kein Heide. Denn die ganze Wahrheit zu erkennen, ist nur Euch gegeben, denen die Sonne der Wahrheit aufging. Doch davon will ich hier nicht reden". Aehnlich sind zwei Stellen, wo Fulgentius mit grossem Eifer Worte der Bibel oder christliche Grundsätze anführt, die mit der Ansicht des Dichters übereinstimmen; aber Vii-gil geht nur mit Widerstreben auf diese Punkte ein und an zwei anderen Stellen antwortet er lieber gar nicht auf die Einwürfe des Fulgentius^). Diese Unterbrechungen, die mit der Grundidee des Werkes gar nichts zu thun haben, ergeben sich ganz natürlich aus der An- schauungsweise der Zeit und stimmen mit dem Ideale des Vii'gil, wie es damals dem Christen vorschwebte, vollkommen überein. Und so kommt denn der Virgil des Fulgentius, d. h. der Virgil der christlichen Barbarei auf ganz natürliche nicht gewaltsame Weise dazu, Sympathien zu erwecken, welche die Unverträglichkeit zwischen dem Heiden und Christen ausgleichen sollen. Dieses Ideal, in dem sich schon die mittelalterliche Idee offenbart, dass die menschliche Vernunft auch ohne Wunder und Oifenbarung zu Grundsätzen kommt, die dem christlichen Geiste gleich stehen, ist aber nur ein rohes Vorspiel dessen, was die Poesie Dante's zur höchsten Höhe erhoben hat.

So sehr sich Fulgentius bemüht, als Gelehrter oder Denker zu erscheinen, ist er doch nichts weniger als ein solcher. Um seinem Wissen ein überraschendes Ansehen zu geben, scheut er sich nicht, Namen von Autoren und Werken zu erfinden, die es niemals gegeben hat'^): ein alter Kunstgriff übrigens, dessen man sich mit Erfolg schon in mehr erleuchteten Zeiten bediente^), aber besonders in der Verfallzeit und im Mittelalter^). Fulgentius er- scheint unter den allegorisclien Auslegern, unter welchen sich auch

1) P. 743, 746, 753, 755.

•2) Vgl. Lersch, a. a. Ü. p. 19 ff. Zink, a. a. 0. p. 75 ff.

3) „Unde improbissimo cuique pleraque fingendi licentia est, adeo ut de libris totis et auctoribus ut succurrit, mentiantur tute, quia in- veniri qui nunquam fuere non possunt." Quintil. I, 8, 21.

4) Bekannt ist u. a. dafür der Cosmograph von Ravenna. Vgl. ausser- dem Hercher, „Ueber die Glaubwürdigkeit der neuen Geschichte des Ptolemäus Chennus" in den N. Jahrb. f. Phil. u. Paed. 1853. Suppl. I, p. 269 ff.; Zeller, Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts, p. 297 ff.

108 Virgil iu dei- Literatur bis auf Dante.

wirklich bedeutende Leute Huden, gegen seine Vorläufer und Nach- läufer gehalten, wie eine Carricatur. Und doch war er zu sehr Kind seiner Zeit, als dass ihm diese nicht hätte Beifall spenden sollen. Das naive Mittelalter glaubte in ihm einen Mann von grosser und tiefer Gelehrsamkeit zu sehen. Wie man seine Werke schätzte und gebrauchte, beweisen die vielen erhaltenen Handschriften. Siegbert von Gemblou.K (11. Jahrhundert) ist fast erschrocken über so viel Wissensschärfe*) und bewundert den Mann, der es ver- standen hat, „in dem Kothe Virgils Gold aufzusuchen")"! Im Scholiasten des Germanicus und auch iu Hjgin's Fabeln finden sich Stelleu, die aus dem Mytliologicon interjiolirt sind. Der zweite und dritte vaticanische Mythograph haben ebenfalls mehr oder weniger den Fulgentius benutzt; eine Thatsache von Bedeu- tung, wenn man bedenkt, dass die Fabeln Hygin's, wie die des vatikanischen Mytliographen (besonders des ersten) jedenfalls Schulbücher waren^).

Diese allegorische Auslegung gedieh ziemlich gut selbst noch unter der kalten Sonne der Scholastik. Bernhard von Chartres behauptete in seinem Commentare zu den ersten sechs Büchern der Aeneis, dass „Virgil als Philosoph die Natur des menschlichen

Lebens schildere so wie das Thun und Leiden des Geistes,

der sich auf kurze Zeit im Körper befinde'*)." Denselben Gedanken nahm auch einer der bedeutendsten Männer des 12. Jahrb., Johann von Salisbury auf. Er bemerkt, dass Virgil „unter dem Schleier der Mythen die Wahrheit der ganzen Philosophie darstellt'')" und

1) „Hie certe omnis lector expavescere potest acumen ingenii eius qui totani fabularum seriem secundum philosophiam expositarum trans- tulerit vel ad rerum ordinem, vel ad humauae vitae moralitatem." De script. t'Ccles. c. 28.

2) „Qui totum opus Vergili ad physicam rationem refercus, in lutea quodammodo massa ami metallum quaesivit " Ebendas.

3) Vgl. Zink, a. a. 0. p. 13 ff. Bcrnhardy, Grundr. d. r. Litt, p. 868.

4) „Scribit enim (Vergilius) in quantum est philosophus humanae vitae naturam. Modus vero agendi talis est: sub integumento describit, quid agat vel quid iiatiatur humanus spiritus in humane corpore temporaliter positus etc." Vgl. Cousin, Ouvrag. inéd. d'Abe'lard p. 283 ff.

5) „Procedat poeta Mantuanus, qui sub imagine fabularum totius philosophiae exprimit vcritatom." Poljxratic. VI, c. 22; „Vergilium in libro (Aeneidos) in quo totius philoso])hiae rimatur arcana." Polycratic. II, c. 15.

Virgil in der Literatur bis auf Danto. 109

findet in den sechs ersten Büchern der Aeneis auch die Entwick- hing der menschhchen Natur geschildert. Nach ihm ist Aeneas der Geist als Bewohner des Körpers, „denn Ennaios heisst Be- wohner." Im Schiffbruche des ersten Buches erkennt er die Schicksale der Kindheit, die auch ihre Stürme habe: im zweiten Buche das Wachsthum und die unschuldige Neugier der Jugend, die viel Wahres und Falsches lerne ; im dritten die Jugend in ihren Irrthümern, im vierten die unerlaubte Liebe; im fünften die männliche Reife und das Nahen des Alters: im sechsten endlich das Erkalten der Leidenschaften, das Abnehmen der Kräfte und das höchste Greisen- alter ^). Wie aber Donat einstmals in der Reihenfolge, in welcher Virgil seine drei Werke schrieb, eine Beziehung auf die drei grossen Stufen der Menschengeschichte zu finden meinte, so ent- deckte man im Mittelalter darunter die von der damaligen Philo- sophie allgemein angenommenen drei psychologischen Kategorien des Lebens; das beschauliche Leben in den Bucolica, das empfin- dende in den Georgica und das thätige in der Aeneis^). Es gab kein Buch, keine Erzählung in jener Zeit, worin man nicht eine moralische oder philosophische Auslegung versucht hätte, und ganz allgemein war die Lehre von den vier Bedeutungen, die man in jeder Schrift finden könne: nämlich die „wörtliche", die „allegorische", die „moralische" und die „anagogische" Bedeutung. Es war wie eine fixe Idee, welche die Geister gefangen hielt, in jedem Dinge verborgene Beziehungen aufzusuchen; und so blieb denn die Allegorie, nach- dem sie zur Vereinigung zwischen Philosophie und poetisch religiösen Erfindungen des Alterthums gedient hatte, nachdem sie zwei strei- tenden Religionen zur Vertheidigung gedient hatte, als ein unter dem Rüstzeuge der Theologie am meisten gebrauchtes Mittel, das sich besser als für die alte Philosophie für die Dialectik des Christen- thums vei-wenden liess. Sie bildete einen wichtigen Bestandtheil iener zwar gebrechlichen doch nützlichen Brücke der Scholastik, die

1) Polycratic. VIII c. 24. Vgl. Schaarschmidt, Johannes Sares- beriensis, p. 97 f.

2) „Et sciendum est quod Vergilius considerans trinam vitam, sci- hcet, contemplativam voluptuosam et activam, opera tria conscripsit, scilicet Bucolicam per quam vitam contemplativam demonstrat, et Geor- gicani per quam vita voluptuosa intelligitur .... et Aeneidos per quam datur intelligi vita activa." Comm. in Verg. Aen. Cod. Bibl. S. Marc. Venet. cl. XIII (lat.) n. 61; col. 3. Dieselben Worte aus einem Codex der Wiener Bibliothek (14. Jahrb.) bei Zappert, a. a. 0. p. 16.

Ilo Virgil iu der Literatur bis auf Dante. «

von der mönchischeu Theologie zur Laieuspeculation hiniiber- führte. Die Allegorie blieb uicht nur ohne Widerspruch in der Auslegung der Schriftsteller wie in der Logik bestehen, sondern der Geist fühlte sich auch in seinen wirklich poetischen Schöpfungen ganz natürlich zur Allegorie hingezogen, wie wir aus der Divina C'omedia sehen. Dante spricht im Convito ausführlich von dieser Doctrin und unterlässt nicht, dabei Virgils zu gedenken. „II figu- rato che del diverso jirocesso delle etadi tiene Virgilio neli' Eneide". In demselben Buche erklärt er auch die allegorische Bedeutung der Aeneis fast ebenso wie Johann von Salisbury^); und noch in der Renaisi-ance haben so hervorragende Leute wie Leon Baptiste Alberti und Christophorus Landinus die allegorische Auslegung auf Virgil angewandt "^).

Neuntes Capitel. Obgleich sich iu den Schulbüchern einige Mj-then auf alle- gorische Weise nach dem Mythologicon des Fulgentius interpretirt finden, darf man doch nicht glauben, dass die allegorische Aus- legung der Aeneis in „De Continentia" in jenen Elementarschulen der Grammatik benutzt wurde, in denen Virgil das Hauptlesebuch war. Nach geheimen Bedeutungen und wunderbaren V/issenstiefen suchten doch in dem Dichter nur Leute, die nicht grade für die Schule schrieben, sondern über derselben stehen wollten ^j. Wenn der Lehrer derartiges hätte auseinander setzen wollen, so wäre er zu einem Specialcursus über Virgil verpflichtet gewesen. Er hätte die ganze Aeneis in einer Weise erläutern müssen, welche dem Zwecke des Elementarunterrichtes in der lateinischen Grammatik, wozu eben die Auslegung Virgils dienen sollte, widex'sprochen hätte. Es wäre interessant, die Schulen des Mittelalters, die Lehrer und ihren Unterricht kennen zu lernen und zu sehen, wie man dabei Virgil benutzte, und welche Vorstellung sich die Schüler von ihm machten. Aber auf diesem damals sehr bescheidenen

1) Convito, IV, 24, 26.

2) Christoph. Landini Disputation. Camaldul. lib. Ili, IV, (in P. Vergili Maronis allegorias).

3) Keiner wird die Worte des Fulgentius, die dieser an Virgil richtet, für ernst halten: „tantum illa quaerimus levia quae mensualibus sti- pendiis grammatici distrahunt puerilibus auscultationibus." (p. 742). Das ist nur eine Hyperbel mit der der Verfasser die tiefen Abgründe des Wissens bei Virgil sowie seine eigne Bescheidenheit davor aus- drücken will.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 111

Zweige der geistigen Thätigkeit liegt die dichteste Finsterniss des Mittelalters ausgebreitet, nnd eine nur schwache Idee davon geben uns die zahlreichen Denkmäler des Unterrichtes jener Epoche, die Grammatiken, sowie die Commentare zu Virgil und anderen Schriftstellern.

Sehr beträchtlich ist die Zahl der grammatischen Schriften, die nach dein Falle des Reiches während des Mittelalters entstanden sind und theils von Leuten, die durch ihre Thätigkeit auf anderen damals wichtigeren Gebieten sehr berühmt waren, theils von Grammatikern von Fach verfasst wurden. Die Schöi^fungen der einen sind so werthlos wie die der anderen, aber natürlich noch unbekannter, obgleich viel gebraucht, die der zweiten Klasse. Schriften dieser Gattung prätendiren so wenig Originalität, beschränken sich auf einen so handwerksmässigen Gebrauch der den geistigen Lebens- zielen der Zeit gegenüber so wenig in Betracht kömmt, dass sie oft gar keinen Verfassernamen haben. Bekannter sind schon die Autoren, die sich in der kirchlichen Literatur auszeichneten und bei dieser ihrer Thätigkeit sich aus irgend welchen Gründen ver- anlasst fanden, zur Grammatik herabzusteigen. Bei den wenigsten lässt sich, weil sonstige äussere oder innere Kennzeichen fehlen, das genaue Alter bestimmen. Viele sind gewiss nicht anonym erschienen, aber bei dem fortwährenden Copiren der Schriften für den Schulgebrauch sind die Namen der Verfasser verloren ge- gangen. Man betrachtete eben diese Bücher als gemeinsames Eigenthum und erlaubte sich daher nach Gutdünken Kürzungen, Erweiterungen und Veränderungen. Das dauerte bis zum Ende des Mittelalters. Im 13. Jahrh. bat Alexander von Villedieu in dem Prologe zu seinem Glossar in Versen, die Aenderangen oder Zusätze zu seinem Werke nur massig am Rande zu machen und beklagt sich dabei über diesen Missbrauch ^). Einen wirklich philologischen Zweck verfolgte man ja nicht ; nur der practische war noch massgebend. So schrieben Cassiodor, Isidor und die Gelehrten der irländischen und angelsächsischen Schule Beda, Aldelm, Clemens u. a., sowie diejenigen, welche durch Carl den Grossen aufgemuntert waren, Smaragdus, Alcuin und Rabanus Maurus, ihre Grammatiken nur für die Schulen. Auch die von der Scholastik beeinflussten Bücher über die Theorie der Grammatik haben vom 12. bis 15. Jahrh.

1) „Si quaecumque velit lector addat seriei Non poterit libri certus sie textus haberi."

S. Thurot, a.

112 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

keinen pliiloloyischen Werth. Bei diesen Zuständen war es schon ein Verdienst, wenn überhaupt etwas geschrieben wurde; um das ,wie' kümmerte man sich nicht. Wenn aber selbst hervor- ragende Männer von solcher Geistesarmuth waren, so erschrickt man bei dem Gedanken an die Barbarei und Unwissenheit, welche unter den Elementarlehrern vom gewöhnlichen Schlage herrschon musste.

Der allgemeine Gesichtskreis war in der That so niedrig, dass es den Lehrern ebenso schwer ward, etwas verständiges voi'zutragen, wie den Schülern, von den Lehrern etwas zu profitiren. So kürzt, beschneidet und vermindert man denn auf alle mögliche Weise den alten Stoft": „pro fratrum mediocritate", wie es bescheiden auf dem Titel eines fälschlich dem Augustin zugeschi-iebenen Donatcom- pendiums heisst^). Bei einem gleichen Werke, welches den Namen des Beda trägt, finden sich als Vorwort folgende charakteristische Bemerkungen-): „Das Buch des Donat ist von Vielen derartig verdoi-ben worden, indem Jedermann nach Gefallen aus eigener Erfindung oder von andern zufügte, Declinationen, Conjugationen \iud ähnliches einschaltete, dass nur die ältesten Handschriften den ursprünglichen Text darbieten. Damit mau aber nicht meint, dass wir eben so gehandelt haben, wollen wir hier bemerken, wesshalb wir die vorliegende Schrift verfasst haben. Alle wissen, dass Donat seine ,,Ars prior" für den Schulunterricht in Fragen und Antworten abgefasst hat, wie er es eben für die zu seiner Zeit vorhandenen Fähigkeiten für gut hielt. Da wir und andere nun aber so stumpf und unwissend geworden sind, dass wir meist weder fragen noch antworten können, so haben wir im Verhält- niss der Dürftigkeit unserer Ansprüche dieses Büchlein geschrieben, das zwar für mehr unterrichtete nicht nöthig, aber doch für die weniger fähigen nützlich sein wird."

Als Carl der Grosse noch vermittelst des ulcerali herrschenden Lateins die alten Studien wieder erweckte, kam allmälig das vul- gäre Neulatein auf, wie früher das vulq-äre Latein der nicht-

1) Ars S. Augustini pro fratrum mediocritate breviata, bei Keil, Gr. lat. V, p. 494.

2) Cunabula grammaticae artis a Beda restituta bei Beda, Opp. I, p. 2. Im Kataloge der Werke Beda's ist die Schrift nicht ver- zeichnet. Vgl. Wright, Biogr. brit. Ht. anglo-sax. per. p. 271 ff. Die von uns citirte Einleitung findet sich ohne Namen des Autors auch unter den Grammatici latini bei Keil (V, p. 325), dem das Vorhandensein der- selben bei Beda entgangen zu sein scheint.

Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 113

lateinischen, keltischen oder gennanischen Stämme. Und während die Cultnr immer tiefer sank, die Völker mit einander im heissesten Kampfe lagen, traten auch schon die Nationalitäten, die früher in der römischen Welt zu einer Einheit verschmolzen waren, in ihren vei'schiedenen Eigenthümlichkeiten wieder auseinander. Die Gram- matiker hatten daher doppelte Mühe, die dem Latein schon fast Ent- fremdeten zu diesem wieder zurückzuführen. Die Meisten von ihnen waren von nicht lateinischer Abkunft, hatten bereits ein eigenes Nationalbewusstsein und bekannten oft selbst, wenn sie lateinisch schrieben, ihre eigene, ihnen dabei sehr hinderliche Barbarei^). So herrscht denn in dem Wüste jener grammatischen Schriften eine Unwissenheit und Gedankenverwirrung, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Die Latinität ist roh, schwankend und ganz getrübt durch den Einfluss des „Usus"^), d. h. jenes barbarischen, besonders in der kirchlichen Literatirr angewandten Lateins, der ja von Leuten, die selbst unfähig waren, sich auf einen nicht kirchlichen Standpimkt zu stellen, sogar gi-ammatische Autorität zuerkannt ward^). Der Mangel eines festen Kriteriums

1) .... et inrisione dignum. arbitrabar .... romanae urbanitatis facuudia disertissimis rhetoribus, me poene de extremis Germaniae gen- tibus ignobili stir[)e procreatum .... inter talium dissona decreta viro- rum ex persona iudicis disputando judicare" Anon. Gramm, (cod. saec. XI) bei Keil, De quibusdam grammaticis p. 26. Ekkehart IV sagt in seiner Schrift, De lege dictamen omandi:

„Teutonicos mores caveas nova nullaque ponas; Donati puras semper memorare figuras." Vgl. Haupts Zeitschr. f. deutsch. Alt. N. F. II, p. 33. „proprietas autem eiusdem verbi latinis magis patet quam barbaris." Ebend. p. 52. Be- merkenswerth ist, welche Rücksicht Gozbertus (De Mirac. S. Galli bei Pertz, Mon. Germ. II, p. 22) nimmt: „si quidem nomina eorum qui scribendorum testes sunt vel fuenint, propter sui barbariem^ ne latini sermonis inficiant honorem, praetermittimus." Nicht so ElmoldusNi- gellus, welcher sich sehr unbedenklich in Versen wie die folgenden Luft macht (Carm, I, 373 ff.):

„Parte sua princeps Wilhelm tentoria figit Heripreth, Liuthard, Bigoque sive Bero, Santio Libulfus Hilthibreth atque Hisimbard Sive alii plm-es quos recitare mora est."

2) „Duplex est grammatica: nam est quaedam quae dicitur analogica et alia quae dicitm* magis usualis." S. Thurot, a. a. 0. p. 211.

3) Die Grammatik zu misshandeln vermochten christliche Schrift- steller schon in alter Zeit, wie ihnen die Heiden vorwarfen. Man sehe bei Arnobius (Adv. gent. I, 59), auf wie rohe Weise dieser dabei die Christen vertheidigt..

Coniparetti, Viigil im Mittelalter. g

114 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

bewirkte ein allgemeines Schwanken, und während alles auf Au- toritäten beruhte, hatte man sell)st gar keine einigerinassen rich- tige Vorstellung von diesen*). !Man tapi^te im Finsteren herum, und folgte den Worten jedes beliebigen Buches , ohne sich au Widersprüche zu kehi'en.

Es ist ein verzweifeltes Unternehmen, heute deiii Wege nach- spüren zu wollen, den man damals bei diesen Arbeiten einschlug. Wer sich aber eiuigermassen in dieser babylonischen Verwirrung zurecht gefunden hat, wird sich nicht wundern, wenn er aus der- selben jene monströse Erscheinung, die zugleich unser Gelächter wie unser Mitleiden erregen kann, ,,den Virgil von Toulouse"^) sich erheben sieht. Er ist vielleicht der einzige originelle Gram- matiker des Mittelalters, aber seine Originalität macht doch mehr den Eindruck einer grotesken Ironie. Gedanken, Thatsachen, Xamen von Autoren, Worte, Regeln, Theorien erfindet seine fruchtbare Phantasie ; er unterscheidet zwölf Arten Latein und setzt den Virgil in die Zeiten der Sindfluth. Und dieser merkwürdige ^Nfann, der die erste gi-ammatische Autorität sein will, nennt sich Virgilius Maro! Noch Niemand ist im Stande gewesen, seine Per- sr.nlichkeit ganz zu erklären: man bleibt in der That pei-jilex vor

1) Notker Balbulus, einer der vielen Mönche dieses Namens, von St. Gallen, wichtig für die Geschichte der Studien des Mittelalters, sagt von der Grammatik des Alcuiu in seinem „dialogus de grammatica": „Alcuinus talem grammaticam condidit ut Douatus, Nicomachus, Dositheus et noster Priscianus in eins comparatione nihil esse videantur." Vgl. Maitre, les t'coles episcopales et monastiques de l'occident etc. i Paris 186G) p. 220.

2) Einige Schriften dieses Autors hat zum ersten Male Mai, Class, auctores V, p. 1 ff. publicirt, andere Hagen, Anecdota Helvetica p. 189. ff. Ueber denselben ist ausser den Bemerkungen Mai 's und Hage ns (s. auch Jahrb. f. Phil. 1869 p. 732 f.) zu vergleichen Osann, Beitr. z. gr. u. röm. Litt. II, p. 131 ff.; Quicherat, Fragm. inéd. de litterat. latin, in der Bibl. de Técole des chartes II, p. 130 ff; Wuttke, Ueber die Aechtheit des Aethicus p. 49; Ozanam, La civilisatiou chrétienne cbez les Francs p. 420 ff. H aase, De medii aevi studiis philologicis p. 8; Keil, De quibusd. gramm. inf. aet. p. 5. Der Autor ist zu eigen- thümlich, als dass sich viele Gelehrten mit ihm ernstlich haben abgeben wollen. Es gibt noch keine vollständige Ausgabe seiner Werke. Mein Versuch für ein solches Unternehmen unbekannte Hdss. französischer Bibliotheken zusammenstellen, wurde durch die Ereigni.sse vorläufig unterbrochen. Das Alter jenes Virgil ist unbekannt. Man meint, dass er im G. Jahrhundert gelebt habe; ältere Hdss. als das 10. Jahrhundert kenne ich nicht.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 115

so thörichteu Phautasien, Einen Chaiiatan kann man ihn gar nicht nennen, wenn man den Umfang seines Werkes bedenkt, das von dem herrschenden Gedankenkreise völlig losgerissen ist. An eine Satire zu denken verbietet aber Art und Ton der Schrift. Man nennt ihn excentrisch oder verrückt, begi-eift aber dann nicht, dass sich im ganzen Mittelalter nicht nur keine einzige Stimme gegen ihn erhebt, sondern dass er wie andere Grammatiker in zahl- reichen Mannscrijjten verbreitet ist, ja dass Beda, der Irländer Clemens und Andere ihn im Ernste als Autorität citiren. Dazu kommt, dass sich in einer anonymen Schrift unter dem Titel „Hisperica famina"^) und in dem „Polyptychum" des Atto von Vercelli^) eine sonderbare aber conventionelle Latinität findet, die an jenen Virgil erinnert, der also vielleicht gar eine angesehene Schule gebildet hat. Wir stehen hier in der That vor einer rein pathologischen Erscheinung, welche uns den Zustand der Fäulniss zeigt, in dem sich die klassischen Studien im Mittelalter befanden. Nirgends entdeckt man da die Thätigkeit der Vernunft; eine krankhafte Schlaffheit, die jedes Wissen ertödtet, beherrscht das von phantastischen Träumereien erfüllte Gemüth.

Die ersten Grammatiker blieben immer Donat, Priscian, Cha- risius, Diomedes und die anderen Com]DÌlatoren der Verfallzeit. Um sie gruppirt sich die Schaar derer, die nur von ihnen zehrten oder neue Irrthümer hinzufügten ; wahrhaft erstaunlich ist die die Zahl derjenigen, welche den Donat abkürzten, umarbeiteten und commentirten. Die Confusion ging dabei so weit, dass man die Phantastereien des Grammatikers Virgil ganz wie den Donat und Priscian citirte^). Dieselbe Verwirrung offenbart sich auch bei der Exemplification der grammatischen Lehren und der Erklärung der Schulautoren. Noch immer herrscht Virgil dabei als erste Auto- rität und erster Classiker der Schule^). Aber zu den alten Schrift- stellern, welche man früher auf ihn folgen Hess, haben sich als Muster der Latinität Dichter und Schriftsteller von unterstem Range gesellt: Prudentius, luvencus, Sedulius, Avitus, Prosperus, Paulinus

1) Publicirt von Mai, Class, auctores V, p. 479 ff.

2) Publicirt von Mai, Scriptorum vett. nova coUectio VI, p. 43. ff.

3) Mau vgl. besonders die von Hagen, Anecdota Helvetica p. 82 ff. publicirte Grammatik eines Anonymus aus einem Codex des 10. Jahr- hunderts.

4) „Latinae quoque scientiae valde potatus rivulis, etiam proprietate partium aliquis eo melius nequaqnam usus est post Vergilium." Faric. Vit. Aldhelmi fol. 140, b.

8*

116 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

und Lactantius. Das begann freilicli schon zu Isidor's Zeiten. In dem Buche „De dubiis uominibus", dessen älteste Handschriften ins 9. Jahrh. zurück reichen^), werden nach Virgil Prudentius, lu- vencus und Varrò am meisten citirt^) ; dann folgen Paulinus, Lactantius, Sidonius u. s. w. Manchmal vereinigt ein Manuscript Glossen über Dichter, die in gar keiner Beziehung zu einander stehen, wie z. B. über Virgil und Sedulius "). Von den christlichen Dichtern wurde in den Schulen am meisten Prudentius gelesen, „Pi^dentissimus Prudentius", wie ihn Notker Balbulus nennt'). Er ist unter den Christen wol der bemerkeuswertheste Nachahmer Virgils. Von seinen zahlreichen Manuscripten stammt das eine sogar aus dem 6. Jahrh. Aber auch den Text der Viilgata erlaubt sich die fromme Barbarei jener Grammatiker neben den Dichtern und Kirchenvätern als Autorität für die Sprache zu citiren, weil er vom heiligen Geist geschrieben ist, „welcher mehr weiss als Donat"*).

Smaragdus ist so unwissend, dass er die beiden Citate des Donat „Eunuchus Comedia" und „Orestis Tragedia" für die Namen von zwei Schriftstellern nimmt. Vom Griechischen wissen diese Leute so wenig, dass sie nicht die gewöhnlichsten Ausdrücke zu erklären verstehen und oft ganz überraschende Etymologien er- finden. „Poema" soll nach Remigius von Auxerre (9. Jahrh.) „Positio" und „Emblema" „Habundantia" heissen^). Von den lächerlichen Fragen, die man aufwirft, den eingebildeten Schwierigkeiten, den sonderbaren Auflösungen kann man sich gar keinen Begrift' machen. Oft wird ein Autor an Stelle des andern

1) Gramm, lat. ed. Keil V, p. 5ü7 ff.

2) Gloss. in Vergilium et Sedulium, Ms. (9. Jahrh.) der Bibliotbek von Laon. Vgl. Catalogue génér. des Mss. des bibl. pubi, des départ. vol. I, p. 250.

3) „Si vero etiam metra requisieris, non sunt tibi uecessariae gen- tilium fabulae, sed habes in Christianitate prudeutissimum Pruden- tium de Mundi exordio, de Martyribus, de Laudibus Dei, de Patribus novi et veteris Testamenti dulcissime modulantem." Notker Balbulus, De iuterpretibus divinar, scripturar. c. 7, bei Pez, Thes. anecd. I, p. 9.

4) „In bis omnibus Donatum non sequimur, quia fortiorem in Divinis Scripturis auetoritatem tenemus." Smaragd, bei Thurot a. a. 0. p. 81 ; „de scala et scopa et quadriga Donatum et eos qui semper illa dixerunt pluralia non sequimur, quia singularia ea ab Spiritu Sanato cognovimus dictata." Ebend.

5) Vgl. Thurot, a. a. 0. p. 65 ü., werthvoll für die Keuntniss der Grammatiker des Mittelalters.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 117

citirt. Wohiu sich der Verstand dieser Leute verirren konnte, sieht man daraus^ wenn sie auch die Grammatik, wie oft geschah, mystisch erklärten und wenn z. B. ein Anonymus des 9. Jahrh. bei den drei Personen des Verbums an die Personen der göttlichen Trinität^), oder wie Smaragdus bei den acht Kedetheilen an die biblischen Zahlen denkt ^). Wie ernst man es aber mit dem Studium der Orthogi-aphie nahm, geht trotz der zahlreichen Abhandlungen über diesen Stoff, zur Genüge aus den vielen Mauuscripten hervor, in denen sich die vulgäre Aussprache des Landes, dem der Ab- schreiber angehörte, erkennen lässt'*').

Noch schlimmer ist die Verwirrung, Willkür und Unwissen- heit, die sich in den auf uns gekommenen Commentaren der Schriftsteller zeigt. Auch hier kam es nur auf ein hastiges Abkürzen, Umgestalten und Literpoliren an. Wie unter den Grammatikern Donat und unter den Dichtern Virgil die erste Stelle einnahm, so herrschte in der Schule unter den Auslegern Servius, der Trabant des grossen Dichters. Aber die Masse von Noten, die seinen Namen tragen, gehören doch zum grossen Theil erst dem Mittelalter an, das bis zum 15. Jahrh. nicht müde ward, seinen Text zu interpoliren und zu verderben.

6) Einige Beispiele bei Keil, De quibusd. grarum. lat. inf. aet. p. 16.

2) „Personae autem verbis accidunt tres. Quod credo divinitus esse insiDiratum, ut quod in Trinitatis fide credimus in eloquiis iuesse videa- tur." A non. Ms. saec. IX, bei Thurot, a. a. 0. p. 65.

3) „Multi plures multi vero i^auciores pai^tes esse dixerunt. Modo autem ceto universalis tenet ecclesia; quod divinitus inspiratum esse uon dubito. Quia enim per notitiam latiuitatis maxime ad cognitionem electi veniuut Trinitatis, et ea duce regia gradientes itinera festinant ad superam tenduntque beatitudinis patriam, necesse fuit ut tali oraculo latiuitatis compleretur oratio. Octavus etenim numerus frequenter in divinis Scripturis sacratus invenitur". Smaragd, bei Thurot, a. a. 0. p. 65.

4) Vgl. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins I, p. 17 ff. Bemerkenswerth für die barbarische locale Aussprache siud einige Ma- nuscripte der Seminarbibliothek von Autun, die aus der Zeit vor Carl dem Grossen herrühren uud mit den Inschriften von Autun zu ver- gleichen sind. Vgl. Cat. gén. des Mss. des bibl. pubi, des depart. I, n. 20, 21, 23, 24, 27, 107. Die religiöse Idee macht sich sogar bei der Orthographie geltend. Hildemar (9. Jahrb.) bemerkt in seinem Commen- tare zu der „Regula S. Benedicti": „sunt multi qui distinguunt volun- tatem per n attinere ad Deum et volumtatem per m ad hominem, voluptatem vero per p ad diabolum." Vgl. Schuchardt, a. a. 0. p. 4 f.

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Virgil iu der Litciai bis auf Dante.

à

und Lactaritius. Das begann freicli sclion zu Isidor's Zeiten. In dem Buche „De dubiis nnmiuibi'*, dessen älteste Handschriften ins 9. Jahrh. zurück reichen^), \ve13n nach Virgil Prudentius, lu- vencus und Varrò am meisten citirt" ann folgen Paulinus, Lactantius, Sidonius u. s. w. Manchmal ve inigt ein Manuscript Glossen über Dichter, die in gar keiner Be jhung zu einander stehen, wie z. B. über Virgil und Sedulius"). Voideu christlichen Dichtern wurde in den Schulen am meisten Prud^tius gelesen, „Pi^dentissimus Prudentius", wie ihn Notker Balbuis nennt ^). Er ist unter den Christen wol der bemerkenswert L te Nachahmer Virgils. Von seinen zahlreichen Manuscripten s, umt das eine sogar aus dem 6. Jahrh, Aber auch den Text er Vulgata erlaubt sich die fromme Barbarei jener Grammater neben den Dichtern und Kirchenvätern als Autorität für ò: Sprache zu citiren, weil er vom heiligen Geist geschrieben t, „welcher mehr weiss als Donat"*).

Smaragdus ist so unwissend , dass er die beiden Citate des Donat „Eunuchus Comedia" und „( estis Tragedia" füi- die Namen von zwei Schriftstellern nimmt. 3m Griechischen wissen diese Leute so wenig, dass sie nicht di gewöhnlichsten Ausdrücke zu erklären verstehen und oft ganz berraschende Etymologien er- finden. „Poèma" soll nach Tvenn us von AuxeiTe (9. Jahrh.) „Positio" und „Emblema" „Habi lantia" heisseu^). Von den lächerlichen Fragen, die man Aifwirft, den eingebildeten Schwierigkeiten, den sonderbaren -iflösungen kann man sich gar keinen Begriff machen. Oft wird -a Autor an Stelle des andern

1) Gramm, lai ed. Keil V, p. 51., ff.

2) Gloss. in Vergilium et Seduliui Ms. (9. Jahrh.) der BiblioJ von Laon. Vgl. Catalogue géiiér. dettss. des bibl. pubi, des vol. I, p. 250.

3) „Si vero etiam metra requisieri non sunt tibi ne^ tilium fabulae, sed habes in Chrislnitate prudentia tium de Mundi exordio, de Martyribn de Laudibus novi et veteris Testamenti dulci ime modul, Balbulus, De iuterpretibus divinar icripturar^ anecd. I, p. 9.

4) „In bis omnibus Donatum uou a^aii Scripturis auetoritatem tenemus." Smj „de scala et scopa et quadriga Dons pluralia non sequimiir, quia singuh dietata." Ebend.

5) Vgl. Thurot, a. a. 0. p. Grammatiker des Mittelalters.

Virgil in i

citirt. Wohin sich der Ver mau daraus^ wenn sie auch erklärten und wenn z. E drei Personen des Verbum^ oder wie Smaragdus bei Zahlen denkt ^). Wie en Orthogi-aphie nahm, geht diesen Stoff, zur Genüge denen sich die vulgäre Schreiber angehörte, erk».] Xoeh schlimmer ist heit, die sich in den : Schriftsteller zeigt. Aul Abküi-zen, Umgestalten Grammatikern Douat Stelle einnahm, so ht- Servius, der Trabant m von Noten, die seinen grossen Theil erst dem nicht müde ward, seiner

6) Einige Beispiele p. 16.

2) „Personae autem inspiratum, ut quod in tur." Anon. Ms. saec. 1

3) „Multi plnres iiv autem ceto universalis non dubito. Quia t: ' electi veniunt Trinii, saperam tenduntque 1. latinitatis compleretur^ divinis Scrii p. 65.

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latui- bis auf Dante.

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dieser Leute verirren konnte, sieht ranmiatik, wie oft geschah, mystisch

Anonymus des 9. Jahrb. bei den ie Personen der göttlichen Trinität"), acht Redetheilen an die biblischen ian es aber mit dem Studium der der zahlreichen Abhandlungen über leu vielen Manuscripten hervor, in nache des Landes, dem der Ab- ässf*J.

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zu interpolireu und zu verderben.

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lunt tres. Quod credo divinitus esse credimuB iu eloquiis inesse videa- 't, a. a. 0. j). 65. iores partes esse dixerunt. Modo t; quod divinitus inspiratum esse latinitatis maxime ad cognitionem :,'ia gradientes itinera festinant ad iam, necesse fuit ut tali oraculo id otenim numerus frequenter in Smaraerd. bei Thurot, a. a. 0.

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lateins I, p. 17 ff. ;he bind einige Ma- der Zeit vor Carl ver- I, n. der

113 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Ausser diesem so interpolirten Servius, Donat und Asper ent- halten die Bibliotheken noch viele andere mittelalterliche Commen- tatoren zu Virgil und andern Schriftstellern. Die grosse Geduld der heutigen Philologen hat es indessen noch nicht vermocht unter dieser enormen Masse von Erklärungen das heraus zu suchen, was möglicher- weise aus alten Quellen geflossen ist. Die von Hagen herausgegebenen Berner Schollen \) machen es wahrscheinlich, dass sich noch manches Interessante darunter linden Hesse. Aber in all diesen Werken des Mittelalters zeigt sich eine derartige Unwissenheit, dass man öfters verwundert fragen möchte, ob der Aiitor bei Verstände war. Was soll man dazu sagen wenn z. B. „efficiam" mit „effigiem, ima- ginem" erklärt wird^), oder wenn man an Stelle des „Quo te, Moeri, pedes" liest „Quot Emori pedes", imd darin eine Anspielung auf die vier Füsse eines arabischen Pferdes mit Namen Emoris ge- funden wird^)? Ein anderer beginnt seinen Cominentar zu den Bucolica mit diesen Worten: „Zu jener Zeit, als Julius Caesar der Herrscher des Reiches war, herrschte Brutus Cassius über dio zwölf Gaue der Etrusker; es brach aber ein Krieg aus zwischen Caesar und Brutus Cassius, bei dem sich Virgil befand, und Brutus ward besiegt. Darauf wurde Julius mit einem Schemel er- schlagen"*)". In einem andern Commentar, den ich in einer Hand- schrift zu Venedig fand, werden die auch von Servius besprochenen drei Stilarten folgendermassen unterschieden: „Der erhabene Stil ist der, welcher von hohen Personen handelt, von Königen, Fürsten, Baronen, das ist der Stil der Aeneis. Der mittlere Stil handelt \'>m Miilelbtande und zeigt sich in den Georgica. Der niedrige Stil handelt von den Personen untersten Ranges z, B. den Hirten; dies ist der Stil der Bucolica'')." Ein Commcntator des Juvenal

1) Scholia bernensia ad Vergili Georgica atquc Bucolica ed. Herrn. Hagen Lips. 1867. (Aus den Supplementen zu den Jahrb. i. rhil.) vgl. p. 696 tf.

•2) Ad. Ecl. Ili, 51, Efficiam „pro effigiem, imaginein" Scholl. Bern, p. 769.

3) Ad Ecl. IX, 1: ,,alii dicunt: Emoris, equus velocissimua Sara- cenorum, quem interdum accipi potest: Quod Emori pedes, id est, utinam quattuor ut nie in urbem cito veherent ad accusandum Cladium" (sicl) Seholl. Bern. p. 827.

4) Vgl. Catal. gén. des Mss. des bibl. pubi, des dep. I, p. 428; und II aase, De medii aevi studila philologicis, p. 7.

Ò) „Stilus in hoc opere est sublimis .... nam est raoncndum quod triplex est stilus, scilicet sublimis, mediocris, et infimus. Sublimis stilus est qui tractat de sublimibus sive maxirais pcrsonis et rcgibus, principi-

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 119

strozt förmlich von derartigen Unsinnigkeiten*): „Elenchus", sagt ' er, bedeutet Titel des Buches, und kommt vom gi'iechischen ,,elcos" (sie!), welches Sonne heisst, „weil der Titel sein Licht wirft auf die ganze Schrift, so wie die Sonne die ganze Welt erleuchtet;" „Pro- vincia" hat adverbiale Bedeutung und heisst „schnell", ausserdem bedeutet es auch „Vorsehung, Gegend und Vaterland;" „circenses" ist abzuleiten von „circum enses, weil auf der einen Seite der Strom floss, man auf der andern die Schwerter aufstellte und in der Mitte die Wettläufe stattfanden '^)". Viele Iri-thümer erklären sich aus der Thatsache, dass das Latein nicht mehr in Gebrauch war und die Volkssprache die üeberhand bekam. In Ländern, wo man noch lateinisch oder neulateinisch sprach, wäre es nicht möglich gewesen, wie jener wol deutsche Scholiast des Juvenal thut^i, „umbella" für eine Art von grünen Steinen zu nehmen, oder zu sagen, dass „asparagus" ein kleiner Fisch oder eine Art von Pilz sei. Dass den nicht latemischen Völkern das Latein sehr sauer wurde, beweisst, dass man sich vom 7. Jahrh. an, an Stelle des lateinischen in den Glossen des keltischen und germa- nischen bediente; für die lateinischen traten jetzt keltische, angel- sächsische und althochdeutsche ein, die eben dadurch für die Kennt- niss jener Sprachen sehr wichtig sind und sich bei der Bibel, den kirchlichen Schriftstellern, sowie klassischen und chi-istlichen Dich- tern finden'^). Unter letzteren ragt besonders Prudentius hervor, von dem Kaumer 21 Handschriften mit althochdeutschen Glossen er- wähnt"). Unter den Klassikern ist natürlich Virgil der au Glossen

bus et barouis, et hie stilus in Aeneida servatur; mediocris stilus est qui de mediocribus personis tractat, et servatur in libro Georgicorum; infimus stilus vel humilis .... est qui tractat de iufimis persouis, et quia pastores sunt inferiores personae hie stilus in libro Bucolicorum servatur." Comment. in Verg. Aen.; cod. (saec. XV) bibl. S. Marci, lat. class. XIII, No. 61, col. 6.

1) Bei C. Fr. Hermann, De scholiorum ad luvenalcm genere de- teriore, Gotting. 1849, p. 4 ff. s. Wagner, De lunio Philargyrio II, 11 ff.

2) Diese Etymologie von „circenses" findet sich auch bei Isidor, Orig. XVIII, 27 und bei Cassiodor, Variar. IV, 51.

3) Vgl. Hermann, a. a. 0. p. 4.

4) Das Buch Aldhelm's, ,,De laude virginitatis", voll von Graecismen und eigentlich für Frauen geschiieben , ist am häufigsten im angelsäch- sischen glossirt, dann die Evangelien, Psalmen und Dichtungen des Pru- dentius, Prospei'us und Sedulius; vgl. Wright, Biogr. Brit. lit. ; Anglo- Saxon period, p. 51.

5) „Die Einwirkung des Christenthums auf die althochdeutsche Sprache." p. 104 ff., p. 222.

120 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

reichste, es gibt sogar alte lateinisch-deutsche Wörterbücher, die uur aus Virgil-Glossen fabricirt sind^). Ein solches Verfahren musste schliesslich zu Uebersetzungen führen. Wir übergehen hier die älteste gothische Bibelübersetzung, welche von einem beson- deren Standpunkt betrachtet sein will. Der König Alfred, der Augustus der Angelsachsen, übersetzte im 9. Jahrh. den Boethius und „De cura pastorali" des Papstes Gregor ins angelsächsische. Andere mussten ihm aber zu diesem Zwecke den Text erst in eine einfachere und klarere Gestalt verwandeln. An den Virgil hat er sich nicht gewagt, obgleich er ihn als Vater der lateinischen Dichter und Schüler des Homer betrachte''). Der Deutsche Notker übersetzte im 10. Jahrh. die Bucolica, Marcianus C'apella, Boethius und andere Autoren'^). Mit diesen damaligen Modeschriftstellern also theilt Virgil die Ehre der ersten Uebersetzungen.

Noch weniger als von der Grammatik ist von der Rhetorik des Mittelalters, soweit sie sich an die klassische Rhetorik anschliesst, zu sagen. Sie wird zwar als zweite unter den sieben Künsten in Ehren gehalten, aber hat nichts mehr von jenem Glänze, den ihr selbst in der Verfallzeit noch Ennodius, Capella u. A. liehen. Auch hier fehlt es nicht an Commentaren, Umarbeitungen und Com- pendien alter Werke, aber sie sind nicht so zahlreich wie die gi-ammatischen Schriften. Von der alten Rhetorik ist nur noch der Schematismus übrig, die Terminologie, einige Definitionen und beson- ders jener auf die Tropen und Figuren bezügliche Tlieil, der schon im

1) Ueber deutsche Virgilglossen vgl. Wackernagel in Haupt's Zeitschrift für deiitsche Alterth. V, 327; Steinmeyer, De glossis qui- busdam Vergilianis, Berolini 1869, und desselben: Die deutschen Virgil- glossen in Haupt's Zeitschr. N. F. III, 1870, p. 1 flf. Einige keltische Glossen publicirt von Hagen, Scholl. Bern. GDI.

2) „Libros Boethii .... planioribus verbis elucidavit (episc. Asscr) .... illis diebus labore necessario, hodie ridiculo. Sed cnim iussu regis factum est ut levius ab eodem in anglicum transferreutur sermoncm;" Wilh. Malmesb. p. 248.

3) ,,Theah Omerus se goda sceop, the mid Crecmn seiest was; se waes Firgilies lareow, se Firgilius waes mid Laedenwarum seiest." Homer, der gute Dichter, der der beste unter den Griechen war, er war Virgils Lehrer, dieser Virgil war unter den Lateinern der beste. Alfrcd's Boethius ed. Cardale p. 327^ Wright, Biogr. brit. lit. ; Anglo-sax. per., 56.

4) Ueber die alten Uebersetzungen ins althochdeutsche s. Räumer, Die Einwirkung des Christenth. etc. cap. 2.

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 121

Altertbum Elietorik und Grammatik verband ^). Die christliche Redekunst und der Stil der christlichen Schriftsteller hatten ihre eigne Natur und ganz besondere Hilfsquellen. Wer dies erwägt, wird sich nicht wundern, wenn die Abhandlung Alcuin's über die Rhetorik^) mit den Definitionen der Klassen der Eede beginnt, unmerklich in Bestimmungen der Dialektik übergeht und ganz mo- rahsch mit einer Keihe von Definitionen endet, die sich auf die Tugend beziehen.

Bei den Gedanken und Zwecken der christlichen Schriftsteller war der Gebrauch der heiligen Bücher bei der Exemplification für die Rhetorik gewiss passender als für die Grammatik. In der That findet auch bei der Rhetorik ganz dasselbe Dui'cheinander- mischen von Autoren wde bei der Grammatik statt ^j. Aber trotz- dem ist die Anwendung von Beispielen aus den heiligen Schriften verhältnissmässig nicht so gross, wie man erwartet und wie es manchem Zeloten erwünscht gewesen wäre. Das kam daher, weil das grammatische Studium so eng mit dem rhetorischen zusammenhing und für das Profanstudium überhaupt die eigent- liche Basis war. Abgesehen von dem ganzen alten Apparate der Terminologie, der Definitionen, Eintheilungen u. s. w. musste schon die Autorität der Alten gewahrt bleiben, weil man einerseits immer noch einiges Interesse für diese Studien hatte, anderer- seits es aber au Energie fehlte, dieselben von Grund aus zu re- formiren*).

1) Sie ist ein Theil der „scientia sermocinalis", welche das ganze Trivium, also Logik, Rhetorik und Grammatik umfasst. Ueber die Be- ziehungen der Grammatik zur Rhetorik im Mittelalter, besonders zur Zeit der Scholastik, vgl Thurot, a. a. 0. p. 470 ff.

2) ,,Disputatio de rhetorica et de virtutibus, sapientissimi regis Ka- roli et Alcuini Magistri" ; wiederabgedruckt bei Halm in den Rhetores la- tini minores p. 5 2 3 ff.

3) „Cognoscite ergo, magistri saecularium litterarum, hiuc (ex Scrip- tura scilicet) Schemata, hinc diversi generis argumenta, hiuc definitiones, hinc disciplinarum omnium profluxisse doctrinas, quando in bis litteris posita cognoscitis, quae ante scholas vestras longe prius dieta fuisse sen- titis.'' De schematib. et tropis apud Cassiodor. (Introd.), in Cassio dori Opp. (Migne) n, 1270. Vgl. auch die oben Seite 75. citirte Anmerkung Beda's.

4) In einem wol aus Gallen herrührenden Tractate über die Rhetorik (in einem Codex des 11. Jahrh.) heisst es sehr bezeichnend für die trau- rigen Umstände in denen sich jenes Studium im Mittelalter befand: ,,01im disparuit, cuius facies depingenda est, et quae nostram excedit memoriam, eam qualis erat formare difficile est, quia multi dies sunt ex quo de-

122 Viigil in der Liteiatuf bis auf Dante.

Virgil behielt auch iu der Rhetorik jetzt noch sein altes An- sehn, das sich von den alten in den Schulen gelesenen Schrift- stellern herschrieb, wenn anch das Uebergewicht Cicero's weniger (ielegenheit gab, den Dichter in den Rhetorschnlen zu citireu. Bei den engen Beziehungen jedoch zwischen Grammatik und Rhetorik, die von demselben Lehrer vorgetragen wurden, musste sein Buch natürlich auch für die Rhetorik höchst wichtig sein. Gerbert hielt wie die Rhetoren der Yerfallzeit das Studium der Dichter Seitens der Rhetoren zum Zwecke des guten Ausdrucks für durcho.us nöthig und führte seine Schüler in die Rhetorik ein, indem er ihnen N'irgil, Statins, Terenz, Juvenal, Persius, Horaz und Lucan erklärte'). In einigen Handschriften findet man den Theil der Schrift des Maoroliius, der sich auf die rhetorischen Vorzüge Virgils bezieht, neben der Biographie des Dichters, die man dem Donai zu- schreibt^). Jener Abschnitt, der gleichsam ein Compendium der Rhetorik ist, muss im Mittelalter also viel benutzt worden sein, und auf ihn bezieht man auch einige merkwürdige Worte über Virgil, als einen Dichter, der im Kleinen die Summe der Rhetorik vereinige, in dem „fior di retorica" des Fra Guidotti^).

sinit esse. Oportcret eaui immortalem esse, cuius amore langueni ita homines, ut abstractam tam diu et mundo mortuam resurgere velint. Ubi Cato, ubi Cicero, domestici eins? nam si illi redireut ab inferis, haec illis ad usum scrmouis famularetur, sine qua nihil eis certuni constabat, qiiod ventilandum esset pro rostris. (,!uid antom est quod in suam non rodigatur originem? Naturalis cloquontia viguit, quousque oi per doctri- nam filia Ruccessit artificialis , quac deinde rhetorica dieta est. Haec postquani autiquitate temporis extincta est, illa iterum revixit; unde hodieque plurimos cernimus qui in causis solo naturali instiiictu ita ser- mone callent, ut quae velint quibuslibet facile suadeant, nee tarnen re- gulam doctrinae uUam requirant." Herausgegeben von Docen in den hJeiträgcn zur Gesch. und Literatur des Aretin, VII, 283 ff. Vgl. den von Wackernagel, Zeitschr. f. deutsch. Alterth. IV, p. 463 478 publi- cirten Text der Öangaller Rhetorik.

1) ,,Cum ad rhetoricam suos provehere vellet, id sibi suspectum erat, quod sine locutionum modis, qui in poetis discendi sunt, ad oratoriam ai'tem pervenir! non queat. Poetas igitur adhibuit, (piibus assuescendos arbitrabatur. Legit itaque ac docuit Marouem et Statiuni Terentium- quc poetas, luvenalem quoque ac Pei'sium Horatiumque satiricos, Lucanum etiam historiographum. Quibus assuefactos locutionumquc niodis compositos, ad rhetoricam transduxit." R i c h e r. Biet. lib. III, 47.

2) So in einem Ms. der Nationalbibliothek zu Florenz, geschrieben von Pier Cennini.

3) .... e come conteremo per lo innanzi del versificato che fece il grande poeta Virgilio nel tempo che fu Attaviano imperadore Augusto,

Virgil in dfx Litrratnr bis auf Dante. 123

VirgilÌ!?che Reminiscenzen sind bei allen Prosaikern des Mittel- alters häufig, bei Orosius im 5.*) wie bei Liutprant im 10. Jahrh.^). Aber die Rhetorik hatte besonders im Anfange des Mittelalters einen grossen Einfluss auf die Poesie und rief Schöpfungen hervor, die sich speciell auf Virgil beziehen; diese müssen wir nunmehr betrachten.

Zehntes Capitel.

Was wir von dem Leben Virgils wissen, ist durch die Gram- matiker und Rhetoren auf uns gekommen und findet sich besonders in den für die Schulen bearbeiteten Virgilcommentaren ; denn es war ein alter Gebrauch, der Erklärung der Schriftsteller in den Schulen einige Notizen über ihr Leben vorauszuschicken. Was in diesen Biographien noch aus der Zeit der ersten Kaiserherrschaft stammt, hat jedoch für unseni Zweck weit weniger Werth als das, was aus der Zeit des Verfalles und des Mittelalters herrührt. Wir hielten es deshalb für gut die biographischen Notizen über Virgil erst hier zu besprechen und das Ganze der Ueberlieferung vom Standpunkte des Mittelalters aus zu betrachten, nachdem wir die Wandlungen seines Ruhmes im Kreise der Rhetorik und Gram- matik durch mehrere Epochen hin begleitet haben.

Ln Verhältniss zu dem Range, den Virgil in der Literatur und Schule einnahm, ist über sein Leben unter allen lateinischen Dichtern das Meiste geschrieben worden. Eine Menge authentischer Nachrichten v/erfen ein helles Licht auf seine historische Persön- lichkeit, was um so beraerkeuswerther ist, als jene nicht wie bei Ovid aus den Werken des Dichters selbst, sondern aus biographischen Docu- menten, die sich zugleich mit dem Ruhme des Dichters verbreitet haben, geschöpft sind. In seinen Werken hat Virgil selten Ge- legenheit, von sich selbst zu sprechen. Thut er es doch dann und wann, so geschieht dies, wie in den Bucolica, nur auf in-

figliuolo adottivo di Giulio Cesare; nell' imperio della sua dignitadc nacque Cristo glorioso salvatoi-e del mondo: il quale Virgilio si trasse tutto il costrutto dello intendimento della rettorica, e più fece chiara dimostranza, sicché per lui possiamo dire che l'abbiamo, e conoscere la via della ragione e la etimologia dell' arte di rettorica; imperocché trasse il grande fascio in piccolo volume e recollo in abbreviamento," Frate Guidotto, Fiore di rettorica, bei Nannucci, Manuale etc. IT, 118.

1) Vgl. Hörne r, de Oros. vii p. 117 f.

2) Vgl. Köpke, Vit. Liudprand. p. 138.

124 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

directe uud verborgene Weise, und ohne die betreffenden Bemer- kungen der Coinmentatoren gelänge es uns kaum die Anspielungen zu entdecken. Natürlich haben schon die Zeitgenossen über einen Mann, der iu so exceptioneller Weise die Aufmerksamkeit auf sich zog, gar viel geschrieben^), z. B. seine Freunde Varius und Melissus^). Auch Andere, die nur aus den Aeusserungen solcher, die ihm nahe gestanden, schöpfen konnten, haben Specialschriften über sein Leben hinterlassen, ^vie Asconius Pedianus, der sein Buch gegen die Neider des Dichters schrieb, zu einer Zeit als er noch das giltige Zeugniss von Zeitgenossen über Virgils Leben und Charakter vorbringen konnte. Noch in den letzten Regierungs- jahreu des Tiberius hatte der neunzigjährige Seneca, dem die aus- gezeichnetsten Männer der Augusteischen Zeit bekannt waren, von Virgil erzählt^); und w^ie es immer bei so berühmten Persönlich- keiten zu sein pflegt, mussten sich auch hier mündlich über den Dichter viele wahre und falsche Anecdoten fortpflanzen. Die münd- liche üeberlieferung können wir bis ins 2. Jahrh. verfolgen'^). Eben in dieser Zeit verfasste Sueton seine gelehrte historisch-lite- rarische Compilation „De viris illustribus", worunter sich auch ein Abriss über das Leben Virgils fand. Die Grammatiker bedien- ten sich derselben später, wenn sie für ihre Commentare bio- graphische Notizen zusammenstellen wollten. Heute sind nur noch Fragmente davon erhalten; aber auch das Meiste, was wir über Virgils Leben wissen, besonders aus der grössten Biographie Vir- gils, welche den Namen des Aelius Donatus^) trägt, (weil sie

1) ,, Amici familiaresque P. Vergili in iis quae de iugenio moribusque eins memoriae tradiderunt." Gell. XVII, 10.

2) Vgl. Quintilian X, 3, 8; Donat. Vergib Vit. p. 58, 5; Kibbeck, Prolegg. p. 89.

3) ,,Et Seneca tradidit, lulium Montanum poetam solitum dicere iuvolaturum se Vcrgilio quaedam etc." Donat. Vit. Verg. p. 61. Unter dem, was von Seneca dem älteren auf uns gekommen ist, findet sich die Stelle nicht.

4) ,,Nisus grammaticus audisse se a senioribus aiebat etc." Donat, Vit. Verg. p. 64.

5) Uebcr die Schriften, die den Namen des Donat tragen, herrscht unter den Gelehrten viel Verwirrung. Die grössere erhaltene Biographie gehörte zu dem heute verlorenen Commentare des Aelius Claudius Donatus und nicht zu dem des Tiberius Claudius Donatus, wie Fabricius, Gräfenhan (Gesch. d. klass. Philos. im Alterth. IV, p. 317) u. a. meinten; Reiff erscheid a. a. 0. p. 400 f. hat dies klar nachge- wiesen und trotzdem findet sich der Irrthum wieder bei Teuf fei (Gesch. d. röm. Litt. p. 898).

Virgil in der Literatur bÌ8 auf Dante. 125

nämlich dessen im 4. Jahrli. verfasstem Virgilcommeutar voraus- ging) weist auf dieselbe Quelle zurück^).

Der Hauptbestand der uns erhaltenen Notizen ist kein Special- wer-k über das Leben des Dichters, sondern gleichsam der com- pendiose Artikel eines historisch-literarischen Repertoriums. Douat hat den Sueton wörtlich abgeschrieben, und in dem echten Theil der Biographie, wie er sich in den ältesten imd besten Handschriften findet, erkennt man deutlich den trocknen, kalten Stil Suetons und dessen Art, Anecdoten ohne das Bindemittel eigener Reflexion aneinander zu reihen. Obgleich man fühlt, dass es sich um einen ganz besonders verehrten imd berühmten Dichter handelt, ist die Darstellung der Biographie doch rein thatsächlich und realistisch; von jener Wärme, mit der man sonst über Virgil zu reden pflegte, zeigt sich nichts. Genau denselben Ton schlagen auch die Kaiserbiographien Suetons an. Auch jener kleine, sicherlich echte

1) Ich citire die BiograiDhie nach der Ausgabe von Reif f er scheid, der mit Recht den echten Theil derselben dem Sueton zugeschrieben hat: „Suetoni praeter Caesarum libros reliquiae"; Lips. 18G0 p. 54 ft". Unentbehrlich für Kritik und Geschichte dieser alten Biograi:»hie ist die Ausgabe von Hagen (Scholia Bernensia ad Vergil. Bucol. et Georg. p. 734 &., in der auch der auf die bucolische Poesie bezügliche Theil, der unmittelbar auf die Biographie des Donat folgt, hinzugefügt wird. Die „Fl. (lies: Ael.) Donatus L. Munatio suo salutem" übersehriebeno Vorrede Donats vor der Biographie hat Wölfflin, Philologus 18GÜ, p. 154 herausgegeben. Wölfflin, Baehr p. 3G7 und andere hielten den Text irrthümlich für eine Vorrede zur Biographie, was, wie Baehr be- merkt, wegen der Worte „de multis pauca decerpsi" mit der Ansicht, dass dies alles Sueton entlehnt sei, nicht stimmen würde, aber es genügt, jene Schrift aufmerksam zu lesen, um zu bemerken, dass sie uicht eine Vorrede zur Biographie allein, sondern zum ganzen Commentare bildet. Auf die Erläuterungen des Commentars bezieht sich doch gewiss das, was Donat von seiner eigenen Ansicht sagt, die er der Meinung der An- dern beifügte (admixto sensu nostro), und ebenso kann man auch nur die Schlussworte darauf beziehen: „si euim haec grammatico, ut aiebas, rudi ac nuper exorto viam monstrant ac manum porrigunt, satis fecimus iussis." Aus dieser Vorrede wird ersichtlich, dass das ganze Werk Donats, trotz seiner eigenen Hinzufügungen wesentlich Compilation war. Wie Macrobius referirt er genau die Worte der Schriftsteller ohne ihren Namen zu nennen : „Agnosces igitur saepe in hoc munere conlatitio sinceram vocem priscae auctoritatis. Cum enim beeret usquequaque nostra interponere, maluimus optima fide, quorum res fuerat eorum etiam verba servare." Das findet seine Anwendung auch in der dem Sueton entlehnten Virgilbiographie. Ueber die Hdss. und den Text der Biographie vgl. Hagen, a. a. 0. p. 676 ff. 683 ff.

12C Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Tlieil der Biographie, der die wunderbaren Vorzeichen von des J)ichters zukünftiger Grösse erwähnt, geht wol auf Sueton zurück, der dabei die mündliche Ueberlieferung oder Aufzeichnungen älterer Schriftsteller benutzt haben wii-d; dahin gehört z. B. der Ti-auni der Mutter, dass das Kind nicht schrie, als es geboren ward, sowie die Erzählung von dem bei seiner Geburt eingeptianzten Pappel- zweige, der schnell eine grosse Höhe erreichte ^). Anecdoten solcher Art, wie sie Sueton in allen Kaiserbiographien vorbringt, sind eigentlich im ganzen Alterthume zu gewöhnlich, als dass man sie als besonders charakteristisch für den Ruhm des Dichters ansehen könnte; dennoch darf man sie nicht mit den fabelhaften Erzäh- lungen des Mittelalters verwechseln. Vielleicht ist nicht alles, was Sueton über Virgil geschrieben hat, von Donat wiedergegeben; jedenfalls fand dieser Theil des Commentars mehr Beifall als alles Uebrige und erhielt sich als ein besonderes Werk. Man las ihn (las ganze Mittelalter hindurch und benutzte ihn zu zahlreichen kleinen Biographien, die sich neben den Commentaren in den Vir- gil - Handschriften finden; und man kann geradezu sagen, dass er in der literarischen Ueberlieferung die Vorstellung von der histo- rischen Persönlichkeit des Dichters am Leben erhalten hat').

1) Interessant und nicht unglaublich ist das jener Notiz beigefügte Factum: „quae arbor Vergili ex eo dieta atque etiam consecrata est, summa gravidarum ac fetarum religione et suscipientium ibi et rsolven- tium vota." Donat. Vit. Verg. p. 55.

2) No. 158 der Authologia latina (R.) ist ein Epigramm als Unter- sclirift unter einem Bilde des Dichters, es ist aber merkwürdig, dass ima bei dem Ruhme des Dichters kein einziges ganz treues Abbild desselben geblieben ist. Seine Büsten waren in öfleutlichen wie Privatbibliotheken (vgl. Sueton IV 34) bis in die Verfallzeit hinein sehr gewöhnlich; von einer auf ein Abbild Virgils sich beziehenden Inschrift des 5. Jahrb. weiter unten. Bis in die Zeiten der Renaissance hinein dauerte die Sitte der Alten, Virgilhandschriften mit dem Bildnisse des Dichters zu schmücken (vgl. Martial XIV 186). Das älteste ist im Codex Vatieanus (4. oder 5. .Tahrh.) erhalten. Aber bei diesen Miniaturen machte sich sehr bald die Willkür geltend, irgend einen Schriftsteller abzubilden; auch die Miniatur des Vaticanus bietet einen sehr wenig bezeichnenden Ty- pus dar. Im Mittelalter bekümmerte man sich noch viel weniger um Treue des Portraits, und die zahlreichen Bilder des Dichters in den Handschriften sind ganz verschieden, willkürlich und phantastisch. Bis- weilen trägt der Dichter einen langen Bart, manchmal keinen, öfters liat er dichtes langes Haupthaar, dann ist er wieder kahlköpfig, trägt eine phiygische Mütze u. s. w. Ich habe unter den vielen, die ich ge- sehen habe, auch keine einzige ideale Uebereinstiramung finden können. Die verschiedenen Handschriften des Dante mit dem Bildnisse dieses

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 127

Im Allgemeinen findet man in keiner prosaischen Biographie jene Begeisterung, mit der wir sonst von Virgil zu hören gewohnt sind. Sie haben wol alle das Bestreben, in dem Dichter etwas besonders Hen'orragendes zu erkennen, sind jedoch im ganzen sehr einfach und ohne subjective und rhetorische Färbung. Das kam daher, weil sie keine eigentlichen Biograi^hien , sondern nur Notizensammlungen sind mit dem Zwecke, beim Unterricht als Einleitung zu den Commentaren zu dienen, deren schwuuglosen Ton sie daher ebenfalls haben. Donat hatte gewiss keine Ur- sache, als er sein Buch für die Schule schrieb, die trockenen Nachrichten Suetons durch die eigene Begeisterung aufzufrischen, noch weniger aber thaten es die, welche Auszüge aus dem Donat gemacht haben. Dasselbe gilt auch von den kurzen biographischen Notizen, welche den Commentaren des Probus ^J und Servius") vorausgehen. Wenn sich nun aber die hyperbolische Begeisterung, die sonst die ganze Literatur für Virgil kund gab, nicht auch in jenen schmucklosen Compilationen zeigte, so war sie gleichsam das Ferment, in Folge dessen man zu den historischen Notizen eine Menge von irrthümlichen, erfundenen oder verdrehten That- sachen hinzufügte, von denen sich einige auch in den Text der

Dichters, zeigen ja auch, wie wenig man sich an die Aehnlichkeit des Portraits kehrte, obgleich doch Dante der Zeit nach den Malern viel näher stand. Zwei Miniaturen mit dem Bildnisse Virgils, unter denen eine von Simone Memmi herrührt, hat Mai herausgegeben: „Virgili! Maronis interpret. vet." Medici. 1818. Die Miniatur des Vaticanus ist öfter reproducirt worden. Man vgl. Visconti, Icou. rom. p. 385 fl'. sowie über die Büste von Man tua Labus, Museo di Mantova I, p. 5 ff'.; Carli, dissert. sopra un antico ritratto di Virgilio, Mantova 1797. Mai nardi Dissert. sopra il Busto di Virgilo della R. Accad. di Man- tova. Mani 1833; Raoul Rochette im Journal des Savants, 1834 p. 68 ff. Beschreibung Roms^ 11,2, p. 345 f.; Müller, Handb. d. Archäol., p. 734.

1) Ueber jene kurze auch von Reifferscheid (Suet. reliq. p. 52 f.) publicirte Biographie vgl. Steup, De Probis grammaticis, Jenae 1871, p. 120 ff". Er meint, dass sie zu einem Commentare des jüngeren Valerius Probus gehört habe.

2) Reifferscheid (Suet. rei. p. 398 f.) glaubt, dass die den Namen des Servius tragende Biographie nicht diesem angehöre, und dass dessen eigne, die er selbst in der Einleitung zu den Bucolica citirt, verloren sei. Gegen diese, von Bahr (R. L. p. 36G) und Teuffei (R. L. p. 389) acceptirte Ansicht hat Hagen (Schob Bern. p. G82) gute Gründe vorge- bracht. Er bemerkt, dass sich jene Biograi^hie des Servius auch in einer Berner Hds. aus dem 8 9. Jahrhundert findet.

128 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Biographie eiugescblicheu haben. Das ]\Iittelalter drückte auch dieser seinen besonderen Stempel auf, und eben aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, gewinnt sie für uns ein besonderes In- teresse ^).

Jenes Eindringen falscher Elemente in die Biographie geschah ireilich nicht so, wie sich die Meisten vorstellen, wenn sie an die Sage vom Zauberer Virgil denken und meinen, dass die Inter- polationen in den Biographien Virgils davon herrühren. Dieser Irr- thum beruht darauf, dass man zwei von einander ganz verschie- dene Dinge, näiiüich die Volkssagen und die literarischen fabelhaften Ueberliefemugeu über Virgil miteinander vermischt hat. Insofern

1) Die den Namen des Donat tragende ]3iograi)hie hat in einigen Handschriften von denen die ältesten nicht über das 14. Jahrh. hinaus reichen, einen Zuwachs von thörichten und nichts weniger als authen- tischen Notizen erhalten. Ohne diese Interpolationen kommt sie in Handschriften vor, die bis ins 9. und 10. Jahrh. zurückreichen. Sprache uud Stil dieser Einschaltungen machen unglaublich dass sie Donat dem Texte des Sueton hinzugefügt habe. (Vgl. Hagen, Scholl. Bern p. G80; Roth in der Germania IV p. 28.5). Trotzdem irrt Roth wenn er meint dass sie einem neapolitanischen Gelehrten aus der ersten Hälfte des 12. Jahrh. angehören, denn jene Interpolationen in den Handschriften können, obgleich sie unter einander nicht verschieden sind, nicht das Product eines Einzigen auch nicht aus einer Zeit sein. Der Inhalt einiger von ihnen findet sich bei Servius, Cassiodor und Aklhelm wieder. Der gelehrte Neapolitaner müsste also ein für seine Zeit ganz überraschendes Werk gelehrten Fleisses unternommen haben. Ausserdem hat Koth niclit bedacht, dass, so unbedeutend jene Interpolationen sind, sie doch im Ganzen weit weniger roh sind, als man nach der Bildung eines Süd- italieners im 12. Jahrh. erwarten konnte. Man erkennt in einigen von ihnen ganz deutlich Anecdoten, welche schon zur Verfallzeit in den Schulen der Grammatiker bekannt gewesen sein müssen. Es wäre ganz unglaublich, dass sich nicht in die immer von Neuem copirten, zusammmen- gezogenen und ausgeschriebenen Biographien des Dichters, derartige Anecdoten eingedrängt haben sollten. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass Aldhelm und Cassiodor schon in einer Biographie Virgils die Anecdoten, auf die sie wie auf bekannte anspielen, und die sich auch in die Biographie des Donat oder Sueton eingeschlichen haben, gelesen haben werden. Möglich, dass irgend ein Grammatiker zu der Biographie des Sueton, die Donat nicht veränderte, bei seiner Benutzung, das, was man sich in der Schule erzählte, einschaltete. Jedenfalls glaube ich, dass die Interpolationen auch in den jüngeren Handschriften einen ziem- lich alten Kern enthalten, der sich schon in einer Biographie vor dem G. Jahrh. fand. Er ist dann durch das Mittelalter hindurch vergrössert worden, bis im 12. Jahrh. eine Anecdote hinzukam, von der weiter unten die Rede sein wird.

Virgil in der läteratur bis auf Dante. 12{>

beide aus eiuer übertriebenen Vorstellung von der Weisheit des Dichters hervorgingen, ist dafür freilich auch eine gemeinsame Basis anzimehmen; aber eben jene Vorstellmig ist unter dem Volke von viel gröberer Natur als in der Literatur, und vollends ver- schieden ist die Art und Weise, in der sich auf beiden Gebieten die „Weisheit Virgils" geltend macht. Der Virgil der Volkssage verliert ganz den Chai-akter des Dichters, den er in der literari- schen Ueberlieferung immer festhält. Die letztere erklärt sich wol hinreichend durch die historischen Erscheinungen, die wir bis jetzt untersucht haben, aber nicht so der Ursprung der Volkslegende, die ganz specielle Ursachen hat. Natürlich mussten sich beide Richtungen schliesslich begegnen, aber die Volkslegende über- schreitet vor dem 12. Jahrb. zunächst nicht die engen Grenzen ihrer Heimath, um sich in der Literatur auszubreiten. Ihr Einfluss auf die Biographien des Dichters findet sehr spät statt und ist auch dann nur schwach und von sehr geringer Ausdehnung. In die Biographie des Donat ist in Handschriften des 9., 10., wie in Ausgaben des 15. Jahrb. eine einzige besonders fabelhafte Anec- dote eingedrungen, von der wir später reden werden. Eine von Hagen ^) aus einer Berner Handschrift des 9. Jahrh. publicirte Bio- graphie enthält zwar manchen naiven Zug, aber nichts, das an den Zauberer Virgil erinnerte wie in den nach dem 13. Jahrh. verfassten Biographien, Im zweiten Theil unseres Werkes werden wir sehen, wie die Volkssage sich nicht früher als im 15. Jahrh. bei Bona- mente Alipraudi mit den aus dem Donat entlehnten biogi-aphischen Notizen vermischt.

Versteht man unter der „literarischen Legende" alles nicht authentische, was uns über Virgil als Dichter, Schriftsteller und Ge- lehrten literarisch überliefert ist, so kann man nicht gerade sagen, dass sich in derselben etwas für den Dichter besonders charakte- ristisches zeigt. Die Legende zeigt uns nur, wie sich sein Ruhm durch das ganze Mittelalter ausbreitete und entsprang wol aus einer Menge einzelner Anecdoten, die sich den historischen Notizen angehängt hatten, und die zwar historisch undenkbar sind, aber doch nichts übernatürliches bieten. Derartige Notizen finden wir zuerst bei den Grammatikern und denen, welche den Virgil studirten; selten sind sie das Product der reinen Fantasie, ver- binden sich aber oft mit irgend einer historischen Thatsache, oder einem Verse, den man willkührlich oder doppelsinnig auslegte.

1) Scholia Bern. p. 996 ff.

Comparetti, Virffil im Mittelaltor.

130 Virgil in der Litcratiir bis auf Dante.

Schou bei Asconius Pediauus, dann bei den Grammatikern und Commentatoreu stösst uns bisweilen ein solches „man sagt" auf. Als man später sich in dichterischen Uebungen erging, denen stets Virgil als Autorität vorschwebte, als beim Wachsen der Un- wissenheit sich die Fäden der alten üeberlieferung verwirrten, fand sich auch reichlichere Gelegenheit, irrthiimliche und sagenhafte Ideen zu produciren. Bekannt ist das Distichon: „Nocte pliiit tota redeunt spectacula mane, Divisum imperium cum Jove Caesar habet", wie die Geschichte, dass sich einst Jemand diese Verse angeeignet, und Virgil sich deshalb in folgenden ebenfalls ohne Namen publicirteu Versen beklagt habe: „Hos ego versiculos feci, tulit alter honorem; Sic vos non vobis . . . etc." Diese Erzählung wie die Verse, die otfenbar nicht von Virgil herrühren, blieben im ganzen Mittelalter und noch in der Neuzeit bekannt^) Wir finden sie in vielen Virgil-Handschriften verschiedener Zeit und bei mehr als einem mittelalterlichen Schriftsteller, im Codex Salmasianus*), sowie l)ei Cassiodor^) und Aldhelm"*). Sie müssen also schon im 6. und 7. Jahrh. bekannt gewesen sein. In der Biographie des Donai stehen sie nur in den interpolirten Handschriften •''Ì. We^;halb sie

1) Hierauf bezieht sich ohne Zweifel der Hexameter: „Juppiter in coelis Caesar regit omnia terris" unter dem Titel „Vergilius de Caesare"; Auth. lai 782 (R). Obgleich der Hexameter sich nur in Hdss. des 14. und 15. Jahrhunderts findet, halte ich ihn doch für ziemlich alt. Riese vermuthet (Jahrb. f. Phil. 1869 p. 282) darin ohne Grund eine Reminisceuz an Vers 143 der Elegia de Nuce: „sed neque toUuntur, nee dum regit omnia Caesar, Incolumis etc."

2) Anth. lat. 256, 267 (R.).

3) ,,Ut est illud: Divisum imperium cum love Caesar habet." Cassiod. De Orthogr. c. 3. (dies Capitel des Cassiodor ist einem unbekannten Grammatiker Curtius Valeriauus entlehnt).

4) Aldhelm citirt als einen Vers Virgils ,,in tetrastichis theatrali- bus": „Sic vos non vobis mellificatis apcs." (Aldh. opp. od. Gii. p. 309). Der Ausdruck ,.in tetr. theatr." beweist, dass die Verse damals nur 2 Disticha waren. Als solche erscheinen sie denn auch im Codex Sal- masiauus wo das Citat der Pentameter des 2. Distichons ist. Natürlich sind die 3 anderen Pentameter, in denen das „sie vos non vobis" mit dreimaliger sogar gereimter Veränderung wiederholt wird, später hinzu- gefügt. Sie finden sich schon in Hdss. des 10. Jahrh. Die 2 letzten fehlen in einigen Hdss. Donizo's (11. Jahrh.), der auch die Anecdote erzählt. (Vgl. V i t. M a t h. bei M u r a t o r i , Scriptor. rer. it. V, p. 3G0).

5) Hagen i,Jahrbb. f. Phil. 1869 p. 734) glaubt, dass die Erzählung, welche jenen Versen voraus geht, nicht älter als das 12. Jahrh. ist; in- dessen setzen die Verse jene Erzählung voraus, die also eben so alt sein

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 131

dem Virgil zugeschrieben wurden, ist schwer zu sagen; vielleicht kamen sie zuerst in einigen Handschriften unter die Epigramme des Dichters und galten dann in den Sammlungen kleiner Gedichte, wie sich eine solche im Codex Salmasianus befindet, als sein Eigen- thum ^). Anders kann man sieht nicht erklären, wie in demselben Codex dem Virgil ein Epigramm zugeschrieben wird, welches ein sententiöses Distichon aus Ovid's Tristien ist^). Sehr bekannt war unter den Commentatoren auch eine andere Erzählung, die sich auf einen den Ascanius betreffenden Halbvers „magnae spes altera Romae" bezieht, und die Bewimderung für den Dichter, den man dem grössten römischen Prosaiker an die Seite setzt, aus- drückt. Es soll nämlich Cicero, als er im Theater die 6. Ecloge von der Cj-tlieris vortragen hörte, betroffen diirch das Talent, das sich in der Composition zeigte, gefragt haben, wer der Verfasser sei, und als er es erfahren, ausgerufen haben: „magnae spes altera Romae!". (Sich selbst hielt er natürlich füi- die erste.) Diese Worte sollen dann von Virgil mit Bezug auf Ascanius in die Aeneis auf- genommen sein. Die guten Leute bedachten nur nicht, dass C'icero schon todt war, als die Eclogen erschienen^). Die Er-

muss. Was ihre Form betrifft, so ist kein Grund vorhanden, sie nicht in eine Zeit vor dem 12. Jahrb. zu versetzen. Ich zweifle nicht, dass die beiden Disticha schon in die Biographie gekommen waren, als der Inhalt des Codex Salmasianus zusammengesetzt wurde. Die beiden Epigramme imd die beiden andern, 261 u. 264 R., die so nahe bei einander im Codex stehen und sich alle in der Biographie vorfinden, sind wol gewiss auch aus dieser entnommen. Merkwürdig ist, dass wir unter Xo. 264 das in der Biographie citirte Distichon des Properz ,,Cedite romani" haben. Das Buch „Cnutonis regis gesta", in welchem sich das „Nocte pluit" als virgilisch citirt findet, ist sicher um die Mitte des 11. Jahrh. verfasst worden.

1) Auch Hagen (Jahrbb. f. Phil. 1869 p. 734) hat an eine ähnliche Erklärung gedacht. Abgesehen davon, dass er ganz überflüssiger Wei.se an die Volkssage vom Zauberer Virgil erinnert, die hier gar gar nicht hingehört. Seine Meinung dass von diesen Versen, bis zur Vorstellung vom Zauberer nur ein Schritt sei, zeigt, dass er diesen Gegenstand nicht mit seiner gewohnten Sorgfalt untersucht hat.

2) „Si quotieus peccant homines etc." Ov. Tr. II, 33.

3) Cicero starb 711 a. u. c, die Eclogen sind gewiss nicht älter als 713. Vgl. Ribbeck, Proleg. p. 8 f. Aehnliche Anachronismen sind häufig; so schreibt eine andere Handschrift dem Virgil die beiden bekannten gewiss alten Elegien zu, die sich auf den bereits todten Mäcenas beziehen. (Vgl. Ribbeck, Append. Verg. p. 61, 192 ff.) Als Mäcenus starb, war Virgil schon seit 11 Jahren todt; solche Irrthümer ereigneten sich aber auch

132 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Zählung, die sich auch bei Sen'ius findet, ging als ein Zusatz zu der autheutiöcheu Nachricht von dem grossen Erfolge der im Theater recitirten Bucolica aus den Commentaren in die Biographie über. Ohne Zweifel liegt ihr irgend ein Ausspruch über Cicero und Virgil, die Fürsten der römischen Literatur, zu Grunde, wobei man jenen Halbvers auf Virgil anwandte"). Die iuterpolirte Biographie enthält ferner am Schlüsse sieben oder acht Sentenzen, die Virgil bei verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen haben soll. Einige derselben beruhen wieder auf Versen des Dichters selbst. Die Sentenzen, die nicht besonders geistreich, sondern mehr oder weniger Gemeinplätze sind, schildern den Virgil als einen milden, sanften, verständigen und practischen Manu. Am Hofe wird er in gi'ossen Elu-en gehalten, und einige der Aussprüche sind Ant- worten auf Fragen, die Mäcenas oder Augustus au ihn richteten; die Bewunderung für den Dichter macht sich in einigen dieser Anecdoten sogar in Worten Luft, die man Virgil selbst in den Mund legte ^). Trotz des Colorites, das in diesen Notizen das Mittelalter verräth, scheinen sie aber doch ihres Inhaltes wegen älter zu sein. Einer der virgilischeu Aussprüche, der sich auf Ennius bezieht, wird schon im 0. .lahrli. von Cassiodor citirt''j.

schon vor dem Mittelalter. Marti al, der doch wenigstens ein Jahrhun- dert jünger als der Dichter ist, sagt IV, 14. „Sic forsan tener ausus est CatuUus, Magno mittere passerem Maroni," und vergisst, dass Catull starb, als Virgil erst IG Jahr alt war.

1) „Dicitur autem (ecl. VI) ingenti favore a Vergilio esse recitata; adeo ut, cum eani postea Cytheris meretrix cantasset in theatro, quam in fine Lycoridem vocat, stupefactus Cicero cuius esset requireret, et cum eum tandem aliquando agnovisset, dixisse dicatur et ad suam et ilHus laudem: Magnae spes altera liomae; quod iste postea ad Ascanium trans- tulit, sicut. commentatores loquuutur." Servius ad Ecl. VI. 11.

2) Den Dichter mit seinen eignen Worten zu loben, war nichts Sel- tenes. Kusticus erwähnt in seinem Briefe an den Papst Eucherius (5. Jahrh.) das folgende Epigramm, das er unter einem Bilde Virgils las, und iu dem ebenfalls drei Verse der Aeneis (I, 607 tf.) auf den Dichter augewandt werden:

„Vergilium vatem melius sua carmina laudant;

hl freta dum fluvii cunent, dum niontibus umbrae Lu.strabuiit conve.xa, peius dum sidera pascet,

Semper honos nomenque tuum laudesque manebunt."

Vgl. Sirmond, ad Sidon. p. 34.

3) ,,.... ea tuba cum volo loquor quae ubique et diutissime au- dietur." Donat. Verg. Vit. p. C8.

4) „Cui et illud apiari polest quod Vergilius, dum Eunium legeret, a quodam quid faceret impüsitus, ri'spoiKÜt: aurum in btercorc quere."

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 133

Bei den Alten waren Sammlungen von Aussprüchen gi'osser Männer sehr beliebt, und wahrscheinlich figurirten dei'artige Aus- sprüche Virgils auch in seinen Lebensbeschreibungen. Sueton und Donat Hessen sie beiseite, sie pflanzten sich aber in der kleineren, weniger beachteten gi-ammati sehen Literatur und in der münd- lichen üeberlieferung der Schulen fort. Li dem Buche des Vale- rius Maximus finden sie sich merkwürdigei-weise nicht, aber dieser geschmacklose Compilator, der doch dem Dichter zeitlich so nahe stand und uns die werthvollsten Nachrichten über ihn hätte geben können, benutzte Quellen, in denen des Dichters nicht gedacht werden konnte. Und so wii'd in seinem ganzen Werke Virgil nicht einmal genannt.

In den meist aus Donat verfertigten Biographien, Avelche sich vor Virgilcommentaren in Handschriften des 9., 10. imd 11. Jahrhunderts finden, begegnen uns keine Anecdoteu, die besondere Aufmerksamkeit verdienten. Von einer übernatürlichen Thätigkeit Virgils ist hier noch keine Spur zu entdecken; wol aber zeigt sich eine übertriebene Vorstellung von seinem besonders philosophischen Wissen, die in der älteren Biographie noch nicht vorkommt, ob- gleich sie zur Zeit Donats schon existirte. Merkwürdig sind in der Beziehung einige sonderbare Etjmologien des Namens Virgils: die Biogi-aphie eines Codex des 9. Jahrh. erklärt ihn als: „vere •gliscens", weil Vii'gil der berühmteste Meister hoher Weisheit und unerschöpflich in seiner Fruchtbarkeit sei, wie die sprossende Pflanze des Frühlings ^). In dem Codex Gudianus (9. Jahrhundert), der das Leben des Dichters drei- oder viermal ei'zählt, heisst es: „Maro wurde er genannt von mare, weil er von Weisheit über- floss wie das Meer von Wasser""). Nach dem 12. Jahi-hundert spitzt sich diese Idee in einigen Biographien noch mehr zu, obgleich man hier schon den Einfluss der in die Literatur eingeführten Volks- sage wahrnimmt. In einem Virgilcommentare eines Codex Mar- cianus (15. Jahrhundert) ruft der Verfasser der Biographie be- wundernd aus: von Virgil könne man sagen „omne tenet punctum".

Cassiod. De inst. div. lit. cap. 1 „Cum is (Marc) aliquando Enniutu iu manu haberet rogareturque quidnam faceret, respondit se aurum colli- gere de stercore Ennii." Donat. Vit. Verg. p. 67.

1) . . . . alii volunt ut a vere Vergilius , quasi vere gliscens id est crescens, sit nominatus. Erat enim magnae philosophiae praeclarissimus praeceptor et multiplex sicuti vernalia incrementa." Hagen, Scholl, bem. p. 997.

2) Vgl. Heyne, ad Donat. Verg. vit. § 22.

]^;J4 Virgil iu der Literatur bis auf Daute.

ja, mau könne auf ibu die Worte tles Psalmisieu anwenden: ,,Ouine quod voluit fecit"; und deshalb isagte man auch von ihm: „Hie est nuisarum lumen per saecula darum, Stella poetarum non veneranda parum"^). Dem ganzen Commentare geht das Motto voraus:

„Omnia divino monstravit Carmine vates". Aber unter den Fähigkeiten Virgils wird hier zuerst ausführlich die Magie genannt, von der in keiner Biographie vor dem 12. Jahrhimdert die Rede ist^).

Ausser den fabelhaften Nachrichten über Virgil in den Bio- graphien linden sich solche nun aber auch bei den mittelalterlichen Schriftstellern. Schon die Erklärer der Bucolica dachten oft ganz grundlos an Dinge, auf die der Dichter allegorisch anspiele. So soll nach einem Commentare aus dem 9. Jahrhundert Vii'gil eine öffentliche Dichterschule gehalten haben, und darauf bezöge sich der Vers „formosam, resonare doces Amarj'^llide sylvam"^). Merk- würdig ist der colossale Anachronismus eines Angelsachsen, der einige bildliche Ausdrücke wörtlich versteht und den Virgil für einen Zeitgenossen, Schüler vmd Freund Homers ansieht^). In einer sonderbaren Gedankenverwirrung versichert Paschasius Rathbert, dass die Sibylle die 10 Eclogen in Person vor dem Senat recitirthabe'').

1) „De eo potest dici illud oratoris: omne tcnet punctum; de quo ait- Macrobius: Vergilius nullius disciplinae expers fuit; uude dictum ost du

eo: Hie est musarum etc ; potest dici illud psalmistae: omnia quac-

cumque voluit fecit." Cod. Marc. lat. ct. XIII, No. LVI, col. 2. „ideo Vergilius proprio nomine vates vel poeta antouomastice nuncuiiatur sicut beatus Paulus apostolus, et Aristoteles philosophus." Ders. col. 3 a.

2) „Et fuit magnus magicus, multum enim se dedit arti magicae ut patet ex illa ecloga ,,Pastorum musam Damonis et Alphesiboei." coi. 8; „ex faucibus sanguinem spuebat sed per medicinam sc sanabat, erat euim magnus medicus et astrologus." col. 13.

;]) Formosam etc ,,tropice ad Maronem hoc dicitur doceutem

iu Roma artem poeticam. Amaryllis Komam allegorice sigaificat." Hagen, Scholl, bern. p. 1000.

4) Omerus waes east mid Crecum on thaem leod-scipe leotha craeftgast, Firgilies freond and larcow thaem maeraii sceope magistra betst. Metres of 13oeth. ed. Fox p. 137. Diese metrische Version des Boethius hat man, wie Wright (Biogr. brit. lit.; Auglo-sax. period, p. 56 f. 400 ff.) zeigt, mit Unrecht dem König Alfred zugeschrieben.

5) „Legimus vero, quod Sibylla decem eclogas Vergila in senatu saltavit." Pasch. Rathb. in Matth. Ev. c. 35; und Bibl. max. vett. patr. XIV, p. 130.

Viigil in der Literatur bis auf Daute. 135

Alexander Neckam erzählt, dass die in dem C4edichte Culex geschilderte Begebenheit Virgil selbst begegnet sei und so Jene Dichtung veranlasst habe. Später widerruft er das und sagt, ^ dass er sich durch die Lesung des Gedichtes von dem Irrthum* jener Nachricht überzeugt habe^). Wahrscheinlich ist dagegen die Ueberlieferung, dass Virgil von Augustus kleine Geldsummen er- halten habe"-), und besonders wussten die Grammatiker von einer reichen dem Dichter von Augustus zu Theil gewordenen Bejohnnng für die ergreifenden Verse: „Tu MarceUus eris etc.", die auf Octavia solchen Eindruck machten. In dem Commentar des Servius heisst es, dass ihm dafür feierlichst das baare Geld in aes grave, ausgezahlt sei=^), und die interpolirte Biographie setzt als Summe 10,000 Sesterzen für jeden Vers fest^). Später verbindet sich diese Nachricht mit der Geschichte von den Versen „Nocte pluit tota etc." in sonderbarer Weise. Benzo von Alba (11. Jahrh.) sagt, dass Vii-gil füi- diese Verse Geld m Unmasse und die Frei- heit'erhielt^). Dasselbe versichert Donizo*^). Alexander von Telese (12. Jahi-h.) behauptet sogar, dass Virgil von Augustus die Stadt Neapel und die Provinz Calabrien zu Lehen erhielt^). Hier ver-

1) Vergilius igitur repatrians dulcibus Athenis relictis etc. etc. tìod quid-^ Rara fides ideo est quia multi multa loquuntur. Hoc adjicio quia postquam librum Vergili de culice inspexi, aHum esse tenorem relationis adverti. Ut euim refert Vergilius, pastor qmdam etc. Alex. Neckam, De naturis rerum (ed. Wright, Lond. 1863) cap. 109,

P. 190 f. , r X i. <; n 1

2) „Ab Augusto usque ad sestertium ceuties honestatus est. 1 rolj. Vit. Verg. bei Reiff er scheid, Suet. etc. p. 53.

3) Et constat hunc libram tanta pronuntiatione Augusto et Octaviae esse recitatum, ut fletu nimio imperarent silentium, msi Vergilius fiiiem esse dixisset, qui pro hoc aere gravi donatus est." Serv. ad. Aen. VI, 862. Vgl. Mommsen, Geschichte des römischen Muuzweseus,

^'" 4)' Defecisse fertur (Octavia), atque aegre focillata deua sestertia pro singulo versu Vergüio daii jussit." Donat, Vir. vit. p. 62. 5) „Liber cum rebus, Maro, cunctis esto diebus Et de thesauro lulii sis dives in auro. Certe pro duobus carminibus a lulio Caesare est honomtus duplici honore VergiUus." Ad Henric. IV imp.; Lib. 1, 30. (Bei Pertz, XIII

^'" 6) Vit. Mathild. bei Muratori, Scriptor. rer. it. V. p. 360.

7) Nam si Vergilius, maximus poetarum, apud Octavianum impera- torum t'antum promeruit ut pro duobus quos ad laudem sui ediderat versibus Neapolis civitatis, simulque Calabriae dominatus caducam ab eo

136 A'ir^Ml in der Literatur bis auf Daute.

mischt sich also schon die literarische Legende mit der VolkMige. wie wir weiter unten sehen werden.

Aeussert sich nun bei den in Prosa geschriebenen Biographien nicht jener Ton der Begeisterung, so klingt derselbe dagegen voll und laut in den poetischen Schöpfungen, die sich mit dem Dichter beschäftigen, wieder. Die klassische Dichtkunst des Mittelalters hatte ja stets Vii-gil als Muster vor Augen. In ihm fand sie da> reichste rhetoi-isch-poetische Material vor; die Themen für die Uebuu- gen in der Versification wurden aus ihm geschöpft, und handelten nicht blos über seine Werke, sondern sogar über die Verdienste des Dichters und die Begebenheiten seines Lebens. So entstand im 6. Jahrhundert die schwülstige, vom Grammatiker Phokas verfasste Biographie in Versen, deren Bombast man schon nach der ihr vorhergehenden Sapphischen Octe abmessen kann^). Aber viele Einzelheiten aus dem Leben des Dichters waren durch die in den Schulen gelesenen Biographien und die Erklärung besonders der Bucolica bekannt geworden. Die hervorragendsten unter ihnen wurden dann wüeder zu besonderen Aufgaben für die poetischen Uebungen verwandt. Die Leser der Bucolica kannten alle die (Je- schichte von den verlorenen Besitzungen, die Virgil durch Augustiis" Gnade und die Vermittlung des Mäcenas wie seiner Freunde wieder erlangte. Von dieser für den Dichter wie für seinen Be- schützer gleich ehrenvollen Begebenheit wurde mehr als ein latei- nischer Poet begeistert, so Martial^), Sidonius^j u. a. In einem

receperit retributionem, multo melius etc." Alloq. ad rej?. Roger bt-i Muratori, Script, rer. it. V, p. 644. Auf diese Grossmutb des Augustus spielt auch Wilhelm von Apulien am Schlüsse seines Gedichtes an:

,, Nostra, Rogere, tibi cognoscis carmina scribi;

mente tibi laeta studuit parere poeta;

semper et auctores hilares meruere datores.

Tu, duce romano, dux dignior Oetaviano,

sis mihi, quaeso, boni spes, ut fuit ille Maroni." Bei Muratori, Script, rer. it. V, p. 278.

1) Sie beruht, wenige Abweichungen abgerechnet, auf der Biograjibie Suetoiis bei Donat. Vgl. Reifferscheid, Suet. pract. Caes. rcl. p. 40a f., der auch diesen Text (p. 68 S.) aufgenommen hat. Derselbe ündet sich ausserdem in vielen Sammlungen, z. B. bei Riese, Anth. lat. No. 671.

2) „Jugera perdiderat miserae vicina Cremonae flebat et abductas Tityrus aeger oves;

Risit Tuscus eques paupertatemque malignam

reppulit et celeri iussit abire fuga." Mart. Vili, 56.

3) Sidon., Carm. III, IV; Auct. panegyr. Pison. v. 217 ff. Vgl. Haupt im Hermes III, p. 212.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 137

Codex des 10. Jahrhundert findet sich über diesen StolT eine poetische Epistel, die Virgil an Mäcenas richtete, als seine Besitzungen in Mantua an die Veteranen gekommen waren ^). Ein Epigramm der Anthologie bezieht sich auf Virgils Bruder Flaccus, den jener nach den Erklärern und der älteren Biographie in dem Daphnis der 5. Ecloge verewigte^). Unter all den direkt aus der Biographie stammenden Notizen wurde aber nichts so oft wiederholt als der Befehl des sterbenden Virgil, seine Aeneis zu verbrennen; ein Thema, das sich natürlich ausserordentlich für Declamationen eignete und auch mehrfach dafür verwandt worden ist. Schon zur Zeit des Gellius und Sueton" verfasste Sulpicius Apollinaris drei darauf bezügliche Disticha, die auch in der Biographie erhalten sind^). Die Disticha des Codex Salmasianus, welche die an Augustus ge- richtete Bitte der Römer ausdrücken, den Willen des Dichters nicht vollstrecken zu lassen, sind sjDäter geschrieben worden^). Aber die Declamation in dem berühmten „Ergone supremi s etc.", die vielleicht zu der Biographie des Phokas gehörte, schlägt einen

1) Veröffentlicht von Use n er im Rh. Mus. XXII p. 628 aus einem St. Gallev Codex des 10. Jahrb., in dem es die Ueberschrift : „Marc Mae- cenati salutem" führt. Ohne diesen Titel auch in anderen Hdss. Bei Riese, Anth. lat. 686 (Vgl. Vol. I, p. 2 n. XXIII). Weder Usener noch Riese haben den wahren Inhalt des Gedichtes erkannt, sondern meinten, es sei eine Klage über die ti-aurigen Zustände Italiens, das die Barbaren inne hatten. Donizo spricht in dem Streite zwischen Mantua und Canossa weitläufig über diese Begebenheit Virgils mit Angabe einiger Einzelheiten, welche die Biographie nicht enthält. Vit. Math, bei Mura- tori, Script, rer. it. V, p. 360.

2) „Tristia fata tui dum fles in Daphnide Flacci Docte Maro, fratrem dis immortalibus aequas."

Anth. lat. (R.) No. 778.

3) „lusserat haec rapidis etc." Donat, Vit. Verg. p. 63, und in den verschiedenen Ausgaben der Anthologia lat. Den Namen desselben Sul- picius tragen die 3 verschiedenen Disticha von gleichem Inhalte, die den Inhaltsangaben der Bücher der Aeneis vorausgehen. L. Müller (Rh. Mus. XIX, p. 120) glaubt mit Recht, dass die Originaldisticha die in der Bio- grapie erhaltenen sind.

4) „Temporibus laetis etc." Anth. lat. No. 242 (R.). Die ältesten Virgilausgaben und auch einige Hdss. schreiben diese A'^erse dem Cor- nelius Gallus zu. In einem Codex Vaticanus (No. 1586) aus dem 15. Jahrhundert heisst es: „Egerat Vergilius cum Varrone (soll heissen Vario) antequam de Italia recessisset^ ut quid sibi accideret, Aeneidam com- bureret, quod adimplere volens et Cornelius Gallus hoc sentiens, Caesari pro parte Romanorum et totius orbis supplicavit ne combureretur, in hunc modum videlicet: Temporibus laetis etc."

138 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

noch viel erliabeuereu Ton an, indem sie den Augustus selbst redend einführt ^).

Auch die ComiDOsitionen Virgils selbst wie kiu-zere iu der Bio- graphie erhaltene Dichtungen wurden als Stoff für derartige Uebungeu benutzt, z. B. das Epigramm, das Virgil als Jüngling gegen den Lehrer und luiuber Balista verfasst haben soll. Dassellie hatte eine grosse Berühmtheit erlangt, wurde dann aus der Biographie herausge- nommen und mit andern Dichtungen Virgils imd anderer zusammen- gestellt ^J. Es war von mehr als einem Dichter der Schule nach- geahmt worden, und wir besitzen etwa sechs Variationen über das Thema, die dann von einem Interpolator in die Biographie des rhokas eingeschoben sind^). An derartigen Uebuugen betheiligten sich Schüler wie Lehrer in gleicher Weise. In der Verfallzeit war es sogar Gebi'auch, dass mehrere Dichter an ein und dem- selben Thema sich im Wettstreit miteinander versuchten. Die „zwölf scholastischen Dichter" oder „die zwölf Weisen"^), die einen Hauptbestandtheil der Anthologie bilden und, wenn man bedenkt, wie sorgfältig sie in mehreren Handschriften erhalten sind, grossen Beifall gefunden haben müssen, bieten ein bemerkenswerthes Bei- spiel dafür. Unter den verschiedenen Stoffen, Beschreibungen,

1) Anth. lat. Xo. 672 (R.). Diese Declamation iu Versen war sehr Iterühmt, und Neuere haben sie wie im Ernste als dem Augustus ange- hörig citirt. Von einer alten Nachbildung ist nur der Schiusa erhalten (.„Nescio quid, fugiente anima etc."), Anth. lat. No. 655 (R.). Als Probe der Emphase diene der letzte Vers, in welchem Augustus von Vir- gil sagt:

„aeterna resonante Camoena Laudctur, placeat, vivat, relegatur, ametur!"

2) Donat, Vit. Verg. p. 58; Anth. lat. No. 261 (R.). Die Grabsehriit des Bischofs Mamertus, in der sich eine Reminiscenz des ersten Verses des Epigrammes zeigt, beweist, dass dies schon am Ende des 4. Jahr- hunderts bekannt war; vgl. L. Müller in den Jahrb. f. Phil. (1866 [). 865). Auch in einem Distichon der Elegia de Nuce (v. 43 f.) hat Riese eine Reminiscenz ad den 2. Vers des Virgilischen Distichons entdeckt, zieht aber daraus einen falschen Schluss auf das Alter der Elegie. Das Epigramm gegen Balista blieb, unabhängig von dem „Über opigrammaton'' Virgils zu dem es vielleicht gehört, während des ganzen Mittelalters bekannt.

3) In 2 Nachbildungen ist das Distichon in einen Vers zusammen- gezogen; Phoc. Vit. Virg. V. 15 ff.

4) Vgl. über diese Dichter S c h e n k 1 , Zur Kritik späterer la- teinischer Dichter (Sitzungsbericht der Wiener Akademie 1863, Juni, p. 52 ff".

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 139

mythologisfheu Begebenheiten, Lobpreisungen irgend einer Person .>iud ber^onders die beliebt, die schon früher von irgend einem be- rühmten Dichter wie Virgil oder Ovid bearbeitet waren. Die be- rühmte Grabschrift, die nach der Biogi-aphie Vii-gil sich selbst ver- fasst haben soll^), wurde von jedem der zwölf Dichter zunächst iu je einem Distichon imd dann zu zwei Disticha erweitert bearbeitet'^). Hierhin gehören auch die versificirten Inhaltsgaben zu verschiedenen Dichtungen Virgils'^). Ihre gi-osse Anzahl und Mannigfaltigkeit beweisen uns, dass auch diese Uebung in der Schule wol ein Gegenstand des Wettstreites war. Die Meisten derselben beziehen sich auf die Aeneis, einige auch wol auf die Bucolica \md die Georgica ^). Jedes Buch der Aeneis hat deren mehrere, bald aus einem, bald aus vier, fünf, sechs oder zehn Versen bestehende *"). Eine Composition aus eilf Hexametern von ungewissem Alter gibt die Gesammtsumme aller Verse Virgils und ihren Inhalt an^j. Die dem Sulpicius Apollinai-is zugeschriebenen sechs Hexasticha dürften wol das älteste Beispiel dieser Classe von Arbeiten sein, bei denen nicht selten Vii-gils eigene Worte angewandt werden. Sie sind in einem Codex Vaticanus des 5. oder 6. Jahrhunderts erhalten. Ungefähr derselben Zeit gehören die Decasticha mit ihren vorhergehenden fünf Disticha an, als deren Verfasser sich Ovid nennt ^). Wir sehen daraus die enge Beziehung, iu welcher damals Virgil und Ovid für die Schule mit einander stan- den. Derartige Uebungen gehen nun durch das ganze Mittelalter. Sie wurden zwar nicht Virgil allein gewidmet, aber ihm doch

1) Vgl. die Uebuugen über 4 Ovidverse, betreffend die vier Jahres- zeiten (Metam. II, 27 ff.), No. 566, ff. (R.).

2) „Mantua me genuit etc." Douat, Vit. Verg. p. 63. Schon in einem Epithaph zu Ehren Lucans hat ein Grammatiker jenes Distichon nach- geahmt: „Corduba me genuit, rapuit Nero, praelia dixi", citirt von Ald- helm (7. Jahrb.); Vgl. L. Müller iu den Jahrb. f. Phil. XCV (1867) 1>. 500; Usener, Scholia in Lucani Bellum ci\'ile p. 6.

3) Anth. lat., 507—518, 555, 556 CR.).

i) Vgl. L. Müller, Ueber poetische Argumente zu Virgils Werken im Rh. Mus. XIX, p. 114 ff.

5) Anth. lat., 2. (R.) aus Hdss. des 2. Jahrb. Vgl. Ribbeck, Tro- legg. p. 379.

6) Anth. lat. 1, 634, 654, 591, 653, 874. (R.).

7) Anth. lat. 717 (R.).

8) Anth. lat. 1. (R.); Ribbeck, Prolegg. p. 369 ff.; L. Müller, a. a. 0. p. 115 S., der mit Recht vennuthet, dass sie einem Africaner aus dem 5. oder 6. Jahrhundert angehören können.

140 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

mehr als allen aiuleni iateiuischen Dichtern. In der Anthologie stehen einige Epigramme zum Lobe des Dichters, die meist darauf hinauslaufen, dass er in der Aeneis mit Homer, in den Bucolica mit Theokrit und in den Georgica mit Hesiod verglichen wird^). Eins der Epigi-amme theilt uns den von Quintilian erwähnten Ausspruch des Domitius Afer mit^). Zwei Disticha wollen in sehr erhabenem und geschraubtem Stil dem, „der in kleiner Barke das weite "Meer Mai'o's durchschiflfen will", eine Anweisung geben"*). Schliesslich fand sich Stoff für diese Uebungen in Stellen aus den grösseren Werken Virgils, die man ja auch füi- die Declamationen in Prosa benutzt hatte. Die Anthologie bietet dafür manche Bei-

li Anth. lat. 713 (Virgil und Homer-); No. 777 (Virgil, Theokrit, Ilesiod, Homer) „Vate Syracosio etc." ging vielleicht der Sammlung der kleineren Jugendgedichte Virgils voraus. (Vgl. L. Müller in den Jahrb. f. Phil. 1867, p. 803 ft"). Mau hat wol noch nicht bemerkt, dass das Epi- gramm No. 788: „Maeonium quisquis romanus uescit Homerum, Me legat et lectum credat utrumque sibi" nach dem ersten Distichon der Ars amatoria verfertigt ist: „Si quis in hoc artera populo non novit amandi. Me legat et lecto carmine doctus aniet." Aus allen Comraentaren und den Biographien geht hervor, dass die Grammatiker ihrer Auslegung ge- wöhnlich die Bemerkung von der Nachahmung Virgils dieser 3 Autoren vorausschickten. Wie Virgil mit Homer, so wird Lucan in dem Epigr. Xo. 233 (vgl. Schmitz und L. Müller in den Jahrb. f. Phil. p. ^99^ mit Virgil verglichen. Dem Ende des Mittelalters gehört das von Kiese eben deshalb ausgeschlossene Ejiigramm über Virgil an No. 855 (Meyer): ,, Alter Homerus ero vel eodem maiorHomero, Tot clades numero dicerc si poterò." Diese nicht auf Virgil zu beziehenden zwei Verse gehören zu einer mittelalterlichen Dichtung über die Zerstörung Troias. Vgl. Du Méril, Poésies poiml. lat. ant. au XII sièc. p. 313.

2) „De numero vatum si quis seponat Homerum, Proximus a primo tunc Maro primus erit.

At si post priinum Maro seponatur Homerum,

Longe erit a primo, quisque secundus erit.' Das Epigramm wird dem Alcimus Avitus zugeschrieben; Anth. 1 a t. No. 740 (R.). Vergi. Quintilian. X, 1 , 86 und p. 18 unseres Werkes.

3) „Qui modica pelagus transcurris Untre Maronis Bis senos Scyllae vulgo cave scopulos.

Sed si more cupis nautae contingere portum

Carbasus ut Zephyris desine detur ovans;

Tumque salis lustra reliquos ope remigis amnes;

Sic demum cymbam poftus habebit opis." Veröffentlicht von L. Müller aus einer Hds. des 10 11. Jahrh. im Rh. Mus. XXHI, p. 657; Riese, Anth. lat. No. 788.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 141

spiele^). Besonders erkennt man die retliorische Schule in den sogenannten „Virgilthemen" wieder, die eigentlich dem Studium der Declamation augehörten. Es sind Variationen über Verse des Dichters, in denen der Zeitgeschmack sich in den lärmendsten Uebertreibungen gefällt; hierhin gehören z. B. die Anrede der Dido an den Aeneas (IV, 365 ff.), des Aeneas an Andromache (III, 311 ff.), des Sacas an Turnus (XII, 653 ff.)^). Wir besitzen sogar einen Brief der Dido an Aeneas^), in dem das Virgilianische Thema in der Art Ovid's behandelt ist, eine "Klage über die Zer- störung Troja's, gewiss aus dem späten Mittelalter stammend"^), wie man aus dem Rhythmus sieht, u. a.

Diese poetisch rhetorischen Uebungen zur Ehre Virgils kann man nicht eigentlich Producte des Mittelalters nennen; sie gehören vielmehr dem Anfang desselben und den letzten Zeiten der Kai serherr Schaft an; besonders war das 5. und 6. Jahrhundert in diesen Versificationen thätig. In der Schule entstanden und durch Schulmänner verbreitet, wurden sie von diesen ohne Bedenken ]nit den kleineren Poesien der antiken grossen Meister zusammen- geworfen; und daraus entsprang dann jene sonderbare Verwirrung der Namen, welche die kritische Anordnung der lateinischen Antho- logie so erschwert. In der Wichtigkeit, die man diesen niederen und obscuren Producten beilegte, zeigt sich so recht deutlich die Ermattung der klassischen Poesie, die noch eine Weile in der künstlichen Athmosphäre der Rhetorik fortlebt und schliess- lich bis zu dem Grade herunterkömmt und abmagert, dass das ganze Skelett, auf das sie sich noch stützt, sichtbar wird. Diese letzte Phase der lateinischen Poesie haben wir also vom Stand- punkte des Mittelalters aus betrachten wollen, das ja zugleich mit dieser auch die grossen Vorbilder aus dem Alterthum übernimmt. Durch sie allein gelingt es jenem ganz vom Mönchsthum eingeeng- ten Zeitalter, den Spuren der klassischen Poesie einigermassen nach- zugehen.

1) Vgl. No. 46 (de Turno et Fallante), 77 (de Niso et Euryalo), 99 (de Lauconte), 924 (in Aeneam) in der Anth. lat. (R.).

2) Anth. lat. (R.) 255, 223 (dem Coronatus zugeschrieben), 244. Dasselbe Thema wie in 223 hatEnnodius (Dist. 28, „Verba Didouis etc.") in einer Declamation in Prosa behandelt. Um eine Idee von diesen versificirten Declamationen zu bekommen, vgl. No. 128 u. 23.

3) Anth. lat. (R.) No. 83.

4) Du Méril, Poesie« populaires latines ante'rioures au XII siècle, p. 309 ff.

142 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

EilftesCapitel.

Es gibt wol kaum zwei Dinge die so schroff' einander gegen- über stehen, als das Heidenthum dem Christenthum. In der Art wie beide Religionen die äussere und innere Welt betrachten, ist gar keine grössere und tiefere Diff"erenz denkbar. Der Geist des Christenthums hat vor Allem die Fähigkeit zu absorbiren, er i-uft die ganze Seele des Menschen zu sich und concentrirt sie. auf eine Idee. Alle Gefühle und Leidenschaften, alle Neigungen, die auf künstlei'ische Productionen ausgehen, formt er um, macht sie sich gleichartig und lenkt sie auf ein einziges Ziel hin. Alle poetischen Eingebungen laufen a\if den einen Punkt hinaus: zu lieben, zu trauern, zu frohlocken und zu leben in Gott. Gott ist also die Basis, in der sich alle Neigungen und Leidenschaften, Begeisterung, Hoff"- nung und Angst der Menschenseele auflösen und beruhigen. Da- mit ändert sich vollkommen der Horizont des Lebens, und alle Zwecke des Daseins nehmen eine andere Gestalt an. Das Auge schaut ängstlich auf das Problem vom Leben jenseit des Grabes, und die ganze Thätigkeit des Menschen ist allein darauf gerichtet. Das irdische Leben ist eine Last, eine Pilgerfahrt, eine hai-te und schwere Probe, und jetzt zum ersten Male hört man von einem weltlichen Leben, von einer schädlichen und gefährlichen Welt, von der der fromme Mann sich fern halten soll. Das Gewissen muss eine heftige Revolution durchmachen, um sich selbst, die Gesellschaft, und die Natur von diesem Standpunkte aus betrachten zu können. Die poetischen Ideale, die in einer Zeit spontaner Aeusserung geschaff'en waren, als der noch nicht im Zwiespalte befindliche Geist die ganze Welt auf sich selbst bezog, auf sie vertraute, sie liebend vergötterte und doch zugleich in ihr, wie in t'inem treuen Spiegel sein eigenes Bild anschaute, mussten natür- lich alle Gemüther abstossen, denen das menschliche Wesen in seinen Beziehungen zu seines Gleichen zur Natur und Gottheit ganz neu und anders erschien. Aus dieser Anschauung musste schliesslich die Askese der Eremiten und j\Iönche hervoi'gehen; und wie konnte da der Geist noch fähig bleiben, die Schönheit der Antike und der künstlerischen Ideale Virgils und Homers in sich aufzunehmen?

Wenn sich das Christenthum blos auf eine religiöse Reform der Juden beschränkt hätte, so wäre es durch seine Natur zu einer Poesie von ganz besonderem Charakter geführt woi-den, die eine zweite von der ersten freilich sehr verschiedene Phase der alten

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 143

biblischen Poesie gebildet hätte; denn in der christlichen Idee liegt ein Humanitätsgeftthl, eine feine und liebliche religiöse Empfindung, die Christus und seinen Anhängern einen ganz anderen Charakter gibt, als ihn David, Jesaias und die begeisterten Männer des alten Gesetzes gehabt hatten. Gemeinsam wäre ihr und der alten Juden- poesie gewesen, dass sie nicht aus einer Schule entsprungen war und keinen künstlerischen Zweck verfolgte. Nichts musste natür- lich der ältesten christlichen Anschauung mehr widersprechen, als jener künstlerische Schematismus in seiner Gesuchtheit und Ge- ziertheit, der von dem ethischen und religiösen Zwecke so weit entfernt war. Christus verhielt sich jeder Cultur gegenüber in- different, theils weil er in dürftigen Verhältnissen geboren ward, in Palästina lebte und nicht wie so viele andere Juden, die ins Ausland gingen, von der griechisch-romanischen Cultur berührt wurde, theils auch infolge der rein geistigen und mystischen Natur seiner* Lehre. Zum christlichen Ideale gehört zuerst die Einfach- heit, welche sich der antiken Culturwelt scharf gegenüberstellt. Die höchste christliche Poesie entsprang also nicht auf künst- lerischem Gebiete, von dem sich die wärmsten christlichen An- hänger fern hielten. Sie oifenbarte sich weniger in poetischen Formen, als in Gedanken und Empfindungen, die auf die einfachste Art ausgedrückt wurden. Ohne einen Vers, ohne auch nur den Gedanken zu dichten, blos auf den Antrieb hin, den die neue so warm gehegte Idee dem Geiste gab, erzeugte sie das Ideal Christi, ohne Zweifel ihre erhabenste poetische Schöpfung, deren begeist- ernde Wirkung nicht wenig zu jener wunderbaren Erscheinung von den Millionen Neophyten und Märtyrern beitrug. Von der- selben einfachen und formlosen Art sind auch die poetischen Er- giessungen des Franciscus von Assisi und die „Nachfolge Christi", ein später aber treuer Nachklang des wahrsten und ursprüng- lichsten Christenthumes.

Indem sich nun aber die neue Lelu-e in der griechisch-römischen Welt ausbreitete, fand sie den Boden durch die positiven wie ne- gativen Elemente der Verfallzeit wol vorbereitet und war nichf die alleinige Ursache, dass diese Zeit einen von der glänzenden aber unwiderruflich verloren gegangenen Vergangenheit so ver- schiedenen Charakter annahm. In einem ganz deutlich sichtbaren, langsamen Processe durchdrang sie die Poren der griechisch-römi- schen Gesellschaft und gestaltete diese um, freilich nicht, ohne sich selbst bedeutend umzugestalten. Das Proselytenthum , das in ihr el)en so stark war als in Rom der Geist der Eroberung,

1 44 Virgil in der Literatur bis anf Dante.

zwang sie, der Xothwendigkeit nachzugeben und sich zu Verinit- telungen zu verstehen. Das erste derartige Zugeständniss war der Entschluss sich zu bilden, zu unterrichten und die griechisch- römische Cultur anzunehmen. Diese war zu lebenskräftig, als dass das Christenthum nicht danach hätte streben müssen, sie sich zu assimiüren, um schliesslich durch sie selbst neuen Einfluss auf ihre Gestaltung zu gewinnen. Merkwürdig in der That, wenn man an das Ideal von Christus und das der Evangelisten denkt! Die Christen konnten jetzt Maler und Bildhauer werden. Dichter und Versmacher und nach einem Ausdrucke ihres religiösen Gefühles suchen, da wo Christus niemals daran gedacht oder gestattet hätte, es zu suchen. Und hier zeigte sich der erste von den vielen Widersprüchen, die der fromme Glaube auf alle Weise zu bemän- teln strebte, und von denen das Christenthum sich noch heute nicht befreit hat.

Indem also das Christenthum die Formen der antiken Kunst annahm, ist es dabei doch nie weiter als bis zu einer Art von Verkleidung gekommen, deren Sonderbarkeit kaum ein geschickter Dichter zu mildern verstand. Nicht selten wird der Wider- spruch zwischen Form und Idee grotesk und lächerlich, wenn man eben nicht mit den Augen des Glaubens schaut, der ja das, was ihn selbst betrifft, natürlich entschuldigen kann. Die christliche Idee fand wol den Boden zu ihrem Vortheile vorbereitet, aber sie fand keine künstlerische Formen, die ihr passten und ent- sprachen. Den Triumphen des Christenthums kam zwar der Mysticismus, zu dem sich schliesslich die alte Welt hinneigte, vor- trefflich zu statten ; dieser aber war ein Zeichen des alternden Verfalls, nicht einer energisch jungen Zeit und hatte die Kunst, anstatt sie zu verjüngen, und zu erneuern, nur immer tiefer in Verfall ge- zogen.

Für das Herz und den Verstand war die alte Kunst erstorben. Nur noch in den Schulen und in der allgemeinen Bildung fristete sie ein Scheinleben. Die leeren Formen benutzte nun das Christenthum und füllte sie anstatt mit profanem mit heiligem und christlichem Stoffe aus. Waren dieselben doch schon in so mechanischer Weise verwandt worden, dass Jeder, der nach ihnen griff, meinte, sie allen möglichen Empfindungen anpassen zu können. Nun war das aber schon die zweite Umwandlung, die sie durchzumachen hatten. Ursprünglich in Griechenland ent- standen, war es nur durch die Anstrengungung der glänzendsten Repräsentanten des römischen Geistes möglich gewesen, sie auf

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 145

die römische Denkweise anzuwenden. Weit gewaltsamer war die zweite Wandlung, weil jetzt der poetische und künstlerische In- halt dem sie in Griechenland wie in Eom gedient hatten, ver- nichtet werden sollte. Ein solches Verfahren konnte nur in einem Zeitalter stattfinden, in welchem die Khetorik, die ja die ganze Literatur beherrschte, das Gefühl für die enge Beziehung zwi- schen den Kimstformen und dem Geiste der Menschen verdrängt hatte.

Prudentius, Sedulius, Arator, Juvencus und so viele andere christliche Dichter^) ahmen Virgil nach, indem sie das Leben Christi, das der Heiligen oder biblische Begebenheiten in Hexa- metern darstellen. Andere folgen Horaz oder Ovid, indem sie in Distichen oder trochäischen und jambischen Gedichten christliche Ideen behandeln. Das waren aber gewaltsam erzwungene Arbeiten, in denen die moralischen Eaisonnements wol ganz ernst gemeint wai'en, an denen aber die wahre Poesie des Christenthumes doch keinen oder nur geringen Antheil hatte. Das Evangelium in Versen zu umsehreiben, machte zwar aus der Schulübung ein christliches Werk, aber raubte auch zugleich der schlichten evangelischeu Er- zählung ihre ganze Poesie , indem es diese mit einem unnatürlichen Schmucke belud.

Die Leute jedoch, die in der römischen Cultur erzogen, immer die antiken Musterdichtungen vor Augen hatten, musste es nach Annahme des Christenthumes mit Genugthung erfüllen, jene Lücke wenn auch in vxngenügender Weise ausgefüllt zu sehen. Die Hexameter des Priesters Juvencus, welche einen Sturm schilderten, erinnerten sie au die schöne Beschreibung Virgils, und mehr als ein Gedicht des Prudentius rief ihnen den Horaz ins Gedächtniss. Zu einer Zeit, in der die Poesie nur als Rhetorik und Verskunst geschätzt wurde, konnte es nicht darauf ankommen, dass jene Dichtungen blos die antike Form hatten, die eigentlich christliche Poesie aber nur schwach zur Geltung kam. Die Dichtkunst war christlich

1) Zapp er t (a. a. 0. Anm. 53, p. 20 ff.) hat eine Menge von Vir- gilreminiscenzen, die sich in lateinischen Dichtungen des Mittelalters vom Ó. bis 12. Jahrhundert finden, zusammengestellt. Die Sammlung gibt aber in ihrer geringen Ausdehnung keine rechte Vorstellung von der Sache, da sich dasselbe Verfahren auch auf Ovid und andere Dichter anwenden liesse. Die Virgilelemente in der lateinischen Poesie des Mittel- alters complet zusammen zu stellen, wäre ein colossale« Unternehmen, was aber die zu Grunde liegenden Thatsachen in keinem andern Lichte erscheinen lassen würde.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. JQ

146 Virgil in der Literatur bi? auf Dante.

nur durch den Inlialt, heidnisch in der Form. Wenn ein christ- licher Dichter den heiligen Stoff einmal bei Seite Hess, so standen die klassischen Typen so mustergiltig vor ihm, dass man ihn, wie wh- bei Ausonius sehen, kaum von einem Heiden unterschei- den kann. Dies bestätigte sich vor allem im Beginn des Mittel- alters und -der Renaissance, als sich die lateinische Dichtung der Christen mehr als je gestattete, auf ein weltliches Gebiet abzu- schweifen ; ebendeshalb musste auch zur Zeit des Mönchsthunis die lateinische Poesie so allgemein fast nur auf heilige Stoffe an- gewandt werden. Aber auch als es noch Heiden gab, Hessen sich die damals noch eifrigen Christen, wie sie eben aus dem Kampfe hervorgegangen waren, so gut wie gar nicht auf weltliche Dich- tungen ein. Schon damals wurde Cultur und Poesie zumeist vom Clerus repräsentirt, nur selten traten Laien als Dichter auf. Man konnte also schon genau voraussehen, in welcher Weise sich die Gesellschaft und die Cultur gestalten werde, sobald das Heiden- thum ganz zu existiren aufgehört haben würde. Der Charakter des Mittelalters zeigt sich in dem Uebergewicht der religiösen Idee, die jede Thätigkeit und jeden Stand der Gesellschaft bis ins innerste Mark durchdringt. Das sich entwickelnde Christen- thum war eben nicht in der römischen Welt aufgegangen, sondern hatte diese in sich aufgehen lassen. Die menschliche Thätigkeit wird nun in scharfer Absonderung auf die verschiedenen Stände vertheilt und mit dem Triumph über das Heidenthum entwickelt sieh auch die erste radicale Spaltung zwischen Laien und Clerikem. Den ersteren bleibt die Pflege des materiellen, den letzteren die des geistigen Lebens. Dem Laien erscheint es ganz natürlich, wenn die Bildung nicht seine Sache ist. Er schämt sich deshalb eben so wenig, als es eiue Schande für ihn ist, nicht Cleriker zu sein, und schliesslich bedeutet Cleriker einen gelehrten Mann,. Laie den Nichtgelehrten. Jeuer ist zwar ausgezeichnet, dieser aber nicht verachtet. Eben darum coucentriren sich die Cultur und das geistige Leben, die das Eigenthum einer religiösen Kaste geworden sind, in der Religion. Der Einfluss dieses Standes, der vom Fürsten bis zum Bauer das Herz und den Verstand Aller in der Hand hatte, zeigte sich in allen Schichten der Gesellschaft.

Alles das bestimmt den Charakter der mittelalterlichen latei- nischen Poesie von klassischer Form. Ein künstliches Produkt der Schule wird sie vom Clerus auf das religiöse Gebiet über- tragen. Von anderen Empfindungen schliesst sie sich ab, aber selbst die profanen Stoffe z. B. die versificirte Dar.stellung einer

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 147

historischen Begebenheit, zeigen doch in ihren moralisirenden Ten- denzen den kirchlichen und religiösen Standpunkt. Die Barbarei und Unwissenheit in der Anwendung der poetischen Mittel, die, wie wir gesehen haben, in den Grammatik- und ßhetorenschulen des Mittelalters herrscht, ist ganz dieselbe in den Gedichten dieser Art. Dieselben dienen ja nicht dem Ausdruck einer Leidenschaft oder einer Empfindung, noch sind sie die besonnene und feine Nachahmung eines bestimmten Kunsttypus, sondern sie gelten lediglich als ein Zeitvertreib und eine Uebung in der Versraacherei. Einer solchen Zerstreuung und Erholung konnte man wol „ad majorem dei gloriam" einige Stunden widmen. Ein wahrer Dichter, der nichts ist, als ein solcher, wäre diesen Leuten schon eben dadurch widerlich gewesen. Lactanz, Aldhelm, Alcuin, Beda, Rhabanus Maurus und Andere machen ihre latei- nischen Verse zur Unterhaltung, so wie man heute eine Partie Billard spielt, und finden einen Spass daran. Hunderte von Räth- selu, Logogrjphen, Anagrammen, Akrosticha und ähnliche Kindereien zu produciren. Auch in diesen lateinischen Gedichten mittelalter- licher Mönche zeigt sich so recht der Charakter der Dichtung der Verfallzeit, abgesehen davon, dass die antiken Formen jetzt viel roher behandelt werden und ihre Existenz noch weit mehr in Frage gestellt ist, als früher, wo sie dem Schulzwecke dienten^). Man begreift übrigens, wie sich in der kirchlichen Literatur die sprachliche Form in der der Kii'che stets eigenen stereotypen Weise, und der Einfluss des Geschmackes, welcher eben, als die Kirche sich in der römischen Welt organisirte, der heiTSchende war, fixiren musate. Rhetorik und Declamation, ein ewiges unverstän- diges Wiederholen von Phrasen und Gemeinplätzen , der falsche \uid übertriebene Schmuck conventioneller Epitheta, dazwischen ein Aufputzen mit Stellen aus beliebten Schriftstellern erhielten sich in der lateinischen Literatiir der Kirche ebenso unverändert wie die Liturgie und das Ritual. Wir finden dieselbe Eigenthümlich-

1) Leyser, De ficta medii aevi barbarie, imprimis circa poesim la- tinam, Heimst. 1719, hat sich vergebens bemüht, die lateinische Poesie des Mittelalters zu vertheidigen. Denselben Gedanken hat Wright: On the auglo-Jatin poets of the twelfth Century (in seinen Essays on subjects connected with the literature, populär superstitious and history of Eng- land in the middle ages. Vol. I, p. 176—217) mit besserer Begründung ausgeführt. Aber die Vorzüge beschränken sich doch auf einige Ausnahmen. Vgl. auch Baehr, Geschichte d. röm. Literatur im Karolin- gischen Zeitalter, cap. II.

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148 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

keit bei Augiistiu, Cassiodor, Gregor und Thomas von Aquino, wie in den neuesten Allocutionen und Rundschreiben des Papstes und den modernen religiösen Schriftstellern, so weit sie Katholiken sind. Eben weil diese in ihrer Cultur, ihrer Empfindung und Dialektik mittelalterlich sind, mühen sie sich vergebens ab, die moderne Wissenschaft zu bekämpfen, die sich nicht um sie be- kümmern kann.

Die Lage, in welcher sich die christliche Poesie befand, wurde ganz unerträglich. Im Alterthum waren Religion und Poesie Schwestern, oft sogar identisch miteinander. Die Mythologie, die selbst eine poetische Schöpfung war, bildete ganz abgesehen von den poetischen Idealen, in denen sie zur Geltung kam, einen so we- sentlichen Bestandtheil des poetischen Hausrathes , dass man un- möglich in der antiken Form Christus und die Heiligen besingen konnte, ohne dass nicht zugleich Apoll mit den neun Musen und der ganze heidnische Olymp in das Gedicht mit eindrang. Es ist allerdings richtig, dass jene Gestalten vor der neuen Religion ihren religiösen Charakter ganz aufgaben und nur ihren poetischen Werth beibehalten konnten ; wie denn in der That ihr Fortleben in der euro- päischen Poesie bis auf die Neuzeit überraschend genug ist^). Das konnte jedoch ohne grossen Schaden nur geschehen, wenn eine Kunst neue Formen annahm, in denen das Erbe der älteren zwar modificirt aber doch noch richtig zur Erscheinung kam. In einer Kunst aber, die nur nachahmte und deren Form antik war, musste jene selbst oder, wie wir es in der Renaissance sehen, die neue Idee, auf die mau sie anwenden wollte, dabei verlieren. Diese Unverträglichkeiten wurden von vielen Mönchen um so eher bemerkt, je mehr das Christenthum ihren Geist beherrschte, und sie dachten wol auch daran, das Missverhältniss zu vermeiden^). Aber wollten sie ihr Gefühl retten, so thaten sie wieder durch die komischen Mittel, zu denen sie griffen, der Kirnst Schaden, wie wenn sie an Stelle der alten poetischen Anrufungen: „domine labia mea aperies" oder gar noch schlimmer, „der welcher

1) Wie diese heterogenen Elemente miteinander verschmolzen, hat Piper gezeigt in seinem gelehrten Werke „Mythologie der christlichen Kunst, von der ältesten Zeit bis ins sechszehnte Jahrhundert", Weimar, 1847—51.

2) „Sed Stylus ethuicus atque poeticus abjiciendus; Dant sibi turpiter oscnla lupiter et schola Christi."

Bernard. Morlan. de conteniiit. p. 80.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 149

die Eselin Balaam's sprechen Hess u. s. w." sagten^). Und doch hat jene so lebhafte und so intensive Empfindung sich schliesslich emancipii-t. Sie dui'chbrach die Fesseln, die sie in den klassischen Formen gefangen hielt, und fand einen Ausweg in der, wie die Zeit es verlangte, einfachen, volksthümlichen Latinität, welche das Organ der Liturgie und des christlichen Glaubens blieb. Indem das Ohr dem Volksgesange lauschte, der wie natürlich aus der lebendigen Volkssprache auch neue Khythmen entwickelte, hörte es nur noch den Accent und nicht mehr die Quantität der Sjlben. In den so entstandenen lateinischen rhythmischen Poesien bewegte sich das Mittelalter viel freier und offenbarte seine Stimmung viel reiner und natürlicher. Prudentius und die anderen gelehrten christlichen Dichter haben niemals in ihren Versen so viel wahre und wirklich gefühlte Poesie geoffenbart, als sich in dem „Dies irae" und ähnlichen Dichtungen zeigt, die sich durch Sprache und Vers durchaus von den Klassikern unterscheiden. Hier hören wir, wie die Seele zagt und zittert, wie sie fürchtet und hofft und voll Begeisterung sich emporschwingt. Man braucht aus dem In- halt des Gedichtes gar kein Glaubensbekenntniss zu machen und kann doch diese schöne und zarte Poesie empfinden, eben weil sie wirk- lich aus der Seele des Menschen entspringt und sich auf eine all- gemein menschliche Empfindung stützt, während man die rhetori- sii-enden Künstler von Oden und Hexametern gar oft fragen möchte, ob sie es auch ernst mit ihren Worten meinen.

Diese neue Poesie, deren hervorragendste Leistung der latei- nischen Kirchensprache und der religiösen Empfindung angehören, entspringt aus derselben frischen Quelle, der auch die neue Laien- dichtung der Volksliteratur entquillt. Ihre Erscheinung entsprach so dem Zeitgeiste, dass sie selbst die Poesie der Schule, der sie lange zur Seite ging, beeinflusste. Aus dem Bildimgsstofle , den die Schule bewahrte, zog die Volkspoesie Gedanken, Namen und Thatsachen. Dafür lieh sie wieder der Schule oft ihre Rhythmen oder zerstörte die alten metriscTien Typen, indem sie die Quan- tität der Sylben vergessen Hess und Accent imd Reim zur Geltung brachte.

1) „Vix muttii-e queo, mutum, precor, os aperito, Ipso docens asinam quae doceat Balaam." Heriger. (10. Jahrb.) Gest. Leodiens. bei Pertz, Mon. Germ. IX, 177. Vgl. die Stellen aus Paulinus Nolanus, Sigbert u. a. bei Zappert a. a. 0. Anm. 61.

150 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Diese kurzen Bemerkungen über die lateinis^chen Dichtungen des Mittelalters sollen zeigen, wie jene damals die Cultur beherr- schende Kaste eben so wenig bei ihrer gelehrten Thätigkcit, wie in der Nachahmung der alten Muster eine Vorstellung vom Alter- thume hatte. Daraus erklärt sich auch, wie wenig jene Leute für das aesthetische Verständniss Virgils beftihigt waren ; ihrem mangel- haften Studium entsprach ihre gelehrte Production ganz genau ; Wir können uns jetzt zu der neuen Literatur der Volkspoesie wenden und müssen nunmehr die Stellung unseres Dichters in diesem neuen Elemente betrachten. Bevor wir uns jedoch auf dieses nexie, von dem vorher besprochenen so durchaus verschiedene Gebiet begeben, ist es nöthig, zuvor die hauptsächlichsten charakteristischen Züge der Vorstellung, die das Mittelalter vom Alterthum hatte, noch einmal zusammenzufassen.

Zwölftes Capitel.

Die Thatsache, dass im Mittelalter das Studium des Griechi- schen ganz aus dem westlichen Europa verschwindet, ist für die damalige Vorstellung vom Alterthum und für das Verhältniss Virgils zu derselben von bedeutenden Folgen gcAvesen. Jene Spaltung, die zunächst zwischen Rom und Byzanz bestehend, dann aber mit dem Verfalle des Reiches und dem Vordringen des Christenthumes besonders seit Justinian sich über den ganzen Occident und Orient erstreckt, und in der Religion mit dem Schisma des Photius und der Trennung beider Kirchen endigt, durchdringt in gleicher Schärfe auch die gesammte Bildung und das Studium. Obgleich das Christenthum zu den Völkern latei- nischer Cultur zuerst in griechischer Sprache gekommen war und der Text der Evangelien wie der Kirchenväter Basilius, Chrysos- tomus, Dionysius Areopagita u. A. griechisch ist, war doch die Kirche, seitdem sich das Centrum des Christenthums in Rom fest- gesetzt hatte, und von doi-t aus eine gleichsam von Rom unzertrenn- liche Weltherrschaft ausgeübt wurde, wesentlich römisch und la- teinisch geblieben. Das allgemeine Organ, dessen sie sich dabei bediente, war die lateinische Sprache, und so sorgte sie allein für die Fortdauer der römischen Literatur, wenngleich mit jener den profanen Zwecken gegenüber gewöhnlichen Nachlässigkeit. Aber es trat sowol in den Ländern lateinischer wie griechischer Cultur der Verfall ein. Das Band, was sie zusammengehalten hatte, zerriss, und die Anziehungskraft, welche die römische Welt auf

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 151

so viele griechisrche Schriftsteller ausgeübt hatte, machte jetzt dem Misstraueu und gegenseitiger Antipathie Platz. Aus der Cultur des westlichen Europas verschwand jenes griechische Element, das so tief in die römische Bildung eingedrungen war, einen solchen Hauptbestandtheil der literarischen Productionen der Römer bildete und so wesentlich für deren volles Verständniss war. Hier und dort findet sieh wol ein Dilettant, der ein wenig Griechisch ver- steht oder ein Lehrer, der seinen Schülern eine schwache Vor- stellung davon gibt'), aber die sichere Kenntniss des Griechischen ist eine grosse Seltenheit, und selbst die, welche den Ruf genossen, es zu verstehen, vermochten kaum eine Zeile ohne die gröbsten Fehler zu übersetzen. Selbst die ausgezeichnetsten unter dem lateini- schen Clerus bekunden die grosseste Unwissenheit. Die gewöhn- lichsten griechischen Worte, die für Kirche und Schule unentbehr- lich waren, erklärte man in Glossaren i;nd encyklopädischen Re- pertorien. Irrthümlich haben einige neuere Gelehrte in Folge dieses oder jenes griechischen Wortes, das bei einem mittelalter- lichen Schriftsteller vorkömmt, bei demselben eine Kenntniss des Griechischen vorausgesetzt. Abgesehen von lateinischen Ueber- setzuugen einiger Bücher des Aristoteles, wusste man von der alten griechischen Literatur und von Griechenland selbst nur das, was man mittelbar aus den lateinischen Schriftstellern dafür auffinden konnte. Homer war nur aus dem lateinischen Auszuge in Versen bekannt, für dessen Verfasser man nicht selten ihn selber oder den the- banischen Pin dar hielt ^j. Wenn die mittelaltei-licheu Schriftsteller,

1) Einige Ausnahmen von dem was ich hier bemerkte finden sich bei Gramer, De graeeis medii aevi studiis. Sundiae 1849 53. Le Glay, Sur l'étude du gi-ec dans les Pays-Bas avant le quinzième siècle. Cambrai, 1828; Egg er, L"Hellenisme en France. Paris, 1869; Young, On the history of Greek Literature in England from the earliest times to the end of the reign of James the first, Cambridge, 1862; Warton, On the introduction of learning iu England, im 1. Bande seiner History of english poetry. Lond. 1840 p. LXXXII ff.; Gradenigo, Intorno agli italiani che dal secolo XI intìn verso la fine del XIY seppero di Greco, in den Miscellanea di varie operette. Bd. Vili, Venezia 1744. Eine Geschichte der griechischen Studien in Italien während des Mittel- alters wäre gewiss von besonderem Interesse, obgleich die von der By- zantinischen Herrschaft ausgehenden Einflüsse auf die Cultur in einigen Provinzen nicht so bedeutend waren, als man meint.

2) Hugo von Trimberg (13. Jahrhundert) setzt diesen lateinischen Homer nach Statius an. Der Grund, den er dafür anführt, be-

152 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

wie oft geschieht, i;uter den grossen Dichtern der Alten Homer lind Virgil nebeneinander stellen, wie es ja auch die Römer thaten, so wiederholen sie nur mechanisch eine Bemerkung der lateinischen Autoren oder eine Schultradition. Von der Beziehimg beider zu einander konnten sie natürlich keine Idee haben. Homer war ein leerer Xame; als grösster Dichter der Alten und erster Profan- schriftsteller galt für die Schule Virgil. Er nahm also unter dem ganzen Comjilex der erhaltenen antiken Literatur wie im Unter- richte eine viel höhere Stellung als bei den Alten ein, die ja auch die griechischen Dichter in der Schule lasen. Aber neben dieser Oberherrschaft Virgils in der klassischen Uebei-lieferung war doch diese selbst in den tiefsten Verfall gerathen. Bei der geistigen Thätigkeit und Bildung der Zeit blieb für- diese Tra- dition nur noch ein beschränktes Gebiet übrig, das noch dazu durch Vorurtheile und Irrtbümer in ein ganz schiefes Licht gerückt war. Die C4eistlichen hatten ja, wenn sie sich mit Profanstudien ab- gaben, eigentlich andere Hauptbeschäftigungen. Cassiodor empfiehlt zwar seinen Mönchen diese Studien, setzt aber doch hinzu, dass man zur wahren Weisheit auch ohne Literatur gelangen könne. „Nichtsdestoweniger", meint er, „ist es gerathen, von ihr eine massige Kenntniss zu erlangen, nicht als ob wür darum hoflfen könnten, gerettet zu werden, sondern weil wir wünschen, dass, in-

weist, wie wenig das westliche Europa im Mittelalter von Honitr wusste :

„Sequitur in ordine Statium Homerus

qui nunc usitatus est, sed non ille verus;

nam ille Graecus extitit graeceque scribebat,

sequentemque Veri,'ilium Aeneidos habebat,

qui principalis extitit poeta latinorum;

sic et Homerus claruit in studiis Graecorura.

Hie itaque Vergilium praecedere deberet,

si latine quispiam hunc editum haberet.

Sed apud Graecos remaneus nondum est translatua;

hinc minori locus est hie Homero datus,

quem Pindarus philosophus fertur transtulisse

Latinisque doctoribus in metrum convertisse." Vgl. Haupt, Monatsschr. d. Beri. Akad. 18.54, p. 147; L. Müller, Ho- merus latinus im Philologus XV p. 47ä ff. und im Rhein. Mus. N. F. XXIV, p. 492 f. Wenu die mittelalterlichen Schrift.steller von einem damals gelesenen und bekannten Homer sprechen, so meinen sie im allgemeinen diesen lateinischen Homer. Es ist daher ein grober Irr- thum, wenu Wright (Biogr. Brit. lit. I, p. 40) meint, Homer sei in den Schulen des Occidentes bis ins 13. Jahrh. gelesen worden.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 153

dem wir sie im Vorbeigehen studiren, uns der Vater des Lichtes die wahrhaft heilsame und wolthätige Weisheit schenken wird"^). Diese Worte kennzeichnen hinreichend die Stellung, die der Clerus im Mittelalter den Profanstudien gegenüber einnahm. Die ganze Hauptkraft und Thätigkeit des Geistes war auf Theologie und Askese gerichtet nnd erging sich dabei in den Abstrac- tionen der Dialectik und speculativen Philosophie. Hierin fanden die hervorragendsten Geister ihre Nahrung, jedes andere Studium war für die Kinder eine Vorbereitung zu höheren Dingen, für die Erwachsenen ein Zeitvertreib; sich aber ausschliesslich mit ihm zu befassen, erschien geradezu als frivol und der Würde eines Geistlichen nicht angemessen. Selbst ein Schriftsteller, welcher Sylvester IL wegen seiner Kenntniss der Mechanik und Mathe- matik, nicht der Magie anklagte, gestand doch ofifen, „dass er sich gar zu sehr den weltlichen Studien ergab" ^). Dies war aber nicht bloss die Anschauung derer, welche die Profanstudien, weil sie sich auf die Autorität der Heiden stützten, verachteten und verdammten, sondern auch der Leute, welche sie billigten und zu fördern strebten. Daher die' vielen Widersprüche unter den Zeit- genossen selbst; die einen beklagen den Verfall der Studien, die andern sagen, dass sie zu sehr blühen^); aber an eine Blüthe

1) „Sciamus tamen non in solis litteris positam esse prudentiam, ned sapientia,m dare Deum unicuique prout vult . . . . si tamen, divina grafia suffragante, nòtitia ipsarum rerum sobrie ac rationabiliter inqui- ratur, non ut in ipsis habeamus spem provectus nostri, sed per ipsa transeuntes desideremus nobis a Patre luminum proficuam salutaremque sapientiam debere concedi." Cassi od. Instit. div. e. 28.

2) „Studiis saecularibus nimium deditus." Anon. Zwettling. Vgl. Hock, Gerbertus, e. 13.

3) „Cum studia saecularium litterarum magno desiderio fervere cogno- 8cei*em, ita ut magna pars hominum per ipsa se mundi prudentiam cre- deret adipisci, gravissimo sum, fateor, dolore permotus, quod scripturis divinis magistri publici deesseut, cum mundani auctores celeberrima procul dubio traditione pollerent." Cassio d. Praef. ad div. inst. ; „Unde miror sàtis quod non velini mystica Dei sacramenta ea diligentia jjer- scrutari qua tragoediarum naenias et poetarum figmenta sudantes cupiunt investigare labore." Paschas. Rathbert. (9. Jahrb.), in Math. p. 411 f. (Bibl. Patr. max. XIV); „Alii autem studiis incitati carminum ad nae- niarum garrulitates alta divertunt ingeuia, famam autem veritatis ergo, Dei sanctorum memorando gesta.... fabulis delectati, non pavent sub- cludere." Gumpold beiPertz, Mon. Germ. bist. IV, 213; ,,Cumque gen-

tilium figmenta, sive deliramenta cum omni studio videamus in

gyranasiis et scholis publice celebrata et cum laude recitata, dignum

154 Viigil in der Literatur bis auf Daute.

war unter dies^en Yerhältuisseu gar nicht zu deuken, wenngleich jene trotz der Gegenbestrebungeu niemals zu existiren aufgehört haben. Wer die Geschichte dieser Zeiten schreibt, w'ird als be- nierkenswerth verzeichnen müssen, wenn er ab und zu ein Lebens- zeichen der klassischen Studien wahrnimmt. Wie die Bettler schleichen sie von einem Kloster zum andern, selten dass sich ein Fürst ihrer annimmt: auf Karl den Grossen, der sie kaum zu- reichend beschützt, folgt Ludwig der Fromme, der sie verabscheut. Es war aber nicht allein der heidnische Geist der alten Literatm-, der von ihrer Beschäftigung abhielt, sondern im Allgemeinen mehr der weltliche Charakter dieser Studien. Das ästhetische Gefallen erschien wüe eine sündliche Emiifindung oder Ausschweifung. Auch die Erholung musste erbaulich und fromm sein. Die vom Mönchsthum beherrschte Bildung hatte nicht mehr den Zweck, den Geist zu verfeinern und zu verschönern, sondern ihn zu reinigen und nach den theologischen Vorschriften, die das Christenthum repräsentii-en sollten, für seinen überirdischen Zweck zu heiligen. Vorher hatten die lateinischen Schriftsteller mit den Griechen, jetzt mit den heiligen Schx'iften zu concnrriren, was viel gefährlicher für sie war. Letztere waren ja eben die Klassiker der Epoche, an denen der Geist sich bildete, und in denen er dem moralischen Zwecke des Lebens entsprechend seine passendere Nahrung fand. Schon 'in den Büchern des alten Testamentes finden wir jene Uni- versalität der Religion, welche die ganze Menschheit durchdringt und regiert und ebenso wesentlich für das .christliche wie das jüdische Ideal gewesen ist. Auf ihnen basirte aber vor allem in jener Zeit die moralische und religiöse Erziehung. Ihnen zur Seite standen Virgil und die alten Häupter der profanen Erzie- hung; freilich in jenem ungeheuren Abstände des Menschenwortes vom Gotteswort, der Achtung vor der Literatur von der Verehrung der Eeligion. Obgleich es als Profanation erscheinen konnte, diese Bücher als Denkmal der Literatur zu betrachten und sie den Klassikern an die Seite zu stellen, blieb ihnen doch ein literarischer Character. Besonders, was die Poesie anlangt, übten sie durch

duximus ut sanctorum dieta et facta describantur, et descripta ad lau- dem et honorem Christi referantur." Histor. Eliensis bei Gale, Scriptores bist. brit. p. 463.

1) „Poetica carmina gentilia quae in juventute didicerat respuit, nee legere, nee audire, nee decere voluit." Thegan., Vit. Ludovic. Pii. § 19.

Virgil iu der Literatur bis auf D-.iute. 155

ihre fortwährende Anwendung in der Liturgie, im Gebete uud der erbaulichen Literatur einen bedeutenden Eiufluss aus. Sie ge- wöhnten den Geist an poetische Formen und an ein poetisches Ge- präge, das sich auf das schroffste von dem klassischen Typus unter- scheidet. Dazu kam, dass sie weit mehr mit den warmen Empfin- dungen des Gläubigen harmonirten, und aus eben diesem Grunde gaben die im Schulgebrauch noch immer vorhandenen klassischen Formen allmälig ganz ihr Leben auf. Man drang nicht mehr iu den Geist der alten Poesie ein, und wurde unfähig, ihn unabhängig von irgend einem religiösen Vorurtheil und blos mit dem Auge des Laien zu beurtheileu. Zum Verständniss einer fremden und nicht mehr lebendigen Poesie muss der Geist sich in jene erhabenen Regionen aufschwingen, in denen er mit klarem Blicke die verschie- denen Formen und Phasen der menschlichen Productivität erschaut. Um aber eine dem Mittelalter so entgegengesetzte Poesie zu ver- stehen, wie die der Alten ist, musste der Geist erst eine ganz be- sondere Schule durchmachen, die den Geschmack in eine andere Bahn lenkte und ihm Dinge zeigte, die höher stehen als die ge- wöhnlichen Erscheinungen des Lebens. Von selbst kann man nicht dahin gelangen. Es bedarf vielmehr einer grossen Anstrengung in der eben so individuellen wie universellen Erziehung und Bildung, die wir aber nicht bei einem Mönche des Mittelalters voraussetzen können. Die Cultur des Mittelalters ist in jeder Beziehung zu arm, schwach und vernachlässigt, als dass sie den Geist über die gewöhnliche Anschauungsweise zu erheben vermöchte. Huma- nismus ist dieser Zeit etwas Unbekanntes. Der am Meisten welt- lich gesinnte Mönch, der sich in die alten Schriftsteller verliebt hat, ist immer noch ungebildeter, als der schlechteste Latinist aus der Renaissance. Eben darum verstehen Mönch wie Laie de.s Mittelalters die neue nationale volksthümliche Dichtung der Zeit besser, als die klassische, und nur so erklärt sich das Ein- dringen der Volkspoesie in die Klöster, sowie der Umstand, dass gerade die Mönche vornehmlich es sind, w^elche jene neuen Volks- dichtungen sow'ol in lateinischer wie volksmässiger Sprache sammeln und pflegen. Wer nicht das Eigenthümliche dieser Abirrung von den antiken literarischen Idealen, so wie die Unfähigkeit des ganzen Mittelalters sie zu verstehen begreift, wird auch niemals ganz die Renaissance begreifen.

Der Cleriker des Mittelalters nahm nur eine kleine Summe des alten Wissens auf und diese selbst doch nur äusserlich und unter falschen Gesichtspunkten; darum darf man fi'eilich nichl

156 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

sagen, dass das Wissen der Alteu nicht etwas Grosses für; ihn war. Der bigotteste und fanatischste Asket trügt kein Be- denken, wenn er von den Alten hört, sie für unendlich weise zu halten, so wie er ja auch den Geist der Finsterniss, den bösen Versucher füi- weise hält und ihm oft die Kunst der Alten zu- schreibt. Ein solches ürtheil ist aber nur die Folge der Autorität und des Nimbus, in welchem nun einmal die Namen eines Plato, Aristoteles, Homer, Cäsar, Cicero, Virgil u. s. w. jenen Leuten er- schienen. Oft war es auch das Resultat rein negativer Gründe, vor allem aber der Unwissenheit, welche jene Vorstellung der Weis- heit vergrösserte und verfälschte. Das Christenthum leugnete ja nicht die wunderbare Kraft des Verstandes, aber übertrieb sie, und vergi-össerte dadurch das Verdienst des Glaubens. Einem nothwendigen Conflicte zwischen Vernunft und Glauben konnte doch der Christ nicht beistimmen. Er verdammte also nicht das gesammte Alterthum, sondern unterschied nur zwischen den Gebieten beider und zeigte, wo sie sich berühren und trennen. So kam er dazu, Vernunft und Glauben in Einklang zu bringen, die, wie er meinte, nicht durch feindlichen Widerspruch sondern nur durch ihr Gebiet von einander geschieden seien. Für den Welt- verächter des Mittelalters hat das Alterthum wol staunenswerthe Dinge vollbracht, aber es irrte, weil ihm die göttliche Erleuchtung fehlte, und ist deshalb eben dem Geiste so gefährlich. Die Thätig- keit der Vernunft wird ja nach dem Christenthume nicht ausge- schlossen, sondern durch den Glauben nur berichtigt und vervoll- ständigt. Für den Gläubigen gebührt natürlich der Primat dem Glauben; je mehr sich die Seele in ihn versenkt, desto weniger Freiheit erhält der denkende Geist. Darum war jenes Dilemma ganz allgemein zugestanden: entweder sagt uns die Vernunft etwas anderes als der Glaube und dann irrt sie, oder sie stimmt mit jenem überein und dann ist sie überflüssig. Das eben war die Anschauung des Mönchsthums im Mittelalter. Jene grosse philo- sophische Bewegung, die mit Scotus Erigena begann und den Werth der Vernunft anerkannte, erregte den Unwillen der religiösen Autorität. Ihr zur Liebe geschah es gewiss nicht, dass das erst schüchtern, dann sich energisch hei-vorwagende Wort von der Thätigkeit der Vernunft ausgesprochen wurde, das schliesslich den Glauben auf Gewissen und Empfindung beschränkte, ihn von der Erforschung der Wahrheit ausschloss und so die moderne Wissenschaft schuf.

Aus diesen Anschauungen ging also jene übertriebene und

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 157

faL^che Vorstellung von der Weisheit der Alten hervor. Eine einzige Idee behen-schte ja die ganze christliche Thätigkeit und in dem Lichte dieser erschien auch dem Christen das Alterthum Man fragte nur nach seiner moralischen Seite, die, je nach dem man sich die Sache vorstellte, theils sichtbar, theils verborgen war. Neben dem moralischen und philosophischen Gesichtspunkte war der ästhetische gar nicht voi-handen.

Damit hing auch die grosse Verkehi-theit der historischen Vor- stellung vom Alterthurae, die das Mittelalter hatte, zusammen. Neben den geschichtlichen Büchern, welche die Vorzeit in Erin- nerung brachten, las man die Bücher der Juden, die als Glaubeus- autorität obenan standen und die Geschichte ab ovo mit einer Kosmogonie und Anthropogonie begannen, die mit dem jüdisch- chi-istlicheu Monotheismus im Einklang stand. Sie imponirten den Gläubigen nicht allein durch die Menge fabelhafter Geschichten, die ganz verschieden von den antiken durch die Literatur überlieferten Mythen waren, sondern auch durch ihre Art, die Geschichte zu betrachten. Nachdem das Christenthum die nationalen Schranken des Judenthums durchbrochen hatte, um die ganze Menschheit in Gott zu umfangen, war von demselben Standpunkte aus, in dem sich die Juden Gott gegenüber betrachteten, der Gesang „In exitu Israel de Egypto", der symbolische Hymnus der wieder ge- wonnenen Menschheit geworden.

Die Idee von dem göttlichen Lamme, welches die Sünden der Welt trägt imd der wirkungsreiche Eifer des Apostelthums Hessen in der Betrachtung der Universalget^chichte natürlich vor allem jene Momente hervortreten, welche zu jener Vorstellung beitrugen; das Gottesreich, die Sünde der verin-ten und gespaltenen Men- schen, und die Vereinigung der Menschheit zu einer Heerde und unter einem Hirten, erleuchtet und gesegnet durch den gna- denreichen Tod Christi. So zeigten sich in der Geschichte vor allem zwei bedeutende Momente. Eine lange Epoche des Irrthums und der Blindheit und eine lange Epoche der Reinigung und Wahrheit. In der Mitte stand das Kreuz von Golgatha. Am Meisten -sympathisch war dabei die Geschichte von der wiederge- borenen Welt, die in pathetischer und poetischer Weise von den Kämpfen, Märtyrern nnd Triumphen der Gläubigen erzählte. AUes Uebrige betrachtete man nur in Beziehung hierauf entweder als Negation, als entfernte Uebereiustimmung oder als Vorbereitung. In dieser Vorstellung ragten aber besonders zwei Städte hervor, das Jerusalem der Juden und Christi, die Stadt der Vergangen-

158 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

heit, und Rom, der mit dem Blute der Märtyrer benetzte Sitz Petri und seiner Nachfolger, der heilige Mittelpunkt der lebenden Christen. Die Geschichte dieser beiden Städte vereinigte sich nur in einem feierlichen Augenblicke: als nämlich Christus geboren ward und lebte und die grossen Apostel ihre Thätigkeit begannen; vou da an verschwindet Jerusalem, und Rom tritt an seine Stelle. Aber die Erinnerungen der Christen hingen vor allem an dem kaiserlichen Rom. Keine Periode der Geschichte war im Mittel- alter für die Leute anziehender. Das Papstthum, die Kirchenväter, die Beziehungen des Christenthumes zum Reich in seinen Anfängen Kämpfen und Siegen, die Entwicklung der Kirche, die Elemente der heiligen und profanen Bildung, alles führte auf diese Epoche zurück. Der Mittelpunkt der religiösen Erinnerungen war Christus, der politischen Octavianus Augustus, unter welchem Christus ge- boren war*). Die Gläubigen haben nie aufgehört, es als eine wunderbare Begebenheit zu preisen, dass die Anfänge des Christen- thumes mit den Anfängen des Kaiserthumes zusammenfielen, und Christus geboren ward, als die Römer in der Fülle ihrer Macht, ihres Reichthums und ihrer Talente standen, als der Frieden über das weite römische Reich herrschte und unter den scheinbar glücklichsten Auspicien ein Zeitalter der Erneuerung begann. Da ist denn vor allem bemerkenswerth, dass Christus gi-ade diesem Glanz entgegentrat und die Welt von jener Höhe, die sie damals erreicht hatte, so weit zurückstossen sollte. Es war aber kein Wunder, sondern nur die Folge der Geschichte, wenn die neue Religion den Sieg davon trug. War doch die Zeit auf eine all- gemeine Erneuerung vorbereitet; die müde Gesellschaft sehnte sich nach etwas Neuem, und die allgemeinen Ziele des Christenthumes wären Träume geblieben, wenn sie nicht unter so verschiedeneu Völkern die durch den starken Arm der Römer hervorgebrachte Gleichartigkeit gefunden hätten. Das sahen auch die Christen ein, und wie die Gläubigen stets die Geschichte durch das Prisma

1) „Finis consummationis imperii romani fuit tempore (Jctaviani im- peratoria: ante quem et post quem sub nullo imperatore romanum im- perium ad tantum culmen pervenit: cuius anno 42 dominus noster J. C. natua fuit, toto orbe romano sub uno principe pacato; ad significaudum quod ille rex coeli et terrae natus esset in mundo qui coelestia et terrestria ad invicem conoordaret." Engelbert. Admont., De ortu et fine rom. imp. 20. Diesen Gedanken wiederholen alle Chronisten des Mittelalters. Vgl. über die auf Augustus bezüglichen Ideen imd christlichen Legenden ' Mass mann, Kaiserchronik III, p. 547 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Daute. 159

ihres Glaubens betrachteten, so meinte man auch in dieser Vorbe- reitung das Werk Gottes zu erkennen, der seit lange dafür gesorgt hatte, dass die Zeit endlich reif wurde für das Er- scheinen des Heilandes^). Dies glaubten alle, welche in der Vor- sehung den Schlüssel der Geschichte erblicken, wie ja auch die Hebräer in Mitte der alexandrinischen Cultur den Begebenheiten göttliche Ursachen beimassen^). Unzweifelhaft trugen zu dieser Ansicht die Schicksale Roms viel bei; die gigantische Grösse der- selben gab auch den Römern und den Alten überhaupt eine Vorstellung von dem besonderen Schutze der Gottheit. Diese vor allem zur Zeit des Augustus herrschende Idee"*), die Virgil so erhaben dargestellt hat, die Idee, dass eine alte Schicksalsbe- stimmung und ein göttlicher behaiTÜcher Wüle die Ereignisse vor- bereitet und gelenkt habe, weichte zur Gründung und Grösse Roms, jenes wolthätigen Mittelpunktes der Menschheit, führen musste, nahm also auf diese Weise ihren Fortgang und wurde nun in christlichem Sinne reproducirt. Im Mittelalter glaubten die Kirchen- väter und die ältesten christlichen Dichter ganz fest, dass Gott jene Stadt luid ihre grossartigen Eroberungen gewollt habe, damit sie als Mittelpunkt der Welt der Sitz der Statthalter Christi sein könne ^).

Mit dem Sinken der politischen Gewalt Roms hörte aber der Eiufluss dieses Mittelpunktes nicht auf, sondern änderte sich nur. An Stelle des Kaiserreiches trat das Papstthum und die katholische Kirche, die in der Universalität ihres Characters, ihrer Zwecke und Einrichtungen, die alte Kaiserherrschaft gleichsam fortsetzte. Auf die Kraft des Armes, folgte jetzt die des Geistes; freilich

1) So u. a. Lasaulx, Zur Philosophie der röm. Gesch. München 1861 (iu den Acten der Baierischen Academie), ein für die Geschichte jeuer Ansicht nützliches Buch.

2) Ol ftfv yÙQ ini rijs otxovfiévTjs ndvTsg sißl 'Pcofioitoi 8ixa yuQ

&SOV avaTTJvai, rrjXfnavzrjv rjyi(ioviocv dövvarov. Fl. Joseph. B. J. 2, 16, 4.

3) Unter den vielen Stellen lateinischer Autoren , die diesem Gedanken Ausdruck geben, seien die dem Romulus in den Mund gelegten Worte des Livius erwähnt (I, 16): „ahi nuncia Romanis, Coelestes ita velie, ut mea Roma caput orbis terrarum sit: proinde rem militarem colant, sciantque et ita posteris tradant, nullas spes humanas armis romanis re- sistere posse. Haec locutus sublimi« abiit."

/ 4) „Romanam urbem Deus praeviderat christiani populi principalem sedem futuram," Thomas. A quin. De regim. princ. 1, 14. Vgl. Dante, Inf. 2, 19 und viele andere.

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158

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160 Virgil in der Ijiteratur bis auf Dante.

war diese nicht neu; denn auch das weite römische Reich war nicht blos durch materielle Mittel zusammengehalten worden, son- dern repräsentirte nicht minder eine kräftige, dauerhafte moralische Einheit, welche die politische Zerstückelung lange überlebte. Als Erbin und Wiederherstellerin jeuer gi-ossen römischen Schöpfung hatte sich die Kirche an die Stelle des Reiches mit ganz derselben Kraft und Ausdehnung der Gewalt gesetzt, so dass sie in der That als die erste Macht der Welt erschien, der alle anderen unter- geordnet waren. Indem aber die lürche die abstracte Idee der kaiserlichen Weltherrschaft fortsetzte, spiegelte sich ihre Gewalt auch in der Autorität der weltlichen Grossen ab, die ja ebenfalls jenes hohe Ideal der Kaiserherrschaft begünstigten. Karl der Grosse wollte dasselbe verwirklichen, betrachtete es aber nicht als eine neue Schöpfung, sondern als eine Restauration und Fortsetzung, und sah deshalb in Rom das Haupt jener Macht. Der rohe ger- manische „Kunec" trachtete darnach, Caesar (Kaiser) zu werden und vergass oft in seinem Uebermuthe, dass die Macht, welche ihm seine Autorität verlieh, der seinigen bei weitem überlegen war, und in Wirklichkeit ihn bemeisterte. Und wenn auch dann und wann die Zügel, von schwacher Hand geführt, rissen, so beugte doch mancher Kaiser sein Haupt unter der Wucht jener Gewalt tiefer in den Staub, als es je . die von den Römern bezwungenen Könige gethan hätten: für uns Italiener die einzige, wenn auch geringe Genugthuung, die uns dieser lange, traurige Zeitraum der Geschichte darbietet.

Die Vorstellung von der Weltherrschaft wird besonders nach Karl dem Grossen so herrschend, dass die ganze Geschichte nur als eine Aufeinanderfolge grosser Monarchien dargestellt wird, denen der göttliche Wille die Macht und Herrschaft über viele Völker überträgt^). Bei dieser Auffassung der Geschichte nimmt daher Griechenland, das nicht erobernd aufgetreten war, eine untei-geordnete Stellung ein, und nur die Zeit Alexanders tritt hei-vor. Was die ältere römische Zeit betrift't, die doch der Ge- schichte der Kaiserzeit an Moralität und Tugend weit überlegen war, so pflegen nur einige hervorstehende Eroberungen der Re- publik erwähnt zu werden. Das Mittelalter hat nur für die Idee der bereits constituirten Kaiserherrschaft und ihren pyramidalen

1) Vgl. hierüber imd über den historischen Gebrauch, den man von dem Traume Daniels oder Nebucadnezars machte, die IJeuierkuiigf'n von Massmann, Kaiserchronik, III, p. 356— .364.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. l6l

Aufbau von Autoritäten Geschmack, worin eben sein Ideal von der politischen Gesellschaft und der kaiserlichen Monarchie besteht; darum springt man auch ohne Weiteres von der Gründung Roms auf die Zeiten Cäsars und Augusttis' über.

Die damals bekannteste Partie der alten Historie ist die Ge- schichte des Reiches j das sich dem Christenthum unterwirft, eine Partie, die man natürlich vom christlichen Standpunkte aus be- trachtet und die daher ganz verkehrt und umgeben von Legenden erscheint. Rom bleibt immer moralisch „caput mundi", und keine Stadt des Occidentes vermag auch nur entfernt den Glanz und die Bedeutung zu erreichen, die in den majestätischen Ruinen Roms wohnen oder auch nur das Ansehen, welches das Römerthuni Byzanz zu verleihen wusste, zu erlangen. Die Städte der mittelalterlichen Fürsten spielen in der Geschichte eine dunkle Rolle, die in keinem Verhältnisse zu den Thateu der Herrscher steht. Die Nationali- täten begannen zwar sich moralisch und politisch in der Schöijfung einer neuen Literatur wie in den neuen politischen Gruppen, in die Europa zerfiel, zu unterscheiden. Allein das geschah doch nur langsam und fast unbemerkbar. Ein Werk der Reflexion, welches jenes zwar starke, aber doch nur dunkle Gefühl, das in den Geistern das moderne Europa vorbereitete, auf ein Princip zurück- geführt hätte, gab es noch nicht. Das öffentliche Recht beruhte noch nicht auf der Idee des Völkerrechtes und der Nationalität, sondern auf ganz entgegengesetzten Grundsätzen, die sich im Feudal- wesen und in dem Gedanken des Kaiserreiches darstellten. Uebrigens waren die Nationalitäten selbst noch gar nicht so von einander geschieden, wie sie es zu sein strebten. Aus so verschie- denen Elementen hervorgegangen, konnten sie sich nur allmälig entfalten, und ihre politische Thätigkeit musste noch lange dauern, bevor sich ihre moralische Individualität ganz mid fest ausgebildet hatte; daher kam es, dass es trotz der nationalen Entwickelungen eine Empörung gegen gewisse Gedanken nicht gab, sondern diese im Gegentheil immer anerkannt wurden. In einer historisch ganz begründeten Antipathie standen sich besonders die germa- nischen und romanischen Nationen getrennt gegenüber. Die Deut- schen, die zwar auch schnell verdorben waren, aber noch gewisse Ideen von ihren wilden und einfachen Vorvordern bewahrt hatten, die Tacitus den kraftlosen Römern entgegen stellte, wie er sie jedem civilisirten Volke hätte gegenüber stellen können, betrach- teten die Welschen oder die romanischen Völker als schlecht ge- sittet und verdorben, während sie anderseits kein Bedenken trugen,

Comparetti, Virgil im Mittelalter. ]X

162 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

sich selbst barbarisch und roh zu nennen ^), so wie die geistige und bürgerliche üeberlegenheit und den hohen Primat des römischen Stammes anzuerkennen. Daher jene allgemeine Achtung und Ehr- furcht nicht freilich auf materiellem, sondern auf idealem Gebiete, mit der alle Völker auf Rom schauten, und die jeden Gedanken an eine Rivalität ausschloss. Sie zeigt, sich in tausend verschie- denen Weisen, in Worten und Gedanken, in den Thaten der deut- schen Kaiser, die sich römische nannten, wie in dem Herzuströmen der Pilger zu dem Palladium der Gesellschaft und Christenheit; in den naiven, zu ihrem Gebrauche verfassten Führern Roms „den Wundem der goldenen Stadt", in den begeisterten Ausdrücken, in welchen sich unzählige mittelalterliche Schriftstellern ergehen, kurz in einer Menge von Thatsachen, . die wir hier gar nicht alle verzeichnen können^). Es sei nur noch als charakteristisch erwähnt, dass so viele Völker iind fürstliche Familien bestrebt waren, bis auf die Sage von ihrem Ursprünge Rom und den Römern nachzu- ahmen, als ob sie von den Helden Troja's abstammten, und sich durch die verschiedensten Sagen mit der Vergangenheit Roms in Verbindung zu bringen^). Jeder sieht ein, welchen Ein-

1) „Auditoribus usus erat lacialiter fari ncque ausus est quisquara eoram magistro lingua barbara loqui." Bruno Vit. S. Adalberti, 5 (bei Pertz, Script, rer. Germ. IV, p. .577). Sehr gewöhulicb ist es, wenu die nicht lateinischen Schriftsteller des Mittelalters sich und ihre Sprache barbarisch nennen. Mau sehe die in den ludices dar Script, rer, Germ, unter dem Artikel barbar us verzeichneten Stellen und unsere Anmerkung Cap 9. S. 113.

2) Die umfangreiche und complicirte Geschichte Roms im Mittel- alter ist für den Gläubigen, wie für den Freidenker ein Stoff von hohem Interesse. Gibbon, Papencordt, Gregorovius und Reumont haben sie ausführlich bearbeitet und besonders die beiden letzteren mit zwar vei-schiedenen aber gleich lebhaften und starken Empfindungen vorge- tragen. Gregorovius hat sich an seinem an Umfang und Gesichtspunkten so reichen Werke als Gelehrter und Dichter zugleich gezeigt und ein Buch geschaffen, das ebenso anziehend für den Gelehrten wie den Laien ist

3) Vgl. Gr aesse. Die grossen Sagenkreise des Mittelalters p. 66. Bergmann, La fascination de Gulfi p. 27 f ; Reiffenberg, Chron. rimée de Philippes Mouskes. I, p. CCXXXVI, der auch Neuere anführt, die jene Fabeln des Mittelalters für ernst genommen haben. Vgl. Roth, Die Trojanersage der Franken in Pfeiffer's Germania 1, 34 und Zarncke in den Sitzungsberichten d. säcbs. Ges. d. Wiss. 1868 p. 257 ff. n. 284. Brann, Die Trojaner am Rhein, Bonn 1856 Creuzenach, Die Aeneis etc. im Mittelalter p. 26 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. iG3

fluss die Aeneis und ihre Popularität auf diese Tendenz haben musste ^).

Die noch unvollkommene Entwickelung der Nationalität, be- sonders was abstracte Vorstellungen betrifft, ermöglichte den Ge- danken der Kaiserherrschaft, welche durch die Tradition der Cul- tur und manche Seiten des politischen und religiösen Lebens deut- lich mit der Gegenwart verknüpft war. Aber sie ermöglichte sie nur eben als Idee und nicht als etwas anderes. Die Eestaui-ation der alten Kaiserhen-schaft war ein Unding, und die Ansammlung der Völker imter einem Scepter konnte nur vorübergehend sein. Das Geheimniss des alten Bindemittels, dessen sich die Römer bedienten, war verloren, und es zeigten sich auch die Individualitäten der ein- zelnen Völker schon zu lebenskräftig, als dass man sie wie früher zu einem Organismus hätte verschmelzen können, üebrigens fehlte es den Germanen, die bei dem Verfalle der römischen Welt das Uebergewicht gehabt hatten, wie sich bis auf unsere Tage gezeigt hat, an der Fähigkeit, sich andere zu assimiliren; ja, es schieden aus ihi-er Masse sogar mehrere Stämme aus, die sich der neu- lateinischen Xationalität assimilirten. Nichts desto weniger ent- wickelte sich der Gedanke von der Kaiserherrschaft nicht blos in den erhabenen Phantasien eines Denkers, sondern auch in den Thaten der grossen Fürsten: und hier zeigt sich wieder jenes für- das Mittelalter so charakteristische Missverhältniss zwischen dem geistigen Gehalte der Cultur und der Praxis. Die Zeit bereitete, ohne es zu wissen und zu wollen, in stetem Hinschauen auf die antike Welt und im Streben sie zu resta,um-en, die Xeuzeit vor : sie gleicht einem Manne, der vorwärts schreitet, während er vermöge einer merkwürdigen Hallucination rückwäi-ts zu gehen meint. Nie- mals erschien einer Zeit, wenn man sie nach ihren Vorstellungen und Aeusserimgen beurtheilt, der Gedanke an Fortschritt und Revolution mehr zuwider, als dem scheinbar ganz unbeweg- lichen Mittelalter, und doch ist niemals eine sociale Bewegung so lebendig, allgemein, vielfältig und umgestaltend gewesen, als gera>le im Mittelalter, in welchem sich Empfinden und Denken der Gesell- schaft so völlig veränderten. Hierin liegt vornehmlich der Schlüssel für alle Unregelmässigkeiten und Abirrungen dieser Epoche, wie tur

1) Vgl. D unger, Die Sage vom trojauiscbeu Kriege in den Be- arbeitungen des Mittelalter* und ihren antiken Quellen (Leipz. 1869), p. 19.

11*

1C4 Viigil in der Literatur bis auf Dante.

so viele Erscheinungen, in denen sich Alterthnm und Neuzeit mit einander berühren.

Diesen Vorstellungen gemäss musste Virgil von allen andern Dichtern am meisten bewundert und geliebt werden. Jenes römische (iefühl, welches er besonders zum Ausdruck gebracht hat'), klang in dem Geiste der gebildeten Leser wie ein historischer Wieder- liall nach. Auch die Zeit, der er angehörte, und aus der er so hervorragt, galt unter allem, was man vom Alterthum wusste, als der glänzendste und bekannteste Mittelpunkt. Der Anfang der Kaiserherrschaft unter Augustus und die Nähe Christi waren für eine literarische Berühmtheit wie Virgil die günstigste Bedingung, den Geistern des Mittelalters zu impouireu, und trugen nicht wenig zu der Vorstellung, die man von dem Dichter hatte, bei. Damit verband sich die religiöse und philosophische Seite seines Ruhmes, seine Annäherung an die christliche Idee und seine Ausstattung mit einem ausserordentlichen, tiefen universellen Wissen. Man be- trachtete zwar damals die alten Schzüftsteller und Dichter ohne Ausnahme als „Philosophen"; die Schule der Grammatiker und Rhetoreu brachte aber doch besonders die Dichter zur Geltung, und unter ihnen galt wieder Virgil als der erste. Er war also weit bekannter und volksthümlicher, als die anderen Schriftsteller, obgleich die gebildeteren und bedeutenderen Männer ihn in Wahrheit nicht für den einzigen Weisen des Alterthums hielten. Als im 12. Jahrhundert jene starke geistige Bewegung und jener wissenschaftliche Eifer erwachte, erlangte zwar Aristoteles in der Philosophenschule seine Berühmtheit und galt als ebenso allwissend; aber Virgil behielt trotzdem den ersten Rang, weil sein Ruhm nicht eigentlich auf der Philosophenschule beruhte, sondern auf den allgemeinsten und elementarsten Studien des Lateinischen, von denen doch Aristoteles ganz und gar ausgeschlossen war. Für Virgil blieb die Schule der Grammatiker der Mittelpunkt und Haiiptwirkungskreis. Zwar machte sich auch hier die neue Rich- tung der durch die Scholastik rejiräsentirtcn Schule geltend; Lehrer,

1) „nie (Homerus) in laudem Graecorum, hie autem (Vergilius) in gloriam Komanorum conscripsit." Verg. vit. (9. Jahrh.) bei Hagen, Scholl, beru. p. 997. Andere betrachten ihn als den, welcher Octavian besungen hat, den Repräsentanten römischer Grösse für das Mittelalter: „Aeneida conscriptam a Vergilio quis poterit inütiari ubique laudibus respoudere Octaviani; cum paeue nihil aut plane parum eius mentio videatur nominatim interseri ?" C n n t o u i s r c g i s g e s t ii , (11. .Talirhundert)

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 165

die damals einen groöseu Ruf genossen, verfertigten poetische Bücher zum Schulgebrauch, die einen grossen Erfolg hatten. Aber die Alexandreis des Walter von Lille, eine Nachahmung der Aeneis, die in den Schulen viel gelesen wurde, that doch der Autorität des grossen Dichters fiii- Grammatik und Schule keinen Eintrag; eben so wenig wie die vielgebrauchten grammatischen Schriften eines Alexander von Villedieu, eines Petrus Elias und Anderer den Ruhm des Donat verringerten.

Fassen wir Alles zusammen, so zeigt sich der Ruhm Virgils im Mittelalter auf historischem, philosophisch -religiösem und grammatisch-rhetorischem Gebiete; letzteres ist die niedrigste und rohste Stufe, aber doch die materielle Grundlage für die anderen. Die ästhetische und künstlerische Seite kömmt dabei gar nicht in Betracht, was auch ganz unmöglich war, wenn man die Ausdehnung bedenkt, welche die andei-en Seiten hatten.

Dreizehntes Capitel.

Was vor Allem den Charakter des Mittelalters bestimmt und Grund zu dieser Benennung gibt, ist ein gegenüber der Neuzeit und dem Alterthume negatives Verhalten. In dieser Beziehung er- scheint das Mittelalter wie eine Zeit der Verirrung, über die sich hinweg das alte und moderne Europa die Hand reichen und an- einander anschliessen. Dieser Gedanke schwächt sich jedoch ab, wenn man aus dem Negativen in das Positive tibergehen will und die inneren Beziehungen dieser drei historischen Abschnitte, ihre Ur- sachen und Uebergänge studirt, die ja nach physiologischen Ge- setzen vorhanden sein müssen. Analysirt man die Vorstellung, die das Mittelalter vom Alterthum hatte, so entdeckt man leicht seine Beziehung sowol zu diesem wie zur Renaissance. In der Zeit des Verfalls liegen die Elemente, welche zu jener Verirrung des Mittel- alters führen mussten, und in diesem selbst die Vorbereitung für die Renaissance. Zwei Hauptrichtungen stellen sich in dieser langen Periode dar, die bis auf einen gewissen Grad mit einander verbunden sind, schliesslich aber doch die historische Theilung in zwei Epochen bewirken : es gibt ein lateinisches Mittelalter, das dem Alterthume näher steht und in seiner ganzen überkommenen Cultur mehr auf jenes zurückweist, und ein volksthümliches Mittel- alter, das neue Elemente offenbart und sich von jeder Tradition los- löst. Geistliche und Laien, deren Trennung, wie wir bereits bemerkten, für das Mittelalter charakteristisch ist, vereinigen sich im Ganzen

IQQ Virgil iu der Literatur bis auf Daute.

in diet^eu beiden Iviclituugen, wenn auch nicht zu ganz gleichen Theilen. In der ersten gehört die Initiative und das Uebergewioht den Geistlichen an, in der zweiten den Laien. Die Thätigkeit der Letzteren bringt es endlich zur Renaissance, die, wie wir sehen werden, ihren Urspniug in der volksthümlicheu und weltlichen Literatur hat^).

Das klassische Alterthum mit Virgil an der Spitze, welches der ganz anders gearteten Bewegung der rein kirchlich gesinnten Geister des Mittelalters zu folgen hatte, gleicht der Sonne, welche durch eine dunstige Atmosphäre scheinend, weder erleuchten, noch wärmen und befruchten kann. Dies hörte erst auf, als die Studien nach lind nach in die Hände der Laien gekommen waren. Aus der Bekehrung Europa's zum Christenthiim folgte das Uebergewicht des Clerus und das des Glaubens über die Vernunft. Ganz na- türlich musste bei einer so grossen und wirksamen Begebenheit auch die in den Gemüthern erregte Begeisterung eine lang anhaltende sein. Europa hatte jene Periode enthusiastischer Einbildungen und jene fanatische Concentration auf eine Idee, wie sie allen Neubekehrten eigen ist, durchzumachen. In dieser ersten Periode beschränkte sich die geistige Bewegung auf den Clerus, bis endlich die Reflexion das Uebergewicht bekam, und mit der Thätigkeit der Laien auf dem neuen Gebiete die zweite Periode beginnt.

Einige persönliche Bestrebungen Karls des Grossen, so wie Massregeln, die er in Betreif des profanen Unterrichtes vornahm, haben die Vorstellung erweckt, als sei dieser Fürst Urheber einer ersten Renaissance. Aber davon war seine Thätigkeit weit entfernt. Indirect ist er wol jenen Studien nützlich gewesen, aber er be- günstigte sie nur um den geistlichen Studien dienen zu können. Ich weiss nicht, ob mich bei der harten Beurtheilung dieses Fürsten eine bei einem Italiener natürliche Voreingenommenheit bestimmt hat. War er es doch, welcher dem Papstthume jene starke weltliche Macht verlieh, die ganz Europa so unermessliches Leid gebracht hat und der Fluch Italiens ist. Es kömmt mir vor, als ob seiner historischen Persönlichkeit als Volksfürst, Gesetzgeber und Krieger ein etwas gar zu starker Geruch von Heiligkeit an-

1) Mit dem Erwachen der Thätigkeit der Laien entstehen auch Antbipathien zwischen den beiden Klassen, die oft in heftigen Worten Ausdruck finden. Eine Inschiift in der Kirche St. Martini in Worms lautet :

„Cum mare siccatur et daemon ad astra levatur,

Tunc primo laicus fit clero Sdus amicus."

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 167

haftet. Er war vor Allem der „homo Papae", und kein christlicher Monarch ist je den Insassen der Klöster willkommener gewesen, die darum auch eifrig um die Ausarbeitung der Legende bemüht waren, aus der jener für die italienischen Dichter so lächerliche, und von Ariosi mit so feiner Ironie dargestellte Typus des „guten Karl", (buon Carlone) entsprang. Karl der Grosse hatte bei dem l^aienunterricht nur den kii'chlicheu Zweck im Auge und, statt die Laien zu lebendiger Thätigkeit anzutreiben, Hess er sie in der bar- barischen und unfx'uchtbaren Herrschaft des Clerus, den er durch neue Stiftungen immer mächtiger machte. Karl der Grosse war gewaltig durch seine eiserne Energie und entfaltete ein Organi- sationstalent, das sich bei den Volksfürsten seiner Zeit nicht wiederfindet, aber dem durch und durch deutschen Charakter ging vor allem jene Schärfe und Feinheit des Blickes ab, durch welche sich die italienischen Männer der Kirche auszeichneten, die das so wunderbar feste Gebäude der Kirche zu organisiren wussten. Ihm fehlte der Gedanke und der Muth zu dem, was die grösste Reform seiner Zeit gewesen wäre, die bürgerliche Gesellschaft von dem eingedrungenen Clerus zu säubern und die Laien zur geistigen Herrschaft anzutreiben. Eine vollständige Revolution hätte seine Zeit fi-eilich nicht gestattet, doch durfte ein wahrhaft genialer und die Zukunft vorausschauender Geist sie vorbereiten. Allein Karl that gerade das Gegentheil davon. Vielleicht wäre nur ein Ita- liener und zwar ein Nichtgeistlicher durch die Ueberlieferungen und die Anlage seiner Nation befähigt gewesen, eine solche Revolution durchzuführen, aber mehr als tausend Gründe mussten verhindern, dass ein Italiener jene weltliche Macht erlangte, die Karl der Grosse besass. Bedenkt man diesen Mangel eines wahren Im- pulses, wie er von diesem Fürsten hätte ausgehen können, so ist es eine um so imponirendere Erscheinung, wenn dann endlich die Seele zu neuer Thätigkeit erwacht, so viele eingeschlummerte Empfindungen wieder aufleben und jene lebenskräftige und frucht- bare Bewegung beginnt, die allmälig bis zu Dante, Michel Angelo und Galilei führt. Indessen haben wir diesen Gedanken nur zu verfolgen, soweit er die Vorstellung vom Alterthum und Virgil betrifft.

Wie ein Bach, bevor er sein sprudelndes Wasser zum Lichte bringt, lange ungesehen unter dem Erdboden hinfliesst, so führten die Volkssprachen Europas unter der Decke der lateinischen Lite- ratur und der Römerwelt ein unbeachtetes Dasein, bis der Zu- sammenhang zwischen diesen und dem menschlichen Geist immer

1j33 Viipil in der Literatur bis auf Dante.

lockerer wurde, und jene in ihrer Irischen Natürlichkeit hervor- sprangen. Dies geschah aber auf zwei Arten, Einerseits erschienen sie auf dem Gebiete der alten Cultur in der Form von Glossen und Uebersetzungen profaner wie kirchlicher, lateinischer Autoren, anderseits waren sie der Ausdruck lebendiger Empfindungen, Träger nationaler Gedanken, die bis dahin in der Literatur nicht bekannt waren, und strebten danach, eine von der klassischen unabhängige Literatur zu entwickeln. Diese sich widersprechenden Elemente hätten sich in der Fortbildung der lebenden Sprachen nicht be- gegnen können, wenn es damals eine Vorstellung vom Alterthura gegeben hätte, wie sie die Ivenaissance hatte, als Humanismus und Klassicismus das volksthümliche Element aus der Literatur heraus- trieben und erdrückten. Im Mittelalter war das durchaus anders. Jene Emancipation des Volksthümlichen galt als so berechtigt, dass es sogar die unbewegliche Härte des Klosters überwand, imd der Mönch aus seinem Geisteszwange auch einmal zu einer natür- lichen Empfindung zurückkehren und auf einen Augenblick Mensch werden konnte. Freilich gab es auch hier wieder Bedenken; denn die alten heidnischen Vorstellungen der Völker Europas kamen in der nationalen Volkspoesie sehr zur Geltung, und gar manche er- hoben ihre Stimme gegen die „eitlen und nichtigen" Volkslieder. Aber wenn man verstanden hatte, sich mit der antiken Literatur abzufinden, die doch für den Geist nur eine fremde Erscheinung war, so musste das viel leichter mit den theuren Erinnerungen an Vaterland, Muttersprache und Jugendeindrücke geschehen, Dinge die man nicht zu lernen braucht und nur schwer vergessen kann. Eine folgenreiche Thatsache! Die gegen die Cultur gleichgültige Volkspoesie war ihrer Natur nach weltlich und behielt diesen Charakter auch, wenn der Clerus an ihrer Schöpfung Theil nahm. In ihr mischte sich also Volk und Clerus, die Trennung hörte auf, und die Laien strebten nach der geistigen Überherrschaft. So unterstützte die Geistlichkeit ohne es zu wissen eine Bewegung, die sie schliesslich ihres unbestrittenen Einflusses auf die Herzen der Menschen beraubte und die Kirche oft genug zwang, den Bannstrahl zu schleudern. Aber unzählige moralische wie materielle That- sachen der Zeit beweisen es, dass die Alleinherrschaft des Glau- bens vorübergehen \md die Vernunft ihre Rechte fordern sollte. Die Gründe für die Volkspoesie waren so mächtig und innerlich, dass sie auch das Lateinische beeinflussten. Es entstand nun jene rhyth- mische Volksdichtung, die lediglich dem Mittelalter angehört und grade wie die Dichtungen in der Volkssprache ihre Klassiker auf-

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 169

weist ^). Dies lässt sich uur verstehen, wemi man daö merkwürdige Scheinleben der lateinischen Sprache in jener Zeit betrachtet; die- selbe war nicht mehr lebende Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes, aber doch noch immer von einem so ausgedehnten Ge- brauche, dass sich in ihr eine ganz ähnliche Bewegung wie bei der Volkspoesie geltend machen musste. Im 12. Jahrhundert be- gann jene für Wissenschaft und Kunst so fruchtbare Bewegung, die in der Geschichte des menschlichen Geistes eine grosse Epoche bezeichnet. Die Laien führten jetzt die -wirksame Verschmelzuug zwischen der romantischen Ritterpoesie, die ihrem Ursprünge nach volksmässig war, mit der Cultur und dem überlieferten Wissen durch. Dagegen zeigten sich die s. g. Vaganten und Goliarden, deren lateinische Poesien ein nichts weniger als klassisches Ge- präge tragen, weil sie lateinisch schrieben und gebildet waren, als Geistliche und legten gegen die Laien, die nicht zur Schule gehörten, die tiefste Verachtung an den Tag^j. Eben dieser Ge- brauch des Latein und seine Beziehungen zur Volkssprache brachten der Volksliteratur die Namen des Alterthums näher, als es irgend ein anderer Umstand gekonnt hätte , mochte sich nun die Poesie des Volkes in der heimischen oder lateinischen Sprache äussern. Hieraus folgte, dass das in eine so neue Strömung ge- brachte Alterthum abermals eine Verwandlung erlitt, indem es sich nun nicht mehr mit den kirchlichen und klösterlichen Ideen, sondern mit romantischen Vorstellungen verband. Es kömmt vor, dass zur selben Zeit z. B. Ovid allegorisch und nach moralischem Princip erklärt wird, während die pathetischen Empfindungen und Thatsachen, die er schildert, nach der romantischen und ritterlichen

1) Thomas von Capua (12—13. Jahrh.) unterscheidet im ,,dictamen" (Summa dictaminis bei Hahn, Coli. mon. l, 280) drei Hauptarten: „pro- saicum ut Cassiodori, metricum ut Vergili _, ritmicum ut Primatis." Man vermuthet dass jener Primas der Primasso des Boccaccio (Decani. I, 7) sei. Vgl. Grimm, Kl. Schriften III, p. 41 ff. und P. Meyer, Documentti manuscripts de Taue. litt, de la France conserve's dans les bibl. de lu Gr. Bret, I, p. 16 ft'.

2) Ein Fahrender schreibt:

„Aestimetur autem laicus ut brutus

Nam ad artem surdus est et mutus." Ein anderer:

„Literatos convocat decus virginale

Laicorum execrat pectus bestiale." Vgl. Hubatsch, die lateinischen Vagantenlieder des Mittelalters. (Gör- litz, 1870), p. 22.

17<i Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

Anschauung umges>tiiltet werden. So beeintlusste die volksthüiuliclie neue Bewegung sogar die Elemente der Cultur, gestaltete die Sjirache wie die alten dichterischen Formen umi Begebenheiten auf ihre Weise um und suchte den Widerspruch, der für uns darin liegt, zu verdecken.

Die künstlerische und geistige Thätigkeit gehörte nun also entweder den Gelehrten und der Schule an oder sie war volks- thümlich lind romantisch. Die scholastische Vorstellung vom Alter- thume war dem Clerus des ältesten Mittelalters eigen, gelangte aber, gereinigt und vervollständigt bis zur Renaissance, während die romantische Vorstellung vom Alterthum, die gegen Ende des Mittel- alters aus der weltlichen Richtung enstanden war, der volksthüm- lichen und romantischen Literatur allein zu eigen blieb. Es ist daher nicht wunderbar, wenn oft ein Dichter zugleich gelehrte Werke und romantische Poesien in einheimischer wie lateinischer Sprache schaft't. Die scholastische Vorstellung vom Alterthum be- einflusste nicht sonderlich die künstlerische Empfindung und liess daher für die romantische Vorstellung noch Raum genug übrig. Wie die letztere auf Virgil einwirkte, haben wir erst im zweiten Theile des Werkes zu untersuchen. Nicht in allen Ländern des westlichen Europas nahm das Alterthum eine romantische Form au, wie ja auch die Volksliteratur in einigen Ländern früher, in anderen später begann. Dies hatte seinen Grund darin, dass die klassischen Studien in dem einen Lande dem Geiste näher standen und lebenskräftiger waren, als in dem anderen. Die nicht latini- sirten Völker keltischen oder germanischen Stammes gaben sie zuerst auf, erst später Frankreich und die Provence; dann folgten auch Italien, Spanien und Portugal diesem Beispiele. In Italien mussten sie natürlich mehr als irgendwo heimisch sein; betrachtete man doch dies Land als den eigentlich klassischen Boden. Die Vulgärsprache und das Latein standen sich hier weniger schroff entgegen. Erstere war nicht nur Tochter des Letzteren und eine natürliche und ge- setzmässige Umgestaltung desselben, sondern besass bei aller Indi- vidualität noch so viel von der Muttersprache in sich, dass sie sich am leichtesten den klassischen Formen anschmiegen konnte. Sie war daher unter den lebenden Sprachen die klassische Sprache der Renaissance, welche sich ja auch zuerst in Italien und dann erst in anderen Ländern entwickelte.

Einzelne Ausdrücke nichtlateinischer Schriftsteller des Mittel- alters und die Erwähnung von Schulen, welche Laien in Italien bildeten, hat einige moderne Gelehrte zu der Ansicht geführt, dass

Virgil in der Literatiu- bis auf Dante. 171

daselbtit schon vor Entwickelung der Yolksliteralur die Bildung der Laien grösser als anderswo gewesen sei, und diese Thatsache hat man mit der Renaissance iu Verbindung gebracht^). Ich kann indessen nicht glauben, dass dies der Fall gewesen sei; der Be- weis dafüi- lässt sich hier nicht liefern, aber das muss man we- nigstens zugeben, dass sich die Laien in Italien, bevor es eine Volksliteratur gab, durchaus nicht productiver zeigten, als in an- deren Ländern. So paradox es auch klingt, sind doch die eigent- lichen Vorlcäufer der Renaissance nicht in der Ueberlieferung der antiken Elemente zu suchen, sondern in den Elementen der Neue- rung ; nicht in der lateinischen, sondern in der Volksliteratur. Bei dem italienischen Volke zeigte sich zwar das deutliche Bestreben, sich die klassische Bildung anzueignen, jedoch erst in dem Augenblicke, als sich die Volksliteratur entwickelte. Die Initiative hierfür lag auch beim Clerus, und vorausgesetzt, dass die Laien in Italien gebildeter gewesen wären, so war ihre Bildung doch weder an Umfang noch Richtung anders als die des Clerus. Mönch und Laie hatten dieselbe Vorstellung vom Alterthume, und es dauerte lange, bis auch der Letztere sich von den mittelalterlichen Ideen losriss, imd seine Studien so einsichtsvoll wurden, wie sie sich in der Renaissauce zeigten. Es galt ja, den Geist, dem durch den kirch- lichen Einfluss alles Verständniss für das Antike abgeschnitten war, ganz und gar zu reformiren, zu entwickeln und zu erheben, und seine eingeschlummerten Kräfte zu erwecken. Das konnte aber nur geschehen, wenn er sich ganz von der Tradition losriss. Die Be- wegung, in welche die neue Kunst und die Volkspoesie den Geist versetzte, führte ihn dahin, eine richtige Idee vom Alterthum wieder zu gewinnen, während der Gebrauch des Lateinischen nach klassi- schen Vorbildern nur eine unfruchtbare Stagnation bewirkte. Das zeigte sich klar in dem Unterschiede von Originalität und (Genialität bei Dante und anderen, je nachdem sie lateinisch oder italienisch schrieben. Die Italiener traten also in ganz gleicher Weise wie die an- deren Völker in die das moderne Leben hervorrufende Bewegung ein, aber jener geistige Aufschwung, der aus der Schöpfung eines neuen Kunsttypus entstand, war doch bei ihnen weit mächtiger, weil ihre Volksliteratur, obwol sie sich später als anderswo entwickelte, grösser, künstlerischer und monumentaler war, und es ihnen zuerst gelang, das Plebejische in der Kunst abzu-

1) Es ^st die Behauptung Giesebrechts: „de litterarum studiis apud Italos primis medii aevi saeculis." Berlin 1845. Vgl. Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, p. 173 ff.

172 A^irgil in der Literatur bis auf Daute.

streifen. Bei ilem rciu Volksthümlicheu hielt sieh die iliilienit^che Poesie wenig auf'); ein nationales Epos von phantastischem Charakter und volksmässigem Ursprung hat sie nicht geschaffen, weil im italienischen Volksbewustsein selbst unabhängig von der Cultur die Geschichte und das reale Alterthum eine Hauptrolle spielten, Elemente die sich mit einer epischen Schöpfung nicht ver- tragen; und dies Verhältniss bestätigte sich nicht nur durch <las, was die Italiener dachten, sondern auch durch die Vorstellung, die das übrige Europa von Italien hatte. Nicht einmal an volks- mässigen lateinischen Lyrikern war die Halbinsel so reich wie an- dere Länder^), imd auch die Volkslyrik gab bald das Volksmässige auf und gelangte schneller zu künstlerischer Vollendung.

Wer die Volksliteratur des gesammten Mittelalters betrachtet, wird finden, dass nicht alle Literaturen der Völker gleich tahig waren, einen klassischen Charakter anzunehmen und so ein Cultur- element für die künftige Zeit abzugeben. Die künstlerische Mittel- mässigkeit, zu der die volksthümlichen Literaturen in Deutschland, der Provence und Frankreich gelangten, war von ziemlich gleichem Werthe. Dieselben bezeichneten nur eine vorübergehende Phase, wie ja auch die verschiedenen Volksdialekte zu (Irunde gingen, ohne sich literarisch zu entwickeln und eine feste Gestalt zu ge- winnen. Die Renaissance bewirkte daher einen gi-ossen Riss zwischen diesen Literaturen und der modernen Zeit der betreffenden Völker. Man vergass jene Sprachen und Literaturen ganz und gar und lernt sie auch heute nur noch auf gelehrtem Wege kennen mit Hilfe der Grammatik, des Wörterbuches und der Uebersetzuug. Nur die italienische Nation vermochte es, in der Sprache und Literatur des Volkes den Klassicismus zu en-eichen, ja man dachte hier schon in theoretischen Werken über das „vol-

1) Vgl. hierüber Wolf, Ueber die Lais, Sequenzen und Leiche, p. 112 u. 223 f.

2) Ich kann dies indess nicht so bestimmt behaupten, da nur die italienischen Gelehrten bis jetzt die Wichtigkeit dieser literarischen Denk- mäler noch nicht eingesehen zu haben scheinen und die Bibliotheken wenig nach solchen durchforscht haben. Die bekannten lateinischen Vaganteulieder geben selten Anzeichen italienischen Ursprunges. Die Idee, dass der beste Dichter unter ilnien Italiener ist, ist von Burckhardt a. a. 0. p. 174 f. zu leichtgläubig aufgenommen. Die Hdss., die mau bis jetzt von diesen Compositionen kennt, gehören nicht italienischen Biblio- theken an. Und abgesehen von den Vagantenliedern scheint Italien auch an lateinischen Volksliedern im Mittelalter ärmer als andere Länder. Vgl. Du Méril, Poesies populaires latines du moyen àge. Paris 1847.

Yirgil in der Literatur bis auf Dante. 173

gare illustre" und die neue poetische Tendenz nach \), als anderswo noch keine Rede davon war. Das Ziel wurde anfangs unabhängig von einer Nachahmung oder Reproduction des Antiken verfolgt. Letzte und unvermeidliche Bedingung der neuen Kunstform war wie bei der römischen Kunst, „la gloria della lingua" und „il bel parlar gentile ^)". Darum sind die Trecentisten auch die wahren Klassiker der Italiener, welche zu der nachfolgenden italienischen Literatur und Cultur in die engste Beziehung treten, und bis auf den heutigen Tag jenen viel näher stehen, als die gleichzeitigen Schriftsteller den anderen Nationen. Man dehnt zwar die Be- zeichnung klassisch im Deutschen auch auf Wolfram von Eschen- bach, Gottfried von Strassburg und die andern hervorragenden mittelhochdeutschen Dichter aus, die doch kaum für jene Periode der Literatur klassisch sind. Aber trotz der Bemühungen der Gelehrten, die freilich von einem nationalen Gesichtsijunkte aus betrachtet, die höchste Bewunderung verdienen, werden jene Dichter in Folge der grossen Kluft, die sie von der Gegenwart trennt, doch nie- mals die Bedeutung für die nationale Cultur erreichen, welche für die Italiener ihre alten Dichter haben, die sich um den erhabenen und wahrhaft italienischen ,, Dante Alighieri" schaareu.

1) Vgl. Bartsch, Zu Dante's Poetik im Jahrbuch der deutschen Dantegesellschaft III, p. 303 ff.

2) Nach dieser Seite hin äusserte sich besonders der künstlerische Instinct bei den Italienern. Da alles dem Geschmacke des einzelnen überlassen blieb, und die Schriftsprache sich noch nicht völlig fixirt hatte, wurde es den kleineu Geistern viel schwerer, italienisch als la- teinisch zu schreiben. Hierfür ist eine Stelle aus einem Sieneser Codex (Fior di Virtù) bezeichnend: „poiché di vocaboli volgari sono molto igno- rante, però che io gli ho poco studiati; anche perche le cose spirituali, oltre non si possono propriamente esprimere per paravole volgari come si sprimono per latino e per grammatica, per la penuria dei vocaboli volgari. E perciò che ogni contrada, et ogni terra ha i suoi jaropri vocaboli volgari diversi da quelli de l'altre terre et contrade; ma la grammatica et latino non è così, perchè è uno apo tutti e latini. Però vi prego che mi perdoniate se non vi dichiaro perfettamente le sententie et le verità diquesto libro." Bei De Angelis, Capitoli dei Disciplinati etc. (Siena, 1818). Vor einem hen-ischen Geschmacke also mnsste man um Entschuldigung bitten, wenn man sich zu schwach fühlte. Das Latein, wie roh es auch war, hiesB damals „grammatica", weil es bestimmtere Regeln hatte und das künstlerische Bedürfniss dabei nicht zur Geltung kam. Dies Wort ,,gi'am- matica" hat Pott (Zeitschr. f. vergi. Sprachforsch. T, p. .31.S) merkwür- diger Weise nicht verstanden.

174 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

Vierzehntes Capitel.

Nach all dem Gesagten wird man den geschichtlichen Grund verstehen, weshalb die erhabenste Schöpfung und edelste Gestal- tung der mittelalterlichen Vorstellungen über Virgil sich am Ende des Mittelalters in Italien zeigt, und zwar nicht als Werk eines Geistlichen, sondern eines Laien. Wer die Beziehungen zwischen der geistigen Entwickelung und der Geschichte von dem Ruhme Vir- gils aufmerksam verfolgt hat, wird jene Anziehung, die Virgil auf Dante ausübt, der gi'össte lateinische auf den grössten italienischen Dichter, nicht für einen Zufall halten.

Dante zeigt sich in seinen Kenntnissen und seiner geistigen Richtung ganz als Mann des Mittelalters, der sich völlig von den Männern der Renaissance unterscheidet. Er ist weder Gramma- tiker, noch Philolog und Humanist von Profession, sondern ein warmer und enthusiastischer Geist von hervorragend poetischer Rich- tung. Für jede grosse und erhabene Empfindung ist er empfìinglich, aber beherrscht von einem Verstände, dem es ein unwiderstehliches Bedürfniss war, sich in den tieft-ten Speculationen zu ergehen. Er besitzt die ganze encyklopädische Kenntniss der Scholastik; freilich stets mit der vorwiegenden Neigung für den speculativen Theil. Diesem ordnet er auch die Literatur, selbst die volksmässige unter, die er doch sowol in der Comedia wie in seiner Lyrik und Prosa in einer bis dahin noch nicht dagewesenen Weise vertieft. Alle strebsamen Geister der Zeit, zu denen er auch gehörte, hatten eben jene speculative Tendenz. Aber was Dante auszeichnet, ist die Verbindung der Speculation mit der Poesie und zwar grade der volksthümlichen, von der die anderen Gelehi'ten die Speculation fernhielten. Darum kann man Dante nach seinen Studien und seiner Thätigkeit zum Clerus rechnen, in Wahrheit ist er Laie, nicht nur seinem Stande, sondern auch seiner Empfindung und Tendenz nach, und bei keinem mittelalterlichen Schriftsteller geht die Wissenschaft so in den Laien über. Jetzt erhebt sich die Thätigkeit der Laien aus der niederen Sphäre des Volksmässigen zur wirklichen Kunst und Wissenschaft. Die für die Zeit bewun- derungswürdig kühne That, die Volkssprache zum Organ eines Werkes zu machen, das nach seinen geschichtlichen und wissen- schaftlichen Momenten, wie nach der darin enthaltenen historisch- philosophischen Speculation so überaus gross ist, zeigt allein, wie hoch jener göttliche Geist über den Zeitgenossen steht. Alle Ele- mente der Gegenwart und Vergangenheit weiss er zu beherrschen

Yirgil in der Literatur bis auf Dante 175

und verbindet sie in originellster Weise harmonisch mit dem, was seine Zeit bewegt^). Es war ein allgemeines Bedürfniss, den Privatbesitz der Wissenschaft für eine Kaste aufzulösen, und manche hervorragende Männer hatten dies trotz der Vorurtheile ihrer Zeit empfunden. Auch der Zeitgenosse Dantes, Raimundus Lullus, ein starker Geist, hatte das Streben danach, aber was er als volksthüralicher Schriftsteller und Dichter dafür that, war dürftig genug und lässt die wunderbare Schöpfung Dantes nur in um so hellerem Lichte erscheinen^). In dieser Beziehung ist Dante in der That ein Vorläufer der Renaissance; er ist es aber auch in seinem Studium des klassischen Alterthums.

Sein Werk ist der Grundlage, nicht dem Zwecke nach eucyklo- pädisch; Vernunft und Religion, die beiden grossen Triebfedern der geistigen Thätigkeit seiner Zeit, halten sich in jener erhabenen Conception das Gleichgewicht, und nicht aus ihrem Widerspruche miteinander, sondei-n ihrer Hannonie entspringt die Poesie Dante's. Die Theologie steht für Dante wie für alle Scholastiker obenan, die Philosophie ist ihr nur dienende Magd. Die Vernunft nimmt aber bei ihm einen ganz anderen Ehrenplatz, als in den philosophischen Schulen ein. Sie ist füi- ihn nicht nur das Organ der Gegenwart, sondern er betrachtet sie in ihi-er herrlichen Geschichte und wird von Enthusiasmus entflammt, wenn er sieht, welche Eroberungen sie gemacht hat. Sie zeigt sich ihm im Alterthum, dessen Werke ihm direct bekannt sind, nicht etwa aus Anthologien und Repertorien, wie so manchem hervorragenden Scholastiker'^), denen

1) „Questo (volgare) sarà quel pare orzato del quale si satolleranno migliaia e a me ne soverchieranno le sporte piere. Questo sarà luce nuova, sole nuovo il quale sorgerà ove l'usato tramonterà, e darà luce a coloro che sono in tenebre e oscurità, per lo usato sole che a loro non luce." (Convito I, 13). Wie klein und lächerlich erscheint vor der wunderbaren Sehergabe jenes gewaltigen Geistes der Hochmuth, mit welchem die „Alten" der Zeit auf das Italienische herabblicken, wenn sie wie Giovanni del Virgilio (carm. v. 15) dem Dante riethen, sein Gedicht lateinisch zu schreiben, weil ,,clerus vulgaria temnit !"

2) Sehr richtig hat Erdmann, Grundriss der Gesch. der Phil. I p. 367 (2 Ausg.) mit wenig Worten in der Beziehung Dante und Rai- mundus Lullus mit einander verglichen.

3) Abälard gesteht geradezu, dass er die klassischen Citate aus zweiter Hand hat (Op. p. 1045) „quae enini superius ex philosophis collegi testimonia, non ex eorum scriptis, quonim panca novi, imo ex libris Sanctorum Patrum collegi."

176 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

es ja nur um die Speculation ihrer Zeit, nicht aber um die directe Kenntniss der Geschichte des Wissens und der älteren grossen Producte des menschlichen Geistes zu thuu war. Das Alterthum wurde also von Dante in dieselbe erhabene Sphäre versetzt, zu der er ja auch die Volkssprache und die Laienthätigkeit erhoben hatte. Wir empfinden, wie es seine Anziehungskraft freier ausübt und ahnen die Nähe der Renaissance^).

Dante war weit entfernt davon, das Alterthum so zu kennen wie später Poliziauus. Im Allgemeinen ruht seine Kenntniss des Alterthums auf derselben Grundlage wie bei dem Clerus. Seine klassischen Studien beschränken sich auf den von der Schule vor- geschriebenen Kreis. Er versteht nicht einmal Griechisch^) und von den lateinischen Schiiftstellern kennt er vielleicht wenigere, als Rhabanus Maurus und Johann von Salisbury'). Seine gramma- tischen Studien gehen nicht über die im Mittelalter gewöhnlichen Kenntnisse hinaus*). Da, wo er von alten Autoren spricht, ge- wisse Etymologien, Definitionen oder eine literaturgeschichtliche Auffassung vorbringt, erkennt man oft die Fehler, die in den Schulen des Mittelalters gemacht zu werden pflegten, wieder''). Als Latinist steht er tief unter den späteren Humanisten, ja man muss sagen, dass viele seiner Zeitgenossen ein besseres Latein schrieben.

1) Die Beziehungen Dantes zur Renaissance haben nur oberflächlich berührt Burckhardt, a. a. 0. p. 199 und Voigt, Die Wiederbelebung des klasäischeu Humanismus p. 9 ff., ausführlicher Weg e le, Dante Alighieris Lebeu etc. p. 568 ff. und Schuck in der unten citirten Schrift.

2) Dass Dante kein Griechisch verstand, muss jeder einsehen, der selber Griechisch versteht und sich mit dem Mittelalter beschäftigt hat. Cavedoni hat hierüber das uöthige zusammengestellt in seinen: „Osser- vazioni critiche intorno alla questione se Dante sapesse il greco." Modena 1860. Vgl. auch Schuck a. a. 0.

3) Ueber Dantes klassische Studien vgl. Schuck: Dantes klassische Studien und Brunetto Latini in den Neuen Jahrb. f. Phil. 1865, 2. Ab- theilung p. 253—289.

4) Ueber Cicero's Laelius sagt er: „E avvegnaché duro mi fosse prima entrare nella loro sentenza, finalmente 'ventrai tant' entro quanto l'arte di grammatica ch'io avea e un poco di mio ingegno potea fare." Convito II, 13.

5) Merkwürdig sind seine Vorstellungen über die Tragödie und Co- mödie. Aus seinen Werken geht nicht hervor, dass er Plantus, Terenz oder den Tragiker Seneca, die doch im Mittelulter bekauut waren, kennt. Die Terenzstelle, auf die sich Inf. XVIII, 133 bezieht, ist \vo\ dem Lae- lius entlehnt.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 177

Was Dante'ö Anschaixuug vom Altertlium betrifft, so weicht seine Bildung nicht von der kirchlichen des Mittelalters ab, und das Alterthum stellt sich ihm unter einem keineswegs richtigen Ge- sichtspunkt dar. Als Gelehrter ist er Scholastiker, und seine geistige Richtung geht auf eine philosophisch-theologische Specu- lation aus. Als Scholastiker betrachtet er auch das Alterthum, und mit der allegorischen Auslegung ist sein tiefer Geist so vertraut, dass er sich selbst allegorisirt, und sich ihm die philosophischen und theo- logischen Ideen während er dichtet unter Bildern und Sj^mbolen darstellen, die eine Hauptrolle in seiner Schöpfung spielen. Allegorien findet er mit leichter Mühe nicht nur in Virgil, sondern auch in Lucan, Ovid vmd Andern^) und beschränkt die allegoi'ische Aus- legung nicht blos auf poetische Erfindungen, sondern wendet sie ganz in der Weise des Mittelalters auch auf historische Thatsachen an, die ihm, ohne dass er ihre Realität aufgibt, als allegorische oder mystische Symbole einer Idee erscheinen.

Aber Dante unterscheidet sich doch, was das Studium des Alterthums betrifft, stark von den kirchlichen Schriftstellern. Als Laie und Weltmann zwar fromm, aber nicht asketisch gesinnt, hat er eine erhabene Vorstellung von der menschlichen Vernunft, und obgleich er sie für beschränkt hält, verehrt er die, welche sie unabhängig von einer Offenbarung und vor Christi Geburt zur Darstellung brachten. Er kennt die Alten deshalb nicht nur aus der Schule und hält ihr Studium nicht blos für eine unvermeid- liche Nothwendigkeit, sondern studirt sie selbst, nicht als Philolog und Humanist, sondern als Dichter und Denker. Der scholastische Zweck ist damit fast ganz aufgegeben, vind die Alten dienen jetzt einer wissenschaftlichen Thätigkeit. Dante ist fi-eilich nicht der Begründer einer solchen, denn schon die Scholastik hatte das Stu- dium des Aristoteles betont, aber er verehrte Philosophen, Prosaiker und Dichter in gleicher Weise ^). Dabei legte er für Letztere eine aus seiner Richtung leicht erklärbare Vorliebe an den Tag, die wir bei dem Clerus des Mittelalters natürlich in der Weise nicht finden. Hier ist nicht mehr von Verdacht, Furcht und Beschrän- kungen gegenüber den Schriften der Heiden die Rede, um ganz von dem Hasse zu schweigen, den so viele alte Asketen gegen die Heiden äusserten. Dante steht mit den Repräsentanten der mittel-

1) Convito, II, 1. IV, 25, 27, 28.

2) Von einem Ausspruche luvenaVs sagt er einmal: „e in questo (con reverenzia il dico) mi discordo dal poeta." Convito, IV, 29.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 12

178 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

alterlichen Cultur so wenig auf einer Stufe, dass er nicht nur mit den antiken Dichtem ganz vertraut umgeht, sondern sogar jene besonders beliebten christlichen Dichter^), Prudentius, Sedulius, luvencus u. A. ganz bei Seite lässt, was bei einem so christlich gesinnten Manne überraschen muss. Ja, er nennt sie nicht einmal, obgleich er doch in der theologischen Literatur wol bewandert war und den kirchlichen Liedern poetischen Werth beiraass. Dante .war in viel höherem Grade christlicher Dichter, als jene, welche das Christenthum in widerstrebende Formen einzwängen wollten. Er schaffte eine Formel für das Christenthum von eigenem Gepräge, die freilich nur dem theologisch-philosophischen Christenthum angepasst ist, wie es aus der katholischen Kirche, d. h. der Vereinigung des Christenthumes mit der griechisch-latei- nischen Cultur und der römischen Welt hervorging. Dreizehn Jahr- hunderte hindurch hatte sich dasselbe scheinbar unauflöslich mit Elementen der antiken Cultur verbunden. Dante repräsentirt den erhabenen Augenblick, wo beide sich znerst die Waage halten. Der Augenblick musste voi'übergehend sein, aber Dante wollte und konnte ihn nicht als solchen betrachten. Er stand ja der religiösen Idee nicht feindlich gegenüber, war auch kein Freidenker^), noch konnte er voraussehen, dass jene Thätigkeit des Verstandes, die das Alterthum wieder zu Ehren brachte, schliesslich die religiöse Empfin- dung abschwächen und eine fortwährende Abnahme des Christen- thums zwar nicht in den äusseren Formen aber in dem Gewissen

1) Eberhard von Bethune, eine grammatische Autorität der Zeit^ verlangt, dass man diese Dichter in der Schule lesen solle. (Tractat. Ili, De versificatione). Ein anderer ebenso bedeutender Manu, Alexander von Villedieu empfiehlt die Lecture der christlichen Dichter (besonders seiner eignen Werke), und räth vom Lesen der Alten ab. VgL Thurot, a. a. 0. p. 98.

2) Scartazzini („Dante Alighieri, seine Zeit etc." Biel, 1869, p. 232 ff. und „Zu Dantes innerer Entwickelungsgeschichte" in den Jahrb. d. deutschen Dantegesellschaft III, 19 ff.) behauptet, gestützt besondere auf den letzten Gesang des Purgatoriums, dass der Dichter zu einer be- stimmten Lebenszeit dem Zweifel anheimfiel, ohne dass er darum je Skeptiker oder indifferent ward. Auch ich habe mich nie davon über- zeugen können, dass ein über seine Zeitgenossen so hervorragender Geist, niemals oder wenigstens auf Augenblicke am christlichen Glauben ge- zweifelt haben sollte. Das konnte jedoch immer nur vorübergehend sein, denn es war damals unmöglich, auf dialektischem Wege und mit ruhigem Gewissen den Zweifel zu begründen. Der kräftigste Geist war zu macht- los, die harte Schale der Religion zu durchbohren. Die Erfahrungswissen- schaft aber war noch nicht vorhanden.

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 179

der Menschen bewirken musste. Die Kirche sah das ein und erklärte jener Bewegung, wie Dante, einem ihrer hervor- ragendsten Repräsentanten, den Krieg, und die Thatsachen haben bewiesen, dass sie dabei ihr Interesse ganz richtig wahrgenommen hatte.

Jene Hinneigung Dante's zum Alterthum steht in genauer Be- ziehung mit seiner Empfindung für die autike Poesie. Er ist ja in erster Linie immer Dichter. Weib, Vaterland, Natur, Glaube und Wissen, Alles erscheint ihm poetisch. Wie die alten Mönche er- blickt er zwar das Alterthum durch das Prisma der Philosophie und Theologie, daneben aber fühlt er in sich die poetische Empfindung der Alten erwachen, wie sie ein Mönch nie gefühlt hat. Sein speculativer Geist will alle Gegenstände einer poetischen Empfin- dung, den christlichen Glauben und die antike Ueberlieferung, die Liebe zu Weib und Vaterland und die Liebe zur Wahrheit philo- sophisch mit einander verbinden. Aber sein dichterisches Gefühl ist dabei nicht einseitig, sondern universal und steht fast auf der Stufe des modernen Menschen, der die Poesie des Aeschylos und Vii'gil wie die David's, Shakespeare's und Goethe's zu würdigen weiss. Hierin eben zeigt sich die grösste Kluft zwischen ihm und dem mönchischen Mittelalter : Dante empfindet so lebhaft die Poesie des Alterthums, dass er zu ihrem Ausdrucke nicht mehr die la- teinische Sprache und den lateinischen -Vers nöthig hat; die Sprache des Volkes ist ihm vielmehr der natürlichste und will- kommenste Ausdruck seiner Empfindungen. Wenn ein Dichter Bilder von solchem Gepräge wie das folgende zu schafl"en weiss:

„Quale nei plenilunii sereni

Tri via ride fra le ninfe eterne" abgesehen von so vielen anderen, die seit Jahrhunderten kein la- teinischer Versmacher hätte schaifen können, braucht man wol nicht erst zu fragen, ob Dante eine Empfindung für die alte Poesie hatte. Unwiderstehlich stellten sich dem Geiste des Dichters die Gestalten des Alterthums dar, ohne dass man ihn je einen Nach- ahmer nennen könnte. Bilder und Gleichnisse schöpfte er oft aus der Natur wie seinen ßeiseerinnerungen , aber zumeist aus der Geschichte und Poesie des Alterthums. So vertraut wie er mit dem poetischen antiken Stofi'e war, wollte oder konnte sich kein mittelalterlicher Schriftsteller zeigen^).

1) Ueber das antike Element in Dante vgl. Fauriel, Dante et les origines de la langue et de la litt. ital. II. p. 420 ff.; er hat aber dabei

12*

180 Virgil in der Literatur l»is auf Dante.

Daute wird besonders von zwei erhabenen EnipBndungen be- herrscht, der Liebe zum Vaterlaude und der Liebe zur Erkenntniss der Wahrheit. Alle Neigungen fasst er in dem Worte „amore" zusammen, das bei ihm die weiteste Bedeutung erhält und auch die Liebe zum idealisirten Weibe, womit er einen mystischen Be- BegriflF verbindet, bezeichnet. Jene beiden Empfindungen vereinigen sich eng mit einander in seiner politisch-historischen, wie theo- logisch-philosophischen Anschauimg und zeigen sich in dem Eifer, mit dem er das Gebiet des Wissens durchdringt. Die Hauptnahrung für den Geist findet er dabei in dem rein menschlichen Alterthum, in der Stellung des antiken Ideals in jener von ihm ersehnten po- litischen Organisation und in der historischen Grundlage, auf der seine patriotischen Ideen beruhen. Mit seiner glühenden Liebe zu Italien steht die Liebe zum Alterthum in engster Beziehung. Der Zusammenhang zwischen Römern und Italienern erscheint ihm als ein nie unterbrochener: die römische Geschichte beginnt mit Aeneas und geht bis auf seine Zeit. Als Poet und Patriot empfindet er den Ruhm der Römer als den Ruhm der Italiener. Für ihn gibt es in der Geschichte keinen andern Gesichtspunkt, als den im Mittelalter allgemeinen, insofern er sich auf die römische Gescljichte, die auf die Idee vom Weltreiche hinausläuft, beschränkt. Was Nicht- ilalienera nur als ein abstracter Gedanke erschien, indem sie sich von der Geschichte der Cultur und Religion leiten liessen, das empfand und betrachtete er, der Italiener, als die Grundlage für rechtmässige Erwartungen der Nation. Wie diese Empfindungen in der „Divina Comedia" und in seiner Prosa Ausdruck gefunden haben, ist Jedermann bekannt.

Diese Kraft des Nationalgefühls erklärt uns Dante's Vorliebe für Virgil. Er betrachtet ihn als einen vor allen nationalen Dichter, „la nostra maggior Musa" und „il nostro maggior poeta". Mit grosser Bewegung erkennt er in den Erzählungen des Dichters die alte Geschichte Italiens und meint, dass für Italiens Wol

morì la vergine Camilla

Eurialo e Turno e Niso di ferute." Es genügt, hierbei den Leser an das zu erinnern, was wir über die Aeneis gesagt haben, die erhabenste poetische Offenbarung des rö- mischen Gefühls. Zahllose Stellen aus der Divina Comedia, besonders der schöne Gesang über den Siegeslauf des römischen Adlers, das Buch

nicht beobachtet, bis zu welchem Grade dies Element Dante eben so geläufig war, wie dem ganzen Mittelalter. Hierfür hat Piper, Mytho- logie der christl. Kunst I, p. 255 ff. mehr gethan.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 181

über die Monarchie und alles, was er, gestützt auf Virgil, über die Rechtmässigkeit der römischen Herrschaft sagt, zeigen, wie er bei solchen Empfindungen mit Virgil harmoniren musste. Es klingt unglaublich, aber ist doch wahr, dass dies Gefühl, das Dante zu jener bekannten politischen Utopie führte, eben in dem wurzelte, was jene Utopie vereiteln musste, in der Idee einer nationalen In- dividualität ^j. Dante hat gut reden, dass er ein Weltbürger sei; seine patriotischen Ergiessungen, seine in Vers und Prosa bezeugte Vorliebe für die alten wie modernen „latini", sein Enthusiasmus für Rom, den Ruhm Italiens, der Eifer, mit dem er das Ansehn der italienischen Sprache vertheidigt gegen jene „Abscheulichen", welche die Sprache des Volkes verachten^), machen ihn zum grossesten Repräsentanten der italienischen nationalen Idee und zeigen, dass er sich vielmehr als Italiener, wie als Weltbürger fühlte. Die Geschichte sagt uns, welche Stellung für Italien in dem „Weltreiche" vorhanden wäre. Jene Idee war aber nicht Dante's Eigenthum, sondern allen, welche dieselbe schon gehegt hatten, ab- gesehen von den Beziehungen, die sie dabei zwischen Papstthum und Kaiserreich festhielten, war Italien immer als der Mittelpunkt für die E^iserherrschaft erschienen. Dante fand also in der^eneis nicht etwa nur die Grundlage für eine nüchterne politische Theorie, son- dern auch ein Object seines glühendsten Enthusiasmus. Wer sich in die verschiedenen Epochen der Geschichte zu versetzen vermag, wird begreifen, wie Virgil im 13. Jahrhundert einem solchen italienischen Denker und Patrioten erscheinen musste. Für die Italiener war es eine moralische Unmöglichkeit, ohne das römische Alterthum zu ihrer Nationalitätsidee vorzudringen. Der Zauber, den jenes auf sie ausübte, als die neue Bewegung begann, hatte trotz aller Utopien seinen Grund in dem Nationalgefühl. Die tragikomische Geschichte Cola Rienzi's ist, so thöricht auch das ganze Beginnen erscheint, in ihren Ursachen doch hochpoetisch und grossartig. Die

1) „Nos autem cui mundus est patria velut piscibus aequor, quam- quam Sarnum biberimus ante dentes, et Florentiam adeo diligamus, ut quia dileximus patiamur iniuste etc." De vulg. eloq. I, c. 6. Für den Verbannten, dessen Patriotismus tief verwundet war, war die abstracte Vorstellung von der Idee einer allgemeinen Verbrüderung der Menschen ein Trost.

2) .... e tutti questi cotali sono gli abominevoli cattivi d'Italia che hanno e vile questo prezioso volgare, lo quale se è vile in alcuna cosa non è se non in quanto egli suona nella bocca meretrice di questi adulteri." Convito, I, 11.

132 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Idee des KaiseiTeiches musste ein italienischer Gedanke sein, wie die Kaiserherrschaft wirklich eine italienische That war.

Virgil wird also von Dante nicht blos bewundert, weil er der Ueberlieferung nach einen so grossen Ruhm geniesst. Dante sieht vielmehr ein, dass die Ueberlieferung Virgil mit Recht als den grossesten römischen Dichter betrachtet und würde das sogar aus sich selbst wissen. Er kennt ja zur Genüge die Abhängigkeit so vieler Dichter von Virgil, denen er als „onore" und „lume" erscheint, er weiss, dass ihm Alle Ehre erweisen („fanno onore"), und mit Recht („di ciò fanno bene") ; er weiss, welche Stellung die Geschichte dem Homer anweist („che le muse allatar più ch'altri mai"), obwol er ihn in Wirklichkeit nicht kennt ^), und für ihn ist daher Virgil der grosseste Dichter, dem Homer selber Ehre erzeigt, indem er ihm an der Spitze der anderen Dichter wie ein erhabener Fürst entgegenkömmt. Als Dichter ist er sich der hohen Vollendung der Aeneis bewusst; auf dieses Kunstwerk ist er als Italiener stolz, weil lateinisch und italienisch die beiden Nationalsprachen Italiens sind, und Virgil der Ruhm der Römer ist. Er zeigte: „ciò che potea la lingua nostra". Den lebhaften und tiefen Eindruck, den die Aeneis noch mehr als die Bucolica auf ihn gemacht hat, nimmt man an vielen »gellen seines Werkes wahr. Mit Recht kann er daher sprechen vom „lungo studio e '1 grande amore", die er dem Virgil gewidmet hat. Wie er aber über die wirkungsreiche Sprache Virgils denkt, zeigt er da, wo er Beatrice zum Virgil sagen lässt:

„Venni quaggiù dal mio beato scanno Fidandomi nel tuo parlare onesto Ch'onora te e quei ch'udito l'hanno."

Inf. II, 112. Er kennt die Aeneis von Anfang bis zu Ende^), aber wie anders kennt er sie doch, als jene Leute, welche die Poesie des Virgil

1) Die Trojanische Sage kennt er nur aus lateinischen Schriftstellern und nur in einer Vermischung mit mittelalterlichen Vorstellungen, wie man aus seiner Schilderung des fantastischen Unterganges des Odysseus (Inf. XXVI, 91 S.) sieht. Nicht einmal Dictys und Dares scheint er ge- kannt zu haben, eben so wenig wie den Homerus latinus. Vgl. Convito I, 7. Den Homer citirt er gewöhnlich nach Aristoteles, ein Mal nach Horaz. Vgl. Schuck, a. a. 0. p. 272 tf.

2) Virgil sagt ihm:

e così canta

L'alta mia tragedia in alcun loco; Ben lo sai tu che la sai tutta quanta".

Inf. XX, 112.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 183

nur zerrissen um Centoneu daraus zu machen. Er fühlt sich von glühendem Enthusiasmus hingerissen:

. . . . della divina fiamma Onde furo allumati più di mille Deir Eneide dico ')".

Die Art, wie Dante den Virgil in seinen kleineren Werken be- nutzt, zeigt, dass dieser sein Lieblingsschriftsteller war, der schon seinem Geiste nahe stand, bevor er ihn noch zum Begleiter seiner mystischen Reise gemacht hatte, und es gibt in der ganzen ita- lienischen Culturgeschichte nichts edleres und grossartigeres, als die wunderbare und geheimuissvolle Genossenschaft zweier Rej)räsen- tanten der beiden glänzendsten Epochen derselben, deren enger Zu- sammenhang dadurch klar zu Tage tritt^).

Als Dichter ist Dante in jeder Beziehung schöpferisch, und nichts steht ihm ferner, als Nachahmung trotz seiner Verehrung für die alten Dichter und Virgil im Besonderen; unterlag er doch dem Einfluss derselben bei seiner Sehöpfimg keineswegs. Dichter von solchem Gepräge sind aber auch schöpferisch, selbst wenn sie nach- ahmen wollen. Reminiscenzen, die Dante aus dem Studium der Alten schöpfte, sind zahlreich und zeigen sich in Namen, Thatsachen und Formeln ; aber im Allgemeinen ist der Typus seiner Poesie ganz und gar original. Wenn er z. B. die Strafe des Pier delle Vigne schildert, so hat ihm dazix nach eigener Aussage Virgil nach der Erzählung von Polydor das Vorbild gegeben, und doch ist Beiden nichts weiter gemeinsam als der Stoff; Stil und Form sind ganz verschie- den. Der rhetorische Schmuck, die Häufung von Epiphonemen und der nach antikem und speciell römischem Geschmacke dem Ton des Epos zukommende Wortreichthum bei Virgil finden ihren schärfsten Gegensatz in der einfach klaren Natürlichkeit, wie dem Mangel jeder declamatorischen Tendenz bei Dante. Als dieser seine Schilderung mit dem Verse schloss: „e stetti com'è 1' uom che teme", lag ihm gewiss nichts ferner, als der Gedanke Virgil nachzuahmen in dessen:

„Obstupui steteruntque comae et calor ossa reliquit."

1) Purg. XXI, 94.

2) Unglaublich ist, wie Heeren (Gesch. d. klass. Litt, im Mittelalter I, p. 320) sagen konnte: „Selbst die Rolle, die Virgil in Dante's Gedichte spielt zeigt wol, dass er ihn mehr aus Nachrichten anderer als aus eigner Einsicht kannte."

Ig4 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Er muss diesen tiefen Abstand auch gefühlt haben und wenn er zu Virgil sagt:

„Tu se' solo colui, da cu'io tolsi,

Lo bello stile che m'ha fatto onore", darf man nicht denken, dass er nach dem Muster Virgil's habe dichten wollen, sondern seine Worte sind so zu verstehen, wie wenn Aeschylos sagte, dass seine Tragödien nur Brocken seien, die er vom Tische Homers auflese. Auf die charakteristische Form der Poesie Dante' s passen jene Worte gar nicht. Und wenn schon die Divina Comedia keine Nachahmung des Antiken ist, so sind es noch viel weniger seine älteren Dichtungen, durch welche er bereits früher berühmt geworden war, und auf welche sich doch jene Worte auch beziehen sollen. Die Lyvik Dante's ist von ganz modernem Charakter und hat nichts mit Virgil und den Alten gemeinsam. An einem andern Orte sagt jedoch Dante, was er mit jenen Worten meint ^). Den eigentlichen Charakter des „dolce stil nuovo", den er eingeführt zu haben sich rühmt, definirt er nämlich so:

(juando

Amor m' ispira, noto, ed in quel modo

Ch'ei detta dentro vosignificando." Die Poesie den Eegungen des wahren Gefühls unterzuordnen, sie immer „dietro al dittatore" gehen zu lassen, das nennt er seinen „neuen Stil", der sich also nicht auf die künstlerische Form, sondern vielmehr auf ihren subjectiven Grund bezieht, welcher bei zwei sonst verschiedenen Dichtern wol identisch sein kann. Unter dem Worte „amore" will übrigens Dante ganz besonders die geistigen Bestre- bungen verstanden wissen.

Der poetische Stil Dante's folgt aus der Hai-monie der Em- pfindung und des Gedankens. Er ist ganz das Werk einer inneren Thätigkeit und nicht äusserliche Nachahmung; weder eine unüber- legte Improvisation, noch eine trockene Darstellung von allegori- sirten philosophischen Gedanken ^J: er ist wahre Poesie, aber

1) Witte hat diese Worte auf die Schrift „De Monarchia" beziehen wollen, aber der Dichter sagt uns deutlich dass der Stil seiner Dich- tungen sein Ruhm geworden ist. Gegen Witte tritt Wegele (Dante Aligheri p. 348 f.) -auf, doch hat auch er nicht den Sinn der Stelle ver- standen, indem er den Ausdruck „stile" auf die Worte und die formale Nachahmung des Virgil bezieht.

2) Hierhin würde die Definition, die Perez (La Beatrice svelata, p. 65 ff.) von dem „neuen Stile" gibt, führen. Die Allegorie bei Dante zu läugnen ist unmöglich; aber diese war nur ein ganz natürlicher Aus-

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 18o

Poesie der Reflexion. Mit Recht stellt sich Dante den der Tiefe und der Subjectivität entbehrenden Dichtungen eines „Buo- naggiunta" eines „Jacopo Notaio'^ u. A., wie auch jenen „gi'ossi" („rohen'') entgegen, von denen er in seinen prosaischen Schriften spricht. Was die künstlerische Ausarbeitung und die Tiefe des Gedankens, die sich nach der mittelalterlichen Vorstellung in den poetischen Formen verbirgt, betrifft, so steht ihm unter Allen Virgil am höchsten. Mit einem Worte, Dante's sich kühn über die volks- thümliche und gewöhnliehe Poesie erhebende Kunst ist klassisch, nicht weil sie die Klassiker nachahmt, sondern weil sie den künstlerischen Adel derselben hat; und jetzt wii'd man verstehen, weshalb Dante, „lo bello stile" aus Virgil geschöpft haben will^).

Fünfzehntes Capital. Alles dies führt uns zum Verständniss der Erscheinung Vir- gils in der Divina Comedia. Es leuchtet ein, dass der Dante'sche Virgil natürlich nicht mit dem historischen gleichbedeutend, son- dern eine ideale Persönlichkeit ist, hervorgegangen aus den Vor- stellungen, welche das Mittelalter über den Dichter hegte. Nur muss man nicht glauben, dass Dante aus rein äusseren Gründen den Virgil zum Führer wählte, weil ihm beim Suchen nach einem solchen der Ruhm des Dichters am meisten imponirte. Es ist der „Di- vina Comedia" eigen, dass man niemals die Person und Sub- jectivität des Autors aus den Augen verliert. Dante hat uns darin seine ideale Welt, die er in sich selbst trug, offenbaren wollen, und so konnten ihn auch nicht äussere Gründe zur Wahl seines Führers bestimmen. Wenn er ein rein didaktisches Gedicht hätte schreiben wollen, in welchem es sich nicht um seine eigene Person

druck der Gedankentiefe, die Dante vom Dichter verlangt. Darum ist er jedoch weit entfernt davon in ihr das Wesen der Poesie zu er-

blicken. , . i T^• i,

1) Der erste Freend" Dante's Guido Cavalcanti war auch Dich- ter vom neuen Stil und Dante sagt selbst, wie sehr sie in ihrer Ansicht über die italienische Poesie übereinstimmten. Das wäre unmöglich, wenn man Inf X 63: „Forse cui Guido vostro ebbe a disdegno", wie viele gethan haben, wörtlich erklären wollte, als sei Guido ein Verächter Virgil's und der Alten. Da, wo der Vers vorkommt, handelt es sich um die erhabenste Idee, welche der Pilgerfahrt Dante's zu Grunde liegt Die Differenz zwischen beiden Männern bezieht sich lediglich aut speculative Tendenzen und philosophische Gedanken. Vgl. Perez, a. a. 0. p. 382 f. und besser d'Ovidio im Propugnatore, III, 2 p. 167 ff.

186 Virgil in dor Literatur bis auf Dante.

handelte, so hätte er leicht Andere wühlen können oder auch gar, wie Andere thaten und wozu ja die Symbolik des Mittelalters ein- lud, Namen, die blose Ideen personificirten z. B. „Pistis und Sophia", und nicht „tJeatrice und Virgil." Aber die Beziehung zwischen der Divina Comedia und Dante's innerer Entwickelung war so eng, dass nur solche ihn auf seiner idealen Reise begleiten konnten, die in der That seinem Cìeiste in allen Schicksalen nahe gestanden hatten. Das waren Beatrice und Virgil.

Beatrice ist eine historische Persönlichkeit, zu welcher den Dichter eine Jugendneigung hingezogen hatte. Als er jedoch diese seine Liebe ideal umgestaltete, verstand er darunter etwas mystisches, zwar immer noch das Ziel seiner tiefsten Neigungen, aber ganz ohne die ursiirüngliche Bedeutung. Wer die Divina Comedia liest, ohne von Dante etwas weiter zu wissen und seine „Vita nuova" zu kennen, kann Beatrice für eine Erfindung halten. Virgil bleibt dagegen immer eine concrete Erscheinung und nicht ein bioser Ausdruck für eine Idee. Er war Dante's Lieblingsschriftsteller; aus ihm schöpfte ér Stoff für seine Gedanken und er wie Beatrice wurden jetzt in jene Strömung gezogen, in der Dante seine Ideale zu verwirklichen suchte. Die Ideale, welche der Beatrice zu Grunde liegen, sind nicht reine Schöpfung Dante's, sondern das Resultat mittelalterlicher Ideen; dasselbe findet auch für Virgil statt, nur mit dem Unterschiede, dass, während der Process, mit welchem sich aus mittelalterlichen Idealen die Erscheinung der Beatrice gestaltet, lediglich sich in Dante vollzogen hat, die Elemente des Virgilideals bereits zerstreut im Mittelalter vorhanden waren und nur vom Dichter in einer bestimmten Persönlichkeit zusammenge- fasst zu werden brauchten; freilich that dies Dante nicht blos in äusserlicher Weise, sondern selbst wieder als Interpret mittelalterlicher Vorstellungen. Trotzdem ist sein Virgiltypus bei weitem erhabener, als ihn je das Mittelalter selbst hat schaffen können.

Dante bezieht sich in seinen Schriften, ii^ denen er doch so oft den Vii-gil citirt, niemals auf eine Autorität wie Macrobius undFulgentius, von denen er wahrscheinlich gar nichts weiss. Erkennt eine allegorische Auslegung der Aeneis und erwähnt sie als allge- mein bekannt; vielleicht geht sie auf Fulgentius zurück und war bei den Scholastikern wie Bernhard von Chartres und Johann von Salisbury in Gebrauch; Dante hat sie vielleicht bei seinen philo- sophischen Studien in Paris kennen gelernt; übrigens hätte ihm Fulgentius, der den Typus des Virgil so roh und einseitig aufge-

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 187

fasst hat, nur Missbehagen erwecken müssen. Dante kennt in der That nur die Biogi-aphie Virgils'j.

Wir befassen uns nicht mit der Polemik der Ausleger, die auf verschiedene Weise erklärt haben, was Dante unter seinen beiden Führern verstanden habe. Wir haben nur die Beziehungen des Dante'schen Vii-gil zur Literatur, und sein Verhältniss zum Clerus des Mittelalters zu untersuchen.

Dante hat seine Reise als eine Pilgerfahrt zjim Wole seiner Seele dargestellt. Bei dieser Vision muss die Seele, bevor sie all- mälig zur Anschauung des Erhabensten gelangt, von dem Unreinen sich befreien, durch das „temporal fuoco e 1' eterno" hindiirch- gehen und sich durch die Betrachtung des Unmoralischen, das sie verdirbt, und ihrer ewigen Strafen bessern. So gereinigt taucht sie ein in die Gewässer Lethe und Eunoe, und nun wird der Geist fähig, die ewige Idee zu erkennen. Dabei hat Dante zwei Führer, einen mehr realen für den Theil, in welchem die Seele auf menschlichem Gebiete sich zu reinigen und für die himmlische Vision vorzubereiten hat, und einen mehr mystischen, da wo die Seele sich in die überirdische Sphäre der Vollkommenheit erhebt, wo sie „la gloria di colui che tutto move" im höchsten Glänze sieht. Da sich der erste Theil zum zweiten nur wie Mittel zum Zwecke verhält, muss sich auch Vii-gil der Beatrice unterordnen, von der er ja Dante zugesandt wird. Ln Anschauen der trau- rigen Wirklichkeit ist also ein tugendhafter, berühmter und weiser Heide Dante's Führer und Meister; in der Betrachtung der höchsten Idee der Seligkeit ist ein symbolisches und ideales Weib die Füh- rerin, dessen Name den Dichter an seine reinste Neigung erinnert. Sie bezeichnet die erhabene, begnadete und erleuchtete Speculation des Geistes, die sich nur im Chi-istenthume findet. Virgil kann, so weit er auch auf dem Wege der Vervollkommnung vorschreitet, sich niemals in den Gewässern Lethe und Eunoe ganz erneuern, noch auch zu jenem reinen Stande des Menschen vor dem Sünden- falle zurückkehren. Beatrice dagegen ist vollkommen und geniesst alle Vortheile des vergossenen Blutes Christi. Sie hat deshalb wol Virgil's Kenntniss, aber nicht dieser ihre. Abgesehen von den leider zu zahlreichen Auslegungen, die man beiden Personen untergelegt hat, bleibt unbezweifelt, dass Beatrice, mag man darunter Theologie, Philosophie oder etwas Anderes verstehen, ihren Platz nur im Christenthume findet und sich von Virgü vor Allem nur durch den

1) Vgl. Inf. I, 67 ff. Purg. III, 25 ff. VII, 4 ff. XVIII, 82 f.

188 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

geoffenbarten Glauben unterscheidet. Dies beweist z, B. auch die Stelle, wo der Dichter Virgil sagen lässt ^) : . . . . quanto ragion qui vede Dir ti poss' io, più in t' aspetta A Beatrice, ch'è opra di fede." Es findet zwischen Virgil und Beatrice kein Widerspruch statt, weil Dante die Harmonie zwischen Vernunft und Glauben aner- kennt; vielmehr herrscht ein gutes Einvernehmen zwischen ihnen, wie sich denn auch die diesen Gestalten zu Grunde liegende Idee auf eine Einheit zurückführen lässt. Es sei uns jedoch erlaubt, uns hierbei nur mit Virgil zu beschäftigen. Fassen wir noch ein- mal kurz die Gründe zusammen, die Dante bestimmten, Virgil zum Führer zu nehmen.

Erstens war Virgil Dante's Lieblingsschriftsteller und der grösste Dichter, den er kannte. Er wusste den Adel seiner Kunst mehr zu würdigen, als irgend einer im Mittelalter, und betrachtete ihn als Meister für seinen eigenen poetischen Stil; er bewunderte in ihm den Sänger des italienischen Ruhmes; an der Aeneis reifte sein eigener Gedanke von der Weltherrschaft, füi* welche ihm Virgil nicht als bioser Theoretiker, sondern als schlagender historischer Beleg diente. Ferner aber sali Dante nach der damals geläufigen allegorischen Auslegung in der Aeneis eine Pilgerfahrt des Menschen auf dem Wege der Beschaulichkeit und Vervollkomm- nung, die er selbst zum Gegenstände seines Gedichtes machte. Bei seiner Vorstellung von dem Verhältnisse der Vernunft imd des Glaubens zueinander, von der Kraft des Geistes, der ohne Offen- barung zur Erkenntniss grosser Wahrheiten gelangen konnte, erhob sich Virgil über die Dichter des Alterthums besonders durch seine Reinheit imd Erleuchtung. Zeitlich stand er Christus am nächsten und war ohne es zu wissen sein Prophet. Indem aber Dante den Stoff seines Gedichtes zusammenstellte, gab ihm Virgil die erste Anre- gung, er entlehnte aus ihm viele Einzelheiten für seine Reise durch die Todtenwelt und benutzte ihn überhaupt mehr als irgend einen andern Schriftsteller in seinem grossen Werke'"').

Aus all diesem geht hervor, wie innerlich berechtigt Dante war, sich Virgil zum Führer zu wählen. Es ist das eben so wenig eine reine Erfindung aus äusseren Rücksichten, wie die Wahl der Beatrice zur zweiten Führerin. Dabei darf man nicht vergessen, dass Dante

1) Purg. XVIII, 46 ff.

2) Man sehe, wie oft Guido da Pisa bei Erzählung der Begeben- heiten aus der Aeneis Gelegenheit hat, Dante zu erwähnen.

Virgil lu der Literatur bis auf Dante. 189

vor Allem ein schopferischer Dichter ist, und dass es nur seinem titanischen Geiste möglich war, die Speculation in die Poesie ein- zuführen. Wenn er zwischen einem Philosophen und einem Dichter zu wählen hat, so entscheidet er sich für den letzteren. Er unter- hält sich am meisten mit Künstlern und Dichtem, vor allem mit Virgil, d£wan mit Statius, Sordello, Arnaldo und Casella. Jene Männer „di cotanto senno," unter denen er der sechste im Limbus ist, sind sämmtlich Dichter. Als Dichter zu gelten, ist sein eigener heissester Wunsch. Dies ist sein Verdienst, weshalb er denkt, aus dem Exile zurückkehren zu dürfen, wie er sagt: „al bell' ovile ov'io dormii agnello", und die Diehtei'krone hofft er zu erwerben in seinem „bei Sau Giovanni," wo er die Taufe empfing: „Con altra voce ormai; con altro vello Ritornerò poeta, ed in sul fonte Di mio battesmo prenderò il cappello" ^). Diese seine Vorliebe für die Kunst, die er mit seinem Führer theilt, schildert er wimderbar schön an jener Stelle, wo sie Beide zu ihrer grossen Bestürzung bemerken, dass sie das erhabene Ziel ihres Weges unter dem Zauber des süssen Gesanges verfehlt haben ''^).

Die Gelehrten haben es natürlich gefunden, dass Dante, als er einen Repräsentanten der von der Offenbarung unabhängigen mensch- lichen Vernunft suchte, nach Virgil griff, der im Mittelalter als fast allwissend und als Christ galt. Niemand hat aber die Frage aufgeworfen, warum der scholastisch gebildete Dante nicht den Aristoteles wählte. Nach des Dichters eigenen Worten war ja dieser und nicht Virgil „maestro di color che sanno," und die Allwissenheit schiieb man ihm nicht weniger als dem Dichter der Aeneis zu. Dante betrachtete Aristoteles als oberste Autorität in der Philosophie, als den Meister des Verstandest)^ und in der That galt ja in der Scholastik Aristoteles mehr als Virgil*). Es fehlte

1) Parad. XXV, 1 ff.

2) Purg. II, 106 ff.

3) .... in quella parte dove aperse la bocca la divina sentenzia d'Aristotile da lasciare mi pare ogni altnii sentenzia." Convito IV, 17. Vgl. über die Autorität des Aristoteles Convito, IV, G.

4) Der merkwüi-digste Ausdruck für den Primat des Aristoteles zur Zeit der Scholastik, ist das Fabliau „la bataille des VII ars". Darin heisst es u. a. :

„Aristote, qui fu a pie Si fist chéoir Gramaire enverse. Lors i a point mesire Perse, Dant luvenal et daut Grasce,

190 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

auch nicht an Legenden, die von seiner Weisheit erzählten; man glaubte, er sei ein Christ, so weit dies überhaupt möglich war, und disputirte im Ernst darüber, ob seine Seele im Paradiese sei ^). Ja, auch iu dem theoretischen Theil seiner Weltherrschafts- idee stützte sich Dante auf den grossen Philosophen, aber Aristo- teles war ein Grieche und kein Römer ^). Als Dichter war er Dante unbekannt, und es fehlte jene innere Verwandtschaft, die zwischen ihm und Virgil bestand; .darum konnte Aristoteles nicht sein Füh- rer sein.

Auch der Virgil der Divina Comedia zeigt wie jede Schöpfung des grossen Dichters das Verhältniss Dante's zum Mittelalter. Die mittelalterliche Vorstellung von Virgil findet sich auch hier, aber der schöpferische Geist Dante's hat ihr seinen eigensten Stempel aufgeprägt und aus den rohen Elementen, die nur unser mit- leidiges Lächeln erwecken konnten, eine der edelsten Erscheinun- gen geschaffen. Von den alten Vorstellungen wusste er einige weise zu entfernen, andere zu reinigen und fein umzuarbeiten^).

Virgile, Lucain et Etasee

Et Sedule, Propre, Prudence,

Aratur Omer et Térence:

Tuit chapelèrent sor Aristote

Qui fu fers com chastel sor mote." Vgl. Jubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf, II, p. 426. Propre ist nicht, wie Jubinal meint, Properz, sondern der christliche Pros per US.

1) Vgl. Lambertus de Monte, Quid probabilius dici possit de salvatione Aristotelis Stagiritae. Col. 1487. Einst nannte Tertullian den Aristoteles „patriarcha haereticorum" und später Luther: „hostis Christi." In dem französischen Gedichte „Enseignements d'Aiüstote" spricht Aristo- teles von Christus und dem Christenthume wie ein Christ. Vgl. Hist. Litt, de la France XIII. p. 115—118 und Ruth, Studien über Dante Allighieri p. 258 S.

2) Dante zeigt da, wo Virgil von Diomedes und Odysseus mit ihm si^richt (Inf. XXVI, 73 ff.) deutlich, dass er die Griechen nur aus latei- nischen Uebersetzungen kennt:

„Lascia parlare a me; ch'io ho concetto Ciò che tu vuoi; eh' e' sarebber schivi, Perchè ei fur Greci, forse del tuo detto." Und vor Guido di Montefeltro (Inf. XXVII, 33) sagt ihm Virgil: . . . . parla tu, questi è Latino."

3) Dante war sich seines Verständnisses des Virgil und des Adels, den er dessen Person verlieh, bewusst. Nur hierauf bezieht sich wol, was er von Virgil sagt (Inf. I, 9):

„che per lungo silenzio parca fioco." Dass Virgil seit langer Zeit vergessen war, konnte Dante damit nicht

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 191

Zu seiner Zeit hatte sich schon die Volkssage von Virgil in die romantische wie die gelehrte Literatur eingedrängt. Dante kannte sie ganz gewiss, wie ja auch sein „dolcissimo Gino" sie kaimte, der sie in Neapel vom Volke gehört hatte; dennoch ist es ein gi-osser Irrthum, wenn man, wie fast alle modernen Aus- leger gethan haben, bei dem Virgil Dante's an jene Volkssage gedacht hat. In dem ganzen Gedichte ist keine einzige Stelle aufzufinden, in welcher Virgil nur von fern als Zauberer, Thau- maturg u. s. w. erscheint^). Man braucht nur an die erhabene Idee zu denken, die Dante von Virgil hat, an die Verehrung, die er ihm zoUt, um zu fühlen, wie sehr ihm jene neapolitanischen Volkssagen über Virgil widerstreben mussten. Zur Genüge zeigt auch die Art, wie er Zauberer und Astrologen behandelt, dass solche Künste für ihn nicht den grossen Weisen ausmachten, wie sie es beim Volke thaten ; sondern die Weisheit, die er dem Virgil zuschreibt, schloss grade jene Künste aus. Derselbe hätte ja sonst in der Unterwelt neben Guido Bonatti, Asdeute u. A., die er doch keineswegs bewundert, Platz nehmen müssen"). Für seinen Virgil hat Dante nur seine eigenen Ideale zum Massstab gemacht, aber Zauberei war sein Ideal gewiss nicht.

Ein Mann, der so hoch von den alten Dichtern dachte und die Kunst zu solcher Vollendung führte, konnte sich nicht für eine rein volksthümliche Sage begeistern, die sich an einen Dichter wie Virgil anhing. Als Künstler und Denker ist Dante ein stolzer Aristoki-at. Nicht einmal alle literarischen Ueberlieferungen, die da- mals über Virgil umliefen, hat er mit seiner erhabenen Schöpfung verknüpft. Und so reinigte er vielmehr diese Gestalt von manchen

meinen, denn er nennt ihn selbst „famoso saggio" und sagt, dass sein Ruhm „ancor nel mondo dura."

1) Daher der Fehler, den einige Ausleger begangen haben, indem sie in den Versen (Inf. IX, 22):

„Ver' è ehe altra, fiata quaggiù fui Congiurato da quella Eriton cruda Che richiamava l'ombre a' corpi sui" eine Ansjjielung auf die Zauberkraft Virgils vermutheten. Aber wer den Künsten einer Zauberin erliegt, ist noch kein Zauberer. Dante glaubt zwar wie viele seiner grossen Zeitgenossen an die Magie, hält sie aber für Sünde.

2) Inf. XX sagt Virgil von den Zauberern v. 28 „Qui vive la pietà quand' è ben morta;" v. 117. „Delle magiche frodi seppe il giuoco"; V. 121 „Vedi le triste che .... fecer malie con erbe e con imago."

192 Virgil iu der Literatur bis auf Dante.

Flecken, die sie in den Augen der Christen entstellten, Virgil war gewiss kein obscüner Dichter, sondern zeichnete sich unter den andern durch eine gewisse Keuschheit aus ^). Nichtsdestoweniger waren die in der Aeneis wie in den Bucolica vorkommenden erotischen Partien manchem Asketen, als etwas Sinnliches und Lascives anstössig. Ausserdem las man von ähnlichen Dingen auch in der Biographie, und verglichen mit den Bucolica hätten diese Thatsachen den Virgil verurtheilt, in den Kreis derer einzutreten, die wider die Natur sündigten ^), wohin Dante kein Bedenken trug, den Schulmeister Pi-iscian und seinen eigenen Lehrer Brunetto zu bringen. Was die Reiulieit der Virgilischen Grundsätze be- trifft, so glaubte man allerdings im Mittelalter, dass sie dem Christenthume sehr nahe standen, aber aucli dass Virgil als Heide später in viele besonders epikuräische Irrthümer verfallen sei. So hatte ihn ja schon. Fulgentius dargestellt; seine Biographie nennt ihn Schüler eines Epikuräers, und epikuräische Grundsätze, die ja bei einem Dichter seiner Zeit gauz natürlich sind, fehlen auch nicht ganz in seinen Werken. Alles dies aber Hess Dante bei Seite, theils, weil für ihn jene Flecken vor den grossen Verdiensten des Dichters verschwanden, theils, weil ihm allegorische Auslegungen gestatteten, jene Stellen anders aufzufassen. In dem Kreise derer, die gegen die Natur sündigten, schweigt Vh-gil; aber die liebens- würdige und zärtliche Weise, in welcher Dante zu seinem Lehrer Brunetto spricht, zeigt, wie er um der Verdienste willen solche Fehler vergessen konnte. Vom Epikuräismus hat Dante keine voll- kommene Vorstellung, er begi-eift nur ungefähr aus Cicero „De finibus", dass Epikur das Vergnügen für den Zweck des Menschen hielt. Die Hauptschuld aber, um derentwillen er die Epikuräer

1) Vgl. Klotz, „de verecundia Vergili" iu den „Opuscula varii ar- gumenti": p. 242 ff.

2) Aus diesem von der Biographie und den Commentatoren aus- gehenden Vorwurfe entstand die sagenhafte und anachronistische Vor- stellung, dass, als Christus geboren ward, alle Sodomiten, und unter ihnen auch Virgil, starben. So Salicetus bei Emanuel de Maura, Lib. de Ensal. sect. .3, c. 4, No. 12; Vgl. Naudé, Apologie pour tous les grands personnages soup9onnés de magie p. 628 f.; Herder hat in den Kritischen Wäldern (II, p. 188 „Ueber die Schamhaftigkeit Virgils" mit wenig Glück Virgil von diesen Anklagen zu vertheidigen gesucht; vgl. Genthe Leben und Fortleben des P. Vergilius Maro, p. 28 ff.

3) „Siccome pare Tullio reciture nel primo di Fine de'beni. Conv. IV, 6. De natura deorura, das ihm reichere Notizen über die Epi- kuräer hätte geben können, kennt er nicht.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 193

in den Inferno bringt, besteht darin, dass sie „l'anima col corpo morta fanno", was er doch von Virgil, der selbst das Todtenreich geschildert hatte, nicht sagen konnte. Darum berichtet ihm Virgil in jenem Gesänge von den Epikuräern, als ob er niemals deren Irrthümer gethejlt habe. Dieser Eeinigungsprocess, der sich an Virgil vollzieht, ist die That Dante's, welcher Alles in abstracte und ideale Regionen erhebt, von Allem nur das wesentlich Charakte- ristische erblickt und die wirklichen Unvollkommenheiten übersieht, die einer kleinen realistischen Kritik nicht entgangen sein würden. Deshalb befindet sich der Selbstmörder Cato auch nicht bei denen, die gegen sich selbst Gewalt brauchten, unter welchen wir doch so pathetische Erscheinungen erblicken, sondern er bewahrt jene hohe Würde, wie Allen bekannt ist. Wenn Dante von Rom und der Weltherrschaft spricht, so erwähnt er auch die idealen Figuren eines Aeneas, Caesar, Arigust, Trajan und Justinian, aber die hässlichen Gestalten römischer Kaiserherrschaft, die er nach der historischen Ueberlieferung und der mittelalterlichen Sage nur unter die Verdammten hätte bringen können, wie z. B. Nero, nennt er niemals.

Virgil erscheint zwar in der Divina Comedia viel christlicher, als in der mittelalterlichen Tradition; doch unterscheidet der Dichter genau, was Virgil im Leben und was er nach dem Tode war. Virgil spricht immer wie ein^ längst Gestorbener, der seit Jahr- hunderten auf einem ihm seiner Verdienste wegen angewiesenen Platze lebt. Mit seinem Tode fiel der Schleier von seinen Augen, in dem jenseitigen Leben sah er die Wahrheiten ein, welche er früher nicht erkannt hatte, und gestand seinen Irrthum, den er frei- lich wider Willen begangen hatte, eine Lage, welche er mit allen Todten und sogar den Verdammten theilt. Dies ist eine christ- liche Idee, und in diesem Puncte stimmte Dante's Virgil mit dem des Fulgentius überein. Auch hei Letzterem spricht Virgil wie ein Schatten aus dem Todtenreiche ; er nennt zwar nicht seine Stellung unter den Todten, aber gibt doch zu erkennen, dass er Wahrheit und Ii-rthum einigermassen zu unterscheiden gelernt habe; die Erinnerung daran ist ihm peinlich und er verweilt des- halb nicht gern lauge bei diesem Gegenstande. Ganz anders Dantes Virgil : dieser weiss von den „falschen und lügenhaften Göttern" seiner Zeit, kennt den Christengott, und darum kann ihn auch Dante bitten :

„Per quel Dio che tu non conoscesti." Er weiss, dass dieser Gott eine „sustanzia in tre persone"

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 13

194 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

ist, und keuut die Wolthat, „dass Maria geboren hat." Alles das sieht er ein, wie ihm auch viele Begebenheiten nach seinem irdischen Leben, sogar von den Zeitgenossen Dante's, die eben in die Welt gekommen sind, bekannt sind. Er erwähnt den Nimrod ^) und citirt die Genesis wie den Ai'istoteles^). Wenn er aber Alles bedenkt, was er jetzt weiss, so wird er traurig über seine Lage wie über die des Plato, Aristoteles und anderer grosser Heiden, deren Verstand allein zum ewigen Leben nicht ausreichte^). Jedoch spricht Virgil über die christlichen Wahrheiten nicht wie ein gewöhn- licher Todter; der Dicliter konnte sich ja auch das Wissen jenes Mannes nur so erhaben vorstellen, wie die Ueberlieferung es von seiner historischen Person ausgesagt hatte. Das Leben Virgil's nach dem Tode steht demnach nicht im Widerspruche mit seinem fi'üheren Leben, imd der Dichter leugnet nicht das, wozu ihn einst die blosse Vernunft gebracht hatte. Ja, als Dante einmal zweifelt, beweisst ihm Virgil, dass sein Ausspruch:

„Desine fata deùm flecti sperare precando", richtig verstanden, mit der christlichen Lehre über die Kraft des Gebetes für die Seelen im Fegefeuer gar nicht im Wider- spruch stehe*). In der idealen Region, welcher Virgil als Symbol angehört, ist der Dichter immer bestrebt, diese lieber eins timmung aufrecht zu erhalten und einige Abweichungen übergeht er dabei absichtlich mit Stillschweigen. Obgleich Dante von Virgil die Grundbedeutung von der Fahrt ins Todtem-eich erfährt, dieselbe aber im einzelnen nach der christlichen Tradition umgestaltet, so werden doch die Differenzen zwischen der Schilderung Dante's und der Beschreibung des Ortes durch Virgil niemals berührt. Dante unterscheidet bei den alten Dichtern die dargestellte Idee von dem

1) „Questi è Nembrotto per lo cui mal ceto Pure un linguaggio nel mondo non s' usa.

Inf. XXXI, 78.

2) „Se tu ti rechi a mente Lo Genesi" Inf. XI, 106. „La tua Etica" Ib. 80; „la tua Fisica", v. 102.

3) .... E disiar vedeste senza frutto Tai che sarebbe lor disio quetato, Ch' eternamente ò dato lor per lutto. Io dico d'Aristotele e di Plato,

E di molti altri. E qui chinò la fronte E più non disse v rimase turbato.

Purg. Ili, 43.

4) Purg. VI, 28 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 195

poetischen Ausdrucke, der .sie einhüllt, und gebraucht deshalb die mythologischen Namen und Bilder nicht nur als Symbole, sondern auch als rein poetische Elemente ^j. Von dem Gange des Aeneas in die Unterwelt hat er die nach seiner Meinung zu Grunde liegende wahre Idee entlehnt, von dem formalen Theil dagegen nimmt er nur einige Thatsachen, während er andere umgestaltet, ohne dass dies bei der idealen Beziehung zwischen ihm und Virgil Gegenstand des Gespräches wird").

Die Vorstellung von der Reinigung des Geistes und der Er- kenntniss grosser Wahrheiten aus eigener Kraft musste, auf eine bekannte literarische Persönlichkeit angewandt, nothwendig auf die Vorstellung von einem ausserordentlichen Wissen und einer ency- klopädischen Gelehrsamkeit führen, und deshalb ist Dante's Virgil so weise, wie ihn Macrobius, Fulgentius und das ganze Mittelalter geschildert haben. Freilich offenbart er nicht sein ganzes- Wissen, aber man sieht, dass es vorhanden ist und nur beschränkt wird, wo Beatiices Herrschaft anfängt. Die Allwissenheit VirgiFs, die ihm das Mittelalter zuschrieb, zeigt sich also bei Dante als etwas ganz Evidentes und Vernünftiges. Die Kenntniss des Mittelalters ging auf Encyklopädie aus, und encyklopädisch war auch die gelehrte Richtung Dante's. Man betrachtete ja meist die alten Dichter als Weise und Philosophen ; auch Dante betrachtete sie als solche ■^), aber

1) Schön und bezeichnend für die Art, wie Dante von den antiken Mythen dachte, ist Purg. XXVIII, 139 ff., wo Matelda in Gegenwart des Virgil und Statius ihre Hede also beschliesst:

„— Quelli che anticamente poetaro L' età dell' oro e suo stato felice Forse in Parnaso esto loco sognaro. Qui fu innocente l'umana radice, Qui primavera sempre, ed ogni frutto; Nettare è questo di che ciasun dice. Io mi rivolsi addiettro allora tutto A'miei Poeti, e vidi che con riso Udito avevan l'ultimo costrutto."

2) Vgl. hierüber Fauriel, Dante et les origines etc. II, p. 435 ff. ; Ozanam (Dante et la philosophie cathol. au treiz. siècle, p. 324 ff.) hat ausführlich die Visionen und poetischen Fahrten ins unsichtbare Reich bei den Vorläufern Dantes untersucht. Zum Verständniss der ori- ginellen Schöpfung Dante's verhilft die Arbeit jedoch wenig, der sich mit diesen s. g. Vorläufern, Virgil ausgenommen, so gut wie gar nicht berührt.

3) So nennt er die Dichter, denen er im Limbus begegnet (Inf. IV, 110) z. B. Virgil Inf. VII, 3. XII, 6. XIII, 47 und Statius Purg. XXIIT, 8; XXXIII, 15.

13*

198 Virgil in der Literatur Ins auf Dante.

inüiTiäclien uml unaugenehmen Pedanten und aub sich selbst einen armen „homunculus" machen. Der Virgil des Fulgentius ist das Produci unwissender Barbarei, die das, was sie zu preisen sucht, in den Staub zieht, der Virgil Dante's das Produci einer genialen Reformation, die das Gesunkene wieder erhebt.

Der feine Taci Dante's zeigt sich auch in den leichten Schatten, die er dem Bilde Virgils gegeben hat, und infolge deren dieser in Be- zug auf Vollkommenheit hinter anderen zurücksteht. Er nennt nicht nur Männer aus dem Alierthum, die vollkommener waren als Virgil, sondern kömmt durch die eigenen Verse desselben auf die Idee, dass er Caio und jenen Ripheus, den Virgil als ,justissimus unus qui fuit in Teucris" bezeichnet, in das Pai-adies versetzt. Der nach der Ueberlieferung idealisirte Typus des Cato ^) erscheint als heilig, majestätisch und ehrwirrdig, aber als strenger Stoiker, ein „atrox animus" ohne jede irdische Empfindung, und steht an Cha- rakter wie Verdienst über Virgil. Zu solcher Vollkommenheit wie Caio gelangte Virgil nicht, aber nach der meisterhaften Zeichnung des Dichters steht er nicht nur auf viel vertrauterem Pusse mit Dante als Caio, bevor jener zur Vollkommenheit gelangt, sondern, ohne ii-gend ein historisches oder realistisches Element der Bio- graphie zu Hilfe zu nehmen, stellt Dante seinen Charakter als einen solchen hin, der, was Cato imd noch mehr Beatrice unmöglich wäre, gewissen leichten Irrthümern uniei'liegen durfte. Bezeichnend dafür ist die Stelle, wo Virgil sich durch den Gesang Casella's unter- halten lässt, aber noch mehr die, wo Virgil den Cato durqh die Erwähnung der Marzia zu bewegen sucht. Die strengen Worte, mit denen Caio solche Empfindungen zurückweist, nur an die „donna del ciel" denkend, die Virgil auf jenem Wege lenkt, zeigen deut- lich den Unterschied jener beiden Seelen auf dem Wege ihrer Reinigung.

Auf dem Grade der Vervollkommnung beruht der Haujitge- danke, aus dem sich die Begleiter und Führer Dantes symbolisch erklären. In der Unierw^eli leitet Virgil mit sicherem Schritte, aber im Fegefeuer wird er unsicher und fühi-t, nachdem er sich bei anderen über den Weg erkundigt hat. So weit in der Vervollkommnung ge- langte er nicht, da ihm die „drei heiligen Tugenden" fehlten. Ein- mal gesellt sich zu ihnen Statius, dessen Poesie ein Ausläufer der virgilischen ist, und der nicht blos als Dichter, sondern auch als

Vgl. Wolff, Cato der jüngere bei Dante, im Jahrb. d. deutschen Dantegesellsch. II, 225 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 199

Christ dem Virgil gegenübertritt, was dieser ja selbst geworden wäre, wenn er nach Christus gelebt hätte. Au dieser Stelle kömmt Dante mit grosser Kunst zum ersten Male auf die in der ersten Belöge enthaltene Prophezeihvmg von Christus, wie sie sich das Mittelalter vorstellte, zu sprechen. Virgil, der selbst in dem Ge- dichte von Christus nicht gesprochen hat, wird so zu sagen durch Statius ergänzt, welcher die Bedeutung jener Weissagung verstehen konnte imd sich deshalb zum Christenthum bekehrte. Er ruft daher als begeisterter Verehrer Virgils aus:

„E per esser vissuto di quando

Visse Virgilio assentirei un sole

Più ch'io non deggio al mio uscir di bando." Darauf folgt jene schöne Stelle, in der er den vor ihm stehenden Dichter erkennt und ihm seine ganze Dankbarkeit ausdrückt.

tu prima m'inviasti

Verso Parnaso a ber delle sue grotte,

E prima appresso Dio m'alluminasti.

Facesti come quei che va di notte

E porta il lume dietro e a non giova,

Ma dopo fa le persone dotte.

Quando dicesti: secol si rinnova

Torna giustizia e primo tempo umano

E progenie scende dal elei nuova.

Per te poeta fui, per te cristiano etc." Trotz seiner Bekehrung ist aber doch Statius nicht zur reinen Vollkommenheit gelangt, die er vielmehr erst jetzt durch seine Keinigimg im Pui-gatorium erlangt ; darum verschwindet Virgil, so- bald Beatrice erscheint, während Statius bleibt und mit ihr und Dante das Paradies betritt. Doch von hier an vergisst ihn der Dichter, der sich nur noch an Beatrice hält.

Hieraus also entwickelt sich die sj^mbolische Idee, die der Erscheinung Virgils zu Grunde liegt. Dante strebt nicht nur nach eigener VoUkoinmenheit, sondern nach einer Verwirklichung des Ideals der menschlichen Gesellschaft, welches ein Reich der Ge- rechtigkeit, der Moi'al und der Religion sein und deshalb auch der Vollkommenheit und dem Glücke des Einzelnen am meisten entsprechen soll. Die Unterscheidung zwischen Geistigem und Welt- lichem, zwischen Papst und Kaiser bildet die Grundlage dieses Gedankens. Aeneas und Paulus sind seine Vorläufer bei jener Reise, und auf dem Grunde des Universums erblickt er als die grössten ihm bekannten Sünder, die, welche Caesar und Christus

20() Virgil iu der Literatur bis auf Daute.

verratheu haben. Diese Ordnung der Dinge stellt sich ihm als eine nach ewigen Gesetzen von Gott gewollte Thatsache dar, die sich in der Geschichte offenbart und vom Glauben bestätigt wird. Jenes Ideal verwirklicht sich daher in allen guten Seelen, denen er auf seiner Fahrt begegnet, vor Allem aìjer in seineu Führern. ^lau begreift, wie die Idee von der weltlichen Kaiserherrschaft in der Weisheit Virgils mit einbegriffen sein muss, sowol in dem Virgil der Literatur wie der Allegorie '). Der historische Virgil steht als Zeitgenosse des guten Augustus und als Anhänger eines friedlichen Zustandes des Reiches jener Begebenlieit am nächsten, durch welche Rom „lo loco santo U' siede il successor del maggior Piero"

werden sollte, und war selbst der Sänger des Weltreiches, aber er hatte auch allegorisch das beschauliche Leben besungen und die vollkommenste Ordnung der menschlichen Gesellschaft demgemäss begriffen. Zu sagen, dass Virgil bei Dante nur die Idee der Kaiserherrschaft repräsentire, wäre eben so falsch, wie die Be- hauptung, in der Divina Commedia zeige sich nur die politische Idee Dantes. Jene Vorstellung vom Kaiserreiche muss Virgil auch in symbolischer Weise repräsentiren, weil nach Dante die menschliche Vei'nunft die Rechtmässigkeit des römischen Kaiser- thums und die Vollkommenheit seines Ideals von der menschlichen Gesellschaft anerkennen muss. Was die mittelalterliche Ueberliefe- rung von der Beziehung A'^irgils zur Weltherrschaft betrittst, so hat der Dichter nur Elemente vorgefunden, die noch keinen bestimmten Ausdruck gewonnen hatten. Auf den Gedanken der Weltherrschaft Avar im Mittelalter die Thätigkeit vieler Fürsten gerichtet. Nie- mand hatte ihn jedoch wie Dante in einer politischen Theorie ent- wickelt und mit der tiefsten Speculation über die Geschichte der Menschheit verknüpft").

1) Von diesem Staudpunkte aus ist der Dante'sche Virgil von Ruth (Studien über Daute Allighieri. Tübing. 1855 p. 203 ff.) untersucht worden, worauf wir verweisen. Von demselben: „Ueber die Bedeu- tung des Virgil in der Diiäna Commedia" in den Heidelb. Jahrb. 1850.

•2) Vor Dante und dem Mittelalter hat Augustin von einem histo- risch-philosophischen Standpunkte aus den Virgil als Sänger der römischen Macht aufgefasst. Allein er, wie sein Schüler Orosius sahen das Sinken Roms und hörten wie man dem Christenthume davon die Schuld beimass. Auf der einen Seite stand ihnen das heidnische Rom noch zu nahe, auf der anderen war auch das Christenthum noch nicht

Virgil in der Literatur bis aiif Daute. 201

Sechzehntes Capitel.

Bei aller Begeisterung, die Virgil seit der Zeit des Augustus hervorrief, ist er doch niemals in so grossartiger, ernster und wahrer Weise verherrlicht worden, wie von Dante. Obwol sich dabei mittelalterliche Ideen als Grundlage erkennen lassen, hat doch Dante die Grenzen derselben weit überschritten. In der ganzen Entwickelung des Mittelalters ist Nichts, was sich mit der Divina Commedia vergleichen liesse. Ohne Beispiel ist alles das, was Dante direct aus den Ideen seiner Zeit geschöpft hat. Nie- mand hatte bis dahin den Virgil so begriffen. So weit nun aber der Dante' sehe Virgil über das mittelalterliche Mass hinaus geht, kann man ihm gleichsam als Correctiv eine andere mittelalterliche Darstellung des Vii-gil entgegenstellen, die ebenfalls zur Zeit Dantes entstand. Es ist dies der Virgil des Dolopathos, ein Werk von romantischem Charakter, das ein wenig gebildeter Mönch ver- fasst hat. Die Vorstellung von Virgil zeigt sich darin auf der letzten Stufe der literarischen Entwickelung und dem volksthüm- lichen Standpunkte schon sehr nahe, während der Dante'sche Virgil jener hohen geistigen Sphäre angehört, in der sich die literarische Ueberlieferung des Mittelalters schon zur klassischen Empfindimg der Renaissance entwickelt.

DerDolopathos wurde im 1.3. Jahrhundert von einem der Abtei Hauteseille in Lothringen angehörenden Mönche Johann verfasst und dann von einem gewissen Herbers in französische Verse ge- bracht^). Folgendes ist der kurze Inhalt des Buches: Der zur Zeit des Augustus lebende Dolopathos, König von Sicilieu, schickt seinen Sohn Lucinian nach Rom, um ihn von Virgil unterrichten zu lassen. Dieser unterweist ihn in allen Zweigen des Wissens,

als Verfolger aufgetreten. Und so konnten sie unmöglich zu der Vor- stellung Dante's kommen, zu der ja das ganze Mittelalter beigesteuert hatte.

1) ,,Li romans de Dolopathos" publie pour la première fois en en- tier par Ch. Brunet et Anat. de Montaiglou, Paris (Jannet) 1856. In einigen Hdss. findet sich ein lateinischer Text des Dolopathos, den Mussafia publicirt hat und als das Original des Mönches von Hauteseille betrachtet („Ueber die Quelle des altfranzösischen Dolopathos." Wien 1865; und „Beiträge zur Literatur der sieben Weisen Meister," Wien, 1868.). Der lateinische Text ist jetzt vollständig herausgegeben von H. Oesterley: „Johannis de Alta Silva Dolopathos." Strassburg 1873. cf.- Gaston Pai^is in der „Romania" II, 481 £F.

202 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

besonders in der Astronomie. Unterdessen stirbt die Frau des Uolopathos, der König heirathet eine andere und sendet nach seinem Sohne. Mit Hilfe der Astrologie sieht Virgil voi-aus, dass Luci- uian von einem grossen Unglücke bedroht wird, und befiehlt ihm daher, völliges Stillschweigen zu beobachten, so lange er ihm nicht selbst das Reden erlaube. So kömmt Lucinian bei seinem Vater au, bleibt aber auf alle au ihn gerichtete Fragen st\nnm. Da jedes Mittel fehlschlägt, verpflichtet sich die Königin, ihn zum Sprechen zu bewegen und erklärt ihm, nachdem sie alle ihre Künste versucht hat, ihre Liebe, ohne jedoch Erwiederung zu fin- den. Darüber empört, und um die Folgen ihres Schrittes besorgt, sinnt sie auf den Tod des Lucinian und klagt ihn an, als ob er ihr habe Gewalt anthun wollen. Der König verurtheilt den Sohn zum Tode, aber zum Glücke kömmt ein Weiser an, der eine Ge- schichte erzählt und dadurch Aufschub der Hinricht\ing um einen Tag bewirkt. Dasselbe thueu andere Weise, die nach ihm an- kommen, bis am siebenten Tage Virgil erscheint, auch seine Erzählung zum Besten gibt und Lucinian zu sprechen befiehlt. Dieser macht nun Alles oftenbar, und die Königin wii'd lebendig verbrannt. Die Erzählung fìihrt dann weiter fort bis zum Tode des Dolo- pathos und Virgils. Darnach wird Christus geboren, einer seiner Jünger predigt in Sicilien, und Lucinian, der sich bekehrt, stirbt als Heiliger. Wir haben hier, wie Jedermann sieht, eine Version der bekannten indischen Erzählung von den sieben Weisen, die in der Literatur des Orients wie des Occidents gleich reich vertreten ist^i. Unter ihnen nimmt jedoch der Dolopathos eine besondere Stellung ein, besonders in der Art wie er den Virgil behandelt. In den europäischen Darstellungen dieser Geschichte wird der Fürst gewöhnlich sieben Weisen zur Erziehung übergeben, in denen aus dem Orient, an deren Spitze das jetzt verlorene Buch des Sindi- bäd^) steht, gewöhnlich dem Sindibàd selbst, als dem weisesten imter allen. Vielleicht hatte der Mönch von Hauteseille von dieser letzteren Wendung der Geschichte gehört und brachte nur Virgil an die Stelle des Sindibàd. Dazu bewog ihn wol seine Anschauung als Cleriker. Seine Vorstellung von Virgil ist nicht wie bei an-

1) Vergi. d'Ancona, Il libro dei sette savi di Roma. Pisa 1864.

2) Geschichte und erste Gestalt dieses Buches habe ich in meinen „Ricerebe intorno al Libro di Sindibàd", Mailand 1869 nachzuweisen gesucht.

Virgil iu der Literatur bis auf Dante. 203

dem Verfaü^sern derartiger Romane rein volksthümlicli, sondern er kennt den Dichter aus seinen Werken, aus denen er auch dann und wann Verse citirt ^). Seine Kenntnisse gehen sogar so weit, dass er den zur Geschichte erfundenen Rahmen ganz dem Virgil angepasst hat: Die Begebenheit ereignet sich in der Zeit des jiugustus, und das Weib, welches Augustus dem Dolopathos^) gibt, ist die Tochter des Agi'ippa, während in anderen Texten der „sieben Weisen", in denen Virgil nicht auftritt, der Kaiser Diocletian, Pontian oder eine andere beliebig erdachte Person ist. Auch der griechische Name Dolopathos, dessen Bedeutung der Verfasser erklärt"^), und den er selbst erfunden hat, beweisen seine Bildung, während er als Mönch den heiligen Augustin "*) citirt und dem Schlüsse des Buches eine religiöse Wendung gibt.

Obgleich das Werk eines durch die Schule gebildeten Mannes, ist es seiner Tendenz nach doch durchaus romantisch, und man würde vergebens in den vom Autor hierzu erfundenen historischen Thatsachen nach Consequenz suchen. Er weiss, dass Virgil aus Mantua ist, lässt ihn aber auch dort sterben und versetzt Mantua nach Sicilien. Freilich verwechselt er Sicilien nicht mit Neapel, wie viele seiner Zeitgenossen, sondern weiss, dass Palermo die Haujit- stadt des Landes ist; aber er respectirt doch die Geschichte nur bis zu einem gewissen Grade. Er redet von einem alten Testa- mente unter den Heiden, bevor Christus erschien ""i , spricht von Bischöfen, Aebten, Mönchen, Herzögen, Grafen und Baronen, macht aus Augustus einen Kaiser der Romagna und König der Lombardei und aus Dolopathos seinen Vasallen. Dem entspricht auch der Typus des Vii-gil, der aber zu seiner Erklärung nicht die volks- thümliche Herkunft und die Sage vom Zauberer nöthig hat. Virgil ist hier der grosse Meister des profanen Wissens und hat nur den Fehler, Heide zu sein und Nichts vom einigen Gotte zu wissen.

1) V. 12369 ff. (Aen. Vili, 40 f.).

2) Dolopathos stammt aus Troia:

„De Troie fu sea parentez"

3) „Por ce ot nom Dolopathos Car il soufri trop en sa vie De doleur et de tricherie."

4) V. 12890 f. (August. D. c. D. XVIII, 17—18).

5) „Je sais tot le Viez Testament"

V. 162.

V. 164 ff.

V. 4780.

204 Vügil in der Literatur bis auf Dante.

Er war ein hoch geachteter Mann und grosser Philosoph; Niemand war berühmter und mehr geehrt von Augustus als er^); Könige und Kaiser beugten sich vor seinem Worte, und durch seine Ge- lehrsamkeit und Kunst erschien er als der vollendete „Cleriker":

A icel tans à Rome avoit

I. philosophe, ki tenoit

La renomée de clergie;

Sages fu et de bone vie;

D'une des citez de Sezile

Fut néz; on Tapeloit Virgile;

Le citéz Mantue ot à non.

Virgile fut de grant renom;

Nus clers plus de lui ne savoit;

Par ce si grant renon avoit;

Onkes poetes ne fu tex

S'il créust qu'il ne fust c'uus Dex^).

Dieser König der Weisen war Lehrer, aber natürlich vor einem .sehr aristokratischen Auditorium. Lucinian wird von ihm sehr höflich empfangen. Als er die Schule betrat, fand er Virgil auf seinem Katheder sitzen: er war angethan mit einem kostbaren mit Pelz gefütterten Mantel ohne Aermel und einer prächtigen Pelz- mütze. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen; vor ihm auf dem Boden sassen die Söhne vieler gi'ossen Barone und mit dem Buche in der Hand hörten sie seiner Lehre zu:

Assis estoit en sa chaière; Une riche chape forrée Sans manches, avoit afublée, Et s'ot en son chief im chapel Qui fu d'une moult riche pel; Tret ot arrier son chaperon. Li enfant de maint haut baron Devaut lui à terre séoient,

1) „Cesar ot par toute la vile

Commandé quo tuit l'ennoraisseut Et seignorie li portaissent."

v. 1652 ff.

2) v. 1257 ff.

3) V. 1318 ff.

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 205

Qui ses paroles entendoient, Et chacun son livre tenoit Einssi comme il les enseignoit. Der Unterricht ist zunächst ganz elementar. Virgil unterweist den Lucinian im Lesen und Schreiben, dann im Lateinischen und Grie- chischen. Schliesslich macht er ihn zum vollkommenen Gelehrten indem er ihn in den sieben freien Künsten unterweist, mit der Gram- matik, der Mutter aller, anfangend, und indem er Alles in einem eigens für ihn verfassten so kleineu Büchelchen zusammendrängt, dass er es in der geschlossenen Hand verbergen kann :

Torne ses feuilles et retorne;

Les VII ars Überaus atorne

En I. volume si petit

Que, si com l'estoire me dit,

Il le po'ist bien tot de plain

Enclorre et tenir eu sa main.

Premier li enseigne Gramaire Qvii mere est, et prevosto, et maire, De toutes les arts liberax etc. ^). Wir sehen hier unter dieser Verkleidung den Virgil der mittelalterlichen Schule sowie der Grammatiker und Verfasser von Compeudien für di3 sieben Künste. Die Astrologie, nicht identisch mit der Zauberei, tritt nach romantischer Vorstellung zu dem Ideale eines Weisen als unentbehrlicher Bestandtheil hinzu"), üebrigens war sie schon für die ganze Fassung der Erzählung unvermeidlich. Der fromme Mönch glaubt an die McJglichkeit jener Weissagung, die in Gottes Willen liege ^), und damit stimmt denn auch die Weis- sagung über Christus überein. In der That sind es die bekannten Verse der vierten Ecloge*), welche den Lucinian zum Christenthume bekehren, und dies sind auch die letzten Beziehungen zwischen dem Dolopathos und der literarischen Ueberlieferung von Virgil.

Der Virgil Dante's und des Dolopathos bilden zwei Extreme in der Literatur des Mittelalters: die Schöpfung eines aus-

1) v. 139G ff.

2) „La VII est Astrenomie

Qui est fins de toute clergie." Image du monde bei lubinal, Oeuvres compi, de Rnteboeuf, II, p. 424.

3) Das erklärt er ausführlich v. 1162 ff.

4) V. 12530 ff'.

204 Virgil in der Literatur bis auf Dante.

Er war ein hoch geachteter Manu uud grosser Philosoph; Niemand war berühmter und mehr geehrt von Augustus als er^); Könige uud Kaiser beugten sich vor seinem Worte, und durch seine Ge- lehrsamkeit uud Kunst erschien er als der vollendete „Cleriker":

A icel tans ù Rome avoit

I. philosophe, ki tenoit

La renomée de clergie;

Sages fu et de bone vie;

D'une des citez de Sezile

Fut néz; on Tapeloit Virgile;

Le citéz Mantue ot à non.

Virgile fut de graut renom;

Nus clers plus de lui ne savoit;

Par ce si grant reuon avoit;

Onkes poftes ne fu tex

S'il cróust qu'il ne fust c'uus Dex^).

Dieser König der Weisen war Lehrer, aber natürlich vor einem .sehr aristokratischen Auditorium. Lucinian wird von ihm sehr höflich empfangen. Als er die Schule betrat, faud er Virgil auf seinem Katheder sitzen; er war angethan mit einem kostbaren mit Pelz gefütterten Mantel ohne Aermel und einer prächtigen Pelz- mütze. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen; vor ihm auf dem Boden sassen die Söhne vieler grossen Barone und mit dem Buche in der Hand höx'teu sie seiner Lehre zu:

Assis estoit en sa chaière; Une riche chape forrée Sans manches, avoit afublce. Et s'ot en son chief un chapel Qui fu d'une moult riche pel; Tret ot arrier son chaperon. Li enfant de maint haut baron Devaut lui à terre séoient,

1) „Cesar ot par toute la vile Commandé que tuit rennoraisseut Et seignorie li portaissent."

2) v. 12.57 ff.

3) v. 1318 fi.

V. 1652 fi".

Virgil in der Literatur bis auf Dante. 205

Qui ses paroles entendoient , Et chacun son livre tenoit Eiiissi comme il les enseignoit. Der üuterricht ist zunächst ganz elementar. Virgil unterweist den Lucinian im Lesen und Schreiben, dann im Lateinischen und Grie- chischen. Schliesslich macht er ihn zum vollkommenen Gelehrten indem er ihn in den sieben freien Künsten unterweist, mit der Gram- matik, der Mutter aller, anfangend, und indem er Alles in einem eigens für ihn verfassten so kleinen Büchelchen zusammendrängt, dass er es in der geschlossenen Hand verbergen kann:

Tome ses feuilles et retorne;

Les Vn ars überaus atorne

En I. volume si petit

Que, si com Testoire me dit.

Il le poist bien tot de piain

Enclon-e et tenir eu sa main.

Premier li enseigne Gramaire Qui mere est, et prevoste, et maire, De toutes les arts liberax etc/). Wir sehen hier unter dieser Verkleidung den Virgil der mittelalterlichen Schule sowie der Grammatiker imd Verfasser von Compendien für- die sieben Künste. Die Astrologie, nicht identisch mit der Zauberei, tritt nach romantischer Vorstellung zu dem Ideale eines Weisen als unentbehrlicher Bestandtheil hinzu-). Uebrigens war sie schon für die ganze Fassung der Erzählimg unvermeidlich. Der fromme Mönch glaubt au die Möglichkeit jener Weissagung, die in Gottes Willen liege ^), und damit stimmt denn auch die Weis- sagung über Christus überein. In der That sind es die bekannten Verse der vierten Ecloge*), welche den Lucinian zum Christenthume bekehren, und dies sind auch die letzten Beziehungen zwischen dem Dolopathos und der literarischen Ueb erlief erung von Virgil.

Der Virgil Dante's und des Dolopathos bilden zwei Extreme in der Literatur des Mittelalters: die Schöpfung eines aas-

1) v. 1396 fif.

2) „La vn est Astrenomie

Qui est fins de tout« clergie." Image du monde hei lubinal, Oeuvres compi, de Ruteboeuf, II, p. 424.

3) Das erklärt er ausführlich v. 1162 ff.

4) v. 12530 ff.

206 Virgil in der Literatur Ijìs auf Dante.

erwählten Dichters und die triviale, dem Komautiöcheu nahe kommende eines Mannes von gewöhnlicher Bildung. Beide Autoren gehen von der Schule aus, aber der eine übertrifft sie durch Adel imd Höhe, der andere durch Armuth und Ixohheit. Vor.stellungeu von Virgil, die sich auf dem Gebiete der rehi gelehrten Anschauung nach Dante zeigen, gehören der Renaissance an und sind hier also auszusclüiessen. Der Virgil des Dolopathos dagegen führt uns durch das romantische Element das ihm inue wohnt, zu dem zweiten Theil unseres Werkes.

Virgil in der Volkssage.

Maint autres grant clerc ont esté Au monde de grand poesté Qui aprisrent tote lor vie Des sept ars et d'astronomie ; Dont ancuns i ot qui a leur tens Firent merveille por lor sens; Mais eil qui plus s'en entremist Fu Virgiles qui mainte en fist, Por ce si vos en conterons Aucune dont oi avons.

L'Image du Monde.

Erstes Capitel.

Die Volkspoesie des Mittelalters und die klassische Dichtkunst erscheinen uns heute nach Form und Inhalt in einem so scharfen Gegensatze zu einander, dass wir glauben, es könne die erstere nur aus einer revolutionären Tendenz gegen die letztere hervor- gegangen sein. Aber ein Kampf zwischen Klassicismus und Ro- mantik, wie er in der modernen Zeit zu Tage getreten ist, und auf welchem eben jene Vorstellung beruht, fand im Mittelalter in Wahrheit nicht Statt. Die Volksliteratui- war eben so wenig eine Reaction gegen die antike Poesie, als sich die Republiken des Mittelalters aus einer Revolution gegen die Monarchieen entwickelt haben. Das wäre schon deshalb unmöglich gewesen, weil es in jener Zeit, wie wir gesehen haben, ja bei der Geistlichkeit wie bei den Laien gar kein richtiges und lebendiges Verständniss für das Alterthum gab. Das Lateinische, welches damals beinahe noch wie eine lebende Sprache angewandt wurde, diente als Bindeglied zwischen der antiken Ueberlieferung und den von dieser unab- hängigen neuen Schöpfungen. Während es nämlich Elemente des Alterthums in sich aufl^ewahrte , war es zugleich der Ausdruck lebendiger Empfindungen und hatte, um sich diesen anzuschmiegen, auch in der Poesie jene veränderte Form angenommen, welche man dem klassischen Ideale gegenüber als „Con-uption" bezeichnet. Es gibt wol keine Dichtung, deren Stoff dem Mittelalter so aus- schliesslich angehöi-t, wie das Walthariu slied: und doch ist dasselbe

206

Virgil in der Literair bis auf Dante.

erwählten Dichters und die triple, dem Romantischen nahel kommende eines Mannes von gewöolicher Bildung. Beide Autoren gehen von der Schule aus, aber dt eine übertrifft sie durch Adel und Höhe, der andere durch Armih und Rohheit. Vorstellungen von Virgil, die sich auf dem Gebiet der rein gelehrten Anschauuno^ nach Dante zeigen, gehören der Rtaissance an und sind hier also auszuschliessen. Der Virgil des Dobathos dagegen führt uns durch j das romantische Element das ihm iae wohnt, zu dem zweiten Tlieil| unseres Werkes.

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Die Volkspoesie des Mi erscheinen uns heute ua( Gegensatze zu einander, nur aus einer revolution; i gegangen sein. Aber eiu mantik, wie er in der ni' auf welchem eben jene ^' Wahi-heit nicht Statt. 1', Reaction gegen die antik Mittelalters aus einer Re^ haben. Das wäre schon jener Zeit, den Altert

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Capitel.

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gegen die Monar, b unmöglich gew

208 Virgil in der Volkssage.

iu lateinischeu Hexametern abgefasst und enthält so viele Virgil- reminisceuzeu, class man deutlich sieht, der Dichter war durch die Schule gebildet worden und hatte, \yie jeder Gelehrte, den Virgil fleissig gelesen ^). Und ganz das gleiche findet bei einer Menge l)iosaischer wie iioetischer lateinischer Erzählungen des Mittelalters, deren Stoft' der Volkspoesie angehiirt, Statt. Diese selbst aber ver- achtet das Alterthuin n\it seinen Dichtungen keineswegs, sondern spricht davon stets mit Bewunderung und ordnet sich gewisser- massen demselben unter, indem sie sich auf seine Autorität beruft und öfter sogar Stellen aus antiken Werken wörtlich wiedergibt^). Eh ist etwas ganz gewöhnliches, dass der romantische Erzähler als Quelle seiner Darstellung irgend ein wirklich vorhandenes oder erfundenes lateinisches Buch anführt*).

Allerdings gibt es bei einigen Völkern Euroiia's eine ältere Periode der Volksdichtung, welche ausschliesslich national ist und sich noch nicht mit fremden Elementen vermischt hat. Es ist dies die Periode , in welcher die skandinavischen , germanischen und keltischen Völker iu den epischen Liedern ihrer Vorfahren noch das Andenken an eine der römischen Civilisation und der Annahme des Clu-istenthums vorhei-gehende Zeit bewahrt haben. Allein die erhaltenen schriftlichen Denkmäler zeigen uns, dass diese Periode nur von kurzer Dauer war. Schon die schriftliche Aufzeichnung jener Gesänge liefert den Beweis für den Einfluss einer nicht- nationalen Cultur: bediente man sich doch dabei der lateinischen Schi'ift! Zahlreicher ist die Klasse von Volksdichtungen des Mittel- alters, in denen sich das Nationale mit Elementen allgemeinerer Natur verbindet , welche die verschiedenen Nationalitäten zu einer bürgerlichen, geistigen und religiösen Einheit verschmolzen. Noch

1) S. Grimm und Schmeller, Lateinische Gedichte des 10. und 11. Jahrb. p. 65 ff. und Cholevius, Geschichte der deutchen Poesie nach ihren antiken Elementen; I, 20 ff. In dem lateinischen rhythmischen Liede der Soldaten von Modena (10. Jahrh.) wird die gewiss aus Virgil bekannte Erzählung von Sino ei-wähnt. Vgl. Du Her il, Poes, pop. lat. ant. au XII. siècle p. 268.

2) Zappert (Vii-gil's Fortleben im Mittelalter p. 7. ff. Anm. 64 ff.) hat die Virgilreminiscenzen bei den Volksdichtern zusammengestellt. Aber er begnügt sich mit zu allgemeinen Beziehungen und seine Behauptungen gelten nur für- einen kleinen Theil der Stellen. Auf seine Art könnte man auch beweisen, dass indische oder persische Dichter den Virgil ge- lesen haben.

3) Vgl. Reiffenberg, Chron. rimée de Philippcs Mouskes. p. CCXXXV ff.

Virgil in der Volkssage. 201'

reicher ist aber endlich die Gruppe von Dichtungeu, ans denen die nationalen Bestandtheile ganz verschwunden und nur noch die Allen gemeinsamen Elemente der Empfindung, Bildung und Re- ligion als poetische Zwecke bemerkbar sind. Diese Gruppe, welche weniger als die beiden anderen dem eigentlichen Epos angehört, offenbart sich in einer Menge von phantastischen Er- zählungen in Vers und Prosa, wie in der romantischen Lyrik, dem Ausdrucksmittel einer Empfindung, die ja keinem Lande aus- schliesslich und allein eigen war. In der Periode, als die grosse Umwandlung der nationalen Elemente und ihre Verschmelzimg mit universalen Gedanken besonders der Religion und Bildung vor sich ging, als die Texte der Volksdichtungen in's Lateinische und dann wieder umgekehrt die lateinischen Texte in die Volks.sprache übertragen wurden, war es die Geistlichkeit, welche als Träger der Bildung und Religion, d. h. der die Verschmelzung bewirkenden Elemente, auch als der Urheber jener Umwandlung zu betrach- ten ist.

In dieser ganzen Epoche einer allgemeinen Vereinigung und, man kann wol auch sagen, der Verwirrung genoss die besonders thätige Phantasie eine übermässige Freiheit. Die Geister des Mittel- alters weichen in ihren Gewohnheiten und Aeusseruugen in der That völlig von der Art und Weise normaler Zeiten ab, und man begreift, wie durch das Uebergewicht der Allegorie selbst bei der ernstesten geistigen Thätigkeit die Verschmelzung verschiedenartiger Ideen etwas ganz gewöhnliches werden, die Erforschung der Natur der Dinge und ihre richtige Darstellung verhindern musste, und die stets zur Verwirrung geneigte Phantasie in der Thätigkeit des Verstandes kein Correctiv mehr finden konnte, wie es ihr in der Kritik geübte Zeiten gewähren. Wenn man auch hie und da in den phantastischen Schöpfungen des Mittelalters einen vernünftigen Zweck wahrnimmt, so gibt es doch wieder solche, die man nur von einem pathologischen Gesichtspunkte aus betrachten kann, und die sich nicht erklären liesse, wenn es nicht für gewisse Aus- schreitungen ein Naturgesetz gäbe. Wer den verschiedenen Charakter der antiken und mittelalterlichen Poesie genau betrachtet, wird bemerken, dass die leere Phantasie und die falsche Sentimentalität, mit welcher das Mittelalter endigt, auf ganz denselben Ursachen beruhen, wie die Rhetorik und Declamatiou des untergehenden Alteiihums.

Mit diesem Uebergewichte der Phantasie hing nun eine ausser- ordentliche Vorliebe für das Wunderbare und ein allgemeines Be-

Comparett i, Virijil im Afittelulter. 14

210 Virgil in der Volkssage.

dürfniss nach abenteuerlichen Erzählungen zusammen, welches sogar zur Personification der „Frau Aventiure" führte *). Und da sich Alle in diesem Tranke berauschen wollten, konnte nur die vielseitigste erfinderische Thätigkeit jenen Durst stillen. Auch die Erzählung aus dem Alterthum musste sich dem Ideale der Zeit gemäss zur romantischen Verkleidung hergeben. Was uns aber heute dabei lächerlich und erzwungen erscheint, hatte damals diesen Charakter nicht: jene Verkleidung war ja nur ein etwas bestimmterer Aus- druck für die naive Anschauung, mit der man allgemein die Er- zählungen aus dem Alterthum betrachtete. Die verschiedenai-tigsten Stoffe nahmen jetzt eine gemeinsame Färbung an, und weil man nur schwer die Anschauungsweise der Gegenwart aufzugeben ver- mochte, kam man schliesslich anf Tvpen hinaus, die sich trotz der verschiedenen Namen, Oerter und Thatsachen ganz gleich sahen. Die kirchliche, klassische und orientalische Erzählung, die Mythologie und Geschichte, die skandinavische, keltische und ger- manische Sage erschienen jetzt in romantischer Form. Das Alter- thum trat ganz wie die Gegenwart selbst auf: der antike Heros ward ein Ritter, die Heroine eine Edelfrau und die Götter des Heidenthums wurden zu Zauberern vom verschiedensten Gepräge; Nero betet zu Muliammed, der Saracene zu Apollino, und auch die Liebe, von welcher die antike Mythe und Geschichte handelte, wird zu einer romantischen Empfindung. J)ie alten Dichter und Schrift- steller endlich werden Philosophen, Weise und Gelehrte, natürlich stets mit jener Uebertreibung und Ven'ückung der Gesichtspunkte, die wir schon in der Ueberlieferung der Schule und bei den Ge- lehrten des Mittelalters gefunden haben, die sich aber imter der unumschränkten Herr.schaft der Phantasie noch bedeutend steigert.

Bei dieser Umwandlung behauptet unter allen alten Autoren Virgil auch in der Romantik dieselbe hervorragende Stellung, welche er bei den Gelehrten und in der Schule einnahm. Jedoch war jetzt nicht nur der Ruhm des Dichters, sondern auch sein Werk als Erzählung den neuen Einflüssen ausgesetzt, die sich zwar für jenen wie für dieses auf verschiedenen Gebieten geltend machten, aber doch in Beziehung zu einander standen. Für den romantischen Dichter gal) es aus der ganzen alten Dichtkunst, Mythe und Geschichte nichts Anziehenderes, als die kriegerischen

1) VtTgl. Grimm, Frau Aventiure in seiuen Kleinen Sehr. 1, 83 ft-.

Vii-fril in der Volksaage. 211

Tliaten der Helden, die wunderbaren Begebenheiten und die Liebes- abenteuer. Alles, was die antike, wie die auf-' ihr beruhende la- teinische Literatur des Mittelalters in dieser Beziehung darbot, wurde als Stoff oder als Ausschmückung für jene Darstellungen verwandt: die trojanische Geschichte nach Virgil, nach dem Pseudo- Dares und anderen lateinischen Texten, die thebanische nach Statins, die wunderbaren Fabeln über Alexander nach lateinischen Uebersetzungen aus dem Griechischen, die Geschichte Caesar's und der römischen Eroberungen nach Lucan, so wie endlich der ganze reiche mythologische Schatz, welchen die Metamorphosen des Ovid enthalten^) Alles dies ging jetzt in die Literatur über und .lieferte den Stoff für freie Uebersetzungen und Umarbeitungen, bei denen die Romantik an Stelle der antiken Idee auftrat. Der eigentliche Mittelpunkt und Heerd dieser Schöpfungen ist von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an Frankreich; von dort aus verbreiten sie sich in Uebersetzungen, Nachahmungen und Umarbeitungen über ganz Europa, besonders in Deutschland, welches nächst Frank- reich hierin am meisten thätig war. Benoit de Sainte-More, Lambert li Cors, Heinrich von Veldeke, Albert von Halberstadt, Herbort von Fritzlar u. a. haben derartige Werke geschrieben, welche ungemein beliebt und bekannt waren").

Das Gefallen an der antiken Sage und Geschichte, wie ihre phantastische Weiterbildung war freilich schon früher vorhanden, als die eigentliche Romantik; noch bevor die Volksliteratur sich entwickelte und mit den Elementen der überlieferten Cui tur ver- band, gab es in der gelehrten Litei-atur des Mittelalters unter den Schöpfungen der Geistlichkeit eine ähnliche Arbeit, wenngleich in derselben noch die Vorstellung, welche die Schule vom Alterthume hatte, so wie die moralisirende Richtung der Kirche durchaus vor- herrschten. Unter den antiken Mythen war die vom trojanischen Kriege die berühmteste und am häufigsten bearbeitete^). Virgil

1) Der König Alfons sagt: „El Ovidio mayor (Metamorfosi) non es ài entra ellos (d. h. den Alten) sinon la theologia et la ßiblia dellos entre los gentiles". Grande et general estoria I, 8, e. 7. Vergi. Amador de los Rios, Hist. crit. de la lit. espan. Ili, p. 603.

2) Eine sehr verständige und eingehende historisch-kritische Unter- suchung über die Umwandlung des antiken Stoffes in einen romantischen findet man bei Cholevius, a. a. 0. cap. 3—9.

3) Vgl. Dung er, Die Sage vom Trojanischen Kriege in den Be- arbeitungen des Mittelalters und ihren Quellen. Leipz. 1869.

14*

212 Virgil in der Volkssage.

als die oberste Autorität für diese Sage, welche Kom mit Troja verknüpfte und «de wir sahen, unter den Völkern und Fürsten Europa's die Mode aufgebracht hatte, nach dem trojanischen Ur- sprünge der Familien, als dem charakteristischen Kennzeichen ihres Adels zu suchen, hatte auch durch seinen Eintluss dazu beige- tragen, dass die Erzählung vom trojanischen Kriege so beliebt war und schliesslich mehr Sym'pathien für die Trojaner als fiü" die Griechen erweckt wurden. Dies geht schon aus dem Umstände hervor, dass der dem Dares zugeschriebene Text, den man von einem zur Zeit des Ki-ieges lebenden Trojaner verfasst glaubte, beliebter, als der nach griechischer Auffassung geschriebene Text des Dictys war. Man strafte sogar den Homer Lügen, wenn man bemerkte, dass er in seiner Darstellung von Dares ab- wich ^).

Wie nun aber schon der ganze, besonders durch die Aeneis ]>erühmt gewordene Theil der trojanischen Sage zur romantischen Erzählung wurde, so geschah dies natürlich noch weit mehr mit der Aeneis selbst. Und in der That verfasste Benoit de Saint- More ausser seinem „Roman von Troia" auch noch einen ,, Roman des Aeneas^)". In dieser neuen, dem Kreise der Schule ganz fern stehenden Aeneis kam das rein Historische, so wie alles das, was etwa durch mythologische Vorstellungen den antiken Ursprung des Gedichtes verrieth, erst in zweiter Linie in Betracht. Mehr, als irgend etwas anderes, musste in der Aeneis das Element der Liebe und die Darstellung des verliebten und umstrittenen Weibes, d. h. Dido's und Lavinia's, auf den Dichter der Romantik anziehend wirken. Und so entstand denn, indem man den Stoff des Epos theils kürzte, theils erweiterte oder umgestaltete, ein romantisches Gedicht, in welchem die antiken Namen zwar geblieben waren, aber die erzählten Begebenheiten, Titel der Personen, Schilderungen, so wie Ton und Farbe des Ganzen vielmehr der Gegenwart und der ritterlich-höfischen Anschauung derselben entsprachen. Diese

1) So auch Guido delle Colonne. Vgl. Duugor, a. a. 0. p. 19 f.

2) Publicirt vou Joly, Benoit de Saiute-More et le Roman de Troie, ou Ics métamorphoses d'Homère et l'epopèe greco-latine au moyon- age. Paris, 1870. Der „Roman d'Eneas", der gewiss auch von Benoit herrührt, ist noch nicht herausgegeben. Ein Stück des Anfanges gab Paul Heise in seinen „Romanische inedita" p. 31 ff. aus einem Cod. Laur. heraus. Ein Auszug aus dem ganzen bei Pey „Essai sur li Ro- mans d'Eneas d'aprés les Mss. de la bibl. imp." Paris 1856.

Virgil in der Volkssage. 213

Schöpt'uug fand grossen Beifall; noch mehr aber als der französische Text, wurde die deutsche Bearbeitung des Heinrich von Veldeke berühmt, der in Folge seiner „Eneit" als das Haupt einer grossen deutscheu Dichterschule galt^).

Man darf diese romantische Umgestaltung der antiken Er- zählungen nicht, wie es wol auf den ersten Blick scheinen könnte, als eine eigentlich volksthümliche Schöpfung auffassen, die ohne Kenntniss der klassischen Literatur zu Stande gekommen wäre. Vielmehr war sie auf eine aristokratische, höher stehende Gesell- schaft berechnet und das Product der höfisch gewordenen Volks- literatur. Ihre Verfasser sind gebildete Laien oder Geistliche und haben bei ihrer Arbeit den lateinischen Text vor Augen, auf dessen Autorität sie sich oft ausdrücklich berufen"). Hierbei schufen sie selbst nicht eigentlich etwas -Neues, da ja vielmehr Alles schon vorher entstanden war, sondern fassten nur mit mehr Verständniss des Stoffes und Zweckes in einem besonderen Werke zusammen, was sich in der romantischen Literatur und der Volkspoesie im Allge- meiuen bereits vorfand. Die antiken Namen und Begebenheiten, die selbst bei den Geistlichen nicht mehr von einem richtigen Verständniss des Alterthums begleitet waren, drangen nun als ein Element der Cultur in die neue, volksthümliche Kunst ein, be- rühi-ten sich mit der doi-t herrschenden Empfindung und assimilirten sich derselben. Jeder Volksdichter kennt und nennt die Namen

1) Publicirt von Ettmüller, Heinrich von Veldeke, Leipz. 1852, mit dem franz. Texte verglichen von Pey, L'Eneide de Henri de Veldeke et le Roman d'Mneas, Jahrb. f. rem. u. engl. Litt. H, p. 1 ff. Gervinus, Gesch. d. deutsch. Dicht. I. p. 272 ff. urtheilte ohne Kennt- niss des franz. Textes. Besser Cholevius, a. a. 0. p. 102 ff., obgleich auch er die Bezeichnungen zum Original damals noch nicht kennen konnte. Das Falsche in Gervinus' Urtheil hat. E. Wörner „Virgil und Heinrich von Veldeke" (Zeitschr. f. deutsche Philol. von Höpfner und Zacher III, 126 ff ) berichtigen wollen und zugleich gemeint dem Minne- sänger durch Vergleichung mit dem grossen lateinischen Dichter einen Dienst zu erweisen. Ueber das Lob, welches Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Strassburg dem Heinrich ertheilen, urtheilt Gervinus richtig. Ueber die merkwürdigen Miniaturen in der Berliner Hdss. dieses Gedichtes s. Piper, Mythologie d. ehr. Kunst. I, 246 ff und Kugler, Kleine Schriften.

2) Auch Heinrich von Veldeke, der sich unmittelbarer auf das fran- zösische Original stützt, citirt den Virgil häufig: „so saget VirgiJiüs der märe", ,,so zeit Virgilius der helt". Vergi, auch das was er p. 26, v. 18 f. sagt.

214 Virgil in der Volkssage.

des Aeneas, der üido, Lavinia u. s. w.^), und unter den Erzählungen der Troubadours finden sich antike mit romantischen Stoffen ver- mischt''). Der fruchtbare Chrestien de Troies spricht in seinem romantischen Gedichte „Erec" von einem prächtigen Sattel, auf welchem die ganze Geschichte des Aeneas dargestellt war^). Na- türlich war für alle diese Dichter, mochten sie Laien oder Geist- liche sein, von der antiken Idee der Sage nicht mehr die Rede. Dies hätte auch nur ein Missverhältniss erzeugt, da ja jede Kunst- foi'm aus inneren Gründen ihre eigene Betrachtungsweise hat. Andererseits aber hob doch die neue Kunstgattung nicht ganz die Thätigkeit des Gedankens auf, sondern entwickelte sich neben einer altüberlieferten Cultur und gelehrten Beschäftigung, die eben zu der Zeit, als sich jene Romane ausbreiteten, von den Geistlichen zu den Laien überging; und so geschah es, dass die romantische Darstellung ebenso beliebt war, wie der antike Stoff, von welchem

1) Eine reiche Sammlung von Beispielen hierfür bei Bartsch, Al- brecht von Halberstadt und Uvid im Mittelalter, Quedliub. und Leipz. 1861 (p. XI-CXXVII).

2) „Qui vele ausir diverses contea De reis, de marques e de comtes Auzir ne poc tan can si volo.

L'autre comtava d'Eneas

E de Dido consi remat;

Per lui doleuta e mesquina;

L'autre contava de Lavina

Con fes lo bren al cairel traire

A la gaita de Tauzor traire etc." Roman de Flamenca pubi, von Paul Meyer v. 609 ff. p. 19 f. Vgl. auch Guiraut de Calanson bei Diez, Poesie der Troubadours p. 199, und andere Stellen bei Gr aesse, Die grossen Sagenkreise des Mittelalters p. 7 ff.

3) „Si fu eutaillée l'estoire

Coment Eneas mut de Troie

Et com à Cartagc à grant joie

Dido en son lit le re^ut;

Coment Eneas la devut,

Coment eie por lui s'ocist;

Coment Eneas puis conquist

Laurente e tote Lombardie,

Et Lavine qui fu s'amie." Ueber andere Volksdichter in Bezug auf die Schicksale des Aeneas s. Bartsch a. a. 0. p. XXI tf. u. CXXII f. Der „Roman de Brut" von Wace beginnt mit einem Auszuge aus der Aeueis zum Zwecke der Genealogie des Helden des Romanes.

Virgil in der Volkssage. 215

man sich so weit entfernte, und den man jetzt für die Laien in die Volkssprache übersetzte, ohne dass darum etwa die romantische Bearbeitung daneben als Parodie oder auch nur als sonderbar er- schienen wäre. Und dies ist nicht das einzige Gebiet, auf welchem das Mittelalter zwei für uns so widerstrebende Dinge mit einander vereinigt.

Jene Umgestaltung, welche das Werk Vii-gils erlitt, durften wir schon deshalb nicht übergehen, weil sie mit dem Ruhme des Dichters selbst in Beziehung steht. In der That gibt es einen idealen Virgil, dem man eine derartig veränderte Aeneis zu- schreiben könnte. Es ist der Virgil des Dolopathos, jenes Vorbild eines hohen Geistlichen, der, umgeben von Herzögen, Baronen, Bischöfen, Aebten, Höflingen, Frauen und turnierenden Rittern doch zugleich Dichter ist^), obgleich er im Gedichte selbst nicht dazu kömmt, dies zu beweisen. Wenn Herbers ihn als Dichter einer Aeneis hätte auftreten lassen wollen, so wäre es gewiss nicht die antike, sondern eine romantische Aeneis gewesen, die er ihm bei- gelegt hätte. Die moralische Erzählung, welche Virgil im Dolo- pathos vorträgt, ist in der That nach Form und Inhalt durchaus romantisch^).

Wir sahen, wie jener Typus des Virgil im Dolopathos un- mittelbar aus der literarischen und scholastischen Idee des Mittel- alters entsprang. Der „clerc" und „la discipline di clergie" be- deuten den Gelehrten und die Gelehrsamkeit der Schule, wie sich solche eben in jener Zeit darstellten. In der romantischen Dich- tung, die völlig frei und von der Schule unabhängig ist, erhielt aber Alles, was von dieser herkömmt, den Charakter des Wunder- baren, wie Etwas, das man nur von fern sieht, oder das fremd an den Geist herantritt. Das Wunderbare verleiht daher auch gern den Namen, welche aus dem Kreise der Schule stammen, seinen Glanz. Bei Virgil war das um so eher möglich, als dessen Name schon durch die Literatur und Schule mit dem Scheine des Wunder- baren und Imponirenden umgeben war. Es musste demnach der Virgil der Schule in der Romantik ebenso folgerichtig zu dem

1) „Onkes poetes ne fu tax" v. 1267.

2) Es ist die Erzählung von dem Chevalier à la trappe, die mit einer anderen verbunden die Novelle Tofano e monna Ghita im Decameroue bildet (VIII, 4). Vgl. hierüber d'Ancona, Il libro dei sette savi di Roma p. 112 flF. p. 120; Oesterley zu Pauli 's Schimpf und Ernst p. 678 und Benfey, Pantschat, I, 331.

216 Virgil ili der Volkssagc.

Viigil des Dülopalhüs^ werden, wie aus der antiken Aeueis eiu Aeneat>ron)an geworden war. Sollte auch der Verfasser des Üolo- pathos seinem Stande oder seiner Bildung nach ein Geistlicher sein, so zeigt sich doch in jenem Typus des Gelehrten eine rein volksmässige Vorstellung von der AVissenschaft, deren Wesen bei dem merkwürdigen, man möchte sagen optischen Standpunkte dessen, der sie betrachtet, ganz von selbst phantastisch und wunderbar wird. Wie jeder grosse Weise, ist auch Virgil Astrolog oder, wie man sagte, Astronom, und aus der Sternkmide Hoss seine Kenntniss der zukünftigen Dinge. Das hielt damals Nie- mand für unmöglich, ja, bedenkliche Leute, wie der Verfasser des Dolopathos , bemerkten geradezu, dass so etwas nur mit Gottes Willen geschehen könne. So weit also, nämlich bis zu dem Bilde eines in allen Zweigen des Wissens, also auch in der Astrologie bewanderten Weisen, vermochte es die in die Romantik über- gehende gelehrte Vorstellung zu bringen.

Das Wunderbare, das ein so wesentlicher Bestandtheil der romantischen Erfindung war, hatte aber unter seinen reichen Aus- drucksmitteln den Typus des „Zauberers" aufzuweisen, welcher, so wenig wahrhaft poetisch auch derselbe ist, doch in den Erzählungen jener so leichtgläubigen und nach dem üebermenschlicheu und Wunder- baren so begierigen Zeit eine sehr hervorragende und wirkungs- reiche Figur ausmachte ^). Jeder Zauberer ist natüi-lich ein Weiser, aber nicht umgekehrt jeder Weiser ein Zauberer; beide Begriffe sind vielmehr gesondert und unabhängig von einander. Die Zauberei ist eigentlich ein Zuwachs grosser Weisheit, im juora- lischen Sinne aber auch eine Verschlechterung. Es gibt zwar eiu Verhältniss , bei welchem die Zauberei als rein wissenschaftliche Beschäftigung i;nd darum erlaubt erscheint, nur muss man fest- halten, dass die Idee eines Zauberers nicht innerhalb der Wissen- schaft oder der Schule entstand. Ich glaube nicht, dass sich der scholastische Tyjjus des Vii-gil lediglich auf dem natüi-lichen Wege einer Ideenassociation in den Typus des Zauberers hätte ver- wandeln können. Für die Umwandlung eines „Weisen" in einen Zauberer gibt es, was die Männer des Alterthums anlangt, nur wenig Beispiele, welche auch meist auf eine augenblickliche Ver- tauschung der Namen hinauslaufen. Bei keinem unter ihnen aber

1) Vgl. ilo iäcu kränz, Geschichte der deutsch. Poesie im Mittel- alter p. 67.

Yirgil in der Volkssage. 217

hat .sich die Inognipliische Legende «o weit ausgedehnt, wie bei Virgil. Es musste also unabhängig von der Literatur im Volke eine" besondere Vorstellung über Virgil vorhanden sein , und unsere Untersuchung wird uns in der That zeigen, dass die Vorstellung von dem Wunderthäter und Zauberer Virgil lediglich im Volke entstand, während sie erst später in die Literatur überging, als sie dort verwandte Elemente vortand. Jene Vorstellung aber ist italienischen Ursprungs.

Was die Italiener auch im Mittelalter auszeichnet und ihnen in der Geschichte und Cultur vor den anderen Völkern Europa'« eine höhere Stellung einräumt, ist der Umstand, dass sie mehr als irgend ein anderes Volk an phantastischen Schöpfungen arm «ind. ''üie Romantik ist, so weit sie sich in der Erfindung von Erzählungen äussert, in Italien kaum vorhanden. Auch was das Kitterthum betrifft, verhall sich Italien fast ganz passiv und gibt in diesem Punkte nur einem unvermeidlichen Einflüsse nach, der von aussen herandringt, aber doch zeigt, wie wenig jene Schöpfung mit den Bestrebungen des Landes harmonirt. Unter den vom Aus- lande hereingebrachten Erzählungen waren auch in Italien einige französische Texte der trojanischen Geschichte behebt, weit weniger der „Roman des Aeneas^)". Virgil Óvid und andere alte Dichter wurden schnell in italienische Prosa übersetzt 2), und zwar ohne grosse Veränderung, abgesehen von den üblichen moralischen Zu- ihaten, mit welchen man besonders den Ovid bedachte. Guido da Pisa, der die Schicksale des Aeueas beschrieben hat, offenbart zwar in einigen Ausdrücken den Eiufluss des Mittelalters, aber er war doch weit entfernt von einer romantischen Erzählung und wich von Virgil nur da ab, wo er sich auf die Autorität anderer alter Schriftsteller stützte. Die Phantasie fand in Italien grössere Hinder- nisse als irgend w^o anders, sei es, dass in dem italienischen Charakter der Verstand überwiegt, oder sei es, dass die über- lieferte Cultur, so niedrig sie auch war, in Italien mehr als in anderen Ländern heimisch war imd festere Wurzeln hatte. Italien

1) In der noch ungedruckten Fiorita von Armannino ist der Roman d'Eneas benutzt. Vgl. Mussafia, Sulle versioni italiane della storia Troiana p. 48 ff. , . .

2) Veri Gamba „Diceria bibliografica intorno ai volgarizzamenti italiani d°elle opere di Virgilio" in der „Antologia di Firenze" voi. II (1821) p 164 fi- ,L'Eneide di Virgilio volgarizzata nel buon secolo della lin-ua da Ciampolo di Meo degli Ugurgieri." Florenz 1858. Diese Ueber- setzung entstand gewiss nicht früher als die Divina Commedia.

218 Virgil iu der Volkssage.

l)leibt im ^Mittelalter , obgleich besiegt, zerrissen \nu\ verwildert, (loch für die Geschichte und Cultiu- ein idealer Mittelpunkt, und das Bewusstsein davon geht den Italienern niemals verloren '). Darum sucht man bei ihnen vergebens nach Erscheinungen, wie sie sich in anderen Ländern finden, in denen weniger starke und un- mittelbar wirkende, gi'osse historische Erinnerungen, welche die ei^ische Form nicht annehmen konnten, vor dem Geiste der Menschen standen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Italiener nicht auch ihre Volkssagen haben, welche das Alterthum und die Anlange verschiedener Städte behandelten. Wenn erst die histo- rischen Studien in Italien sich wieder mehr entwickelt haben, werden auch gewiss noch viele solcher Sagen zu Tage treten. Thatsache ist, dass das Andenken an die alte römische Welt bei den Barbaren viel lebendiger, als bei den Italienern auf die Phantasie gewirkt hat. Nur der kleinste Theil von Sagen, welche sich auf das römische Alterthum beziehen, sind in Italien ent- standen; die meisten derselben, die sich in Italien finden, sind von aussen hereingebracht.

Die in Italien selbst entstandenen Sagen haben öfters antike, historische odei mythologische Begebenheiten, häufiger noch antike Monumente zu ihrem Gegenstande, oft aber auch nur die Namen antiker Persönlichkeiten. Viele erlauchte Namen des alten Rom's erhielten sich im Andenken des Volkes, losgelöst von ihren ge- schichtlichen Thaten, zwar nicht ganz ohne eine mit der Geschichte im Einklang stehende Charakteristik, aber doch in einer Auffassung, wie sie eben dem beschränkten Geiste des Volkes und den Er- zählungen alter Frauen eigen war, von denen schon Dante sagt:

. . . . traendo alla rocca la chioma.

Favoleggiava colla sua famiglia

De' Troiani, e di Fiesole, e di Koma."

Mit diesen Namen verknüpfte nun die Phantasie des Volkes fabel- hafte Erzählungen aller Art, je nach den Vorstellungen, die man von jenen Personen hatte. Caesar, Catilina, Nero, Trajan u. a. sind

1) „During the gloomy and disastrous ceuturies which followed the downfall of the roman empire, Italy had preserved in a far greater de- gree than any other part of western Europe the traces of ancient ci- vilisation. The night which desceuded upon her was the night of an arctic feunimer. The dawn began to reappoar before the last reflection of the preceeding suiisct had fudcd from the horizoii." Macaulay, Ess. on Macchiavelli p. 04.

Virgil in der Volkssage. 219

solche Persnnlichkeitt'ii der Sage geworden, haben aber doch ihren ganz verschiedenen Charakter iu derselben bewahrt. Nichtsdesto- weniger treten, da sich natürlich die Zahl der von der Sage dar- gestellten Typen nur auf die hervorragenden Erscheinungen, die das Volk versteht, beschränkt, mehrere derselben zu einer einzigen Gruppe, wie der des" Weisen, des Zauberers, des Tyrannen u. s. w. zusammen und nehmen gemeinschaftlich Theil an dem betreffenden Kreise der Sagen, welche die verschiedenen Erzähler dann wieder bald auf die eine, bald auf die andere Person beziehen.

Eins der leuchtendsten Beispiele hierfür ist die Virgilsage, welche in Neapel entstand und sich dann in der europäischen Literatur verbreitete, zunächst eher ausser- als innerhalb Italiens. Sie war die Schöpfung des niederen, abergläubischen Volkes, gleich weit entfernt von künstlerischen wie literarischen Zwecken, und gründete sich auf locale Erinnerungen, auf die Thatsache von des Dichters langem Aufenthalte iu Neapel und die Berühmtheit seines Grabes daselbst. Die Sage bezog sich ferner aach auf Orte der Umgegend, auf Bilder und Denkmäler, mit denen dieselbe aus- geschmückt war, und welchen Virgil eine wunderbare Kraft ver- liehen haben sollte. Dieser Glaube erhielt sich im Volke, ohne irgend eine poetische oder künstlerische Form anzunehmen; im übrigen Italien wusste man wenig davon, und wenig Gewicht legte man in Neapel selbst dai-auf, aber - Ausländer, welche Neapel be- suchten, nahmen sich der Sage an und führten sie in die Literatur ein, iu welcher sie sich gleichzeitig in romantischen und volks- mässigen Schöpfungen, wie gelehrten lateinischen Arbeiten ver- breitete. Hier wie da fand sie den Virgil schon zu jenem Typus des Weisen reducirt, welcher ganz dazu angethan war, sich mit ihr zu verbinden. Vom 12. Jahrhundert an begegnet man daher zugleich mit dem Aufblühen der eigentlich romantischen Poesie in der Literatur einer neuen Entwickelungsstufe für den Ruhm Virgil's, deren verschiedene Wandlungen und Gestaltungen wir nunmehr zu untersuchen haben. Von der bis jetzt betrachteten unterscheidet sich dieselbe dadurch, dass sie von Voi'stellungen, welche unabhängig von der Schule im Volke entstanden, ausgeht, obgleich natürlich die gelehrte Vorstellung, die man zuletzt von dem Dichter hatte, zu der volksmässigen in einem gewissen Ver- hältnisse steht. Volksmässig nennen wir jene, nicht als ob sie der Literatur ganz fremd wäre denn wir müssen ihre Ge- schichte im Gegentheil mit Hilfe von Schriften zusammenstellen, die zum grössteu Theil gerade keinen volksmässigen Charakter

220 Virgil in der Yolkssage.

haben sondern weil nie aus dem Volke enii^prungen itst und sich aus volkythülulichen Gedanken gebildet hai. Ohne dies Ele- ment wäre die literarische Ueberlieterung, so roh und verdorben sie auch war, niemals zu jener Sage gekommen, von welcher sich ja auch in der That vor dem zwölften Jahrhundert, selbst nicht in den Zeiten der grössten Barbarei, eine Spur zeigt, bis- endlich irgend Jemand, der sie dem neapoliianischen Volke abgelausclit hatte, sie in die Literatur einführte.

Das unvernünftige Durcheinandeiniischen aller Allen von (legenständen in den Kepertorien, Encyklopädieu, Compendieu, Handbüchei'n und ähnlichen Werken lateinischer wie volksmässiger Sprache besonders in der letzten Periode des Mittelalters ist ge- rade so sonderbar, wie die zügellose Massenproductiou der phan- tastischen Schöpfungen der Zeit. In ihnen zeigt sich der Ab- lagerungsort des Mittelalters für klassische, christliche und romantische Ideen, für Mythos, Geschichte, Sage und Roman zugleich. Der „Novellino", welcher zur Unterhaltung geschrieben ist, die „Gesta Romanorum", die durch merkwürdige moralische Erzählungen er- bauen sollen, Vinceuz von Beaiivais mit seinem chaotischen „Spe- culum historiale" und andere Verfasser gelehrter Werke sprechen von Caesar, Arthur, Tristan, Alexander, Aristoteles, Saladin, Karl dem Grossen und Merlin in gleicher Weise und mit demselben Ernst. Walter Burley beschreibt in seinem „Leben der Philo- sophen" mit grossem Ernste auch das Leben Virgil's und sagt, dass derselbe ein Philosoph zu nennen sei, weil er Zauberer Avar und die Geheimnisse der Natur kannte. Es gibt kaum ein Buch aus jener Zeit, in welchem man nicht Sagen über Virgil erwarten könnte. In einer Epoche, in welcher die Leichtgläubigkeit so all- gemein war, bildete das niedere Volk nicht allein die Klasse der Gesellschaft, welche keinen Antheil au der Bildung und Literatur nimmt; obgleich aber die Zahl der Gebildeten damals weit geringer als etAva zur Zeit der Renaissance war, ist doch die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten lange nicht so gross, als in der mo- dernen Zeit.

ZAveites Capitel.

Nach Allem, was bis jetzt bemerkt ist, kann es nicht auffallen, wenn wir die ältesten Nachrichten über den Virgil der Volkssage aus schriftlichen Quellen schöpfen müssen, und zwar gerade aus solchen, die nicht für das Volk geschrieben, sondern von Gebildeten

Virgil in der Volkssage. 221

verfasst, für die höchste Klasse der Gesellschaft bestimmt und iu lateinischer, nicht volksmässiger Sprache dargestellt waren. Wir nennen unter den hier in Betracht kommenden Autoren vor allen andern vier: Konx*ad von Querfurt, der Kauzler Kaiser Hein- rich's VI, sein Stellvertreter in Neapel und Sicilien und zuletzt Bischof in Hildesheim; Gervasius von Tilbury, Professor der Uni- versität zu Bologna imd Marschall des Königreiches j^relat; Alexander Xeckam, ein Milchbruder des Richard Löwenherz, Professor an der Universität zu Paris, Abt von Cirencester und zugleich einer der erträglichsten lateinischen Verskünstler seiner Zeit; endlich Johann von Salisburj^ An ihrer Spitze stehen für uns Konrad und Ger- vasius, die uns nicht nur als die Ersten ausführlich von den Virgil- sagen sprechen, sondern auch den neapolitanischen Ursprung der- selben andeuten, was unsere Untersuchung im folgenden bestätigen wird. In der That erwähnen sie jene Sagen als lebend unter dem Volke, aus dessen Munde sie dieselben vernommen haben.

Konrad spricht von ihnen iu einem aus Sicilien an seineu alten Freund, den V^orgesetzten des Klosters zu Hildesheira, im Jahre 1194 gerichteten Briefe ^), in welchem er seine italienischen Keise- eindrücke beschreibt. Dieser Brief ist, abgesehen von seiner Wichtig- keit für unsere Untersuchung, auch deshalb ein merkwürdiges Schriftstück, weil er uns den geistigen Standpunkt der gebildeten Reisenden veranschaulicht, welche damals Italien besuchten. Der Ruhm dieses Landes regte ihre Einbildungskraft so auf, und der Art war das Ideal, was sich ihre Phantasie von demselben in der Ferne geschaffen hatte, dass es selbst die Wirklichkeit nicht zu zerstören vermochte. Unzählige merkwürdige Geschichten, die man sich berichtete, klassische Erinnerungen, die man sich, wenn auch nicht immer mit völliger Klarheit, von der Schule her bewahrt hatte, gingen bunt in den Köpfen der Reisenden durcheinander, welche, wie in einem Zauberlande, etwas Anderes und mehr als die Wirklichkeit zu sehen vermeinten. Anders wenigstens kann man sich nicht mehrere grobe Missverständnisse des guten Kanzlers erklären, die er mit einer unglaublichen Ernsthaftigkeit vorträgt. Wie viel schöne Dinge hat er nicht in Süditalien gesehen, den Olymp, den Parnass, die Hipokrene ! Uud er ist glücklich, dass sie innerhalb der Grenzen der deutschen HeiTSchaft liegen. Nachdem

1) In den „Scriptores rerum brunsvicensium" herausgegeben von Leibnitz, II, p. C95-G98.

222 Virgil in der Yolkssago.

er mit grossem Schauder durch die Strudel der Scylla und Charybdis gefahren ist, glaubt er irgendwo nach Skyros zu gelangen, wo Thetys den Achill verborgen hielt ; er freut sich, in Taormina das Labyrinth des Minotauros zu sehen, wofür er nämlich das alte Theater hielt, und macht die angenehme Ikkanntschaft der Saracenen, welche wie St. Paul die beneidenswerthe Fähigkeit besitzen sollten, Sehlangen durch ihren Speichel zu tödteu. Wenn nuiu bedenkt, dass Mandeville den Felsen gesehen haben will, an welchem „der lliese Andromeda" angebunden war, so wird man den Brief Kon- rad's eben so wenig wunderbar finden, wie zahllose andere der- artige Erzählungen der damaligen Reisenden. Aufföllig bleibt dabei nur, dass der Schreiber jenes Briefes ja nicht als einfacher Dile- tant der Archäologie oder Tourist nach Italien gekommen war, sondern als Minister Heinrich's VI, von dem er den abscheulichen Befehl hatte, die Mauern der Stadt Neapel zu zerstören, was er auch pünktlich ausführte. Dessenungeachtet wagt er ganz getreu- lich den Glauben des neapolitanischen Volkes zu Ijerichten, dass Virgil die Mauern Neapel' s gegründet und ihr zum Schutze ein kleines Abbild der Stadt verliehen habe, das in einer fest ver- schlossenen Flasche aufbewahrt gewesen sei. Wenn irgend einer au der Wirksamkeit dieses Palladiums, welches Neapel vor jedem feindlichen Versuche bewahren sollte, zweifeln durfte, so musste es Konrad sein, da doch die Stadt von den Kaiserlichen selbst eingenommen wurde. Wie aber kein Mensch tauber ist, als der, welcher nicht hören will, so gibt es auch keinen Gläubigeren, als den, welcher glauben will. Konrad bemerkt nämlich, dass jenes Palladium deshalb nicht wirksam war, weil, wie die Kaiserlichen entdeckten, im Glase der Flasche ein Sprimg war. Man ist ge- neigt, dabei an einen Scherz zu denken, wenn dies nicht der Ton des Briefes und die andern absurden Märchen, die der Schreiber mit vollem Ernste erzählt, verböten.

Weiter schrieben, wie Konrad erzählt, die Neapolitaner dem Vii-gil zu: ein broncenes Ross, das, so lange es wolerhalten blieb, die Pferde davor bewahrte, sich die Glieder zu brechen, eine broncene Fliege über einem Festungsthore, welche die Fliegen von der Stadt verscheuchte, und eine Fleischbank, in der sich das Fleisch sechs Wochen frisch erhielt; da ausserdem Neapel bei den vielen Krypten und unterirdischen Bauten sehr von Schlangen heimgesucht war, so verbannte Virgil diese Thiere unter die soge- nannte „Porta Ferrea". Als die Kaiserlichen die Mauern nieder- rissen, hielten sie, wie Konrad sagt, zaudernd vor diesem Thore

Virgil in der Volkssage. 223

iiine, weil sie fürchteten, es möchten alle jene Schlangen hervor- kommen.

Sehr lästig musste für Neapel der feuerspeiende Vesuv sein, aber Virgil wusste auch hierfür Abhilfe zu schaffen, indem er ihm gegenüber die broncene Statue eines Mannes aufstellte, der eben im Begriff war, seinen Pfeil von der Sehne des Bogens abzu- schiessen. Das hielt den Berg lange Zeit in Ruhe; als aber eines schönen Tages ein Bauer, der sich darüber wunderte, dass jener so lange mit gespanntem Bogen stehen könnte, daran rührte und bewirkte, dass der Pfeil abflog, traf dieser den Rand des Kraters, und seit der Zeit begann der Berg wieder Feuer und Rauch zu speien.

In seiner Sorge für das Gemeinwol richtete Virgil bei Bajä und Pozzuoli öffentliche Bäder ein, die für alle Krankheiten heil- sam waren, und schmückte sie mit Gipsfiguren aus, welche die einzelnen Krankheiten darstellten und die dafür passenden Bäder anzeigten.

Endlich erzählt uns auch Konrad, was man in Neapel von den Gebeinen des Dichters glaubte: Dieselben sollen sich in einem vom Meere umgebenen Castell befinden; wenn sie aber mit der Luft in Berührung kommen, so wird es überall finster, ein Sturm bricht los, und das Meer wird aufgeregt; „dies", sagt er, „haben wir selbst gesehen und erfahren."

Eine Hauptquelle für die Volkssagen ^) ist Gervasius von Til- bury, der seine „Otia imperialia"')", eine Art Encyklopädie, welche die absurdesten Notizen jeden Kalibers enthält, 1212 als Unter- haltungsschrift für den Kaiser Otto IV. verfasste. Was er unter Wunderbar versteht, sagt er selbst in folgenden Worten: „Wunder- bar nennen wir die Dinge, welche wir nicht verstehen, obgleich sie natürlich sind; sie werden wunderbar, weil wir nicht wissen, warum sie sind;" dabei citirt er die Beispiele des Salamanders, der iiii Feuer lebt, des Kalkes, der sich m;r im Wasser entzündet, und fährt dann fort: „Niemand glaube, dass ich Fabelhaftes be-

1) Den ganzen darauf bezüglichen Theil gab mit gelehrten Be- merkungen heraus: Lieb recht „Des Gervasius von Tilbury Otia im- perialia in einer Auswahl etc." Hannover 1856.

2) Bei Leibnitz, a. a. 0. I, p. 881 ff. Obgleich des Gervasius Werk aus dem Jahre 1212 stammt, gehen doch seine Neapolitanischen Er- innerungen auf eine frühere Zeit zurück. Er citirt z. B. eine Begeben- heit a. d. J. 1190 und eine andere a. d. J. 1175.

224 Virgil ili der Volkssage.

richte es gibt Dinge, welche über den menschlichen Verstand

gehen und darum oft für nicht wahr gehalten werden, obgleich wir uns ja auch von den Dingen, die uns täglich umgeben, keine Rechenschaft geben können." Mit solchen Grundsätzen kann Ger- vasius natürlich weit kommen und er bedient sich derselben in der That oft genug. Es sei gestattet, hier eine Hanptstelle anzuführen, in welcher er von Virgil spricht; sie ist von Bedeutung, weil sie uns nach Neapel versetzt fam Ende des zwölften Jahrhunderts) und uns Gelegenheit gibt, die noch lebendige Sage am Orte ihrer Entstehung zu beobachten.

Nachdem auch Gervasius von der Fleischbank und den Schlangen erzählt hat, fährt er fort: „Ein Drittes habe ich selbst erfahren, obgleich ich damals noch unverständig war; aber da mir ein glücklicher Zufall die Kunde davon gab, wurde ich von einer Sache überzeugt, die, wenn ich sie nicht selbst erfahren hätte,

Niemand geglaubt haben würde In dem Jahre (1190), als

St. Jean d'Acre belagert wurde, befand ich mich eben zu Salerno, als sich ein unerwarteter Gast bei mir einstellte .... Philipp, der

Sohn des erlauchten Patriziers, Grafen von Salisbury Nach

einigen Tagen beschlossen wir, nach Neapel zu reisen, in der Hoffnung, dort ein Schiff zu finden, auf welchem ma)i die Ueber- fahrt (nach England?) ohne viel Zeit- und Geldverlust machen könnte. In Neapel angekommen, begaben wir uns in das Haus des Giovanni Pinatelli, Archidiakon's von Neapel, der iu Bologna mein Zuhörer im kanonischen Recht gewesen war und durch seine Kenntniss, seine Werke und die Geburt eine hohe Stellung inne hatte. Freundlich aufgenommen, nannten wir ihm den Grund un- serer Reise, und um unseru Wunsch zu erfüllen begab er sich, während man das Essen zubereitete, mit uns ans Meer, Es war kaum eine Stunde verflossen, so hatten wir für den gewünschten Preis ein Schiff gemiethet, und auf unser Drängen wird die Ab- reise beschleunigt. Beim Nachhausegehen reden wir davon, wie es möglich war, dass sich alle unsere Wünsche so schnell erfüllen konnten. Da sprach der Ai-chidiakou, weil er sah, wie betroffen wir über den glücklichen Erfolg waren: „Saget mir, zu welchem Thore seid Ihr hereingekommen"? Nachdem ich ihm dasselbe ge- nannt, sprach der weise Mann: »Nun, da begreife ich, dass Euch das Glück so günstig gewesen ist; aber sagt mir doch genau, durch welche Seite des Thores Ihr gekommen seid?" Wir ant- woi-teten: „Als wir vor dem Thore waren und eben zur linken Seite eintreten wollten, ging uns unerwartet ein mit Holz Iteladener

Virgil iu der Volkssage. 225

Esel voraus, und um diesem auszuweichen mussten wir auf der rechten Seite eintreten." Darauf der Archidiakon: „Auf dass Ihr wisset, welche wunderbaren Dinge Virgil in dieser Stadt ver- richtet hat, lasst uns zu jenem Thore gehen, und ich werde Euch zeigen, welch schönes Denkmal Virgil von sich auf Erden gelassen hat." Dort angekommen, zeigt er vms in die Wand zur rechten Seite des Thores eingelassen, einen Kopf aus parischem Marmor, von sehr heiterem, lachendem Ausdruck. Auf der linken Seite be- fand sich ebenfalls ein Marmorkopf, aber von ganz anderem Aus- druck. An den Augen erkannte man eine weinende Person, und musste an Jemand denken, der über ein trauriges Ereigniss klagte. „Mit diesen beiden Bildern", sagte der Ax-chidiakon , „hängt das Schicksal der Eintretenden zusammen, wenn sie nicht etwa mit Absicht den linken oder rechten Weg wählen, sondern sich ganz dem Zufalle überlassen: wer zur Rechten eintritt, dem gelingt Alles sogleich ; wer zur Linken, der hat Unglück, und kein Wimsch erfüllt sich ihm. Ihr seht also, wie ihr des Esels wegen rechts habt gehen müssen, und euch so eure Eeise nach Wunsch aus: fällt." Gervasius wäre durch diese Begebenheit beinahe zum Fatalisten geworden, aber er beugt sich vor Gott und ruft aus: „Von deinem Willen, Herr, hängt Alles ab, und nichts kann ihm widerstehen."

Einige Virgilsagen, die Gervasius erzählt, stimmen mit denen bei Konrad überein, abgesehen von den Abweichungen, die sich stets bei mündlichen Ueberlieferungeu finden. So verdankt die Fleischbank nach Gervasius ihre Kraft einem Stück Fleisch, welches Virgil in eine Wand derselben einliess, und das Fleisch erhält sich nicht blos sechs Wochen, sondern unendlich lange frisch. Die Schlangen wurden von Virgil unter einer Bildsäule (sigillum) bei der Porta Nolana eingeschlossen. In Betreff der Fliege und der Bäder findet sich keine Abweichung. Dagegen ist der Bericht des Gervasius über die gegen den Vesuv gerichtete Statue ein an- derer: die Bildsäule stand nach ihm nämlich auf dem Monte Vergine, hatte keinen Bogen in der Hand, sondern eine Trompete vor dem Munde, und damit vermochte sie den Wind zurückzu- blasen, der den Rauch und die Asche des Vesuvs auf jene Felder führte. „Unglücklicher Weise"^ bemerkt Gervasius, „sei es, dass das Alter sie zerstört hat, oder neidische Menschen sie zerschlugen, erneuern sich jetzt die alten Uebel des Vesuvs."

Gervasius spricht zwar weder von dem Rosse und Palladium, noch von den duixh Virgil gegi'ündeten Mauern, aber er sagt uns

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 15

22G Virgil in der Volkssage.

zuerst, dass Virgil vermöge seiner mathematischen Kenntniss es einzurichten verstand, dass in der Grotte von Pozzuoli niemals ein Hinterhalt gelegt werden könne, und dass er auf dem Monte Vergine einen Garten anpflanzte, in welchem alle heilkräftigen Kräuter wuchsen, z. B. das Kraut „Lucia", welches, wenn es von einem blinden Schäfchen berührt wird, dieses sehend macht.

Nach Roth^J in seinem interessanten Aufsatze über den Zauberer Virgil wäre auch Alexander Xeckam in Italien gewesen und hätte die Virgilsagen aus dem neapolitanischen Volke geschöpft. Aber Neckam sagt nicht nur nicht , wie Roth glaubt , dass er die wunderbare Fliege gesehen habe, sondern er spricht nicht einmal von ihr. Als Roth schrieb, war die Abhandlung „De naturis rerum" noch nicht bekannt gemacht"), und Roth konnte noch keine Kennt- niss von der Abhandlung Michel's haben, in welcher jene auf den Zauberer Virgil bezügliche Stelle ganz wiederholt ist^).

Wir wissen von Neckam's Leben so wenig'*), dass man schwer wird feststellen können, ob er in Neapel gewesen ist, oder nicht. In seinem Gedichte „De laudibus divinae sapientiae", welches er im Alter verfasst hat, spricht er von seinem Widerwillen gegen lange Reisen, den Schnee des Mont Cenis und die Pfade, die Hannibal ging; er sagt, dass er keinen Wunsch habe, nach Rom zu gehen, und begründet das in einer für die Hauptstadt der Christenheit wenig schmeichelhaften Weise"). Ich glaube also, dass er nicht nach Italien gekommen ist. Die Zeit der Abfassung von „De na- turis rerum" ist ungewiss. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass das Werk in dem letzten Jahrzehend des zwölften Jahrhunderts ver- fasst wurde; denn Neckam lebte von 1157 1217, sein Werk war

1) „üeber den Zauberer Virgilius" in Pfeiffer's Germania IV, (1859) p. 257—298. Vgl. p. 264.

2) „Alexandri Neckam De naturis rerum libri duo", with the poem of the same author „De laudibus divinae sapientiae," edited by Thomas Whright. London, 1863.

3) „Quae vices quaeque mutatioues et Virgilium ipsum et ejus car- mina per mediam aetatem exceperint explanare tentavit Franciscus Michel." Paris 1840. Vgl. p. 18 ff.

4) S. Wright, Biographia Britannica literaria II, 449 ff. und des selben Vorrede zu De naturis rerum; vgl. Hist. litt, de la France XVI 11, 521 ff.; Du Meril, Poésies inédites du moyen-age, p. 169 ff.

5) ,,Romae quid facerem? metiri nescio, libros Diligo, sed libras respuo. Roma vale."

P. 448.

Virgil in der Volkssage. 227

bereits am Ende des zwölften Jahrhunderts bekannt, und er selbst citirt darin schon andere grössere Arbeiten von sich^j. Daraus würde folgen, dass die Virgilsagen zu jener Zeit in Europa unab- hängig von den Schriften des Gervasius und Konrad bekannt ge- wesen sein müssen. Aber wir werden sehen, dass die Sage schon früher in Neapel entstanden sein muss , und andere Besucher der Stadt sie weiter verbreitet haben.

Drittes Capitel. Nachdem wir somit Neckam von der Zahl der Schriftsteller, welche die Virgilsagen am Orte ihrer Entstehung selbst kennen gelernt, ausgeschlossen haben, liegt uns nunmehr ob, die älteste Beschaffenheit jener Sagen zu untersuchen, um ihre wahre Natur und inneren Gründe zu erkennen. Die Leser werden schon bemerkt haben, dass Virgil in dieser ältesten Form der Sage als Beschützer der Stadt Neapel erscheint, und dass die ihm zugeschriebenen wunderbaren Werke zumeist in einem Talisman bestehen. Abge- sehen von den Ueberlieferungen des Alterthums so wie den während des Mittelalters von semitischen Völkern in Europa ver- breiteten Vorstellungen, war in Süditalien der Glaube an Talis- mane durch die byzantinische Herrschaft gewiss wieder aufge- frischt worden. Ganz in derselben Weise, wie man in Neapel mit Virgil verfuhr, schrieb man in Konstantinopel dem ApoUonius von Thyana ähnliche Werke zu; und wie natürlich, geschah dies auf Grund verschiedener Monumente der Stadt. So betrachtete man den berühmten ehernen Dreifuss, von welchem man noch heute ein Stück im Hippodrom sieht, als einen Talisman. Die Sage^) berichtete, dass, als Byzanz einmal von Schlangen heimgesucht wurde, man den weisen Apollonius von Thyana hinberief, um die Plage zu entfernen. Dieser errichtete eine Säule mit einem Adler darauf, der in seinen Krallen eine Schlange hielt, und von der Zeit an verschwanden die Schlangen. Die Säule bestand noch zur Zeit des Niketas Koniates (fl216)^) und wurde erst zerstört, als die Stadt in . die Hände der Lateiner fiel , die Sage erhielt

1) So folgert richtig Wright ia seiner Vorrede p. XIII, f.

2) Sie findet sich bei Niketas Koniates, Glykas, Hesychius Milesius. Vgl. Fr ick. Das plataeische Weihgeschenk zu Constantinopel, in den Jahrb. f. Phil. u. Paed. III, Suppl. p. 554 ff.

3) De signis Constant, cap. VIII, p. 861. Bk.

228 Virgil in der Volkssage.

riich aber nichtsdestoweniger \mà wurde nun auf das Fragment des antiken Dreifusses angewandt, welches in der That aus drei in einander geringelten Schlangen besteht. Weiter berichtete man von Konstantinopel, dass Apollonius die Fliegen der Stadt durch eine broncene Fliege, die Mücken durch eine broncene Mücke und auf dieselbe Weise die Skorpionen und anderes Ungeziefer ver- trieben hatte ^). Dieser Glaube beschränkte sich nun aber nicht blos auf Neapel und Konstantinopel. Im sechsten Jahrhundert finden wir ihn auch in Paris: „Man erzählte sich dox't", berichtet uns Gregor von Tours, ,,dass die Stadt in alten Zeiten geweiht sei, um sie vor Bränden, Schlangen und Mäusen zu schützen. Als man den Abzugskanal des Pont-Neuf reinigte, fand man eine Schlange und eine Maus von Bronce -) ; man räumte dieselben weg, und seit der Zeit begannen unzählige Mäuse, Schlangen und Brände die Stadt heimzusuchen^)."

Alte üeberlieferungen des Heidenthums sprachen gleichfalls von Fliegen und Insecten, die von überirdischen Wesen verfolgt worden waren. So erzählte man, dass auf diese Weise die Fliegen vom Tempel des Hercules im Forum boarium und von einem Berge in Kreta fortgescheucht waren '^). Solinus berichtet^): „die Cicaden bei Reggio sind stumm, was um so wunderbarer ist, weil diese Thiere in dem ganzen Lande der Lokrer viel lauter sind, als irgend wo anders. Granius gibt uns dafür den Grund an: „Als nämlich eines Tages Hercules hier schlief, und die Cicaden lärmten, befahl ihnen der Gott, still zu sein, und seit der Zeit schweigen sie auch heute noch." Das ChristeLsthum, welches dem heidnischen Aberglauben so viel Freiheiten zugestehen musste, hatte ebenso

1) Codin, De signis, p. 30 u. 3G; De aedif. Const. p. 62; Nie. Calli St., Hist. eccles., III, IH.

2) Derartige Talismane wurden oft vergraben, und es gab eine Zeit, in der man dazu lebendige Menschen benutzte! Vgl. PI in. Nat, hist. 28, (3) und Lieb recht, Eine altrömische Sage im Philologus, XXI, p. 687 ff.

3) Hist. Fr., VIII, 33. Vgl. Fournier, Hist. du Pont-neuf. I, p. 19 ff. S. Liebrecht zu Gervasius p. 98 ff. und Naude, Apologie des gr. personnes, acc. de magie, p. 624. Auch Albertus Magnus wurde eine goldene Fliege zugeschrieben, welche alle Fliegen verjagte. Vgl. P. Anton. De Tarsia, Hist. Cupersan. p. 26. (im Thes. Graev. et ßur- mann, tom IX, p. 5).

4) Plin., hist. nat. X, 29 (45); XXI, 14 (46).

5) Collect, rer. memor. p. 40 (ed. Mommsen).

Viigil in der Volkssage. 229

nicht nur seine Heiligen, welche Fliegen und andere Insecteu ver- bannten, wie den St. Bernhard, St. Gottfried, St. Patricius u. s. w., sondern sogar Bannformeln , die officiell dafür festgesetzt waren ^).

Es ist nicht wahrscheinlich, dass in Neapel der Glaube an solche Schutzmittel nur auf Erzählungen beruhte und sich nicht vielmehr auf bestimmte Gegenstände bezogen haben sollte'"^). Gewiss knüpfte er sich auch hier an vorhandene Kunstwerke, denen das Volk eine höhere Kraft beimass. Als dann einmal die Phantasie des Volkes diese Richtung eingeschlagen hatte, war es ein Leichtes, die Zahl solcher Talismane, „die einstmals vorhanden waren, jetzt aber nicht mehr sind", zu vermehren.

Ganz besonders alt unter denselben scheint die eherne Fliege gewesen zu sein. Schon vor Konrad und Gervasius erwähnte sie und die darauf bezügliche Sage Johann von Salisbury, der Neapel und Italien gut kannte; sagte er doch im Jahre 1160, er sei bereits zehn Mal über die Alpen gegangen und habe zwei Mal Süditalien durchwandert^).

Dieser geistreiche und wirklich bedeutende Mann erzählt uns folgende Anekdote: „Man berichtet, dass Virgil den Marcellus, als dieser darauf ausging, Vögel zu vernichten, gefragt habe, ob er nicht lieber einen Vogel haben wolle, mit dem man die anderen fangen könne, oder eine Fliege, welche alle anderen Fliegen ver- tilge? Marcellus sprach darauf mit Augustus, und dieser entschied sich dafür, dass man eine Fliege verfertige, welche die Fliegen von Neapel vertrieb. Sein Wunsch wurde erfüllt, und hieraus sieht man, dass man dem eigenen Vortheil den gemeinsamen Nutzen vorziehen muss*)."

Die Namen des Marcellus und Augustus, welche auf diese Weise mit Virgil in Beziehung gesetzt sind, können vielleicht an

1) Vgl. Liebrecht zu Gervas. p. 105; Laianne, Curiosités des traditioDS etc. p. 218. Menabrea, De l'origine, de la forme et de l'esprit des jugements rendus au moyen-age contro les animaux. Cham- béry, 1845.

2) Vgl. Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte (Bonn, 1867) p. 19 f.

3) Vgl. Schaarschmidt, Joh. Saresberiensis, p. 31.

4) Polycraticus, I, 4. Geschrieben 1159. Vgl. Schaarschmidt, a. a. 0. p. 143.

230 Virgil in der Volkssage.

den volksthümlichen Ursprung jener Sage zweifeln lassen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die neapolitanische Volkssage grade den Marcellus als Hen-n von Neapel und Virgil als dessen Minister betrachtete. In der „Cronica di Partenope" werden die Schicksale Vir- gil's in die Zeit versetzt, „als Octavian den Marcellus zum Herzog der Neapolitaner machte." Der anonyme Verfasser eines satirischen Gedichtes gegen die Geistlichen aus dem Jahre 1180, spielt in folgendem Verse auf die Fliege des Virgil an:

„Formantem (video) aereas muscas Virgilium ^).'' Diese Fliege, welche sich nach Konrad in der Grösse eines Frosches auf einem Festungsthore befand , wurde später an ein Fenster des Castell Capuano und endlich nach Castell Cicala, das in der Folge Castell St. Angelo hiess und von den Priestern von Santa , Chiara zei-stört ward, versetzt, wo sie ihre Kraft verlor. Die „Cro- nica di Partenope" citirt sogar einen Alexander (aber gewiss nicht Neckam), welcher sie noch gesehen haben will.

Die beiden steinenieu Köpfe an der Porta Nolana, welche, wie der alte neapolitanische Schriftsteller Scoppa "J sagt, ,, Porta di Forcella" hiess, waren wirklich vorhanden, und Scoppa will sie selbst noch als Kind an dem Thore gesehen haben, bevor der König Alfons VI. von Arragonien dasselbe zerstörte und die Köpfe nach Poggio Reale brachte. Das eherne Pferd befand sich noch 1322

1) Apocalypöis Goliae episcopi, bei Wright, Early poems attributed to Walter Mapes, p. 4.

2) Vergi. Jo. Scoppae Parthenopei in diverses auctores collectanea ab ipso revisa etc., Neapel, 1534 p. 20 fi. Die auf Virgil be- züglichen Stellen in diesem Buche, die nicht leicht aufzufinden sind, hat mir mein Freund, Prof. De Blasis in Neapel mitgetheilt, dem ich auch sonst manche Aufklärung für mein Werk verdanke. Minieri Riccio schreibt in seinem „Catalogo dei libri rari" (Neapel 18G1) Vol. I, p. llOf. folgendes: „Lo Scoppa che scriveva nel giugno 1507, distrugge affatto lo sciocco racconto tradizionale del Summonte intorno a sifiatte teste. Costui riferisce che una giovane viissalla, essendo ricorso ad Isabella di Aragona per essere stata violentata dal suo feudatario, Isabella ordinò che il barone la sposasse, e dopo le nozze lo fece decapitare; che quindi, a memoria di questo fatto, si fossero collocate in marmo quelle due teste su quella porta della città che guarda il mercato dove sofi'rì l'ultimo supplizio il barone. Racconto ch'io confutai fin dall' anno 1844 nelle mio Memorie degli scrittori nati nel reame di Napoli prima che avessi letto il libro dello Scoppa." Gervasius, der älter ist als Scoppa, noch mehr, dass Minieri Recht hat.

Virgil in der Volkssagc. 231

im Hofe der Hauptkirche Neapels. Die Zeit und die Barbarei der Leute haben es später vernichtet. Das Volk erzählte sich jedoch, dass die Hufschmiede, denen das Pferd Schaden zugefügt hatte, ihm den Bauch ausschlugen, so dass es seine Kraft verlor, und dass dann die Priester der Hauptkirche 1322 das Metall zu Glocken umgiessen Hessen. Der Kopf, welcher sich erhalten hat, befindet sich noch heute im Nationalmuseum von Neapel und kann uns eine Vorstellung von den gewaltigen Proportionen dieses Kunst- werkes geben ^). Auch die Erzählung von der Statue, welche Virgil gegen den vom Vesuv herkommenden Wind aufstellte, scheint auf einer wirklich vorhandenen Bildsäule zu beruhen. Scoppa sagt, dass sich dieselbe an dem früher „Ventosa", dann „Reale'^ genannten Thore befand, „wo", so fügt er hinzu, „noch jetzt einige Marmor- figuren stehen^)." Was das Palladium der Stadt betrifft, von welchem Konrad spricht, und welches er selbst in Händen gehabt haben will, so ist an dessen Existenz, wie es beschrieben wird, nämlich einem kleinen Abbilde der Stadt in einer Flasche, wol nicht zu zweifeln. Auch heute noch staunt ja das Volk derartige Merkwürdigkeiten an, und es ist daher nicht wunderbar, wenn dergleichen im Mittelalter als ein übernatürliches Werk von wunderbarer Kraft erschien. Vielleicht ging jener Schatz in den Händen der Kaiserlichen zu (irunde. Die Legende erfand an seiner Stelle später ein Ei^), welches sich in einer gläsernen Flasche be- fand, die selbst wieder von einem eisernen Gefässe umschlossen war. Diese Form der Sage entstand jedoch erst, nachdem das alte, von Wilhelm L 1154 erbaute und von Friedrich H^. er- weiterte Schloss, „Castello marino" oder „Castello di mare )" m

1) Vergi. Gali a ni, Del dialetto napoletano. Napoli, 1779, p. 98 ff.

2) Schon im ó. .Jahrhundert wird eine Statue in Sicilien erwähnt, die das Feuer des Aetna wie feindliche Einfälle abhielt. (Olympiodor bei Photius, cod. 90). Von einer ähnlicben Statue ist die Rede im Leben des S. Leo, des Thaumaturgen und Bischofs von Catania (8. Jahr- hundert). Vergi. Acta SS. Febr. Ili, p. 224 und Liebrecht zu Gervas. p 106 ff u 262. Wie Liebrecht richtig bemerkt, steht diese sicilische Legende in Beziehung mit der alten Sage vom Agrigentmer Empedokles und seiner ehernen Statue in Girgenti.

3) Ueber diesen Aberglauben s. Liebrecht in Pfeifler's Germania V, p. 483 ff.; X, p. 408.

4) So nennen es Pietro d'Eboli, Falcone Beneven- tano u. a.

232 Virgil in der Volkssage.

„Castel dell' uovo" verwandelt wurde. So viel ich weiss, lässt sich die letztere Benennung nicht vor dem vierzehnten Jahrhundert nachweisen. In den Statuten des durch Ludwig von Aujou 1352 gestifteten Ordens des heiligen Geistes hat es den Titel „Castellum ovi incantati" '). Auf die Sage bezieht sich auch die räthselhafte Inschrift aus dem vierzehnten Jahrhundert, welche in der Samm- lung Signorili erhalten ist^) :

„Ovo mira novo sie ovo non tuber ovo, Dorica castra cluens tutor temerare timeto." Wie man nun Virgil als den beschützenden Wolthäter Neapel's darstellte, indem man ihm jene Talismane, die Mauern der Stadt, ja, die Stadt selbst zuschrieb, so führte man auf ihn auch die Einrichtung der im Mittelalter wegen ihrer Heilkraft berühmten Bäder von Pozzuoli zurück^). Der Gebrauch, an den Bädern durch Inschriften^) die verschiedenen Krankheiten anzuzeigen, besonders wenn verschiedene Quellen neben einander entsprangen, findet sich auch u. a. bei den Bädern von Bourbon rArcbambault*''). Benjamin von Tudela (fll73) spricht'') von einer Petroleuraquelle und sehr besuchten heilkräftigen Bädern in der Nähe von Pozzuoli, ohne jedoch des Virgil zu gedenken. Richard Endes ^) erwähnt in seinem 1392 verfassten Gedichte die Inschriften, sagt aber nichts von Virgil; desgleichen La Sale in einer Abhandlung über die Moral,

1) Montf aucon, Mounmens de la monarchie frau(,"aise, tom II, p. 329.

2) De Kossi, Prime raccolte d'antiche iscrizioni etc. (Roma 1852) p. 92. Koth's Versuch (a. a. 0. p. 263), die Inschrift auszulegen, ist misslungen.

3) Vgl. die hierüber gesammelten Stellen im Thesaurus von Grae- vius und Burmann, pars IV, tom. IX.

4) Konrad spricht von Bildern, die meisten andern Schriftsteller nur von Inschriften.

5) „A Borbo avio ri.sc bains;

Quis volc, fos privatz o estrains,

S'i pot mout ricamen bainar.

En cascun bain pogras trobar

Escrih a que avia obs." Le Roman de Flamenca, public par P. Meyer. Paris, 1865, p. 45; Vgl. p. XIII.

6) Itinerarium (ed. A s h e r), I. p. 42. Vgl. D u M é r i I , De Virgile Tenchanteur, in seinen „Mólanges archéologiques et littéraires," p. 436.

7) Vgl. Meyer, Roman de Flamenca, p. XIII.

Virgil in der Volkssage. 233

die Le Grand d'Aussi^) citirt, Burkhard^), dei- jene Oerier 1404: besuchte n. a. Die Volkssage verknüpfte mit den Bädern von Pozzuoli den Namen des Virgil und die Vorstellung, dass sie für jede Krankheit heilsam wären. Der wolthätige Dichter wollte so besonders für die Armen sorgen und sie von den Aerzten befreien, „welche", wie die Cronica di Partenope sagt^), „ohne Er- barmen bezahlt sein wollen." Aber die Aerzte, welche, wie es in einem altfranzösischen Gedichte heisst, „Ont fait maint mal et maint bien^)'', fanden dabei ihre Rechnung nicht; die berühmtesten aus der Schule von Salerno sahen vielmehr ihre Einkünfte dadurch so vermindert, dass sie heimlich die Inschriften der Virgil- bäder vernichteten ; die Armen wussten also nun dort keine Heilung mehr zu finden. Aber der Legende nach strafte Gott die Aerzte, indem diese auf ihrer Rückkehr von einem heftigen Sturme ergriffen wurden, so dass sie „zwischen Capri und La Minerva ertranken, einer ausgenommen, welcher das Geschehene erzählte^)." Dies Er- eigniss, das sich bei Gervasius und Konrad erzählt findet, wird auch von Burkhard und Anderen, die aber nicht mit der Erzählung den Namen des Virgil zusammenbringen, berichtet. Ja, die Sage gab sich geradezu das Ansehen der Geschichte und erzählte von einem gerichtlichen Documente aus dem Jahre 1409, in welchem es hiess :

Bei Pozzuoli habe man nahe bei dem „Tre Colonne^' genannten Orte die folgende Inschrift gefunden:

,,Sir Antonius Sulimela, Sir Philippus Capogrossus, Sir Hector de Procita, famosissimi medici salernitani supra parvam navim ab ipsa civitate Salerni Puteolos transfretaveruut , cum ferreis instru- mentis inscriptioues babieorum virtutum deleverunt et cum rever- terunt, fuerunt cum navi miraculose submersi**)."

Dies also war die Virgilsage in ihrer ersten Gestalt: Virgil lebte in Neapel, herrschte über die Stadt, oder hatte wenigstens

1) Vgl. Du Méril a. a. 0.

2) Joh. ßurchardi diari um, ed. ab. Ach. Genare Ili, Flor. 1854. p. 317.

3) Cap. 29.

4) Vgl. Du Méril, a. a. 0.

ò) Cren, di Partenope, cap. 29.

6) Vgl. Panvinio, Il forest, istr. alle antichità di Pozzuoli etc. p. 100. De Renzi, Storia della medicina in Italia, II, p. 148. Mazza, Urbis Salernitanae historia (im Thes. Graev. et Burm. tom IX, p. IV), p. 72 f.

234 Virgil iu der Volkssagc.

vermöge seiner Beziehungen zum Hofe Theil an der Regierung und hat auf jede Weise für das Gemeinwol Neapel'« gesorgt. Ausserdem gab es zu Neapel einige antike oder mittelalterliche Kiuistwerke, denen das Volk, wie das ebenso an anderen Orten geschah, eine überirdische Kraft beimass. Wir haben gesehen, in welchem Glänze der Weisheit Virgil's Name bei den Gelehrten des Mittelalters strahlte. Das neapolitanische Volk konnte daher bei dieser allgemeinen Vorstellung, die man von seinem Beschützer hatte, jene Talismane auch nur dem Virgil zuschreiben.

Einen Zauberer Virgil haben wir aber darum noch nicht vor uns; wenn auch Konrad von „ars magica" und ,,magicae iucantationes" spricht, vermittelst deren Virgil jene Talismane geschaffen haben soll, so versteht er doch darunter nur die natürliche Magie d. h. die Kenntniss verboi-gener Naturgeheimuisse ^). Man glaubte da- mals wirklich, dass sich durch mechanische, astrologische und mathe- matische Combinationen Wunder verrichten Hessen, ohne dass mau dabei an Teufelskünste dachte und den, der die Wunder ver- richtete, verabscheute, zumal wenn seine Künste zum Wole der Menschheit beitrugen. Und so erscheint auch Virgil, wie wir ge- sehen haben, in der ältesten Form der Sage in der That nicht nur als ein unschuldiger Mensch, sondern sogar als ein grosser Wolthäter, und kein Schriftsteller, welcher die neapolitanische Virgil- sage erwähnt, denkt dabei an Teufelskunst. Gervasius schreibt die vLrgilischen Werke einer „ars mathematica" oder „vis mathesis" zu. Boccaccio, zu dessen Zeit die Sage schon ihren Charakter sehr verändert hatte, sagt, dass Virgil jene Werke zu Neapel „con l'aiuto della strologia" geschaffen habe, und nennt ihn einen, so-

1) Die Wunder des Apollonius von Tbyana schreibt Pseudo-Justin (5. Jahrh.) „der tiefen Kenntniss der Naturkräfte und ihren Antipathien und Sympathien zu." Vgl. Roth, a. a. 0. p. 280. Gewiss war es nicht die Schwarzkunst, welche Albertus Magnus ausgeübt haben will: „cuius etiam veritatem nos ipsi sumus experti in magicis." Oper. t. III. (Lugd. 1625) p. 23. In Betreff des von ihm geschaffenen sprechenden Kopfes sagt ein alter italienischer Schriftsteller : ,,e non fu per arte diabolica ne per negnomanzia però che gli grandi intelletti non si dilettano di cioè; poiché è cosa da perdere l'anima e'I corpo, che è vietata tale

arte dalla fede di Cristo." Er schuf ihn „per la sua grande sapienza

a fatti corsi di pianeti e calcola così di ragione ch'ella favellava." Rosario della vita di Matteo Corsini bei Z am brini, Libro di novelle antiche, p. 74.

Virgil in der Volkssage. 235

lenissimo strologo^)", ein Gedanke, dem wir ja schon im Alter- thum bei Servius u. A. begegnet sind.

Das Volk zog also in Neapel nur die thatsächlichen Folge- rungen aus der Vorstellung, welche sich bei den Gelehrten der Zeit von Virgil gebildet hatte, und darum konnten auch diese wiederum an . derartigen Erzählungen keinen Anstoss nehmen. Da jedoch jene Vorstellung ganz allgemein verbreitet, die Sage selbst aber nur in Neapel entstanden war, fragt es sich, wie es möglich war, dass Virgil den Neapolitanern so bekannt war, dass man ihn zum Urheber der Talismane, an die man glaubte, machen konnte. Dies also wäre die einfachste Form, auf welche sich die Frage nach dem Ursprünge der Sage zurückführen lässt. Ehe wir nun aber an die Beantwortung derselben gehen, ist es uöthig, eine Thatsache zu erwähnen, die wir nicht übergehen können.

Gervasius von Tilbury erzählt, wie folgt: „Zu den Zeiten des Königs Roger von Sicilien stellte sich demselben ein englischer Gelehrter vor und bat den König um eine Gnade. Dieser, ein er- lauchter und ausgezeichneter Mann, antwortete : Bitte du selbst um das, was du willst, ich werde es dir geben. Es war aber jener ein grösser Schriftsteller, wol bewandert im Trivium und Quadrivium, dazu ein eifriger Physiker und Astronom. Er sagte also dem Könige, dass er nicht ein Vergnügen für den Augenblick suche, sondern etwas, das dem Menschen gering erscheine, und bat um die Gebeine Virgil's, wo sie sich auch in des Königs Reiche finden sollten. Der König willfahrte ihm, und der Gelehrte, mit königlichem Handschreiben versehen, begab sich nach Neapel, wo ja Virgil seine Kraft in so vielen Stücken bewiesen hatte. Er gab die Briefe ab, und die Neapolitaner, welche das Grab Virgil's nicht kannten, also auch die Erfüllung des Wunsches für unmög- lich hielten, versprachen ihm behilflich zu sein. Endlich gelang es dem Gelehrten durch seine Kunst die Gebeine im Grabe aufzu- finden, und zwar im Innersten eines Berges, wo sie auch nicht die geringste Spalte verrathen konnte. Man grub nun an diesem Orte nach und stiess nach langer Anstrengung auf ein Grab, in welchem man die wolerhaltene Leiche Virgil's und ausser anderen, auf die Studien des Dichters bezüglichen Schriften unter seinem Kopfe ein Buch, mit dem Titel „ars notoria^/' fand. Man räumte

1) Commento sopra Dante. Inf. I, 70.

2) Die von Evasmus verspottete ars notoria ist keine Teufelskunst, sondern gründet sich auf praktische Beobachtungen. Cornelius Agrippa

236 Virgil in der Volkssage.

die Gebeine und die Asche weg und der Gelehrte nahm da« Buch. Inzwischen erinnerten sich aber die Neapolitaner an die Wolthaten, welche Virgil der Stadt erwiesen hatte, und aus Furcht, dass Neapel, der Gebeine des Dichters beraubt, zu Grunde gehen würde, beschlossen sie, sich dem königlichen Befehle zu widersetzen, Sie glaubten, dass Virgil sein Begräbuiss eben deshalb im Innersten eines Berges angeordnet habe, damit seine Werke durch das Fort- räumen der Gebeine nicht ihre Kraft verlören. Der Herzog von Neapel Hess also durch mehrere Bürger die Gebeine in einen Sack thun und diesen nach Castel di Mare bringen, wo sie, hinter eisernen Riegeln verwahrt, den Schaulustigen gezeigt werden konnten. Man fragte den Gelehrten, was er mit den Gebeinen habe thun wollen, und dieser antwortete, dass er durch gewisse Formeln aus ihnen die ganze Kunst Virgil's habe erlernen wollen: er wäre schon zu- frieden gewesen, wenn er sie nur auf vierzig Tage gehabt hätte. Er begnügte sich indessen mit dem Buche und ging von dannen. Wir selbst haben mit Hilfe des hochwürdigen Giovanni da Napoli ') zur Zeit des Papstes Alexander einige Auszüge aus diesem Zauber- buche zu sehen bekommen und uns von der Wirksamkeit desselben überzeugt."

Diese merkwürdige Erzählung findet sich bei Andrea Dan- dolo^) (1330) und in der „Cronica di Partenope" wieder, aus welcher sie auch Andrea Scoppa geschöpft hat. Ausser Gervasius spricht nur noch sein Zeitgenosse Johann von Salisbury in seinem „Polycraticus" von einem ähnlichen Factum. Er sagt, dass er einen gewissen Ludwig gekannt habe, der sich lange in Apulien aufhielt und „nach langen Fasten und Kasteiungen endlich als Frucht seiner Anstrengungen nach Gallien zwar nicht den Geist, aber doch die Gebeine Virgil's brachte^)." Es ist nicht unwahr- scheinlich, dass es sich hier, wne Roth glaubt, um dieselbe Person handelt, von der Gervasius spricht; denn Johann von Salisbury war zur Zeit des Königs Roger in Neapel, und der Ausdruck „in Gallias" schliesst nicht aus, dass der Mann ein Engländer (Anglus) war*), als welchen ihn Gervasius bezeichnet. Ich kann jedoch

schrieb ein Buch darüber. S. Liebrecht, ad Gervas. p. 161. Vgl. Roth, a. a. 0. p. 294. Man vergi, auch den Virgilius Cordubensis darüber.

1) Er starb nach Leibnitz 1175.

2) Muratori, Scriptores rer. ital., XII, p. 283.

3) Polycraticus, 2, 23.

4) Vgl. Roth, a. a. O. p. 295.

Virgil in der Volkssage. 237

nicht mit Koth übereinstimmen, wenn er in dieser Begebenheit den Hauptkeim für die Entstehung der neapolitanischen Virgilsagen erblickt.

Die Erzählung des Gervasius setzt das Vorhandensein der Legende voraus. Es ist gar nicht unmöglich, dass sich ein ex- centrischer Engländer in den Kopf gesetzt habe, die Gebeine Vir- gil's zu bekommen, um daraus durch eine magiscAe Operation jenen Schatz verborgener Weisheit zu erlangen. Der Umstand je- doch, dass die Neapolitaner die Auslieferung verweigerten, so wie der Grund dieser Weigerung selbst, beweist, dass Virgil's Ruhm wegen seiner zum Schutze der Stadt aufgeführten Werke und seiner dort aufbewahrten Gebeine schon in Neapel verbreitet war. Dass man das Grab Virgil's entdeckte und dies so grossen Eindruck auf die Neapolitaner gemacht haben soll, glaube ich bezweifeln ' zu müssen, wenn auch Gervasius sagt, die Neapolitaner hätten das Grab vorher nicht gekannt. Wenn man an die ungeheure Berühmt- heit und Autorität Virgil's im Mittelalter denkt, so müsste jene Entdeckung des Grabes nicht allein auf die Neapolitaner, sondern auf die ganze literarische Welt den grössten Eindruck gemacht haben; und doch spricht ausser Gervasius kein einziger von der- selben. Sieht man genauer zu , so scheint es vielmehr, dass die Erzählung von dem Engländer bei Johann von Salisbury mit einer Legende verknüpft worden ist, deren Zweck es war, über einen Sack mit menschlichen Gebeinen in Castel di Mare, in welchen man die Gebeine Virgil's zu besitzen glaubte, Aufschluss zu geben, und zugleich irgend ein Buch über Geheimkünste accreditiren sollte, welches Gervasius gesehen haben will und von dem er sagt, es stamme aus dem Grabe Vii-gll's. Wir dürfen nicht vergessen, dass Johann von Salisbury von jenem Ludwig wie von einer historischen Persönlichkeit spricht , die er kennt und über die er sich lustig macht, während Gervasius, der einige Decennien später schrieb, von ihm mehr wie von einer sagenhaften Persönlichkeit spricht, und Johann von Salisbury sogar schon die Geschichte von der broncenen Fliege kennt, woraus folgt, dass man in Neapel ganz unabhängig von den thörichten Versuchen jenes Ludwig von Virgil's Wunderwerken redete. Es ist also nicht möglich, in jener Geschichte des Gervasius das Hauptmotiv für die Entstehung der Virgilsage zu finden^).

1) Derselben Meinung ist auch Schaarschmidt, Johannes Sares- beriensis nach Leben etc. p. 99.

238 Virgil in der Volkssage.

Es steht femer ganz fest, dass man schon vor den Zeiten Roger's von dem Protectorate Virgils über Neapel und seiner Regierung daselbst zu erzählen wusste. Alexander von Telese (i. J. 1136) sagt ausdrücklich, dass Virgil wegen seines Distichon's „Nocte pluit tota etc." von Augustus Neapel und die Provinz Ca- labrien zu Lehen erhielt').

Vermögen ^vir also aus der Erzählung des Gervasius nicht die Folgerungen wie Roth zu ziehen, so gestehen wh- doch anderer- seits zu, dass sich aus dem Vorhandensein des Grabes Virgil's in Neapel ganz besonders das Fortleben seines Ruhmes unter dem Volke erklärt. Auf die Authenticität dieses vermeintlichen Virgil- grabes kömmt es dabei nicht an -). Historisch beglaubigt ist, dass Virgil seinem Wunsche gemäss in Neapel begraben wurde und zwar, wie es in der Biogi"aphie heisst, auf der Strasse nach Puteoli in der Nähe des zweiten Meilensteines^), Vermuthlich ging diese Notiz aus der von Sueton verfassten Biographie (98 138 n.Chr.) in seiner Schrift „De viris illustribus" in die Lebensbeschreibung Virgil's, die man dem Donat zuschreibt, über; sie wird aber auch durch andere Nachrichten bestätigt, welche beweisen, dass Virgil's Grab eine Hauptzierde Neapel' s war und wie der Tempel eines Gottes von den Reisenden besucht wurde. Silius Italiens war ge- wöhnt, dasselbe wie ein Gotteshaus zu betreten, „adire ut templum", Statins nennt es geradezu einen „Tempel", und noch im fünften Jahrhundert wird es von Sidonius Appollinaris „ein Ruhm Neapel's"

1) Bei Muratori, Script, rer. it. V. p. 637, 644. Der-selbe Autor hält auch Neapel für unbezwingbar und scheint dies dem Virgil zuzu- schreiben: ,,Adeo ipsa inexpugnabilis constat ut nisi famis periculo coartata nuUatenus comprehendi queat. Nempe buiusmodi urbis dominus olim, Octaviano Augusto annuente, Virgilius maximum poetarum extitit. Vgl. Roth a. a. 0. p. 288 ff.

2) Es ist auffallend, dass sich von den bedeutenderen Archä.ologen bis heute Niemand ernstlich mit dem Grabe Virgils beschäftigt hat. Im allgemeinen zweifelt man an der Authenticität des seit einigen Jahr- hunderten dafür geltenden Grabes. Peignot, Recherches sur le tombeau de Virgile (Dijon 1S40, ist durchaus ohne Bedeutung. Die Angabe in der Biographie ist aber ganz bestimmt und glaubwürdig und nach derselben wären etwaige Ausgrabungen vorzunehmen, welchen jedoch Untersuchungen über die Topographie des alten Neapels vorhergehen müssten.

3) „Ossa eins Neapolim translata sunt tumuloque condita, qui est via puteolana intra lapidem secundum." Donat. Vit. Vergib p. 63.

Virgil in der Volkssage. 239

genannt^). Es versteht sich daher von selbst, dass das Volk, welches diesem Cultus zuschaute, Virgil's Andenken bewahren musste, wenn uns auch für das älteste Mittelalter davon nicht bestimmte Nachrichten überliefert sind, aus dem einfachen Grunde, weil damals die Schriftsteller für dergleichen kein Interesse hatten. Nach dem, was wir jedoch über den nie erloschenen Ruhm des Dichters wissen, können wir schliessen, dass das neapolitanische Volk viele Jahrhunderte hindurch an die Nachfrage aller Reisenden nach Virgil's Grab gewöhnt sein musste.

Es ist also nicht unmöglich, dass die Volkssage von dem Grabe Virgil's als einer Bürgschaft für das Wol der Stadt, so wie die von Konrad mitgetheilte Idee, dass Sturm und üngewitter entstünde, sobald die Gebeine des Dichters aus dem Grabe ge- nommen würden, von sehr altem Datum sind. Bereits in den ältesten Virgilsagen, z. B. in der von der heiligen Unverletzlichkeit der Grotte von Puteoli, unweit welcher sich noch heute das sogenannte Grab Virgil's befindet, spielt letzteres eine Rolle. Aehnliche Sagen waren schon im Alterthume gewöhnlich; so sahen u. a. die Athener in dem Besitze der Gebeine des Oedipus ein Glück für die Stadt, und von dem Hügel, in welchem Antäus begraben sein sollte, hiess es, dass, wenn man davon etwas Erde wegnehme, es augenblicklich zu regnen anfange^).

Der Dichter, welcher bei Mantua geboren war und in Neapel begraben sein wollte, musste diese Stadt wol sehr lieb haben. Wir wissen, dass er lange dort im Genüsse der Bequemlichkeiten, die ihm sein hoher Beschützer verschafft hatte, lebte und in jener wundervollen Gegend einen grossen Theil seiner unsterblichen Dichtungen vollendete. Aus seiner Biographie geht hervor, dass seine sanfte und bescheidene Persönlichkeit den Neapolitanern bekannt war, und diese den Dichter sehr charakteristisch „Par- thenias" nannten^). Ich zweifle ferner nicht daran, dass sein

1) „Non quod Mantua contumax Homero adiecit latialibus loquelis,

aequari sibimet subinde livens busto Parthenopem Macroniano."

Sid. Apoll. Carni. IX.

2) Pomp. Mela, De Chorogr. III. 106 (ed. Parthey). Vgl. auch Raw- linson, ad Herodot. I, 66.

3) .... et ore et animo tam probum constat, ut Neapoli Parthenias vulgo appellatus sit." Donat. Vit. Verg. p. 57.

240 Virgil in der Volkssage.

Name auch an einigen Landgütern, die er hier besass, haften ge- blieben sein wird.

Man denke z.B. an jenen Garten des Virgil, den er der Sage nach auf dem Monte Vergine hatte, und welcher nach Gervasius alle möglichen Heilkräuter enthielt! Wie ich aus verschiedenen Docu- menten ersehe, hiess der Berg früher „Mons Virginis", „Mons Virginum" und „Mons Virgilianus". Giovanni Nusco, Verfasser der Biographie des Wilhelm von Vercelli^) und Stifter der Congre- gation aus der Kirche von Monte Vergine, sagt, dass der Berg früher „Mons Virgilianus" geheissen habe, und bedient sich auch sel8st dieser Benennung. Roth^) läugnet das und bemerkt, dass man von dem Berge in einigen Documenten, die aus der Zeit des Heiligen stammen, sagt „Mons qui Virginis vocatur" und von der Kirche „S. Maria Montis Virginis". Dass aber, als man den Namen des Berges änderte, die einen den älteren Namen beibehielten, die anderen sich des neueren bedienten, ist gar nicht wunderbar. Auch der Verfasser der „Vita des h. Wilhelm" war Zeitgenosse des Heiligen, und wurde 1132^) unter die Priester von Monte Vergine aufgenommen, zehn Jahre vor Wilhelm's Tode und sechs Jahre nach Einweihung der Kirche. Daran z^'eifeln wollen, dass er sich bei seiner Benennung „Mons Virgilianus" an eine örtliche Ueber- lieferung hielt, heisst die Sache sich mit Gewalt leicht machen, um so mehr, wenn man bedenkt, dass der Verfasser als Mitglied der Congregation gewiss den Titel „Mons Virginis Mariae" dem heidnischen Titel „Mons Virgilii^' vorgezogen haben würde, Avenn nicht die Ueberlieferung stärker gewesen wäre. Wenn auch einige Frommen in ihren Scheukungsacten von „Mons Virginis" sprechen, so wurde die alte ueberlieferung doch noch 1197 sogar vom Papste Coelestinus HI anerkannt, welcher in einer Bulle jenes Kloster mehr als einmal „Monasterium sacrosanctae Virginis Mariae de Monte Virgilü" nennt*). Da aber eine Oertlichkeit sehr wol mehrere Namen zu gleicher Zeit haben kann, so ist es mög- lich, dass jener Virgilberg, bevor man ihn nach der Jungfrau Maria nannte, auch „Mons Virginum" hiess, wie wir aus Gervasius sehen. Der hier vermuthlich aus der Heidenzeit vorauszusetzende Cultus

1) Acta Sanctorum Juu. V, p. 114 fi".

2) a. a. 0. p. 287.

3) Acta SS. Jun. V, p. 112 d.

4) Casto, La vera istoria dell' origine e delle cose notabili di Monte Vergine, p. 123 flf.

Virgil in der Volkssage. 241

der Vesta und Cybele würde diese Benennung vollkommen er- klären ^). Jedenfalls kann der Name „A' irgilberg", an welchem gar nicht zu zweifeln ist, und die neapolitanische wie die Local- Sage^), die hier einen Garten des Virgil annimnät, gar nicht besser erklärt werden, als durch eine Besitzung Virgil's an diesem Orte. Das lässt sich jetzt freilich nicht mehr positiv beweisen, wol aber lässt sich beweisen, dass man kaum ein Jahrhundert nach dem Tode des Dichters von seinen hier befindlichen Besitzungen sprach.

Aulus Gellius'^j sagt nämlich, er habe in einem Commentare*) die Notiz gefunden, dass die Verse:

„Talern dives arat Capua et vicina Vesevo Ora jugo^ etc."

von Virgil erst mit der Lesart „Nola jugo" veröffentlicht worden seien, dass aber der Dichter später, nachdem er die Nolaner ver- gebens um die Erlaubniss ersucht hatte, Wasser auf sein nahes Landgut leiten zu dürfen, aus Aerger über den abschläglichen Be- scheid der Nolaner den Namen ihrer Stadt aus seinen Versen vertilgt und das Wort „ora" an Stelle derselben gesetzt habe. Gellius sagt freilich, dass er nicht für die Wahrheit der Erzählung bürgen wolle; es genügt aber zu wissen, dass ein Schriftsteller

1) Die locale Ueberlieferung, die alle Historiker von Monte Vergine erwähnen, meldete, dass der Berg früher nach einem Heiligthume der Cybele benannt wurde. Auch die Benennung ,,Vestaberg" leitete ma« von einem Tempel der Vesta am Fusse des Berges ab, Giordano, Ci'O- niehe di Monte Vergino, p. 27, 38, 45.

2) Eine alte Hds. von Monte Vergine aus dem 13. Jahrh. mit der Vita des h. Guglielmo sagt: ,,Nuncupatur Mons Virgilianus a quibusdam operibus et nialeficiis Virgilü niantuani poetae inter latiuos principia; construxerat enim hie maleficus daemonum ciiltor eorum ope bortulum quemdam omnium genere herbarum cunctis diebus, et temi)oribus, maxime vero aestatis poUentem, quarum virtutes in foliis scriptas monachi qui- dam nostri fide digni fratres, qui praedictum montem inhabitant, apertis vocibus testantur, saepe cabu in praedictum hortum, non semel, dum per juga montis solatìi causa errarent, iucidisse, nihilomus intra hortum huiusmodi maleficio afiectos esse, ut nec herbas tangere valuisse, nec qua via inde egressi sint, cognovisse retulerunt. Deinde, mutato nomine Virgilii, Virgineus appellatur a semper Virgine Maria, cni templum po- situm est." Bei Giordano, Croniche di Monte Vergine p. 92.

3) Noct. att. Il, 213. Vgl. Serv. ad Aen. Yll, 740.

4) Kretschmer (De A. Geli. font. p. 77) und Merckliu (N. Jahr- bücher f. Philol. 1861 p. 722) denken an einen Virgilcommentar des Hygin.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. ]Q

242 Virgil in der Volkssage.

des zweiten Jahrhunderts, gestützt auf ältere Gewührsniüuner, ganz ausdrücklich von Besitzungen, welche Virgil in der Gegend von Nola gehabt haben soll, redet, was auch, da Virgil so oft hier verweilte, nichts weniger als unwahrscheinlich ist^). Jetzt verlegt die Sage den wunderbaren Garten nach Avella^) an die Abhänge des Monte Vergine, also ganz in die Nähe von Nola und verknüpft sich auf diese Weise nach zehn Jahrhunderten mit der Nachricht des Gellius, deren sie sich zu ihrer Erklärung bedient^). Auch das ist nicht unmöglich, dass die Sage von Heilkräutern sich auf einen hier wirklich einmal vorhandenen derartigen Garten, wie wir solche öfter im Mittelalter finden, bezieht ■*).

Ich habe mich absichtlich bei diesem Gegenstande länger auf- gehalten, weil sich daraus beweisen lässt, wie der Name Virgil's in der Ueberlieferung des Volkes in jenen Gegenden fortwährend erhalten blieb. Viele Sagen aus dem Mittelalter zeigen ganz den- selben Charakter. In dunklen Zeiten entstanden, brauchen sie lange Zeit zu ihrer Entwickelung und erscheinen dann mit einem Male in der Literatur in vollkommener Gestalt. Bei der Virgil- sage sind wir im Stande, aus der Geschichte ihren ersten Ursprung und den Eindruck, welchen Virgil's Persönlichkeit auf die Nea- politaner machte, zu erkennen, infolge dessen nach Jahrhunderten Virgil im Schimmer der Sage ganz verändert erscheint. Er ist nicht mehr der Augusteische Dichter, der herrlichste aller römischen

1) So meint auch Ribbeck, Prolegg. p. 25.

2) Die Cronica di Partenope versetzt ihn oberhalb AvoUa's „appresso Mercholiano". Mercogliano liegt jedoch Avellino näher als Avella, und deshalb meint vielleicht Roth (a. a. 0. p. 220) es müsse Avellino anstatt Avella gelesen werden. Aber S coppa sagt ausdrücklich: „supra Abellam nunc Avellani quam Virgilium in Georg, maliferam . . . nuncupat." Gior- dano (Cron.di Monte Vergine, p.85 ff.) behauptet sogar, dass Virgil in Avella seinen Sommeraufenthalt nahm. Natürlich konnte die Sage die Localität eines solchen Wundergartens nicht genau bestimmen. In der erwähnten Hds. heisst es, dass einige Mönche ihn gesehen haben wollten, da sie zufällig iu ihn hiueiugeriethen und dann nicht wussten, wie sie herauskommen sollten. Dasselbe erzählten andere Mönche im 17. Jahrhundert, und Giordano verzeichnet .sogar ihre Namen! Cron. di Monte Vergine, p. 92 ff.

3) Bemerkenawerth ist, dass die beiden neapolitanischen Sagen, von den Schlangen und den marmornen Köpfen sich auf das Nolanische Thor beziehen.

4) Vergi, das Epigramm 370 der Anthologia latina (Meyer): „De horte domini Oageis, ubi omnes herbae mediciuales plantatae sunt."

Virgil in der Volkssage. 243

Poeten, sondern, was ja die Neapolitaner mehr interessii-en musste, ein Mann von umsichtigem Geiste, der die Stadt Neapel in be- neidenswerther Weise ausgeschmückt und. so geliebt hat, dass er ihr noch im Grabe nahe sein wollte. Den ältesten Bestand theil der Sage bildet daher die Vorstellung von dem Protectorate, welches Virgil über Neapel ausübte. Und in der That findet sich dieselbe mit den ältesten Nachrichten, welche wir über den Virgil der uea- politanii^chen Sage besitzen, verbunden bei Johann von Salisbur}^, wo er von der broncenen Fliege spricht, und bei Alexander von Telese, welcher uns berichtet, dass Neapel und Calabrien von Au- gustus Virgil zu Lehen gegeben seien. Mit dieser ursprünglichen Vorstellung, in welcher die Sage recht eigentlich wurzelt, verknüpft sich eine andere für die Bildung des Mittelalters bezeichnende Thatsache. Seneca spricht nämlich im Anfange des sechsten Buches seiner „Qiiaestiones naturales" von einem starken Erdbeben, welches Campanien unter dem Consulate des Regulus und „Virginius" ver- wüstete ; Neapel blos blieb „leniter ingenti malo perstricta". Nun werden einige gewiss „Virgilius" für ,, Virginius" gelesen haben, und da man nicht wusste, was ein Consul zur Zeit Virgil's war, schloss man daraus, dass Virgil „Consul von Neapel" gewesen sei. Noch Padre Giordano, der Abt von Monte Vergine, welcher 1649 eine Chronik seines Klosters zusammenstellte, erzählt, dass Virgil von Augiistus zum Consul von Neapel gemacht sei, als Collegen im Amte aber den Regulus gehabt habe, und citirt dann die Stelle des Seneca vom Ausbruche des Vesuv ^). Wir können auch vermuthen, dass, wenn Alexander von Telese, ein Geistlicher, w^elcher unweit Neapel in Samnium lebte, von dieser Stadt wie von einem Lehen Virgil's spricht, dies mit jener Senecastelle im Zusammenhange steht, welche von einem Mönche aus Süditalien missverstanden, nun die Veranlassung bildete, die volksthüraliche Vorstellung vom Protectorate Virgil's über Neapel zu übertreiben. Es bleibt nunmehr nur noch übrig, das Resultat unserer Unter- suchung in einigen Worten zusammenzufassen.

In der ältesten Form der Sage unterscheiden wir zwei ver- schiedene Bestandtheile, erstens: Virgil's Berühmtheit und seine Liebe zu Neapel, und zweitens: den Glauben an einige öffentliche ihm zugeschriebene Talismane; jener, der sich auf historische That- sachen und örtliche Ueberlieferungen gründet, gehört Neapel aus- schliesslich an und geht vielleicht noch auf die Lebenszeit des

1) Croniche di Monte Vergine p. 84.

16^

244 Virgil in der Volkssage.

Dichters zurück; dieser ist jüngeren Datums und findet sich bei vielen mittelalterlichen Sagen, die sich auf antike Monumente be- ziehen, ist also nicht ausschliesslich neapolitanisch. Die Vorstellung des Mittelalters von der imbegrenzten Weisheit Virgil's und die Erinnerung an die Zuneigung des Dichters zu Neapel wurden dann das Bindeglied zwischen jenen beiden Bestandtheilen und bewirkten, dass mau dem Dichter zu Neapel Werke des Gemeinwols zu. schrieb, die man für die Schöpfungen eines tiefen und verborgenen Wissens ansah, wie man ähnliches in anderen Städten anderen Männern beilegte. Eine verächtliche Vorstellung ist in dieser Form der Sage durchaus noch nicht vorhanden, und der Gedanke an Bosheit und Teufelskunst noch ganz ausgeschlossen.

Ersieht man nun hieraus die Art und Weise, wie die Sage entstand, so bleibt nur noch zu untersuchen übrig, in welcher Zeit dies geschah d. h., wann unter dem neapolitanischen Volke zuerst der Glaube an jene Talismane aufkam und mit denselben den Namen Virgil's verknüpfte. Allein die schriftlichen Zeugnisse, welche uns zu Gebote stehen, antworten auf diese Frage nicht. Die älteste Erwähnung der Sage findet sich zuerst, wie wir sahen, bei Johann von Salisbury, also nicht vor der Mitte des zwölften Jahrhunderts. Daraus folgt freilich nicht, dass jene Vorstellungen nicht schon früher unter den Neapolitanern vorhanden waren. Wer das Mittel- alter kennt, weiss, wie oft die Bildung und Fortpflanzung der Sagen unter dem Volke lange im verborgenen bleiben, bis sie mit einem Male bei den Schriftstellern auftauchen, und wie wahr- scheinlich es ist, dass ein grosser Theil der Sagen vergessen worden und ganz unbekannt geblieben ist. Nichts hindert uns zu glauben, dass jene Virgilsagen älter als das zwölfte Jahrhundert sind. Dass sie aber gerade in dieser Zeit zum ersten Male an's Licht traten, darf nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass eben in jenem Jahrhundert das innere Leben der italienischen Städte sich entwickelte, besonders Neapels, welches aus seiner Vereinzelung in das neue, von Roger gegründete Königreich über- ging und vermöge seines Wachsthumes alsbald die Hauptstadt eines ansehnlichen Beiches wurde.

Indem wir aber, was die Entstehung der Sage betrifft, bis zu diesem Zeitpunkte vorgedrungen sind, bestätigt sich uns, dass das Eigenthümliche derselben in dieser ihrer ältesten Gestalt ihrem Ursprünge so wie den allgemeinen, oben von uns gemachten Be- merkungen durchaus entspricht: Virgil erscheint als einer, der die tiefen Geheimnisse der Natur kennt und sie zum Wole der von

Virgil in der Volkssagc". 245

ihm geliebten Stadi anwendet. Er ist weniger Zauberer, als vielmehr Gelehrter und versteht sich auf Dinge, die dem gemeinen Manne nicht verständlich sind. Und so gibt sich uns bei der Umwandlung des Ruhmes des Dichters ein Gesetz zu erkennen , welches fast dasselbe bei dem neapolitanischen Volke, das die Erinnerung an seinen alten Beschützer bewahrte, wie bei den Gelehrten ist, welche gewohnheitsmässig fortfuhren, seine Gedichte zu lesen und sie der Ueberlieferung nach zu bewundern. Daher kam es, dass jene neapolitanischen Sagen, nachdem sie kaum in die Literatur einge- drungen waren, vermöge der Vorstellung, welche die Gelehrten da- maliger Zeit von Virgil hatten, den Boden zu ihrer Aufnahme so wol vorbereitet fimden, dass sie darin Wurzel fassteu und bei ihrer Fortpflanzung mit wahrhaft überraschender Schnelligkeit entarteten.

Viertes Capitel.

Dass sich Volkssagen, die 'von Munde zu Munde und von einem Schriftsteller zum andern gehen, umwandeln, ist ein ganz bekanntes und feststehendes Gesetz. Ein kleiner Kern der Sage pflegt aber besondei-s auf zwei Weisen grosse Ausdehnung anzu- nehmen, entweder, indem er von der Phantasie des Volkes im Laufe der Zeit übertrieben und erweitert wird, oder indem sich andere schon vorhandene, vereinzelte oder zu anderen Gruppen gehörige Sagen an ihn ansetzen. Im Allgemeinen findet die Veränderung nach der ersten Art dann statt, wenn Sagen, zumal solche, denen eine locale, geschichtliche oder überlieferte Begebenheit zu Grunde liegt, den Boden, in welchem sie entstanden sind, verlassen. Wenn eine Sage der Art aus ihrer Heimath in ein anderes Land zieht, so kann sie dort nicht das gleiche Interesse finden, sondern wird zunächst missverstanden und umgestaltet. Dem Gefühle der Nea- politaner widerstand es, dem Virgil Teufelkskünste zuzuschreiben und zu glauben, dass der Beschützer Neapel's sich unehrenhafter Mittel zum Wole der Stadt bedient habe; das änderte sich aber, sobald die Sage sich in Europa verbreitete.

Von der „Ars mathematica" und der „Astrologie" war zur ,,Ars diabolica" nur ein Schritt, und es gab also gar keinen Grund, weshalb nicht Virgil dasselbe Schicksal wie Gerbert und andere bei'ühmte Mathematiker und Astrologen erleiden sollte, die man zu Schwarzkünstlern im schwärzesten Sinne des Wortes machte^).

1) Nach der mittelalterlichen Etymologie: „mantia, graece divi- natio dicitur, et nigro, quasi nigra, unde Nigromantia, nigra divinatio,

246 Virgil iu tler Volkssagc.

Der Uebergang war aber um yo leichter, da es sich bei Virgil um einen Heiden handelte. Viele Geistliche des Mittelalters liebten es ja, wie bereits bemerkt ist, die grossen Schriftsteller des Alter- thums in Misseredit zu bringen, indem sie dieselben wegen ihrer Kenntnisse und Talente, die sie besonders den höllischen Mächten verdanken sollten, als Anbeter des Teufels darstellten: Vorurtheile, die zwar nicht der gesanimten Geistlichkeit eigen waren, sich aber doch lange genug erhielten.

Bedenkt mau diesen Umstand, so wird man die Veränderungen und Erweiterungen erklären können, welche die Virgilsage erlitt, als sie mit reissender Schnelligkeit das civilisirte Europa durchlief und der zügellosen Phantasie der Bänkelsänger anheimtiel. Diese mussten, da sie gezwungen waren, ihre Zuhörer zu fesseln und ihren Handwerksgenossen Concurrenz zu machen, vor allen Dingen auf ein reiches Repertorium von Erzählungen bedacht sein, um im Falle der Missbilligung ihrer Zuhörer^) den Stoff rasch wechseln zu können und zugleich ihre Kenntniss aller möglichen Sagenkreise zu entfalten'''). Man begreift, mit welcher Begier sie sich eines jeden neuen Stoffes bemächtigt haben werden. Auch die Virgilsage tiel, nachdem sie Neapel vei'lassen hatte, in ihre Hände und war im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts schon ganz bekannt. In einem langen Gedichte des Troubadours Giraud de Calan9on, das wol zwischen 1215 1220^) verfasst ist, wird ausführlich von dem gesprochen, was ein geschickter Bänkelsänger zu wissen braucht. Der Aufzählung aller der Instrumente, die er spielen muss, der Künste und Sprünge die er zu macheu hat, folgt ein langes Re- gister von Erzählungen, theils Romanen, theils Novellen in Versen.

quia ad atra dacmonioium vincula utcntcs se adducit." Sic ist also keine ars liberalis, denn: „sciri libere potest, sed opurari sine daemonum fa- miliaritate nullatenus valet." So in einer Wiener Hds. bei Reiffenberg, Chron. rim. de Philippe Mouskes, I, p. 6.

1) Darauf spielt eine Stelle aus der „Gemma Ecclesiastica" dos Giraldus Cambrensia (1197) an mit Beziehung auf einige Priester: ,, Simile« sunt cantantibus fabulas et gesta, qui videntes cantilenam de Laudcrico non piacere auditoribus, statini incipiunfc cantare de Wacherio; quod si non placuerit, de alio." Giraldi Cambrensis opera, ed. Brewer, il, (Lond. 1862), p. 290.

2) Graessc, Die grossen Sagenkreise des Mittelalters, p. 6 tf.

3) Hist. litt, de la France, t. XVII, p. 580.

Virgil in der Volkssago. 247

Darunter finden sich denn auch Virgilsagen '), und zwar sowol die vom Wundergarten, wie andere nicht neapolitanischen Ursprungs, von denen später die Rede sein wird. Jedermann sieht ein , wie diese „Cantores francigenarum", welche Dichter, Gaukler und Possen- reisser in einer Person waren, mit den Legenden umspringen mussten. Kam es ihnen doch nur darauf an, die Zuhörer zu fesseln und denselben das Geld aus der Tasche zu locken. Es versteht sich ganz von selbst, dass Virgil unter ihren Händen ein Schwarzkünstler ersten Ranges werden musste.

Nicht viel anders war aber das Schicksal, welches Virgil bei den Schriftstellern zu Theil wurde. Im Dolopathos^) zeigte sich uns Virgil, obgleich er schon in Folge der literarischen Ueber- lieferung bereits zu einer ganz idealen Figur geworden war, noch ohne Beziehung zur Magie. In der französischen Uebersetzung des Dolopathos in Versen, welche Herbers im dreizehnten Jahr- hundert anfertigte, findet sich nur eine einzige Anspielung auf Zauberei. Es heisst dort nämlich von dem Büchlein, in welchem Virgil die sieben freien Künste für seinen Schüler Lucinian zu- pammengefasst hatte, dass der Dichter dasselbe, als er starb, so fest in der Hand gehalten habe und zwar

„Par engiu et par nigromance Dont il sot tote la science^)",

dass man es ihm nicht entreissen konnte. Freilich hat hier die „Zauberei" noch ein ziemlich unschuldiges Aussehen*). Man weiss nicht, ob Dam Gehan, der erste Verfasser des Dolopathos ,' diese Geschichten aus eigenem Antriebe wegliess, oder, als er im Jahre

1) E de Virgili

Com de la conca a saup cobrir

E del vergier

E del pesquier

E del foc que saup escantir. Diez, D. Poesie d. Troubadours, p. 109. G ras ss e, a. a. 0. p. 21 ff. Fauriel, Hist. de la poesie prov. IH, p. 495.

2) Vgl. Theil I, Gap. 16.

3) Li Romans de Dolopathos, publié par MM. Ch. Brunei et Anat. de Montaiglon. Paris (Jannet), p. 384.

4) Roth bringt mit Unrecht, wie auch u. a. Grimm (Die Sage von Polyphem, p. 4.) that, den lateinischen Text des Dolopathos mit der H istoria Septem sapientium zusammen. Letztere ist nicht das Original, sondern die lateinische Umarbeitung des „Roman des sept sages." Ich kann dies jedoch hier nur andeuten.

248 Virgil in der Volkssagc.

1184 das Buch veifasste \i, noch nicht gekannt hat. Jedenfalls spricht vor Gervasius und Konrad schon Neckam, welcher, wie wir sahen, wol nicht in Neapel war, von den Wunderwerken Virgil's.

Abgesehen von der Fleischbank erzählt nämlich Xeckam, dass Virgil") vermittelst eines goldenen Blutegels") Neapel von deu zahllosen Blutegeln, welche das Wasser verdarben, befreite, dass or eine eherne Brücke baute, auf der man überallhin gelangen konnte, und seinen Garten mit einer gleich einer Mauer undurch- dringlichen Luftschicht umgab. Von einer anderen Sage , die er ausserdem erwähnt, soll weiter unten die Rede sein.

Ein Schriftsteller, welcher schon vor Gervasius einige Virgil- sagen kannte, ist ferner der Mönch Elinandus, der Verfasser einer im Mittelalter viel gelesenen lateinischen Chronik*), die Vincenz von Beauvais in sein „Speculum historiale" aufgenommen hat. In dieser Chronik, welche bis zum Jahre 1204: reicht, spricht Eli- nandus, ausser von der broncenen Fliege, den Bädern, der Fleisch- bank und dem Garten, in dem es, wie er sagt, niemals regnet, zum ersten Male von einem Glockenthurme des Virgil, der sich, wenn die Glocken erklangen, mit diesen bewegte^), und erwähnt dann auch gleich Neckam die „Salvatio Romae". Die Nachricliteu, Avelche wir über Elinandus besitzen''), so wie der Charakter einiger von ihm erwähnten Sagen machen .es nicht wahrscheinlich, dass

1) Dies Datum scheint mir das richtigste zu sein. Vgl. Güdcke, Orient und Occident, III, p. 395. Die französische Uebersetzung von Herbers gehört gewiss ins 13. Jahrhundert.

2) De naturis rerum, cap. 174. Nach Neckam referirt die Virgil be- treffenden Erzählungen W. Burley, De vita et moribus philosophorum, cap. 103.

3) Anders Pseudo- Villani. Nobile, Descriz. della città di Napoli, li, p. 781, schreibt wie folgt: „La capella di S. Giovanni a Pozzo bianco segue più innanzi al principio del vicolo dell' arcivescovado, anticamente detto Gurgite; ed era così denominato perchè l'altro vicolo che gli sta dirimpetto, aveva fino ad un secolo fa un pubblico pozzo ornato di marmo bianco, e sovr' esso sanguisughe scolpite, di cui il cronista nostro Giovanni Villani, seguendo l'ignoranza del volgo, dice che Vii-gilio Ma- rone sotto la costellazione dell' Aquario aveale fatte scolpire etc."

4) Publicirt im 7. Bande der Biblioth. patr. cistercensium von T i 8 s i e r.

5) Vincenz von Beauvais zweifelt an der Erzählung, weil die Er- findung der Glocken jünger als Virgil sei. (!)

6) Vgl. Eist. litt, de la France, t. XVIII, p. 87 ff.

Virgil in der Volkssage. 249

er jemals in Neapel'geweseii ist. Wir tindeu bei ihm wie bei Neckam bereits die Anzeichen der Verwandlung, welche die Sage ausser- halb ihrer Heimath erlitten hatte. Man darf ferner nicht ver- gessen, dass Elinandus fi-üher ein durch seine Gesänge sehr be- liebter Troubadour war; er selbst beklagt diese seine Vergangen- heit^) und sagt, dass es keinen öffentlichen Ort, kein Fest gegeben habe, bei welchem er nicht seine Stimme habe ertönen lassen. Daher kömmt es vielleicht, dass er da, wo er von seiner Zeit spricht, sich auf keine Thatsachen einlassen will, sondern nur von Phantastereien aller Art, Träumen, Visionen, Wundererschei- nuugeu und Legenden, die sich besonders auf Virgil beziehen und in denen sich der alte Troubadour verräth, spricht. Vincenz von Beauvais und Alberich von Trois-Fontaines haben dieselben ge- treulich wieder erzählt.

Gewiss hatten auch die Deutscheu, welche den französischen Dichtern nachahmten, eben durch diese von dem Zauberer Vii:gil zuerst gehört. Wolfram von Eschenbach lässt in seinem zwischen 1203 1215 verfassten und aus französischen Quellen abgeleiteten^) „Parzival" vom Zauberer Virgil seineu Klinschor abstammen, welcher, wie er sagt, in „Terra die Lavoro" geboren ward, und in derselben Weise wird Virgil auch von andern deutscheu Dichtern während des dreizehnten Jahrhunderts behandelt; hierhin gehören: Boppo, Frauenlob, Rumeland, der Verfasser des Reinfrit von Braunschweig u. A.^). Während also einerseits die Virgilsagen von Gauklern, Minnesängern und Dichtern aller Art theils mündlich theils schriftlich fortgepflanzt wurden, erlangten sie anderseits durch ihre Aufnahme in viel gelesene wissenschaftliche Bücher und Re- pertorien, wie die des Gervasius, Neckam, Elinandus, Vincenz von Beauvais u. s. w. eine noch grössere Berühmtheit.

Fünftes Capitel.

Erwägt man den Standpunkt, auf welchem sich die Literatur des Mittelalters befand, so wird man leicht bemerken, dass sich an dem Virgil der neapolitanischen Volkssage gar bald die ün-

1) „Non scena, non circus, non theatrum, non amphitheatrum, non forum, non platea, non gymnasium, non arena sine eo resonabat." De reparat. lapsi, p. 318.

2) Vergi. Rochat in Pfeiffer's Germania, III, 81 ff. und IV, 411 ff.

3) Vergi. V. d. Hagen, Gesammtabenteuer, 111, p, CXL fi'.

250 Virgil in der Volkssape.

möglichkeit herausstellen miisste, denselben mit dem ganzen Ideen- krelse, mit welchem der Name des Dichters zusammenhing, zu vereinigen. Die neapolitanische Sage hatte Virgil nur mit Neajiel in Verbindung gebracht. Das hörte nun auf, sobald die Sage sich ausbreitete. In der That hatte ja der Aufenthalt des Dichters in Neapel in der literarischen üeberlieferung nur eine untergeordnete Bedeutung. Als eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der antiken Römerwelt musste Virgil nothwendig von der Sage auch mit der Hauptstadt des Kaiserreiches in Berührung gesetzt werden. Rom und Virgil waren zwei Begriffe, die sich in gewissen Ideenkreisen so nothwendig gegeuteitig anzogen, dass sich auch der Virgil der Sage von dem Rom der Sage nicht trennen liess. Er, der so viel für Neapel gethan hatte, sollte für das goldene Rom, das Hauijt der Welt, dessen Ursprung er in seinem unsterblichen Gedichte ver- herrlicht hat, nichts gethan haben? Diese Lücke in der Sage wurde denn auch ausgefüllt, sobald sie begann, sich in Europa zu verbreiten. Schon bei Alexander Neckam und Elinandus finden wir eine römische Sage mit der neapolitanischen verknüpft. Grosse Erfindungsgabe war dazu nicht nöthig. Wenn in Neapel der Glaube an jene Talismane auch unabhängig von der Berühmtheit Virgil's vorhanden war, und das Volk den Namen des Dichters nur auf jene Werke übertrug, so gab es auch in Rom seit alter Zeit ähnliche Erzählungen, und es war also nicht schwer, nach dem Beispiele Neapels Virgil mit denselben in Beziehung zu l)ringen. Der Unterschied besteht nur darin, dass die neapolita- nischen Virgilsagen Werk des Volkes, die römischen dagegen durch Schriftsteller und Dichter spater von aussen herein gebracht waren.

Alexander Neckam erzählt, dass Virgil in Rom einen schönen Talast erbaute und mit Bildsäulen ausschmückte, welche die unter- worfenen Völker darstellten und je eine Glocke in der Hand hielten. Sobald eine Provinz auf Abfall sann, begann die be- trefi'ende Bildsäule mit der Glocke zu läuten. Darauf schwang ein broncener Krieger, der auf der Spitze des Palastes stand, seine Lanze nach der Richtung hin, wo jene Provinz lag, und so hatten die Römer Zeit, Truppen auszurüsten und konnten die Aufstän- dischen unterdrücken. Merkwürdig ist, dass Neckam, welcher hier dem Virgil diese Wunderwerke zuschreibt, in seinem Gedichte „De laudibus divinae sapientiae'j", einem Au.<zuge aus seinem

1) Dibt. 5. v. 290 S. (p. 447).

Virgil in der Volkssage. 251

Buche „De naturis rerum", zwar dieselbe Sage wiederholt, sie aber nicht auf Virgil bezieht. Fast dasselbe erzählt unabhängig von Ncckam Elinandus, welcher aber doch auch nicht sicher weiss, ob jene Schöpfung von Yirgil herrührt; er sagt nur: ,,creditur a quibusdam".

Dass sich das römische A^olk bei seiner Unwissenheit, in welche es die Geistlichkeit wie die Barbaren im Mittelalter gestürzt hatten, von den vorhandenen Denkmälern der Stadt keine Eechen- schaft mehr zu geben wusste und alle möglichen Sagen auf die- selben anwandte, darf um so weniger auffallen, als ganz dasselbe unter dem Volke noch zu weit erleuchteteren Zeiten stattfand. Die Masse von Erinnerungen, welche auf Kom lastete, war so gewaltig, dass z\im richtigen Verständnisse jedes Denkmals historische Kennt- nisse gehörten, die keine Stadtbevölkerung besitzt. Das stolze Gefühl, Nachkommen der Römer zu sein, wurde freilich durch jene erhabenen Monumente aufrecht erhalten, aber die Erinnerung an Einzelheiten beschränkte sich nur auf diesen oder jenen Namen und auf Sagen. Die gewaltige Grösse dieser Denkmäler musste dagegen noch weit mehr die sagenbildende Thätigkeit der Fremden anregen, welche nach Kom mit jener Frische des Geistes kamen, wie sie Völkern, deren Civilisation noch jung ist, eigenthümlich zu sein pflegt, und welche unfähig, die Avunderbaren Schöpfungen der lömischen Macht zu begreifen, noch von den Ueberbleibseln derselben überwältigt wurden. Wenn sie dann nach Hause kamen, erzählten sie, was sie gesehen hatten, nicht ohne Uebertreibung, imd der, welcher ihnen nacherzählte, übertrieb wieder: so bildete sich die Sage.

In vielen derartigen, bei ausserrömischen Schriftstellern er- haltenen Erzählungen zeigt sich die blose Thätigkeit der durch starke Eindrücke angeregten Phantasie, welche fern von den Oertern, auf die sich die Sage bezog, schafft und wirkt. Die weit einfacheren und weniger phantastischen römischen Sagen gründeten sich auf irgend ein noch vorhandenes Monument, dessen Bestimmung und Namen nur die Sage veränderte; so erblickte man in einem ge- weihten Schiffe die Barke, in welcher Aeneas nach Italien ge- kommen war^j. Die durch Dante verherrlichte Erzählung von

1) Procop., Bell. Goth. IV, 22. Becker denkt an ein Modell oder an irgend eine Curiosität: Handb. d. röm. Alt. I, p. 161. Nach Wilhelm von Malmesbury (II, c. 13) [a. d. J. 1045] hätte man iu Rom das Grab des Pallas entdeckt: „tunc corpus Pallantis filii Evandri de quo Virgilius

252 Virf^il in ilor Volkssage.

Tiajau und der Wittwe bctitaud schon, ehe mau sie auf Trajan anwandte *). Vielleicht gab das Relief eines Triumphbogens, welches den Kaiser zu Ross und vor ihm knieend die unterworfene l'rovinz darstellte, den Anstoss dazu. Der Palast, der von Neckani und Eliuandus dem Yirgil zugeschrieben wird und im Mittelalter unter dem Namen „Salvatio Romae^)" wolbekannt war, ist aus den verworrensten Erinnerungen an das Pantheon, Colosseum und Capitol, so wie an die Bildsäulen der verschiedenen Nationen, welche das Theater des Pompejus schmückten, und von denen sich Nero in Augenblicken der Gewissensqual angegriffen glaubte, entstanden; das Bindemittel dazu bildete die abergläubische Vor- stellung von der Art und Weise, wie man die Bewachung über ein so weites Reich ausüben konnte. Diese Legende, die gewiss nicht in Italien entstand, wurde überall im Mittelalter erzählt, ohne dass dabei Virgils gedacht wurde. Bei dem Griechen Kosmas (8. Jahrh.)^), wie bei anderen Schriftstellern wird sie zuerst auf das Capitol bezogen, welches seitdem als eins der sieben Wunder der Welt galt, und ich vermuthe, dass der erste Grund dazu in der Erzählung von den Gänsen des Tempels besteht, die einen Hauptruhm des Capitols ausmachten, und dass die Sage von By- zanz aus sich im Orient verbreitete. Es ist dies um so wahr- scheinlicher, da sich in einigen arabischen Sagen ein Anklang an dieselbe Erzählung, wobei die „Salvatio Romae" auf Aegypten un- gewandt wird, so wie an die Geschichte von dem wunderbaren Spiegel findet, von der sogleich die Rede sein wird*). Später

uarrat, Romae repertum est, ingenti stupore omnium. Hiatus vulueris quod in medio pectore Turnus fecerat quatuor pedibus et semis mensu- ratum est." Ich zweifle, dass diese Sage von gewiss gelehrtem Ursprünge, sich auf eine wirkliche Entdeckung bezieht und von irgend einem rö- mischen Archäologen herrührt, wie Gregorovius, Gesch. d. St. Rom IV, p. 6'26 meint.

1) Vgl. Massmaun, Kaiserchronik, III, 753 ff.

2) Wird auch „Consecratio statuarum" genannt.

3) Mai, Spicilegium Romanum, II, p. 221.

4) Der König Sarca f „fece un anitra d'ottone e la pose alla porta della città su di una colonna di marmo verde; quando uno straniero ve- niva nella città questa anittra batteva le ali e gridava in modo che tutti gli abitanti udivano, e così arrestavano Io straniero." Vgl. Orient und Occident, I, p. 331, 335, 340, und Liebrecht, ebenda III, 360, 363. Florus spricht bei der Erzählung von Manlius nur von einer Gans. Auf dem Schilde des Aeneas bei Virgil ist nur eine silberne Gans. Aen. VIII,

Virgil in der Volkssage. 253

wird sie daun auch auf das Pantheon ^j und auf das Colosseum bezogen. In einer dem Beda zugeschriebenen Schrift aus dem achten Jahrhundert wird die Salvatio Bomae gleichfalls als eins der sieben Weltwunder bezeichnet '') ; desgleichen in einer Wessobrunner Handschrift des achten Jahrhunderts^) bei einem Anonymus von Salerno aus dem zehnten Jahrhundert*), in einer vatikanischen Handschrift des eilften Jahrhunderts^), in den „Mirabilia urbis Romae", dem bekannten, später vielfach veränderten Fremd führer'''), der aber gewiss schon im zwölften Jahrhundert^) banden war und endlich auch bei Jacopo da Voragine dreizehnten Jahrhundert«), welcher dabei an Teufelskunst dehkt=^)

len- V or- ini

652 ff. Dante, De Monarch, sagt: „anserem ibi ante non visum cecinisse Gallos adesse." Im Soldatenliede von Modena heisst es: (10. Jahrb.).

„Vigili voce avis anser candida

fugavit Gallos ex arce romulea

pro qua virtute facta est argentea

et a Romanis adorata ut dea." bei Du Méril, Poésies pop. lat. ant. au XII sièc. p. -200. - Massmann will die Sage erklären, indem er sie auf die von selbst sich bewegenden Statuen neben einigen Uhren, wie sich eine solche auch auf dem Capitol befand, bezieht; Kaiserchr. Ili, 425. Er hält ihren Ursprung für deutsch (p. 424); derselbe ward aber vielmehr byzantinisch sein.

1) So auch Lodovico Dolce:

„Non la Ritonda or sacra, e già profana, dove tante statue erano poste Che avean legata al collo una campana." ,Jl primo volume delle op. buri, del Berni etc." II, p. 271.

2) Libellus de septem -orbis miraculis, bei Beda, Op. I, 400.

3) Massmann, Kaiserchr. IH, 426.

4) Muratori, Rer. it. scr. II, 2 p. 272.

5) Preller im Philologus I, lO.S.

G) Graesse, Beitr. z. Liter, u. Sage d. Mittelalt. p. 10.

7) Die erste kritische Ausgabe der „Mirabilia Romae ex codd. vatt. emendata" von Parthey, Berol. 1865 dann Jordan: „Topographie der Stadt Rom im' Alterthum" II, Berlin 1871 p. 605 ff, dessen Aufsatz (p. 357 ff) über die Geschichte des Textes wichtig ist. Endlich Urlichs (C. L.) im „Codex urbis Romae topographicus" Würzburg. 1871 p. 126 ff

8) Legenda aurea, n. CLVII.

9) In der bereits citiiten Hds. wird sie ein Werk der Astrologie ge- nannt: „Per hanc artem Romae senatores necem virorum et bella in oris barbaris facta, regumque etregnorum detrimentum, statum et stabili- nientum noverunt. Vgl. Reiffenberg, Chron. rim. de Philippe Mouskes, I, p. 628.

254 Virgil in tkn- Volkssage.

Sie alle sprechen von dem Wunderbau, ohne denselben dem Virgil zuzuschreiben, was wieder andere nach Neckam und Elinandiis thaten^). Um diese Sage auf Virgil zu beziehen, bedurfte es je- doch eines Bindemittels, welches die letzte Entwicklung der Sage bildet, sobald nämlich der Dichter wieder wie in der literarischen Ueberlieferung des Mittelalters zum Propheten Christi wird. Davon soll im nächsten Capitel gehandelt werden. Um das Verschwinden eines so herrlichen Baues zu erklären, berichtet der Anonymus von Salerno, dass jene Bildsäulen nach Byzanz gebracht und dort vom Kaiser Alexander (fölo), der sie in hohen Ehren hielt, mit seidenen Gewändern bekleidet wurden, dass aber später der hei- lige Petrus ihm im Traum erschienen sei und zornig zugerufen habe: „Ich bin der er.>^te der TJümer", worauf der Kaiser plötzlich .starb.

Auf diese Weise tritt also der Virgil der Sage zuerst in Be- rührung mit Rom. Obwol wir wissen, dass Virgil auf dem Estpiilin ein Haus besass'"^), geht doch aus seiner Biographie nicht hervor, ob er daselbst gewöhnlich verweilt habe^); auf keinen Fall blatte er dort ein Andenken wie in Neapel zurücklassen können. Die Bevölkerung einer Kiesenhauptstadt wie Rom konnte unmöglich von der Persönlichkeit Virgil's einen so dauernden Eindruck em- pfangen, so sehr man auch sonst den Dichter dort zu schätzen wusste. Wo wir also in Rom Virgil's Namen mit irgend einem

1) Die reichste Sammlung von hierauf bezüglichen Texten bei Mass- maun, Kaiserchr. 111, 421 H". Wir fügen hierzu folgendeu unedirten italie- nischen Text: ,,üua porta artificiata era in Roma sotto il monte Giauiiolo dove anticamente abitò il re (ìiauo primo re d'Italia da cui è nominalo il monte Gianicolo. La detta porta era di metallo ornata maravigliosamente e con grande artificio, perocché quando Roma, quella nobilissima città, aveva pace, stava la detta porta sempre serrata, e quando si ribellava alcuna provincia, la porta per stessa si apriva. Allora li romani corre- viino al Pantheon, cioè S. Maria Rotonda, dove erano iu luogo alto statue le quali rappresentavano le provincie del mondo. E quando alcuua si ribellava, quella cotale statua voltava le spalle e però li romani quando vedevano la statua volta, s armavano le milizift, e prestamente andavano iu quella parte a riacquistare'" Libro imperiale, .3, 8 (cod. S. XV, Magliii- becchiana XXII, 9).

2) „Habuitque domum Romae Esquiliis juxta hortos Maeceu.itis, quamquam secessu Campaniae Siciliaeque plurimum uteretur." l)on;tt. Vit. Verg. p. 57.

3) „Si quando Romae, quo rarissime commeabat, viserotur in publico etc." Donat. Vit. Verg. p. 57.

Virgil in der Volkssage. 255

Momente verknüpft finden, da war es nicht die Folge einer volks- tUümlichen Ueberlieferung, sondern nur der Wiederliall von Virgil- sagen, die ausserhalb Rom's enstanden waren.

Sechstes Capitel,

Im dreizehnten Jahrhundert finden wir die Virgilsage, die schon über ganz Europa verbreitet war, vielfach erweitert und um- gestaltet besonders in viel gelesenen französischen Volkspoesien. Hierhin gehören jene im Jahre 1225 unter dem Namen „Image du monde" verfasste und ohne Grund dem Walther von Metz zuge- schriebene Art von Encyklopädie '), der „Roman des sept Sages"), der in Vers und Prosa in alle möglichen Sprachen übersetzt eines der populärsten Bücher in Europa war, so wie der von Adéuès gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts^) geschi'iebene versificirte Roman „Cleomadès".

Im Jahre 1319 erscheint die Virgilsage in dem noch nicht herausgegebenen*) „Renart contrefait", so wie sich ferner Theile derselben in Sammlungen von Anekdoten und Erzählungen finden, welche zum Gebrauch der Moralisten und Prediger angelegt waren und zur Erbauung der Gläubigen allegorisch ausgelegt zu werden pflegten. Der Art sind einige Bearbeitungen der „Gesta Roma- norura^)", so wie die von diesen abgeleitete Schi'ift, „Violier des histoires romaines^)". Dem dreizehnten Jahrhundert gehört auch

1) Vgl. Eist. litt, de la France t. XXIII, p. 309; Du Méril, Mélauges, p. 427 ff.

2) Keller, Li Romans des sept Sages, p. CCIII S. 153 ff; Derselbe: Dyocletianus Leben von Hans von Bühel p. 57 ff.; Loiseleur Des- longchamps, Essai sur les fables indiennes, p. 150 ff. D'Ancona, 11 libro dei sette Savi di Roma, p. 50 ff., 115 ff.

3) Hist. litt, de la Fr. XX, 712 ff. Du Méril, Mei. arch. 435 ff; Li Roumaus de Cleomadès, per Adénès li Rois, pubi. p. 1. p. fois par André van Hasselt, Brux. 1865—66, I, 52—58.

4) Du Méril, Mélanges, 440 ff.

5) Gesta romanorum hrsg. v. Ad. Keller, Stuttg. u. Tübing. 1842 und deutsch übersetzt von Graesse, Dresden u. Leipz. 1847. Vgl. Wartou, Dissert. on the Gesta Romanorum in seiner Historj^ of eng- lish poetry I, p. CXXXIX ff. Douce, Dissert. on the Gesta Romanorum in seinen Illustrations of Shakespeare. (Lond. 1836) 519 ff. Gesta Roma- norum hrsg. V. H. Oesterley, Beri. 1871, wovon bis jetzt erst das erste Heft erschienen.

6) Le Violier des histoires romaines, nouv. édit. p. M. G. Bruuet. Paris (Jannet) 1858.

256 Virgil in der Volkssage.

die von dem Wiener Jans Enenkel (1250) in Versen abge- fasste Weltchronik an, in der sich gleichfalls einige Virgilsagen finden.

In allen diesen Bearbeitungen gilt natürlich Rom als das haupt- sächlichste Feld für Virgil'i? Thätigkeit. Die neapolitanischen Sagen blieben dabei bestehen und wurden nur auf römischen Boden ver- setzt und durch römische Sagen erweitert. Die Sage vom ,^Caste] delio vo" hatte ganz ei'schr ecken de Verhältnisse angenommen: es handelte sich jetzt nicht mehr um einen einfachen Talisman, son- dern nach der „Image du monde" ruhte jetzt die ganze Stadt auf einem Ei und gerieth ins Schwanken, sobald das Ei sich be- wegte :

„Que quant aucuns l'uef reniuait

Toute la ci en crolait."

Im Cleomadès heisst es hingegen, dass zwei solche im Meere liegende Schlösser auf einem Eie ruhten, und dass, als Jemand einmal versuchte, eins der Eier zu zerbrechen, sofort das eine Schloss untersank; es blieb nur das andere übrig, welches noch heute in Neapel „auf seinem Eie" zu sehen ist:

„Encor est l'autres chastiaus Qui en mer siet et bons et biaus: Si est li oes, c'est vérités, Seur quoi li chastiaus est fondés."

Die Idee der „Salvatio Romae" verband sich ferner mit einer alten orientalischen Vorstellung von einem Spiegel, in welchem man alles Zukünftige erschauen könnte. „Benjamin von Tudela")" er- wähnt einen solchen Spiegel auf der Spitze des Leuchtthurmes von Alexandria, den Alexander dort angebracht haben soll, und in welchem man bis auf fünfhundert Parasangen alle Kriegsschiffe, die gegen Aegypten heranzogen, sehen konnte ^j. Die „Salvatio Romae"

1) Der gauze darauf bezügliche Theil bei v. d. Hageu, Gesaninit- abeuteuer, II, 513 ff.

2) Itinerario I, p. 155 ff. (Asber.) Vgl. de Guignes, Memoires et extraits des ^ISS. etc. I, 26; Reinaud, Monumens arabes, persans et turcs II, 418; Loiseleur, Essai sur les fahles indiennes,p. 153; Norden, Voyage, III, 1G3 ff.

3) Zwei Spiegel figuriren auch in den arabischen Sagen bei Wüsten- feld, Orient und Occident I, 331 ff. Im Titurel hat der Presbyter Jo- hannes einen ähnlichen Spiegel. Vgl. v. d. Hagen, Briefe in die Hei- math, IV, 119; Oppert, Der Presbyter Johanne.s in Sage und Geschichte,

Virgil in der Volkssage. 257

verwandelte sich in einen eben solchen SjHegel, welcher in dem „Roman des sept Sages", im „Cleomadès" und „Renart contrefait" dem Virgil zugeschrieben wird. Aus dem „Roman des sept Sages" erfahi'en wir auch, wie dieser Spiegel leider zu Grunde ging: Ein fremder König je nach den verschiedenen Versionen ist es ent- weder ein Ungar, Karthager, Deutscher oder Apulier, welcher das Joch der Römer nicht mehr ertragen mochte, nahm das Anerbieten dreier Ritter an, die den Spiegel zerschlagen wollten: In Rom au- gekommen, vergruben sie an mehreren Orten Gold und gaben sich für Schatzgräber aus. Der habgierige Kaiser gedachte nun, ihre Kunst auf die Probe zustellen, und darauf gruben, jene ihr eigenes Gold aus. Nachdem sie so den Kaiser sicher gemacht hatten, sagten sie ihm, dass sieh ein grosser Schatz unter dem Pfeiler des Si^iegels finden müsse, und wurden beauftragt, diesen Schatz zu heben. Sie zerstörten den Pfeiler, legten Holzstützen unter den Spiegel und steckten diese in Brand. Bei Nacht entflohen sie, imd der Spiegel zerbrach in tausend Stücke. Die Römer aber, empört über die Zerstörung ihres Kleinods, zwangen den Kaiser, geschmolzenes Gold zu trinken. Die Erzählung, deren Schluss an die bekannte Anekdote aus der römischen Geschichte erinnert, findet sich auch ohne Beziehung auf Vii-gil und den Spiegel in der Novelle des „Pecorone" erzählt, welche folgenden Titel hat : „Chello und Janni von Velletri seben sich zum Schaden der Stadt Rom als Wahr-

p. 175 ff. Auch Catharina dei Medici soll einen solchen Spiegel gehabt haben. Vgl. Reinaud, Monumens arabes, persans et turcs II, p. 418. G. Batt. Porta, Magia naturalis (lib XVII, cap. 2) gibt sogar die Ge- heimmittel dazu an: „ut speculis planis ea cernantur quae longe et in aliis locis geruntur." Nach einer Version der mittelalterlichen Sage soll sogar das Trojanische Palladium ein solcher Spiegel gewesen sein; vgl. Caxton, Troye Boke, 11, c. 22 bei Du Meril, Me'l. p. 470. Auch in unserer Zeit werden derartige Spiegel in den Volkssagen erwähnt; vgl. Afanasieff, Narodnyia russkiia skazki, VII, 2, 41, VIII, 18; Schott, Walachische Märchen, 5, 13; Haltrich Deutsche Volksmärchen, 30 etc. Meist sind es kleine tragbare Spiegel. Einen solchen besass auch Virgil nach den Gesta Romanorum (c. 102, Keller). Mittelst desselben enthüllte er einem Ehemanne die Untreue seiner Gattin und ihre Zauberkünste, mit denen sie den Ersteren tödten wollte. Vgl. v. d. Hagen, Erzäh- lungen und Märchen; Scheible, Das Kloster II, 126 tf.; Simrock, Die deutschen Volksbücher VI, p. 380 ff. Vielleicht beziehen sich auf diese Sage die in einigen Museen aufbewahrten magischen Virgilspiegel. Ueber den Aberglauben, der im Mittelalter hieran haftete s. Papencordt, Cola da Rieuzi, c. VI; Orioli, Biblioteca italiana, I, 1841, p. 07—90; Du Méril, Mélanges, p. 469 ff.; Dunlop-Liebrecht, p. 201.

Comp aretti, Virgil im Mittelalter. 17

258 Virgil in der Volkssage.

sager aus. An dem Hofe des Crassus empfangen, graben sie für diesen Gold aus, welches sie selbst erst verborgen hatten, und sagen ihm dann, dass sich unter dem s. g. Thurme des Tribunen ein grosser Schatz befände^). Crassus lässt Stützen an demselben aufstellen, und sie zünden den Thurm an; in der Nacht fliehen sie aus Rom, aber am Morgen stürzt der Thurm ein und erschlägt viele Römer ^)". In dieser Sage handelt es sich also nur um die soge- nannte „Torre del Tribuno", in welcher „von Metall verfertigt die Bilder aller derer in die Aussenwaud eingefügt waren, welche in Rom zu Ruhm oder Triumphen gelangt waren, und galt dieser Thui-m für das Köstlichste, was Rom besass." Die Novelle steht in engster Beziehung mit einer von Flamiuius Vacca ^), dem Archäologen des sechzehnten Jahrhunderts, erzählten Geschichte, welcher aber die Zerstörung den Goten zuschreibt.

Nachdem nun Virgil einmal zu einem vollkommenen Zauberer geworden war, verknüpfte man mit seinem Namen das, was man früher auch von anderen Männern, denen dasselbe Schicksal zu Theil geworden war, erzählt hatte. Einer der bekanntesten unter ihnen war Gerbert, der Papst Sylvester II., welcher für einen Zauberer galt, weil er sich mit Mathematik und Mechanik zu einer Zeit abgab, in welcher diese Beschäftigung als höchst anstössig für einen Geistlichen, zumal für einen Papst erschien. Eine

1) Vgl. Gower, Confessio amantis 1. 5. Froissart, Poésies p. 270. Hierauf bezieht sieh auch der iu dem französischen Gedichte Bai an er- wähnte ,,Castiaus-Miróour" von Roui; vgl. G. Paris, Ilist. poet. de Charlemagne, 251.

2) Pecorone, giorn. 5. nov. 1. Auch der Spiegel von Alexaudiüa wurde nach Benjamin von Tudela von einem feindlichen Griechen zerstört.

3) „Mi ricordo che al tempo di Pio IV capitò in Roma un Goto con un libro antichissimo, che trattava di un tesoro, con una serpe, ed una figura di bassorilievo, e da un lato aveva un cornucopio, e dall' altro accennava verso terra; te tanto cercò il detto Goto che trovò il segno in un fianco dell' arco; ed andato dal Papa gli domandò licenza di cavare il tesoro, il quale disse che apparteneva a' Romani ; ed esso man- dato dal popolo ottenne grazia di cavarlo, e cominciato nel detto fianco dell' arco, a forza di scarpello entrò sotto facendovi come una porta, e volendo seguitare, li Romani dubitando non minasse l'arco a' sospetti della malvagità del Goto, nella qual nazione dubitavano regnasse ancora la rabbia di distruggere le romane memorie, si sollevarono contro di esso, il quale ebbe a grazia di andarsene via, e fu tralasciata l'opera"; bei Nardi ni, Roma antica; (Nibby) 1, p. 40.

Virgil in der Volkssage. 259

Verwirrung der auf Virgil wie Gerbert bezüglichen Sagen war aber um so leichter* möglich, als viele der berühmtesten Schriftsteller, wie Gervasius von Tilbury, Elinandus, Vincenzius von Beauvais, Alberich u. A. von Beiden zugleich berichteten. Ein Beispiel dieser Verwirrung liegt auch in den oben citirten Gedichten vor.

In den „Mirabilia" heisst es, dass da, wo heute in Eom die Kirche S. Balbina steht und früher das „mutatorium Caesaris" sich befand, ein aus „Asbestos" angefertigter Candelaber stand, der, einmal angezündet, nicht mehr ausgelöscht werden konnte, wie es ja auch die Etymologie des griechischen Wortes sagt. In der „Image du monde" werden dem Virgil zwei Wachskerzen und eine ewig brennende Lampe zugeschrieben. Im „Cleomadès" und in den „Sieben Weisen^)" handelt es sich um ein immer brennendes Feuer, vor welchem die Bildsäule eines Bogenschützen steht, jeden Augenblick bereit, den Pfeil gegen das Feuer abzuschiessen, und mit der hebräischen Inschrift versehen, welche aussagt: „Wenn mich Jemand berührt, so werde ich treffen." Eines Tages berührte ein Naseweiser, der vielleicht Hebräisch verstand, die Bildsäule, der Pfeil flog ab, und das Feuer erlosch für immer. Dieselbe Sage, die hier auf Virgil angewandt ist^), erzählte man schon von Gerbert. Es hiess nämlich, dass auf dem Marsfelde eine Statue mit erhobenem Zeigefinger sich befand, auf deren Stirn geschrieben stand „hie percute!" Gerbert errieth zuerst den Sinn der Worte: er beobachtete, als die Sonne im Zenith der Bildsäule stand, wohin der Schatten des Zeigefingers fiel, merkte sich die Stelle und ging bei Nacht mit einem Dienei'^ dahin. Nach einigen Beschwörungs- formeln öffnete sich vor ihm die Erde, und er trat nun in einen unterirdischen Raum, welcher mit Schätzen aller Art angefüllt war, ein. Auch ein Saal war hier vorhanden, in welchem über

1) So auch in „Fleur des histoires" von Jean Hansel. Vgl. Du Meiil, Mélanges p. 438.

2) In der Aeneit des Heinrich von Veldecke ist sie auf einen weisen Geomatras bezogen. Im Romans d'Alexandre (Michelant) p. 46 hat Plato eine immer brennende Lampe:

„En miliu de la vile ont drecié un piler. C. pies avoit de haut: Piatons le fist fever; Deseure ot une lampe, en sou I. candeler Qui par jor et par nuit art et reluist si der Qua partout en peut-on et venir et aler, Et tons voient les gaites qui le doiveut garder."

17*

260 Viigil in der Volkssage.

eiuem Schilde ein prächtiger Karfunkel strahlendes Licht ausströmte. Eine Menge goldener Ritter standen in den Hallen versammelt, und dem Karfunkel gegenüber zeigte sich ein Knabe mit ge- spanntem Bogen. Kaum berührte man etwas von den Schätzen, so machten die Ritter Lärm mit ihren Wafien. Gerbert's Diener vermochte der Verlockung nicht zu widerstehen und steckte ein kleines Messer in die Tasche. Da schwirrte sofort der Pfeil von der Sehne, der Karfunkel erlosch, und man fand den Ausweg nicht eher, als bis das Messer wieder auf seinen Platz gelegt war^), Die Bildsäule und der Schatz werden dem VirgiLauch von „Jans Enenkel" zugeschrieben, während andere ") weder au Gerbert noch an Virgil denken und die Geschichte von einem Gelehrten berichten^). Die ganze Erzählung ist übrigens nur eine Variante von dem Märchen der Zobaide aus Tausend und eine Nacht ^).

Wie es ferner von Gerbert hiess, dass er einen Kopf^) ge- schaffen habe, welcher die Zukunft weissagte, und dass er starb, weil er eine Weissagung desselben nicht verstanden hatte ^), so wird etwas Aehnliches auch von Virgil in der „Image du monde" und im ,-,Renart contrefait berichtet^): Als Virgil einst jenen Kopf über eine Reise, die er vorhatte, befragte, erhielt er die Autwort:

1) Gugliem. Malmesb., De Gest. reg. angl. lib. II, c. 10; Al- berich von Trois Fout.; Chron; jjars 11, 37—41. Vinceuzo di Beauvais, Speculum historiale lib. 24, c. 98 ff; Hock, Gerbertus c. 15.

2) V.d. Hagen, Gesaimntabenteuer; II, 525tt". Massmann, Kaiserchr. III, 450.

3) Gesta Roman, c. 107 (Keller).

4) Loiseleur, Panthéon litt. p. 100 und derselbe, Tausend und eine Nacht p. 346.

5) Albertus Magnus schuf einen sprechenden Kopf, den der heilige Thomas von Aquino entzwei hieb; auch vom Marquis von Villeiia ward dasselbe berichtet. Tostado (Sup. num. c. XXI) spricht von einem bron- cenen Kopf, der im Dorfe Tabara weissagte. Sein Hauptgeschäft bestand darin, anzuzeigen, wenn sich ein Jude im Dorfe fand; dann schrie er: „Judaeus adest" solange bis man den Juden vertrieb. In der nordischen Mythologie macht Oden den Kopf des Riesen Mimir sprechend und be- fragt ihn um viele Geheimnisse. Vgl. Thorpe, Northern mythology, 1, p. 15; Simrock, Edda, p. 392.

6) Alberich von Trois Fontaines, Chron. a. a. O.; Hock, Ger- bertus, a. a. 0.

7) Vgl. Bart. Sibylla (Ende des 1."^. Jahrh.) Percgriu. ijnaest. dee. III, quest. 2.

Virgil in clor Volksstige. 261

wenu er .seinen Kopf bewache, würde es , ihm gut geben ; er glaubte, dass es sich um den prophetischen Kopf handle, und begab sich auf die Reise. Aber da er sich nicht genug vor der Sonne schützte, befiel ihn eine Gehirnentzündung und er starb. Man sieht deutlich, wie die Anwendung derartiger Erzählungen auf Virgil doch nur in den Kreisen von mehr oder weniger Gebildeten stattfinden konnte. Und in der That heisst es in der Hauptbiographie des Dichters, dass er auf einer Reise in Folge der Sonnenhitze starb ^). Die rein volksthümliche Sage Neapels weiss davon nichts.

Der Leser muss entschuldigen, wenn die Reihe derartiger ein- faltiger Erzählungen hier immer noch nicht zu Ende ist. Für die lästige Arbeit, die in der Zergliederung der Phantastereien besteht, entschädigt hoifentlich das Resultat, das sich daraus für die Er- klärung einer der merkwürdigsten Erscheinung ergibt.

Siebentes Ca^iitel.

In der Zeit, welcher alle diese Legenden vom Zauberer Virgil angehören, war die Vorstelhing von der Sibylle, die das Er- scheinen Christi geweissagt haben sollte, bereits volksthümlich ge- worden. Bei den Apologeten entstanden, hatte sie sich unter den kirchlichen Schriftstellern verbreitet und ging dann auch in den Anschauungskreis des Volkes über, so dass wir ihr vom zwölften Jahrhundert an gleich häufig bei kirchlichen wie weltlichen Schrift- stellern begegnen; und ebenso häufig finden wir auch die Figur der Sibylle in den künstlerischen Darstellungen bis zum sechzehnten Jahrhundert^). Die Vorstellung war aber für Alle um so zugäng- licher, da ja die mittelalterlichen Theologen diesen Theil der christ- lichen Lehre, worin der Glaube seine sicherste Bestätigung und festeste Stütze fand, stets mit Vorliebe behandelt hatten, und Jedem der Sinn einleuchtete, der in den bekannten Versen des Franciscaners „teste David cum Sibylla^)" lag. Diese Berühmt-

1) „Dum Megara vicinum oppidum ferventissimo sole cognoscitlanguo- rem nactus est eumque non intermissa navigatione auxit, ita ut gravior aliquante Brundisium appellcret, ubi paucis diebus obiit." Douat. Vit. Verg. p. 62 f.

2) Piper, Mythologia der Christ. Kunst I, p. 472 ff.

3) Schon im 5. Jahrh. citirte man in der Kirche um Weihnachten die Verse der Sibylle. Vgl. Du Me'ril, Origines latiues du the'atre mo- derne p. 185 f.

262 Virgil in der Volkssago.

heit der Sibylle, oder vielmehr der Sibyllen, war also das Werk der Kirche und folgte aus der Art, wie dieselbe mit den Gläu- bigen verkehrte und ihnen die Lehren der Religion vermittelte. Vorzüglich waren der Religionsunterricht, die Predigt und auch die zwischen Gottesdienst und Volkspoesie in der Mitte stehenden Mysterien oder Heiligendarstellungen dazu geeignet, derartige Kenntnisse und Anschauungen zu verbreiten. Indem man auf eine naive, anspruchslose Weise Stoffe des Glaubens dramatisirte, er- hielt die Kirche ein Mittel der Popularität, welches vermöge seiner Natur wie der darin liegenden Beziehungen zum Ursprung und zur Geschichte des modernen Theaters merklich dazu beitrug, jene Vorstellungen auch in die neuen Literaturen, welche sich zu ent\nckeln begannen, einzuführen.

Wir haben gesehen, wie eng der Name Virgil's mit der Sibylle verknüpft und wie geläufig den mittelalterlichen Geistlichen die vierte Ecloge wegen der darin enthaltenen Weissagung war, die man auf Christus bezog. Indem aber die Figur der Sibylle so populär wurde, blieb es auch Virgil mit ihr, um so mehr, da dieser ja bereits auf einem anderen Wege ganz volksthümlioh ge- worden war^). Besonders bot sich in den Weihnachtspredigten die Gelegenheit dar, beide Personen neben einander zu erwähnen. In der christlichen Kunst war der Dichter oft neben der Sibylle dar- gestellt, oder es fanden sich wenigstens die betreffenden Verse aus der vierten f]cloge verzeichnet"), und in mehr als einer Heiligen- darstellung traten Virgil und die Sibylle neben einander auf •* ). Schon im eilften Jahrhundert figurirte Virgil in dem lateinischen Myste- rium von der Geburt Christi, das man in der Abtei des h. Mar-

1) „Evvi, Femonoè, quella Sibilla Che ridicea li risponsi d'Apollo Che delle X Sibille fu quella

E Virgilio il su' dire versificollo;

Di Cristo disse la prima novella

E del die del giudicio e profetollo" L'Intelligenza bei Ozanam, Documents inédits, p. 364 f. Vgl. auch das altdeutsche Gedicht: Die Erlösung (Bartsch, Quedlinb. u. Leipz. 1858) p. 56 ff. V. 1903—1980.

2) Vgl. Theil I, Ende des 7. Capitels.

3) Vgl. Reidt, Das Geistliche Schauspieides Mittelalters in Deutsch- land; Frankf. a. M. 18(58 p. 27. Ueber die Bibliographie dieses für die Geschichte des modernen Theaters wichtigen Theiles s. Hanns, Lat. böhm. Osterspiele des U-15. Jahrb. Prag, 1863, p. 17 ff.

Virgil in der Volkssage. 263

tial zu Limoges darstellte, unter den Propheten Christi^); des- gleichen in einem Mysterium von Rheims ^) : Nach Moses , Jesaias, Jeremias, Daniel, Habakuk, David, Simeon, Elisabeth und Johannes dem Täufer ruft der Procentor Virgil mit den Worten

„Vates Maro gentilium

Da Chi'isto testimonium."

herbei, worauf dieser in Gestalt eines Jünglings auftritt und sagt:

„Ecce polo, demissa solo, nova progenies est."

Darauf werden Nebukadnezar und die Sibylle aufgerufen, worauf sich der Procentor zu den Juden wendet mit den Woiien :

„Judaea incredula

Cur manes adhuc, inverecunda?"

In derselben Weise erscheint Virgil in dem Mysterium von den thörichten Jungfrauen^) und in andern deutschen, holländischen u. s. w. Heiligendarstellungen'*). In einer grossen dramatischen

1) Bei Monmerque et Michel, Théatre fran9ais au moyen-àge, p. 9; Du Meril, Orig. lai du the'at. med. p. 184. Weinhold, Weih- nachtsspiele, p. 70 f. Ueber die Ableitung dieser Mysterien und ihre Beziehung zu einer Weihnachtspredigt des h. Augustin, s. Sepet, Les prophètes du Christ, etude sur 'les origines du théatre au moyen-àge, in der Bibl. de Fècole des Chartes, 1807. (Tora. III, 6. se'r.) p. 1 ff. 210 ff'.

2) Vgl. Du Gange, Gloss. med. et inf. lat. (ed. Henschel) s. v. festum asinorum.

3) Wright, Early mysteries, p. 62.

4) Vgl. Weinhold, Weihnachtspiele, p. 74. Du Meril, Melanges arch. p. 456; Mittelniederländisches Osterspiel, hrsg. v. Zacher in Haupt's Zeitschr. f. deutsch. Alterth. 11, 310; Piper, Virgil als Theolog und Prophet im Evangel. Kalender 1862, p. 72. In einem französischen Myste- rium von der Rache Jesu sprachen im Rathe bei Tiberius zu Gunsten Christi: Terenz, Boccaccio und Juvenal. Letzterer erinnert daran, dass sich i. J. 42 des Octavius das Gerücht verbreitete, dass eine Jungfrau gebären würde:

„Le noble poete Virgille Qui lors etoit en ceste ville Composa ancuns mots notables Lesquels on a vu veritables Et plurieurs grands choses en dict Naguaires avant son trespas." V. L. Paris, Teiles peintes de Reims, p. 680.

264 Virgil in clor Volkssagc.

Dichtung des Arnold Imineöscn (15. Jhrh.) citirt merkwürdigerweise die cumäische Sibylle den Virgil als ihre Autorität^).

Jedoch tritt Virgil nicht immer in den Mysterien auf; öfters mubs die Sibylle allein die heidnischen Propheten repräscntiren. In einem lateinischen Mysterium von der Geburt Christi erkennt sie die Ankunft des Heilandes an dem Stern, welcher die heiligen drei Könige führte^), und nach einem spanischen Dichter soll auch Virgil diesen Stern gesehen haben ^).

Dieser volksmässigen und in die Romantik eingedrungenen Vorstellung entspricht nun eine Schöpfung der Sage, die nach ver- schiedenen Umgestaltungen sich endlich mit der Idee vom Zauberer Virgil vei'bindet. Eine Befähigung Virgil's zum Christenthum wird ja schon in den von uns citirten, in Mautua gesungenen latei- nischen Versen vorausgesetzt, welche von dem Besuche des Apostels Paulus am Grabe des Dichters erzählen*) und dabei einer Legende folgen, die nicht ausschliesslich Mantua angehört, sondern auch noch ausführlicher in der „Image du monde" erzählt wird^). Es heisst da nämlich, dass Paulus, der ein gelehrter Mann war, als er nach Rom kam, traurig ward, da er von dem jüngst erfolgten Tode Virgil's hörte. Ihm waren bereits jene Verse bekannt, die sich so trefflich auf den Heiland anwenden Hessen, und so beklagte er es.

1) „Sibilla Cuniaca quae fuit tempore Tarquinii prisci: Ik finde ók van dussen saken dat de meister Virgilius versehe geniaket hebbe, de ludet alsus:

Magnus ab integro etc."

Der Sündenfall u. die Marienklage, hrsg. v. Schönemaun (Haniiov. 1855) p. 97; Piper, Virgil u. s. w. p. 73.

2) „Tertio loco Sibylla gcsticuloso procedat, quae iuspicicndo stcllam cum gestu nobili cantet:

Haec stellac novitas

Fert novum nuntium etc." Carmina burana herausg. von S(chmeller) Stuttgart 1847, p. 81.

3) „Virgilio de Mantua fué sabio poeta ca fue, cl priniero quo vide cometa

à partes de Grecia sus vrayos lan^audo." Frag Diego de Valencia im Canconiero de Baena; S. Du Méril, Mèi. arch. p. 460.

4) Theil I zu Anfang des 7. Capitels.

5) Der betreffende Text aus der Image du Monde bei Du Méril, a. a. 0. 456 ff.

Vii-gil in -der Volkssage. 265

dass er nicht früher gelebt habe, um Virgil zu dem Christeuthume bekehren zu können :

„Ahi se t' éusse trouvé

Que t' éusse à Dieu donne!" Schliesslich gelang es ihm, den Ort aufzufinden, wo der Dichter begraben war; der Weg dahin war fürchterlich: Ein heftiger Wind stürmte, und schreckliche Töne Hessen sich vernehmen. Der Apostel konnte zwischen zwei brennenden Kerzen Virgil sitzen und rings um ihn auf der Erde Bücher zerstreut liegen sehen. Von der Decke hing eine Lampe herab, und vor Virgil stand ein Bogen- scbütz mit gespanntem Bogen. Das sah man von aussen, aber herzutreten war nicht leicht, denn am Eingang standen zwei eherne Männer, die gegen jeden Eintretenden ihre Hämmer von Stahl in Bewegung setzten. Es gelang dem Apostel zwar, letztere zum Schweigen zu bringen, aber da schoss der Mann den Pfeil gegen die Lampe ab, und Alles zerfiel in Staub. Paulus hätte gern die Bücher genommen, allein er musste mit leeren Händen um- kehren.

Unter den Sagen, welche sich auf die kurz vor Christi Geburt geschehenen Wunder beziehen, ist besonders die von S. Maria in Ara coeli in Rom berühmt: Augustus Hess einst, so heisst es, die Sibylle zu sich rufen, um sie über die göttlichen Ehren zu be- fragen, welche ihm der Senat bewilligt hatte. Jene antwortete, dass vom Himmel der König kommen werde, welcher ewig herr- schen solle. Alsbald that sich der Himmel auf, und Augustus sah eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit, einen Knaben im Arm haltend, auf dem Altare sitzen, und hörte eine Stimme, die rief: „das ist der Altar des Gottessohnes." Betend fiel er nieder und theilte später dem Senat das Gesicht mit. Auf dem Capitol aber, wo die Erscheinung stattgefunden hatte, wurde jene Kirche gebaut, die noch heute S. Maria in Ai-a coeli heisst. Die Sage findet sich schon vom achten Jahrhimdert an bei byzantinischen Schriftstellern, in der „Legenda aurea", in den „Gesta romano- rum", den „Mirabilia" und anderen damals viel gelesenen Buchern''. Die Kunst hat jene Sage mehrmals dargestellt, und auch noch nach dem zwölften Jahrhundert finden wir sie oft von den Schriftstellern erwähnt ; Petrarca spricht von ihr in einem

Vgl. Massmann, Kaiserchr. III, p. 553 ff.; Piper, Mvthol. I, 480 ff.

266 Virgil in der Volkssage.

seiner Briefe'). Die Mirabilia führen neben derselben noch eine andere sehr ähnliche Sage an, welche sich auch in an deren Schriften aus derselben Zeit erhalten hat"-'): Neben seinem Pa- laste, da, wo die Tempel der Pietas und Concordia waren, stellte Roraulus eine Bildsäule auf mit den Worten : „sie wird nicht eher fallen, als bis eine Jungfrau gebären wii'd." Da kam Christus, und die Bildsäule fiel zur Erde^). Die Erzählung wird auch von andern auf die Tempel der Minerva oder der Pax, welche bei Christi Geburt einstürzten, oder auf die „Salvatio Romae" so wie die darin enthaltene Weissagung auf Virgil bezogen. Wo Alexander Neckam von der Salvatio Romae spricht, fügt er hinzu: „Als der ruhmvolle Dichter gefragt wurde, wie lange die Götter jenen Bau schützen würden, antwortete er: ,so lange, bis eine Jungfrau gebären wird'; da rief man ihm freudig Beifall zu und sprach: ,Wol, so wird er ewig stehend Wie aber der Heiland kam, stürzte der Palast alsbald zusammen'*)." Mit der Einführung des Virgil verliert die Sage natürlich ihre ursprüngliche Bedeutung. Der Ausspruch des Romulus ist eine Prahlerei, welche die Zukunft zu- nichte macht; und Virgil's Worte haben, wenn man die Beziehung, in welcher der Dichter der Legende gemäss zur Sibylle stand, so Avie seine Stellung unter den Propheten Christi bedenkt, den Werth einer Prophezeiung.

Ein noch nicht veröffentlichtes französisches Gedicht, von welchem sich eine Handschrift zu Turin befindet"''), zeigt eine weitere Entwickelung dieser Virgillegende. Das Gedicht ist eine sonderbare Darstellung, die aus drei Compositionen zusammengesetzt ist, von denen zwei, „Vespasianus oder die Rache Jesu an den

1) Vgl. Piper, a. a. 0. I, 4S5 ff.

2) Massmann, a. a. 0. p. 554 ff.

3) Die Zeichen, die der Geburt Christi vorausgingen sind in den ,, Flores temporum" von Hermann Gigas so erzählt: ,,Fons olei Komao erupit; vineae Engaddi balsamum protulerunt; omnes sodomitae obierunt; bos et asinus ante praesepe genua flexerunt; idola aegj-pti corruerunt; imago Romuli cecidit; templum pacis corruit; mane tres soles reperieban- tur et in unum paulatim jungebantur; meridie circulus aureus in coelo apparuit in quo virginem cum puero iCaesar vidit, et mox insonuit: hie est arcus coeli." Die Varianten bei Massmann, a. a. 0. 557 f.

4) De naturis rerum (ed. Wright) p. 310.

5) Cod. gali. XXXVI, s. Pasini, Catal. etc. II, p. 472. Fol. 583. liest man: „Ces livres fu escris en Tau de l'incarnation MCCC et XI an raois de joing."

Virgil in der Volkssage. 267

Juden" und „die Thaten der Lothringer" schon bekannt sind^). Zur Verbindung beider dient die Erzählung von den Thaten des heiligen Severin, welcher einerseits genealogisch mit Vespasian, andererseits mit Herois und Garin von Lothringen verknüpft ist. Aber der Verfasser hat sich damit nicht begnügt, sondei'n dem „Vesjjasian" ein langes Gedicht vorausgeschickt, welches mit der Schöpfung der Welt beginnt, alle Begebenheiten des alten und neuen Testamentes erzählt und mit dem Tode Christi endigt. Bei seiner heüigen Geschichte folgt er jedoch nicht der Autorität der Bibel, sondern hat eine rein phantastische Erzählung geschaffen, deren Grundlage die oben erwähnte Legende ist: Er lässt näm lieh Virgil die ganze lauge Geschichte selbst vortragen. In der einzigen mir bekannten Handschrift fehlt der Anfang, doch genügt das Vorhandene für unsere Zwecke. An Stelle des guten Octavian oder des Romulus tritt hier ein Kaiser Noirons li arabis auf, ein Gegenstück zu dem mittelalterlichen Ideale des Nero, ein Anbeter des Teufels und Muhammeds, der zu Ehren seiner Götter einen von Gold und Edelsteinen strahlenden Palast erbaut. Nachdem er dies gethan, ruft er den Virgil zu sich und fragt ihn: „Da du Alles weisst, so sage mir, wie lange mein Palast stehen bleiben wird?" Darauf Virgil: „Er wird stehen, bis dass eine Jungfrau gebären wird.'' „Also wird er ewig bleiben, denn das ^\-ird niemals eintreffen". ,,Und doch wird dem einst so sein". Dreissig Jahre später wird Christus geboren, und Nero's Palast stürzt zusammen. Zornig lässt der Kaiser den Virgil rufen: „Du hast also gewusst, dass die Jungfrau gebären wird; warum hast Du es mir nicht gesagt?" Und da nun Virgil von dem neuen Glauben zu sprechen beginnt, erhebt sich ein Wortwechsel: Nero will nichts von jenem Glaiiben wissen. Endlich entschliesst er sich zu einem Kampfe mit Virgil, und es wird festgesetzt, dass der Sieger dem Gegner den Kopf abschlagen solle. Virgil nimmt den Vorschlag an, aber wünscht vorher noch einmal nach Hause zu gehen, um die Seinen, Hippokrates und seine weisen Freunde zu sehen. Er geht, ruft sie alle zusammen und erzählt ihnen seinen Fall. Hippokrates schlägt nun in seinen Büchern nach und sucht Alles zusammen, was sich auf das Erscheinen Christi bezieht. Er theilt es Virgil mit, imd dieser, mit so unbezwinglichen Waffen

1) Die Hds. ist den beiden Herausgebern der ,, Thaten der Lothringer" Paulin Paris und Du Meril unbekannt geblieben. Eine Notiz davon gab Prost in der Revue de l'Est, 1864 p. 5—9.

268 Virgil in ilor Vulk-ssago.

aiisgerüslet, euHeriit sich voll Zuversicht. Nero bemerkt nun, dass der Kampf mit ungleichen Watten geführt wird, sieht sein p]nde voraus und gibt Virgil Aufschluss über sein eigenes Wesen. Er erzählt ihm die alte Geschichte vou Lucibel oder Lucifer, von den empörten Engeln, die in Dämonen verwandelt sind, sagt, dass auch er einer von diesen sei, und spricht von ihrer Mission auf der Erde, von der Erbauung Babylons und anderen schönen Dingen. Virgil antwortet ihm stehenden Fusses mit der Erzählung der ganzen heiligen Geschichte von der Schöpfung der Welt an, und hier ergiesst sich nun die Redelust des Dichtei's in unzähligen Versen; von Virgil ist nicht mehr die Rede, und wir erfahren nicht einmal, wie der Zweikampf zwischen Nero und Virgil endet. Den Schluss bildet eine Scene, die in der Unterwelt spielt und in der Nero und Muharamed mit einander reden; man kann also daraus schliesscn, dass Nero von Virgil enthauptet worden ist. Man darf dieses Gedicht der Form wie dem Inhalte nach wol als ein wahres Muster von Einfältigkeit bezeichnen.

Mit diesen Phantastereien des französischen Troubadours lassen sich nun der deutsche „Reinfrit von Braunschweig ^)", vermuthlich das Werk eines Zeitgenossen, so wie der „Wartburgkrieg^)" ver- gleichen. Wir ziehen die Sage aus beiden Gedichten, wie folgt, zusammen: Auf dem Maguetberge oder Agetstein, der in den mittelaltei'lichen deutschen Gedichten oft erwähnt wird''), wohnte ein grosser Schwarzkünstler, ein Fürst von Griechenland oder Ba- l)ylon, Namens Zàbulon (d. i. Teufel), welcher das Erscheinen des Heilandes schon 1 200 Jahre früher aus den Sternen gelesen hatte und nun alle seine Künste anwandte, dasselbe zu verhindern. Zu diesem Zwecke erfand er die Negromanzie und Astrologie und schrieb auch Bücher darübei\ Zur Zeit als die 1200 Jahre fast verflossen waren, lebte aber der tugendhafte Virgil, welcher zum Wole der Menschen sich alles Besitzes entäussert hatte. Als dieser von jenem Zàbulon erfahren hatte, schiffte er sich ein und kam zum Magnetberge. Hit Hilfe eines Ringes, in dessen Rubin ein

1) S. den Auszug dea Roiufiit von Gödckc: Archiv des bist Voreins für Niedersachsen, N. F. 1849. p. 270 ff.

2) Sinirock, Wartburgkrieg, p. 19.5 ff. .303. Vgl. v. d. Ilagen, Briefe in die Heimath, lU, p. 169 f. Gcnthc, Leben und Fortleben etc. p. 68 f.

3) Vgl. Cholevius, Gesch. d. deutsch. Poesie nach ihren autiken Elementen I, 96. Bartsch, Herzog Ernst, p. CXLVHl ff.

Virgil iu der Volkssage. 2Gi)

Geist iu Gestalt einer Fliege eingeschlosseu war, gelang es ihm, sich der Bücher und Schätze des Zauberers zu bemächtigen. In- zwischen waren die 1200 Jahre verflossen, und die Jungfrau gebar Jesus.

So verband sich also die älteste Vorstellung vom Propheten Vii-gil mit der Sage vom Zauberer Virgil, welche den Dichter im Besitze eines Zauberbuches, aus dem er jene Künste schöpfte, dar- stellte ^). Wir erkennen in demselben das Buch über die „ars notoria" wieder, welches nach Gervasius jener Engländer in Vir- gil's Grabe gefunden hatte, und welches hier zu dem Buche Za- bulous geworden ist, wie es bei anderen Schriftstellern zu dem von Salomon verfassteu Buch über Schwarzkunst wird, welcher ja in der Geschichte der Zauberei ebenfalls eine Rolle spielt. Im Wart- burgkriege helsst es, dass Virgil jenes Buch Zabulons nur mit grosser Anstrengung erlangte'). In andern Versionen steht die Sage aber auch in gar keiner Beziehung zu der Erscheinung Christi.

Ungefähr zu derselben Zeit einzahlt „Enenkel" in seinem „Welt- buch", wie Virgil, jener „Sohn der Holle ^)" sich seine ausser- ordentlichen Kenntnisse der Zauberei verschafi"t habe: Als er näm- lich einst in einem Weinberge grub, stiess er den Spaten so tief in die Erde, dass er eine Flasche traf, in welcher zwölf Teufel eingeschlossen waren; während er sich noch über den Fund freute, fing einer der Teufel an zu reden und sagte, dass er ihm alle Geheimnisse lehren wolle, wenn er ihn befreie. „Erst lehrt mir sie", antwortete Virgil, „und dann will ich Euch befreien". So gaben ihm denn die Teufel Unterricht in der Magie, Virgil zer- brach die Flasche und Hess die Geister frei. Der in der Mitte des vierzehnten Jahi-hunderts lebende Dichter Heinrich von Müglin erzählt dieselbe Begebenheit in einer dem Reinfrit sehr nahe kommenden Weise, ohne aber von dem Erscheinen Christi zu sprechen*): Virgil besteigt mit andern Gefährten in Venedig ein Schiff, um sein Glück zu versuchen und kömmt nach dem

1) Etwas Aehnliches erzählt die Sage vom Zauberer Heliodor und Petrus Barliarius.

2) ,,Wer gab dir Zabulones buch, sage fürwert, wiser man.

Das Virgüius öf den Agetsteine mit grossen nöten gewan."

3) „Er was gar der helle kint" bei v.d. Hagen, Gesammtabenteuer, 11, p. 513 ff.

4) Publicirt von Zin gerle in Pfeiffer's Germania V, 369 ff.

270 Virgil in der Volkssage.

Magnetberge 'j, dort findet er in einer Flasche eingeschlossen einen Geist, welcher ihm für den Preis der Freiheit einen Ort nennt, wo unter dem Haupte eines Todten ein Zauberbuch liegt. Es ge- lingt Virgil, dasselbe zu entdecken. Kaum aber schlägt er es auf, so kommen 80,000 Teufel heraus, welche ihm zu Diensten stehen, und durch welche er eine lange Strasse püasteni lässt. Im fünfzehnten Jahrhundert erzählte Feljx Hämmerlein ^), wie ein Geist in der Hoffnung die Freiheit zu erlangen, deiu Virgil zum Besitze des Zauberbuches Salomons verholten habe; Virgil lässt - also den Geist aus der Flasche heraus; da er aber sieht, welche Ausdehnung derselbe annimmt, glaubt er, es sei doch nicht gut, wenn ein Wesen dieser Art die Freiheit habe. Er stellt sich daher einfältig und sagt : „Du kannst gewiss nicht wieder in die Flasche hinein." Der Teufel sagt „Ja", Virgil entgegnet „Nein, Nein", bis endlich der Teufel sich klein macht und zeigt, dass er Recht gehabt hat. Kaum ist er wieder in der Flasche, so versiegelt Virgil dieselbe mit dem Siegel Salomons und lässt den Teufel für immer in der Flasche. In jener ihrem Ursprünge nach rabbinischen und muhammedanischen Sage von dem gefesselten Geiste, der dem Befreier seine Dienste anbietet, erkennt man eine Erzählung aus Tausend und eine Nacht wieder, welche der bekannten Geschichte vom „hinkenden Teufel" zu Grunde liegt. Wie auf Virgil, so wird aber auch dieselbe Er- zählung auf Paracelsus angewandt und kehrt ausserdem noch heute in vielen Volksmärchen wieder^).

So durchwanderte also die Sage vom Zauberer Virgil alle romanischen wie germanischen Länder; ja, es gab keinen Sclirifl- steller, der sie nicht kannte, und da sie so reich au verschiedeneu Begebenheiten und so berühmt war, eignete sie sich auch vor- trefflich dazu, immer neuen Zuwachs in sich aufzunehmen; denn auch für die Berühmtheit einer Sage gilt das Wort „Ün ne prete qu'aux riches." Ein etwas mehr abstracter Ausdruck jener Vor-

1) Beim Alltritt der Reise betet er inbrünstig zu Maria:

„Maria muter, reine meit, bbut uns vor leit! wir sweben üf wildes meeres vlnt, got der soll uns bewarn."

2) Do nobilitate, cap. 2, fol. VIII; vgl. Roth, a. a. ü. p. 298.

3) Vgl. Dunlop-Liebrecht, p. 185-483. Üriram, Kinder- und Hausmärchen. 99. Du Morii, Etudes d'Archéol. p. 463. Jülg, Ardschi- Bordschi p. 70. Benfey, Pantschatautra I, 115 ff. Vernaleckeu, Mythen und Bräuche des Volkes in Oesterreich, p. 262.

Virgil in der Volkssage. 27 i

Stellung von Virgil findet sich in einem merkwüi-digen lateinischen Buche, welches zwar keine Virgilsagen erzählt, aber doch seines Inhaltes, wie des Ansehens wegen, das sich der Verfasser gibt, hierher gehört. Der Titel des Buches lautet: „Virgili! cordubensis philosophia ^)". Demnach wäre jener Virgil von Cordova ein ara- bischer Philosoph, und sein Werk zu Toledo im Jahre 1290 aus dem Arabischen in's Lateinische übersetzt^). Aber der Verfasser war gewiss kein Araber und wusste noch weniger etwas von ara- bischen Studien, sonst hätte er einen arabischen Philosophen nicht Virgil imd als seine Zeitgenossen Seneca, Avicenna, Averroes und Algazel nennen können. Der Verfasser ist vielmehr ein Charlatan, jkvelcher durch Virgil's Xamen und den Schein arabischer Weis- heit auf seine Leser Eindruck machen wollte. Mit unglaublicher Dreistigkeit erzählt er am Anfange seines Werkes, dass alle grossen Gelehrten, die in Toledo zusammen kämen, bei ihren Verhandlungen ihn zu Käthe zögen, weil sie von seiner Kenntniss aller geheimen und verborgenen Dinge erfahren hätten, die er sich „durch die Wissenschaft der Schwarzkunst oder, wie andere richtiger sagen, durch „Eefulgentia" angeeignet habe. Mau bat ihn, nach Toledo zu kommen, aber er wollte nicht; und so begaben jene Wissbegierigeu sich nach Cordova. Es werden nun in dem Buche alle die wich- tigen Verhandlungen erörtert, die in Bezug auf den Grund aller Dinge, die Welt und Seele Statt fanden, so wie die bedeutenden Mittheilungen verzeichnet, welche der Autor jenen Philosophen macht, nachdem er bei Gelegenheit die Geister darüber befragt hat. Die Ars notoria nennt er eine heilige Wissenschaft, nur dem zugänglich, der rein von Sünde sei, und geschaffen von den guten Engeln, die sie dem Könige Salomo niittheilten^). Dieser nämlich

1) PubUcirt von Heine in der Bibliotheca aueedotorum, seu veterum mouumentorum ecclesiasticorum coUectio novissima. Pars I. Lipsia 1848 p. 211 S.

2) Hr. Dr. Steinschneider äusserte mir seine Zweifel über dies Datum und glaubte nicht, dass das Werk vor Raimondo di Pennaforte ge- schrieben sei.

3) „Et unus magister legebat de arte notoria quae est scientia saucta, et ita debet esse sanctus qui eam voluerit legere ; similiter et audientes saucti et immaculati et sine peccato debent esse etc." p. 242. Die erfundenen Xachrichteu, die der Autor in Betreff der Unterweisungen in der Ars notoria, Pyromantia, >;egromantia und Geometria, die in Cor- dova von specieUen Lehrern ertheilt worden seien, gibt, sind im Ama- dor de Los Rios für baare Münze genommen worden (Hist. crit. de la lit. espan. H, 159).

272 Virgil in der Volkssage.

schloss die Geister in einer Flasche ein, mit Ausnahme eines Ein- zigen, welcher lahm war und nun die andern befreite. Zur Zeit, als Alexander nach Jerusalem kam, glückte es dem Aristoteles, der damals noch ganz unwissend und unbekannt war, die Bücher des Salomo zu entdecken, und erst von da an wurde er ein grosser Weiser. Die Latinität dieses Werkes strotzt von grammatischen Fehlern, und der philosophische Inhalt desselben ist eine sonder- bare Mischung von jüdischen, rabbinischen und christlichen Lehren, unter denen die von der Dreieinigkeit Gottes besonders hervor- ragt. Auf Virgil bezieht sich eigentlich nur der Name des Ver- fassers. Der Grund jedoch, weshalb sich derselbe „Virgil" nennt, liegt in der idealen Vorstellung vom Zauberer Virgil, wie ja auch die aus der Beziehung des Dichters zum grammatischen Studium hervorgehende ideale Vorstellung jenen nicht weniger sonderbaren Grammatiker dazu geführt hatte, sich „Virgil" zu nennen; und es ist in der That von Bedeutung, wenn man sieht, wie sich die Ergebnisse zweier so ganz verschiedener Entwickelungen in der Geschichte des Ruhmes Vii-gil's entsprechen, so dass der Name desselben nicht nur mehrmals von dem Wechsel der Cultur beein- flusst worden ist, sondern auch dieselbe so in sich aufgenommen hat, dass er geradezu zum Symbol und Repräsentanten derselben wird.

Nichts von dem, was das Volk einem Zauberer zuschrieb, blieb von der Sage dem Virgil erspart: nachdem einmal die Vorstellung vom Zauberer Virgil sich gebildet und Wurzel gefasst hatte, und der Kern der Sage bekannt geworden Avar, fanden sich alle Zu- thaten von selbst ein. Wie alle guten Zauberer in Toledo studili, haben mussten, so auch Virgil, Gerbert u. A. Elinandus sagt: „Die Gelehrten gehen nach Paris, um die freien Künste, nach Bologna, um die Gesetze, nach Salerno, um die Arzneien, nach Toledo, um die Teufelskunst, und nirgendshin, um die guten Sitten zu studireu" ^). Es war jedoch natürlich, dass die Berühmtheit des Zauberers Virgil, so wie der Umstand, dass dabei Neapel eine solche Rolle spielte, bewirkten, dass man nun, was den Ursiirung der Schwarz- kunst betraf, auch Neapel als Schwesterstadt Toledo's betrachtete^); und eben so unvermeidlich war es, dass die Romantik, in welcher

1) S. Tissier, Bibl. cisterc. VII, 257.

2) „De Toulete vint et de Naples qui des batailles sont les.chapes àunenuit laNigroinance." La bataille des VII arts bei Jubiual, Oeuvres de Ruteboef II, 423.

Virgil ili (lev Volkssago. 273

sich so viele andere Zauberer begegneten, auch den Virgil mit einigen von diesen in Beziehung setzte. Im Parcival des Wolfram von JJschenbach ist der Zauberer Klinsor aus Terra di Lavoro ge- bürtig, und Virgil sein Vorfahr ^). Auch an einer Berührung Virgils mit dem Zauberer Merlin hat es nicht gefehlt^). Die Sage hatte sich auf diese Weise aus einer einfachen Aufzählung von wunder- baren Werken, mit denen mau Virgils Namen verknüpfte, zu einer Reihe von Begebenheiten umgestaltet, welche die Persönlichkeit des Zauberers Virgil charakterisirten und gleichsam die Elemente zu einer Biographie desselben abgaben. In der Image du Monde und Renart contrefait schloss ja schon, wie wir gesehen haben, die Er- zählung mit dem Tode Virgils, und in der Image du monde ward der Dichter also beschrieben :

„II fu de petite estature maigres et corbes par nature, et aloit la teste baissant, toz jors vers terre resgardant: Car- coustume est de soutil sage c'à terre esgarde par usage,"

ähnlich wie es im Dolopathos heisst :

„Virgile de poure estature et petite personue estoit; com philosophe se vesto it."

Ferner gibt es in der Vii-gilsage eine vereinzelte Gruppe von Erzählungen, die nur selten auf Virgil bezogen werden, sich nie- mals in einer Sammlung von Legenden finden, welche von der Zauberei Virgils berichten, und in denen der Name des Dichters ganz willkürlich und ohne inneren Zusammenhang von einem Compilator mit der Darstellung verwebt wird. Dies zeigt sich be- sonders in den „Gesta Romanorum", einem Repertorium, welches die verschiedensten Schicksale erfahren hat. Der, welcher an die Stelle eines „magister" in der Erzählung von der Bildsäule, die

1) „Sin lant heizt Terre de Labor. Von des nachkomn er ist erborn, der euch vii wunder het erkorn von Napels Virgilius."

Parcival (Lachm.) p. 309.

2) Bei Bonamente Aliprando.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 18

274 Virgil iu der Volkssage.

alle Uebertreter des Gesetzes anklagte^), deu Namen VirgiFs setzte, hatte gewiss dabei die „Salvatio Romae" und den „Wunderspiegel" im Sinne, und ebenso dachte der, welcher in der Erzählung No. 102 dem Geistlichen, der einem Ehenianne die Untreue seiner Gattin und deren Versuch, ihn durch Zauberkünste zu tödten, oÖenbart, den Namen Virgils gab, au den Zauberspiegel desselben. Beson- ders findet sich Virgil in die deutschen und englischen Texte der „Gesta" eingeflochten, da, wo er in den ältesten Bearbeitungen noch nicht auftritt"^), z, B. in der Erzählung vom Kauf manne von Venedig. Diese ünbeschränktheit der Phantasie kann uns aber nicht überraschen, sondern beweist nur, wie bekannt die Sage vom Zauberer Virgil allen Erzählern war. Dieselben kannten Virgil aus der Sage als Erbauer der Stadt Neapel und sclirieben ihm nun natürlich auch die Erbauung von anderen Städten und Ge- bäuden, besonders in Italien zu^), so die Häuser auf der Insel Ponza^) unweit "Gaeta, oder die Gründung von Brescia''), letztere nach einem unedirten französisch -italienischen Gedicht.

1) Cap. 57 (Keller). Vgl. die Note von Brunet zum Vidier des bist. rem. p. 129 f. Hierauf spielt auch eine von Francowitz (Flacius Illyricus) in seiner Sammlung: de corrupto ecclesiae statu (Basilea 1557) veröffentlichtes Gedicht an. Die Justitita sagt nämlich:

„En sie meum opus ago

ut Romae fecit imago

quam sculpsit Virgilius,

quae manifestare suevit

fures, sed caesa quievit

et OS clausit digito;

numquam ultra dixit verbum

de perditione rerum

palam uec in abdito."

2) Vgl. Wright, The politicai songs of England from the reigu of John to tbat of Edward the II, p. 388.

3) Alardo da Cambrai sagt in dem „Diz des Philosophes" :

„Virgiles fu apres li sages: bien fu emploit's ses aages: grant science en lui habonda; mainte riche cito fonda."

4) Ruy Gonzales de Clavijo (tl412) sagt von Ponza: „bay en ella graudes edificios de muy grande obra que tizo Virgilio." S. Tick no r, Hist. ol' spanish lit. I, 185.

5) Das Gedicht steht in einem Ms. (13. Jahrb.) der Marciana von Venedig, und hoisst es da von üggieri:

„Et albergò a un bon oster;

quel fo Virgilio qi la fondò primcr"

Virgil iu der Volkssage. 275

Wir beschliessen diese Bemerkungen mit einer zwar wenig verbreiteten, aber beachtenswei'then Erzählung, welche die Virgil- sage mit Julius Caesar verknüpft.

Die Eömer glaiabten im Mittelalter, dass die vergoldete Kugel auf dem Vaticanischeu Obelisken die Asche Julius Caesar's ent- hielte ^). Darauf beziehen sich die dem Marbod, Bischof von Rom, zugeschriebenen mittelalte rhchen Verse, welche sich nebst der Le- gende in den Mirabilia finden :

„Caesar, tantus eras quantus et orbis,

Et nunc in modico clauderis antro ^)." Elinandus ^) fügt zu dieser Inschrift in einer seiner Reden noch die folgenden dem Virgil zugeschriebenen Verse

„Post hiinc quisque sciat se ruiturum

Et jam nulla mori gloria toUat^)." hinzu. Nach einer im „Victorial" des Gutien-e Diaz de Games (15. Jahrb.) erzählten Sage wurde jener Obelisk von Salomon er- richtet, welcher in der Kugel seine Gebeine beisetzen liess. Als Julius Caesar stai-b, ging Virgil nach Jerusalem und verlangte von den Juden das Denkmal. Diese glaubten, er treibe Spott mit ihnen, und versprachen ihm dasselbe, vorausgesetzt, dass er ihnen täglich, bis dass der Obelisk in Rom angekommen wäre, eine gewisse Summe auszahle. Aber Virgil bevrirkte durch seine Zauberkünste, dass der Obelisk in einer Nacht von Jerusalem nach Rom kam, imd so setzte man die Gebeine Caesar's an Stelle der des Salomon in der Kugel bei^).

d. h. er gründete die Stadt B esgora, die, wie aus den Toskanischen Uebersetzungen hervorgeht, Brescia ist. Ich verdanke diese Notiz meinem gelehrten Schüler Prof. Rajna, welcher im Begriffe i.st, eine Arbeit über das Gedicht zu pubüciren.

1) Vgl. Gregorovius, Gesch. d. St. Rom III, 557 imd Mass- maun, Kaiserchronik III, p. 537 ff. Dolce (Op. burt. del Berni I, parte II, p. 271) sagt mit Anspielung darauf:

„Non la Guglia, ov' è il pomo che accogliea II cener di chi senza Durlindana Orbem 'terrarum si sottomettea."

2) Var: „At nunc exigua clauderis urna."

3) Bei Tissier, Bibl. patr. cisterc. VII, 222.

4) Vgl. „Bruchstücke aus den noch ungedruckten Theilen des Victo- rial von Gutierre Diaz de Games" hrsg. v. L. G. Lemcke, Marb. 1865 p. 17 ff. Le Victorial par Gutierre Diaz de Games trad. de I'espagn. par

18*

27G Virgfil in der Volkssage.

Diese ziemlich vereinzelten Tiruehstücke der Sage liefern keinen besonderen Beitrag zur Schilderung des Zauberer' s Virgil, i;nd mau würde ohne Nutzen eine Sammlung sämmtlicher, derartiger Bei- spiele veranstalten. Allein das Bild, welches wir bis jetzt aus der Betrachtung der Sage gewonnen haben, ist noch nicht abgeschlossen, wenn mau bedenkt, dass eine der Romantik so vertraute Figur doch unmöglich ohne Beziehung zu dem schönen Geschlecht bleiben konnte; und so wenden wir uns denn jetzt zu dieser Seite der Sage.

Achtes Capitol.

Diejenigen, welche behaupten, dass das Weib dem Christen- thum und Kitterthum besonders zu Danke verpflichtet sein müsse, geben sich einer Täuschung hin, welcher die geschichtlichen That- sachen durchaus nicht entsprechen. Es haben mich zwar einige Kritiker darauf aufmerksam gemacht, dass ich hier der allgemeinen Anschauung entgegentrete, ohne die meinige hinreichend zu begrün- den. Allein meine Ansicht ist das Ergebniss eingehendster Studien, und ich behalte mir vor, an einem passenderen Orte ausführlicher auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Das Ideal der heiligen Jungfrau wie der Dame der romantischen Dichter sind Schöpfungen, welche man mit der sittlichen Oi'dnung nicht vereinbaren kann. Was sollte wol ans der Menschheit werden, wenn jedes Weib eine heilige Therese oder eine Isolde wäre, zwei Gestalten, die, so ver- schieden sie sind, für die Gesellschaft gleich verderblich wären, weil sie die Grundlage derselben, die Familie vernichteten. Die Menschheit hatte eine unerschöpfliche Kraft nöthig, um gegen diese beiden mächtigen Prinzipien anzukämpfen ; das eine derselben hätte aus der Welt eine Einöde geschaffen, in der nur noch das Individuum lebte, das andere ein Narrenhaus, neben dem weder Moral noch Gemeinsinn hätte bestehen können. Auf der einen Seite feierten die Kirchenväter und kirchlichen Schriftsteller das Coelibat als den einzigen Stand, in welchem der Mensch zur Vollendung gelange. Eine solche Lehre aber ist nicht allein un- vernünftig, sondern unsittlich, weil egoistisch, denn sie setzt die Vervollkommnung des Menschen in offenen Widerspruch mit den

le C^e A. de Circouit et le C*^ de Puymaigre, Paris 1867 p. 39 f. 542 f. Dieselbe Erzählung bei d'Outremeuse, Le myreur des bist. I. p. 24.3 (ed. Borguet, Brux. 18G4). Auch Rabelais spielt darauf an, da, wo er sagt (II c. 33): Pour ce Ton feit dixsept grosses pommes de cui vre, plus grosses que celle qui est à Rome à Taiguille de Virgilo."

Virgil in der Volkssage. 277

natürlichen Gesetzen der menschlichen Gesellschaft, ja, sie stellt die Existenz der Menschheit selbst in Frage. Wer das Mittelalter kennt und sich jene ganze Schaar von Autoritäten vergegenwärtigt, die bei jeder Gelegenheit die Ehe iind das Weib durch Eede, Schrift und Beispiel in Misscredit zu bringen suchen, dem muss die Heiligsprechimg der Ehe geradezu als ein Hohn auf das Christenthum erscheinen. Auf der anderen Seite trieb aber das Ritt^-thum, welches die ehelichen Bande auflöste und dem Weibe die Grundlage seiner Würde, die Ehrbarkeit und Achtung vor sich selbst entzog, zu ganz denselben für die Gesellschaft tödtlichen Folgen. So kam es, dass trotz einiger reiner Frauengestalten der christlichen Legende, trotz des dem weiblichen Geschlechte bei Turnieren, Liebeshöfeu und in Romanen gestreuten ' Weihrauches, das Weib zu keiner anderen Zeit schändlicher beleidigt, verspottet und erniedrigt worden ist, als im Mittelalter, und zwar in den erwähnten theologischen Schriften in gleicher Weise wie in den Gassenliedem. Eine unglaubliche Menge von meist trivialen imd schmutzigen Anekdoten trugen zu dieser Erniedrigimg des Weibes bei, und was unglaublich klingt, derartige Erzählungen finden sich nicht blos in ünterhaltungsschriften sondern auch iu den Reper- torien der Prediger, welche dieselben von der Kanzel herab vor- trugen, scheinbar um eine Moral daraus zu ziehen, in Wahrheit jedoch oft auch nur um die Lacher auf ihrer Seite zu haben ■^). Wer derartige Repertori en kennt, wii'd den unwilligen Ausruf Dante's verstehen:

„Ora si va con motti e con iscede A predicare, e pur che ben si ride, Gonfia il cappuccio, e più non si richiede."

Eine solche erniedrigende Anschauung zeigt auch der Theü der Virgilsage, welcher sich auf das Weib bezieht. In der ältesten und bekanntesten Erzählung vom verliebten Virgil tritt der Dichter iu ein Verhältniss zu einer jungen römischen Kaiserstochter; die Gluth seines Herzens aber findet keine Erwiderung, und seine grausame Geliebte erlaubt sich sogar, den grossen Mann zu ver- spotten. Sie stellt sich nämlich, als ob sie seinem Flehen Gehör gäbe, und schlägt ihm vor, sich bei Nacht in einer Kiste an das Fenster des Thurmes, in welchem sie wohnt, empor ziehen zu

1) Vgl. Graesse, Gesta Romanoi-um, II, p. 289. Du Méril;, Poésies populaires latines du mcyen-age, p. 315.

278 Virgil in der Volkssage.

lassen. Virgil geht jubelnd auf den Vorschlag ein, legt, sich in die Kiste und fühlt, wie dieselbe emporgehoben wird. So geht die Reise bis zu einem gewissen Pmikte ganz gut, als das Ge- fährt plötzlich auf halbem Wege anhält und bis Tagesanbruch stehen bleibt, wo denn das laute Gelächter des römischen Volkes ausbricht, welches die ehrbare Persönlichkeit Virgil's in einer so schwankenden Situation sieht. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Virgil, welcher endlich wieder festen Boden iinter seinen Füssen findet, wäre hart bestraft worden, wenn er sich durch seine Kunst nicht der Strafe zu entziehen gewusst hätte. Aber die Schmach, die man ihm angethan, war unverzeihlich, und er sann auf schreckliche Rache : Er bewirkte deshalb, dass plötzlich alles Feuer in Rom erlosch, und machte bekannt, dass, wer neues haben wollte, es unter der Kaiserstochter finden würde, und zwar müsse ein Jeder für sich selbst hingehen, um es zu holen, da sich das Feuer nicht mittheilen lasse. So geschah es in der Tbat: Die Kaiserstochter ward auf ötfentlichem Platze in einer nicht näher zu beschreibenden Position ausgestellt imd musste sich die Strafe gefallen lassen.

Diese Erzählung besteht aus zwei verschiedenen Theileu, die sich auch getrennt von einander finden, der Verspottung des Dich- ters und der Rache der Prinzessin. Als Magier tritt Virgil eigent- lich nur in dem letzten Theile auf, während der erste gleich zahl- losen anderen, der profanen wie der heiligen Geschichte, der Ueberlieferung des Alterthums oder auch der reinen Sage ent- lehnten Erzählvmgen des Mittelalters die Idee zur Anschauung bringen will, dass keine Mannesgrösse an die Bosheit des Weibes heranreiche. Adam, David, Simson, Hercules, Hippokrates, Aristo- teles und eine Menge anderer erlauchter Geister figurirten in der Liste derer, welche der Schlauheit des Weibes zum Opfer fielen. Wenn also schon Hippokrates und Aristoteles ihren Namen für solche Fabeleien hergeben mussteu, so verstand sich das für Vii-gil, dessen Weisheit noch besonders berühmt war, eigentlich ganz von selbst. Als Beleg dafür mögen die folgenden französischen Verse eines Anonymus dienen:

„Par femme fut Adam deceu et Virgile moqué en fu, David en fist faulx jugement et Salemon faulx testament; Ypocras en fu enerbé.

Virgil in der Volkssage. 279

Sauson le fort deshonnoré; feinme chevaucha Aristote, il n'est rien qiie femme n'assote ^)."

Eiistache Deschamps (14. Jahrb.) sagt:

•„Par femme fu mis à destruction Sanxes li fort et Hercules en rage, ly roy Davis à redargucion, si fut Merlins soubz le tombel en caige; nul ne se puet garder de leur langaige. Par femme fut en la corbaille à Eomrae Virgile mis, dont ot moult de hontaige. II n'est chose que femme ne consumme^)".

Später liess Bertrand Desmoulins in seinem Rosier des Dames die Wahrheit also sxH-echen:

„Que fist à Sanson Dalida quant le livra aux Philistins, n'à Hercules Dejanira quant le fict mourir par venius? une femme par ses engins ne trompa-elle aussi Virgile quant à uns panier il fut prins et puis pendu emmy la ville ^)?"

1) Aus einem Berner Mauucript, mitgetheilt von C ha baili e , Li livres don Tresor par Brunetto Latini, p. XVI. Uebrigens fällt auf, dass Brunetto wo er (lib. II, p. 2 cap. 89) von dem Unheil, das die Weiber angerichtet haben, redet, zwar Adam, David, Salomon, Sinison, Aristo- teles und Merlin, aber nicht Virgil erwähnt.

2) Aehnlich die von Mila y Fontanals (De los trovatore« cn Espaiìa p. -435) citirteu Verse des Pan de Bellviure:

„Por fembre fo Salomó engauat

lo rey Daviu e Samssó examen,

lo payra Adam ne trencä 'l mandament

Aristotil ne fon com ancantat,

e Virgil, fou pendut en la tor,

e sent Joan perde lo cap per llor

e Ypocras morì per llur barat."

3) S. Recueil de Poésies fran^. des XV et XVI sièclcs réunies et anno- téos par Anat. de Montaiglon, V, p. 195. Montaiglon citirt dabei noch andere französische Verse aus dieser Epoche, die sich auf das Abenteuer VirgiFs beziehen, aus Gracian Dupont, der Nef des Princes und dem Débat de Thomme et de la femme.

280 Virgil in der Volkssage.

Zahllos sind die Belege für diese Anschauung, welche iu der satirischen, moralischen una komischen Poesie der europiiischen Literatur vom dreizehnten bis sechzehnten Jahrhundert geradezu einen Gemeinplatz bildet^). Von Aristoteles erzählt eine orienta- lische Darstellung, dass er sich seiner Geliebten zu Gefallen dazu verstanden habe, einen Sattel zu tragen^), und nach einem Fabliau ^) musste Hippokrates ganz dasselbe erleiden , was man später nur dem Virgil zuschrieb '^). Ohne den Namen beider Männer kömmt die Geschichte aber auch noch in einer Novelle des Fortini^),

1) Wir dürfen auch den berühmten Heinrich von Meissen (Fiuucn- lob) nicht übergehen der die Schlachtopfcr weiblicher List der Reihe nach aufzählt:

„Adam den crsteu menschen betroug ein wi])

Samsones lip

wart durch ein wip geblendet etc."

und auch den Virgil nicht vergisst:

„Vii-gilius

wart betrogen mit valscheu sitten."

Aber der galante Frauenlob, der sonst mit Recht diesen Namen führte, sieht darin nm- die Aufforderung, die Launen seiner Schönen geduldig zu ertragen. Vgl. v. d. Hagen, Minnesinger, HI, p. 355.

2) Barbazan-Meon, Fabliaux, 111, 96; Le Grand d'Aussy, Fa- bliaux, I, 214. V. d. Hagen, Gesammtabeuteuer, I, LXXV ff.; Benfey, Pantschatautra I, 461 ff. Die Anekdote kehrt auch in dem zum Ge- brauche der Prediger compilirten Promptuarium exemplorum wieder. Vgl. Du Méril, Mélanges p. 474.

3) Le Grand d'Aussy, Fabliaux, 1, 232 ff. meint, dass der Name des Hi]>pokrate8 in dieser Erzählung älter als der des Virgil sei. In dem französchen Roman vom h. Graal ist das Abenteuer von Hippokrates er- zählt, die Rache ist aber anders, insofern Hippokrates bewirkt, dass sich seine Schöne zur Strafe in einen abscheulichen Zwerg verlieben muss. Vergi. Paulin-Paris, Les romans de la table ronde 1, 246 fi".

4) Auch diese Erzählung stammt wol aus dem Orient, wenngleich sich bis jetzt in der orientalischen Literatur noch nichts Aelinliches gezeigt hat. Mit den tartarischen Novellen des Gueulotte, mit denen Hagen und andere die Geschichte haben zusammenbringen wollen, hat sie doch nur eine sehr entfernte Aehnlichkeit.

5) „Un pedante credendosi andare a giacere con una gentildonna si lega nel mezzo perchè ella lo tiri su per una finestra; resta appiccato a mezza via: dipoi messolo in terra con sassi e randelli gli fu data la corsa." Fortini, Novelle 5. Hagen imd Roth wollen damit die Novelle Vili, 7 des Decameron und eine Stelle des Philocopus Qi. 283. Sanso- vino) in Beziehung bringen. Aber gerade in der Hauptsache stimmt der Vergleich nicht.

Virgil iu der Volkssage. 281

so wie in einem deut.scheu ^) und französischen noch hente bekannten Volksliede vor^).

Der zweite Theil der Erzählung taucht in der europäischen Literatur schon zwei Jahi-hunderte früher auf, bevor man denselben auf Virgil bezogen hatte, z. B. in einem alten Texte von den „Acta" des Thaumaturgen S. Leo ^), welcher im achten Jahrhundert in Sicilien lebte. Diese Acta sind aus dem Griechischen übersetzt, und die Erzählung stammt gewiss aus dem Orient. In der That hndet sich dieselbe mit einigen Abweichungen in einer persischen, von Defréméry*) übersetzten Geschichte von den mongolischen Khans Turkestans und Transoxiaua's, wie auch in einer, einem arabischen Sprichwort zu Grunde liegenden Anekdote^), die sich dann unter den Byzantinern verbreitet haben wird. In einer neu- gi-iechischen Schrift aus dem vorigen Jahrhundert finden wir beide Theile mit einander vereinigt und auf den Kaiser Leo den Philo- sophen bezogen''). Auf Virgil wurde der zweite Theil eher als der erste angewandt, und zwar scheint das älteste Beispiel dafür das bereits citii-te Gedicht des Troiibadours Giraud de Calan^on (nicht später als 1220) zu sein, welcher unter anderen Thaten

1) Aus dem 15. 16. Jahrh. unter dem Titel: „Der ScLroibiir im Korl", bei Simrock, die deutschen Volksbücher, Vili, 396. Vgl. v. d. Hagen, Gesammtabenteuer III, CXLIII und Uh land, Schlitten IV, 512 ff.

2) De Puymaigre, Chants populaires recueilüs daus le pays messin, p. 151 f.

3) Acta Sanctorum. Feb. III^ 225. In der englischen Version des Volksbuches über Virgil heisst es dagegen von diesem, dass er in der Kaiserstochter, die eben auf der Strasse ist, die Vorstellung erweckt, als ob sie im Wasser stehe und sich daher das Kleid hoch aufnimmt. Vgl.. Gen the, Leben und Fortleben des P. Virgilius Maro als Dichter und Zauberer p. 56. Die Anekdote findet sich auch in der Sage vom Zauberer Heliodor: „alias (mulieres) iter facientes, falsa fluminis specie objeeta, indecore nudaii compulit, et per siccum pulverem quasi aquam inambu- lare. Vgl. Liebrecht, Orient und Occident I, 131. Ebenso macht mich Liebrecht auf eine gleiche arabische Sage aufmerksam bei De Hammer, Rosenöl, I, 102. Vgl. auch Weil, Biblische Legenden der Muselmänner, p. 267.

4) Journ. asiat., IV. sér. 19, 85 ff.; Liebrecht in der Germania X, 414 ff.

5) Freytag, Arabum proverbia II, 445, No. 124.

6) Liebrecht, Neugriech. Sagen in der Zeitschr. f. deut. Philol. V. Höpfner u. Zacher, H, p. 183.

282 Virgil in der Volkssage.

Virgils auch von dem Feuer berichtete, „das er auszulöschen wus.ste" („del fbc quo saup escautir"). In der „Image du monde" wird der ganze zweite Theil ohne den ersten erzählt. Es wäre indcss nicht unmöglich, dass man diesen unabhängig von jenem mit Virgil zusammengebracht hätte, noch bevor die Idee vom Zauberer Virgil entstand. Virgil tritt darin nur als ein weiser Mann auf, was ge- rade die Erzählung als Novelle komischer, als Beispiel massgebender macht. Der zweite Theil lässt deutlich erkennen, dass er an den ersten nur angeflickt worden ist: Virgil zeigt sich darin als mächtiger Zauberer, während er im ersten Teile der Verspottung ahnungs- los unterliegt.

So vereinigt begegnet nun die Erzählimg in einer lateinischen Handschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert') und in der Wclt- chronik von Jans Enenkel^), ferner im Renai't contrefait und iu vielen, besonders deutschen und französischen, aber auch englischen, spanischen und italienischen Schriften des vierzehnten bis sech- zehnten Jahrhunderts; unabhängig von den Darstellimgen, in denen das Factum zugleich mit anderen Virgilsagen berichtet wird, er- wähnen die meisten dasselbe in spasshaften wie ernsten Declama- tionen über das Weib i;nd die fleischlichen Sünden. Der Spanier Jean Ruiz de Hita (1313) erzählt es bei Gelegenheit des „Pe- cado de Luxuria." In den Zeiten Ferdinand's und Isabellen's, als Diego de Santo Pedi-o in seinem „Carcel de amor" im Interesse des Weibes es aussprach, dass „uns die Weiber mit den theolo- gischen, wie den Cardinal-Tugenden beschenken und uns mehr als die Apostel zu Katholiken machen", ward die Virgilanekdote zum Spott der Weiber in einem spanischen Gedichte citirt, dessen Titel sich nicht augeben lässt ^). Im Bunde mit der Moral tritt die

1) Du Morii, Mélanges p. 430.

•2) V. d. Hageu, Gesammtabcntcuer II, 515 fl'.; Massmaun, Kaiscr- thronik III, 455 ff.

3) ,,Canconiero de obras de burlas provocantes a ri.sa" p. 152. Aussei'- dcm sind hier noch als bezüglich auf die Sage zu erwähnen: das fran- zösische Gedicht „Le bätard de Bouillon" (vgl. llist. litt, de la Fr. XXV, 613); eine anonyme Chronik der Bischöfe v. Lüttich. (De Siuner, Ca- tal. cod. bibl. bern. II, 149); Symphorien Champier, De claris medi- cinae scriptoribus , tractat. 2; Martin Franc ,, Champion de.s danics" fol. CIV; eineHds, und die alte Ausgabe des Lanzelot iu Prosa (Hagen, Gesammtabenteuer III, p. CXL); Reinfrit v. Braunschweig. (Hagen, a. a. 0. p. CXL. Das "Weib hcisst hier Athanata); ein altdeutsches Lied,

Virgil in der Volkssage. 283

Erzählung nicht nur in der Literatur') bis zum üebermass auf, sondern ward auch in der Kunst in Marmor, Holz und Elfenbein dargestellt, und musste sogar in den Kirchen die Augen der Gläu- bigen ergötzen^). Auch in Gemälden und Holzschnitten hat sie ihren Ausdruck gefunden und zählt berühmte Künstler wie Lucas von Leyden, Georg Pencz, Sadeler, Hopfer, Sprengel u. A. zu den Urhebern derselben ^),

Unter den Italienern scheint^ abgesehen von Alipraud, von welchem weiter unten die Rede sein wird, die Erzählung von Sercarabi (1347 1424) in seiner unedirten Chronik zuerst auf Virgil angewandt worden zu sein''). Die Geschichte war so be- kannt, dass man sogar einen der Thürme Roms als Ort der Hand- lung bezeichnete. Nur so erkläre ich mir den „Torre di Vii-gilio" benannten Thurm der Frangipani^), so wie die in der deutschen

welches anfängt: „Her Vilius von Astronome}' ze schule gie" (Hagen, a. a. 0. p. CXLI); Hawes, Pastime of pleasure, c. XXIX; Gowcr, con- fessio amantis, 1. VIII, fol. 189; die spanische Tragikomödie „La Celestina", 7. Act; Der „Corbacho" des Erzpriesters Talavera; Diego Martiuez im Canconiorc de Baena ed. Michel, II, p. 29; Diego de Valencia, ebenda p. 87; der „Romance de don Trista" bei Michel, Tristan, II, p. 302 ff. u. s. w.

1) Ein Metzer Chronist, Philipp v. VigneuIIes beschreibt ein Fest, das in Metz statt fand, bei dem zu Ross und Wagen David, Alexander, Karl der Grosse, Arthur, Salomon etc. auftraten und fügt dann hinzu: „pareillement estoit en I'uug d'iceux chariots le saige Virgile rpii pour femmc pendelt à une corbeille." S. Puymaigre, Chants populaires re- cueillis dans le pays messin, p. 153 und desselben „Les vieux auteurs castillans" Bd. II, p. 59.

2) L. Langlois, Stalles de la cathédrale de Rouen, p. 173; De la Rue, Essais historiques sur la ville de Caen, p. 97 ff.; Montfaucon Ant. expl. Bd. III, Pars III p. 356.

3) Vgl. Bartsch, Peintre graveur. No. 16,51,87,88,130; Graesse, Beiträge p. 35 ff'; Bekker und von Hefner, Kunstwerke und Geräth- schaften des Mittelalters und Renaissance, erste Lieferung. Auf die Ge- schichte von dem ausgelöschten Feuer bezieht man ohne Grund ein Bild Malpicci's, gestochen von Andreani in der „Iconogr. des estampes à su- jets galants" par M. le C. D'I . . . (Genève 1868) p. 501. Auch die Erzählung von Aristoteles und Phyllis ward in einigen Kunstwerken dar- gestellt. Vgl. Benfey, Pantschatantra I, 462.

4) „Novella inedita di Giovanni Sercambi." Lucca 1865 (in 30 Exem- plaren gedruckt) und wiederholt von D'Ancona, Novelle di Giovanni Sercambi" Bologna, 1871 p. 265 ff.

5) Marangoni, Memorie dell' anfiteatro romano, p. 51.

2S4 Vir<?il iu der Volkssage.

Version der Mirabilia des fünfzehnten Jahrlnmderls und iu einer deutschen gleichzeitigen Schrift über die sieben Hauptkirchen Kom.s eingeÜochtene Anekdote'). Berni erwähnt auch^) unter den Alter- thümcrn, welche von den Pilgern gesehen werden müssen: . . la torre ove stette in due cestoni Virgilio spenzolato da colei" Aeneas Silvius citirt in seinem Gedichte: „De Euryalo et Lucretia" (1440) den ersten Theil der Begebenheit als moralische Ermah- nung, während derselbe iu der „Murtoleide" die Stelle einer Ver- wünschung einnimmt:

„Possa come Virgilio in una cistola Dalla fenestra in giù restar pendente." In dem alteu italienischen Gedichte „11 padiglione di Carlomaguo" heisst es:

„Ancora sinede Aristotil storiare E quella femmina che l'ingannò, Che come femmina lo facea filare E come bestia ancor lo cavalcò, E'I morso iu bocca gli facea portare, E tutto lo suo senno gli mancò;

Da l'altra parte Virgilio si mirava Che nel cestone a mezza notte stava ^)". Und so findet sich die Erzählung noch in vielen anderen ita- lienischen Texten des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts. Unedirt ist bis jetzt eine „Canzone morale in disprezzo d'amore'*)", welche sich in einer Handschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert in der Magliabecchiaua zu Florenz fiudet. Hier gesellt sich zu Jupiter, Aristoteles, Salomon u. s. w. gleichfalls Vii-gil: „Letf hai d'una donzella che ingannava Virgilio collocato in una cesta, E fuor della finestra Attaccato lasciollo in fino a giorno."

1) Massmann, Kaiserchr. Ili, 4.'ì4.

2) „Il primo libro delle opere di M. Francesco Berni e di altri." (Leiden 1823) Tbl. I, p. 147.

3) Dieso Octave, die sich in alien Ausgaben fiudet, soll nach Prof. liajna ebenso wie eilf oder zwölf andere iu der llds. fehlen. Die älteste bekannte Ausgabe ist aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert.

4) Cod. 40, Pal. II f. 140b— 141b. Mitgetheilt durch Raj na. Das dem Liede vorausgehende Gedicht trägt den Namen des Guido da Siena, der aber ausgestrichen ist. An seine Stelle trat der Name: Messer Bartolomeo da Castello della Pieve.

Virgil in clor Volkssage. 285

In einem noch nicht herausgegebenen Gedichte gegen die Liebe (aus derselben Zeit) heisst es:

„E tu Virgilio parasti le botte Che sanno dar le donne a' loro amanti, Tu ti pensasti rimetter le dotte Con colei che ti fea inganni tanti. A casa sua tu andasti una notte

Fatto lo'mposto cenno, ella fu presta, E pianamente aperse la finestra. Con una fune una cesta legoe, Per dimostrare di farti contento, E fuor della finestra la mandoe Dove tu eri e tu v'entrasti drento; Tiretti a mezza via e poi t'appiccoe A un arpion per tuo maggior tormento e finoal giorno istesti appiccato, Dal popolo e da lei fosti beffato ^).''

In dem „Contrasto delle donne" des Antonio Pucci") geschieht eben- falls des Virgil Erwähnung:

„Diss una che Virgilio avia 'n balia: Vieni stasera, ed entra nella cesta E collerotti a la camera mia. Ed ei v'entrò, ed ella molto presta Il tirò su; quando fu a mezza via Il canape attaccò, e quivi resta; E la mattina quando apparve il giorno Il pose in ten-a con suo grande scorno, Risp. Virgilio avea costei tanto costretta Per molti modi con sua vanitade Ch'ella pensò di farli ime befifetta A ciò che correggiesse sua retade;

1) Das mir von d'Ancona mitgetbeilte Gedicht in einer Hds. des Herrn Guasti beginnt: „Or mi posso doler di te Tubbia" und endigt: „E tu ti goderai col tuo marito." Der 6. Vers der ersten Octave fehlt in der Hds.

2) Herausgegeben von d'Ancona ira Propugnatore, 1870, I, 417 f. die erste Ausgabe von Brunet (IV, p. 121) ist sehr selten, und ohne Namen des Verfassers.

2SG Virgil iu dor Yolkssagc.

E fe' quel che tu non per vendetta Ma per difender la sua castitade; Ver' è che poi, con sua gi-ande scienza, Fece andar sopra lei aspra sentenza."

Also auch die italienische Dichtkunst jener Zeit wühlte sich diese Begebenheit zum Stoffe für ihre Dichtungen, Der Holzschnitt eines unbekannten Verfassers aus der altitalienischen Schule trägt unter der Darstellung 'derselben Anekdote folgende, dem Pucci entlehnte Verse :

„Essendo la mattina chiaro il giorno Il pose in terre con suo grande scorno; Ver' è che poi, con sua gi-an sapfenza; Contr' a costei mandò asjjra sentenza ^)."

Ein Bild des Peiin del Vaga, welches die Scene der Rache dar- stellte, hat E. Vico in einem Stiche reproducii't, der die Unter- schrift trägt: „Virgilium eludeus meritas dat foemina poenas. Roma 1542^)." Eine Handschrift der „Trionfi" des Petrarca in der Laurenziana weist in einer Miniatur vier Schlachtopfer des Liebes- gottes nach: den spinnenden Hercules, den geschorenen Simson, Aristoteles mit dem Sattel und Virgil in der Kiste ^).

Der zweite Theil der Novelle kömmt in einem der zahlreichen italienischen Volksbücher vor, die noch fortwährend gedruckt werden, wird aber hier freilich nicht auf Virgil, sondern auf Pietro Bar- liario (nicht Pieti'o Abelardo, wie einige meinten) bezogen ''), welcher

1) In der Dresdner Sammlung; beschrieben von Gracsse, Beiträge, p. 35 f. /

2) S. Bartsch, 40 und „Teonographie des estampes etc." p. 7.S3.

3) Cod. Strozz. No. 174. Man sieht Virgil in einer Kiste schwebend (ohne den Thurm) und vor ihm die Prinzessin.

4) Das Gedicht führt den Titel: „Vita conversione é morte di Pietro Barliario nobile salernitano e famosissimo mago, composta da Filippo Cat aloni romano." Lucca. Eine andere Redaction des Gedichtes, je- doch ohne die citirte Episode trägt den Titel: ,, Stupendo miracolo del crocifisso di Salerno con la vita e morte di Pietro Baiiardo famosissimo mago, opera nuova per consolazione dei peccatori posta in ottava rima e data in luce daLuca Pazienza, napoletano." Lucca, 1799. Beide Aus- gaben besitzt Prof. d'Ancona. Man glaubt, dass dieser Pietro Barliario (auch Baiiardo oder Baialardo) sich mit Alchymie beschäftigt habe und darum für einen Zauberer galt, sowie dass er als Mönch unter den Beue- dictincru von Salerno am 25. März 1149 starb. Mazza will sein Grab

Virgil iu der Volkssage. 287

wie Virgil in mehr als einer Hinsicht die Erbschaft des alten Zanberers Heliodor autrat;

„Adirato si parte indi comanda A'demoni che tosto abbiano spento Tutto il fuoco che fosse in ogni banda, Fosse da loro estinto in un momento. Onde per compir l'opera nefanda La donna pigliar con gran tormento, E in piazza tw portata di repente, Nuda, parea che ardesse in fiamme ardente.

Correa il popol tutta in folta schiera A provveder di fuoco le lor case. Fra le piante di qiiella in tal maniera Sorgea la fiamma, onde ciascun rimase. E l'uno a l'altro darlo invano spera Che presto si smorzava; intanto sparse La Dea eh' ha cento bocche un gran romore E l'avvisonandò al governatore."

Diese, ausserhalb Italiens entstandene Erzählung war aber nicht die einzige, welche den Zauberer Virgil mit dem schönen Geschlechte in Verbindung setzte. Einige Ueberreste antiker Vor- stellungen der griechisch-römischen wie der orientalischen Welt, mehr aber noch die nationalen Gebräuche der erobernden deutschen, Barbaren verbreiteten im Mittelalter selbst in den Ländern einer feineren Cultur wie Italien die Idee und Anwendung der Gottes- urtheile, wobei die Gottheit durch ein Wunder die Wahrheit offen- baren sollte. Bei der geringen Achtung, welche das Weib genoss, galten auch sie für ein Mittel, den Lebenswandel des schönen Geschlechts auf die Probe zu stellen^). Noch fruchtbarer indess, als die Phantasie der Eifersüchtigen, die nicht müde wurden, alle nur möglichen Arten von Proben aufzufinden, war die Phantasie der Novellisten, Moralisten und Eomanschreiber , welche zum Be-

gesehen und darauf gelesen haben: ,,hoc est sepulcrum m. magistri Petri Barliari." S. Urbis Salernitanae bistoria p. 33 f. (bei Graev. et Burm., Thes. IX, 4). Vgl. De Renzi, Storia della medicina in Italia, H p. 118. Das neapolitanische Volk schreibt dem Barliario die Brücke des Caligula zu; s. Ampere, L'empire romain à Rome. II, 9.

1) S. die reiche Aufzählung bei Du Meril, Einleitung zu „Floire et Blauceflor" p. CLXV ff.

288 Virgil in der Volkssage.

weise, dass die weibliche List sich selbst dem strengsten Gottes- uitheil zu entziehen wisse, die verschiedenai-tigsten Anekdoten er- sannen. Hierbei fand sich Europa ganz im Einklänge mit dem Orient, wo die Lage des Weibes die alleniiedrigste war, und von wo man auch die schändlichsten Erzählungen der Art heriiber- nahm.

Mit einer derselben, welche gleich bekannt im Orient wie Occident war, wurde auch der Name Vii-gil's vertlochten, und zwar in ähnlicher Weise wie bei der Geschichte mit der Iviste. Vir- gili), so hiess es, verfertigte in Rom einen Kopf, dessen Mund geöflFnet war. Diejenigen, welche ihre Keuschheit oder eheliche Treue beweisen sollten, mussten nun ihre Hand in den Mund des Kopfes legen; logen sie, so blieben ihre Finger in dem Munde. Ein Weib, das sich eben rechtfertigen sollte, verstand es jedoch, den Beweis zu vereiteln. Sie zwang ihren Galan, sich als Nan-en zu verkleiden, und sobald er ihrer auf dem Platze, wo das Gottes- nrtheil vor sich gehen sollte, ansichtig geworden sei, auf sie zu zu laufen und sie zu umarmen. So geschah es. Das Weib stellte .sich höchst entrüstet, aber der Ehemann wollte von dem armen Narren kein Aufhebens machen. Und so schwur das Weib, dass sie in ihrem ganzen Leben Niemand iimarmt hätte, mit A usnahme ihres Mannes und jenes NaiTen. Das war aber die Wahrheit, und so ging ihre Hand unverletzt aus dem schrecklichen Munde heraus. •Virgil merkte den Betrug und musste gestehen, dass die Weiber doch noch schlauer seien, als er selbst.

Diese Erzählung findet sich nur mit Veränderung der Namen und Oertlichkeiten im (^'ukasaptati, einer Sammlung indischer No- vellen, sowie in der Geschichte von Ardschi Bordschi Chan, einem mongolischen, aber seinem Ursprünge nach indischen (Siuhàsanad- vàtrin9at) Werke ^) wieder. In Europa Avar sie schon längst be-

1) Vgl. Jean Hansel: Fleur des Listoires bei Du MériI, Mclanges p. 444 f.; die „Faits mevveilleux de Virgile"; „Kurzweilige Gespräch" Frankf. 1563; „Leben und Fortleben des P. Virgilius Marc'* bei Genthe p. 75; Massmann, Kaiserchr. III, 449; Schmidt, Bei- träge, 139—141 f.

2) Vgl. Benfey, Pantschatiintra I, 457; Bartsch in Pfeiffers Ger- mania V, 95 ff; den Text der moiiijfolischen Erzählung bei Jülg: „Er- zählung aus der Sammlung Ardschi Bordschi, ein Seitenstück zum Gottesgericht in Tristan und Isolde" (publicirt 18G7. Innsbruck), nnd in desselben gelehrtem Werke „Mongolische Märchen" (Innsbruck 1808J. Vgl. meinen Aufsatz in der Revue critiqne 18G7, I, p. 185 ff.

Virgil in der Volkssago. 289

bannt, wie denn Lei Macrobius eine ihr ganz gleiche, gewiss altlatei- nischen Schriftstellern entlehnte Anekdote zu lesen ist, in welcher nur das erotische Element fehlt ^). Dieselbe machte als ein Bei- spiel für die „Schlauheit der galanten Frau" die Rundreise durch ganz Europa, auch unabhängig von dem Namen Virgils, und findet sich z. B. im französischen Tristan ^), in den Novellen Straparolas, Celio Malispinis, im „Patranuelo des Timoneda u. s. w.^). So viel ich weiss, wird der Name Virgils zuerst in einem deutschen Ge- dichte aiis der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts unter dem Titel : „Von einer Bildsäule in Rom, die den Ehebrecherinnen die Finger abbiss" mit der Geschichte verflochten*). Das Denkmal aber, auf welches sich dieselbe bezieht, steht in Rom bei S. Maria in Cosmedin und heisst noch heute „Bocca della verità." Es ist die antike Maske einer Cloakenoifnung, von der die Mirabilia er- zählten, dass sie wahrsagen könne. Eine dabei befindliche Inschrift aus dem Jahre 1632 sagt aus, dass man beim Schwören die Hand hinein legen musste, was auch der gewiss noch aus dem Mittel- alter stammende Name des Platzes bei der Kirche, der gleichfalls Bocca della verità heisst, bezeugt^). Es erklärt sich daraus auch, wie die Erzählung in Rom localisirt und dann mit Virgil in Zu- sammenhang gebracht worden ist. Die deutsche Bearbeitung der

1) „Tremellius vero Scropha cognominatus est eventu tali. Is Tre- mellius cum familia atque liberis in villa erat. Servi ejus, cum de vicino scropha erraret, subreptam conficiunt; vicinus advocatis custodibus, om- nia circumvenit, ne qua afferri posit: isque ad dominum appellat restituì sibi pecudem. Tremellius qui ex villico rem comperisset, scrophae cadaver sub centonibus conlocat super quos uxor cubabat; quaestionem vicino permittit. Cum ventum est ad cubiculum, verba jurationis concipit: nullam esse in villa sua scropbam nisi istam, inquit quae in centonibus jacet: lectulum moustrat. Ea facetissima juratio Tremellio Scrophae cogno- nientum dedit." Macrob. Sat. I, 6, 30.

2) Michel, Tristan I, 199 S.

3) Dunlop-Liebrecht, p. 500.

4) Publicirt von Bartsch in Pfeiffer's Germania IV, 237 ff.

Tj) Hagen (Briefe in die Heimatb, IV, 106) bemerkt, dass, wo jetzt S. Maria in Cosmedin steht, früher ein Tempel der Pudicitia stand, was also der Ursprung der Legende erklärt. Nahe beim Forum boarium war der Tempel gewiss, allein die Archaeologen (z. B. Becker-Marquardt, Handb. d. röm. Alterth. I, 480) glauben nicht, dass er an der Stelle der Kirche gestanden habe. Die älteste Notiz (in den Mirabilia) über die Sage spricht übrigens nicht von Orakeln, die sich auf die Keuschheit bezögen. Vgl. Beschreibung der Stadt Rom, III, 2, p. 381.

Couiparetti, Virgil im Mittelalter. 19

290 Virc;il in der Volkssage.

Mirabilia aus dem fünfzehnten Jahi'lmudert nennt in der That be- reits den Virgil und erzählt, weshalb der Stein später seine Be- deutung verlor^).

Neuntes Capitel.

Wer all diese mit dem Namen des Virgil verknüiiften Er- zählungen ordnen und einigen Lücken mit der Phantasie nachhelfen wollte, der könnte eine vollständige romantische Biographie des berühmten Zauberers zu Stande bringen, wie dies denn in der That aucli geschehen ist. Bevor wir jedoch derartige Schöpfungen betrachten, ist es nöthig, auf die Schicksale zu sehen, welche die Virgilsage in dem Lande hatte, wo sie zuerst entstanden war. Der Leser wird sich erinnern, dass mit Ausnahme der Legenden, welche Gervasius und Kourad in Xeapel gehört hatten, alle übrigen von anderen Ländern her nach Italien gekommen waren; obgleich jene Erzählungen sehr bald in die Literatur übergingen, kamen doch nur wenige den italienischen Schriftstellern zu Ohren. Der älteste italienische Beleg für die Sage ist die „Cronica di Parte- nope" von „Bartolomeo Caraczolo dicto Carafa, cavaliere di Napoli", die bis zum Jahre 1382 geht^) und nach der Aussage des Au- toi'S selbst nur eine Compilation aus anderen Chroniken ist. Der Verfasser erzählt demnach über Virgil nicht blos das, was er in Neapel gehört, sondern auch, was er bei Gervasius und einem ge- wissen Alexander gefunden hatte. Wäre unter Letzterem Alexander Neckam zu verstehen, so müssten wir sagen, dass er „de naturis rerum" in einer verstümmelten und interpolirten Handschrift oder

1) Vgl. Massmann, Kaisercbr. III, 449. Die Anekdote ist dar- gestellt auf einigen Holzschnitten nach Lucas v. Leiden. Vgl. (ausser Bartsch) Passavant, Le Peintre graveur III, 9. Ein darauf bezügliches Gemälde in einem Hause zu Rom erwähnt die Beschr. d. St. Rom 111, 2, .382. Hans Sachs schrieb dem Virgil die Construction einer Brücke zu, auf der sich beim Tönen eines Glöckleins kein Ehebrecher festhalten konnte. Er tröstet damit Arthur und zeigt ihm, in wie zahlreicher (ie- sellschaft er sich befinden müsse. Vgl. v. d. Hagen, Gesammt- abeuteuer, III, CXXXVI.

2) Der Titel der Chronik in den Hdss. ist auch „Cbroniche de la inclita cita de Napole con li bagni di Puzzole et Ischia." Hdss. der beiden ältesten Ausgaben sind sehr zahlreich. S. Brunet, Manuel, V, 1226 f. Das auf Virgil Bezügliche haben Graesse, Beitrüge, p. 27 ff.. Vili ari, Annali delle Università toscane, VIII, p. 162 ff. und zum Theil auch Ga- lla ni, Del dialetto napoletano p. 0!^> ff. publicirt.

Virgil in der Volkssago. 291

in irgend einem unvollstündigen und abweiclienden Auszuge bei einem anderen Scliriftsteller gelesen hat.

Das, was uns Gervasius sagt, finden wir auch in der Chronik wieder: es ist, einige Bemerkungen des Verfassers ausgenommen, die bekannte neapolitanische Sage des zwölften Jahrhunderts. Virgil erscheint als der Wolthäter der Stadt zu der Zeit, als er „con- sili ario et quasi rectore o vero maistro di Marcello" und von Octavian zum „duca de li napolitani" erwählt worden war. Er legte , Wasserleitungen, Quellen, Brunnen und Cloaken in Neapel an; er führte das Carbonaraspiel^), ähnlich dem Pisaner „Giuoco del Ponte" ein, jene kriegerische Uebung in fingirten Angriffen, die schliesslich mit tödtlichen Zwisten endete, und fügte zu den vorhandenen Talismanen eine kupferne Cikade hinzu, welche alle anderen Cikaden von Neapel verjagte, so wie einen kleinen stei- nernen Fisch an der „preta de lo pesce" genannten Stelle, wodurch zahlreiche andere Fische angelockt wurden^). Die Idee des im Castello dell' Ovo bewahrten Palladiums der Stadt bleibt dieselbe. Auch die von Gervasius berichtete Erzählung von dem Verlangen jenes excentrischen Engländers findet sich in der Chronik wieder. Das geheimnissvolle Buch soll Virgil, „wie es in einer alten Chronik heisst," selbst in einer Grotte des Monte Barbaro, wohin er sich oft mit einem gewissen Philomelus begab, unter dem Kopie des Chiron gefunden haben ^). Obgleich aber dies Buch mit „Negromanzie" bezeichnet wii-d, und der Verfasser der Chronik bei Virgilischen Werken in Neapel an „Magie" denkt, so meint

1) Vgl. Petrarca, Epist. de rebus fam. V, ep. 6.

2) Vgl. Sacchetti, Novelle 216: „Maestro Alberto della Magna giugendo a uno oste sul Po gli fa uno pesce di legno col quale pigliava quanti pesci volea."

3) Es kann wol nur der Kentaur Chiron gemeint sein, der in der mythischen Periode der Geschichte der Medicin, die sich ja im Alter- thum mit der Magie berührte, eine Rolle spielt. Auf Chiron ward auch ein im Mittelalter sehr gebrauchtes Buch: „Herbarium Apulei Platonici traditum a Chirone Centauro magistro Achillis" zurückgeführt. Unter Philomelus wird wol der alte Arzt Philumenos zu verstehen sein, von dem einige Hausmittel herstammen sollen, die allerdings magischen Operationen sehr ähnlich sind (S. Becker -Mar quardt, Handb. d. röm. Alt. IV, 117 ff.). Möglich, dass die Erzählung des Caracciolo gar nicht aus dem Volke stammt, sondern erfunden ist, um das Werk eines Vorläufers des Cardanus und Paracelsus zu empfehlen. Nach der neapolitanischen Sage ist der Monte Barbaro voll von Schätzen, wie schon Conrad von Querfurt bemerkt.

19*

292 Virgil in der Volkssage.

er damit doch bloss die Keuutniss vom Einflüsse der Plaueteu. Er redet von Virgil mit grosser Achtung, nennt ihn- einen ausge- zeichneten Dichter imd sieht durchaus nichts Teuflisches in seinen Schöpfungen. Die Grotte von Pozzuoli, welche vor jedem Unheil bewahrt sein sollte, hatte Virgil nicht durch Teufelskunst, sondern mit Hilfe der „Geometrie" so geschafl'eu.

Natürlich musste das auf dem Wege nach Puteoli gelegene Grab des Dichters der Mittelpunkt der Virgilsagen werden. Und so fügte auch später Scoppa zu den nach der Cronica di Parteuope wiedererzählten Sagen noch folgende Bemerkung über die Grotte von Pozzuoli hinzu: „Ich weiss, dass Einige, gestützt auf die Au- torität des Plinius, nicht davon abzubringen sind, dass die Grotte von Lucullus und nicht von Virgil gemacht sei. Aber ich bleibe auf Seiten unserer Chroniken, weil vom Alterthunie die Alten am meisten wissen, zumal wenn sie im Lande einheimisch sind." Und wie volksthümlich diese Anschauung war, beweist der Umstand, dass der Name „Grotta di Virgilio" noch heute vorhanden ist, so wie die Thatsache, dass Petrarca, als ihn der König Robert alles Ernstes hierüber befragte, antwortete: „Ich erinnere mich nicht, jemals gelesen zu haben, dass Virgil die Steine behauen habe ')."

Die Sage muss demnach noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert in Neajpel existii't liaben, ohne dass man hier etwas von dem Zauberer und verliebten Virgil wusste. Es scheint, dass nur die Sage von den vier Todtenköpfen, welche Virgil in Neapel aufstellte, und welche dem Herzog Alles, was in der Welt geschah, enthüllten, von aussen hereingebracht sei. Hier ist die der „Sal- vatio liomae" und dem wunderbaren Spiegel zu Grunde liegende Idee also mit dem "sowol Virgil wie Gerbert zugeschriebenen spre- chenden Kopfe zusammengebracht.

Der Verfasser der Chronik hat sich wol gehütet, die Sage zu erweitern und phantastisch auszuschmücken. Er berichtete sie ganz

1) „Nusquam memini me legisse luarmorarium fuisse Virgilium." Itiner. Syriac. I, 560 (Ed. Bas. 1581); Theod. a Niem, De schisuiate, II, 22. Als Werk Virgil's wird die Grotte u. a. citirt von T her- sander, Schauplatz viel, ungereimt. Meyn. II, 308, 554; Jean d'Autun, Chroniques, I, p. 321 etc., Marlowe, Doctor Faustus, erster Act, Sc. 26 sagt:

„There aaw we learned Maro's golden tombe, the way he out an english mile in length thoroug a rock of stoue, in one night's space."

Virgil in der Volkssagc. 293

einfach als Historiker, weil er sie im Volke gehört und Gervasius sie aufgezeichnet hatte ; aber es fiel ihm nicht ein, an das Märchen zu glauben. Am Schlüsse gibt er eine Erklärung, die der ge- sunden Vernunft der Italiener alle Ehre macht : „Ich könnte von Virgil noch vieles Andere erzählen, was man von ihm hört, allein es erschien mir meist fabelhaft und falsch zu sein, und deshalb wollte ich den Verstand der Leute nicht damit beschweren. Und dieweil ich schon Vieles von Virgil berichtet habe, woran zu glauben nicht einmal mir einfällt, bitte ich jeden Leser, mich zu entschuldigen, darum, dass ich weder den wahren oder falschen Ruf des grossen Dichters, noch das Wolwollen, welches er selbst gegen das berühmte Neapel hegte, verringern wollte. Aber die Wahi-heit aller Dinge weiss Gott allein. Ich schreibe nichts Falsches oder Unglaubliches, ohne den Leser darauf aufmerksam zu machen."

Obgleich die Sagen auch im südlichen Italien wol bekannt waren, so verbreiteten sie sich doch sehr langsam auf der Halb- insel, Die älteste Erwähnung glaube ich in einem Gedicht des Ruggieri von Apulien zu finden, der wol nicht später als in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts gelebt haben wird :

„Aggio poco senno alla stagione, E saccio tutte l'arti di Vii-gilio ^)."

In dem übrigen Italien erscheint die Sage nicht vor dem vier- zehnten Jahrhundert, mischt aber dann Originales und Einheimisches mit Fremdartigem zusammen. Einige Autoren vùn Toscana, welche in Neapel gewesen waren, hörten sie dort von dem Volke. Boccaccio citirt in seinem Dantecommentar (1373) nur drei Wunderwerke Virgil's : die broncene Fliege, das broncene Pferd und die Marmor- köpfe an der Porta Nolana. Er bemerkt dazu, dass Virgil weit mehr in Neapel als in Rom lebte und dass er dorthin von Mai- land aus kam^), weil er ein guter Dichter war und wusste, „dass

1) Das Gedicht, welches anfangt:

„Giammai null' uom non ha si gran ricchezza." findet sich in dem berühmten Libro reale des Vatican (3793 No. 71) das hoffentlich in nächster Zeit von mir und d'Ancona herausgegeben werden wird. Vgl. Giron, in „Romanische Studien" v. Boehmer I, (1821) p. 61 ff.

2) So heisst es in dem interpolirten Texte der s. g. Biographie des Donat. Nach dem achteren Text kommt der Dichter direct von Mailand

294 * Virgil in der Volkssagc.

die Dichter Octavian angenehm seien". Vor ihm spielte Cino da Pistoia *) auf die wunderbare Fliege an in den Spottversen gegen Neapel, die Ciampi nicht verstanden hat:

„0 sommo vate, quante mal facesti

A venir qui; non t'era me' morire

A Pietola colà dove nascesti?

Quando la mosca, per l'altre fuggire.

In tal loco ponesti

Ov' ogni vespa doveria venire

A punger quei che su ne' boschi stanno."

Der Florentiner Volksdichter Antonio Pucci aus dem vierzehnten Jahrhundert erwähnt in seinem „Zibaldone", von dem es zwei Hand- schriften in Florenz gibt"), unter den Wunderwerken Virgil's die Fliege, das Pferd, das auf dem Ei schwebende Schloss, den Garten, die zwei Leuchter und eine Lampe, die immer brannten, di^ List des Weibes und Virgils Rache, den sprechenden Kopf, die Ge- schichte vom Tode des Dichtei's und die Wunderkraft seiner Ge- beine. Aber er verlegt, wie so viele fremde Romandichter, Virgil's Grab nach Rom. Man weiss, dass er die Dichtungen der Aus- länder kannte"'); dennoch sprach er nicht von „Teufelskunst", son- dern schrieb die Werke Virgils seiner Kenntniss der Astrononüe zu, so wie sie Gidino da Somraacampagna in einem an Francesco Vannozzo gerichteten Sonnett^) der Kenntniss, welche Vii-gil von den Naturgeheimnissen hatte, zuschreibt:

„Dell' eccellente fisico Marone

Che circa il natural pose sua cura."

Während aber der Virgil der neapolitanischen Sage Nichts mit jener lächerlichen oder hässlichen Figur gemein hat, die sich in an-

nach Rom (vgl. Keifferscheid, Suet. p. 401), wie auch Francesco da Buti in seinem Commentar sagt.

1) „Poesie di Messer Cino da Pistoia race, da Seb. Ciampi" II, 157 (3. Ausg.). Die Meinung Ciampi's, dass die Satire auf Rom und nicht aut Neapel gehe, wird durch die citirten Verse widerlegt. Das „Animai vile", welches in alter Zeit dem Reiche, wo „ogni senso ò bugiardo e fallace", seinen Namen gab, ist die Sirene Parthenope.

2) Vgl. d'Ancona im Propugnatore, 1870, I, 397 S.

3) Vgl. Wesselofsky, „Le tradizioni popolari nei poemi di Antonio Pucci" im Ateneo italiano, Anno I.

4) Publicirt von Zanella, Verona 1858.

Virj^il in der Volkssage. 295

deren Länderu aus dem Dichter gebildet hatte, war dies doch nicht im übi'igen Italien ebenso der Fall. Zu Rom ward Virgils Name ganz nach der Art der ausländischen Sage mit einigen Monumenten der Stadt verknüpft ^). Der Tempel des Jupiter Pluvius hiess z. B. „Casa di Virgilio"^), die Meta Sudans „Torre di Virgilio^)", des- gleichen der alte Thurm der Frangipani*) und das Septizonium „Scuola di Virgilio^)." Nehmen wir hinzu, dass Petrarca wegen seiner Virgilstudien von Seiten des römischen Hofes harte Unbill erfuhr, so ist kein Zweifel, dass Virgil in Rom wie anderswo in dem allerschlimmsten Gerüche der Zauberei stand. Aber älter als in anderen Ländern ist diese römische Sage auf keinen Fall. Wenn man bedenkt, wie sich diese Virgilsagen mit dem Namen Roms vermischt hatten imd so in die zum Gebrauche der zahlreichen Besucher der Stadt verfassten Führer übergingen, so begreift man, dass dieser Umstand genügte, um auch die Römer mit einem „Zauberer" Virgil bekannt zu machen und von den Letzteren oder

1) Dass sich der noch heute in Rom erhaltene Strassenname „Tor de' specchi" auf den Wunderspiegel Virgil's beziehe, ist eine falsche An- nahme von Keller, Hagen, Massmanu u. A. Gregorovius (Gesch. d. St. R. IV, C29) vermuthet mit Grund, dass der Name von einer Familie „De Speculo" oder „De' Specchi" herstamme, die hier ihre Burg hatte. Wer freilich mit Erinnerungen an die Virgilsagen Rom besuchte, konnte sich wol auch durch jene den Strassennamen erklären, und vielleicht ist auch mit der „Spiegelburg", wohin eine deutsche Version das Locai der Virgilerzählung verlegt, nichts Anderes als „Tor de' specchi" gemeint. Vgl. Massmann, Kaiserchr. III, 454.

2) Montfaucon Diar. ital., 108.

3) Georg. Fabricius, Roma (1587) p. 21.

4) Von Gregor IX. im 13. Jahrb. zerstört (Vgl. Marangoni, Me- moire deir Anfiteatro romano, p. 51.

5) S. V. d. Hagen, Briefe in die Heimath IV, 118. Das Septi- zonium Hess Sixtus V zerstören. Scuola di Virgilio heisst noch heute in Neapel eine Oertlichkeit am Meeresstrande, wo ein Tempel der Venus Eupleia oder der Fortuna gestanden haben soll. Ich weiss nicht, ob der Name schon im Mittelalter existirt. In dem französischen Volksbuche „les faits merveilleux de Virgile" wird eine Zauberschule Virgifs in Neapel erwähnt, die vielleicht in Folge jener Oertlichkeit erfunden ist. Ein in der Nähe wohnender Fischer erzählte einem Fremden, dass Virgil hier dem Marcellus Unterricht gegeben habe. In der Cronica di Pärteuope heisst Virgil in der That der Lehrer des Marcellus; und da- durch erklärt sich wol zur Genüge jener Name, ohne dass man die An- nahme nöthig hat, es sei „scuola" aus „scoglio" (Felsen) ent- standen.

296 Virgil in der Volkssage.

den Fremden sein Name mit Oertliclikeilen und Denkmälern Rom's in Beziehung gesetzt wiu'de. In der That findet sich auch in den ältesten Handschriften der „Mirabilia urbis Eomae" (aus dem zwölften Jahrhundert) zwar wol das „Martyrologium" d. h. „die Fasti" des Ovid als Autorität citirt, nicht aber Virgil, und zwar nicht einmal da, wo er bei der Geschichte von Octaviau und der Sibylle als Prophet hätte genannt werflen müssen. Wenn Virgils Name zu dieser Zeit schon an irgend einem Monumente gehaftet hätte, so würden die Mirabilia gewiss davon gesprochen haben. Aber erst nach der Verbreitung der Sage ging derselbe in die Mirabilia über und wurde dann auch in Rom bekannt.

In einer Handschrift der Mirabilia aus dem dreizehnten Jahr- hundert findet sich zuei'st bei Erwähnung des Viminali« folgende

Nachricht: von hier aus (d. h. vom Viminalis) ging Virgil,

als er von den Römern ergriffen ward, indem er sich unsichtbar machte, nach Neapel; und daher stammt der Ausdruck „vado ad Napulum." Diese rohe Etymologie bezieht sich auf eine noch heute „Magnanapoli" genannte Strasse, auf welcher man zum Viminalis emporsteigt. Zu Grunde aber liegt auch hier natürlich die Sage von der Kiste und dem Auslöschen des Feuers. Wir sahen ja, wie der letzte Theil dieser Erzählung von Alters her in Süditalien bekannt war und zuerst auf den Zauberer Heliodor, dann auf Virgil und Petrus Barliarius angewandt wurde; ebenso schrieb man das, was auf jene Begebenheit folgte, schon dem Heliodor zu. Dieser, so hiess es, habe, um sich der verdienten Strafe zu ent- ziehen, vermittelst eines Stöckchens, ein Schiff mit Segeln und Matrosen auf die Wand gezeichnet, dasselbe dann durch Zauberei in ein wirkliches verwandelt und sei so nach Sicilien entflohen*).

1) Acta Ranct. Febr. Ili, 255. Nach einem lateinischen Texte bei Du Meril (Mèi. p. 4.30) befreite sich Virgil dadurch aus dem Gctang- nisse, dass er sich in einer Schüssel Wasser bringen Hess, darin unter- tauchte und verschwand. Darauf geht vielleicht das „com de la conca a saup cobrir", des Giraud de Calan(,on. In der Erzählung von Heliodor kömmt dieses Factum zwei Mal ver: ,,ut autem aliata est (pelvis cum aqua) continuo in cani se coniicit et ex oculis abit cum hoc dicto: salvus sis, Imperator, quaere me Catanae." Und in der Sage von Barliario heisst es p. 13:

„Venne Tora fatal che dee morire,

E al patiVjolo giunto immantinente

Già salito sul palco, s'udì dire:

Datem un poco d'acqua, amica gente.

Virgil in der Volkssage. 297

Ganz dasselbe soll auch Virgil, als er von den Römern zur Strafe für den schlechten Stx-eich, den er dem Weibe gespielt hatte, eingekerkert war, gethan haben, und auf dem Schiffe zugleich mit allen anderen Gefangenen nach Neapel entflohen sein^). Diese, übrigens auch auf Barliarius bezogene Erzählung^) finden wir end- lich ausser in den Mirabilia auch in der von Bonamente Aliprando i. J. 1414 verfassten, und nach ihm „Aliprandina" genannten Mau- tuaner Chronik, von der wir jetzt zu sprechen haben, wieder.

Von den drei Städten, welche im Leben Virgils eine Rolle spielen, hat für die Sage keine die Bedeutung wie Neapel erlangt. Mantua, wo der Dichter sich doch wol nur kurze Zeit aufgehalten haben wird, ist in der Beziehung ganz unproductiv geblieben. Man

Un vaso d'acqua ebbe apparire Ma, prima che bevesse lietamente, Signori di Palermo gli ebbe detto, Jo vi saluto e a Napoli v'aspetto."

Hieraus erklärt sich ferner auch das „vado ad Napulum" Virgils in den Mirabilia. In einer Erzählung von den 40 Vesiren (übersetzt von ßehrnauer p. 23) taucht ein Scheik unter's Wasser und befreit sich so vom Tode, indem er unmittelbar nach Damaskus versetzt wird.

1) Die Vorstellung von einem durch die Luft fliegenden Schiffe ist den Volkssagen ganz geläufig. Man vgl. z. B. die russische Erzählung „letuccii korabl" in der Sammlung bei Afanasieff, VI, 137 ff. und die ebenda VIII, 484 ff", angeführten Beispiele.

2) „Preso un piccol carbone, a disegnare Incominciò una barca in quell' istante; Indi poi i compagni ebbe a chiamare Che ponessero in quella le lor piante. Ridevan quelli e pur per soddisfare

Il suo pensier, che a liberarli è amante, Di sei eh' erano entrare un sol non vuole, Perchè fede non presta a sue parole.

Ma lo sfotto n'avrà doglia e rancore; La barca è presto in aria sollevata, E se ne uscì dalla prigione fuore Benché la porta fosse ben serrata; Per l'aria se n' andava, o gran stupore. Ed in parte lontana è già arrivata. E come l'aurora i raggi sparse Ognun di quei trovossi alle lor case."

VgL Orioli, Spighe e paghe (Corfù, 1845) III, 190.

(Pag. 18.

298

Virgil in der ^'olk88agc.

vergass zwar im Mittelalter, wie wir aus Donizo^) sehen, nicht, ilass Virgil in Mantua geboren war, nnd erwähnte auch einige Oerter in der Umgegend Mantua's, die von ihm bewohnt oder be- sucht worden sein sollten; allein dies stand doch nur mit den vorhandenen biogi'aphi sehen Notizen über den Dichter in Verbindung und schloss die Idee einer wunderbaren Thiitigkeit desselben aus. Wenn man ihm in Manina eine Statue errichtete"), oder eine Münze ^) mit seinem Bilde schlug*), so war das nur die Begeiste- rung einiger gebildeten Einwohner der Stadt für den Dichter; und dies beweist auch jene in Terzinen abgefasste „Aliprandina'^'V. Die Roheit dieser Couiposition und der einfältige, darin znsanunenge- stellte Stoff lassen keinen Zweifel darüber, dass, wenn Mantua

1) „Haec tibi siut uota, Marouis dicitur aula Hactenus et sylva, per quam pascebat ovillas, Ast et Balista mous uascitur haue prope sylvam In quo Virgilius tituluni feeit hoc modo scriptum: Monte sub hoc lapiduiu etc."

Doniz. Vit. Mathild. bei Muratori, Script, rer. it. v. 360. Zum Nameu Balista bemerkt Muratori: „uuuc appellatur Monte di Vilestra.... sed louge aute ^'ergilium Balistae monti nomeu fuit."

2). Im 14. Jahrh. Carlo Malatcsta, der sie in den Mincio hatte, werfen lassen, musste sie später wieder aufstellen. Ob die Uel>erlioferung, von der Keyssler, Neueste Keisen p. 1016 spricht, und nach welcher 2 Miglien von Mantua die Grotte gezeigt wird, in der Virgil zu dichten pflegte, alt ist, kann ich nicht sagen. Vgl. Burckhardt, Cultur der Ken. 148. Aeneas Sylvius besuchte, als er 140') auf dem Congi-esse von Mantua war, auch die „Villa di Virgilio". S. Burckhardt, iu a. U. p. 181. Der Präsident De Brosses, welcher im vorigen Jahrh. nach Pie- tola gereist war, um Dorf und Haus zu besuchen, in dem Virgil geboren war, schreibt: „Je n"v vis autre chose qu'iuie maison de campagne assez propre oii il n'est pas la plus petite question de Virgile. Je demandai aux gens du lieu pourquoi cette maison portait le nom de Virgiliana, lls me répondirent quo ce nom lui venait d'un ancien due de Mantoue qui étuit roi d'une nation qu'on appelle Ics Poètes et qui avait écrit beaucoup de livres qu'on avait euvoyé en France." Colomb, Le i)rési- dent de Brosses eu Italie. Paris 1869 p. 117.

3) Eine Abbildung dieser Münzen befindet sich auf dem Titelblatt«.' des Werkes.

4) Ueber diese vmd ähnliche Münzen vgl. Zanetti Nuova raccolta delle monete e zecche d'Italia, Voi. IH, 249 tt". tav. XVll.

5) Aliprandina, osia Chronica della citU'i di Mantova di Buon a m e n t e Aliprando, cittadino Mantovano", bei Muratori, Antiqu. It. V, 1061 ff. Vgl. Cantù Si univ. II, 658 fiF.

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Virgil in der VolksKiigo.

299

sagenhafte Ueberlieferungen in Betreff des Dichters aufbewahrt hätte, der Verfasser dieselben eifrigst verzeichnet halben würde. Er spricht indessen von Virgil nur als von einem „Ruhme Man- tuas." In der Biographie des Dichters, die er theils aus Donat, theils aus den damals bekannten, aber Mantua fremden Virgilsagen zusammengestellt hat, erwähnt er Vater und Mutter Virgils, den verhängnissvollen Traum, welchen letztere von der Geburt des Kindes hatte, und fährt dann fort:

„La donna fece l'animo giocondo E quando venne lei al partorire Nacque il figlio maschio tutto e tondo."

Darauf spricht er von dem Aeusseren Virgils, seinen Studien und Werken, so wie vom Verluste seiner Landgüter, die er aber wieder- erlangte, nachdem Octavian die berühmten Verse „Nocte pluit tota" kennen gelernt hatte. Auf die Erzählung von der Proi)hezeihung Christi folgt das Abenteuer mit dem Korbe, die Eache, Gefangen- schaft und Befreiung des Dichters, Alles in der bekannten Weise der Sage. Ferner heisst es, dass Virgil, als er sich eben auf Reisen befand, einen Geist ausschickte, um ihm vom Tische Octavians Essen zu holen, und dass dieser, da er das Essen verschwinden sah, ausrief:

„Virgilio questo ha fatto fare; E della beffa rallegrò la mente."

Dieselbe Geschichte wird übrigens auch von anderen Zauberern erzählt und findet sich in dem Volksbuche von Barliarius wieder '). Von den Wunderwerken Virgils kennt Aliprand nur die broncene Fliege, welche sich nach ihm in einem Glase befinden soll, so wie das „Castel dell' ovo", das Virgil im Meere erbaut habe; dazu fügt er schliesslich noch eine von Virgil für die Neapolitaner ge-

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,,Si vide in quella grotta imtnantincnti

Circondare di lumi la parete,

E una mensa si vide apparecchiata,

Di preziose vivande era adornata.

Cena Pietro con gli altri carcerati,

Ed era ognun di maraviglia pieno,

E sazi delli cibi che portati

Fur dagli spirti in quell' oscuro seno etc'

p. 17.

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298 Virgil iu der Volkssagc.

vergass zwar im Mittelalter, wie wir au« Donizo^) sehen, nicht, dass Virgil in Mantiia gehören war, und erwähnte auch einige Oerter in der Umgegend Mantua's, die von ihm hewohnt oder be- sucht worden sein sollten; allein dies stand doch nur mit den vorhandenen biographischen Notizen über den Dichter in Verbindung und schloss die Idee einer wunderbaren Thätigkeit desselben aus. Wenn man ihm in Mantua eine Statue errichtete^), oder eine Münze ^) mit seinem Bilde schlug*), so war das nur die Begeiste- rung einiger gebildeten Einwohner der Stadt für den Dichter ; und dies beweist auch jene in Terzinen abgefasste „Aliprandina^)". Die- Roheit dieser Composition und der einfältige, darin zusammenge- stellte Stoff lassen keinen Zweifel darüber, dass, wenn Mantua

1) „llaec tibi sint uota, Marouis dicitur aula Hactenuä et sylva, per quam pasccbat ovillas, Ast et Balista mous nascitur haue prope sylvam In quo Virgilius titulum fecit lioc modo scriptum : Monte sub hoc lapidum etc."

Doniz. Vit. Mathild. bei Muratori, Script, rcr. it. v. 360. Zum Nameu Balista bemerkt Muratori: „nuuc appellatur Monte di Vilestra.... sed ÌOììge ante Vergilium ßalistac monti nomcu fuit."

2). Im 14. Jahrh. Carlo Malatesta, der sie iu den Mincio hatte, werfen lassen, musste sie später wieder aufstellen. Ob die Ueberlicferuug, von der Key ssl er, Neueste Reisen p. 1016 spricht, und nach welcher 2 Miglien von Mantua die Grotte gezeigt wird, in der Virgil zu dichten pflegte, alt ist, kann ich uicht sagen. Vgl. Burckhardt, Gultur der Ken. 148. Aeneas Sylvius besuchte, als er 1459 auf dem Congresso von Mantua war, auch die „Villa di Virgilio". S. Burckhardt, a. a. 0. lì. 181. Der Präsident De Brosses, welcher im vorigen Jahrh. nach Pie- tola gereist war, um Dorf und Haus zu besuchen, in dem Virgil geboren war, schreibt: „Je n'y vis autre chose qu'uue maison de ca,mpa,gne assez propre il n'est pas la plus petite question de Virgile. Jc demandai aux gens du Heu pourquoi cette maison, portait le nom de Virgiliana, lls me répondirent que ce nom lui venait d'un ancien due de Mantouc qui ctait roi d'une nation qu'on appelle Ics Poètes et qui avait écrit beaucoup de livres qu'on avait euvoyé en France." Colomb, Le Presi- dent de Brosses en Italie. Paris 1809 p. 117.

3) Eine Abbildung dieser Münzen befindet sich auf dem Titelblatte des Werkes.

4) üeher diese und ähnliche Münzen vgl. Zanetti Nuova raccolta delle monete e zecche d'Italia, Voi. Ili, 249 ff. tav. XVII.

5) Aliprandiua, osia Chronica della città di Mantova di B u o n a m e n t e Aliprando, cittadino Mantovano", bei Muratori, Antiqu. It. V, 1061 ff. Vgl. Cantù St. uuiv. II, 658 ff'.

Virgil in der Volkssage. 299

sagenhafte Ueberlieferungen iu Betreff des Dichters aufbewahrt hätte, der Verfasser dieselben eifrigst verzeichnet haben würde. Er spricht indessen von Virgil nur als von einem „Ruhme Man- tuas." In der Biographie des Dichtei'S, die er theils aus Donat, theils aus den damals bekannten, aber Mautua fremden Virgilsagen zusammengestellt hat, erwähnt er Vater und Mutter Virgils, den verhängnissvollen Traum, welchen letztere' von der Geburt des Kindes hatte, und fährt dann fort:

„La donna fece l'animo giocondo E quando venne lei al partorire Nacque il figlio maschio tutto e tondo."

Darauf spricht er von dem Aeusseren Virgils, seinen Studien und Werken, so wie vom Verluste seiner Landgüter, die er aber wieder- erlangte, nachdem Octavian die berühmten Verse „Nocte pluit tota" kennen gelernt hatte. Auf die Erzählung von der Prophezeihung Christi folgt das Abenteuer mit dem Korbe, die Hache, Gefangen- schaft und Befreiung des Dichters, Alles in der bekannten Weise der Sage. Femer heisst es, dass Virgil, als er sich eben auf Reisen befand, einen Geist ausschickte, um ihm vom Tische Octavians Essen zu holen, imd dass dieser, da er das Essen verschwinden sah, ausrief:

„Virgilio questo ha fatto fare; E della beffa rallegrò la mente."

Dieselbe Geschichte wird übrigens auch von anderen Zauberern erzählt und findet sich in dem Volksbuche von Barliarius wieder^). Von den Wunderwerken Virgils kennt Aliprand nur die broncene Fliege, welche sich nach ihm in einem Glase befinden soll, so wie das „Castel dell' ovo", das Virgil im Meere erbaut habe; dazu fügt er schliesslich noch eine von Virgil für die Neapolitaner ge-

,,Si vide in quella grotta immantinenti

Circondare di lumi la parete,

E una mensa si vide apparecchiata,

Di preziose vivande era adornata.

Cena Pietro con gli altri carcerati,^

Ed era ognun di maraviglia pieno,

E sazi dalli cibi che portati

Fur dagli spirti in quell' oscuro seno etc."

300 Virgil iu der Volkssage.

schaifene Oelquelle ^) hinzu. Der Tod Virgil's wird nach Donat erzählt, und nachdem der Verfasser einige Bemerkungen über des Dichters Grab gemacht hat, schliesst er mit folgendem Meister- stück der Beredtsamkeit, einer Leichenrede, die er den Octavian halten lässt:

„Di scienza ò morte lo più valente Non credo che nel mondo il simil sia. Prego Dio che grazia gli consente. Che l'anima sua debba accettare; Le sue virtudi non m' usciran di mente Ben mi dolgo. Non posso io altro fare."

Trotz dieser schönen Eede und trotz seiner Weissagungen von Christus gilt Aliprand's Virgil aber doch als ein Zauberer vom rein- sten Wasser, steht mit Satauas im Bunde und ist im Besitze des unvermeidlichen Zauberbuches. Als er nach seiner Flucht aus Rom nach Neajiel gekommen war, bemerkte er, dass er dies Buch ver- gessen habe, und sandte sofort seinen Zögling Milino nach Rom -), um es zu holen, jedoch mit der ausdrücklichen Weisung, es nicht zu öffnen, was natürlich so viel war, als wenn er gesagt hätte : öffne es! So that denn auch Milino, und alsbald erschienen eine Menge Geister vor ihm, die schrieen: „Was willst du, was willst du?" Um sie los zu werden, befahl er ihnen endlich, sie sollten die Strasse von Rom nach Neapel pflastern. Diese Erzählung ist eine einfache Erweiterung der uns bereits bekannten Sage von der Grotte Pozzuoli, wie sie denn auch in der That von Felix Hemmerlin, welcher 1426 Neapel besucht hatte, auf jene Grotte bezogen wird^). Mit einigen leichten Varianten findet sie sich dann

1) Nach der Sago strömte aus dem einen Bein der in Sicilien (von Olympiodor erwähnten) befindlichen Statue Wasser, aus dem anderen Beine immer brennendes Feuer. So glaubten auch die Byzantiner, dass aus den drei Köpfen der Schlangen am Dreifuss an Festtagen Wasser, Wein und Milch hervorsprudele. S. Bondelmonti, Liber insularum (ed. De Sinn er) p. 12.3.

2) Milin d. h. Merlin; auch die Formen Mellin, Merilin, Merilian, Merleg u. s. w. kommen vor, wie man Virgil besonders iu Deutschland in Filius, Filias, Filigus verwandelte. Jacob v. Königshofen (14. Jahr- hundert) spricht von dem grossen Meister Virgilius, den die Laien Fi- lius nennen." Vgl. v. d. Hagen, Gesammtab. III, p. CXLIII.

3) De nobilitate, cap. 2. Vgl. Roth, a. a. 0. p. 262.

Vìrgil in der V^olkssage. 301

bei Heinricli von Mügliu (14, Jalirh.) wieder^), und oline Zweifel spielt auch Fazio degli Ubeiii in seinem „Dittamondo^j" da, wo er seine Reise von Rom nach Neapel beschreibt, dai-auf an:

„quella fabbricata e lunga strada che di Virgilio fa parlare assai."

Die Vermischung der Sage aber mit den historischen Notizen bringt uns endlich auf die Biographie des Donat zu sprechen. Die- selbe enthält, wie bereits im ersten Theile bemerkt ist^), vex'- schiedene Intei^polationen rein literarischer wie volksthümlicher Art. Was darin mit der historischen Persönlichkeit des Dichters nicht übereinstimmt, beschränkt sich auf eine Erzählung, in welcher Virgil als ein Weiser auftritt und besonders vor Augustus seine Kirnst als Pferdedoctor geltend macht. Gewöhnlich bestand die Be- lohnung, welche ihm der Kaiser gab, in Brod, und Virgil wurde also wie ein einfacher Stallknecht behandelt. Als er nun eines Tages richtig herausgebracht hatte, von welchen Eltern ein Pferd abstammte, gedachte Augustus, der über seinen eigenen Ursprung einige Zweifel hegte, das Talent des Dichters auf die Probe zu stellen, und fragte, von wem er denn abstamme: „Von einem Bäcker" erwiederte Virgil, „denn das sehe ich daraus, weil du mir immer Brod gibst." Jedermann begreift, dass es sich hier nur um einu schlagfertige, witzige Antwort handelt, die aber mit dem Zauberer Vü-gil gar Nichts zu thun hat. Roth vermuthet, dass diese Erzählung in Italien in die Biographie etwa von einem Neapoli- taner aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts hineinge- bracht sei; allein der Zusatz wird wol jünger sein. Roth selbst bemerkt ja, dass derselbe sich in Donathandschriften, die älter als das fünfzehnte Jahrhimdert sind, noch nicht findet. Dieselbe Anek- dote wird im Novellino (2. Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts) einem griechischen Weisen zugeschrieben'*) und findet sich auch in

1) Germania, V, 371: Kaum öffnete Virgil das Buch, so umgaben ihn 80,000 Teufel, die nach seinem Befehl fragten:

„Er sprach: vart in den grünen walt, Und macht mir palt Eine gute straz, das man darnach niuge varen und euch riten."

2) Lib. III, cap. I, V. 5.

3) Cap. 10.

4) Vgl. auch Papanti, Catalogo dei novellieri in prosa, I, p. XV tf.

302 Virgil in der Volkssage.

Tausend uud eine Nacht ^). Dazu kommt noch, class Alipraud, der doch die Biographie des Donat so stark benutzt liat, die Begeben- heiten nicht erwähnt, und dass diese überhaupt von keinem anderen Schriftsteller vor dem fünfzehnten Jahrhundert auf Virgil bezogen wird ^). Jedenfalls nimmt sie in der Biographie, deren Zu- sätze fast nur literarischen Ursprunges sind, eine ganz vereinzelte Stellung ein, und man kann viel eher sagen, dass die Biographie von Schriftstellern, welche Virgilsageu behandelten, benutzt worden ist, als umgekehrt, dass sie Elemente der Sage in sich aufge- nommen hat. In einigen anderen lateinischen, meist zum Schul- gebrauche bestimmten Biograjibien des Dichters aus der letzten Zeit des Mittelalters, z. B. in der auf S. 129 citii-ten, Avird da- gegen Virgil Zauberer, Arzt und Astrolog genannt, und zugleich sein wunderbares Werk der „Salvatio Romae" erwähnt^

Jedenfalls wird der Leser überzeugt sein, dass die Virgilsage in Italien niemals die Ausdehnung wie in anderen Ländern ange- nommen hat. Eigentlich geläufig scheint den Italieneni nur die Erzählung von der Kiste gewesen zu sein , die ja in ganz Europa verbreitet war, aber gewiss einen anderen Ursprung als der übrige Theil der Virgilsage hatte. Der teuflische Zauberer Virgil ist eine Figur, die in Italien dui'chaus nicht von der Sage so scharf aus- geprägt ward, wie anderswo. Selbst im vierzehnten Jahrhundert wusste Caracciolo über Virgil noch nicht viel mehr, als das, was man schon in Neapel erzählte, bevor sich die Sage in Europa verbreitete. Boccaccio kennt nur einige Züge der neapolitanischen Volkssage; Aliprand hat noch im Anfange des fünfzehnten Jahr- hunderts nur eine sehr unbestimmte und widerspruchsvolle Vor- stellung vom Zauberer Virgil und weiss sehr wenig von doi- Volks- sage überhaupt. Weder Caracciolo noch Aliprand verlieren dagegen

1) Nacht 459 in der Ausgabe von Habicht und v. d. Hagen.

2) AmjDcre (L'empire romain à Rome I, p. 351 f.) glaubt, dass die Anekdote mit dem 1838 wieder eutdeckteu Grabmal des Bäckers 1\I. Vir- gilius Eurysaces vor Porta Maggiore iu Beziehung stehe, und dass dieses selbst dem Dichter Virgil fälschlich zugeschrieben sei. Dies ist jedoch, abgesehen von anderen Gründen, schon deshalb unmöglich, weil man dann annehmen müsstc, dass jene späte Interpolation zu den Zeiten Do- nats selbst, der kurz vor Honorius lebte, gemacht sei, während das Denkmal eben durch die Bauten, die gewiss aus den Zeiten des Honorius stammen, verdeckt wurde.

Virgil in der Volkssage. 303

je die liistorisclie Persönliclikeit des Dicliters Virgil aus den Augen. Im sechzehnten Jahrhundert aber stellt sich uns eine Thatsache dar, welche beweist, wie wenig in Italien die Berührung des Dichters mit jenen Fabeleien Anklang fand: Der anonyme Verfasser der „Compassionevoli avvenimenti di Erasto", welcher in seiner Be- arbeitung des „Romaii des sept Sages" sowol von d*em unauslösch- lichen Feuer wie dem Wunderspiegel spricht, unterdrückt bei diesen Erzähhmgen geradezu den Namen Virgils und nennt „Rodi" an Stelle „Roms". Jene Erzählungen konnten um so weniger in Italien gefallen, da gerade damals die klassischen Studien wieder aufzu- blühen begannen. Indem man sich tiefer in das Wesen der alten Schriftsteller versenkte und von der blinden, traditionellen Bewun- derung frei machte, musste der Schimmer der Sage erlöschen, mit welchem das Mittelalter die Namen der alten Autoren umgeben hatte. Da die Italiener die Ersten waren, unter denen das Licht der Wissenschaften wieder aufging, so wagten auch die Virgil- sagen nicht tiefer in das Land einzudringen, sondern fristeten nur i^i einigen Gegenden unter dem Schutze des Aberglaubens oder der possenhaften Dichtung ein kümmerliches Dasein.

Zehntes Capitel.

Nachdem die Virgilsage in den verschiedenen Ländern die geschilderte Ausbildung erfahren hatte, wurde sie schliesslich noch in einer weitläufigen Biographie des Dichters zusammengefasst, und zwar in der Lütticher Chronik von Jean d'Outremeuse unter dem Titel „Myreur des histors^)". Diese Chronik ist eine Zu- sammenstellung aus den verschiedensten, theils genannten, theils ungenannten Schriftstellern (bis zum vierzehnten Jahrhundert) und besonders enthält der auf die alte Geschichte bezügliche Theil der- selben ein wunderbares Gemisch zahlloser Sagen und Phantastereien. Die Biographie Virgils wird hierselbst mehr als ein Mal von Er- zählungen ganz anderer Art unterbrochen; denn der Autor wollte nicht vei-gessen, dass das erste Gesetz für einen Chronikschreiber die Zeitfolge der Thatsachen sei, die er freilich, wo sie nicht vor- handen ist, schnell erfindet. Abgesehen aber von den Daten, welche die Sage mit anderen Bestandtheilen des Werkes in Ver-

1) ,,Ly myreur des histors ckronique de Jeau des Preis dit d'Outre- meuse publiée iDar Ad. Borgnet, Bruxelles. 1864. Vgl. Lieb recht iu Pfeiffer's Germania X, 408 ff.

304 Virgil iu der Volkssage.

Linduug bringen, scheint diese Biographie doch eine vom Ver- fasser vorher besonders ausgearbeitete Schrift gewesen zu sein, die ihres sonderbaren Charakters wegen in mehr als einer Hinsicht unsere Aufmerksamkeit verdient.

Besonders hatte der Verfasser der Chronik den Text der „Image d\i monde" sowie andere französische und lateinische Texte, welche von den Wunderthaten Virgils erzählten, vor Augen, suchte aber .^0 viel Sagen als möglich zusammenzubi-ingen, indem er oft so- gar aus mehreren Versionen einer Sage verschiedene Erzählungen machte^). Dazu fügte er selbst neue Sagen hinzu oder entwickelte alte weiter. Vor den Notizen aus Donat hat er sich wolweislich gehütet xmd ist überhaupt bemüht, die Vorstellung von einer wirklich historischen Persönlichkeit des Dichters so fern als mög- lich zu halten. Virgil erscheint nun aber bei ihm vornehmlich unter drei Gesichtspimcten : er ist entweder Zauberer, Prophet oder „homme galant". Da der Verfasser ohne Zweifel die Dichtungen der Alten sowie die Vii-gilbiographien gut kannte und seine No- tizen aus allen möglichen Werken zusammentrug, so kann er die historischeu Thatsachen nur mit Absicht ausgeschlossen haben, wie er denn wirklich die sagenhafte Figur Virgils in einer bis dahin noch nicht dagewesenen Weise übertrieben hat.

Der Ort der Begebenheiten bleibt auch bei Jean d'Outremeuse Rom oder Neapel; aber Virgil selbst ist kein Italiener, sondern der Sohn eines Königs von Bugie (in Libyen), Namens Gorgilius. Nachdem er auf Abenteuer ausgegangen war, gelangte er in das Reich der Lateiner, deren König, ein Onkel des Julius Caesar, ihm so viel von Rom vorredete, dass er beschloss, selbst dorthin zu gehen. Allein wir verzichten darauf, dem Leser die ganze Masse iler sonderbaren und plumpen Erfindungen der Biographie vorzuführen, und begnügen uns mit einigen allgemeinen Bemerkimgen, welche den Zusammenhang derselben mit den bereits geschilderten Sagen erkennen lassen.

1) Im Cleomadès heisst es z. B., dass Virgil in Rom vier Statuen verfertigte, welche die Jahreszeiten vorstellteu und sich einander je nach dem Ablauf einer Jahreszeit einen Apfel zureichten. Dagegen er- wähnt der „Roman des sept Sages'' nur zwei Statuen, welche den Ueber- gang von einer Woche zur anderen anzeigte. Jean d'Outremeuse aber schreibt dem Virgil vier Statuen für die Jahreszeiten, zwei für die Wochen und ausserdem noch zwölf andere für die Monate zu. Von letzteren spricht auch Jean M ansei in „La Fleur des histoires"; vgl. Du Meril, Mt-1. p. 440.

Virgil in der Volkssage. 30ö

Zur Charakteristik des Zauberers Virgil Hesse sich eigentlich kaum noch etwas hinzufügen; was sich bei Jean d'Outremeuse als neu vorfindet, beschränkt sich auf die Erzählung von luxu- riösen Gastmälern, welche Virgil gab, and wobei er die Einge- ladenen mit Hilfe seiner dienstbaren Geister durch wunderbare Spiele und lächerliche Spässe ergötzte^).

Dagegen verstand es Jean d'Outremeuse die Vorstellung vom Propheten Virgil, die ja ihrem, eigentlichen Ursprünge nach nicht volksthümlich war, sondern es erst wurde, weiter zu entwickeln. Mit der Sage vom Zauberer Virgil hat sich diese Idee nur wenig berührt^); erst Jean d'Outremeuse wusste aus der Zusammen- stellung beider Elemente Capital zu schlagen und noch weiter zu gehen, als alle die, welche vor ihm des Propheten Virgil gedacht hatten. Er erwähnt zwar bei seiner Scheu, die er vor der historischen Persönlichkeit des Dichters hat, weder die Sibylle noch die betreffenden Verse Virgils, lässt aber den Dichter nicht nur vor Römern, sondern auch vor Aegyptern lange Reden über die Ankunft, Christi halten, Leben und Sterben des Heilandes auf das genaueste auseinandersetzen, und die Einheit Gottes, die Dreieinig- keit und alle Glaubensartikel auslegen, sodass dadurch viele Heiden sich zu dem Glauben bekehrten, der künftig in die Welt kommen sollte. Virgil bleibt darum freilich immer der grosse Zauberer; aber sobald ihm jener berühmte Kopf sein nahes Ende voraussagt, da jagt er alle seine bösen Geister zum Teufel, beugt sich vor Gott indem er das Glaubensbekeuntniss ablegt, schreibt schnell ein Buch über die christliche Lehre, gibt noch ein herrliches Abschiedsessen zur Bekräftigung seines neuen Glaubens und lässt sich provisorisch taufen. Schliesslich macht er sich zum Sterben bereit, indem er ein theologisches Buch vornimmt und sich auf einen prächtigen Stuhl setzt, in welchen er mit eigner Hand alle Begebenheiten des neuen Testamentes von der Verkündigung bis zur Himmel- fahrt eingemeisselt hatte. Und so blieb er sitzen mit dem Anscheine

1) Albertus Magnus liess vor seinen Gästen den Frühling inmitten des Winters erscheinen, und ähnliche Geschichten wusste auch das Alter - thum vom grossen Zauberer Pases. Vgl. Suidas, s. v. nccai]g und Friedlaender, Darst. d. Sitteng. I, 364.

2) So ist sie z. B. der neapolitanischen Sage ganz fremd, was um so auffälliger ist, da doch abgesehen von der Nähe von Cumae, den Neapolitanern die Sibylle auch durch die berühmte Grotte bekannt genug war.

Comparetti, Virgil im Mittelalter. 20

304

Virgil in der olkssage.

Linduug bringen, scheint diese B*grapliie doch eii fasser vorher besonders ausgearbeit« Schrift gewesen] ihres sonderbaren Charakters wegi in mehr als ei unsere Aufmerksamkeit verdient.

Besonders hatte der Verfasser (jr Chronik den Text' du monde" sowie andere französiscj und lateinische Tei von den Wunderthaten VirgiLs erzirjten, vor Augen, .-0 viel Sagen als möglich 7Aisanaiiizubringen, indem gar aus mehreren Versionen einer läge verschiedene Er machte^). Dazu fügte er selbst nei, Sagen hinzu oder alte weiter. Vor den Notizen au.s )onat hat er sich gehütet und ist überhaupt bemüli, die Vorstellung wirklich historischen Persönlichkeit les Dichters so fern lieh zu halten. Virgil erscheint na aber bei ihm vor unter drei Gesichtsptmcteu : er ist eiweder Zauberer, Propl „homme galant". Da der Verfassej ohne Zweifel die Diel der Alten sowie die Virgilbiograplm gut kannte und sei tizen aus allen möglichen Werken isammentrug, so kann historischeu Thatsachen nur mitAb.-ht ausgeschlossen habei er denn wirklich die sagenhafte Fi'.r Virgils in einer bis noch nicht dagewesenen Weise ülie -ieben hat.

Der Ort der Begebenheiten blei , auch bei Jean d'Outrer Rom oder Neapel; aber Virgil sellj; ist kein Italiener, sor der Sohn eines Königs von Bugie ii Libyen), Namens Gorj Nachdem er auf Abenteuer ausgegagen war, gelangte er in Reich der Lateiner, deren König, eirOnkel des Julius Caesar, i so viel von Rom vorredete, dass erbeschloss, selbst dorthin gehen. Allein wir verzichten darauldem Leser der sonderbaren und plumpen Erfinduien der Bii und begnügen uns mit einigen allgfeinei den Zusammenhang derselben mit cU bej erkennen lassen.

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306 Virgil in der Volkssage.

des Lebens, bis der h. Paulus kam und ihn beim ^Mantel zupfte, worauf Virgil in Asclie zerfiel. Der Apostel fing nun an, bitter- lich zu weinen, weil er vermuthete, Virgil sei als Heide gestor- ben, allein er kam zu seinem Tröste bald von seinem Irrthum zurück, da er das Buch erblickte, welches der Dichter hinter- lassen hatte.

Jean d'Outremeuse ist es auch gelungen, das Abenteuer von der Kiste, welches die Grundlage des ,, galanten Theils" der Bio- graphie bildet, zu erweitern und zu modificireu: Wenige Weiber waren je so verliebt in Virgil gewesen, als die schöne Phoebilla, die Tochter Julius Caesars, obwol sie den Dichter noch nicht ein- mal gesehen hatte. Ohne viel Rücksicht auf ihren Stand zu nehmen, Hess die kaiserliche Dame Virgil zu sich rufen und erklärte ihm frisch von der Leber weg: „Sire Virgile, dites-moy se vos aveis amie; car se vos me voleis avoir, je suis vostre por prendre à fem me ou estre vostre amie; s'il vos plaiste." Virgil entgegnete, dass er augenblicklich nicht gesonnen sei, sich zu verheirathen, aber dass er sie wol lieben wolle, wenn es ihr so gefiele, und so ward denn rasch das unerlaubte Verhältniss angeknüpft. Uuter- dess verrichtete Virgil immer grössere Wunder, aber je mehr sein Ruhm wuchs, desto eifriger begehrte Phoebilla sein rechtmässiges Weib zu werden. Jedesmal jedoch, wenn sie diese Saite berührte, sagte Virgil, dass er an andere Dinge zu denken habe, „ilh moy convient penser à outres chouses," dass ihm seine Studien nicht erlaubten , ein Weib zu nehmen , aber dass , wenn er doch einmal eines Tages auf den Gedanken käme, er sie gewiss allen anderen Frauen vorziehen werde. Allein die Tage vergingen, und Virgil blieb unerbittlich. Endlich ward es die Prinzessin müde, so zum Narren gehalten zu werden und verfiel deshalb auf den Gedanken, dem Virgil einzureden, ihr Vater habe Alles entdeckt und drohe mit furchtbaren Strafen, Virgil musste natüi-lich diesen Betrug durch- schauen und sagte ihr, solches Geschwätz möge sie anderen er- zählen, er wolle nun einmal nichts von der Ehe wissen, aber wenn sie sich weiter lieben lassen wolle, so könne es beim Alten bleiben. Da ergab sich Phoebilla scheinbar wieder in ihr Schicksal, sann jedoch heimlich auf Rache. Sie gab vor, dass der Vater, um das Verhältniss abzubrechen, sie in einen Thurm einsperren wolle, und machte dem Virgil den Vorschlag, sich in eine Kiste durchs Fenster emporziehen zu lassen; und hier folgt nun das bekannte Abenteuer, nur mit dem Unterschiede, dass Jean d'Outremeuse, der wol bemerkt hatte, wie der zweite Theil der Geschichte schlecht

Virgil in der Volkssage. 307

zu dem ersten stimmte, den Widerspruch künstlich beseitigte: Virgil durchschaute nämlich die List, sagte zwar zu, aber setzte in die Kiste einen Geist, der ihm ganz ähnlich war. Dieser spielte auch seine Rolle ganz vortrefflich, bis der Tag anbrach. Da zog der Kaiser heran, um den gottlosen Verführer seiner Tochter zu be- strafen, und gab zunächst dem vermeintlichen Virgil mit seinem Schwerte einen heftigen Schlag auf den Kopf, aber erschrak nicht wenig, wie er aus der Wunde anstatt Blut stinkenden Qualm hervorgehen sah, welcher so dicht wurde, dass die Römer im Dunkeln dastanden, als wäre es stockfinstere Nacht.

Virgil reiste darauf sofort von Rom ab, und nahm das Feuer mit sich, Hess sich aber durch die Bitten des Kaisers und Volkes versöhnen, freilich nicht, ohne an der armen Phoebilla noch sein Müthchen zu kühlen. Er bewirkte nämlich, dass alle Frauen, die sich in einem bestimmten Tempel befanden, auf einmal alle ihre Geheimnisse ausplaudern mussten, und natürlich hatte auch Phoe- billa mancherlei zu erzählen. Inzwischen starb Julius Caesar, und es folgte ihm Octavian, ohne auf die Ansprüche zu achten, die Caesars Frau an den Thron machte. Dieselbe verband sich des- halb mit Phoebilla, und Beide versuchten sich Octavians wie seines Helfershelfers, Virgils, zu entledigen. Allein letzterer sah Alles voraus und brachte es durch seine Zauberkunst dahin, dass die Frauen, ia der Meinung, Octavian und Virgil zu tödten, zwei grosse Hunde umbrachten. Da Virgil erfuhr, dass die beiden Schuldigen, die er hart zu bestrafen gedachte, sich mit Hilfe des Senates ent- fernt hatten, ward er so zornig, dass auch er Rom für immer verliess und das Feuer mit sich nahm, das sich die Römer später von der Phoebilla wieder holen mussten, die dabei vor Scham uud Wuth starb. Hier hören nach dem „Mii-oir des histors" die Be- ziehungen Vii-gils zum weiblichen Geschlechte auf. Von der „Bocca della Verità" spricht Jean d'Outremeuse auch, ohne jedoch die darauf bezügliche Anekdote zu erwähnen.

Die Chronik, aus der wir diese Notizen entlehnt haben, war indessen zu umfangi-eich und wenig bekannt, als dass diese Zu- sammenstellung auf die Virgilsage selbst einen folgereichen Ein- fluss hätte ausüben können. Und so hat denn auch das wahr- scheinlich in Frankreich entstandene^) Volksbuch, welches von

1) Görres, (Die teutschen Volksbücher, 228) verwechselt den Ur- sprung der Sage mit der Herkunft des Buches, wenn er sagt, dass dies

20*

308 Virgil in der Volkssage.

Virgil handelte und vom sechzehnteu Jahrhundert au in Europa bekannt war, mit der Darstellung des Jean d'Outremeuse nur wenig gemein. Handschriften davon sind nicht erhalten; auch wird die Abfassung nicht lange vor Erfindung der Buchdruckerkunst Statt gehabt haben. Die älteste Version findet sich in der Ausgabe aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts unter dem Titel: „Les faits merveilleux de Virgille", die eben so selten ist wie zwei siJätere moderne'). Das Buch war so populär, dass man es in das Englische^), Holländische^) und Deutsche'*) übertrug. Eine islän- "lische Uebersetzung ist noch unedirt'^). Die dabei voi-komraenden Variauten sind ganz unwesentlich.

in Italien verfasst sei. Unsere Beobachtungen haben gezeigt, dass dies nicht möglich ist.

1) Bruuet (Manuel, II, 1167 f.) beschreibt fünf Ausgaben, von denen die weniger alte nach 1530 gedruckt ist. Die Ausgabe von Wilhelm Nyverd ist in einigen Exemplaren facsimilhrt von Techener (Paris 1831) und Pinard 1831. Ein moderner Nachdruck trägt den Titel: Les faits merveilleux de Virgille, réimpression textuelle de Féditiou sans date, publiée à Paris, chez Guillaume Nyverd; suivie d'une notice bibliographique par Philomneste Iunior. Genève. Gay et fils 1867.

2) ,,This boke treatethe of the lyfe of Virgilius and of his death, and many maravayles that he dyd in his lyfe tyme by witchcraft and nigromansy, thorough the help of the devylls of hell. Emprynted in the cytie of Anwarpe by me John Doesborcke." 4. 30 SS. mit Holz- schnitten. Utterson Hess das Buch zu London wieder auflegen. Abge- druckt bei Thoms ,,Early english prose romances" Lond. 1828 (2. Ausg. Lond. 1858). No. 2; übersetzt von Spazier, , Altenglische Sagen und Märchen" hrsg. v. William Thoms, deutsch und mit Zusätzen. Braunschweig 1830. I. 73 fi'. Vgl. Wright, „Narratives of sorcery and magic." Lond. 1851. I, 103 fi".

3) „Eeu schone Historie van Virgilius van ziju Leuen, Doot, ende van zijn wonderlijke werken, di hy deede by Nigromantien , ende by dat behulpe des Duyvels." Amsterd. H. S. Muller. 1552. Ueber diese Version, welcher die enghsche Redaction zu Grunde liegt, s. Gör res. Die teutschen Volksbücher p. 225 fi', und Van den Bergh, De Neder- landsche volksromans. (Amst. 1837) p. 81 ff". Deutsch übersetzt bei v. d. Hagen, „Erzählungen und Märchen" I, 153 ff. und bei Scheible, Das Kloster II, 129 ff.

4) Von der von Simrock „die deutschen Volksbücher" (Frkf. a. M. VI, 1847, p. 323 fi.) angeführten „deutschen" Version, der übrigens ein holländischer Text zu Grunde liegt, sind mir keine alten Ausgaben be- kannt und werden auch von Simrock keine erwähnt.

6) Diese isländische Uebersetzung, welche 1676 nach einem hollän- dischen Texte angefertigt ward, befindet sich zu Kopenhagen; s. Half-

Virgil in der Volkssage. 309

Die „Faits merveilleux" unterscheiden sich in mehrfacher Hin- sicht von der umfänglichen Darstellung des belesenen Jean d'Outre- meuse, zunächst, insofern ihnen die Vorstellung vom Propheten Virgil abgeht, ferner aber, indem sie eine Menge der von Jean d'Outremeuse berichteten Geschichten von den Talismanen über- springen und dafür andere Pai-tieen der Sage mit grösserer Freiheit behandeln.

Das Buch beginnt mit einer auf die Gründung Roms und Rheims' bezüglichen Legende, die uns auch unabhängig von der Virgilsage in dem Romane „Atis et Pi-ofilias'") begegnet. Virgil ward als der Sohn eines Ritters von den Ardennen bald nach der Gründung Roms geboren; als er auf die Welt kam, zitterte ganz Rom. Während er zu Toledo studirte, erfuhr er, dass man die Güter seiner Mutter usurpirt hatte, imd eilte sofort, von ihr ge- rufen, nach Rom. Da er indessen vom Kaiser kein Recht erlangen konnte^), verfolgte er seine Feinde durch Zauberkünste; selbst der Kaiser, der ihn in seinem Schlosse angriff, wurde von ihm gezwungen, vom Kriege abzustehen und ihm die Güter wieder herauszugeben. Der Leser der ersten Ecloge Virgils wird sofort bemerken, dass dieser Zusatz auf der Ueberlieferung einer alten biographischen Notiz beruht. Das Abenteuer mit der Kiste wii-d dann ohne die Erweiterungen, die dasselbe bei Jean d'Outremeuse erfahren hatte, berichtet. Dafür aber treten zu demselben, wie zu der Anekdote von der „Bocca della verità", die sich übrigens hier in den Kopf einer ehernen Schlange verwandelt, zwei Zusätze, welche dem Buche völlig den Charakter eines Romans geben.

Virgil hatte nämlich unter anderen nützlichen Dingen für die Stadt Rom auch eine Statue angefertigt, welche, in der Luft schwebend und von allen Punkten der Stadt sichtbar, die Fähigkeit besass, von jedem Weibe, wenn es ihrer ansichtig ward, alle un- keuschen Gedanken fern zu halten^). Das schien indessen nicht

dan Einarssou, Hist. litt. Isl. 108. Nyerup, Dan. Volksb. p. 203. Müller, Sagabibl, III, 484.

1) Du Mèrli, Mélanges, 426.

2) Der römische Kaiser war nach der Erzählung der auch in den Mirabilia vorkommende Persis. Nach dem „Roman des sept Sages" lebte Virgil zur Zeit des Servius, nach einem Capitel der Gesta Roma- norum zu der des Titus, und nach einem anderen Capitel derselben Gesta zur Zeit des Darius. Hans Sachs versetzt ihn gar in die Zeiten Arthurs und nach Brittannien.

3) In einer französischen Geschichte der Pisaner aus dem löten

310 Viigil in der Volkssage.

uach dem Geöchniacke der Rönierinneii zu sein, und sie baten des- halb die Frau Virgils, die Statue zu vernichten. In der That ge- lang es jener, als ihr Mann gerade abwesend war, sich einer von ihm verfertigten wunderbaren Brücke zu bedienen und die Bild- säule herabzuwerfen. Virgil kehrte zurück, ward sehr zornig und stellte die Statue wieder auf ihren Platz. Als das Weib, von den Römerinnen aufgefordert, einen zweiten Versuch wagte, wurde sie von ihrem Manne dabei ertappt und der Bildsäule in den Fluss nachgeworfen. Allein durch diese Begebenheiten war Virgil doch so muthlos geworden, dass er darauf verzichtete, gegen die Arglist der Weiber zu kämpfen: „pour bien je l'avoy faite (nämlich die Bildsäule): mais plus ne m'en meslerai et faient les dames à leur voulenté ^).

Die darauf folgenden Anekdoten haben nicht mehr den Zweck, das schöne Geschlecht zu schmähen:

Virgil, welcher an seine erste Frau nicht lüehr denken mochte, hatte von einer wunderschönen Tochter des Sultans von Babylonien gehört. Schnell wie der Blitz nahte er sich ihr, verführte sie und brachte sie mit sich nach Rom. Als das Fräulein jedoch Neigung

Jahrb., die in eiuem Berner Codex erhalten ist, werden zwei von Virgil verfertigte und in der Kathedrale voii Pisa befindliche Säulen erwähnt, auf denen jedesmal das Bild dessen erscheine, der gestohlen oder Ehe- bruch getrieben habe. Vgl. De Sinner, Catal. codicum mss. bibl. Ber- nensis 11, 129; Du Méril, Mei. 472. Ganz im Widerspruch mit diesen Erzählungen steht freilich, was Enenkel in seinem Weltbuche erwähnt, dass Virgil für die Römer eine künstliche öffentliche Dirne verfertigt habe. Vgl. v. d. Hagen, Gesammtabenteuer II, 515; Massmann, Kaiserkr. 111, 451. Das Gleiche wird in einer rabbinischen Legende be- richtet; vgl. Praetor ins, Anthropodemos pluton. 1, 150 und Liebrecht in der „Germania" X, 414. Vielleicht erklärt sich die Sage durch die in den Mirabilia erhaltenen sonderbaren Worte: „femina circumdata ser- pentibus sedens et habens concham ante se, significat Ecclesiam multis scripturarum voluminibus circumdatam quam quicumque audire voluerit non poterit nisi prius lavetur in concha illa." In mehreren Handschriften ist diese Stelle verdorben, wenn es heisst: „femina circumdata serjjentibus sedens habens concham ante se (signat) ijudicatores qui pudicabant eam, ut quicumque ad eam ire voluerit non poterit nisi prius lavetur in concha illa." Graesse, Beitr. p. 8 und p. VIII; vgl. auch „Graphia aureae mrbis Romae" bei Ozanam, Docum. inéd. 170.

1) Im französischen Romane vom h. Graal hat Hippokrates eine Frau, die ihn so betrübt, dass er deswegen stirbt. Es lässt sich überhaupt zwischen dieser Erzählung und der von Virgil eine Parallele ziehen. S. Pauli u Paris, Les romans de la table ronde, I, 267 ff.

Virgil in der Volkssage. 311

zeigte, wieder zu ihrem Vater zurückzukehren, sichaffte sie Virgil wieder sofort zu diesem und kehrt nach Rom zurück. Der Sultan fragte die Tochter, wo sie gewesen, imd diese gestand ihr Erlebuiss, ohne aber den ihr unbekannten Namen des Verführers anzugeben. „Wenn er wiederkömmt", sagte der Sultan, „so bitte ihn, dir einige Früchte aus seinem Lande zu geben." Das that die Tochter, und so wusste der Sultan, aus welchem Lande Jener gekommen war. „Wenn er wiederkömmt", sagte der Sultan abermals, „so gib ihm zuei-st einen Schlaftrunk, damit wir wissen, wer er ist." Der wahre Grimd war jedoch der, dass er den Verführer fangen und bestrafen wollte. Es gelang ihm auch, Virgil ward mit der Prinzessin ins Gefänguiss geworfen, und Beide wurden verurtheilt, lebendig verbrannt zu werden. Aber am Tage der Hinrichtung erweckte Virgil den Schein, als ob der Fluss aus seinen Ufern träte, worauf Alle begannen, in ihrer Todesangst die Bewegungen des Schwimmens zu machen, ünterdess erhob der Zauberer sich und seine Schöne in die Lüfte und brachte sie nach Rom. Als es sich nun darum handelte, ihr einen Mann und eine reiche Mit- gift zu verschaffen, gi-ündete Virgil für sein Weib die Stadt Neapel, die so schön war, dass der Kaiser, welcher neidisch geworden war, sie belagerte. Aber Virgil zwang ihn durch seine Zauberkünste, sich zurückzuziehen, und das Fräulein heirathete nun einen adligen Spanier, welcher Virgil bei der Vertheidiguug der Stadt beige- standen hatte ^). In Neapel errichtete er eine Schule der Schwarz- kunst, baute für die Gewerbtreibeuden eine Brücke, schuf noch eine Menge anderer schöner Sachen uud blieb in der Stadt bis zu seinem Tode, den der Verfasser der Faits merveilleux in sehr wunder- barer Weise ausgeschmückt hat. Er lässt nämlich den Dichter das Meer befahren: dort erhebt sich ein furchtbarer Sturm, und bei diesem verschwindet Virgil spurlos. Noch grandioser ist aber die Todesart desselben nach den deutschen, holländischen und englischen Versionen. Da Virgil nämlich merkte, dass er schon ziemlich alt geworden war, so versuchte er sich durch Zauberei wieder zu verjüngen. Er unterwies also seinen treuen Diener genau über das, was er zu thun habe und Hess sich zunächst von diesem in Stücke zerschneiden und einsalzen. Wii-klich begann auch schon der Körper sich zu verjüngen, als plötzlich der Kaiser, welchem

1) Roth mciut, dass hiermit auf die siianische Hcrischaft iu Neapel angespielt werde und das Buch nicht vor dem Jahre 1435 geschrieben sein könne, a. a. 0. p. 283.

312 Virgil in der Volkssage.

bange geworden war, weil er Virgil seit mehreren Tagen nicht gesehen hatte, unglücklicher Weise hinzukam und die Wirkung des Zaubers, ohne es zu ahnen, störte; denn mit einem Male fing es an sich in der Wanne, worin Virgils Fleisch lag, zu regen, und ein kleines Kind, das daraus hervorkam, schrie laut: „Verflucht sei die Stunde, in der du kamst." Darauf verschwand das Kind wieder, und der Dichter blieb todt. Diese Erzählung, die an die alte Fabel von Medea und Pelias anklingt, begegnet tjfter bei mittelalterlichen Schriftstellern 'j und wird merkwürdiger Weise auch auf Paracelsus, der in seinen Werken vom Zauberer Virgil spricht, bezogen.

Das Abenteuer mit der Sultanstochter, dessen Grundcharakter von den übrigen Sagen, die Virgil mit den Frauen m Berührung bringen, bedeutend abweicht, wird wol aus anderen volksthümlichen Erzähhmgeu ^) , vielleicht auch aus spanischen Romanen hinzugefügt sein. An diese Version der Faiis merveilleux reiht sich endlich auch die „Romance de VirgUio"^), die wir im „Roraancero" von 1550 finden, obgleich an den Virgil der Sage darin kaum mehr als das erotische Element erinnert^). Die Uebersetzung lautet in Prosa etwa folgendermassen :

„Es befahl der König, dass Virgil gefangen genommen und in Sicherheit gebracht würde, wegen des Verrathes, den er im Palaste beging, als er der jungen Donna Isabella Gewalt anthat. Sieben Jahre hielt der König ihn im Gefänguiss, ohne seiner zu gedenken, bis er einmal eines Sonntags bei Tische^) sich desselben erinnerte und zu fragen anhub: „Meine Ritter, und Virgil, was ist

1) Vgl. Graesse, Die Sage d. ew. Juden p. 44; Simrock, Handb. d. deutsch. Mythol. (2te Ausg.) p. 260.

2) Einige Elemente der Erklärung finden sich auch in der 5ten No- velle des Iten Buches Pantschatantra bei Benfey, I, 159 ff.

3) „Romaucero castellano pubi, par G. B. Depping" II Nr. 82p. 202 f. Vgl. Ticknor, History of spanish literature I, 114 ff.

4) Braga (Historia da poesia populär portugueza, Porto 1867 p. 176 ff.) findet zwischen der spanischen und einer portugiesischen Ro; manze von Reginald (Ameida Garret, Romanceiro II, 163 ff.) Be- ziehungen. Nach der letzteren verführt ein Page die Tochter des Königs und wird zum Tode verurtheilt; der König hört aber, wie er im Thurme singt, begnadigt ihn und gibt ihm seine Tochter zur Frau.

5) Hinard (Romancero espagnol, II, 242) übersetzt „bei der Messe" und wirklich schrieben Duran, Ochoa u. A. „en misa"; aber die Lesart „en mesa" bei Depping ist die allein richtige.

Virgil in der Volkssage. 313

aus dem geworden?" Da antwortete ein Ritter, der dem Virgil zugethan war: „Gefangen hältst du ihn, o König, im Gefängnisse bewahrst du ihn." „Lasst uns essen", sprach der König, „und sobald wir gegessen haben, wollen wir Virgil besuchen." Da sprach die Königin : „Ohne Virgil will ich nicht essen." Also gehen sie zum Gefängniss, wo Virgil verweilt. „Was macht Ihr hier Vii-gilius, Virgilius was macht Ihr?" „Herr, ich kämme meinen Bart und meine Haare. Hier müssen sie wachsen und müssen grau werden, denn heute sind es sieben Jahre, dass Ihr mich eingekerkert." „Sei ruhig, sei ruhig Virgilius. An zehn fehlen drei nur noch." „Herr, wenn du befiehlst, so will ich hier mein Lebelang bleiben."

„Virgilius, weil du geduldig bist, sollst essen du mit mir." „Nicht darf ich zeigen mich, denn zerrissen sind meine Gewänder."

„Ich gebe dir neue, Virgilius, neue heisse ich dir machen." Das gefiel gar wol den Rittern und den Damen. Mehr noch gefiel's der Donna Isabella; sie riefen einen Erzbischof, und gaben sie Virgil zum Weibe. Der nimmt sie bei der Hand und führt sie in den Garten."

Hiermit schliesst die lange Reihe der mannigfachen und sonder- baren Erzählungen, welche die Berühmtheit des grossen Dichters zu ihrem Gegenstande haben. Nach dem sechzehnten Jahrhundert hat sich nur noch bei den Gelehrten eine Kunde von der Virgil- sage erhalten. Die Zeit der Leichtgläubigkeit war vorüber, und vor dem Lichte der Vernunft und Kritik, wie vor der empirischen Philosophie, die den Weg zur Erforschung der Wahrheit wies, verschwanden jene Sagen und Phantasieen. Freilich geschah das nicht plötzlich, sondern wir begegnen den Spuren der Virgilsage auch später noch in einigen gelehrten Werken, die sich mit den verborgenen Wissenschaften abgeben. Im fünfzehnten und sech- zehnten Jahrhundert gedenken derselben noch gläubig Trithemius, Paracelsus , Vigenère , Le Loyer u. A. in ihren Schriften ^). Im siebenzehnten Jahx-hundert war es gar eine brennende Frage ge- worden, ob Magie und Hexerei wirklich existirten^), eine Frage,

1) Bl. de Vigenère spricht in seinem ,,Traité des chiffres et secrètes manières d'écrire" von einem ,,Virgilischen Alphabet", Trithemius (Antipal. I c. 3) von den Rechnungstafeln, die Virgil anfertigte, um den Charakter einer Person zu bestimmen, Paracelsus (De imaginibus cap. XI) schreibt ihm magische Bilder und Figuren zu, Le Loyer (Des spectresi cap. VI) sogar ein Echo.

2) Vgl. Roskoff, Gesch. des Teufels (Leipz. 1869; IT, 359 ff.

314 Virgil ili der Volkssagc.

die mis heute kiudisch dünkt, die aber voll des t'urchtbait^len Ernstes war, wenn sie zwischen dem Flammeugeprassel der Scheiter- haufen und den Schinerzenssclireien der Gefolterten ertönte. Wer aber damals die Existenz der Zauberei vertheidigte, der erwähnte auch wol zuweilen den Zauberer Virgil als eine historische Persön- lichkeit. Solche Leute konnten sich natüi-lich nicht vorstellen, dass der Kanzler Gervasius von Tilbury auch unwahre Dinge erzählt habe^). Dem verständigen und gelehrten Gabriel Naudé gelang es endlich in einem lange Zeit berühmten Buche ^), das heute freilich keinen Eindruck mehr machen würde, diese Fabeln zu zer- stören, und schliesslich vergass man über der geistigen Entwickelung der Menschlieit ganz des Mittelalters, das sich immer mehr im unklaren Dümmer der Erinnerung verlor. Die Virgilsage ward nur noch dann und wann von den Gelehrten als eine Curiositüt erwähnt, wie man ja auch in Antiquitätensammlungen oft magische Spiegel dem Virgil zuschrieb"^). Als dann in der neuesten Zeit die Studien über das Mittelalter selbst wieder aufgenommen wurden, wich die Vorstellung, die man von dem grossen lateinischen Dichter hatte, schon so von der mittelalterlichen ab, dass man sich diese gar nicht mehr zu erklären verstand, ja sogar oft ihre Existenz be- zweifelte, wie denn in der That einige Gelehrte es vorzogen, lieber

1) ,,Gervasiuni qnod attinet baud qnideni cum fabulosum et

vanum auctorem existimaverini ; fuit cnim Cancellarins Aulae Othonis imperialis, cui etiaiu aliud opus (I) Ocia impciialia iuscriptum dedicavit

Fatcudum quidom est fabulosa nounumquam a principi bus legi,

sed a Cancellariis non proficiscuntur." Jac. Gaffarclli, Curiositates inauditac p. 160. Auch L'Ancre, rincrédulité et mescreance du sortilège plainement touvaincue p. 280 f. citiit den Virgil als Beispiel; s. Bodin, Daemonom. lib. II, c. 2.

2) „Aiiologie jiGur toiis Ics grands personnages qui out esté fausse- ment soup<;ouné8 de magie." Due, ganze 21te Capitel handelt über Virgil. Von Gervasius und seinem Buche hei^st es: . . . qui est à la veritu si rempli de choses absurdes fabulcuses et du tout impossibles, que diffi- cileuient me pourrois je persuader qu'il fust en son bon sens quand il le composoit" p. 611.

3) Ein solcher Sjiiegel befand sich nach Naudé, a. a. U. p. G27 zu Florenz, ein anderer unter dem Schatze von St. Denis in Paris, wie es in dem Inventar des vorigen Jahrhunderts heisst: ,,Le miroir du prince des poetes Virgile, qui est de jaiet." Fougcroux de Boudaroy hielt 1787 über denselben in der Akademie der Wissenschaften einen Vor- trag; der Spiegel zerbrach aber, als ihn Mabillon untersuchen wollte. S. Du Méril, Mei. p. 447.

Virgil iu der Volkssage. 315

an den Bischof Virgil von Salzburg oder au einen beliebigen Mann aus dem Mittelalter ]S^amens Virgil, al« an den Dichter Virgil ui denkenM.

Die Virgilsage, Avie sie sich das Mittelalter hindurch besonders im Munde des Volkes bewahrt hatte, erhielt sich in dieser Form nur noch in Neapel und Süditalien, wo sie entstanden war^). Der Padre Giordano, Abt des Klosters Monte Vergine, nahm sie noch im siebzehnten Jahi'hundert für baare Münze iind benutzte sie in seiner gelehrten Biographie des Dichters als historische Notiz, wie er deren freilich auch viele selbst erfunden hat^). Ein Reisender,

1) Vgl. Cullili de Plancy, Le Grand d'Aussy und ,,Mélauges tirés d'une grande biblioth." V, p. 182.

2) Was die slawische Volksliteratur anlangt, so theilt mir Prof. S Chief ner eine Notiz über ein von ihm in den Esthnisc^en Märchen (aufgez. V. Kreutzwald, übers, v. Löwe) angedeutetes polnisches Kinder- spiel mit, iu welchem der Name Virgils vorkömmt: Virgil steht in der Mitte und seiue Genossen umkreisen ihn singend:

„Ojeice Wirgiliusz uczyl dzieci swoje

Hejze^ dzieci, hejze ha!

Róbcie wszystko, co i ja!'' (,,Vater Virgil lehrte seine Knaben: Aufmerksam Knaben, aufmerksam! Thut alles das, was ich thue"), darauf halten die Knaben still und ahmen alles nach, was Virgil thut; wer's nicht recht macht, muss dann selber Virgil sein." Man könnte daran zweifeln, ob es sich hier um den Zau- berer Virgil handelt; allein Schiefner erinnert mit Recht an ein englisches ganz ähnliches Kinderspiel, iu welchem der Name Simon an die Stelle Virgils getreten ist, und hier wol nur au den Zauberer Simon zu denken ist.

3) „Croniche di Montevergine" j). 66—95. Nach Giordano hatte Virgil die fixe Idee, die sibyllinischen Bücher zu verstehen, in denen sich die Weissagung auf Christus fand. Aus diesen entlehnte er die betreffenden Verse der iten Ecloge, ohne sie zu verstehen. Bei dem Studium der- selben strengte er sich so an, dass er krank ward; er bat deshalb den Octavian^ seiner Gesundheit wegen nach Neapel gehen zu können, und dieser ernannte ihn zum Consul der Stadt. Zur Erholung von seinem mühevollen Amte ging er dann auf einige Tage nach Avella, wo er von dem berühmten Cybeleheiligthume auf dem später Monte Vergine ge- nannten Berge hörte. Als er hier mehrmals über die Bedeutung des sibyllinischen Orakels anfragte, ward ihm die Antwort: „Satis est, dis- cedite", und als er sich dabei nicht beruhigte, „satis est: nondum tem- pus." In der Meinung, man werde ihm die Antwort später geben, baute er sich eine Villa auf dem Berge und schuf hier den Wundergarten. Aber die Antwort kam nicht, und so ward er immer schwennüthiger. Endlich gab er das Studium der sibyllinischen Bücher ganz auf, machte sich an die Aeneis und unternahm jene für ihn so verhängnissvolle Reise nach Griechenland und Asien. Jeder bemerkt, dass in dieser Erzählung

316 Virgil in der Volkssage.

welcher bei Neapel die „Scuola di Virgilio" besuchte'), bestätigte indess noch im Anfang dieses Jahrhunderts das Vorhandensein der Volkssage. Ein alter Fischer nämlich, den er zufällig dort antraf, erzählte ihm, wie folgt:

„An einem schönen Abend bestieg ich im Hafen von Neapel eine kleine Barke, ohne gerade bestimmt zu wissen, wohin ich wollte. Zween Ruderer leiteten sie, wir waren ausser dem Hafen, ehe ich mich noch entschlossen hatte.

Rudert nach der Schule des Virgils, antwortete ich endlich auf ihre Fragen. Es war ihnen selbst lieb. Munter plätscherten die Ruder, die Gebirge, welche den Golf umschliessen , lagen im Rosenflor des Abends da, unzählige Barken flogen zum Fischfang hinaus, mehrere Segel an des Horizontes Linie waren sichtbar, alle bepurpurt von der untergehenden Sonne.

Die grosse, lärmvolle Stadt schwebte neben mir hin, meine Barke schien stille zu stehen. Es gibt Augenblicke, wo auch die gewöhnlichsten Erscheinungen ungewöhnliche Empfindungen und Gedanken wecken.

Wir kamen an bei der Schule des Virgils. Es war eine etwas grössere Grotte, in welcher man der Menschen Hände erkannte. Die sich weiser denken, nennen sie einen Tempel der Venus, und gerne mag man glauben, dass die Göttin der Schönheit bei ihrem ersten Tritt ans Land den Fuss , unter welchem Rosen, und damals noch Lilien, aufsprossten, in ihren Tempel setzte.

Virgils Schule nennt sie der gemeine Mann. Wir fanden einen alten Fischer darin sitzen, der gerade an einem Netze knüpfte.

Er grüsste mich freundlich und arbeitete fort. Ich ging um- her und sah still hinaus auf die See. Sie müssen sich von diesem Alten erzählen lassen, sagte mir der jüngere von meinen Ruderern ins Ohr, er ist reich an wunderbaren Geschichten.

Ihr seid wol oft hier, Alter, fing ich an. Oft und gerne, erwiederte er mii\ Mein Vater hat da immer seine Netze geknüpft, sein Vater hat es ihn hier gelehrt, und dieser wuvde auch da von seinem Ahn unterrichtet. Hier nebenan ist unsere Grotte, wo wir

geschichtliche, sagenhafte und phantastische Elemente bunt durcheinander gemischt sind.

1) 8. S. 295.

2) Vgl. V. d. Hagen, Briefe in die Heimath HI, 180. Dunlop- Liebrecht, 187; Roth a. a. 0. 280.

3) „Italienische Miscellen" (Tübingen, Cotta, 1803) IH, 150 S. Vgl. Dobeneck, Desdeutschen Mittelalters Volksglauben undHexensagenl, 195.

Virgil in der Volkssage. 317

die Fische aufbewahrea, die wir nicht verkaufen künneu, und das kleine Häuschen da unten, beim Palast der Königin Johanna, ist meine Wohnung. Wer weiss, ob Virgil nicht selbst hier zuweilen mit dem Prinzen Marcellus Netze geknüpft hat? Er püegte gerne zu fischen, und verstand es, Netze zu verfertigen, welche nie einen Fehlzug thaten.

Wenn wir doch auch solche Netze hätten, sagte einer der Jüngern leise.

Ihr müsst wol mancherlei von Virgil wissen, frug ich ihn.

Wenigstens pfleg' ich viel davon zu erzählen, antwortete er Man hört mir gerne zu. Ich bin ein alter Mann, Sie sind weit her gereist, haben viel gesehen, aber Sie können vielleicht doch Manches von mir lernen.

Das Alter ist immer lehrreich, die Jugend lehrbedürftig, er- wiederte ich. Ich habe die Bücher gelesen, die Virgil geschrieben hat, ich habe ihn darum sehr lieb gewonnen, ich gehe oft nach seinem Grabe, um mich da seiner recht lebhaft zu erinnern.

Setzen Sie sich dort auf jenes Mäuerchen, fuhr er fort. Da pflegte Virgil gerne zu sitzen. Da hat man ihn oft mit dem Buche in der Hand liegen gesehn. Er war ein schöner, blühender Mann. Die Jugend hatte er sich erhalten durch Zauberkünste. Diese Mauern alle waren mit Kreisen und Linien bemalt. Hier stand er dann mit dem Priazen Marcellus und lehrte ihn die Geheim- nisse der Geisterwelt. Oft, beim schrecklichsten Sturme, wenn sich kein Fischer hinauswagte, kam er auf einem Boote angefahren. Kein Rudei;;gr fürchtete sich, sobald er im Kahn war, und wenn es am schrecklichsten draussen tobte, war er am liebsten hier. Oftmals sass er oben auf dem Berge und sah hinaus in den Golf. Mancherlei hat er da geschrieben. Wol mögen es Prophezeiungen gewesen sein; denn es war kein Sturm, den er nicht verkündigte. Da besuchte er dann die Gärtner und Feldarbeiter der Gegend, gab ihnen manchen nützlichen Rath, und belehrte sie, unter welchem Zeichen das Samenkorn am besten gedeiht. Oft wendete er auch Sturm und Gewitter, wenn es eben herabsteigen wollte vom Vesuv, durch einen kräftigen Spruch ab, und ganze Nächte sah man ihn hinschauen nach dem Berg, wenn es eben um seinen Scheitel blitzte, wahrscheinlich im stillen Gespräche mit den Geistern des- selben. Lange war man mit dem Gedanken umgegangen, eine Strasse von Neapel über den Posilipo zu führen. Da half er plötz- ich. In einer Nacht war der Weg durch die Felsengi'otte von seinen Geistern vollendet.

318 Virgil in der Volkssage.

Man kann denken, wie mich diese Erzählung des Alten in Verwunderung setzte. Aber lachen konnte ich nicht über den frommen Unglauben, der den höheren Verstand und das mächtigere Wissen nur durch Wunder begreiflich finden kann.

So half er ein anderes Mal, fuhr der Alte fort, den Neapoli- tanern auf eine verwundemswürdige Weise. Die Mücken hatten sich so stark vermehrt in der Gegend, als in Egypten zu Mosis Zeiten. Da verfertigte er eine grosse goldene Fliege, welche sich auf seinen Befehl in die Luft erhob, und alle die beschwerlichen Gäste verjagte. So waren einmal alle Quellen und Brunnen im ganzen Königreich durch zahllose Blutigel, da darin entstanden, gefährlich geworden. Durch einen grossen Blutigel, den er aus Gold bildete, und in einen Brunnen warf, half er auch diesem Uebel ab. Der Alte hätte noch lange fortgefahren ; aber es wurde ganz dunkel in der Grotte. Ich dankte ihm für seine Erzählung und fuhr zurück."

Heutzutage sind die Virgilsagen in Neapel im Aussterben begriflFen. Doch beschrieb mir noch ein Mann aus dem Volke in der Nähe der Grotte von Pozzuoli das Haus, welches Virgil an jenem Berge besass, und durch welches die Grotte hindurch ging. Ein Anderer meinte, dass die eine Spalte in der Grotte das Fenster gewesen sei, durch welches Virgil mit seiner Schönen zu sprechen pflegte; imd das folgende anmuthige Liebeslied wurde noch vor Kurzem von einer Bäuerin eines kleineu Dorfes bei Lecce gesungen^): Wenn ich Virgil der Zaub'rer war', Ich führt' an deine Thür das Meer, Ich wüi-de dann ein Fischlein klein Und schlüpfte in dein Netz hinein; Ein Hänfling würd' ich, der mit Lust Sein Nest sich baut auf deiner Brust, Und der in heisser Mittagsgluth Im Schatten deines Haares ruht^).

1) Nach Mittheilung des Prof. Morosi.

2) „Diu! ci tanissi Tarte da Vargiliu! 'Nnanti le porte to' 'nducla lu mare Ca da li pisci me facìa pupillu "Mmienzu le riti to' enìa 'ncappare; Ca di l'acelli me facìa cardillu, 'Mmienzu lu piettu to' lu nitu a fare; E suttu l'umbra de li to' capilli Enìa de menzugiurnu a rrepusare."

BIBLIOTHECA GRAECA

VIRORUIVI DOCTORÜM OPERA

RECOGNITA ET CO:\IMENTARIIS INSTRUCTA

CURANTIBUS

FR. JACOBS ET VAL CHR. FR. ROST.

LIPSIAE IN AEDIBUS B. G. TEUBNERI.

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Erschienen sind bis jetzt: Mk. Pf.

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Vol. I. Sect. 1. Medea. Ed. Ili 1.50

I. 2. Hecuba. Ed. II 1.20

I. .3. Andromaclia. Ed. II 1.20

., I. , 4. Heraclidae. Ed. II 1.20

II. 1. Helena. Ed. II 1.20

II. 2. Alcestis. Ed. II . 1.20

IL 3. Hercules furens 1.80

II. 4. Phoenissae 1.80

III. 1. Orestes 1.20

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,, III. 3. Iphigenia quae est Anlide 1.20

Hesiodi carmina, recens. et illustra C. Goettling. Ed. II. 8. mai. 184,i . 3

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Die einzige Ausgabe der Ilias, welche den kritischen Apparat toU- ständig enthält.

Lygiae et Aescliinis orationes selectae, ed. I. H. Bremi. 8. mai. 1826 1.50

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1 Mk. 50 Pf.) 3.—

riatouis opera omnia, recensuit, prolegomenis et commentariis in- struxit G. Stallbaum. X voll. (21 Sectiones). 8. mai. 1836 61.

compi, (excl. Voll. II. VI. 2 et VII) 60 -

Einzeln:

Vol. I. Sect. 1. Apologia Socrati et Crito. Ed. IV. 1858 . . 2.40

1. 2. Phaedo. Ed. V. cur. Wohlrab. 1875 ... . 2.70

I. ,, 3. Symposium c. ind. Ed. III. 1852 2.20

* n. 1. Gorgias. Ed. III. 1861 2.40

U. ,, 2. Protagoras c. ind. Ed. [II. ed. Kroschel. 1865 1.80 Hl. Politia si ve de republica libri decem. 2 voll.

Ed. H. 7.50

Piatonis opera omni aed. Cf. Stallbaum. Mk. pf.

Einzeln:

Vol. III. Sect. 1. Politia lib. 1-V. 1858 4=. 20

III. 2. üb.VI— X. 1859 3.30

IV. 1. Phaedrus. Ed. II. 1857 2.40

,, IV. 2. Menexenus, Lysis, Hippias uterque, Io.

Ed. IL 1857 2.70

V. ,, 1. Laches, Charmides, Alcibiades I. IL Ed. IL

1857 2.70

V. 2, Cratylus cum. ind. 1835 2.70

VI. 1. Euthydemiis. 1836 2.10

,, VI. 2. Meno et Eiithyphroiteraque incerti scripto riß

Theage8,Erastae,Hipparciuis. 1836. [Vergr.J 4.20

,, VII. 1. Timaeus et Critias. 1838 5.40

VIII. 1. Theaetetus. Ed. IL ree. Wohlrah. 1869 3

VIII. 2. Sophista. 1840 2.70

IX. 1. Tolitieus et incerti auctoris Minos. 1841 2.70

IX. 2. Philebus. 1842 2.70

X. 1. Leges. Vol. I. lib. I IV. 1858 ... 3.60

X. 2. lib. V-VIII. 1859 3.60

X. 3. lib.IX Xll. et Epinomia. 1860 3.60

Sophoclis tragoediae, ree. et explan. E. Wtmderus. 2 voll. 8. mai.

1847 1857 9

Kinzeln:

Vol. I. Sect. 1. Philoctetes. Ed. IV ed. WecJclein 1.50

,, I. 2. Oedipus tyrauuus. Ed. IV 1.20

I. 3. Oedipus Coloneus. Ed. III 1.80

, I. 4. Antigona. Ed. IV 1.20

' IL 1. Electra. Ed. III 1,20

IL 2. Aiax. Ed. Ili 1.20

, IL 3. Trachiniae. Ed. H 1.20

Tlmcydidis de bello Peloponnesiaco libri Vili, explan. E. F. Poppo.

4 voll. 8. mai. 1843 1866 12

Einzeln:

Vol. I. Sect. 1. Lib. I. Ed. U 3 -

I. 2. Lib. IL Ed. II 2.25

IL 1. Lib. IIL Ed. 11 ed. J. M. Stahl 2.40

IL 2. Lib. IV. Ed. II ed. J. M. Stahl 2.70

III. 1. Lib. V 1.50

,, IIL 2. Lib. VI 1.80

IV. 1. Lib. VII 1.50

IV. 2. Lib. VIU 1.50

XenophoutÌ8Cyropaedia,comment.instr.i'^.^..Bor«ewan«. 8. mai. 1838 1.50

Memorabilia (Commentarii), illustr. R. Kühner. 8. mai. 1858.

Ed. II 2.70

-_ Anabasis (expeditio Cyri min.), illustr. B. Kühner. 1852. . . 3.60

Einzeln à 1 Mk. 80 Pf.

Sect. I. lib. I-IV. Sect. IL lib.V— VIII.

üeconomicus, ree. et explan. L. Breitenbach. 8. mai. 1841 . 1.50

Agesilaus ex ead. recens. 8. mai. 1843 1.20

Hiero ex ead. ree. 8. mai. 1844 75

Hellenica, Sect. 1. (lib. I. IL), ex ead. ree. 8. mai. 1853. . . 1.20

Sect. 11. (lib. Ili— VII.), ex ead. ree. 8. mai. 1863 . 4.80

. Teubner In Lelpilg.

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