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rs

VIßGILS EPISCHE TECHNIK

VON

RICHARD HEINZE

ZWEITE AUFLAGE

1908

LEIPZIG UND BERLIN

DBÜCK UND YEKLAG YON B. G. TEUBNER

R^v

416929

j T Ul » N f. ' .

ALLE SEOHTB, EINSOHLIESZLICH DES ÜBEB8ETZUKGSRE0HTS, YOBBEHALTEN.

DEM ANDENKEN

GEORG KAIBELS

GEWIDMET

Vorwort zur ersten Auflage.

Dies Buch will nicht Werturteile fällen, sondern historische Tat- sachen feststellen. Es fragt nicht, was Yirgil gesollt und gekonnt, son- dern was er gewollt hat; es sucht das Werden der Aeneis zu hegreifen, soweit dies Werden als das Resultat hewußter und durch bestimmte Tendenzen geleiteter künstlerischer Tätigkeit des Dichter zu begreifen ist. Streiflichter fallen dabei freilich auch auf die Persönlichkeit des Dichters, seine Weltanschauung, die geistigen Strömungen seiner Zeit; diese Dinge habe ich berührt, wo die Fragen, die ich mir gestellt hatte, anders nicht zu lösen waren. Völlig beiseite gelassen habe ich Sprache und Vers der Aeneis: beides für die Wirkung des Gedichts von größter Bedeutung, nicht so für das Verständnis des Gedichts als epischen Kunstwerks. Dies Verständnis zu fördern lag mir vor allem am Herzen; wenn es mir gelungen ist, so wird dabei zugleich die Geschichte der poetischen Technik gewonnen haben. Wie viel auf diesem Gebiete uns noch zu tun bleibt, brauche ich nicht auszuführen; meine Arbeit hat not- wendig darunter gelitten, daß die Technik der poetischen wie der pro- saischen Erzählung vor Virgil bisher völlig ungenügend durchforscht ist, auch die nacharistotelische Theorie der Erzählungskunst noch ganz im Dunkeln liegt Ich selbst habe diesen Mängeln für meinen eigenen Zweck nur zum allergeringsten Teile abhelfen können; mein Hauptbestreben mußte sein, die künstlerischen Tendenzen der Aeneis aus ihr selbst zu erschließen. An direkten Vorarbeiten gab es auch hier nicht viel; aber indirekt hatte mir ja jeder Beitrag zum Verständnis irgendeines Verses vorgearbeitet, und es versteht sich, daß ich ohne die kommentierende Tätigkeit so vieler Generationen auch meine Arbeit nicht hätte leisten können. Ich habe mich des gemeinsamen Gutes, das durch diese Tätig- keit angesammelt ist, bedient, ohne im einzelnen anzugeben oder auch nur nachzuforschen, wer etwa das griechische Original eines Virgilverses

VI Vorwort.

zuerst gefunden oder eine allgemein rezipierte richtige Erklärung zuerst ausgesprochen habe; im übrigen habe ich mich bemüht, jedem das Seine zu geben, ohne bei der Ausdehnung der internationalen Virgilliteratur versichern zu können, daß mir das gelungen sei. Zur Polemik im kleinen wie im großen hätte ich reichlich Gelegenheit gehabt; ich habe sie im weitesten Umfange unbenutzt gelassen und nur auf wenige jüngst er- schienene Arbeiten des öfteren Bezug genommen, die mir für gewisse Richtungen der modernen Virgilerklärung typisch zu sein schienen.

Die beiden Teile des Buchs suchen das gleiche Ziel auf verschie- denen Wegen zu erreichen. Im ersten habe ich größere zusammen- hängende Partieen der Aeneis auf ihre Technik hin analysiert: ich hoffe, daß diese Kapitel denen, die das (jedicht verstehen lernen wollen, neben den vorhandenen Kommentaren zur Einführung dienen können. Ich habe mir bei jedem Abschnitt die besondere Aufgabe des Dichters zu vergegenwärtigen und die Erwägungen zu rekonstruieren gesucht, die zu der vorliegenden Lösung geführt haben; ich habe festzustellen ver- sucht, was der Dichter in seinen Quellen fand, was er seinen Vorbildern entlehnte, habe auf Grund dessen seine umgestaltende und neugestaltende Tätigkeit verfolgt. Dabei mußte zur Sprache kommen, welchen Einfluß neben den ästhetischen die politischen und moralischen Tendenzen des Dichters auf die Gestaltung des Gedichts ausgeübt haben. Der zweite Teil faßt die so gewonnenen Resultate zusammen und sucht sie zu einem systematisch angelegten Bilde der epischen Technik zu vervollständigen. Wiederholungen waren dabei nicht völlig zu vermeiden: ich hoffe, sie durch reichliche Verweisungen auf das niedrigste Maß beschränkt zu haben.

Berlin, November 1902.

Vorwort. Vn

Yorwort zur zweiten Auflage.

Für die Neuauflage habe ich dankbar verwertet, was die Be- sprechungen meines Buches an Berichtigungen und Ergänzungen ge- bracht haben; zu einer tiefer gehenden Umgestaltung größerer Partien hat sich mir kein Anlaß ergeben. Auf die sonstige inzwischen erschienene Virgilliteratur habe ich, wo es erforderlich erschien, zustimmend oder ablehnend Bezug genommen; insbesondere konnte ich erfreulicherweise hftufig zur Ergänzung oder Bestätigung meiner AusfCLhrungen auf Nordens (durchgängig nur mit Nennung des Verfassers zitierten) Kommentar zum VI. Buch der Aeneis verweisen. Mit Rücksicht auf das bevor- stehende Erscheinen dieses Werkes hatte ich in der ersten Auflage von einer besonderen Besprechung des VI. Buches abgesehen; ich tue nun das gleiche mit Rücksicht auf das erschienene Werk, da ich in allem Wesentlichen nur wiederholen könnte, was Norden, namentlich in seiner 'Schlußbetrachtung' S. 342 ff,, gesagt hat.

Leipzig, Februar 1908.

B. Heinze.

Inhaltsübersicht.

Erster Teil.

Seite

Erstes Kapitel: Ilions Fall l

EinleituDg.

I. Das hölzerne Roß 7

1. Überlieferang. 2. Sinon. 3. Laokoon. 4. Einzug.

n. Der Kampf 1>1

1. Vorbericbt. 2. Hektors Traumerscheinung. 3. Aeneas im Kampf. 4. Pantbns und die Penaten. 6. Coroebns. 6. Auf der Burg. 7. Priamus* Tod.

in. Der Auszug 46

1. Helena und Venus. 2. Theopbanie. 8. Venus' Hilfe. 4. An- chises und das auspicium maximum. 6. Creusa. 6. Abschluß.

Exkurs: Virgil, Quinius und Tryphiodor 64

I. Quinius 64

Das hölzerne Roß. Sinon. Laokoon. Auszug des Aeneas. Nyktomachie. Aeolus und Seesturm.

n. Tryphiodor 78

Helena. Sinon.

Zweites Kapitel: Die Irrfahrten des Aeneas 82

Einleitung. 1. Einheit der Erzählung; xtleBts- 2. Verhältnis zu den übrigen Büchern. 3. Juno und Venus. 4. Reduktion des Stoffes. 5. Poetische Ausgestaltung.

Drittes Kapitel: Dido . 114

Einleitung. 1. Exposition. Liebe. 2. Didos Schuld. Anna. Die Leidenschaft. 8. Weg zum Tode. Didos Charakter. Schluß.

Viertes Kapitel: Wettspiele 142

1. Einführung und Motivierung. 2. Komposition. 3. Personen. 4. Struktur der Handlung. 5. Das übernatürliche. 6. Stimmung.

Fflnftes Kapitel: Aeneas in Latium 169

I. Überblick 169

1. Konzentration des Stoffes. Sachliche Anforderungen. 2. Er- weiterung des Stoffes. 3. Disposition.

Inhaltsübersicht. IX

II. AUekto 180

1. Allekto Discordia. 2. Amata. 8. Turnus. 4. Ascanius. Ausbruch des Kriegs.

m. Die Kämpfe 191

Einleitung. 1. Typen der Kampf Schilderung. 2. Homerisches und Römisches. Reiterei. Streitwagen. 8. Waffen. 4. Ver- wundung, Tod und Spoliierung. 5. Die Personen. 6. Komposition.

Zweiter Teil.

Seite

Erstes Kapitel: Die Methode des Schaffens 287

I. Die Quellen 237

n. Die Vorbilder 246

m. Das Eigene 268

IV. Arbeitsweise 268

Zweites Kapitel: Erfindung 264

I. Die Menschen.

a. Charaktere

1. Generelle Charakteristik. 2. Aeneas. 3. Ideale und In- dividuen.

b. Handlungen 278

c. Affekte 282

II. Das Übernatürliche 288

Einleitung: theologia physica^ civilis, fabularis. 1. Juppiter und das Fatum. Die Einzelgötter. 2. Die Götter und die Handlung. 3. Verkündigung des Fatums. 4. Eingreifen der Götter. 6. £r- ächeinungsweise. 6. Trilume. 7. Anspielen, Prodigien, Omina.

8. Darstellung des Göttlichen.

m. Die Handlung 316

a. Struktur der Handlung.

1. Energischer Fortschritt. 2. Einsetzen. 3. Szenen. 4. Peri- petie. 6. Überraschung. 6. Kontrast. 7. Steigerung.

b. Motivierung 828

1. Übernatürliche und menschliche Motivierung. 2. Zusammen- hang der Handlung. 8. Der Zufall.

c. Zeit und Ort 338

1. Zeittafel. Konzentration. Tage, Jahreszeiten, Jahre. All- gemeine Chronologie. 2. Ortsbeschreibung und -Vorstellung.

Drittes Kapitel: Darstellung 853

I. Erz&hlung.

1. Gesamthandlnng und Spezialisierung. 2. Darstellung und Be- richt. 3. Ethos. 4. Hervortreten der Persönlichkeit des Dichters.

6. Lebhaftigkeit. 6. Exposition von Handlung und Personen.

7. Kontinuität. Überleitungen. 8. Gleichzeitige Handlungen.

9. Eingreifen einer zweiten Handlung. 10. Synchronismus von Vni— X. 11. Vergangenes. 12. Zukünftiges.

X Inhaltsüberaichi.

IL Beschreibimg 84

"Extpgaetg. Natur. Kunstwerke. Beschreibende Aufz&hlungen.

m. Rede 42

Virgil und Homer. 1 . Beschränkung des Gesprächs : überflüssiges 2. hemmendes d. charakterisierendes Gespräch. 4. Ersatz des Gesprächs. 6. Konzentration der Rede. 6. YollstäDdigkeit. 7. Be- rechnung. 8. Disposition. 9. Monologe. 10. Rhetorik.

Yiertes Kapitel: Komposition 433

1. Einheit der Handlung; Anfang und Schluß. 2. Organischer Zu- sammenhang. 3. Einheit der Szenen, 4. der Szenenfolgen. 6. Kon- zentration des Interesses. 6. Einheit der Bücher. 7. Die selbstän- digen Teile und das Ganze. 8. Übersichtlichkeit: Gliederung. 9. Vereinfachung. 10. Abwechselung. 11. Bereicherung.

Fttnftes Kapitel: Die Ziele 463

1. "ExTtXri^i.s und ndd^os- 2. Moralische Wirkung. 3. Gelehrsam- keit. 4. Erhabenheit.

Register: 1. Namen- und Sachregister 490

2. Stellenregister 496

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel. nions Fall.

nions Fall war seit Jahrhunderten von redenden und bilden- d^i Künstlern dargestellt worden; kein Zeitalter^ keine Kunstgattung hatte diesen, Sto£F sich entgehen lassen. Das alte Epos war yon der Lyrik und Yom Drama abgelöst worden; die hellenistische Poesie hatte auch diesem Gebiet der Sage neue Frucht in ihrer Weise abgewonnen; die packendsten Szenen aus dem Verlauf der Handlung, yon Laokoons Leiden bis zur Flucht des Aeneas waren, Ton großen Künstlern gestaltet, in mannigfachster Nachbildung vor aller Augen. Und so mußte die Aufgabe, diese allbekannte Geschichte yon neuem zu erzählen, einem Dichter höchst reizyoll erscheinen, den der Geist nicht trieb, auf unbetretenen Pfaden zu wandeln, der seinen Ehrgeiz darein setzte, nicht durch fremdartige neue Erfindimgen zu yerblüffen, sondern im Bekannten groß zu sein. Li der Tat zeigt sich Virgils Kunst nirgends größer als hier, auf diesem meistbetretenen Abschnitt seines Weges. Diese Kunst in seinem Sinne ganz zu würdigen, ihre eigentümlichen Absichten und Mittel festzustellen, würde uns wesentlich leichter fallen, wenn wir auch nur ein oder das andere seiner Vorbilder unverkürzt besäßen; doch auch das wenige, was uns yon ihnen geblieben ist, wird sich für unsem Zweck tauglich erweisen. Zunächst aber gilt es, die Aufgabe Virgils in großen Zügen sich klar zu machen.

'Iki6d'sv ftf tpigav ävs^iog Kvxöveööv nika66Bv hebt Odysseus seine Erzählung an. Da beginnt auch wirklich die Fabel der Odyssee. Die Fabel der Aeneis beginnt mit Ilions Zerstörung, denn da hat die Mission des Helden ihren Ursprung, die Über- führung der troischen Penaten nach Latium: also mußte die Iliu- persis in das Gedicht aufgenommen werden. Die Erzählung Aeneas selbst in den Mund zu legen, erscheint uns jetzt als einfache Nach- ahmung der Technik der Odyssee. Aber man mache sich klar,

4 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

wie neu and kühn dies Motiv dem Dichter zuerst vor die Seele trat. Die fast ausschließlich an Odysseus selbst haftenden Er- eignisse seiner Heimfahrt aus der dritten in die erste Person zu übertragen, das erforderte nur geringfügige Änderungen in der Erzählung. Für Virgil galt es, die durch alle Straßen, Paläste und Heiligtümer Trojas wogenden Ereignisse des nächtlichen Kampfs, die Taten imd Leiden einer ganzen Reihe von Personen als Erlebnisse eines einzigen vorzutragen. Welche Schwierigkeiten das bot, sieht man leicht; aber es bot zugleich den eminenten künstlerischen Vorteil der Konzentration: so und nur so konnte aus einer bunten Folge unzusammenhäugender Szenen eine Ein- heit werden, die dem virgilischen Kompositionsideal entsprach. Und die Fassung der Aufgabe eröffnete zugleich ganz ungesucht einen Weg, den noch kein Erzähler der Iliupersis gegangen war: noch nie waren diese Ereignisse im Zusammenhange von einem Troer erzählt worden. Wohl hatten sich die Dramatiker, ins- besondere Euripides in seinen Diupersisdramen auch in die Seele der Unterlegenen versetzt; aber was hier gegeben wurde, konnten doch nur einzelne Episoden oder allgemeine Schilderungen der Schreckensnacht sein. Nun erzählt bei Virgil kein beliebiger Troer, sondern der Ahnherr des römischen Volks: dadurch wurde das Ethos der Erzählung sofort näher bestimmt, wurden die Gesichtspunkte gegeben, die in ihr zu dominieren hatten. Denn sofort erhoben sich hier neue Klippen, die mit umsichtiger Kunst zu umsegeln waren; Elippen freilich, die eben nur für den Römer existierten und die wir uns erst mit einiger Mühe vergegenwärtigen können. Die Ahnen der Römer sind besiegt und weichen, indem sie auf Vergeltung und neuen Sieg verzichten; Aeneas hat den Fall seiner Vaterstadt überlebt, hat die Trümmer verlassen, um in der Fremde eine neue Stadt zu gründen. Notwendigerweise muß der Römer bei diesem Gedanken zimächst ein Gefühl tiefer Beschämung empfinden. Für ihn ist Rom, was für Aeneas Ilion war: wie vermöchte ein Römer lieber mit Weib und Kind und Gefolgschaft seiner eroberten Stadt den Rücken zu kehren, als mit ihr zu fallen? Wie vermöchte er sich die Götter seiner Stadt in die Fremde getragen zu denken?

Man muß, um sich in diese Anschauungen zu versetzen, etwa die Rede lesen, die Livius den CamiUus halten läßt, als die Übersiedelung der Römer nach Veji in Frage steht (V41ff).

AUgemeine Tendenz. 5

Ich hebe nur einzelne Sätze heraus: 'Auch dies ist ein Kampf um die Vaterstadt, dem sich, solange das Leben währt, zu ent- ziehen für andere schimpflich, für einen Camillus gottloser Frevel

wäre Unsere Stadt ist auf Grund von Auspizien und Augurien

gegründet; keine Stätte in ihr, an der nicht heilige Pflichten hafteten, an der nicht Götter wohnten; die feststehenden Opfer haben nicht nur ihren festen Tag, auch ihren festen Ort. All diese Götter

des Staats und der Familie wollt ihr verlassen? Man wird

uns ansehen nicht als Sieger, die ihre Stadt verlassen, sondern als Besiegte, die ihre Stadt verloren haben; die Niederlage an der Allia, die Eroberung der Stadt, die Belagerung des Kapitels wird uns gezwungen haben, uns selbst zu Verbannung und Flucht von der Stätte zu verurteilen, die wir nicht zu schützen ver- mochten Wäre es nicht besser, in Hütten nach Hirten Weise

an unseren heiligen Stätten zu wohnen als mit gesamtem Volk in

die Verbannung zu gehen? So wenig hält uns der heimische

Boden und diese Erde, die wir Mutter nennen, und die Vater- landsliebe hängt nur in der Luft, an Bauten und Balken?'

Im weiteren Verlauf der Aeneis wird das Bedrückende jener Vorstellung gemildert; es stellt sich heraus, daß die Penaten nicht in die Fremde übersiedeln, sondern in ihre Urheimat zurückkehren.^) Für die Iliupersis gilt dieser Trost noch nicht: da ist Troja die Heimat, aus der Aeneas vertrieben wird. Den Gefühlen der Be- schämung vorzubeugen, die Troer insgesamt, vor allen aber seinen Helden gegen die Vorwürfe der Feigheit oder Schwäche, der klein- mütigen Verzagtheit und der Untreue gegen die Vaterstadt zu sichern, darauf mußte in erster Linie Virgil sein Augenmerk richten.*) Die Sympathie mit dem Besiegten steigt, wenn die

1) m 163 f. sagen die Penaten: est locus, Hesperiam Grat cognomine dicufU . . . hae nobis propriae sedes, hinc Dardanus ortus lasiusque pater, genere a quo principe fwstrum; vgl. "VH 206. 240. Also hat Virgil doch (vgl. Wissowa Ges. Abh. 113, 3) aus der italischen Herkunft des Dardanus die Konsequenz gezogen, daß die von Aeneas geretteten Fhrygii penates von Haus aus italische seien. Über die Tradition s. Thrämer in Roschers Mjth. Lex. 2175, der Virgil gewiß mit Recht als ihren Vertreter, nicht Erfinder auffaßt.

2) Die alten Erklärer weisen darauf mehrfach ganz richtig hin, s. Georgii, Die antike Aeneiskritik (Stuttgart 1891) 46 f., der nur ohne jeden Grund schließt, daß sie damit eine große E[ritik gegen den Charakter des Aeneas abwehren: einer der leider sehr zahlreichen Fälle in Georgiis Buch, wo die

6 Erstes Kapitel. Iliona Fall.

mit dem Sieger fällt, somit mußten zweitens die Griechen, wenn auch mit größter Vorsicht, um den Schein der Gehässigkeit zu vermeiden, des Glanzes beraubt werden, der den Erfolg zu um- strahlen pflegt. Die Grundlinien der Erzählung waren in der Tradition gegeben; mit der Erfindung neuer Wendungen, neuer Motive, die seinen Zwecken dienen konnten, mußte der Dichter sehr sparsam sein, sonst hätten seine Leser nicht den Fall Ilions wiedererkannt. Seine Kunst mußte also, was den Stofi anlangt, wesentlich darin bestehen, aus dem reichen Schatze der Überliefe- rung auszuwählen, was seinen Absichten taugen konnte, alles andere nur zuzulassen, insoweit es nicht zu umgehen war.

Diese einfachen Erwägungen lassen es von vornherein wenig wahrscheinlich sein, daß Virgil ausschließlich oder ,auch nur vor- nehmlich einem seiner Vorgänger gefolgt sei; denn keiner von ihnen hatte Virgils Ziele verfolgt, weder im Stoflflichen noch im Formalen. Auch war Virgil bei seinem Werk in keiner Richtung beschränkt; weder hatte irgendeine ältere Iliupersis kanonische Geltung erlangt, so daß ein Abweichen übel vermerkt worden wäre, noch darf man sich etwa seine Kenntnis der Tradition in enge Grenzen eingeschlossen vorstellen; es erscheint selbstverständlich, daß er entweder selbst oder durch gelehrte griechische Freunde alles zu Rate gezogen hat, was von einschlägigen Darstellungen damals überhaupt noch Kurs hatte.

Virgils Iliupersis besteht aus drei Teilen: der Vorbereitung durch Aufnahme des hölzernen Rosses v. 13 249, der Nykto- machie 250 558, dem Abzug des Aeneas 559—803. Man sieht, diese Teile haben annähernd den gleichen Umfang, also maß ihnen der Dichter die gleiche Bedeutung bei. Fehlerhaft wäre ihm, schon äußerlich betrachtet, eine Kompositions weise wie etwa die Tryphiodors erschienen, bei dem den beiden ersten virgilischen Teilen etwa fünfhundert und zweihundert Verse entsprechen, und aus demselben Grunde wäre es ihm unzulässig erschienen, den Abzug des Aeneas, der für die Römer das wichtigste Ereignis des Ganzen war, etwa in wenigen Versen abzuhandeln: die Kürze der Behandlung kann vielleicht im Drama, nicht aber im Epos durch Intensität der Handlung ausgeglichen werden.

Wir folgen nun dem Gang der Erzählung.

Hinweise der Erklärer auf nicht ganz offen zutage liegende Intentionen des Dichters umgedeutet werden in Verteidigungen.

Das hölzerne Boß. 7

I. Troja war zehn Jahre lang vergebens von den Griechen be- rannt worden: endlich verbargen sich diese in einem hölzernen Rosse^ das die Troer selbst in die Stadt zogen; in der Nacht ent- stiegen die Verborgenen ihrem Versteck und übermannten die schlafenden Troer. Diese alte Sage mußte frühzeitig kritische Bedenken wecken: wie konnten die Troer so arglos und töricht sein, selbst ihr Verderben in die Stadt zu ziehen? Man meint noch verfolgen zu können, wie diese Bedenken zu immer reicherer Ausgestaltung der Sage führten; wenngleich es rein hypothetisch bleiben muß, ihre uns vorliegenden, chronologisch meist ganz un- bestimmbaren Formen nach diesem Prinzip zu ordnen. Nach dem Bericht der Odyssee (-ö* 502 ff.), den auch Proklos als den der Iliupersis des Arktinos gibt und der bei Apollodor zugrunde liegty wird das Roß ohne weiteres auf die Akropolis gezogen: erst dort beratschlagt man, was damit zu tun sei, und entschließt sich so Proklos es der Athena zu weihen. Sinon, der in der Odyssee nicht erwähnt wird, hat bei den Mythographen nur die Aufgabe, den Schiffen der Griechen das Feuerzeichen zu geben, und zwar tut er das bei Apollodor vom Grabhügel des Achill aufl, bei Proklos in der Stadt selbst: Sinon mußte nicht nur wissen, daß das Pferd in der Stadt ist, sondern auch daß die Troer schlafen; zu diesem Zweck mußte er vorher durch irgend welche Verstellung sich hinein geschlichen haben. ^) Die Tabula Iliaca lehrt xms, daß er in der kleinen Rias noch mehr tat: er schreitet da vor dem Rosse einher; aus den späteren Formen der Sage dürfen wir schließen, daß er die Aufnahme des angeblichen Weihgeschenks bewirkt hat. Man sieht, hier wurde der Argwohn der Troer gleich anfangs rege, Lug und Trug der Griechen zer- streuten ihn; die Handlungsweise der Troer wird erklärt, ihrer Verblendung die Schlauheit des Feindes gegenübergestellt. Wenn Sophokles einen Sinon schrieb, Aristoteles aber Sinon als einen der aus der kleinen Uias gezogenen Tragödienstoffe nennt, so ist die Vermutung gegeben, daß eben diese Täuschung der Troer durch Sinon den Kern des Dramas bildete. Weiterhin scheint man aber selbst diese Motivierung nicht mehr für ausreichend

1) ngotsgov siasld^ojv nQognolrixog Proklos; man denkt an die nttoxsla des OdyaseuB.

8 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

gehalten zu haben. Daß es einem einfachen Schwindler gelange den weisen Priamos und seine weisen Geronten so zu betören^ das konnte in der Tat einem Zeitalter befremdlich sein^ das ge- wohnt war^ moderne Maßstabe an die alten Sagen zu legen. So wird irgendein hellenistischer Dichter den Schritt getan haben^ die LaokoonsagC; die zwar bereits mit dem Fall Trojas, aber noch nicht mit der Geschichte vom Roß verknüpft war, La neuer kühner Gestaltung als endgültige Erklärung für der Troer Betörung zu geben: Laokoon verkörpert ihr berechtigtes Mißtrauen; als gott- gesandte Schlangen seine Söhne töten, gilt dies den Troern als göttliche Bestätigung von Sinons Worten, und nun ist alles ge- schehen, um ihren Entschluß jedem, der an göttliche Zeichen glaubt, verständlich zu machen. Diese letzte ausgebildetste Gestalt der Sage hat ihre Spuren auch in unsem mythographischen Be- richten hinterlassen^); ganz aufgenommen, wenn auch mit anderer Version oberflächlich kontaminiert, hat sie, wohl eben aus einem mythographischen Werke, Quintus von Smyrna.^)

Es konnte für Virgil kein Zweifel obwalten, daß er dieser letzten Form der Sage sich anzuschließen hatte. Nicht nur, da& sie die reichste und künstlerisch dankbarste war; sie war zugleich diejenige, bei der das Tun der Troer im günstigsten Lichte sich zeigen ließ.

Wir betrachten die Sinonszene, indem wir zunächst von ihrem Zusammenhang mit den Laokoonszenen absehen. Aus^ Quintus und Tryphiodor lernen wir, daß schon vor Virgü Sinon zu Priamos selbst sprach, daß dieser ihn gütig anhörte imd selbst aufforderte, die Bedeutung des Riesenpferdes zu erklären; daß femer auch die Lüge des Sinon, er habe auf Odysseus* Geheift für die glückliche Rückfahrt geopfert werden sollen, nicht Virgils Erfindung ist. Auch von der Ausführung dieser Erfindung wird manches auf Virgils Vorbild zurückgehen; Quintus scheint hier nur eine magere Hypothesis vor Augen gehabt zu haben. Die

1) Apollod. epit. Vat. 6, 17.

2) Ich behandle im folgenden Quintus sowohl wie Tryphiodor als Ver- treter einer von Virgil unabhängigen Tradition; die Rechtfertigung liefert der Exkurs. Dort auch weiteres über die mythographische Tradition der Laokoonsage.

Sinon. 9

ganze Erfindung verrät sich als spät durcli die Art^ wie sie aus bekannten Motiven zusammengesetzt ist. Sinon spielt die Rolle^ die in Euripides' Philoktet Odysseus selbst spielte; um das Zu- trauen des von den Griechen und vornehmlich von Odysseus selbst tödlich Verletzten zu gewinnen, gab er da vor, ein Grieche zu sein, den seine Landsleute mißhandelt und auf Anstiften des Odysseus verjagt hätten^): hier beschuldigt also der Betrüger sich selbst, und dafür scheint das Motiv erfunden zu sein. Beide Mal ist es aber auch die ungerechte Verurteilung des Palamedes, die das Unglück des Betrügers zur Folge gehabt haben soll, der ein Freund des Getöteten gewesen sein will; und noch meint man in Virgils Versen den Nachhall der euripideischen zu vernehmen.*) Aber die an Euripides sich anlehnende Erfindung stammt nicht von Virgil: das lehrt die in den Hauptzügen mit Virgil über- einstimmende Fassung des Quintus, die auf eine ältere gemein- same Quelle zurückweist. Daß weiter Sinon nach Kalchas' Deutung des Götterwillens für die Rückfahrt geopfert werden soll, ist, wie Virgil selbst erinnert (116 f.), nach Analogie des Iphigenienopfers erfunden; man denkt femer leicht an die Drohung des Achill (Quintus XIV 216), er werde die Abfahrt der Griechen durch Sturm verhindern, wenn ihm nicht Polyxena geopfert werde: auch bei Polyxenas Opferung ist Kalchas beteiligt gewesen. Als virgilisch dagegen dürfen wir die rhetorische Ausarbeitung der f^0ig sowohl wie das Ethos der ganzen Szene betrachten. Der Trug des Sinon, ursprünglich gewiß als eine des Odysseus selbst würdige Ejriegslist erzählt, bei der die Überlegenheit des viel- gewandten Griechen über den Barbaren Priamos glänzend an den Tag tritt, diese Ruhmestat wird bei Virgil zum Schandfleck als niedrige, durch falschen Eid (154; periurus 195) verstärkte Lüge, mit der sich der Mißbrauch edelsten Vertrauens, hilfreichen Mit- leids und frommer Gastlichkeit vereint, um die ins Verderben zu

1) Dio Chrys. or. TJX; c/fil 'Agyslos r&y inl Tqoiav otQatriadvtoav hebt er an, neque me Argolica de gente negabo Sinon; Odysseus ist von den Griechen Schwer gekränkt, i^ &v dt%ocio}g aol iihv av q)iXog B^riv^ iyislvcav 6h ix^Qog fas odisse viroa Vixg. 168.

2) Fando äliquod si forte ttuis pervenit ad auria Belidcie nomen PcUa- medis et induta fama ghria: oI\lccL as yiyvmaxHv tbv Navnliov nalda IlaXa- f(f}^T]jr* o^ yccQ dt} röav initv%6vtoiv oiSh dXiyov &^iog avviTiXsi oi^^£ zot öxifcctm oJrre tolg iiyenoaiv.

10 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

stürzen^ die solche Tugenden üben. Nur weil die Troer selbst so gänzlich unfähig zur Hinterlist, ja ihrer unkundig sind (186), argwöhnen sie auch beim Feinde nichts dergleichen. Hinterlistig aber ist nicht Sinon allein: Aeneas weiß nun plötzlich, daß er nur der typische Vertreter dei* allgemeinen Danaerverworfenheit ist: crimine ab uno disce omnis 65, scderum tantorum artisque Pdasgae 106, ddis instruäm et arte Pelasga 152. Hier spricht der Römer Virgil; das konventionelle Ideal der Römer ist ja der gerade, offenherzige, keiner Tücke fähige Ehrenmann, der fremder Tücke gerade darum leicht erliegt. Eine vortreffliche Parallele zu dieser troisch-römischen Auffassung von Sinons List bietet die patriotische Version des Unglücks bei Cannä, die Valerius Maxi- mus ^) überliefert (VH 4 ext. 2): danach wurden vor der Schlacht 400 Punier, angeblich Überläufer, von den Römern aufgenommen und fallen dann, verborgene Schwerter ziehend, dem Heer in den Rücken; der Erzähler schließt: haec fuit Punica fortitudOy dolis et insidiis et faUacia instructa. quae nunc certissima circumventae virttdis nostrae excusatio est, quoniam decepti maffis quam vidi sumas,^) So ehrt es denn auch im Grunde nur die Troer, wenn sie den Ränken des Sinon, dieses Typus seiner redegewandten,

1) nach Livius XXII 48.

2) Vgl. dazu Varros Definition des ^Besieg^en' bei Serv. XI 306. Die panische Treulosigkeit ist ja bekannt {perfidia plus quam Punica Livius in der Charakteristik Hannihals XXI 9 vgl. XXII 6, 12; Poeni foedifragi Cic. de off. I 88; Afri gens periura Verg. catal. 9, 61; ipse fons perfidiae . . Kartha- ginienses Yal. Max. IX 6 ext. 1 ; anderes s. hei Otto^ Sprichwörter der Römer 8. V. Punicus, vgl. auch Wölfflin Axch. f. 1. L. VII 186); so hat z. B. argloses Vertrauen auf die fidea Punica nach gefärbten römischen Berichten den Konsul Cornelius Scipio Asina den Feinden in die Hände geliefert (s. Münzer, Faul.-Wiss. rV 1486). Aber auch bei anderen Feinden argwöhnte der Römer leicht Perfidie: genus Numidarum infidum Sali. lug. 46, 8 (fallacissima gens Cic. ad Att. XI 7, 8); die Ligurer sind insidiosi fallaces mendaces nach Cato und Nigidius b. Serv. aen. XI 700; Lucaner ut pleraque eius generis ingenia sunt cum foriuna mutabikm gerentes fidem Liv. VIII 24, 6; perfidus Samnis Liv. IX 8, 2; die Sarder libertatem a Servitute nulla re alia nisi mentiendi licentia distinguendam putant Cic. pro Scaur. 17, 88; die Galliei^sind su- specta gens ob infida muUa facinora Liv. XXI 52 , 7 , die Germanen natum mendacio genus Vell. IE 118; bekannt weiter die Perfidie der Parther: Her. epp. n 1, 112; c. IV 16, 28 vgl. Tac. ann. Xni 88 ff.; die Kappadoker als be- rufsmäßige Falschzeugen: schol. Pers. VI 77; schließlich galten pleraque bar- barorum ingenia als unzuverlässig: Liv. XXII 22, 6.

Sinona Bede. 11

listenreichen^ treulosen Landsleute ^); wehrlos gegenüber gestanden

haben ,

quos neque Tydides nee Larisaeus ÄchiUeSy non anni domuere decem, non müle carinae.

In das Mitleid des Lesers mischt sich Bewunderung; die Be- wnnderungy die Sinons Kunst erregen könnte, geht in der Em- pörung unter.

Je raffinierter Sinon lügt, um so besser wird der genannte Zweck erreicht. Yirgil hat hier sein bestes getan. Eine klare, künstlerisch und sachlich gerechtfertigte Disposition war sein erstes Bestreben. Die Gesamtrede Sinons zerfällt in drei fast gleich umfangreiche Abschnitte; der erste erzahlt die Vorgeschichte des Mordanschlags, der zweite diesen selbst und die Flucht, der dritte verkündet das Geheimnis des Weihgeschenks. Dem entspricht, wieder echt virgilisch, auf der troischen Gegenseite eine Steige- rung der Stimmung; durch die einleitenden Worte Sinons war ihre Verwunderung erregt er scheint kein Grieche zu sein , und man läßt von Feindseligkeiten ab; der erste Teil der Er- zählung, mit der Erwähnung des Sehers Ealchas am Schluß, weckt brennende Neugier; der zweite Mitleid; beim dritten denken sie nicht mehr an Sinon die Rettung Trojas steht in Frage (servataque serves Troia fidem 160). So wandelt sich vor unseren Augen die anfängliche übermütige Unbekümmertheit allmählich um in tiefe Ei^jrifFenheit, ahnungsvollen Ernst. Ich will auf die einzelnen Kunstgriffe Sinons, die großenteils schon von den antiken Kommentatoren hervorgehoben sind, nicht eingehen'), nur darauf hinweisen, wie im Laufe der Rede nach und nach schein- bar ganz absichtslos eine Menge edelster Eigenschaften des Redners sich enthüllen oder mitleiderregende Nebenumstände zutage kommen: Standhaftigkeit im Unglück und unverbrüchliche Wahr- haftigkeit (80), Armut (87), Treue gegen den Freund (93), Leid und Erniedrigung um seinetwillen (92), Unfähigkeit zu kluger Verstellung (94), Abneigung gegen den Krieg (HO), in den er

1) Graeci gens lingtui magis strenua qiiam f actis Liv. VUI 22, 8; gens ad fingendum parata Yal. Max. lY 7, 4; Graecula cautio chirographi aus Cicero bekannt: epp. VII 18, 1, vgl. de orat. 1 47 ; Flacc. 9 ff. Otto, Sprichw. b. v. Graecus.

2) Neuere Eiklärer sind dabei sogar spitzfindig geworden: an die iiinpißollciiy die man v. 154 ff. bat finden wollen, glaube ich nicht.

12 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

nicht aus fireien Stücken gegangen ist (87), Vereinsamung unter den Volksgenossen (130), pietas gegen die Heimat, gegen die Kinder und den Vater (137), religio (141); er scheint es sogar fast als unrecht gegen die Götter zu empfinden, daß er sich dem Opfertode entzogen hat (fcUeor 134). Trotz aller erlittenen Un- bill schmäht er seine Landsleute, den impius Tydides und den scderum inventor Ulixes doch erst dann, als er Troer geworden, sich feierlich von den Griechen losgesagt hat, wobei er zugleich seine gottesfürchtige Abscheu vor den Freveln der beiden Ge- nannten ausdrückt; erst dann wünscht er denen Unheil, die ihn so tödlich verletzten^) (190). Es leuchtet ein, wie sehr die durch all diese Mittel erweckte Sympathie mit dem Erzähler auch die Neigung befördert, seiner Erzählung Glauben zu schenken; im Dienste dieser ni^avörrjg steht denn auch die Ausführlichkeit der Erzählung, die allen zweifelnden Fragen von vornherein begegnet und durch die Fülle der scheinbar aus bewegtester Erinnerung hervorquellenden Einzelheiten den Gedanken an Erfindung nicht aufkommen läßt.*) Kurz, Virgil hat es Homer in der von Ari- stoteles (poet. 24) gerühmten Kunst, seine Helden die Unwahr- heit reden zu lassen, nicht nur gleichtun, er hat ihn übertreffen wollen.

Die notwendige Folge aber mußte nun sein, daß Sinon die Troer auch wirklich und vollständig überzeugt. Denn was wäre alle aufgebotene Kunst wert, wenn das letzte und einzige Ziel der Rede, die Überzeugung des Hörers, nicht erreicht würde? Es durfte nicht einmal ein leisester Zweifel mehr übrigbleiben; sonst hätte Sinon eben schlecht gesprochen. Und somit talibus insidiis periurique arte Sinonis credita res. Wie vereinigt sich das mit der Aufgabe, die nach der oben erzählten Fassimg der Sage Laokoon zu erfüllen hatte?

1) Auch verrät er dann erst (fas omnia ferre suh aitras, si qua tegunt 158), daß die Griechen, nur um bald zurückzukehren und den Krieg von neuem zu beginnen, abgefahren sind (176 182), also nicht, wie es noch 108 ff. hieß, kriegsmüde den Kampf aufgegeben haben. Der Widerstreit der beiden Stellen ist durchaus beabsichtigt.

2) Wo Lügen erzählt werden, z. B. von Angeklagten vor Gericht, bemerkt man häuüg, wie durch die Erfindung einer Menge scheinbar gleichgültiger Details der Eindruck der Wahrhaftigkeit hervorgerufen wer- den soll.

Laokoons Auftreten. 13

3.

Während eine Schar Troer das hölzerne Roß umsteht und die Meinungen, was damit zu tun sei, sich bekämpfen, tritt Laokoon zuerst auf?

Primus ibi ante ownis magna comitante caierva Laocoan ardens summa decurrü ab a/rce.

In heftig bewegter Rede warnt er vor der Danaer Hinterlist und schleudert seine Lanze in des Rosses Bauch; dumpf dröhnt die Höhlung. DaB Laokoon gewarnt habe, berichtet ApoUodor; die Verstärkung des Worts, den Lanzenstoß, außer Yirgil nur Tzetzes (Posthom. 713); da dies der einzige Zug ist, für den Yirgil als Quelle des Tzetzes anzunehmen wäre, liegt es näher, auch diesen auf ältere Tradition zurückzuführen.

Man hat die Art, wie Laokoon eingeführt wird, der Situation so wenig angemessen gefunden^), daß man zu dem Schlüsse kam, bei den Versen 35 56 habe dem Virgil ursprünglich die ältere Version, wonach die Beratung erst nach Einführung des Rosses auf der Burg stattfand, vorgeschwebt; nachher seien sie in die neue Erzählung eingefügt worden, nur mit leichten Änderungen, die nicht genügten, um den ursprünglichen Charakter zu verwischen. Ebenso, um dies gleich hier anzufügen, setze die zweite Laokoon- szene jene Fassung der Sage voraus, wonach Laokoon in der Stadt bei den Preudenopfem von den Schlangen getötet wurde, nicht iBur Strafe, sondern als warnendes Vorzeichen wohlmeinender Götter. Ich halte nichts von dem, was man gegen die Verse in ihrem jetzigen Zusammenhange vorgebracht hat, für stichhaltig. Daß Laokoon nicht gleich bei der streitenden Gruppe gedacht wird, sondern erst zum Zwecke der Warnung herankommt, ist, von sach- lichen Gründen abgesehen, schon durch den dramatischen Charakter der virgilischen Erzählung, der uns noch öfter deutlich werden wird, gegeben. Man stelle sich die Szene auf der Bühne vor. Da wird erst Thymoetes, dann Capys seine Meinung äußern, das Volk teils diesem, teils jenem zustimmen; während der Verwirrung wird Laokoon, ganz wie bei Virgil, rasch auftreten: nur so er- hält der Zuschauer den Eii^druck, daß hier nicht bloß nach vielen anderen noch einer sich zur Sache äußert, sondern daß ein folgen-

1) Bethe, Vergilstudien I, Rhein. Mua. XL VI 511 flf. Danach Sabbadini, ü primitwo disegno delV Eneide^ Torino 1900, 19flF.

14 Erstes Kapitel, üions Fall.

schweres Ereignis sich vollzieht. Und zwar wird (immer auf der Bühne gedacht) Laokoon von dem^ was vorgegangen ist^ bereits unterrichtet sein; ein sehr sorgfältig motivierender Dramatiker würde also etwa ihn durch einen derer, qtwrum mdior senientia menti, haben herbeiholen lassen, damit er für ihre Partei den Ausschlag gebe. Indessen dürfte kaum ein Zuschauer eine solche Motivierung, wenn sie fehlte, vermissen. Der Dramatiker würde Laokoon ohne Angabe des Ortes auftreten lassen-, bei Yirgil heißt es nicht einfach accwrrit, sondern summa decurrü ab arce. Er weilte also noch in der Stadt; das widerspricht, meint man, der vorher (26 S,) gegebenen Schilderung panduntur portae: iuvat vre u. s. f Ja hat denn Virgil versichert, die Troer seien mit Mann und Maus und ausnahmslos ausgerückt? und selbst wenn er ein omnes gebraucht hätte, konnte er den Laokoon in der Stadt lassen. Er sagt auch nos ahiisse rati (nämlich Graecos) . . ergo omnis longo solvit se Teucria luctu. Nachher aber hören wir, daß Laokoon keineswegs an die Abfahrt der Feinde glaifbt {credüis a/oectos hostis? fragt er), also auch noch keineswegs aller Sorge sich ent- schlagen hat. Diesen Widerspruch haben selbst die neuesten schärfsten Bjitiker dem Dichter nicht vorgehalten: auch wäre dies sehr pedantisch gewesen; nur hätten sie um so weniger an jener anderen scheinbaren Schwierigkeit Anstoß nehmen dürfen. Laokoon nimmt an der allgemeinen Freude nicht teil; er miß- traut dem scheinbaren Weichen der Feinde; so ist es auch nur billig, daß er sich nicht unter die neugierigen Scharen mischt^ die frohlockend auf den befreiten Fluren schwärmen; daß er dabei nicht war, sagt uns der Dichter in unübertrefflicher Kürze mit summa ah arce. Warum aber summa? Vielleicht soll durch das Bei- wort — wir müßten übersetzen 'hoch von der Burg herab' ^) nur die Vorstellung eines längeren Weges erreicht werden, den Lao- koon zurückzulegen hatte, und in Verbindung mit ardens, primTis ante omnis, decurrit, procul trägt das dazu bei, die Vor- stellung heftigster Erregung zu verstärken. Vielleicht aber hat der Dichter wirklich daran gedacht, das Herabkommen des Laokoon dadurch zu motivieren, daß er ihn von der Höhe der Burg, unde

1) An den obersten Teil der Burg, im Gegensatze zur unteren Burg braucht hier ebensowenig gedacht zu sein, wie Xu 697 daran gedacht ist^ wo AeneaB, der Lavinium bestürmte, deserit et muroa et summas deserit arces.

Laokoon. 15

omnis Troia videri^) et Danaum solitae navis et Ächaica castra (461), die anfgeregten Gruppen beim Roß hat erblicken lassen er mochte von da oben übers Meer spähen, ob kein verdächtiges Segel sich zeige. Aber wenn dem so war, woher wußte da& Aeneas? Eonstatieren wir einfach, daß Yirgil ihn etwas erzählen läßt, was er streng genommen im Augenblick der Handlung nicht wissen konnte, und wonach er sich später schwerlich erkundigt hat; wir werden noch andere Fälle finden, in denen Virgil den Standpunkt der Icherzählung nicht aufs allerpeinlichste innehält. Laokoon wird ohne nähere Bezeichnung eingeführt, nicht etwa als Apollopriester, wie in der älteren Sage; das hat Yirgil absicht- lich vermieden (er nennt auch eigens seinen Apollopriester^ Panthus v. 319), denn der treue göttliche Schützer Trojas kann seinen Priester nicht so gräßlichem Tode überantworten. Laokoon ist also einfach ein Fürst, wie Thymoetes, wie Gapys; daß er näm- lich keiner aus dem volgt^ ist, erfahren wir sofort durch magna comüante caterva: nicht mit einem Haufen anderer zufällig eben- falls in der Stadt gebliebenen Troer kommt er, sondern mit der Schar seiner comites^), denen er von brennendem Eifer getrieben Torauseili Das dumpfe Dröhnen des eisenschwangeren Rosses hören die Troer nicht, von den Göttern betört (54), im übrigen er£ahren wir nicht, welche Wirkung Laokoons Auftreten ausgeübt hat; ganz natürlich, denn wieder echt dramatisch unmittel- bar darauf oder noch während er spricht (ecce . . interea 57) wird die Aufinerksamkeit der Troer abgelenkt: Sinon wird herbei- geschleppt, und ein gefangener Grieche ist in diesem Moment begreiflicherweise interessanter als alles übrige.

Nicht ganz so gut wie bei dieser ersten Laokoonszene ist es Virgil bei der zweiten gelungen, die seiner Eompositionsweise entgegenstehenden technischen Schwierigkeiten zu überwinden. Sinon hat geendet; wie bei dem ersten Zwischenakt der Erzäh- lung (54), so flicht auch hier der Erzähler einige Worte von

1) So sieht Dido IV 409 aree ex summa die Troer sich am Strande zur Abfahrt rüsten.

2) So geht die Königin Dido mcLgna iuvenum stipante caterva (I 497 und IV 186), der König Helenas mtUtis comitantibus (III 346), der König Aeneas zwar muUis cum rnüibus, aber magna medius comitante caterva (V 76)^ wenn Androgeos beim Kampf den Troern entgegenkommt magna comitante caUrva 870), so besagt dies eben, daß er der Führer der Scharen ist.

16 Erstes Kapitel, üions Fall.

seinem Standpunkte aus ein. Die Troer sind überzeugt, damit ist ihr Schicksal besiegelt; es bleibt nur noch die Konsequenz dieser Überzeugung zu ziehen, der Entschluß zu fassen und aus- zufahren. Da tritt ein neues unerwartetes, gräßliches Ereignis ein: die Schlangen kommen übers Meer, Laokoon und seine Söhne leiden qualvollsten Tod. Und nun, unter dem Eindruck dieses offenbaren göttlichen Strafgerichts, wird auf der Stelle wirklich der Entschluß gefaßt und ohne geringstes Zögern ausgeführt.^) Es ist den neuesten Kritikern ohne weiteres zuzugeben, daß es dazu des neuen Motivs, logisch betrachtet, nicht bedurft hätte. Waren die Troer einmal durch Sinon überzeugt, so mußten sie, wenn auch vielleicht nicht mit solcher Eile und einhelligen Be- geisterung, zum Entschluß und seiner Ausführung gelangen, vor- ausgesetzt, daß ihre Überzeugung bis dahin nicht wieder erschüt- tert wurde. Wir haben aber gesehen, daß und warum Virgil nicht seinem Vorgänger folgen konnte, der, wie aus Quintus zu schließen war, Laokoons Tod benutzte, um die letzten durch Sinon ge- lassenen Bedenken der Troer zu zerstreuen. Warum ließ dann Virgil diesen Tod nicht ganz beiseite? Zunächst hätte er dann auch Laokoons erstes Auftreten beiseite lassen müssen, und da- mit hätte die ganze Szene am Roß ihre dramatische Bewegung guten Teils eingebüßt. Aber dieser technische Gesichtspunkt ist v nicht der wichtigste. Laokoons Tod wäre sachlich überflüssig nur, wenn das zweite Motiv derselben Sphäre entlehnt wäre wie das erste. Aber so steht neben und über menschlich listigem Tun der Wink der Götter. Und ich darf behaupten, hätte Virgil dies nicht in der Sage bereits vorgefunden, er hätte ein gleich- wertiges Motiv erfunden. Es geschieht ja doch in der ganzen Aeneis nichts Großes, ohne daß wir hören, solches war der Götter Wille und Werk. Und dieses größte, die Tat, die Troja stürzt, sollte allein ausgenommen sein? Den Ruhm für alles, was Aeneas zum Heil der Seinen und der kommenden Roma tut, gibt der Dichter fromm den Göttern Roms; ihr Werkzeug sind die Großen der Erde. Aber die Götter sind es auch, die das Unglück senden, den Schiffen Sturm und Vernichtung, dem Heere Feind und Tod;

1) Diesen vom Dichter klärlich beabsichtigten Fortschritt von credita res 196 zu ducendum ad sedes simulacrum conclamant 232 verwischt Sabba- dini, wenn er p. 20 schreibt: ^aVora i Troiani si persuadono die hisogna intro- dürre in cütä ü cavcdlo. Ma cotne se giä prima erano statt persuasi da Sinmie?'*

Motivierung der Laokoonszenen. 17

sie, niclit die Scharen der Griechen, zerstören Troja, so müssen fide auch dem verderblichen Roß den Eingang in die Stadt ver- schafft haben; das ist für Virgil und für jeden, der in Virgils Gedanken lebt, ein Postulat. Und zwar auch noch aus einem zweiten Grunde: weil nur so jeder Vorwurf, der gegen die Torheit der Troer sich erheben wollte, verstummen muß; auch Laokoons Tod dient der Tendenz, die, wie ich oben ausführte, Virgil bei dec ganzen Erzählung der Persis im Auge haben mußte.^) Und er erreicht hier bei jedem unbefangenen Leser seinen Zweck; jeder empfindet, daß die Troer höherer Gewalt erliegen, der kein Mensch zu widerstehen vermag; denn was hätte es genützt, wären sie bei Sinons Lügen mißtrauisch geblieben? Dem gottgesandten Straf- gericht gegenüber gab es kein Zaudern mehr. Auf den rein künstlerischen Gewinn, der Virgil, abgesehen von der pathetischen Szene selbst, ungesucht zufiel, will ich nur kurz hinweisen. Ich sprach oben von der Steigerung der Stimmung, die sich sehr kunstvoll und ganz allmählich bei den Troern vollzieht. Wir hatten sie uns bei Sinons letzten Worten in ernster Ergriffenheit zu denken; erst nach dem farchtbar dreinschlagenden Wunderzeichen packt Begeisterung die Menge; die wir oben noch stumm lau- schend uns vorstellen mußten, gehen nun in freudigster Zuversicht ans Werk, alle Hände regen sich, Feierklänge ertönen: so wird das rauschende Fest der Freude eingeleitet, das Troja ins Ver- derben führt. Man wird in jedem Drama, aber auch in der Er- zählung bemerken, wie viel eindrucksvoller irgendein bedeutsamer Umschwung durch ein wuchtiges, rasches Ereignis hervorgerufen wird, als durch eine langsame Entwicklung^; aus der lang aus-

1) Diesen Gesichtspunkt hat für Virgils Laokoonepisode Goethe (Über Laokoon, Werke in vierzig Bänden XXX 817) in den Vordergrund gestellt, zu einseitig, wie ich meine, aber an sich berechtigt. Plüß' Einwände (Vergil und die epische Kunst 42 fiP.) scheinen mir den Kern dieser Auffassung nicht za treffen: es handelt sich freilich für Virgil nicht darum, eine unyerzeih- liehe Torheit der Troer in milderem Lichte zu zeigen, sondern gerade zu verhüten, daß ihr Tun als unverzeihliche Torheit erscheint. Im übrigen stimme ich Plüß in vielem durchaus zu: ich bitte, seine eigenen Aus- führungen nachzulesen.

2) Schiller bedient sich dieses Kunstgriffs mit Vorliebe; ich denke an Szenen wie in Wallensteins Tod m 16, nach der langen Unterredung zwischen Wallenstein und dem Gefreiten Buttlers Auftreten; am Schluß des dritten Aktes nach der Szene zwischen Max und den Wallensteins das Herein- stürmen der Kürassiere.

H«inse, Tirglls epitohe Technik. 2. Aufl. ^

18 Entes Kapitel. IUodb FalL

gesponnenen Erzählung des Sinon den erregenden Rnck herzuleiten, der künstlerisch gefordert wird, war nach meinem Empfinden schwer tunlich.

So viel Yon der Berechtigung der ganzen Szene. Die Moti- vierung des einzelnen, namentlich der Übergang, ist nicht ein- wandfrei. Wir erfahren, daß Laokoon am Strande opfert, madabat. Man muß annehmen, schon während Sinons Rede. Aber wie kann er sich, ehe das Schicksal des Bosses entschieden ist, entfernen? Ist auch er durch Sinon überzeugt? Das ist bei seiner vorher bewiesenen Weitsicht wenig glaublich. Und wozu dies feier- liche Opfer für Neptun, ehe noch, was doch zunächst erfordert schien, das Roß in die Stadt gezogen war? Zwar, dies letztere scheint in der Vorlage Virgils oder von ihm selbst in Gedanken motiviert zu sein, und von hier aus findet sich auch vielleicht ein Weg zur Beantwortimg der übrigen Fragen. Wenn überhaupt jetzt dem Neptun geopfert wird, so kann dies keinen anderen Zweck haben, als ihn um Vernichtung der griechischen Flotte, die in seiner Gewalt ist, anzuflehen. Hier scheint mir ein Zu- sammenhang mit einer Erfindung des Euphorion unleugbar: dieser hatte (nach Servius z. St.) erzählt, die Troer hätten vor Beginn des Ej-ieges ihren Neptunpriester gesteinigt, weil er nicht durch Opfer oder Gelübde an den Gott die Überfahrt der Griechen ver- hindert habe. Nun liegt das Heiligtum des Gottes am Strande; während des Krieges hat also der Kult ruhen müssen^), der Priester brauchte nicht ersetzt zu . werden. Das merkwürdige ductus Neptuno Sorte sacerdos bei Virgil erklärt sich m. E. wirklich hieraus.^) Wenn nun das bei Beginn des Krieges Versäumte jetzt

1) Eben deshalb, meint Betbe, sei die Bezeichnung sollemnis <id ara8 der Situation nicht angemessen; das Heiligtum habe die zehnjährigen Kriegsstürme nicht überdauern können, sei jedenfalls die Jahre hindurch nicht benutzt worden. Warum sollten denn aber die Griechen den Altar zerstört haben? Und mag er auch nicht benutzt werden, er bleibt doch die ara soüemniSj d. h. die, an der nach heiligem, festem Brauche das Opfer zu vollziehen ist, im Gegensatze etwa zu einem für einmaliges Opfer er- richteten Rasenaltar, wie wir sie öfters in der Aeneis finden. Und gerade weil jetzt zum ersten Male Neptun sein Opfer wieder an der ihm zukom- menden (meinetwegen von neuem geweihten was liegt daran?) Stätte er- hält, ist das Epitheton hier sehr am Platze.

2) Man wird einwenden, diesen Zusammenhang hätte kein Leser ahnen können, der seinen Euphorion nicht im Kopfe hatte. Aber wissen wir denn.

Motivierung der LaokooDBzenen. 19

nicht wieder verfehlt werden sollte, so war freilich keine Zeit zn yerlieren; die feindlichen Schiffe konnten ja bereits einen großen Teil des kurzen Wegs zurückgelegt haben. Also ich führe den Gedanken durch, um zu zeigen, daß er nichts Unmögliches enthalt während noch Sinon erzählte, erfuhr Laokoon, daß die Znrüstungen zum Opfer vollendet seien; durch das Los zum Voll- zage bestimmt, begibt er sich an seine heilige Pflicht^ von seinen beiden Söhnen begleitet.

Und das alles, wird man erstaunt fragen, soll man sich denken? Warum sagt denn der Dichter von dem allen nichts, begnügt sich mit der einen kurzen Andeutung? Hier eben, meine ich, ist Virgil der technischen Schwierigkeiten nicht völlig Herr geworden. Weder durfte er die Erzählung des Sinon durch die anscheinend gleichgültige Mitteilung unterbrechen, daß Laokoon abgegangen sei, noch durfte er nach Beendigung der Erzählung den Zeitraum verstreichen lassen, der erforderlich gewesen wäre, nm erst jetzt Laokoon zum Opfer sich rüsten zu lassen; noch endlich konnte er den Bericht des fürchterlichen Ereignisses selbst mit Dingen beschweren wollen, die wohl den gewissenhaften und verstandesmäßig nachprüfenden Kritiker interessiert, den ge- spannten, mit ganzem Herzen teilnehmenden Hörer aber nur er- kaltet hätten gerade hier, wo alles darauf ankam, ihn selbst in die Stimmung der Troer zu versetzen, die von einem Wunderbaren zum anderen gerissen werden. So brachte denn Yirgil das Opfer 'der korrekten Motivierung, sagte nur genau so viel, als nötig war, um ahnen zu lassen, was vorgegangen sein mochte. Er vertraute darauf, daß der Leser, vom Pathos der Situation erfüllt, nicht peinlich jede Falte der Erzählung glattstreichen würde, um zu prüfen, ob irgendeine Lücke sich fände; der Erfolg hat ihm, meine ich, auch hier recht gegeben.

In alle diese Schwierigkeiten ist nun Yirgil nur deshalb ge- raten, weil er die erste Laokoonszene von der zweiten getrennt

ob Yirgil das nicht wirklich bei der Blüte seiner Leser voranssetzte? Er fügt auch xa Thymoetes' Rat, das Roß in die Stadt zn ziehen, hinzu sive dolo seu tarn Troiae sie fata ferebant^ und mußte doch annehmen, daß der oder jener seiner Leser dabei etwas dächte: das konnten sie aber nur, wenn sie die nns durch Serrius z. St. überlieferte Historie des Euphorien kannten. Die große Menge mochte ruhig über diese Andeutungen hinweg- lesen; der Kenner freute sich, sie zu verstehen.

2*

20 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

hat. Warum hat er nicht, wie das Quintus tut, Laokoon erst nach der Sinonszene auftreten und sogleich danach das Strafgericht erfolgen lassen? Dann verlief alles ganz glatt und ohne Ein- führungsbedenken. Auch sachlich war nichts einzuwenden; im Oegenteil ist es gewiß natürlicher, daß die Strafe dem Frevel auf dem Fuße folgt, als daß die Schlangen genau so lange warten, bis Sinon mit seiner langen Erzählung fertig ist. Virgil muß also durch formal-künstlerische Erwägungen zu seiner Umformung ge- führt worden sein; und diese sind leicht zu rekonstruieren. Erstens wäre der Eindruck von Sinons Rede abgeschwächt worden, wenn Laokoon danach seinen Zweifel geäußert und was nicht hätte ausbleiben dürfen die Überzeugung der Troer wieder ins Wanken gebracht hätte; während so der Eindruck der Rede so- fort noch eine gewaltige Steigerung erfährt. Zweitens aber ist auch das Auftreten Sinons erst durch die erste Laokoonszene künstlerisch motiviert, weil es gerade in diesem Momente die größte Wirkung hat: er erscheint genau in dem Augenblick, wo durch Laokoons Rat und Tat die List der Griechen im Begriff ist, schmählich zu scheitern. Auf dem Höhepunkt der Aktion Eintreten der Gegenaktion: das ist echt virgilische Struktur der Handlung.

Der einfach erzählende Quintus kann berichten, daß Athene die Schlangen gesendet habe: dem Sänger hat das die Muse offen- bart Bei Virgil erzählt Aeneas als Augenzeuge; wir müssen hören, woraus ihm und seinen Volksgenossen der Urheber des Strafgerichts klar wurde. Zwar, daß hier göttlicher Zorn sich offenbarte, konnte antiker Denkweise nicht zweifelhaft sein; aber ein Hinweis auf Athene selbst, darauf, daß sie durch die Ver- letzung ihres Weihgeschenkes verletzt war, schien dem Dichter erwünscht. Er fand eine Tradition, wonach die Schlangen nach vollbrachter Tat im Heiligtum des Apoll verschwanden^); das übertrug er auf den Tempel und das Standbild der Athene:

ddubra ad summa dracones diffugiunt saevaeqm petunt Tritonidis aram sub pedihusque deae clipeique sub orbe teguntiir.

1) Quintus Xn 480: t&v S* Irt ai]iia q>alv£d'' onov naredvaav ig isgbv kjtdXXccivog TIsgycciMp iv ^a^^i/. Das geht doch wohl auf lokale Tradition zurück.

Die Schlangen. Einzug. 21

Wenn dies Aeneas erzählt, so tut er es nicht als unmittelbarer Augenzeuge; die Troer in der Ebene konnten nicht auf die Burg sehen, und es wäre lächerlich, sich vorzustellen, daß sie die Schlangen auf ihrem Lauf begleitet hätten. Sie können nur sehen, welche Richtung sie einschlagen, und höchstens später von anderen erfahren, wo sie sich geborgen haben. Virgil hat sich den Sach- verhalt kaum so in Gedanken zurechtgelegt, sondern auch hier wieder die Form der Icherzählung nicht bis in die äußerste Kon- sequenz festgehalten, um nicht entweder in lästige Breite der Er- zählung verfallen oder auf das sachlich wichtige Motiv verzichten zu müssen.

4.

Bei der nun folgenden Schilderung bemerke ich nur Virgils Kürze: er schildert weder den Weg nach der Stadt (Tryphiodor V. 304 335), noch gibt er von Kassandras vergeblicher Warnung (Tryph. 358—445, Quintus 525—585) mehr als die Tatsache selbst und diese in wirkungsvoller Antithese zum Tun der vergebens Gewarnten; man sieht, er vermeidet das nur Episodische. Dafür verweilt er bei dem Augenblick, wo das Roß den Mauerring über- schreitet: dieser verhängnisvollste Moment ist der Betonung wert. Des weiteren folgt nicht, wie bei Quintus und Tryphiodor, eine reiche Schilderung des Freudenfestes, der Musik, der Tänze, der allgemeinen Trunkenheit^); weder konnte der Erzähler ohne Scham und Reue an diese Stunden zurückdenken, noch konnten die Hörer ohne eine Regung verächtlichen Mitleids von diesem verblendeten Treiben vernehmen. Statt dessen nur die Verse

nos ddubra deum miseriy quibus iiUiiniiS esset iUe dies, festa velamus fronde per urbem, zwei Verse, die freilich durchaus berechnet sind, in denen aber die Kunst der Berechnung nahe an Genialität streift.

IL Der zweite Abschnitt, die Nyktomachie, wird eröffnet durch einen kurzen Bericht über die Ereignisse, die dem Erwachen des

1) All das, die falsa gaudia VI 513, ist durch ein Wort nachträglich angedeutet, urbem somno vinoque septUtam 265. Daß beim Freudenfeste (festa fronde) auch der Becher kreist, ist selbstverständlich: es braucht daran erinnert zu werden nur dort, wo die rasche Überrumpelung erklärt werden soll.

22 Erstes Kapitel. IlioDs Fall.

Aeneas yorauf liegen: die achäische Flotte fährt herbei^ das Roß, von Sinon geöffiiet^ entläßt seine Insassen, die sich in die schla- fende Stadt zerstreuen, die Wachen an den Toren niedermachen und diese den Genossen offnen. Ganz ebenso hatte Aeneas an der Spitze des ersten Abschnitts seiner Erzählung (13 24) über die Handlungen der Griechen berichtet, die der eigentlichen Dar- stellung vorauf liegen. Streng dem Gange seiner eigenen Erleb- nisse folgend; hätte er dort nur erzählen dürfen, daß die Griechen abfuhren und das hölzerne Roß am Strande zurückließen: wohin sie fuhren und welches ihre Absichten waren, hat er ja erst später erfahren. In unserem, dem zweiten Falle hören wir dann auch an seinem Orte, wie Aeneas zu der Kunde, die er antizipiert, gelangt ist: Panthus kommt von der Burg herab und unter- richtet ihn über das Vorgefallene (328 ff.). Aus dieser Doppelung hat man schließen wollen, daß einer der beiden Abschnitte spätere Zutat sei^): sicherlich mit Unrecht. Wenn im Laufe einer Handlung, die der Held selbst erzählt, Ereignisse eintreten, die er erst nachträglich erfährt oder deren Bedeutung er erst nachträg- lich erkennt, so hat der Dichter zwei Möglichkeiten. Entweder, er läßt den Erzähler ganz streng dem Gange seiner Erlebnisse folgen, läßt also über jene Ereignisse oder ihre Bedeutung auch den Hörer vorläufig im unklaren: damit kann ein Gefühl un- ruhiger Spannung erzeugt werden, das freilich zu den erstrebtesten Zielen modemer Romantechnik gehört, zu den künstlerischen Ten- denzen des antiken Epos aber gänzlich in Widerspruch steht. Oder der Erzähler erzählt die Ereignisse in der Reihenfolge, wie sie faktisch eingetreten sind, greift also seiner späteren Erkenntnis vor: das ist die naive Technik, wie sie auch in den Apologen des Odysseus befolgt ist. Odysseus erzählt die Erlebnisse seiner Ge- fährten bei der Eirke ganz ohne Rücksicht darauf, daß er selbst sie erst nachher durch Eurylochos, z. T. auch noch später durch die anderen Gefährten erfahren hat; er berichtet, was auf Thri- nakia die Genossen taten, während er schlief, was Eurylochos sagte u. s. f., ganz als spräche hier nicht er, Odysseus, sondern der Dichter. Als sie zur Höhle des Polyphem kommen (t 187), unterrichtet er die Hörer über dessen Art und Gestalt, statt, wie das ein raffinierter Erzähler tun würde, erst nur dunkle Ahnungen

1) Sabbadini a. a. 0. 22.

Vorbereitender Bericht. 23

in Urnen zu erwecken und sie dann an dem Entsetzen teilnehmen zu lassen, das die in der Höhle Weilenden beim Anblick des Un- holdes erfaßte. Ghinz so, nur in etwas verfeinerter Art, verfährt VirgiL Es liegt auch ihm nicht daran, Spannung zu erzeugen, vielmehr daran, daß der Hörer die Situation von vornherein völlig beherrsche: das ist nur durch den vorausgreifenden Bericht mög- lich. Wir müssen andererseits aber auch erfahren, wann und wie die Situation dem Aeneas klar geworden ist: deshalb ist der Be- richt des Panthus nicht zu umgehen. Nun erfährt hier Aeneas keineswegs alles, was er vorher berichtet hat^); ja man kann sich, einmal darauf aufinerksam geworden, fragen, woher überhaupt Aeneas alle jene Einzelheiten erfahren hat: daß das EönigsschijBf das Feuersignal gab^), welche Helden im Roß waren'), daß sie

1) So ist auch der Bericht des Eurylochos x 251 viel summarischer als die voranfgehende Erz&hlung des Odysseus.

2) 256 flammaa cum regia puppis extulerat^ fatis^te deum defensus Mnquis . . laxat claustra Sinon, Man versteht das jetzt meist nicht, wie Hejne (mit Berofdng anf Sen. Agam. 427 Signum recursus regia ut fulsit rote), vom Abfahrtssignal, sondern yon dem Zeichen für Sinon: mit Recht meine ich, denn jenes Signal war ein völlig gleichgültiges Detail und durfte xum mindesten nicht an dieser Stelle erwähnt werden, wo es schon äußer- lich in nahe Beziehung zu Sinons Tun tritt. Die übrige Tradition weiß nur Ton dem Feuerzeichen, das Sinon oder an seiner Stelle Antenor (schol. Ljk. 840) oder Helena geben: der letzten Fassung folgt Virgil VI 518 im Bezieht des Deiphobus, und diese Stelle hat er hier wohl schon im Auge, indem er für sie das Motiy aufspart. Aber er empfindet offenbar das Be- dürfnis, eine Verbindung zwischen der Flotte und Sinon herzustellen, um die Gleichzeitigkeit der Operationen zu erklären, und kehrt also das über- lieferte Motiy um. Genau überlegt mußte ja auch Sinon über das Nahen der Flotte mit Sicherheit informiert sein, um das Roß nicht zu früh zu öffnen.

8) Virgil nennt neun, nicht wie es dem Mythographen ziemt in form- loser Aufzählung, sondern in künstlicher Gliederung, 8x3; damit ist natür- lich nicht geleugnet, daß es mehr waren, wie denn z. B. die Liste des Tryphiodor (152 ff.) 22, die des Quintus (XII 814) 80 und mehr umfaßt, andere gar von hundert oder tausenden erzählten. Auf die Liste, als auf das ständige Requisit einer Iliupersis mochte Virgil offenbar nicht ver- zichten. Die Namen entlehnt er der Tradition: Neoptolemus, Menelaus, Odjsseus^ Sthenelus, Thoas, Epeus finden wir bei Quintus, Acamas bei Txyphiodor (vgL Pausan. I 28,8), Machaon als dem Roß entstiegen nennt der pseud-hippokrat. Brief 27 , p. 818 Herch. (schon von Heyne zitiert als OThessaius tn ngsüßevtix^t^ die Identifizierung verdanke ich gelegentlicher Mitteilung Ton Marx); es bleibt nur Thessandrus als anderweitig nicht be- aeugt. IHe Tradition wirkt auch darin, daß Epeus zuletzt steht wie bei

24 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

an einem Seil herabglitten ^) u. s. f., und so auch bei dem ersten Bericht: daß die Helden ausgelost waren u. dgl. Ein antiker kvrixög hätte vielleicht geantwortet, dies alles habe Aeneas später, Jahre nachher, von Achaemenides, dem Genossen des Odysseus, in Erfahrung gebracht; wir unsererseits werden nicht zweifeln, daß Yirgil an solche Möglichkeiten gar nicht gedacht hat, son- dern auch hier den Standpunkt der Icherzählung nicht streng gewahrt hat, um dem Hörer nicht bloß ein nacktes Gerippe not- wendigster Tatsachen, sondern ein anschauliches Bild zu geben. Das Wesentliche von dem Erzählten ahnte ja jeder Troer nur zu bald; das Detail ging mit in den Kauf. Immerhin ist die Dar- stellung kurz und summarisch genug, daß der Charakter des Be- richts gewahrt bleibt, von dem sich mit dem neuen Einsätze tempus erat quo prima quies der Wiederbeginn der eigentlichen Darstellung scharf abhebt: während z. B. bei dem Abenteuer auf Thrinakia die Erzählung trotz Odysseus' Abwesenheit in gleicher Ausführlichkeit weitergeht.

Eine Einzelheit sei aus dem Bericht noch herausgehoben, weil sie für das Bild der folgenden Szenen von Bedeutung ist: die griechische Flotte segelt heran tacitae per amica silentia lunae d. h. durch stille Nacht beim freundlichen Mondenschein.*) Der Mond hat von altersher bei den Schilderungen der Iliupersis eine Rolle gespielt: 'Mitternacht wars: hell ging der Mond auf' hieß es in der kleinen Ilias.') Ganz begreiflich: in stockdunkler Nacht

Quintus (829) nnd Tryphiodor (182): da werden die Helden nämlich beim Hineinsteigen genannt, und Epeus versteht sich natürlich am besten auf den Verschluß.

1) Auch das ist Tradition, ApoUod. epit. 5, 20. Anderwärts eine Leiter: s. Paulcke, De tabula Iliaca quaestt. Stesichoreae (Diss. Königsb. 1897) 81.

2) Die Stille der Nacht häufig auf den Mond, den aövxog daiiuov (Theokr. H 11), und die Gestirne, die ta^^uma noctis signa (Hör. c. II 8, 10) übertragen; daran, daß der Neumond wohl auch als luna süens bezeichnet wurde, ist hier nicht zu denken; vgl. Stat. Theh.UbS per Arcturum mediae- que süentia Lunae. Der Zusatz amica wohl eigentlich auf luna zu beziehen^ die ihnen den Weg zeigt; zu der Vorstellung, daß sie infolge der freund^ liehen Stille der Nacht unbemerkt bleiben, würde die Erwähnung gerade des Mondscheins schlecht passen.

8) Schol. Eurip. Hek. 910: vv^ fikv Iriv fiiaari, XcciLTtgä d* initsXXs öeXrjvrj^ von Kallisthenes zum Beleg dafür zitiert, daß der Dichter Troia am 8. des aus- gehenden Thargelion zerstört werden ließ; Marx (Rostocker Progr. 1889/90 p. 13) verweist auch auf die Darstellung von Aias' Frevel an Kassandra auf dem etrus-

Mondschein. 25

müßte bei jeder Szene erst eigens für Beleuchtung gesorgt werden. So kommt auch Yirgil da auf den Mondschein zurück^ wo sich einige Genossen um Aeneas sammeln, ohUUi per Itmam 340. Aber andererseits ist die Vorstellung des nächtlichen Dunkels für die Androgeosszene erforderlich: die Griechen halten Aeneas und die Seinen für Landsleute und werden erst stutzig, als sie auf ihre Anrede nicht die erwartete Antwort erhalten (376); nachher machen sich die Troer weiter das Dunkel zunutze, indem sie die Waffen der Erschlagenen anlegen und so unerkannt imtei den Feinden wüten; das wäre bei Tageslicht, wo man die Ge- sichter erkennen kann, nicht möglich. In diesen Szenen erwähnt daher Yirgil wiederholt die 'Schatten der schwarzen Nacht' ^); da sie in den engen Straßen der Stadt spielen, kann er das natürlich trotz des Mondscheins: da liegen ja 'in Massen gegeneinander Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte'.*)

2.

Bisher hatte Aeneas Dinge erzählt, die er gemeinsam mit seinen Landsleuten erlebt hatte, bei denen er selbst nicht hervor- getreten war; in der Szene beim hölzernen Roß und der darauf folgenden schließt er sich nur in der Regel bei der Nennung der

kischen Spiegel IV 2 CCCXCIX Gerh., wo indessen Selene nicht völlig gesichert ist. In eine Vollmondnacht verlegte das Ereignis Hellanikos (b. Clem. Alex. Strom. I p. 189 Sylb.; vgl. über diese und andere Angaben Müller Fr. Hist. Gr. I p. 668; üsener, Aich. f. Religionswiss. VU [1904J 818 f.), ungewiß ob nach alter Tradition: unter Späteren weiß davon nur Petron in der Troiae halosis v. 64 iam plena Phoebe candidum extulerat iubar.

1) 860 nox atra cava cireumvolat umbra, 897 per caecam noctem, 420 n quo8 obseura nocte per umbram fudimus insidiis. Außerdem nur noch 621, wo die himmlische Lichterscheinung der Venus plötzlich verschwindet, 8pi$9%s noctis se oondidit umbris: da ist der Kontrasteindruck vortrefflich wiedergegeben; und bei der Flucht 726 ferimur per opaca locorum.

2) Ganz ebenso verwendet Yirgil das Dunkel der Nacht und die Helle des Mondes nebeneinander in der Nisusepisode : der Helm des Euryalus verrät ihn den Feinden sublustri noctis in umbra . . radiisque adversa re- fulsii IX 878, und der Mond zeigt dann dem Nisus sein Ziel (403), im dichten Walde rara per occultos 1i4cebat semita caUes 883; andererseits ist Nisus in den dunklen Schatten dem Blick des Feindes verborgen (411. 425). Die richtige Auffassung der vielfach (zuerst wohl von Wagner quaestt. Virg. XXXX 2) beanstandeten Beleuchtungsangaben in der Iliupersis zuerst m. W. bei Kvi9ala, Neue Beitr. zur Erkl. der Aen. 22.

26 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

Troer mit ein. In der Schreckensnacht aber ist jeder auf sich selbst angewiesen, und hier setzt denn auch Aeneas mit seinen persönlichen Erlebnissen ein, ohne in der Folge wieder davon ab- zugehen.

Die Traumerscheinung Hektors (268 297) hat keine un- mittelbare Folge, es wird auch im weiteren ihrer nicht wieder gedacht. Oberflächlicher Betrachtung kann sie daher zwecklos erscheinen; in Wahrheit ist sie als Vorbereitung auf das Folgende von größter Bedeutung. Nicht nur weil so die Schilderung der Mordnacht mit einer pathetischen Szene einsetzt, die in plastischem Bilde das Wesentliche der folgenden Ereignisse zusammenfaßt und den Leser mit einem Schlage in die Stimmung versetzt, in der er diesen Ereignissen folgen soU.^) Wichtiger vielleicht noch als dieser künstlerische Zweck ist es, daß durch die Szene die Haltung des Aeneas gegenüber jenen Ereignissen gleich von vornherein in das rechte Licht gesetzt wird. Noch ehe der Held in die Lage kommt zu handeln^ soll er bereits, und mehr noch der Leser, die Vorstellung gewinnen, daß Ilions Schicksal ent- schieden ist, daß also auch Aeneas trotz Tatkraft und Mut dies Schicksal nicht mehr abwenden kann. Es soll femer vorbereitet werden darauf, daß Aeneas, statt mit Ilion zu fallen, weicht, und es soll dies Weichen nicht als die kleinmütige Flucht des um sein Leben Besorgten erscheinen, sondern als heilige Pflicht gegen die Heiligtümer, die Penaten Trojas, für die ein neuer fester Wohnsitz geschaffen werden muß. Ich bin geneigt zu glauben, daß Virgil von dieser abstrakten Forderung ausging; sie konnte nicht wohl glücklicher verkörpert werden, als es durch Hektors Erscheinung geschieht. Besser als irgendein Lebender und als irgendeiner sonst der troischen Toten konnte Hektor jene Aufgabe erfüllen; wenn Hektor mahnt, jeden Widerstand aufzugeben, weiß man, daß in Wahrheit jeder Widerstand um-

1) Vit'On jamais de mieux amenS ni qui pr^are un plus vif sentiment que ce songe cTEn^ . . peut-on lire cet endroit sans etre emu? F^nelon Lettre snr les occupations de rAcad^mie Y. Chateaubriand nannte die Szene une esphce d'abr^gi du ginie de Virgile (G^nie du christianisme 11 4, 11). Eine Andeutung richtiger Auffassung gibt Weidner, dessen im übrigen wenig befriedigender Kommentar (zu Yergils Aen. B. I und II, Lpz. 1869) doch das Lob verdient, vielfach wenigstens versucht zu haben, zu einem tieferen Verständnis von Yirgils künstlerischen Intentionen zu gelangen.

Hekton TraumeiBcheinung. Brand. 27

sonst sein wird; wenn er die Flucht aDbefiehlt, kann diese Flucht nicht schimpflich sein. Es ist wohl möglich^ daß in Yirgil die Erinnerung an Achills Erscheinung in den Nööroc wirkte , der umgekehrt vor der Abfahrt warnte; es ist ferner sicher, daß Virgil in Einzelheiten der Schilderung absichtlich sowohl an die berühmteste Traumerscheinung der römischen Literatur, Homer im Eingang von Ennius' Annalen, wie an Paris' Worte bei Hektors Leichnam in Ennius' Tragödie erinnerte; aber die Entlehnungen haben die Einheitlichkeit seiner Erfindung in nichts getrübt. Und 66 ist charakteristisch für seine Art zu schaffen, daß er sich nicht damit begnügte, den abstrakten Zweck, der ihm vorschwebte, zu erreichen, sondern daß die Szene sich zu selbständiger Bedeu- tung entfaltet und Motive entwickelt, die von der Handlung nicht gefordert, aber an sich poetisch wertvoll sind: das Pathos in der Erscheinung Hektors, gesteigert durch die Erinnerung an seine glänzendsten Tage, das Mitleid des Aeneas und die traumhafte Verwirrung seiner Begriffe: so gewinnt die Szene Bedeutung über ihren relativen Wert hinaus.^)

Die Worte Hektors sind kurz und klar, wie es diesem Mann zukommt. Er entbindet Aeneas von der Pflicht gegen die alte Vaterstadt, weist ihn auf die neue Pflicht und die neue Heimat hin; fuge, der Kern des Ganzen, gleich das erste Wort. Wenn dies fuge aber ausgeführt wird teque his eripe flammis, so muß auch dies irgendwie bedeutungsvoll sein. Es ist im ganzen wei- teren Verlauf der Erzählung sehr aufEsdlend, wie geflissentlich Virgil gerade den Brand der Stadt hervorhebt: Deiphobus' und ücalegons Häuser brennen bereits (310), Panthus spricht lebhaft von den incendia (327. 329), wie dann auch Aeneas (353) und der Grieche Androgeos (374)^, die Flammen erscheinen überall als Schrecknis neben den Feinden (337. 431. 505. 566. 600. 632. 664. 705); kaum hat Aeneas mit den Seinen ihr Haus verlassen, so flammt es auch schon in loderndem Feuer auf (757). Kurz, die immer wieder hierauf gedi^ngte Phantasie des Lesers sieht

1) Man vgl. dazu Otto Ludwig, Handlungszenen als Zustandsbilder, Studien (1S91) I 464.

2) aiii roptuni incensa feruntque Pergama: dies ist aber in den Androgeos -CoroebüBSzenen die einzige Erwähnung: hier kann Yirgil den heUen Feuerschein nicht brauchen, und die Troer suchen zur Ausübung ihzer Kriegslist dunkle Teile der Stadt.

28 EiBtes Kapitel. Ilions Fall.

das eroberte Ilion als Flammenmeer: es brennt^ kaum sind die Griechen eingebrochen , es stürzt in sich zusammen^ als die Er- oberung vollendet ist (624), aus den rauchenden Trümmern der Heiligtümer rauben die Plünderer, was noch zu retten ist (764). Das entspricht den altüberlieferten Vorstellungen keinesw^: da stecken die Griechen yielmehr erst vor der Abfahrt die Stadt in Brand*); während die gefangenen Frauen zu den Schiffen gehen, kommandiert Talthybios bei Euripides (Tro. 1260) die mit der Brandlegung Beauftragten in die Stadt. Aeschylos läßt dem ganz entsprechend Klytämnestra sich ausmalen, wie die Eroberer nun endlich, statt im naßkalten Feldlager zu darben, in den Pa- lästen Ilions den müden Leib pflegen (Agam. 234). Wer zuerst das effektvolle Bild des Kampfs im brennenden Troja gemalt .hat, weiß ich nicht; es war vermutlich derselbe, der zuerst vor dem fliehenden Aeneas die Flammen zurückweichen ließ.') Um des Effektes willen, meine ich, ist das erfunden; die ältere Version ist die wahrscheinlichere, denn die Griechen hatten, recht über- legt, gar keine Veranlassung, das Feuer anzulegen, das ihnen so verderblich werden konnte wie den Feinden, und das zudem mit den Häusern imd Tempeln auch die Beute verzehren mußte.*) Virgil aber kam diese wohl hellenistische Erfindung äußerst gelegen, und darum hat er sie geflissentlich betont, schon in Hektors Worten vorbereitet, nicht in erster Linie dem Effekte zuliebe, obwohl ihm das prachtvoll schaurige Bild der brennen- den Stadt gewiß lebhaft vorgeschwebt hat^), sondern vor allem aus sachlichen Gründen: so hatten die Troer zu den menschlichen Feinden auch die Gewalt des Elements zu bekämpfen, gegen die jeder Widerstand aussichtslos ist^); und so wird erreicht, daß Aeneas nicht das hochragende, hochheilige Pergamon zu verlassen braucht, sondern einen rauchenden Schutt- und Aschenhaufen:

1) Apollod. epit. 6, 23, ProcI. Iliup., vgl. Trypbiod. 680.

2) Wie außer Virgil (und Ovid) auch Quintus erzählt, b. den Exkurs. QuintuB hat denn auch die Brandlegung während des Kampfes: "^TTT 82. 304. 316. 481 fif. 442. 452. 458. 461.

3) Etwas ganz anderes ist es natürlich, wenn Aeneas XU 569 ff. Feuer in das noch nicht eroberte Laurentum wirft, um es zur Obergabe zu zwingen.

4) Sigea igni freta lata relucent 312 ein malerisch anschaulicher Zug ohne sachliche Bedeutung.

5) succurritis urbi incensae 352.

Brand Ilions. Aeneas. 29

darum muß er bei der Rückkehr in die eroberte Stadt sein eignes Hans in Flammen sehen ^ aus dem er Vater und Sohn rettete (757), muß die heiligen adyta (764) brennen sehen, deren Götter er mit eich führt: fuit Hium dies soll ihm das Scheiden erleich- tern, BoU dazu helfen, seinen Entschluß dem patriotischen Leser nahe zu bringen.

3.

Daß Aeneas den Fall Trojas überlebt habe, war feststehende, schon durch die berühmte Prophezeiung in der Uias gegebene Tradition, die sich aber, was die näheren Umstände seiner Rettung anlangt, in zahlreiche Arme spaltete. Die älteste, auch yon So- phokles im Laokoon befolgte Version ließ ihn vor der Eroberung Trojas abziehen; später überwog die Meinung, daß er aus der er- oberten Stadt fliehend den alten Vater wie die heimischen Götter gerettet habe. Und zwar gelingt ihm die Flucht, weil dank Aphrodites Schutz weder das Feuer noch die Geschosse des Feindes ihm etwas anhaben können von wem diese mythische Version herrührt, wissen wir nicht: Virgil macht sie sich, wie wir sehen werden^), zunutze, kann sie aber für den eigentlichen Auszug aas Troja nicht brauchen. Dafür lagen ihm andere Fassungen vor, die auf das Wunderbare verzichteten und die Rettung auf natürlichem Wege erklärten: Aeneas sollte in die Hand der Griechen gefallen, aber von ihnen verschont worden sein zur Be- lohnung für Verrat oder, milder ausgedrückt, zum Dank für die dem Odjsseus gewährte Ghistfreundschaft und seine Bemühungen um die Rückgabe der Helena (Liv. I 1). Den meisten Beifall scheint aber eine Legende gefunden zu haben, die wir bis auf Timäus zurückverfolgen können: danach kapitulierte Aeneas, der die Burg bis zuletzt besetzt hielt, auf freien Abzug und nahm statt Gold und Silber den alten gebrechlichen Vater, dann, als ihm aus Anerkennung hierfür eine neue Wahl gestattet wurde, die Götterbilder mit sich: worauf die Griechen, durch solche Frömmigkeit entwaffnet, ihm mit allem Hab und Gut und all den Seinen nicht nur freien Abzug gewährten, sondern auch die Schiffe zur Abfahrt stellten.*) Virgil hielt die evcißsia des Aeneas, die

1) Vgl. unten III 8.

8) TimäuB: Wissowa Hermes XXII 41. Die Legende mit geringen

30 EnteB Kapitel. Ilions Fall.

in dieser Erzählung verherrlicht wird, natürlich fest; im übrig« konnte er auch ihr nicht folgen: Aeneas durfte der Gnade d verhaßten Feindes nichts verdanken. Und es gab wirklich no< eine Tradition, die auch von der Besetzung der Burg wußte, d Abzug aber ohne jede Beteiligung des Feindes geschehen ließ. Hellanikos, der den Fall Trojas wie ein Stück modemer EJrieg geschichte erzählt hatte, war auch den mehr oder minder dei lieh sagenhaften und schwer glaublichen Traditionen über Aene ausgewichen. Aeneas ist es, dem die Rettung des größeren Te der Troer verdankt wird. Er bemerkt rechtzeitig den Einbru der Griechen, um, während die Vaterstadt von diesen überschwemi wird, mit den Seinen die stark befestigte Burg besetzen zu könne die nun den Flüchtlingen Schutz gewährt; als er einsieht, daß i auf die Dauer nicht zu halten sein wird, beschließt er, wenigste die Heiligtümer, die Menschen und mögUchst viel Habe zu rett< entläßt also, während die Feinde ihr ganzes Augenmerk auf c Berennung der Burg richten, den gesamten Troß auf dem na dem Ida führenden Wege, und als dieser in Sicherheit ist, zie er sich selbst mit der Besatzimg aus der von Neoptolemos 8ch< zum Teil eroberten Veste zurück und vereinigt sich noch unt< wegs mit den Vorausgesandten, ohne von den mit der Plündern] ganz beschäftigten Feinden verfolgt zu werden.

Es ist recht wohl möglich, daß Yirgil diesen sehr pragn tischen Bericht vor Augen hatte*), als er sich die Erlebnisse d Aeneas in der Schreckensnacht zurechtlegte. Auch bei ib wird Aeneas rechtzeitig unterrichtet, um nicht von den Feind' überrascht zu werden: sein erster Gedanke ist, die Burg zu l setzen, er sammelt eine entschlossene Truppe um sich, beteili sich dann, eine Zeitlang erfolgreich, an der Verteidigung d Burg, bis es Neoptolemos doch gelingt einzudringen; auch d Stelldichein, das er den Seinen an einem Punkte des in die Ber; führenden Weges gibt, mag der Dichter aus Hellanikos entnomm* haben; wie bei diesem sammelt sich dort eine gewaltige Seh

Differenzen bei Lykophr. 1263 ff. Vairo Bchol. Yeron. Aen. U 717. Diodor VU Ps.-Xenophon de venat. 1, 15. Stark verkürzt bei Apollodor epit. 6, 21.

1) Dionys. I 46 ff.

2) Hellanikos selbst braucht er dazn natürlich nicht gelesen zu habi wie das auch Dionys schwerlich zuzutrauen ist: beide haben möglicherwe: auch hier die gleiche Quelle benutzt.

Aeneas. 31

von Männern, Weibem und Kindern. Aber damit ist auch die Alinlichkeit der beiden Berichte erschöpft. Es fällt in die Augen, daß Aeneas bei dem Historiker eine weit glänzendere Figur macht als bei Virgil, der doch nichts weniger wünschen konnte als über- lieferte Verdienste seines Helden zu verschweigen. Virgil kennt nicht, wie Hellanikos, eine ummauerte Burg, die über der Unter- stadt sich erhebt, wie etwa die Burg Athens; bei ihm konzentriert sich der Kampf in seiner letzten Phase um den Palast des Pria- mos, der freilich als weitläufiger Gebäudekomplex, burgartig mit Türmen und Zinnen bewehrt, zu denken ist. Aber es gelingt Aeneas nicht, diese Burg mit den Seinen zu erreichen und in Verteidigungszustand zu setzen, ehe der Feind sie erreicht; der Trupp, den er um sich versammelt hat, wird auf dem Wege auf- gerieben: fast allein, nur von zwei Kampfunfähigen begleitet, gelangt er zum Palast, um den bereits der wildeste Kampf tobt. Er beteiligt sich zwar an der Verteidigung, aber ohne irgend jemanden oder irgend etwas retten zu können; allein kehrt er mit göttlicher Hilfe zu seinem Hause zurück, und nicht in ge- ordnetem mililÄrischem Rückzuge mit geschlossener Schar, sondern in ängstlicher Flucht, nur von den Nächsten begleitet, entkommt er schließlich aus der Stadt.

Es ist gewiß, daß die kriegerisch heldenhaften Tugenden des Aeneas, rasche und tatkräftige Entschlossenheit, umsichtige und zähe Tapferkeit, bei Hellanikos viel glänzender sich zeigen. Aber je planvoller und kräftiger der Widerstand hier ist, um so mehr gewinnt der Leser den Eindruck, daß hier doch eine Ent- scheidung der Waffen gefallen ist: eine feste ummauerte Burg wird von einer stattlichen Schar unter Aeneas' Oberbefehl besetzt^ vermag sich aber gegen den Ansturm des Feindes nicht zu halten; unbehelligt vom Feinde weicht schließlich die Mehrzahl der Troer, nur eine Minderzahl ist dem Überfall erlegen. Und eben daran lag Virgil am meisten, den Eindruck zu vermeiden, als habe ein ernstlicher Kampf stattgefunden, in dem es Sieger und Besiegte gibt: durch Sinons Meineid nicht durch der Feinde Schwert soll Troja gefallen sein.^) Darum wird uns wieder und wieder

1) Darum sehr absichtlich victor Sinon 329; die Troer und ihre Götter ■ind schon bei Beginn des Kampfes vidi (820, 864, 867; vgl. 462); nicht xum Kampf, sondern zum Mord ist das Schwert der Feinde gezückt (parata

32 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

eindringlich vor Augen geführt, daß Ilions Schicksal entschieden ist, noch ehe Aeneas erwacht. Das erkennt der Held selbst nicht etwa erst im Verlauf des Kampfes; Hektor hat es ihm schon im Traum gesagt, und als er dann, erweckt durch das Eampfgetöse, vom Dach des Hauses die Feuersbrunst wüten sieht, steht ihm mit Blitzesschnelle vor Augen, daß nichts mehr zu retten ist; wenn er doch zu den Waffen greift, so geschieht das nicht in der Hoffnung, dem Verderben wehren zu können, vielmehr in der Wut der Verzweiflung und mit dem sichern Tod vor Augen:

arma amens capto, nee sat rationis in armis: sed glomerare nianum bdlo et concurrere in arcem cum sociis ardent animi: furor iraque mentem praecipitant pulcrumque mori succurrit in armis})

Diese Stimmung würde uns überraschen, wären nicht wir, und wäre nicht Aeneas eben durch Hektors Erscheinung vorbereitet, die nun gleichsam unbewußt in ihm nachwirkt. Und ehe er noch zur Besinnung kommen kann, eilt auch schon Panthus herbei und bestätigt das Schlimmste; nur durch den Willen der Grötter (numine divom 336) ist es zu erklären, daß Aeneas nun doch in den Kampf stürzt; aber den Genossen, die sich um ihn scharen, weiß er nicht Sieg, nur Tod als Kampfpreis zu zeigen

ned 884). Auch hier können Parallelen aus der römischen Geschichts- schreibung Virgil am besten erklären. Cicero weiß noch von einer bei Gaudium verlorenen Schlacht (de off. in 109; Cato m. 41); Livius läßt es dazu nicht kommen, sondern leugnet ausdrücklich, daß die Schwerter über- haupt gezogen seien (IX 6, 10) : durch den Hinterhalt und die Torheit der Führer ist alles entschieden. Ganz ebenso fällt bei der Allia die Schuld auf die Unfähigkeit der Führer und die Überraschung durch die Feinde; zum wirklichen Kampfe kommt es gar nicht (V 88). ^Nationaleitelkeit, wie persönliche schämt sich des Mißlingens, welches Beschränkung der Kraft verrät, mehr als der größten Schmach, welche träges und feiges Unterlassen aller Anstrengungen nach sich zieht: durch jenes werden hoff artige An- sprüche vernichtet, bei diesen bestehen sie fort.' Niebuhr (R. G. UI 248): das läßt sich mutatis mutandis auf unseren Fall anwenden.

1) Um das zu verstehen, beachte man, daß mit ganz ähnlichen Aus- drücken die Kampfwut des durch Allekto zur Raserei entflammten Turnus geschildert wird VE 460: arma amens fremit, arma toro tectisque requirit, saevit amor ferri et scelerata insania beut, ira super. Es ist bezeichnend, daß Aeneas, von besinnungsloser Wut hingerissen, der Seinen hier mit keinem Worte gedenkt: darüber später mehr.

Aeneaa im Kampf. 33

(333)*); auch die letzten Verteidiger derVeste desPriamus sehen be- reits dem Tod ins Auge (446 f.), und wenn der Wunsch, ihnen zu helfen, den Aeneas auf die Zinnen hinauf treibt, so weiß er doch, daß er nur die bereits Unterlegenen verstärkt (vim addere mcHs 452). So ist denn auch keine Rede von einem Widerstände starker, geschlossener Scharen; nur zufällig sammeln sich einige um den Führer Aeneas, und der Dichter arbeitet im weiteren absichtlich darauf hin, uns den Helden isoliert sehen zu lassen; nachdem er Yom Dach des Palastes untätig dem Mord des Priamus hat zu- schauen müssen, blickt er um sich und sieht sich allein; da scheint noch einmal die Wut der Verzweiflung über ihn ge- kommen zu sein, und die göttliche Mutter muß sein Leben und das der Seinen retten. Von Heldentaten erzählt Aeneas nichts; das einzige, dessen er sich rühmt, ist den Tod nicht gemieden zu haben (431 ff.). Die Sage wußte nichts von besonders hervor- stechenden Taten d^s Aeneas in der Nyktomachie, und es wäre geschmacklos gewesen, aus freier Erfindung solche zu berichten; aber andererseits kam hier die Form der Icherzählung dem Dichter zugute: wenn der Erzähler nichts zum eigenen Ruhm erzählt, so mi^ der Hörer dies als Bescheidenheit auslegen und den Bericht durch eigene Phantasie ergänzen. Wichtiger als erfolgreiche Waffentaten war für Virgil die Tat der pietas, auf der Aeneas' Ruhm vor allem sich gründete: die Rettung des Vaters aus der brennenden Stadt. Sie hätte sich mit dem Bericht des Hellanikos wohl vereinigen lassen, aber doch nur mühsam: daß der Sohn den Vater auf den eignen Schultern davonträgt, läßt sich schwer motivieren, wenn mit ihnen ganze Scharen, Troß und Kämpfer abziehen. Die Umgestaltung, die Virgil vornahm, führte unge- zwungen zu dem Bilde, das aus der ganzen Aeneassage jedem am festesten sich eingeprägt hatte.

1) Der sentenziös pointierte y. 854 una saltis victis^ nuUam sperare BoMem darf nicht dahin mißverstanden werden, als ob Aeneas hoffte, ver- xweifelte Tapferkeit doch noch belohnt zu sehen (man zitiert in diesem Sinne Justin. XX 8 dum mori honeste quaerunt fdiciter vicerunt, nee dlia causa vieUyriae fuit quam quod desperaverunt oder Hannibals Worte bei Liv. XXI 44 nüUum cantemptu vitae telum ad vincendum homini ab dis inmortalibus (terius datum est); yielmehr ist der Gedanke: 'der Besiegte, der noch auf Bettung hofft, wird fliehen oder sich ergeben; das ist für mich und euch kein möglicher Ausweg, uns bleibt nichts als der Tod.'

Heinse, Yirgils epiiche Technik, i. Aafl. ^

34 Erstes Kapitel, üions Fall.

Panthus heißt arcis Phoebique sctcerdoSy d. h., wie richtig er- klärt wird, der Priester des Apollonheiligtumes auf der Burg.^) Dazu hat ihn, wie eine von Seryius zur Stelle berichtete Sage lehrt^ nicht erst Virgil gemacht; ja schon die Ilias setzt eine nähere Verbindung des Panthus mit Apollon voraus, wenn dieser (O 511) den Panthoiden Polydamas schützt und der Dichter erklärt, 'ApoUon ließ es nicht zu, daß des Panthus Sohn unter den Vor- kämpfern falle': vielleicht hat eben dieser Vers jene Sage erzeugt. Panthus kommt bei Virgil von der Burg und kann also dem Aeneas sicherste Kunde geben; aber damit ist die Bedeutung seines Auftretens nicht erschöpft.

Für Virgil stand es fest, daß Aeneas die troischen Penaten aus der eroberten Stadt gerettet habe. Sie sind die Götter dea römischen Staatsherdes, so wie sie vorher die Staatsgötter von Alba und Lavinium gewesen sind: es hat wohl kein Römer ander» geglaubt, als daß es auch die troischen Staatspenaten waren, nicht etwa Hausgötter des Anchises. Virgil wenigstens läßt schon da^ wo er sie zum ersten Maie erwähnt, an dieser Auffassung keinen Zweifel: sacra suosque tibi commendat Troia pencUes sprach Hektor zu Aeneas im Traum, und ebenso im Traum sah ihn Aeneas aua den adyta pendralia Vesta und das heilige Feuer als Repräsen- tanten der Sacra penatesque heraustragen: diese pendralia^) ent- sprechen dem römischen peniis Vestas, Auch im weiteren Verlauf des Gedichts, so oft die Penaten erwähnt werden, ist nie von ihnen als den Familiengöttern des Aeneas, sondern nur als von den Göttern Trojas die Rede. Wenn nun Aeneas diese Staats- penaten aus Troja retten soll, so muß er sie erst haben. Wo waren sie? Auf der Burg befanden sich nach Hellanikos (Dionys. I 46) IsQa xa itaxQGKt rolg TqcsöCv: auch das ist für Vergil etwas Gegebenes. Nun könnte ja Aeneas diese sacra mitnehmen, als er von der Burg wieder herabsteigt: aber dagegen sprach das reli- giöse Bedenken, das auch nachher (717) dazu führt, sie den An- chises tragen zu lassen, da Aeneas selbst, blutbefleckt, sie nicht

1) Immerhin mag gerade dieser Ausdruck gewählt sein, um etwa auf eine Oberpriesterschafb des Panthus zu deuten; Apollon ist ja der spezielle Schutzgott Trojas.

2) V 744 Pergameumque larem et canae penetralia Vestae . . veneratur^

PanthuB und die Penaten. 35

berühren darf: galt es doch auch als Hauptfrevel des Diomedes und Odysseus^ daß sie gewagt hatten die blutbefleckten Hände an das Götterbild zu legen (167). So kam Virgil eine Tradition sehr gelegen, die uns nur durch die tabula Iliaca bekannt ist: dort übergibt dem Aeneas ein Mann, dessen Namen leider nicht mehr festzustellen ist^), ein Kästchen, die heilige aedicula, die nachher beim Auszug wieder erscheint. Virgil überträgt diese Bolle auf den Apollopriester Panthus: sacra manu vidosque deos parvumque nepotem ipse trähit Ich meine, es kann kein Zweifel sein, daß mit diesen sacra vidique dei nicht das einzige simulacrum des Apollo, sondern eben das gemeint ist, was wenige Verse zuvor Hektor mit sacra suosque penates bezeichnete*): schon äußerlich wird an jene Stelle durch die gleiche YerssteUung von sacra er- innert, und die vicH dei sind eben die vidi penates, wie es I 68 und Vin 11 heißt. Panthus rettet diese sacra von der Burg herab zu Aeneas, in dessen frommem und tapferem Schutz er sie am besten geborgen weiß: so bestätigt sich unverzüglich der Traum. Panthus folgt dann dem Aeneas in den Kampf und fällt (429)'): daß er die Heiligtümer und den kleinen Enkel nicht mit sich ge- nommen, sondern bei Aeneas zurückgelassen hat, brauchte wohl nicht besonders gesagt zu werden. Somit geht dann auf Aeneas die priesterliche Pflicht über: sacra patriosque penaies heißt er den Vater beim Auszug tragen und Teucri penates nennt er sie gleich darauf (747): es wäre höchste Pedanterie und Mißtrauen in den Verstand seiner Leser, wenn der Dichter bei dieser

1) Es sind nur die beiden letzten Buchstaben (ov erhalten, wodurch also Anchises sowohl wie Panthus ausgeschlossen sind; den Namen erraten zu wollen (Paulcke a. a. 0. 70) scheint aussichtslos.

2) Die alten Erklärer haben das ganz richtig verstanden, s. Serv. zu 320 f. Die Frage, warum ein Apollopriester die sacra aus dem Vesta- heiligtum rettet, ist müßig: einen eigentlichen sacerdos Vestae gab es ja in Rom nicht. Bei der Gallierkatastrophe ist es der Flamen Quirinalis, der im Verein mit den V estalinnen die sa^^a publica rettet (Liv. V 39 ff.) ; ob daraus auf feste Beziehungen dieses Flamen zum Yestakult geschlossen werden darf, ist mir zweifelhaft.

3) nee te ttui plurima, Panihu^ labentem pietas nee Apollinis infula texit (429), mit deutlicher Beziehung auf den oben erwähnten Vorfall in der Ilias, wo die Priesterwürde des Panthus sogar seinen Sohn vor dem Tode rettet.

36 ^^tes Kapitel, nions Fall.

Gelegenheit noch ausdrücklich hervorhöbe, daß eben dies die vorher genannten sacra Troiaeque penates und die Sacra victique dei Bind})

Yirgil verzichtet mit gutem Bedacht darauf, eine allgemeine Schilderung der Mordnacht auszuführen, wie wir sie bei Quintus und Tryphiodor lesen; das Bedür&us nach Konzentration verbot ihm jeden Versuch dazu. Wir erfahren von der Nyktomachie nur, was Aeneas und die Seinen auf dem Weg nach der Burg sowie auf der Burg erleben, und werden so den Ereignissen weit näher gerückt, als bekämen wir gleichsam aus der Vogelperspektive ein Panorama des Ganzen zu sehen. Wir gehen mit Aeneas durch die engen Straßen der alten Stadt, an den erbrochenen Häusern, den entweihten Heiligtümern vorbei und sehen überall zerstreut

1) Wiflsowa spricht in dem Aufsätze, in dem er die Überlieferang über die römischen Penaten klargestellt hat (Hermes XXII 29 f. Ges. Abh. z. rOm. Religions- u. Stadtgesch. p. 94 f. ; vgl. auch dens. in Boschers Myth. Lex. in 1897), von der 'Verschwommenheit' der virgilischen Angaben: eine klare und konsequente Vorstellung habe ihm gefehlt. Das wird richtig sein; eine solche Vorstellung von den geheimnisvollen Penaten sich zu bilden, war schwer oder unmöglich; Virgil schließt sich hier, wie in sacralen Dingen fast durchweg, offenbar an Varro an. Die im zweiten Buch zumeist verwendete Doppelbezeichnung sacra patriique penates o. ä. (aber auch bloß sacra Troiae 298. 717) läßt der Phantasie den weitesten Spielraum; die auch von Varro eng mit dem Penatenkult verbundene Vesta und das heilige Feuer (296) kann darunter mit verstanden werden: da das ewige Feuer, das jedenfalls erwähnt werden sollte, in der Realität nicht leicht als transportiert gedacht werden kann, findet es seine Stelle im Traumgesicht. Die (gleichfalls varro- nische) Identifikation der Penaten mit den magni dei macht sich Virgil zunutze, wo er ihre Macht hervorheben will: m 12, cf. Vm 679; die Figur der copulativen Epezegese {penates et magni di: vgl. Norden p. 127) tritt zum dritten Male auf in der Wendung effigies sanctae divom Phrygiique penates HI 148: wenn die Penaten (nach der Tradition: Dionys. I 67) dem Aeneas selbst im Traum erscheinen, müssen sie als Götterbilder gedacht werden, und zwar natürlich als Miniaturbilder, da sie ja getragen werden, also wie die im römischen Hauskult verehrten sigillai als sigüla bezeichnete sie auch Varro (schol. Varron. A«*n. 11 717) und kann damit nach dem fest- stehenden Wortgebrauch schwerlich, wie Wissowa will, anikonische Symbole gemeint haben (gleichgültig was Timaeus unter seinen xriQvxia verstanden hat). Von einer Deutung auf bestimmte (jottheiten hat Virgil abgesehen, wie auch Varro in den Antiquitates : auf die Spekulationen, die dieser an anderen Orten vorbrachte, ließ sich der Dichter mit Recht nicht ein.

Nyktomachie. Coroebus. 37

die Leichen der Hingemordeten liegen, wo gerade der Feind die Alinnngslosen überraschte (363 ff.), und wir werden zn Zeugen der vielleicht einzigen für die Troer glücklichen Episode, sowie ihres unyermeidlichen unglücklichen Ausgangs. Aller Wahrschein- lichkeit nach bat^ Virgil die Kriegslist der vertauschten Waffen doch wohl nach historischen Vorgängen^) in die Iliupersis gelbst eingefügt; es ist auch nicht mehr wie billig, daß der Troer etwas zu berichten weiß, wovon die griechischen Siegesberichte schweigen; nur ein Zuviel der Erfindung wäre vom Übel.

Mit glücklichem Griff hat Virgil hier Coroebus in den Vorder- grund gestellt, den die spätere Sage, als Nachfolger des von Ido- meneus getöteten Othryoneus (N 363), um Kassandra freien ließ. Was es mit seiner angeblich von Euphorien entdeckten (Serv. zu 341) sprichwörtlichen Dummheit auf sich hatte, ist nicht aus- zumachen; vielleicht war sie nur aus der törichten Großsprecherei des Othryoneus (iV 366) herausgesponnen, die Quintus (XTTT 175) auf ihn überträgt, Welleicht gründete sie sich daneben auf den Leichtsinn, mit dem er die Warnungen der Braut in den Wind schlug. Dies rechtfertigt Virgil mit einem Wort und appelliert an das Mitleid des Hörers: infelix, qui non sponsae prae- cepta furentis audierit das war ja göttliches Verhängnis. Aber wie um den traditionellen Charakter nicht ganz zu verlöschen, ist es Coroebus, der von einem ersten zufälligen Erfolge hin- gerissen sogleich wieder Hoffnung schöpft und dem unabwend- baren Schicksal durch eine (an sich untadelhafte')) Kriegslist zu

1) z. B. Frontin. strat. III 2, 4: die Arkader überrumpeln ein Kastell der Messenier factis quibusdam armis ad simüitudinem hastiliiim . . admissi per hunc errorem. Ebd. 11: Timarchus Äetolus occiso Charmade Ptolemaei regis praefecto clamide interempti et gaUari ad Macedonicum ornatus est hdbitum: per hunc errarem pro Charmade in Saniorum partum receptus oeeupaffit

2) Es ist, als wollte Virgil der freyelhaften perfidia des Sinon den kriegsrechtlich sanktionierten dolus gegenüberstellen; Servius freilich (zu 381) glaubt den Coroebus durch die Worte dolus an virtus, quis in hoste requirat? als sttUtus charakterisiert, cum sit turpis dolo quaesita victoria. Die antike Anschauung über die Strategemata gibt Yalerius Maximus YII 4, 1: üla pars caüiditatis egregia et oft omni reprehensione proctd remota; aber die List darf nicht zum Betrug oder Mißbrauch edlen Vertrauens weiden wie im Falle des Sinon oder dem ähnlichen des S. Tarquinius, der

arte Bomana, fraude et dolo (Liv. I 53, 4) Gabii bezwang.

38 Erstes Kapitel üionB Fall.

steuern sucht. Er reißt die Jugend mit sich: bezeichnender Weise erzahlt hier Aeneas nur von den anderen (hoc omnis iuvenius laeta facU 394); ihn selbst mag man sich nicht in erborgten Waffen denken.

Die List hat zunächst den gewünschten Erfolg; es ist ein bekanntes Mittel der dramatischen Darstellung, von Sophokles mit besonderer Vorliebe benutzt, durch einen scheinbar glück- lichen Anfangserfolg das nachher eintretende Unglück um so starker empfinden zu lassen. Zugleich dient diese glückliche Phase des Kampfs der Tendenz der ganzen Erzählung: wenn wir die Troer nur siegen oder sterben sahen, so sehen wir die Griechen auch in Scharen fliehen: kein Wunder, daß Aeneas bei dieser Erinnerung verweilt (399 401; 421). Coroebus aber gibt er- wünschte Gelegenheit, Kassandras Schicksal pathetisch in die Handlung zu verflechten (nicht episodisch zu erwähnen, was der Dichter wie gesagt vermeidet)^): Coroebus im Kampf um die Braut fallend ist eine sehr glückliche, wie ich meine Virgil ge- hörige^) Erfindung. Der jugendliche Heißsporn vei^ißt die durch die List gebotene Vorsicht und stürzt sich auf die Räuber, die Genossen verlassen ihn nicht; der Lärm des Kampfs lockt von allen Seiten die Feinde herbei; die List wird entdeckt'): Coroebus

1) Virgil folgt begn*eiflicherweise der Fassang der Sage, wonach Kas- sandra vom Altar nur fortgerissen wird, trahitur (vgl. Eurip. Tro. 71 ^Wx' A£a9 bIIxb Kaadvägav ßla. Paus. X 26, 8 u. a.: Töpffer in Wissowas R. E. I 938); die in hellenistischer Zeit zur Vergrößerung von Aias* Verbrechen erfundene Schändung konnte Aeneas nicht berichten. Über die Fesselung 8. Leo Hermes XXXVII 44 fg.; vgl. noch Eurip. Ion 1403.

2) Wenigstens hören wir nirgends außer bei Virgil von einem Kampf um Eassandra; auch die Darstellung der Vivenziovase (zu Füßen des Aias, der Eassandra packt, liegt ein Getöteter) setzt ihn nicht notwendig voraus.

3) Bedenken hat erregt, daß diese Entdeckung erst berichtet wird (420 Uli etiam si quos fudimus insidiis apparent; primi clipeos tnentitaque tela adgnoscunt)^ nachdem erzählt war, wie die durch Eassandras Befreiung erbitterten Griechen, verstärkt durch ringsher anstürmende Genüssen, auf die Troer eindringen. Ich glaube nicht, daß man (mit Weidner, Conington, Deuticke) annehmen darf, Virgil habe zwei Stadien des Eampfes schildern wollen: 1. Aias und seine Genossen kämpfen um Eassandra im Glauben, daß Landsleute ihnen den Raub streitig machen wollen (413 419). 2. Die Griechen, die vorher geflohen waren, sammeln sich und entdecken die List (420—428). Die furchtbare Heftigkeit des Angriffs, die das Gleichnis 416 419 veranschaulicht, hätte sich Virgil dann für die Steigerung des

Coroebus. 39

fallt ^)y und Eassandra muß wiederum mit eigenen Augen ihre Weis- sagung erftlllt sehen. Echt tragische Ironie aber ist es^ daß eben der Versuch, das verderbliche Schicksal abzuwenden, erst recht ins Verderben führt: von der eigenen Landsleute Hand fallen die als Oriechen verkleideten Troer.

6.

Während des Kampfes, der fast alle, die ihm gefolgt waren ^), aufreibt, wird Aeneas mit zwei Kampfunfähigen, die sich schutz- €uchend an ihn drängen, von den übrigen getrennt; sie hören den Lärm des Kampfes, der um Priamos' Palast tobt, unweit, wie man sich denken muß, von dem Tempel der Atfaena, der ja auch

«weiten Eampfstadiums aufsparen müssen; und warum sollten die Datiai «ndf^u« coUecH, die Ätridae Dolopumque exercitus omnis so entschieden für Aias und gegen die yermeintlichen Landsleute Partei ergreifen? Yirgil •denkt sich offenbar jene vorher Getäuschten unter den Banai undique collecti 413; man beachte, daß auch 418—419 nicht eigentlich vom Kampf, zu dem erst 424 übergegangen wird, sondern nur vom Heranbrausen der feindlichen Scharen gesprochen wird. Daß erst am Schluß dieser Schilderung von der Erkennung die Bede ist, geschieht, weil die Überwältigung der bis dahin durch die List geschützten Troer als unmittelbare Folge jener Erkennung «rscheinen soll. Man braucht die w. 420—428 nur (wie das L. Müller vor- schlug) nach 412 eingeschoben zu denken, um zu empfinden, wie dann das Hicet ohruimur numero 424 in der Luft steht; ganz abgesehen davon, daß die Bückkehr jener vorher Yeijagten so als Zufall erscheint. Daß anderer- seits die Erklärung für den wütenden Angriff der gesamten Griechen nun 2a spät gegeben wird, ist streng genommen richtig (Schiller half dem in seiner Übersetzung ab, indem er gemitu 418 kühn paraphrasierte Verraten hat uns längst der Sterbenden Geschrei'); der Dichter legte auch hier größeren Wert auf energische Betonung der dramatischen Peripetie als auf tadellos korrekte Motivierung.

1) Penelei dextra, während die Tradition (Paus. X 27, 1) Neoptolemos oder Diomedes nannte. Neoptolemos darf erst da auftreten, wo eingehen- der bei ihm verweilt werden kann (469); Diomedes wird in der Iliupersis überhaupt nicht erwähnt; schont etwa Yirgil in ihm den späteren Italiker <vgL XI 226 ff.)? Den Peneleos entnahm Virgil wohl einfach einem Kfttalog der Helden im Pferd: Tryphiodor 180.

2) Daß es mehr waren als die sieben Genannten, besagt schon das canfertos audere in prodia vidi^ vgL 371 socia agmitia credens; und man braucht nicht notwendig anzunehmen, daß der unvollendete v. 846 auf eine Absicht deutet, noch mehr zu nennen. So werden VI 778 sqq. einige Namen latinischer Städte aufgeführt, als Vertreter der dreißig, und ebenso sind die 261 ff. genannten Namen nur die hervorragendsten, s. oben.

40 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

schon auf der a/rx steht; und nun beginnt der letzte Akt des Dramas: der Fall Trojas gipfelt in König Priamos' Tod. Diese Symbolik der poetischen Architektur scheint uns jetzt so selbst- yersiändlich, daß sie bei Virgil, soviel ich sehe, keinem Inter- preten als etwas Besonderes au%efallen ist; aber auch hier, wie so oft, ist es nur ein Triumph des Dichters, daß seine Erfindung als selbstverständlich erscheint. Wir wissen von keiner Tradition, die den Tod des Priamos als Abschluß der Qiupersis berichtet hätte. Auf Polygnots delphischer Iliupersis liegt Priamos er- schlagen, während Neoptolemos über den eben getöteten Elasos wegschreitend gegen Astynoos den Todesstreich führt; Pausanias berichtet, nach Lescheos habe Neoptolemos den Priamos *bei Wege' erschlagen. So steht denn auch in den Berichten, die nur die Hauptepisoden der Persis geben, bei Apollodor (epit. 5, 10) und Tryphiodor (634) der Tod des Priamos keineswegs an letzter, ausgezeichneter Stelle, und bei Quintus ist er zwar an den Schluß der Neoptolemostaten gerückt (XTTT 220), aber es folgen darauf außer dem Tod des Astyanax und anderen Episoden noch der Fall des Deiphobos und allgemeine Eampfschilderungen. In der Tat war ja auch für die wesentlich von sachlichem Interesse geleitete Erzählung des alten Epos der Tod des Priamos zwar an sich ein hervorstechendes Ereignis (gehört er ja auch zu den von der archaischen Kunst behandelten Hauptepisoden der Iliupersis), aber von keinerlei Bedeutung für Ilions Fall; der greise König war ein geringeres Hindernis als Elasos und Astynoos, waren diese auch nichts weiter wie ganz einfache Soldaten. Für den nach künstlerischen Gesichtspunkten Oruppierenden war es nicht mög- lich, Priamos ^bei Wege' erschlagen zu lassen; sein Tod faßt vielmehr im Bilde den Fall Trojas zusammen; die höchste Steige- nmg ist erreicht und darf nicht durch gleichgültige oder auch nur minder wichtige Anhängsel abgeschwächt werden.^) Aber Yirgils Kunst ist zu diskret, um uns etwa mit einer hochtönen- den Phrase diese Empfindung aufzudrängen. Es ist aufs beste motiviert, daß der letzte Kampf um Priamos^ Palast stattfindet und daß der letzte Gegner, auf den Neoptolemos dort trifft, der König selbst ist; imd wenn Aeneas nun sich zurückwendet und

1) Die Anregung konnte Virgil aus Priamos' Worten X 60 ff. schöpfen; 66 u^xhv d' ctv nv\iax6v fif xvv^g . . iqvovaiv.

Priamus' Tod. 41

▼om Kampfplatz weicht^ so geschieht dies nicht infolge des Räsonnements ^nun ist Priamos tot, also alles zu Ende' (womit der künstlerische Gesichtspunkt zum unwahren sachlichen würde); die Peripetie wird vielmehr, wieder scheinbar sehr einfach, da- durch bewirkt, daß den Aeneas, der den Greis schmählich enden sieht, plötzlich der furchtbare Gedanke an des eigenen greisen Vaters Schicksal packt.

Die Situation des Aeneas während dieser letzten Szenen ist ▼oUig klar. Der Palast wird von der Stirnseite bestürmt; um sich an der Verteidigung zu beteiligen, muß Aeneas durch eine Hintertür den Aufgang zum Dach gewinnen; aber freilich kann von dort nur die zunächst drohende Gefahr, die mit Hilfe einer testudo versuchte Ersteigung der Zinnen bekämpft werden; als es Neoptolemos gelungen ist, das Tor zu sprengen und in das vesH- fmlumj dann durch dieses hindurch in das atrium einzudringen, ist die Besatzung des Daches zum untätigen Zuschauen gezwungen. Und natürlich sehen sie vom Dache aus alles, was sich im atrium zutrat: Virgil denkt sich dies mit großer Mittelöffiiung, vielleicht auch mehr in Art der griechischen aikifi^ so jedenfalls, daß im Mittelpunkt nudo sub aeO^eris axe, wie ausdrücklich hervorgehoben wird; der gewaltige Hausaltar mit seinen Penaten^) stehen kann, zu dem sich die Frauen und Priamos geflüchtet haben. Während nun Neoptolemos und die Seinen im Innern des Hauses wüten, verliert sich nach und nach, was noch auf dem Dache von Troern übrig war; die einen suchen sich durch einen Sprung vom Dach nach außen zu retten, die andern stürzen sich verzweifelt in die Feuersbrunst: als Aeneas um sich blickt, sieht er sich allein.

Priamos' Tod sollte aus den oben dargelegten Gründen aus-

1) Virgil ersetzt mit voller Absicht den von der Tradition einstimmig gegebenen Zsvs *EQ%slog durch die Penates (514; 517) handelt es sich doch um die Urväter der Römer (nach Dionys. I 67, 8 übersetzt man Penates auch 'E^x^rot) , and stellt diesen Penatenaltar nach altrömischer Sitte ins atrium. Man hat gut daran erinnert, daß Augustus eine vor seinem Hanse wildgewachsene Palme in campltmum deorum Penatium verpflanzte. Die penetraUa 485 sind nichts anderes als die atria 484, das zeigt schon Vn 69 laurus ercU tecti medio in penetraltbtis aitis^ und es versteht sich zudem von selbst, dafi die Penates ihren Sitz eben in den penttralia haben : penates . . etiam penetraies a poütis vocantur Cic. de nat. deorum 11 68, ^v^ioi Dionjs. a. a. 0. luppiter Herceus . . quem etiam deum penetralem appellabant Paolos p. 101, vgl. Wissowa Rel. d. Römer 104, 8.

42 Erstes Kapitel üions Fall.

führlich erzählt werden^ also auch, der epischen EonventioD ent- sprechend, mit Reden und Gegenreden. Es hat etwas Peinliches, um nicht zu sagen Komisches, sich Aeneas während dieser ganzen tragischen Vorfälle als untätigen Zuschauer auf dem Dache zu denken. Yirgil hat, um dies zu mildem, zu einem eigentümlichen Mittel gegriffen. Aeneas berichtet zunächst ganz kurz (499 bis 502), er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Neoptolemos und die Atriden im Palaste wüteten, wie Priamos am Altare fiel: dann brechen die thcdami zusammen; wo das Feuer nicht herrscht, steht der Feind.^) Und nun hebt die Erzählung mit Priamos' letzten Schicksalen von neuem an, forsüan et Priami fuerint quae fata requiras; diese werden aber nunmehr so erzählt, daß der Erzähler selbst dabei ganz aus unserm Gesichtskreis tritt, daß die Emp- findung, einen Augenzeugen zu hören, nicht in uns aufkommt: ja wir dürfen billig bezweifeln, ob es Aeneas möglich gewesen wäre, die ganze Entwicklung, wie er sie mit Priamos' Rüstung, Hekubas Worten usw. gibt, selbst zu beobachten. Also auch hier wieder ein Verzicht auf die strengste Durchführung der Ich-Er- zählung, der höheren künstlerischen Ökonomie zuliebe.')

7. Die mythographische Tradition berichtet, Neoptolemus habe den Priamos am Altar des Zeus Herkeios getötet. Anderes scheint auch Quintus und Tryphiodor nicht vorgelegen zu haben; Quintus gibt dem König, um ihn doch nicht ganz klanglos untergehen zu lassen, noch eine Rede, in der er um den Tod bittet, der ihm nach so viel Leiden erwünscht sei*), worauf Neoptolemos er-

1) Über solche knappe proposiHo des Themas, das dann weiter aas- geführt wird, 8. Norden 276.

2) Anders steht es mit v. 488 ff. apparet domus intus et atria longa patescunt etc. (nämlich dem Neoptolemus, nachdem er ein Stück des Tors erbrochen hat). Da erzählt Aeneas freilich vom Standpunkt der andern aus, aber er kann das ohne Bedenken, indem er sich aufs lebhafteste in ihre Situation versetzt. Als der Kampf noch am Tore tobt, irren die Frauen durch die Hallen, sagen dem alten lieben Hause Lebewohl (489 f.); als die Feinde eindringen, flüchten sie zum Altar; erst da sieht also Aeneas Ton oben Hecuham centumque nurus.

8) Die Gerechtigkeit erfordert, darauf hinzuweisen, daß Quintus offenbar beabsichtigt hat, durch die kurz yorhergehende Rede des alten üioneus, der flehentlich um sein Leben bittet, den Worten des Priamos eine Folie zu geben: also doch ein Anlauf zu einem künstlerischen Gedanken.

Priamua' Tod. 43

widert^ er habe schon so wie so vorgehabt ihn zu töten^ und denke nicht daran , einem Feind das Leben zu schenken: ^lieben doch die Menschen nichts so sehr als ihr Leben'. Tryphiodor gibt keinerlei Einzelheiten; er hebt nur die Grausamkeit des Neoptolemos hervor, der sich weder durch Bitten noch durch das graue Haar des Königs, das doch selbst Achilleus eiust rührte, habe erweichen lassen. Hier ist die Stimmung gegenüber Neo- ptolemos ganz die virgilische: beide Dichter fußen eben auf der hellenistischen Poesie.

Bei Virgil ist die Szene durch eine Reihe von Nebenmotiven be- reichert: die Waffiiung des Priamos, Anwesenheit der Hekuba, Tod des Polites, ohnmächtiger AngriflF des Priamos. Wir kennen keine poetische Fassung der Sage, die dem entsprochen hätte; aber das Ganze für Erfindung Yirgils zu halten, durch die er die trocken überlieferte Tatsache zur dramatisch bewegten Szene gestaltet habe, daran hindert mich, daß fast alle Einzelzüge doch hie und da mehr oder weniger deutliche Analogien finden.^) Die WaflF- nung und der Angriffsversuch: Polygnot hatte auf dem Altar des Zeus einen Panzer gemalt; Robert (Uiup. 64) erklärt dies schön dadurch, daß Priamos sich habe wappnen wollen, aber von Neo- ptolemos dabei überrascht worden sei; Robert weist femer auf ein Sarkophagrelief (H 67) hin, wo dem greisen König ein Schwert, mit dem er gekämpft; hat, entsinkt. Die Anwesenheit der Hekuba: die tabula Iliaca und andere Darstellungen^) zeigen sie neben Priamos auf dem Altar sitzend; als Augenzeugin seines Todes bezeichnet sie sich bei Euripides (Tro. 481). Der Tod des Polites durch Neoptolemos' Hand: Quintus XIII 214, freilich ohne Zusammenhang mit Priamos; aber daß der Sohn vor des Vaters Augen fallt, erinnert uns daran, daß auf den älteren attischen Yasen der Tod des Astyanax mit dem des Priamos so kombiniert zu werden pflegt, daß der getötete Knabe auf den Knien des Großvaters liegt, der selbst eben den Tod erleidet.^) In der

1) Ob der Baum, der auf der Vivenziovase den Altar beschattet, wirk- lich (wie u. a. Baumeister, Denkm. I 742 behauptet) einen Lorbeer dar- stellen soll, so daß auch hier Virgil einer Tradition folgen würde, kann ich nicht entscheiden.

2) VgL Paulcke a. a. 0. 39. 61.

8) 8. Luckenbach, Verhältnis d. griech. Yasenb. z. d. Gedichten d. ep. CycL 6S2. Robert, Büd u. Lied 74.

44 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

Poesie ist diese Verbindung nicht nachzuweisen; ich wage Robert nicht zu widersprechen, der die spontane Entstehung des Motiys in der archaischen Kunst aus dem Bestreben herleitet, möglichst viel auf einmal geben zu wollen; aber seltsam wäre es, hätte sich die Poesie dies wirkungsvolle Motiv, nachdem es nun ein- mal gefunden war, entgehen lassen. Wenn aber, etwa in helle- nistischer Zeit, an Stelle des Enkels Astyanax der Sohn Polites getreten ist^), so erklart sich das leicht durch die überwieg^de Geltung, die namentlich durch die Tragiker 4ie uns geläufige Fassung von Astyanax' Tod gewonnen hatte.

Mit allen diesen Einzelzügen war nun freilich das Wichtigste, die Handlung und das motiviereude Gefühl, noch nicht gegeben: und eben dies wird Yirgil selbst angehören, so sehr trägt die ganze Szene den Stempel seines Geistes. Priamos fällt nicht als willenloses Schlachtopfer, nicht so, daß ihm der Tod als Er- lösung willkommen wäre, aber auch nicht unmännlich klagend und um das Leben flehend; er wollte als Krieger sterben, und weicht er auch zunächst den Bitten der greisen Gattin, so wallt doch das alte Heldenblut in ihm auf, als er den Sohn fallen sieht; und er stirbt als Krieger. So wird im Hörer nicht reines Mit- leid, sondern zugleich Ehrfurcht und Bewunderung erweckt, das Peinlich- Quälende des Vorgangs durch einen Zug von Erhaben- heit gemildert. Technisch ist der Lanzenwurf des Alten und seine letzte Zomrede von höchster Bedeutung: so folgt Schlag auf Schlag, wie es die dramatische Kompositionsweise verlangt, und jeder ist durch den vorausgehenden motiviert; der Mord, vollzogen an dem ruhig Dasitzenden, würde unvorbereitet sein, halb zufällig erscheinen, in der Luft stehen. Das Eingreifen der Hekuba ist notwendig einmal, um stfitt einer Statistin eine handelnde Person zu schaffen, sodann um Priamos trotz der Waffnung an den Altar zu bringen. Neoptolemos endlich ist zwar grausam und gefühl- los, auch frevelt er aufs ärgste gegen die Götter, indem er nicht nur am Altar tötet, sondern den Greis erst selbst in rohester Weise zum Altar reißt, ihn dort gleichsam als Opfer zu schlachten (darin geht Virgil über all unsere sonstigen Berichte hinaus); aber er ist doch nicht einfach der blutgierige Schlächter, der alles mordet, was ihm in den Weg kommt: er wird durch die

1) Vgl. Robert, Bild u. Lied 60.

PriamuB' Tod. 45

schmähenden Worfce, durch den Angriff des greisen Gegners ge- reizt, und die rohe Tat kann als Aufwallung zorniger Rachsucht erscheinen: die Empörung bleibt bestehen^ aber das schlechthin Scheußliche ist vermieden.

Die Schlußworte mit dem Hinweis auf den Kontrast zwischen Priamos' einstiger Größe und seinem jämmerlichen Tod würden wir an sich gern entbehren, aber der Stil verlangt solches Epilo- gisieren, das die Bedeutung des erzählten Ereignisses sozusagen unterstreicht: wir haben eben hier nicht den objektiven Bericht des Dichters y sondern die Rede, sagen wir die ^fjöi^g, des mit- leidenden Aeneas^); zu ihm führen uns diese letzten Verse wieder zurück.

in.

Der Tod des Priamus bildet den Wendepunkt; wie er den Kampf um die Stadt abschließt, so leitet er den Auszug des Aeneas ein. Jetzt erst durchschauert Grausen den Aeneas, der bisher von wilder Wut der Verzweiflung getragen war: das Schicksal des Priamidenhauses erscheint ihm als Bild dessen, was seinem eigenen Hause widerfährt oder widerfahren ist. Zugleich schaut

1) Man denke an die Schlußworte von des Pädagogen Erzählung in Sophokles* Elektra, des Boten in der Andromache (1161), der Bakchen (1151), im Herakles (1018) etc. etc. ; über das dem dramatischen Stil eigne inKpcavstv Sn^^n Theon Piog. U p. 91 Sp. Aeneas schließt 567 iacet ingens litore iruneus, avdlsumque wneris caput et sine nomine corpus. Bei Pacuvius (Senr. zu 657 und 606) nahm Neoptolemus den Priamus in seinem Palast gefangen und tötete ihn am Grabmal des Achilles; tunc eius caput conto fixum circumMit Virgü wollte diese Variante der Tradition, soweit sie sich mit deir Ton ihm Tomehmlich befolgten yereinigen ließ, anbringen, da sie seiner griechenfeindlichen Tendenz dient (ygl. über solche Verbindung yerschiedener YendoDen nnten den Abschnitt ^Quellen', und Norden p. 255 f.); freilich kann Aeneas nach Lage der Sache das, was er hier berichtet, nicht wissen (ygl. ob. S. 14), sondern es sich nur nach seiner Kenntnis des Neoptolemus ausmalen : es war ja roheste Feindessitte, mit dem Haupt des Getöteten als einer Siegestroph&e zu prahlen: so IX 465 die Rutuler, XU 511 Turnus. Daß man dem Leichnam nicht einmal gegönnt hat, mit in den Trümmern der Königsburg zu yerbrennen, sondern ihn an den Öden Strand geworfen hat, yeryollst&ndigt das Bild dieses immenschlichen Hasses über den Tod hinaus (Seneca hat sich das nicht entgehen lassen: magnoque lovi victima caesus Sigta premis htora truncus Tro. 140, ygl. 55 caret sepulcro Priamus et flamma indiget ardente Troia).

46 Erstes Kapitel. Dions Fall.

er um sich er hat wahrend des letzten grausigen Schauspiels seine Umgebung vergessen er sieht sich allein.

Hier setzte die Helenaepisode ein (v. 567 588); die Verse sind uns nur durch Servius erhalten. Daß sie nicht von Virgil stammen, daran kann m. E. nicht der leiseste Zweifel bestehen. Die Tatsachen der Überlieferung und die Verstöße gegen Virgils Sprache würden allein zu diesem Urteil vollauf ausreichen.^) Andere Gründe kommen hinzu. Zwei derselben hat bereits Servius genannt, um die Tilgung der Verse durch Varius und Tucca zu motivieren: d turpe est viro forti contra feminam irasci, et cantror rium est Helenam in domo Priami fuisse Uli rei, quae in sexto dicitur, quia in domo inventa est Deiphobi, postquam ex summa arce vocaverat Graecos. Beides trifft zu, wenn auch mit Modi- fizierung. Nicht das irasci würde Aeneas entehren; wohl aber glaube ich, daß Virgil seinen frommen Helden nimmermehr auch nur den flüchtigen Gedanken hätte fassen lassen, ein wehrloses Weib zu töten (es ist ja keine schlachtenfrohe Camilla), vor allem nicht, wenn dieses Weib am Altar Schutz gesucht hat: wie würde das dem anstehen, der soeben voll tiefster Empörung von einer Altarschändung erzählte? und nun gar am Altar der Vesta, also eben der Göttin, die mit den Penaten in Aeneas' Schutz gegeben war. Es kommt hinzu, daß Aeneas von dem Verrat der Helena ja erst in der Unterwelt durch Deiphobus unterrichtet wird; was bisher geschehen war, konnte wohl zu einem Verwünschen der Helena als der Ursache des ganzen Krieges Anlaß geben, schwer- lich zu dem wahnwitzigen Mordgedanken. Der Widerspruch femer

1) Das haben nach anderen Thilo (praef. seiner Ausgabe XXXI sqq.) und Leo (Plaut. Forsch. 89, 3) abschließend gezeigt; daß auch in der Be- handlung der Synalöphe der nichtvirgilischc Ursprung der Verse sich yerrftt, beweist jetzt Norden p. 448. 447. Der neueste Verteidiger der Echtheit (H. F. Fairclough, Classical Philology I, 1906, 221 ff.) hat mich so wenig überzeugt wie die älteren; wie darf man z. B. den Ausdruck scelercUas poenas durch den Hinweis auf sceleratum Urnen VI ö68 (s. Norden z. St) recht- fertigen wollen? Die Parallel szene' am Eingang von Odyssee v, wo der Held schwankt, ob er die frechen Sklavinnen schon jetzt oder erst später töten soll und dann Athena ihn ihrer Hilfe versichert, scheint mir so schwache Ähnlichkeit aufzuweisen, daß ich nicht einmal glauben möchte, sie habe dem Interpolator Virgils vorgeschwebt was an sich natürlich möglich wäre. Hartmanns Deklamation zugunsten der Verse Mnemoeyn» 1905, 441 ff. gibt zu einer Widerlegung keinen Anlaß.

HelenaepiBode. 47

mit der Darstellung des sechsteii Buches liegt auf der Hand: die Helena, die den Griechen das Flammenzeichen gegeben, die Dei- phobos wehrlos ihnen überliefert hatte, brauchte auch vor ihrer Rache nicht zu zittern. Dieser Widerspruch könnte an sich wie so manche andre, die sich in der Aeneis finden, auf den unfertigen Zustand des Werks geschoben werden : aber wenn ich oben (23, 2) richtig interpretiert habe, so hat Virgil bei der Abfassung des zweiten Buchs die Episode des sechsten Buchs ins Auge gefaßt, so daß jener Ausweg abgeschnitten ist. Weiter: wenn Venus mit den Worten non tibi Tyndaridis fades invisa Lcicaenae u. s. f (601) auf diesen Anschlag des Aeneas eingeht, wie rechtfertigt sich der Zusatz ciüpatusve PariSy da doch Aeneas an diesen der ganzen Situation nach nicht einmal gedacht haben kann? End- lich noch ein technisches Argument, das soviel ich sehe noch nicht angeführt worden ist. Die Worte scüicd haec Spartam in- eolumis pcUriasque Mycenas aspiciet u. s. f. wären das einzige Selbstgespräch^), das in den Apologen des zweiten und dritten Buches von Aeneas berichtet würde. Wie unnatürlich und frostig solche Selbstgespräche, noch dazu Räsonnements wie das vor- liegende, in der Ich-Erzählung wirken, sieht jeder j sie passen so recht in den Rahmen des manierierten spätgriechischen Romans. Man würde diese Geschmacklosigkeit bei Virgil hinnehmen müssen, wäre sie einwandsfrei überliefert; wenn er sich, wie ich das glaube, von ihr ferngehalten hat, so kann dabei das Muster Homers mit geholfen haben. Man erinnere sich, daß auch Odysseus in seinen ganzen Apologen nie ein Selbstgespräch berichtet.*) Es ist wohl denkbar, daß die antike Odyssee-Kritik dies im Hinblick auf die ausgedehnten Selbstgespräche in e und g hervorgehoben hat; dann ist aber auch Virgil darauf aufmerksam geworden imd die Be- folgung dieser Regel ergab sich für ihn ohne weiteres.

Kurz, ich nehme die IJnechtheit der Verse als erwiesen an. Aber auch ich bin der Meinung, daß sie eine wirklich vorhandene Lücke ausfüllen. Denn wollte man sich selbst die Anknüpfung von V. 589 mit cum gefallen lassen, wollte man, was immerhin

1) 688 tcdia iactaham^ also nicht bloße Überlegung.

2) Der Stoßseufzer Zsv ndtsQ ii6' &U.01 ndytagss ^^oL n. s. f. ;i 371 {olfiAiag dk Ceolat ftrr' äd-avaroiai yiymvov) ist als Selbstgespräch nicht zu rechnen.

48 Erstes Eftpiiel. Ilio'ns Fall.

nicht ganz unmöglich wäre, die Erwähnung von Helena und Paris in den Worten der Venus durch nichts direkt motiviert und vor- bereitet sein lassen wenn die Göttin den Helden an der Rechten faßt und festhält^ dextra prehensum contmuü, so muß un- bedingt gesagt sein, wovon er zurückgehalten werden soll-, davon steht aber in den uns erhaltenen virgilischen Versen nichts. Daß nun Virgil die Rede der Venus niedergeschrieben, ihre Grund- lage, eben die Absicht des Aeneas, unausgeführt gelassen habe, glaube ich ebensowenig wie Thilo (a. a. 0.); dann ist also Thilos Folgerung unab weislich, daß Virgil die jetzt fehlenden Verse ur- sprünglich zwar geschrieben, sie aber dann selbst getilgt hat, ohne noch Ersatz geschaffen zu haben. Was stand in diesen Versen? Welchen Entschluß hatte Aeneas gefaßt?

Zuimchst, es kann nicht der gewesen sein, zu den Seinen zurückzukehren. Denn dazu wäre die Mahnung der Venus über- flüssig; der Einwand, daß sie ja von der unausgesprochenen Ab- sicht nichts gewußt zu haben brauche, verdient keine Wider- legung. Auch hat der Dichter es sorgfältig zu begründen versucht, daß Aeneas erst durch die Göttin zu den Seinen gelenkt werden muß. Nicht, als ob es ihm an Liebe und Pietät fehlte; aber man denke sich doch in die Situation: Aeneas steht allein auf dem Dach des Palastes; ringsum das Feuer und der Feind; es scheint weder ein Durchkommen möglich noch auch irgend Hoffiiung vorhanden zu sein, daß die verlassenen Angehörigen dem in zweifacher Gestalt wütenden Tode entgangen sind: beides wird dann ja sehr ausdrücklich dem wunderbaren Eingreifen der Gottheit zugeschrieben. Da Aeneas hierauf von vornherein nicht rechnen kann, ist es wohl begreiflich, daß er nicht den Gedanken an Flucht faßt, um als Preis eines an sich sehr unwahrscheinlichen Gelingens nur das größliche Bild, das er soeben sah, furchtbarer noch im eigenen Haus zu sehen. So erklärt sich also der eine Teil von Venus' Mahnung: sie hat die Seinen bisher geschützt, sie wird ihn selbst unversehrt ge- leiten: also kann er ohne Furcht ihrem Geheiß folgen (606 ffl). Es ist ganz der Art der Venus gemäß, die bei Virgil fast stets, auch in ernsten Augenblicken, etwas Tändelndes behält, daß sie nicht gleich zu Anfang auf die wirkliche Situation eingeht, son- dern sich verwundert stellt, daß Aeneas wütet, statt sich um die Seinen zu kümmern (die zugleich die Ihren sind, quo nostri

Aeneas und Venus. 49

tibi cura recessit)'^ es ist; als wolle sie sich zunächst an seinem Erstaunen weiden, ehe sie ihm die tröstliche Versicherung gibt.

Mit dieser Mahnung hat nun weder die Erwähnung der Helena noch die Enthüllung der feindlichen Götter direkt etwas zu tun; sie dienen vielmehr ersichtlich der Abmahnung. Um diese Abmahnung zu motivieren, hat ein antiker Editor die Helena- episode erfunden. Es war kein ungebildeter Mann; kein Poet freilich, wenn er auch den virgilischen Stil zur Not imd ohne die aUergröbsten Verstöße zu imitieren verstand; aber er kannte Sage und Poesie: die Anregung gab ihm die Menelaos-Helena- episode der Iliupersis auch Menelaos wird ja durch Aphrodite daran gehindert, die Rache zu vollziehen ; in der Ausführung lehnte er sich an die Szene des euripideischen Orestes an, in der Pylades den Orest zur Ermordung der Helena anstachelt.^) Das ist also ganz die virgilische Imitationstechnik; daß die Erfindung nicht in Virgils Sinne ist, habe ich oben gezeigt. Ebensowenig darf man daran denken, daß Aeneas in der Hoffnung auf Sieg den Kampf habe wieder aufnehmen wollen; seine Aussichtslosig- keit hat ja der Dichter von Anfang an mit allen Mitteln seiner Kunst deutlich gemacht; auch würde in diesem Falle die Er- wähnung der Helena unerklärt bleiben.

Aeneas sah den Tod vor Augen, und sein Entschluß kann nur der gewesen sein, ihm entgegen zu gehen, statt ihn untätig zu erwarten. Er konnte entweder den kürzesten Weg wählen

1) Das hat bereits Emmenessius bemerkt; die Anlehnung ist ganz deutlich: Or. 1137 bI pbhv yccQ slg yvvaHa a(O(pQ0V€atiQav ^iqtog (isd'sliiev, SvöxXtqg av fjp €p6vog * vvv d' {>nkQ anäörig *EV.dSog d6n6Bi dinriv, &v naxiqag IxTfiy', &v x' &n&XB6Bv xixva . . dtol-vy^ibg iaxat^ nvg x' &vdi\)0V6iv 9'solg, aol ttoXlic xäfiol xiSv' ic^myLivoi xvxslv^ TLanfjg yvvaixbg ovvsx' cdfL* iTtga^aiisv (das ist mit sceleratas sumere poenas gemeint) . . . oi) dsl not* o'b öbI Msv^- XsokP iilv s^xvxstv, x6v abv dh naxiga xal ah x&d€l(pr}v d'avsiv, dd^ovg x' l%Biv aovg, dl kyaiiiiLvovog ddqv Xaßovxa vvfjupriv. Sehr ungeschickt sind die Fragen occiderit ferro Priamus usw. an Stelle des euripideischen Schemas gesetzt, in verfehlter Nachahmung von Stellen wie IV 690 pro luppiter! ibit hie et nostris inluserit advena regnis? (wo das ire und inludere noch nicht vollzogen ist) und IX 788 units homo . . . tantas strages impune per t*rbem addiderit? iuvenum primos tot miserit Orco? Zu 573 Troiae et patriae commw/iia JSrinys führt man an Aesch. Ag. 749 vvy^onXavxog 'Egivvg, aber die Quelle ist offenbar Or. 1388 ^böx&v nsqydy.(av knoXimvioiv 'Eqlvvv (von Helenas Schönheit), und aus dem Orestes mögen auch die Phrygii ministri .681 stammen.

H«ins6, Yirgilfi epische Technik. 2. Aufl. \

50 Erstes Kapitel Ilions Fall.

und mit eigener Hand seinem Leben ein Ende machen^); oder er konnte den Tod in den dichten Reihen der Feinde suchen, vielleicht mit der Hoffnung, doch noch vorher Priamos' Tod an Neoptolemos zu rächen. So vortrefflich bei der Wahl des ersten Motivs die Steigerung wäre und so gut gerade diese Situation das Eingreifen der göttlichen Mutter motiviert hätte, so scheinen doch deren eigene Worte*) eher die zweite Möglichkeit zu emp- fehlen. Man begreift, daß Virgil nachträglich den Gedanken ver- warf; in der Tat wäre es auf eine Wiederholung des zu Beginn des Kampfs Gesagten furor iraque mentem praecipitant pul- crumque mori succurrit in armis 316 hinausgelaufen und ein Grundgesetz der virgilischen Technik, das der allmählichen Steige- rung, wäre verletzt worden. Aber wir verstehen unter jener Voraussetzung Venus' Auftreten und ihre Worte durchaus: sie eröffiiet dem Verzweifelten durch ihren göttlichen Beistand einen Ausweg (wohlgemerkt, ohne noch von der Flucht aus der Stadt zu sprechen), sie gibt ihm die Möglichkeit, die Pflichten der pietas gegen die Seinen zu erfüllen; aber noch mehr: sie zeigt ihm, daß sein furor und ira (594 fg. vergL mit 316) sich nicht gegen die Folgen menschlichen Tims, sondern gegen göttlichen Ratschluß richten. Das besagen die Verse

non tibi Tyndaridis fades invisa Laca^enae Ciüpatusve Paris ^ divom indemenüa, divom hos evertit opes stemitque a ctdmine Troiam;

dem gleichen Zwecke, nicht etwa dem Beweis, daß weiterer Wider- stand aussichtslos sei, dient auch das Sichtbarwerden der feind- lichen Götter. Daß nicht etwa Sinon und Neoptolemos, sondern Helena und Paris genannt werden, beruht auf dem bekannten, namentlich in der Tragödie beliebten Schema, auf die letzten Urgründe des Unheils zurückzugehen : in diesem Falle schließt sich Virgil unmittelbar an die Tragödie an.*) Aeschylus läßt (Agam. 1157) die freundeverderbende Hochzeit des Paris verwünschen, und

1) Daran dachte nach Ti. Donatne auch Conington.

2) quis indomitas tantus dolor exdtat iras? . . non prius aspicies ubi . . liqueris Änchisen?

3) Schon Eumaios sagt £ 68 eb; coqpsU' 'EXivrig &7tb tp^Xov dXic^cn 7rQ6xvv, inel noXX&v tjnb yovvar' ^Ivasv.

Aeneas and Venus. 51

den Paris verfluchen die Mannen des Aias bei Sophokles. Oanz besonders aber ist Euripides reich an grausamen Yerwdnschungen und härtesten Anklagen gegen Helena, als die letzte Ursache des Kriegs; Troer ^) wie Griechen*) hassen sie, werfen auf sie die Schuld alles Elends, wünschen ihr Leid und Verderben; der Stimmung, in der wir uns Aeneas denken müssen, entsprechen am meisten die Worte der troischen Frauen (Hek. 943), die in die Ejiechtschafk gehen ^Helena, der Dioskuren Schwester, und den Hirten vom Ida, den Unglücksparis verfluchend, weil ihre Hoch- zeit aus der Heimat uns ins Elend stieß'. Und doch hatte sie aller Schuld entlastet, der am meisten zu Verwünschungen Anlaß hatte: bei Homer sprach Priamos (F 164) die unsterblichen Worte zu der sich selbst Anklagenden: ^nicht dich erkenn' ich schuldig: schuld sind die Oötter, die mir den tränenreichen £j:ieg gesandt'. Das hatte Euripides gewurmt; er dichtet, um dieser gotteslästerlich frommen Toleranz zu begegnen, in den Troades den Redekampf zwischen Helena und Hekabe, und läßt durch Hekabe die Berufung der Helena auf die Götter mit bitterstem Hohn zerpflücken. Virgil kannte diese Szene selbstverständlich; er nimmt, seiner Art der Frömmigkeit gemäß, Partei, imd Aeneas hört aus dem Munde der göttlichen Mutter, daß Priamos die Wahrheit gesprochen hatte. Wollen aber die Götter Trojas Fall, so ziemt dem Frommen freilich nicht trotzige Verzweiflungswut, pondem demütige Er- gebung; zu ihr wird Aeneas durch Venus geführt.

Es ist wohl anzunehmen, wenn auch m. E. nicht schlechthin notwendig, daß Venus mit der Erwähnung von Helena und Paris an gesprochene oder nur gedachte Vorwürfe des Aeneas anknüpft. In welcher Form Virgil diese gegeben hatte oder geben wollte, weiß ich nicht; es konnte ein kurzer Ausruf genügen, der keines- w^s zum Selbstgespräch erweitert zu sein brauchte; es konnten auch nur die Empfindungen berichtet sein, mit denen Aeneas in den Tod gehen wollte.

1) Andromache (Tro. 766) m TvvddqBiov iQvog, oUttot' sl Ji6g . . öXou)' xccHUtoov yuQ dfiiidtcov &no cclöxQ&e xa %Xsivci nh$L* Scnmlsaag ^Qvy&v (vgl. Andxom. 105. 248); Hekabe (Tro. 1218).

2) z. B. Pjlftdes im Orest, s. o.; Peleus (Androm. 602); der Chor in der Elektra (479); Iphigenia (Taur. 866; der Chor 439 f.); TeukroB (Hei. 72) i%9lcxriiP ipÄ yvvainbg sUat (pöviov ij fi* ScnmXsas ndvtag x' 'Axaiovg. Daran

"^^oert stark Yirgils Tyndaridis fades invisa.

4*

52 Erstes Kapitel, üions Fall.

2.

Viel gewaltiger als die bloßen Worte der Venus wirkt auf Aeneas das Bild, das sie ihm enthüllt; er sieht mit eigenen Augen, was Sterblichen sonst zu sehen verwehrt ist, kein Sterblicher noch gesehen hat. Denn wohl gewährt eine Gottheit dem be- gnadeten Menschen die Gunst , sie mit leibhaftigem Auge zu schauen; hier aber fällt der Schleier, der die Götterwelt über- haupt und ihr Walten auf Erden vor menschlichem Gesichte stets verbirgt. Das ist die sehr starke Steigerung eines aus der Ilias entlehnten Motivs {E 172): dort macht Athena den Dio- medes hellsehend, auf daß er in der Feldschlacht die Götter von den Menschen unterscheide und ihnen entgegenzutreten vermeide: ihm werden also doch nur die Götter, mit denen er selbst in Be- rührung kommt, kenntlich. Die Erfindung Virgils, zu großartig, als daß ihr die Worte des Dichters selbst gerecht werden könnten, ja fast zu groß, als daß ihr die Phantasie ganz folgen könnte, gibt eben deshalb zu Bedenken Anlaß. Was wir dem Dichter gern glauben würden, erzählt hier Aeneas, der Augenzeuge; von ihm verlangt die Phantasie klar faßliche Bilder. Neptunus, der die ganze Stadt von Grund aus umstürzt, ist schon eine Vor- stellung, die über die Grenzen der Anschauung fast hinausgeht; Juppiter vollends, der den Danaem Mut und Kraft einflößt und die Götter selbst gegen Troja anreizt, entzieht sich jedem Ver- suche konkreten Sehens, und wenn auch Virgil in diesem Falle taktvoll Venus ein ausdrückliches Hinzeigen, wie bei den anderen Göttern, erspart, so muß doch auch Juppiter zu den numitM mctgna deum gehören, die Aeneas sieht. ^) Juno steht als TtQÖfiaxog am Skäischen Tore und ruft die Griechen von den Schiffen herbei jetzt noch? fragt man erstaunt; hatte doch schon längst vorher Androgeos die vermeintlichen Genossen gescholten, daß sie erst so spät von den Schiffen kämen; wir hatten die Vorstellung, daß längst keiner von ihnen mehr zurück sei, als Priamus* Burg ßllt. Ja wenn es sich um ein Gesamtbild der Uiupersis handelte, dann würden wir Junos Tun begreifen: sie legt zwar nicht selbst Hand

1) Gemildert ist das Bedenkliche der ganzen Darstellung freilich da- durch, daß die Ausführung des einzelnen Venus in den Mund gelegt ist und Aeneas selbst sein Gesicht nur mit allgemein gehaltenen Worten be- schreibt {apparent dircte fades inimicaque Troi<ie numina magna deunC).

Helena. Theophanie. 53

aUf was der regina deum nicht ziemen mag; aber sie kann nicht früh genug die verhaßte Stadt von Feinden überschwemmt sehen; so^rufk sie denn vom Toi gewaltig übers Feld, und ihr Ruf spornt die Zerstörer zur Eile.

Zum Ausgangspunkt der virgilischen Konzeption führt uns Tryphiodor hin. Auch er schildert, und zwar in der allgemeinen Beschreibung der Schreckensnacht, die Teilnahme der Götter (559 ff.). Enyo tobt die ganze Nacht durch die Stadt, mit ihr feuert Eris, riesengroß, die Argeier zum Kampf, denen Ares nun endlich Sieg zu verleihen herbeikommt; von der Burg herab schreit fürchterlich Athena, die Aegis schüttelnd; von Heras Schritten erdröhnt der Äther, die Erde bebt, von Poseidons Dreizack erschüttert; Hades springt entsetzt von seinem Thron auf. Das ist einfach eine Kopie des Bildes, das die homerische Götterschlacht einleitet^), nur in wenigen Zügen der neuen Situation angepaßt: auch Ares steht jetzt auf Seiten der Griechen, Athena weilt nicht mehr im SchifPslager, sondern auf der Burg, wie bei Virgil, und wie Ares bei Homer.*) Die übrigen Abweichungen von Homer, in denen Tryphiodor mit Virgil übereinstimmt, sind nicht erheblich: beide gedenken auch der Hera, beide statten Athena mit der Aegis, Poseidon mit dem Dreizack aus. Zu der Annahme, daß Tryphiodor Yirgils Schilderung gekannt und be- nutzt habe, fehlt, wie man sieht, jeder Gnmd; in allem Wesent- lichen steht er Homer viel näher als dem Römer, nur daß Zeus bei ihm nicht erscheint, den Homer gewaltig aus der Höhe donnern laßt, Virgil bei ganz anderem Tun zeigt. Alles das, was Virgil hinzufügt, um die Bilder zu veranschaulichen und um die Feind- schaft der Götter gegen Troja in konkreten Symbolen zu zeigen, fehlt bei Tryphiodor. Man wird aber wohl nicht bezweifeln, daß die Szene der Ilias direkt oder indirekt auch bei Virgil zugrunde li^, und ihre Verwendung bei Tryphiodor sowie die Überein- stimmung der beiden Nachahmer in Nebendingen scheint mir für indirekte Benutzung zu sprechen. In irgendeiner berühmten Oiupersis, so dürfen wir schließen, war die Teilnahme der feind-

1) T47ff., beginnend mit Eris; Ares und Athena feuern die Ihren durch Zurof znm Kampf an, Poseidon erschüttert die Erde, e>o daß Hades enchreckt Ton seinem Sitze auffährt; Zeus donnert gewaltig aus der Höhe.

2) d^h %ax' &%Qoxaxrig n6Xiog TqAsgüi xsXbvcdv^ &XXox€ nccQ 2kiL6svri 9i»v M KttXXiTiolmvfj.

54 Erstes Kapitel. Ilions FalL

liehen Götter am letzten Kampf des gewaltigen Kriegs erzählt, in Anlehnung an die homerische Götterschlacht: aber jetzt kämpfte kein Gott für die Unterliegenden. Yirgil fand diese Szene ge- eignet, als großartiges Schlußbild zu dienen, und formte sie seinen besonderen Zwecken gemäß um. Zunächst mußte sie in die Ich- Erzählimg übertragen, also für Aeneas sichtbar gemacht werden: Yirgil fand ein Mittel dazu in Venus' Eingreifen, und es gelang ihm so auch, das packende Gemälde zum integrierenden Bestand- teil der Handlung zu machen: es ist unentbehrlich, um Aeneas augenscheinlich zu überzeugen. Aber das Bild hat seinen ur- sprünglichen Sinn, in großartiger Symbolik den gewaltigen Kiunpf zusammenzufassen, nicht völlig verloren; Virgil verzichtet bei Juppiter auf die für den neuen Zusammenhang erforderliche kon- krete Darstellung seines Tuns und scheut sich nicht, in dem Bilde Junos einen Anachronismus zu begehen. Andere Besonder- heiten erklären sich leicht aus der Eigenart seines Gedichts: Mars, der Stammvater der Römer, kann unter den inimica Troiae numina y^^ nicht auftreten; Athena schreit nicht das tut keine virgilische Göttin , aber dafür ist das bloße sammas arces insedit etwas farblos ausgefallen. Juppiter bildet den Schluß: erst wenn der Allmächtige selbst Trojas Feinde unterstützt, ist alle Hoffiiung verloren.

3.

Die Mahnungen, Vorschriften uud Versprechungen der Venus erstrecken sich nur auf das Nächstliegende, den Weg von der Burg nach dem Vaterhaus. Das fällt vielleicht nicht beim ersten Hören, aber doch beim Nachdenken auf; es wäre, sollte man meinen, angebracht, daß Venus auch ein Wort darüber sagte, was denn nachher zu tun sei; daß Aeneas mit den Seinen Troja verlassen solle, es ungefährdet verlassen könne u. dgl.; aber die Worte eripe nate fugam . . ntisqtiam abero sollen nicht dahin ver- standen werden; dafür ist durch den ausdrücklichen Zusatz et tutum pcUrio te limine sistam gesorgt. Die epische (fast möchte man sagen dramaturgische) Ökonomie verlangte aber, die Wirkung der Venusszene derart zu begrenzen; nur so wurden die folgenden Szenen, so wie sie der Dichter plante, ermöglicht. Weder konnte Venus ihren Schutz für den Auszug versprechen dann wäre der Verlust der Creusa, die ängstliche Verwirrung des Aeneas

Venus. AuBpicium. 55

nicht angängig; noch konnte sie überhaupt den Auszug anbefehlen^ sonst wäre die Weigerung des Anchises^ und was sich daran schließt^ von vomherein abgeschnitten. Es gab aber eine Version der Sage, nach der die Aeneaden von Venus geleitet Troja ver- ließen; sie ist uns durch Bildwerke überliefert^), steht bei Try- phiodor^, auch Quintus kennt sie (XIII 326 ff.); ja der von ihm wie Virgil berichtete Zug, daß das Feuer vor Aeneas zurückwich, die Geschosse der Feinde ihn nicht verletzen konnten, läßt darauf schließen, daß die Form dieser göttlichen Führung in der Tradition feststand.') Sophokles, der im Laokoon die Aeneaden vor Trojas Eroberung ausziehen ließ, kann von solcher Führung nicht er- zählt haben; aber bei ihm bezog sich Anchises, der den Auszug ▼eranlaßte, auf Mahnungen der Aphrodite. Diese Traditionen also hat Virgil sich zunutze gemacht, soweit es ohne seine weiteren Absichten zu schädigen möglich war; erst wenn man an jene ur- sprüngliche Version denkt, wird man es auffallend finden, daß Venus den W^ von der Burg zum Hause schützt, nachher aber verschwindet, obwohl doch, wie sie auch selbst sagte, feindliche Scharen rings das Haus umschwärmen.

4. Die Szenen, die im Hause des Anchises dem Auszug voran- gehen, haben Bedeutung in mehr als einem Sinne. Die pietas des Helden gegenüber dem Vater, dieses Hauptstück der populären Aeneassage, tritt erst hier in den Vordergrund. Daß Aeneas den Yater auf seinen eigenen Schultern aus der brennenden Stadt tragt, genügt nicht: er wird noch vor die Weigerung des Vaters gestellt, sich retten zu lassen, und will lieber Weib und Kind und sein eigenes Leben mit jenem dahingehen, als ihn allein dem erbarmungslosen Feind zurücklassen. Anchises selbst, Creusa

1) Wömer, BoscherB Lex. I 18ö.

2) Tryphiodor 661 : Alvdav 9* f%XB'if>6 xai 'AyxLariv 'A(pQo9ix7\ olittslgovaa ji^ma xal vUa^ xf^XB 61 ndtgrig Aicovlriv anivaaas.

3) Darauf gehen wohl auch die Worte miraeulo magis in CassiuB Heminas Bericht über den Auszug, schol. Yeron. n 717, und das ^atig nvgbg laxiohv 6QiLiiv der Oracula Sibyllina (V 9, XII 9). Wenn Ovid ex P. I 1, 83 sagt cum foret Aeneae eervix aubiecta parenti dicitur ipaa viro flamma dedisse viam^ «o wird man dies angesichts der sonstigen Zeugnisse auch nicht mehr als ungenaue virgilische Reminiszenz auffassen.

56 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

und Julus werden eingeführt; am nötigsten war das hier für Creusa^ da diese dem Hörer schon bekannt sein muß^ wenn er der Erzählung von ihrem wunderbaren Verschwinden mit Teil- nahme folgen soll. Künstlerisch wirkt die Weigerung de» Anchises als retardierendes und spannendes Moment: unmittelbar vor dem glücklichen Ausweg erscheint das Gelingen wieder ernst- lich in Frage gestellt.

Zu alle dem kam aber noch etwas Neues, sehr Wesentliches: der Auszug aus Troja, der Beginn des neuen Lebens und der neuen Gründung, sollte auspkato erfolgen. Die geläufige Auf- fassung führte das gesamte Auguralwesen, auf dem ja die römische Staatstheologie beruht, zurück auf die Auspicien des Romulus, das von Ennius erzählte Vogelzeichen, dem er den Vorrang vor Remus verdankt, oder auf das Vorbild aller Amtsauspicien, die Himmelszeichen, die sich Romulus zur Bestätigung seiner Königs- würde erbat. Eine andere Tradition aber ging weiter zurück und ließ das auspmum maximumj den linken Blitz aus heitrem Himmel, zum erstenmal dem Ascanius im Kriege mit Mezentius zuteil geworden sein (Dionys. II 5, 5); noch andere nannten hier nicht Ascanius, sondern Aeneas selbst (Plutarch qu. R. 78). Virgil hat im weiteren Verlauf seines Gedichts beide Überliefe- rungen zu Worte kommen lassen^), ohne dabei das Auspicium als etwas noch Unbekanntes, den Glauben daran als damals ent- standen empfinden zu lassen; als die entscheidende Stunde, die recht eigentlich eine maßgebende Kundgebung göttlicher Zustim- mung erfordert, betrachtet er den Wendepunkt, der zur Gründung des neuen Troja geführt hat, und läßt hier ein Zeichen eintreten,, das dem auspicium fnaximum entspricht, nur vor allen späteren sich auszeichnet, wie das Urbild vor allen Nachbildern.*) Statt des Blitzes fährt ein Stern mit langem, leuchtendem Streifen über den nächtlichen Himmel, aber mit den Begleiterscheinungen des Blitzes, dem Donner zur Linken aus heitrem Himmel und dem Schwefeldampf. Es sind aber auch alle begleitenden Umstände derart dem Auguralritus entsprechend und doch lediglich der Situation entsprungen, daß man wohl von einem attiov sprechen

1) VIII 524, IX 680.

2) Als auspicium tnaximum bezeichneten es denn auch die alten Er- klärer, Serv. zu 693; bekanntlich galten alle Himmelzeichen, nicht bloß der Blitz, als Auspicien.

Auspicium. 57

konnte: denn das ist ja das Wesen solcher ama, daß ein Brauch, der später immer wiederholt worden ist, mit all seinen Einzel- heiten aus den besonderen umstanden einer einmaligen Situation erklärt wird. Die Götter senden ein Zeichen; Julus' Haupt um- spielt eine Flamme.^). Aeneas und Creusa erschrecken und suchen eilig die Flamme zu ersticken; nur Anchises ahnt eine glückliche Bedeutung des Zeichens. Aber es begreift sich aus d6r Situation vollkommen, daß er die Götter um eine deutliche Bestätigung bittet: hatte er doch vorher in der Zerstörung Trojas den gött- lichen Fingerzeig zu erblicken geglaubt, der ihn bleiben hieß. Er wendet sich an Juppiter, denn dieser eben war es, der durch seinen Blitz ihm das Recht zum Leben genommen zu haben schien (648): man weiß, daß nach römischer Auffassung durch- aus Juppiter alle Auspicien sendet. Diese Bitte aber um ein bestimmtes Zeichen ist das technische impetrare auspicia: das auspicium impetrativum dient zur Bekräftigung des auspicium obla- Hfmm oder des owe», wie Anchises sagt: da deinde augwrium, pater, atque haec omina firma, offenbar mit solennen Worten, denn es entspricht genau, wie Cicero im Marius von der Bestätigung des auspicium oblativum durch das impetrativum ^ den linken Blitz, sagt: sie aquilae darum firmavit Juppiter omen}) Femer, daß Anchises hier betet und das Zeichen erhält, ergibt sich von selbst aus der Situation: wie hier das Oberhaupt des Hauses, so ist es später durchweg das Staatsoberhaupt resp. der Magistrat, der die Auspicien einholt. Auch Einzelheiten des Ritus sind hier vorgebildet. Es ist Nacht und schon nahe dem Morgen: das ist die feste Stunde der Auspicien.*) Anchises, der Gelähmte, sitzt: so der beobachtende Magistrat.^) Er erhebt «ich nach Eintreffen des Zeichens (699), weil er nun ohne Verzug aufbrechen will: das gleiche mußte der Magistrat unmittelbar nach der Beobachtung des Zeichens tun.

1) Servins weist darauf hin, daß dies Zeichen beim jugendlichen ServiuB Tullius von Tanaquil, der periia caelesiium prodigiorum mulier (Liv. I 84, 9), auf kflnftigen Glanz gedeutet wurde; dasselbe dann bei Julus* großem Nachkommen Augustus VIII 680.

2) de div. I 47, 106. Man vergleiche auch das Gebet der Auguren bei Liv. I 18 Juppiter pater: st est fas hunc Numam Pompüium . . regem Romae esse, uti tu signa nobis certa adclarassis . .

3) Mommsen St. R. 1 102, 1.

4) Mommsen ebd. 106 , 4.

58 Erstes Kapitel, üions Fall.

damit kein anderes das erste aufheben konnte: zu $e toUü ad auras sagt Serrius ausdrücklich verbum augurum, qui visis auspidis swrgd>ant e templo. So meine ich; daß Yirgil auch ohne ansdrftck- lieben Hinweis, wie er ihn sonst in ähnlichen Fällen gibt, hier aber Aeneas nicht in den Mund legen konnte, von seinen Lesern wohl erwarten durfte, daß sie den Verlauf des ganzen Auspiciums als vorbildlichen erkannten.

Auf die dramatische Komposition der Szene brauche ich nur mit einem Wort hinzuweisen. Dem Aeneas geht zum dramatischen Helden nichts ab als die eigene Initiative, aber er ist doch der Mittelpunkt des Ganzen; Spiel und Gegenspiel gehen von Anchises und Creusa aus; durch ihr Verhalten wird ein Knoten geschürzt, der nur durch göttliches Eingreifen, einen wahren deus ex machina, gelöst werden kann. Den Chorus dieser Szene bilden die Mannen des Aeneas, deren Anwesenheit das (irma, viri^ ferte amia uns mit glücklichster Kürze vor Augen führt. Der Zuschauer hört nicht nur Reden, sondern sieht bewegte Handlung: auf die Worte des Anchises folgt das Flehen der weinenden Hausgenossen; Aeneas wappnet sich zum Todesgang, nachdem er seinen Ent- schluß kimdgetan; an der Schwelle des Hauses bildet sich die rührende Gruppe von Eltern und Sohn, während Creusa ihren Gatten zu bleiben beschwört. Kurz, jcgä^ig^ fjd'og und didvouc kommen gleichmäßig zu ihrem Recht: und alles dient dazu, das Ttad-og des Hörers in lebhaftem Wechsel der Stimmungen zu ei> regen.

5.

Nach der alten Sage begleitet den Aeneas auf der Flucht

seine Gattin^) Eurydike.*) Bei Virgil verliert Aeneas während des

Auszuges, noch innerhalb der Stadt, seine Gktttin, Creusa, und

erfährt nachträglich von ihrem Schattenbild, daß sie ihn nach

1) Ältestes Zengnis wohl eine Münze von Aineia (6. Jahrb., Baumeister Denkm. Fig. 1015); dann, abgesehen von zahlreichen bildlichen Darstellungen, Hellanikos (Dionjs. Hai. I 46, 4) und noch Naevius, der auch des Anchises Gattin mit ausziehen ließ: Serv. zu III 10.

2) So hieß sie im alten Epos (Pausan. X 26, 1) und noch bei Ennius, ann. 87 V. Wann und durch wen Ereusa an die Stelle getreten ist, wissen wir nicht; eine Kreusa war unter den Gefangenen auf Polygnots Leschebild (Pausan. a. a. 0.; Robert Iliupersis 8); als Tochter des Phamos kennt sie Apollodor III 12, 5. 6 (Hellanikos? Robert p. 62); als Gattin des Aeneas

Creusa. 59

Jnppiters Willen nicht in die Feme habe begleiten dürfen, daß sie aber auch nicht den Feinden in die Knechtschaft zu folgen brauche, sondern die Göttermutter sie in der Heimat zurückhalte. Die Darstellung der tabula Iliaca lehrt uns in Verbindung mit einer von Pausanias notierten Tradition mit annähernder Sicher- heit> daß diese virgilische Fassung der Sage in ihren wesentlichen Zügen schon vor ihm bestand.^) Warum er gerade diese wählte, liegt auf der Hand: er hätte sonst Creusa während der Irrfahrten sterben lassen müssen, was eine Doublette von Anchises' Tod geworden wäre; so dagegen bot sich ihm die Gelegenheit zu wirkungsvollem Abschluß der Iliupersis.

Die näheren Umstände von Creusas Verschwinden hat Virgil offenbar absichtlich in einem gewissen Dunkel gelassen. Aeneas erfährt nur, daß sie die Mater his detinet oris; das läßt darauf

nennt sie Livins I 8, Dionjs. III 81, 4; Pausanias a. a. 0., schol. Ljk. 1263 n. a. m. Unsere Apollodorepitome erwähnt die Gattin beim Auszuge nicht (5, 21), ebensowenig Tiyphiodor (651) und, was bei der Ausführlichkeit seiner Erz&hlung von Bedeutung ist, Quintus (Xm 800 362).

1) Anf der Tabula ist der Auszug in zwei Momenten dargestellt, am Stadttor und am Schiff. Am Stadttor erscheint zwischen Askanios und Aeneas eine Frau in der Haltung der Trauernden, die zwar unbenannt ist, aber niemanden als Aeneas* Gattin vorstellen kann. Unten am Schiff fehlt diese Frau: sie ist also inzwischen abhanden gekommen (Paulcke a. a. 0. 41. 78 sq.). Pausanias notiert (X 26, 1) eine Tradition, wonach Ereusa als Gattin des Aeneas durch Aphrodite und die Göttermutter vor der Knecht- schaft bewahrt worden seL Beides zu kombinieren, legt Virgil nahe ; es ist aehr wohl möglich, daß schon Stesichoros Ereusa, die etwa nicht rasch genug folgen konnte, in Gefahr gefangen zu werden, durch eine freundliche Gottheit in ähnlicher Weise bewahrt werden ließ, wie er Hekabe durch Apollon, der sie nach Lykien entführte, gerettet werden ließ; nach späterer Sage entgeht auch die Priamostochter Laodike auf wunderbare Weise der Gefangenschaft: sie versinkt in die Erde (Lykophron, wohl auch Euphorien). Euzipides bedient sich des Motivs im Orestes: Helena, im Augenblick da sie den Tod erleiden soll i% 9'aXd\uav iyivsto Öiccngb dco^arcoy &(pavtog . . fjxot fpaQiLd*oiaiv rj (uiymv xi%vaiaiv ri d-srnv nXonalg 1494 f. Daß eine Gottheit durch Entrückung vor dem Tode oder anderem Leid rettet, ist in jüngeren Legenden nichts Seltenes: Leukippos Parthen. 15, Britomartis An- tonin. 40; Byblis vor dem Selbstmord durch Nymphen bewahrt und zur etfpSUatog ktaiQlg gemacht Antonin. 80. Verwandtes aus dem Glauben «päteier Zeit bei Bohde Psyche ü * 375 ff. Ob die Mater schon bei Stesi- choros eine Bolle spielte, läßt sich bezweifeln; für das alte Epos stellt es Robert a. a. 0. 62 mit Becht in entschiedene Abrede; jedenfalls aber ist ihr Eingreifen nicht von Virgil erfunden.

60 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

schließen, daß sie nicht gestorben ist obwohl die Aasdrücke simtdacrum, unibra und imago im (Jrunde nur für die Erschei- nungen Verstorbener, deren eigentliches Selbst zugrunde gegangen ist, passend und geläufig sind , sondern zu höherem, unsterb- lichem Dasein entrückt ist worauf wieder das noia maior imago paßt*) , also wohl um dem Gefolge der Göttermutter anzugehören*): Creusa ist zuteil geworden, was Diana der Gamilla zugedacht hatte, die sie unter ihre Gefährtinnen erheben wollte.') So kann Aeneas und wir mit ihm schließen; Creusa selbst sagt davon nichts, als ob sie sich scheue, ein Mysterium des Eybele- dienstes zu enthüllen: und gewiß ist es auch vom künstlerischen Standpunkt betrachtet nicht nötig, ja nicht einmal wünschenswert^ daß von solchen Wundem der Schleier des Geheimnisses völlig gelüftet werde.

Eines aber will der Dichter über jeden Zweifel stellen: daß es vom Schicksal oder in Juppiters Ratschluß schon vorher be- stimmt war, Creusa solle den Gatten auf seinen Irrfahrten nicht begleiten: non haec sine numine divom eveniunt, nee te comiiem hinc portare Creusam fas aut iUe sinü mperi regnator Oiympi. So spricht in nachdrücklicher Wiederholung der Schatten, um den 'unsinnigen Schmerz' des Aeneas zu stillen.^) An Stelle dieses

1) So erscheint der Gott Romulus-Quirinus dem Julius Proculns luclbg 6(pdijva^ %al fiiyag &g o^ots ngoadsv, Plut Rom. 28. Desgleichen bei Ovid, der aber die Yirgilstelle vor Augen haben mag, Fast. 11 60S pulcher et humano maior . . 'prohibe lugere Quirites* . . iussit et in tenues oculis evanuit aur<t8.

2) Wenn der Gtöttin auf Erden weibliche ^aXanrin6koi. und ngonoloi dienen, so ist es auf ihrem Göttersitz natürlich nicht anders, und ihre dortigen Dienerinnen haben an der Unsterblichkeit teil; wir kennen sogar zufällig eine von den önadol t^g Kvß^Xrig vv^KpaL, Sikinnis (Arrian bei Eustath. B. N p. 1078). Aphrodite entführt den Phaethon xai iiiv Sce^dioig ivl vriotg v7ion6Xov y^xiov noi^ijauTOj äainova dlov Hesiod. Theog. 99ü. Galintbias wird zur Isga dtduovog der Hekate Antonin. Lib. 29.

3) XI 686 cara mihi comitumque foret nunc una mearum.

4) Man möchte glauben, daß Virgil an die Erzählung vom Raube des Ganymedes im Aphroditehymnus gedacht hat: Tg&a Öh niv^og &taaxov 1%^ fpgivag, oi)9i rt rfiBi Znnri ot (plkov vibv &vi/JQna6s Q'icnig &bX}m' xbv Sil i^Bita yoccöyis ^ta^nsghg ifiuxta ndvra . . Blntv dh i%a6toc Zrivbg i(prifioe^vjiffi dutyitoQog kgyfttpovTrig, d»g ?oi Scd'divocTog viocl &yrJQaig loa d'sotaiv (207). Außer durch diese Mitteilung wird Tros freilich durch änoiva entschädigt^ die göttlichen Rosse, so daß sich sein Schmerz in Freude verwandelt.

Creusas Verschwinden. 61

Schmerzes soll demütige Ergebung treten: ganz so, wie es eben noch Yenus gefordert hatte, indem sie die Zerstörung Trojas als Werk der Götter oflfenbarte. Damit wird aber auch Aeneas jeder Schuld, der man ihn oder er sich selbst etwa zeihen könnte, entlastet; wenn seine besinnungslose Flucht Creusas Verlust herbei- führte, so war er doch nur ein Werkzeug in der Hand der Götter. Die Ergebung in ihren Willen wird das steht aber erst in zweiter Linie durch den Trost erleichtert, daß Creusa nicht in griechischer Knechtschaft zu leiden braucht, sondern in der Heimat verbleibt, zu höherem Dasein entrückt. Aber nun erhebt sich ein Bedenken. Der Dichter hat vorher sein Möglichstes getan, den Verlust der Creusa auf natürliche Weise zu motivieren: sie muß (wie uns scheint, in übertriebener Vorsicht) allein in einigem Abstände dem Gatten folgen; Aeneas muß, durch des Vaters Wamungsruf erschreckt, in ängstlicher Flucht vom Wege abweichen, auf dem ihm Feinde entgegenkommen; er weiß nach- her, und noch als er Dido erzählt, nicht, ob Creusa den Weg verfehlt hat oder stehen geblieben ist (weil sie den Gatten aus den Augen verloren hatte und nicht wußte wohin), oder vor Er- mattung nicht mehr weiter gekonnt und sich niedergesetzt habe: in all diesen Fallen konnte sie den Feinden leicht in die Hände geraten. Wozu, fragt man sich, diese ganze umständliche Motivie- rung des Verlustes, da doch auch ohne dies alles die Magna Mater Creusa zu sich nehmen konnte?

Es könnte genügend scheinen, darauf zu antworten, daß Virgil einfach der Tradition gefolgt ist, nach der Creusa, in Gefahr ge- fangen genommen zu werden, durch die Mater gerettet wurde: jene Gefahr mußte motiviert werden. Virgil hat nun freilich das neue Motiv eingeführt, daß die Trennung der Creusa von Aeneas von vornherein im Götterwillen lag, und danach hätte er die Er- zählung so formen können, daß die Gefahr und alles, was damit zusammenhängt, wegfiel. Aber man vergegenwärtige sich, wie dann die Szene ausgefallen wäre. Gesetzt also, Creusa wäre etwa vor Aeneas hergegangen (wie das mehrfach bildlich dargestellt ist) und plötzlich avaQna6^Bl6a verschwunden, wie etwa Iphigenie vor dem Altar zu Aulis, oder wie einer der Kämpfenden, die von Götterhand dem Bereich der feindlichen Lanze entrückt werden. Aeneas hätte, Anchises auf den Schultern, in starrem Staunen di^^tanden; eine Stimme vom Himmel her hätte etwa die Er-

62 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

klämng gegeben^ tind die Fliehenden hätten ihren Weg fortgesetzt Das Ganze Tvüre iinyergleichlich viel matter und inhaltsloser ge- worden; nicht nur, daß Aeneas keine Gelegenheit gehabt lultte, seine Gattenliebe zu beweisen: das Wiedersehen mit Creusa wäre unmöglich gewesen, die Situation des Aeneas bei der Entrückung hätte ans Lächerliche gestreift; Spannung und dramatische Be- wegung hätten der Szene gefehlt. So ist es durchaus begreiflich, daß Virgil trotz seiner neuen Begründung des Vorgangs an der traditionellen Fassung festhielt: nun ist zwar die Trennung der Greusa von Aeneas Schicksalsbestimmung und die verwirrte Flucht des Aeneas ein gottgewolltes Mittel ihrer Erfüllung; aber, so denkt es sich der Dichter, die Mater mildert die Härte des Schick- sals, indem sie Creusa aus den Händen der Feinde zu sich ent- rückt: die Gefahr ist für sie der Anlaß zu helfendem Eingriff genau wie später in XI die Gefahr ihrer Schiffe sie veranlaßt^ Yon der Erlaubnis, ihnen unsterbliche Gestalt zu geben, Gebrauch zu machen. Um den jetzigen Plan durchzuführen, kam es vor allem darauf an, Creusa zu isolieren und so Aeneas den Verlust erst nachträglich bemerken zu lassen. Virgil hat es mit der Motivierung nicht leicht genommen: man wird einzig die oben erwähnte allzu große Vorsicht unwahrscheinlich finden. Im übrigen ist die Verwirrung des Aeneas vorbereitet durch die Schilderung (726 729), wie er, der eben noch der Griechen dichte Scharen nicht fürchtete, jetzt bei jedem Lufthauch, jedem Ton erschrickt, um Sohn und Vater besorgt: wie muß da des Vaters ängstlicher Ruf wirken nate, fuge, nate, propinquant. Die äußere Situation ist völlig klar: Feinde kommen ihnen, wie Anchises zu sehen glaubt^ auf ihrem Weg entgegen, zurück kann Aeneas nicht, er muß also seitwärts abbiegen in das weglose, ihm unbekannte Terrain. Da Creusa hinter ihm herging, so fällt ihm bei seiner kopflosen Flucht ihr Verschwinden nicht sogleich auf; warum sie ihm nicht folgte, weiß er nicht, aber es läßt sich ja vieles denken: er zählt die Möglichkeiten auf, substitit erravitne via resedit Durchaus in Ordnung ist endlich, daß Aeneas zunächst so erzählt, als wisse er von der Offenbarung noch nichts, die ihm später zuteil ge- worden ist; das ist künstlerisch gefordert, um die folgenden Szenen nicht des Pathos zu berauben, sachlich gerechtfertigt durch die Lebhaftigkeit, mit der sich der Erzähler in das Schrecknis der Entdeckung und seine eigene Verzweiflung zurückversetzt.

Greusas Yench winden und Prophezeiung. 63

Crensa beruhigt nicht nur den Aeneas über das Geschehene: sie verkündet ihm zugleich die Zukunft und laßt erraten, warum Juppiter sie nicht den Gatten begleiten ließ: er wird nach langer Fahrt im Land Hesperien an des Tibers Ufer ein neues Glück finden, ein neues Reich und eine Königstochter zur Gattin. Diese Prophezeiung ist zum Abschluß einer Iliupersis außerordentlich geeignet: der Leser erfährt in großen Zügen, was das Endergebnis der Ereignisse sein wird, die an seinem Auge vorüberzogen. Es ist etwas ganz Ähnliches, wenn in dem Oinonegedicht, das Quintus in seinem 10. Buch benutzte, Hera ihren Dienerinnen erzählt, was alles der Tod des Paris an Folgen für Troja nach sich ziehen werde (344 flF.). Ein solcher Abschluß war künstlerisches Er- fordernis, solange Virgil seine Iliupersis als Einzelgedicht kom- ponierte und wirken lassen wollte. Sobald dies Einzelgedicht in den großen Zusammenhang des Epos eingereiht wurde, bedurfte es der Prophezeiung an dieser Stelle nicht, oder doch höchstens der Aussicht auf eine in fernem Lande des Aeneas wartende regia caniunx. Ja als Yirgil später den Plan feststellte, nach dem Aeneas das Ziel seiner Lrfahrten erst allmählich und stufenweis erkennen sollte, wäre die nähere Bestimmung, die schon Creusa durch Hesperien und den Tiber gibt, unmöglich geworden und hätte getilgt werden Aussen: das Wesentliche von Greusas Worten wäre dadurch nicht berührt worden.

6. Aeneas soll Troja nicht als vereinzelter Flüchtling, nur mit Vater und Sohn und einer Handvoll Diener verlassen. Creusa hatte ihm ein neues Reich prophezeit, und so muß er uns jetzt schon als Führer einer Schar gezeigt werden, die den Grundstock eines neuen Volkes zu bilden vermag. Das war bei Hellanikos durch den Gang der Ereignisse ohne weiteres gegeben (s. oben S. 30); mit der neuen Fassung Virgils ließ es sich schwer vereinigen. Der Gang des Aeneas in die Stadt, der zugleich mit der Schilderung des dort Gesehenen sehr wirksam die Iliupersis abschließt^), wird be- nutzt, die UnWahrscheinlichkeit zu verdecken; als Aeneas zurückkehrt, findet er, daß eine gewaltige Schar sich versammelt hat, bereit ihm zu folgen, wohin es auch sei damit übernimmt er also die RoUe

1) Leo, DeutBche Litt. Ztg. 1903, 695.

64 Erstes Kapitel. Ilions Fall.

des Kolonieführers ; er hat sich dies Zusammenströmen selbst nicht erklären können (invenio ddmirans), aber zu weitläufigen Auseinandersetzungen ist jetzt nicht der Ort. Der rasche Ab- schluß ist nicht nur künstlerisch gefordert^ er wird auch sachlich motiviert: über dem Ida ging der Morgenstern auf^ so ist keine Zeit zu verlieren. Noch einen Blick nach der Vaterstadt zurück: die Tore sind vom Feinde besetzt, Hilfe ist von keiner Seite zu erwarten^); sei denn der Weg in die Verbannung angetreten: cessi et sMato montis genitore petivL

Exkurs.

Virgil, Quintus und Tryphiodor.

In der vorstehenden Untersuchung habe ich Quintus und Tryphiodor neben Virgil als selbständige Vertreter der Überliefe- rung von Ilions Fall behandelt; das widerspricht der herrschenden Auffassung, wonach beide von Virgil abhängig wären*), und muß

1) nee spes opis lUla dabatur: Sabbadini meint (a. a. 0. 24), das habe ursprünglich bedeutet, es sei keine Möglichkeit gewesen, der Greusa zu helfen : 747 800 sei nämlich ein späterer Zusatz, durch den nun jene Worte den unpassenden Sinn erhalten hätten, daß Aeneas an Wiederaufiiahme des Kampfes gedacht habe, die doch bei der Lage der Dinge völlig ausgeschlossen sei. Ich sehe nicht ein, warum wir spes opis nicht ganz wörtlich verstehen sollen „Hoffnung auf Hilfe, Beistand*^* Aeneas und die Seinen haben getan, was sie konnten, weder von Menschen noch von Göttern ist Hilfe zu er- warten, es bleibt nichts übrig, als endgültig zu weichen. Daß in diesem entscheidenden Augenblick noch einmal der Gedanke auftaucht: „wenn doch noch irgend ein rettendes Wunder geschähe!*^ und gleichzeitig die Über- zeugung sich befestigt, daß kein Fünkchen von Hoffnung mehr scheint, ist durchaus natürlich. Sabbadinis übrige angebliche Widersprüche (daß 780 und 808 von portae^ 752 von einer porta die Rede ist, daß 748 eine curva vdllis erwähnt wird, vorher ein tumulus als Treffpunkt genannt war) sind noch weniger beweiskräftig.

2) Eingehend dargelegt von Eehmptzow, de Quinti Smjm. fontibus et mythopoeia^ Diss. Eil. 1891 und in der Besprechung dieser Arbeit von Noack Gott. Gel. Anz. 1892, 795 ff.; für Tryphiodor von Noack Hermes XXVII 457 ff.; Rh. M. XLVIH 420 ff. Seitdem der obige Exkurs geschrieben wurde, hat die oben erwähnte bisherige Auffassung bestritten Kroll, Studien über die Komposition der Aeneis in : Festschrift C. F. W. Müller zum 70. Greburts- tag gewidmet (= Fleckeisens Jahrb. Suppl. XXVII 2), 162 ff.; desgleichen Norden Neue Jahrb. VU (1901) 829, 1. Beide haben das Verhältnis m. E.

Quintas. 65

hier gerechtfertigt werden. Ich gebe von vornherein zu, daß sich a priori nichts gegen die Annahme sagen läßt, daß jene beiden Griechen das römische Epos gekannt hätten: wir wissen ja von ihnen nichts, als daß sie zu einer Zeit lebten, wo Kenntnis des Lateinischen bei gebildeten griechischen Schriftstellern nicht mehr unwahrscheinlich ist. Die Entscheidung muß die Vergleichung der parallelen Stellen geben, und diese sei denn im folgenden durchgeführt.

I.

Bei Quintus kommt, von belanglosen Einzelheiten abgesehen, aus der Diupersis die Erzählung vom hölzernen Roß, Sinon und Laokoon, sowie vom Auszug des Aeneas in Frage; dazu aus dem vierzehnten Buch die Schilderung des Seesturms und die ein- leitende Aiolosszene. Ich beginne mit der Diupersis.

1. Vom hölzernen Roß weiß Aeneas bei Virgil nur, daß es divina PaUadis a/rte (18) von Epeios (264) gebaut ist; nach Sinon geschah es auf Ealchas' Geheiß (176 fg.), der die Zeichen der Minerva ausgedeutet habe. Bei Quintus finden wir in größter Ausführlichkeit die von der Odyssee {%• 492 flF.) vorbereitete, auch von Virgil gekannte Fassung: das Roß 'EneLog k%oiri6sv 6vvj4d'r}vri <XII 104—156), Erfinder der List ist Odysseus (25ff. 74flf.), was zwar bei Homer nicht ausdrücklich gesagt ist (nur ov not ig ÄxQÖxokiv SöXov V^yttys dlog ^OSvöösvg ävSQSiv ifiJtXrlöag)^ aber auch in der mythographischen Tradition so aufgefaßt wird: Apollod. epit. Vat. 5, 14 vöxsqov Sh kntvoel SovqbCov Xnjiov xataöxevijv ^(d vxotCd'staL 'Ezeip. Daneben hat' aber Quintus auch Ealchas eine wenigstens äußerlich bedeutende Rolle zugewiesen: er ver- sammelt die Fürsten zur entscheidenden Versammlung, rät auf €rrund eines Vogelzeichens von der Belagerung abzulassen und eine List auszusinnen, verkündet schließlich, daß günstige Zeichen den Anschlag des Odysseus gutheißen; als Neoptolemos und Philoktetes der List widerstreben und weiter kämpfen wollen, «chreckt sie der Donnerkeil des Zeus und bestätigt so des Ealchas Worte. Daß Kalchas diese Rolle der Lüge Sinons bei Virgil ver- dankt, nötigt nichts anzunehmen, denn Quintus liebt ihn auch

richtig aufgefaßt, aber, ihren Zwecken entsprechend, die entscheidenden Argnmente nur summarisch angeführt; bei der Wichtigkeit der Frage glaube ich, meine eingehendere Erörterung doch noch geben zu müssen.

H«l]ise, Vlrgils «piache Technik. 8. Aufl. 6

66 Exkurs. Virgil, Qmntns und Tryphiodor.

sonst einzuführen: der Tradition gemäß (ApoUod. epit Vat. 5, 8) verkündet er die Unentbehrlichkeit des Philoktet (IX 325) und hat früher die Eroberung Ilions im 10. Jahre geweissagt (VI 61); er ist es auch, der Neoptolemos zu holen rat (VI 64), wobei die traditionelle Rolle des Helenes wegfällt, und der, sicher nach freier Erfindung des Quintus, Aeneas' unbehelligten Abzug erwirkt (XTTT 333) und die verwandelte Hekabe über den Hellespont be- fördern läßt (XIV 352).

2. In der Sinonszene ist der gemeinsame Tatbestand unserer beiden Epen folgender: 'Als die Griechen, Sinon zurücklassend, abgefahren sind, freuen sich die Troer und eilen an den Strand.^) Sie staunen das gewaltige Roß an. Sinon, den die Troer nicht kennen, erzählt auf ihre Frage, er habe für die glückliche Rück- fahrt des Heeres auf Anstiften des Odysseus geopfert werden sollen,, sich dem aber entzogen. Das Pferd hätten die Griechen auf Ge- heiß des Kalchas der Athene geweiht, um ihren Zorn zu be- schwichtigen.' In allem übrigen ist die Ausführung so ver- schieden wie nur möglich. Bei Virgil ist Sinon angeblich ge- flohen und hat sich im Schilf verborgen, bei Quintus (viel weniger glücklich) sich unter den Schutz des heiligen Weihgeschenkea begeben; bei Virgil lassen sich die arglosen Troer leicht dorck die Lügen töuschen, bei Quintus foltern sie den Griechen, wie einen Sklaven, um die Wahrheit aus ihm herauszupressen; bei Virgil liegt alles Gewicht auf der meineidigen Listigkeit des Sinon^ bei Quintus auf seiner Festigkeit, die ihn trotz aller Qualen auf seiner Aussage beharren läßt.^) Dazu kommt bei Virgil die ganze von Sinon erfundene Vorgeschichte, die Beteiligung des Priamos,. die Angabe, daß an dem Roß und seinem Standorte das Schick- sal Trojas hänge, daß die Griechen bald zurückkehren würden;, nichts von alledem bei Quintus. Hat er trotzdem Virgils Ei^ Zählung vor Augen gehabt und sie also absichtlich derart um- gestaltet und vor allem gekürzt? Man könnte immerhin für

1) Im einzelnen steht hier Virgil der Fassung ApoUodors niihei al» Quintus: igripLOv 6h Tgobsg tb tmv ^ElXrjvosv d'saöditrBvoi tfrparevfur xal vopU- öavt€g yts(p6vyivat nos abiisse rati et vento pttiisse Mycenas . . . iuvat ire et Dorica castra desertosque videre locos lüusque relictum.

2) Quintus erzählt ungeschickt, aber er meint es so (vgl. 39 fg. , 420)^ nicht, daß Sinon erst durch die Qualen zur Aussage gebracht worden sei.^ Vgl. Koechly proll. p. XXXI.

Quintus: Sinon. 67

möglich halten^ daß ihm Yirgil zu parteiisch alles Licht auf die Troer, allen Schatten auf die Griechen fallen Ueß, und daß er dem abzuhelfen fOr gut befand; indem er den schlauen Betrüger Sinon zum Helden, die arglosen, frommen Troer zu grausamen, argwöhnischen umbildete (obwohl solche Tendenz z. B. gleich in der Laokoongeschichte imd überhaupt in der Persis nirgends bei ihm herrortritt); aber dabei bliebe unerklärlich angesichts der breit ausgeführten Erzählung des Vorbildes seine knappe Kürze: hätte er nicht, seiner sonstigen Gepflogenheit entsprechend, das viele Material, das ihm hier vorlag, ausgiebig benutzt? hätte er vor allem das so wichtige Motiv von der Bedeutung des Bosses für Trojas Geschick sich entgehen lassen und damit geflissentlich auf die Erklärung dafür verzichtet, warum eigentlich die Troer das Roß in die Stadt ziehen? Denn nach einer solchen Er- klärung sucht man bei ihm vergebens. Ich glaube, diese Lücke zeigt besonders deutlich, daß Quintus nicht mehr wußte, als er bringt, daß somit die ihm und Yirgil gemeinsamen Züge in letzter Instanz aus einer gemeinsamen Quelle herzuleiten sind: sie gehen nicht über das hinaus, was in einer kompendiösen Prosaerzählung stehen konnte.^)

Mit dem letzten Teil der Geschichte des Rosses steht's nicht anders: daß ein Seil darum geschlungen wird, daß beim Einzug gesungen oder Flöte gespielt wird, daß ein Teil der Mauer zer- stört wird, das sind wirklich nicht Dinge, die Quintus aus Yirgil zu nehmen brauchte. Dagegen berichtet Quintus, daß vorher Epeios dem Rosse unter die Füße 'gutrollende Hölzer' legte (425), was Yirgil, überlegter als Tryphiodor (100), seiner Fassung von Sinons Erzählung zufolge mit richtigem urteil vermied: wozu die Räder, wenn die Erbauer wünschen, daß das Roß

1) Ein wörtlicher Anklang ist folgender: Sinon ist bei Virgil zurück- geblieben in utrumque paratus^ seu versare dolos seu certae occumbere morti; bei Quintus sagt er tb yccg v{> \loi s^ads <9tifia», ?) d'avieiv ^r\toiciv im* &vdQd6iv^ ^ ^aXviai 'AffyBioiq fiiya xi;^off iBldoftivoiat (pigovra (XII 260). Der Gedanke ist doch aber nicht so femliegend, daß er nicht zweimal unabhängig ge- dacht sein könnte; Tryphiodor legt ihn dem Odysseus in den Mund: &XXa XQfJ t^üovtag äolSiiLOv igyov &vvööai ^ d'avdtm ßgotOBvtt xaxoxXe^g alaxog &16iai (126), vgl. femer z. B. Eurip. Orest. 1149 ff. Ebensowenig beweisend ist undique vistmdi studio Troiana iuventus circumfusa mit certantque in- ludere capto verglichen mit xat ^liv &vblq6ii^voi Java&v ^nsg &lXo&sv &XXog ndifaow ixvxXmaavto nsgicrct^öv (861).

68 Exknis. Yirgil, Quintus and Tryphiodor.

an seiner Stelle bleibe? So holen das bei ihm (235) erst die Troer nach.

3. Und nnn Laokoon. Qnintus erzählt von ihm folgendes: als Sinon seine Lügen vorgetragen hatte, glaubten ihm die einen, anderen gefiel der Rat des Laokoon, der die List durchschaute und das Roß in Brand stecken hieß, daß man sehe, ob es in sich etwas verberge, und man wäre ihm gefolgt und dem Verderben entronnen, wenn nicht Athene im Zorne unter Laokoon die Erde erschüttert hätte: und furchtbarer Schmerz und Krankheit befiel seine Augen; als er trotzdem bei seiner Aufforderung verharrte, erblindete er. Das gab den Ausschlag, die Troer zogen das RoS in die Stadt. Laokoon blieb immer noch bei seiner Warnung, aber die Troer hörten nicht auf ihn, aus Furcht vor der Oötter Geheiß. Da sann Athene den Söhnen des Laokoon Unheil: sie ließ von Kalydna zwei Drachen über das Meer kommen; die fraßen die beiden Knaben imd verschwanden dann unter der Erde; noch zeigt man die Stelle im Heiligtum des ApoUon. Die Troer errichteten den Getöteten ein Kenotaph, an dem die unglücklichen Eltern trauerten.

Wie verhält sich das zur Überlieferung? Nach Roberts und Bethes eingehenden Analysen der Tradition brauche ich den Tat- bestand nicht ausführlich darzustellen. Es scheint mir klar, daß Quintus zwei Versionen der Sage kontaminiert. Nach der einen sandte Apollo die Schlangen; sie kamen von den kalydnischen Inseln und töteten die beiden Söhne des Laokoon im Tempel des thymbräischen Apollon. Das gilt entweder als Strafe für ein früheres Vergehen des Apollopriesters oder als Vorzeichen von Trojas drohendem Untergang. Nach der andern Version, die für uns sonst nur Virgil vertritt, hat Laokoon vor dem hölzernen Rosse gewarnt; da kommen von Tenedos her zwei Schlangen und töten am Meeresstrand Laokoon samt seinen Söhnen; darauf ziehen die Troer, die darin eine göttliche Strafe erblicken, das Roß in die Stadt. Quintus hat nun aus der ersten Version die Insel Kalydna, als Ort das Innere der Stadt und den Tempel des thymbräischen Apoll (in dem freilich nur die Schlangen ver- schwinden), die Beschränkung auf die beiden Söhne und den Zeitpunkt des Ereignisses, nach der Einbringung des Rosses. Dagegen stimmt er mit Virgil darin überein, daß Laokoon schon gleich am Meeresstrand vor der Einbringung warnt, und daß die

QnintuB: Laokoon. 69

Schlangen von Athene zur Strafe für seine Warnung gesandt werden, um beides za yereinigen, sieht er sich genötigt, erstens die Warnung des Laokoon zu yerdoppeln, zweitens, damit seine Strafe die Entscheidung über das Roß herbeiführe, eine zweite Strafe zu erfinden, die gleich außerhalb der Stadt eintritt: die Erblindung, die ihn für sein unzeitiges Vorhersagen trifft, wie z. B. den Seher Phineus. Diese Kontamination straft sich wie gewöhnlich: der Tod der Söhne hat nun gar keine Folge mehr, er erscheint als nutzlose Grausamkeit der Athene, und was die Schlangen im Heiligtum des ApoUon zu suchen haben, sieht mau Yollends nicht ein.

Ako Quintus hat die yirgilische Fassung der Sage gekannt: kannte er sie aus Virgil? Übereinstimmung in Einzelheiten von Belang findet sich nicht: daß bei beiden das Meer rauscht, die Schlangen züngeln, die Troer fliehen, wird man für solche nicht ausgeben. Dagegen sind charakteristische Abweichungen reich- lich vorhanden, die gegen Quintus' Abhängigkeit von Virgil sprechen. Bei Virgil stößt Laokoon seine Lanze in die Seite des Rosses: bei Quintus begnügt er sich mit bloßen Worten, ob- wohl der Nachahmer, sollte man meinen, doch hätte sehen müssen, wie viel größer so der vermeintliche Frevel des Laokoon wird. Bei Virgil richten die Schlangen ihren Lauf mit grausiger Ent- schiedenheit auf Laokoon, so daß ihr göttlicher Auftrag jedem klar wird: bei Quintus fliehen alle, nur Laokoon und seine Söhne bleiben zurück XBdi]6s yäg ovXofidvrj Ki^Q xal d^eög sagt der Dichter, d. h. er sucht nach einer Motivierung und hatte doch die viel bessere zur Hand. Vor allem aber: bei Virgil warnt Laokoon vor Sinons Auftreten, und sein Tod dient nachher zur Bekräftigung von Sinons Trug, dem aber die Troer bereits er- legen* sind die Entstehung dieser nicht unbedenklichen Kom- position versuchte ich oben aus Virgils eigentümlichen Tendenzen zu erklären; bei Quintus folgt die Strafe der Warnung auf dem Fuße und gibt den Ausschlag, da nach Sinons Bericht die Troer noch zweifeln und Laokoon, der hier erst eingreift, mit seinem Rat sonst die Oberhand gewonnen hätte: es liegt, meine ich, auf der Hand, daß Quintus das Ursprüngliche bewahrt hat.

Und haben wir nun wirklich keine Spur der „virgilischen" Fassung außer bei Virgil und Quintus, der Fassung also, bei der das Wesentliche die Verbindung des Schlangenwunders mit der

70 Exkurs. Virgil, Quintos und Tryphiodor.

Wamnng des Laokoon ist? In der Tat maßte Robert noc glauben, daß einzig bei Yirgil Laokoon mit dem Rosse irgen etwas zn ton habe, und das war wirklich so merkwürdig, da sein Schluß begreiflich ist. Aber seitdem haben wir aus d< apollodorischen Epitome gelernt, daß . auch sonst Laokoon yc dem Rosse warnte (5, 17). Zu welchem Behufe mag diese Di blette der alten Tradition, wonach Eassandra die Wamerin wa erfunden sein? Bei Apollodor ist, wie gesagt, die Warnung richtet: trotzdem zieht man das Pferd in die Stadt. * Apollo aber sendet ihnen ein Zeichen: zwei Schlangen . . fressen di Söhne des Laokoon/ Läßt sich beides yereinigen? Bethe ha es yersucht: ^Bei dem Opfer (tou dem Apollodor nichts sagl gibt Apollo noch selbst die letzte Warnung, nachdem die Stimme seiner Seher ungehört yerhallt sind, durch ein Zeichen/^) Ic halte das für unmöglich. Wie? Der Seher, der in Apollon Auftrag gewarnt hat, muß nun selbst als schreckliche Wamun, dienen, indem er seine Söhne durch gräßlichsten Tod verlierfc Man darf fragen, welcher antike Zuschauer mußte das nich vielmehr eben als Mißbilligung der Warnung auffassen? Un nach meiner Überzeugung konnte in der Tat, wenn der Tod de Laokoontiden nach der Warnung berichtet wurde, das post hc auch nur ein prqpter hoc sein. Warum das bei Apollodor nieb steht?*) Eine sichere Entscheidung ist bei dem Charakter ui seres Exzerpts nicht möglich; aber man beachte, wie Laokoo: zuerst eingeführt wird: KaöävÖQas *^ leyovörjg svojtXov iv ovtj diva^LLv slvai^ xal XQoöiti Aaoxöojvrog rot; iidvte(og^ rolg f^ idöxet xaxaxaCsLv u. s. f. Ich meine, das sieht recht dürftig eii geflickt aus; und so hat wohl Apollodor, der den Tod als örjfislo nach seiner einen Quelle erzahlte, aus einer andern, in der er al Strafe für die Warnung berichtet war, nur eben die Warnunj aufgenommen resp. die Doppelyersion seiner mythographischei Quelle schlecht und recht yereinheitlicht: das sieht seiner Ai zu arbeiten ganz ähnlich.') Verhält es sich so, dann können wi

1) Rh. M. XLVI 617.

2) Anch d^Q Yirgrilerklärer haben nichts davon gewußt, sie stellen de hütoria die virgilische Fassung gegenüber. Wer die mythologische G^lehi samkeit dieser Scholiasten kennt, wird hier keinen Schluß aus der Unkennt nie ziehen wollen.

8) Anderer Versuch zur Lösung, der mich n^'cht befriedigt, bei Wagnei ApoUod. Epit. Tat. 288.

Qnintus: Auszug des Aeneas. 71

uns anch des Quintns mythographische Vorlage rekonstruieren: ^Laokoons Söhne wurden getötet, wie die einen sagen, weil er sich wider Apollo vergangen hatte, nach anderen, als Vorzeichen Ton Trojas Untergang; noch andere sagen, er habe die Aufnahme des hölzernen Rosses widerraten und sei dafür samt seinen Söhnen auf Athenas Geheiß von Drachen getötet worden, und hierdurch erschreckt hätten die Troer dem Sinon geglaubt und das Roß in die Stadt gezogen.'

4. Den Auszug des Aeneas erzählt Quintus y. 300 ff. wie folgt: Aeneas hatte tapfer gekämpft und yiele getötet; als er nun die Stadt in Flammen, Menschen und Habe verderben, Weiber und Kinder fortführen sah, da verzweifelte er am Schicksal der Vater- stadt und dachte auf Rettung, wie der Steuermann, wenn das Schiff verloren ist, den kleinen Nachen besteigt. Den alters- schwachen Vater tragend, den kleinen Sohn an der Hand fahrend, stieg er über die Leichen: Kypris geleitete ihn, Gatten, Sohn und Enkel vor Leid schützend (328):

tov ä* iööoiiivov {}nb 7to66l xavtri nvQ xmöeixs' nsQi6%Ci,ovxo d' ävt^uci 'H(pai0rov [ucUgoio^ xal iy%sa xal ßiXs* ivdg&v nlnxov ir&öuc navta ocarä ^'ö'oi/ög, 6ütx66^ ^AjaioC xiCvp ixdQQiilfav xokific) ivi daxQvoevxi.

Da hielt Kalchas die Seinen zurück und hieß sie vom Angriff abstehen (338), denn nach Götterbeschluß werde dieser Mann am Tiber

XBvi,i^Bv Ugbv ciöxv xal i66o{Livoi6iv &yrjft6v av^Q(D7toig^ airbv dl nokvfSnBgisööL ßgoxoiöi xoLQavhiv ix xov di yivog {LBx6%i6^ev äva^eiv &%Qig in* avxoUriv xe xal axa^axov dv6iv iiovg' xal iiäv ol d-^iiig iöxl fiexs^iisvat ä^avdxoiöiv^ ovVfxa öi] Ttätg iöxlv ivnXoxdfiov 'Aq)QodLxrig,

Außerdem solle man ihn verschonen, weil er statt Geld und Gut vielmehr Vater und Sohn mit sich zu retten suche, und er so als trefflicher Sohn und Vater sich zeige. Da gehorchten die Griechen und staunten ihn wie einen Gott an; er aber ging, wo- hin ihn die eilenden Füße trugen.

Man sieht, Quintus hat mit mäßigem Geschick zwei Fassungen der Sage vereinigt: nach der einen rettete Aphrodite die Ihren

72 Exkurs. Virgil, Quintus und Tryphiodor.

ans der brennenden Stadt, nach der andern gewährten die Gfriechen ans Bewundemng ftir die Pietät des Aeneas ihm und den Seinen freien Abzug. Die erste hat auch Virgil benutzt, aber seinen Zv^ecken gemäß umgestaltet: Venus geleitet den Sohn nicht aus der Stadt hinaus, sondern nur Ton der Burg nach Hause.^) Also auch hier hat Quintus das Ursprüngliche, nicht die virgilische Umformung. Demgegenüber kann es nicht entscheidend sein, wenn den oben zitierten Versen 328 flf. bei Virgil in allerdings frappanter Weise folgende entsprechen (632):

ducente deo flammam inter et hostis expedioTf dant tda locum flamtnaeque recedunt

Diese Ausmalung des gegebenen Gedankens ^durch die brennende Stadt und die feindlichen Scharen hindurch gerettet' lag nahe genug; für das zweite hat Quintus an % 255 sich erinnert:

ol d' &Qa ndvxeg äxövtiöav C3g ixiXavev Uyievoi' d^ navxa ix&öLa dijxBv ^d-rjvri,^)

Aber auch die Weissagung des Ealchas hat man aus der Aeneis ableiten zu müssen geglaubt. Zugrunde liegt ja zweifellos die berühmte Prophezeiung des Poseidon T 307:

vvv dh dij Aivslao ßcrj Tq6s66iv ävd^ei

xal TiaCSmv Jtaldag^ xoC xsv ^exojtiöd'S yivtovxai.

Das ist Yon Quintus zeitgemäß amplifiziert: er kannte die romische Gründungssage und wußte von der Apotheose des Aeneas weitere Anhaltspunkte braucht er nicht gehabt zu haben, ja man kann mit Bestimmtheit sagen, daß er die Aeneis nicht Tor Augen hatte: er läßt ja den Aeneas Rom gründen (denn wer wird bei Uqov &6XV xal iööv^tvotöiv äyrjxbv ai/'9'(>(D:rot^ an anderes denken?); was wir vielleicht als eine der Weissagung stilgemäße Approii- mativaussage fassen würden, wüßten wir nicht, daß diese Tra- dition wirklich bestanden, und zwar bis in die späte Zeit neben der offiziell römischen fortbestanden hat.*) Ferner weiß Quintus nichts davon, daß Anchises durch Zeus' Blitz gelähmt ist; er muß getragen werden jtoAvtAi^ci vtco yrlgac ^ox^^Xcdv. Daß endlich

jL 1) S. oben S. 54.

f 2) Vgl. auch Y 844 ^ iiiya d^ccviux tod' dgid-aXiiolöiv OQ&iuct. . . ^yx<*^

' ft-iv tods nBlrccL inl x^^^og, o'böi xi (ptoxa XbvC6(o t& itp^rixa. 8) Vgl. Wömer, Roschers Lex. 1182.

QaintiiB: Auszug des Aeneas. 73

QuintoB (ebeiifloweiiig wie andere Berichte, oben S. Ö8, 2) weder die Betinng der iroischen Hefligtümer noch die Gattin des Aeneas erwähnt^ wüßte ich mir wla eine absichtliche Abweichong Ton Viigil nicht zn erklaren.

5. Die Vergleiche dieser Einzelepisoden erfordern zor Er- ginnmg den Yer^i^ich der gesamten beiden Darstellongen« Hat Qnintos wirklich ViigU gelesen, so ist dessen Komposition spur- los an Sun rorüber gegangen. Er macht keinen Versuch, wie Yirgi], irgend welche Einheitlichkeit in die Schilderung der Persis zu bringen. Nur ein Versuch zu einer Art Ton Gruppierung findet sidi auch bei ihm: allgemeine Schilderungen der Kampfe und der Zerstörung (78 167 und 430 195) rahmen die Eiuzel- episoden ein: der eigentliche Kampf ist in diesen durch die Taten des Diomedes (16»— 210) und Neoptolemos (213—250) Tertreten, zwischen den^i in nur zwei Versen die Qbrigen Helden der Griechen abgefunden weiden; dann folgen ohne Verbindung aneinander gereiht die fünf bekanntesten Szenen der Persis (251 bis 429). Die Terfaaltnismaßig breit ausgeführten allgemeinen Schilderm^en, die in den Qbrigen eingelegten schwächlichen Iteden zeigen auch hier wieder die Verlegenheit des Dichters um Mate- rial: und dodi ging er an der. wie es scheint, von Virgil er- fundenen Androgeosszene (270 101 , an dem Kampf um die Burg achtlos Torüber, lieB die Verbindui^ Ton Koroibos' Fall mit Kassandras Banb, die Vereinigung Ton Polites' und Priamos' Tod zu einnn effektrcdloi Ganzen achtlos bei Seite? Merkwürdige Enthaltsamkeit eines Kompilators, der sein Gut sonst nimmt, wo er ea findet!

6. Bo Virgil il 50 ft) begibt sich Juno, als sie die troLeche Flotte dncli ein Wetter Temichten wiD, nach Aeolia, dem Heim der Winde. Diese hat Juppiter, da sie sonst in ihrem Ucgestöm Meer und lAider sich reißen würden, in dunkle Höhlen ein- gesdüoescB, einen gewaltigen Berg über sie getürmt und ihnen Aeolus zum Kmiig gegeben, der dort auf hoher Burg thront und die Wütenden beherr^dit. Auf Junos Bitte «tofit er mit der Lanze in den Bo^ und so^idi brausen sämtliche Winde herror und stürzen sich auf Meer und Land.

Bei Qaintns <XIV 466 £L secdec Athene. aIs sie die Aigeacr dnitii ein ▼erderUicfaes Unwetter strafen wilL Irif zu Aiolos Aidia« wo die Höhlen der teanaenden Winde sind, tob

74 Exkurs. Virgil, Quintns und Tryphiodor.

Felsen rings umschlossen, und dicht dahei das Haus des Aiolos. Darin trifft; sie ihn mit der Qattin und ihren zwölf Kindern*, auf ihre Bitte geht er hinaus, zerreißt den hohen Berg durch einen Schlag seines Dreizacks; die Winde stürzen heraus und kaum daß sie seinen Auftrag vernommen haben, jagen sie über das Meer zu den kapherischen Klippen.

Ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Darstellungen ist unleugbar; also hat entweder Quintus Virgil benutzt, oder beide gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück: diese zweite Möglich- keit läßt sich, glaube ich, zur Gewißheit erheben.

Die Erfindung, die bei Quintus vorliegt, ist sichtlich aus homerischen Vorstellungen entwickelt und steht ihnen noch in vielem nahe. Nach der Erzählung des Odysseus (x Iff.) wohnt auf der Insel Aiolia, die rings von erzener Mauer umgeben auf- ragt wie ein glatter Fels, Aiolos, ein Freund der unsterblichen Götter, mit seiner Gattin und ihren zwölf Kindern; Zeus hat ihn zum Verwalter der Winde gemacht, zu erregen imd zu beruhigen welchen er wolle. Das ist genau das Bild, das Quintus vor- schwebt — nur ein Neues kommt bei ihm hinzu. Das Märchen der Odyssee kümmert sich nicht darum, wie Aiolos die Winde hüte; möglich, daß die erzene Mauer sie festhält, möglich auch, daß der Schlauch, den dann Odysseus mitbekommt, ihr gewohnter Aufbewahrungsort ist. Diesen Schlauch hat bereits die Ästhetik des Altertums gar zu wenig erhaben gefunden^), vermutlich auch zu wenig anschaulich. Aber man wußte ja sonst davon, daß die Winde in Höhlen hausen^): so lag es gewiß nahe, diese Höhlen nach Aiolia zu versetzen und sie, da sie doch verschlossen sein müssen, in eines Berges Schlund zu verlegen; um die Winde alle- samt herauszulassen, muß Aiolos den Berg zerreißen und bekommt dazu, wie der Erderschütterer Poseidon, einen Dreizack.') Damit war die Situation gegeben; die Handlung, Entsendung der Iris zu den Winden, stammt aus dem ^P* der Ilias (198).

1) IIsqI vtpovg IX 14.

2) TriXBnoQOts 6' iv ärrgotg rgdtpri dviklaiaiv iv nocrgtoaig Bogiag Soph. Antig. 983; hnxditvxov Bogiao nagoc aniog Eallim. Del. 66.

8) Diesen Dreizack und seine Bestimmung kennt auch Lucan : si rurtw telltis pulsu laxata tridentis Aeolii tumidis inmiUat fluctibus eurutn 11 456; es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn er ihn aus eigner Initiative an Stelle der yirgilischen Lanze gesetzt hätte.

Qnintus: Aeolus. 75

Bei Virgil sind die VorsteUungen Ton den Winden sowohl wie Yon Aeolus in eigentümlicher Weise weiter entwickelt. Es kommt ihm aus künstlerischen Rücksichten, die später behandelt werden soUen, darauf an, die Aufmerksamkeit des Hörers Ton Yomherein für die Winde zu erregen, deshalb verweilt er ein- leitend länger bei ihrer Schilderung; er will femer, da nachher das Unwetter übernatürlich gewaltig erscheinen soll, Ton vorn- herein den Hörer darauf vorbereiten, was eine zügellose Ent- fesselung der Winde bedeutet; er will endlich, da er für die Szene mit Neptun die Winde als Personen braucht, von vorn- herein die Vorstellung persönlicher Mächte erwecken. Er schil- dert sie als Gefangene, die in Kerker und Banden gehalten werden müssen, um nicht das Weltall zu zerstören; die in wütender Em- pörong gegen ihr Gefängnis toben; die, sobald eine Spalte sich öfiGoiet, heraustoben, ohne eines Auftrages zu bedürfen, und sidi mit furchtbarem Ungestüm auf Land und Meer stürzen. Entsprechend dieser Steigerung ins Großartige und dieser Umformung ins Per- sönliche bt die Rolle des Aeolus gestaltet: er ist nicht mehr ein- fach der *Freund der Unsterblichen', der Verwalter der Winde, sondern Herrscher und Kerkermeister, von Juppiter, der als Vor- sehung die Naturkräfte in Schranken halten muß, zu diesem ver- antwortungsvollen Amte bestellt; als König bewohnt er nicht ein- fach ein 'Haus' wie bei Homer und Quintus, sondern sitzt auf hoher Burg und führt das Zepter als Zeichen seiner Würde; von dem gemütlichen Familienleben ist nicht mehr die Rede, vielmehr ist er als Hagestolz gedacht, wie Junos Anerbieten einer schönen Gattin liberum procreandorum causa zeigt; seine Waffe ist nicht der märchenhaft göttliche Dreizack, sondern die heroische Lanze.

Hätte Quintus aus dieser Schilderung die seine abgezogen, so hätte er mit feinstem poetischen Takte eine Rückbildimg zum Homerisch-Naiven geleistet, ohne sich auch nur in einem Zuge von der Tendenz seines Vorbildes zur Steigerung ins Heroische, Gran- dios-Erhabene verführen zu lassen. Wer ihn kennt, wird ihm schwerlich eine solche Leistung zutrauen; wer Virgil kennt, wird empfinden, wie ganz auf dem Wege seiner Kunst der Umbildungs- prozeß liegt, den wir so festzustellen vermögen.^)

1) Bezeichnende Übereinstimmungen in Einzelheiten finden sich bei Virgil und Quintus nicht. Bei der Schilderung des Windberges legt Quintus

76 Ezknrs. Yirgil, Qnintos und Tzyphiodor.

Der Vergleich der Schilderungen des Seesturms, die bei QuintuB und Yirgil auf die Aeolusszene folgen ^ bestätigt dies Resultat und fährt uns der gemeinsamen Quelle einen Schritt näher. Das Verhältnis der beiden zu Homer ist hier yertauscht Virgil will keine Beschreibung, sondern eine Erzählung geben, beschränkt also die allgemeine Schilderung des Unwetters und der Not der Schiffe wie er auch vorher (34 f.) nur zwei Verse an die Schilderung der glücklichen Fahrt gewendet hatte und erzählt, wie das Verderben fortschreitet und sich steigert; in den Einzelheiten lehnt er sich so viel wie irgend möglich an das Vorbild aller solcher Erzählungen an, Homer, aus dessen ein- schlägigen Schilderungen er die seine kombiniert^); Tor allem ist der Sturm in b nachgeahmt, bei dem die Situation ja die größte Verwandtschaft mit der hiesigen hat; auch Apollonios hat einzelne Züge 'geliefert. Es sind, abgesehen von den durch die Ortlichkeit und die Personen gegebenen Einzelheiten, nur zwei Verse, denen in jenen Epen nichts entspricht, 106 f:

hi summo in fludu pendent, his unda dehiscens terram inter fludus aperit\ furit aestus harenis.

Gerade diese Verse aber finden auffällig nahe Entsprechung in der Sturmschilderung des Quintus, 492 ff.:

viag äXkoxB ^iv Ttov vtl^rjkbv (p£Q6 xvfia di 7)tQog^ akkoxe d' avxB olxa xecxä XQr^^volo xvkivdofisvag q)0QBB6XB ßvööbv ig '^BQÖBvxw ßCrj ds xig &6%Bxog aiBi tl^d^iwv dva^BLBöxB öioiyoiLBvoio xkvöovog,

das Gewicht auf die akustische Vorstellung: ivd-' &vs\loi %sXadBiva dvo'qx^^S ijvitfcovTO iv xevsS} xfv^ftc&vt* TtsgUxxs d' alhv l(or\ Pqv%o^Uv7\ &X9ynvdy Virgil auf das Ethos der personifizierten Winde: vasto rex Äeolus antro lu^antis ventos tempestatesque sonoras imperio premit ac vinclis et carcere frenat; tüi indignantes magno cum murmure montis circum claustra fremunt Eine An- regung zu seiner Gestaltung des Aeolus konnte Yirgil aus einem Worte des Apollonios schöpfen : bei diesem sendet Hera die Iris an Aiolos oav* iviiun^ ald'QTiyevhößtv ävdcasi (IV 762) und heißt ihn die Winde außer Zephyr zurückhalten {aviiuov &i%ag igi^^siv 818, vgl. e 383).

1) 85f. -^ f 296 f.; 87 ~ x 122; 88 f. ~ f 293 f.; 90 r^ f* 415; 91 <x. 6 305, O 628; Apollon. II 580; 92—101 ~ £ 297, 306—310; 102 ~ f 318; 108 ~ O 627; 105 <^ Apollon. 11 583; über 106 f. s. oben; 118 ff . ^^ ft 411 ff.; 118 f. ~ fi 67 f.

Quintus: SecBturm. 77

Virgil zeichnet sich darch energische Kürze aus; der Inhalt beider Stellen deckt sich Tollkommen, und wenn die Einzelheiten für sich auch Dicht gerade absonderlich sind^), spricht doch die gleiche Verbindung für einen Zusammenhang. Quintus geht im übrigen ganz andere Wege als Virgil; wie er die Abfahrt der Griechen und den ersten glücklichen Teil der Fahrt ausführlich beschrieben hat (370 418), so verweilt er auch lange bei der allgemeinen Schilderung des Unwetters und der Not der Schiffe (488 529), um dann ebenso ausführlich den Schiffbruch und Tod des Aias zu beschreiben (530 589) und schließlich noch einmal zu dem Unglück der übrigen zurückzukehren (590 610), das durch Nauplios* Rache vollendet wird (611 628). Hier flind wir meilenweit von altepischer Einfachheit entfernt; fast ge- flissentlich scheint jede Erinnerung an die allbekannten Verse der Odyssee vermieden, wir haben eine ioKpQaötg im besten Stile der hellenistisch-römischen Poesie vor uns. Es versteht sich ganz von selbst, daß Quintus hier nicht selbständig kurze mytho- graphische Notizen amplifiziert hat, sondern einer reichausgeführten älteren poetischen Schilderung sich anschließt: das wird bestätigt durch den Vergleich von Senecas Schilderung desselben See- sturms im Agamemnon, die trotz großer Verschiedenheiten Seneca pflegt ja nicht einfach zu übersetzen doch so viele charakteristische Einzelheiten mit Quintus gemein hat, daß man eine letzte gemeinsame Quelle noch durchschimmern sieht.*) Es spricht nicht das geringste dafür, daß Quintus jene einzigen oben zitierten Verse aus Virgil entlehnt hat. Wir haben vielmehr den Schluß zu ziehen, daß ein und dieselbe Schilderung der unglück-

1) furit aestua harenis findet sich z. B. bei Sophokles Antig. 686 novtiov oldiuc . . xvllvdsi Pvaö6d'£v xsXatvccv ^tva^ dazu Yirg. georg. UI 240 ima exaestuat unda verticibus nigramque alte subvectat harenam.

2) Darauf hat bereits LiedlofP (de tempestatis . . descriptionibus quae apud poetas Romanos saec. I p. Chr. leguntnr, Diss. Lips. 1884, 17, 1) hingewiesen nnd Einzelheiten aus der Schilderung der rahigen Fahrt an- gefShrt; aus der i%(pQaaig des Seesturms vergleiche man undasque miscent imber et fluctus »uas 9'aXdööris xal /äibg väag fitcryöft^vov , ipsa se classis premit et prora prorcie nocuit et lateri latus al yccg qoc cvvaxccdbv &XXi]Xrj6iv alhv inBQQifiyvwtOy nil ratio et usus audet . . remus e/fugit manus oi d' kq' &ltrix<xpijj ßsßoXriiiivoi o^' in igstiiS) x* r^a ßaXslv idvvavto re^norsg, terra- que et igne victas et pelago iacet yotLiß d^ubg diLrfiivra xal &xQvyixa} M

78 Exkurs. Yirgil, Quintas und Tryphiodor.

liehen Rückfahrt yon Troja beiden Torlag und Quintus sie im wesentlichen übernahm ^ nur wohl noch amplifizierte; daß Yirgil daraus die Anregung zu seiner Aeolusszene schöpfte^ in der Storm- schilderung aber nur einen einzelnen Zug entlehnte, während er hier im übrigen Ton hellenistischer malender Fülle zu episch er- zählender Einfachheit zurückkehrte. Wer jener gemeinsame Autor war, Termag ich nicht zu sagen; es genügt, daran zu erinnern, daß mehr als ein berühmter Dichter sich gerade an diesem Stoffe versucht hatte. ^) Virgil aber hat, wie er das sonst durch Ver- gleiche zu tun liebt ^), auf seine Vorlage selbst hingewiesen, in- dem er V. 39 45 der Rede Junos eine über den nächst- liegenden Zweck hinaus eingehende Schilderung Ton Aias' Unter- gang einfügte.

n.

Über Tryphiodor kann ich mich erheblich kürzer fassen. Über einen wichtigen Punkt, die Teilnahme der Götter an der Zerstörung Trojas, ist bereits oben S. 52 ff. gesprochen und ge- zeigt, daß Virgil hier nicht die Quelle sein kann. Ein anderer Punkt ist Yon anderer Seite erledigt: das Motiy, daß Helena mit der Fackel die Griechen rufk, welches unter den uns bekannten Berichterstattern der Iliupersis nur Tryphiodor (512 521) mit Virgil gemein hat (VI 518), ist doch nicht, wie man danach glauben konnte, Virgils Erfindung, sondern stammt aus griechischer Dichtung'), vielleicht schon aus Stesichoros.*) Wenn man das weiß, wird man auch unschwer in Virgils Bericht eine Weiter- bildung der einfachen Darstellung Tryphiodors erkennen: um un-

1) S. Liedloff a. a. 0. 4; ganz zufällig hören wir (Athen. YIESSSa), daß die Schilderung dieses Sturms in des Timotheos Nauplios berühmt war. Ich füge hinzu Philetas, bei dem Odysseus dem Aiolos erzählte tos «fpi Tgolrig aXcaciv xal ov tgonov ainotg iaxbdda&riaav al vfjsg xo/ufofi^ro^ &9b x^g 'JXlov (Parthen. 2), und Kallimachos, bei dem die Geschichte im ersten Buche der AhM stand (schol. iV 66). Man denke auch an das Ausstattungs- stück Nauplios auf Herons Automatentheater.

2) Ehwald Philol. LEI 729.

3) Das lehrte der Hinweis Schneidewins auf Hippolytos Refutat. p. 252 Dunoker und Epiphanius adv. haer. XXI vol. U p. 9 Dind., an den Enaack zu rechter Zeit wieder erinnert hat: Rhein. Mus. XLYIII 632, s. jetzt auch Norden p. 264.

4) Immisch Rhein. Mus. LII 127.

Tryphiodor. 79

auffällig die ungeheure Fackel auf der Burghöhe erheben zu können, erregt Helena die Troerinnen zu bacchantischem Chor- tanzy dem sie als Führerin mit der Fackel, mänadengleich, Toran- schreitet. Man sieht, dahinter steckt die Frage: wie konnte Helena unbemerkt oder unauffällig in der Stadt das Fackelzeichen geben? Die ältere Fassung, wonach Sinon außerhalb der Stadt, Yom Grabhügel des Achilles aus, den Feuerbrand erhob, bedurfte besonderer Motivierung nicht.

Es bleibt nur noch die Sinonszene: und hier finden sich Ähnlichkeiten, die auf den ersten Blick befremden können. Qanz anders freilich als bei Yirgil führt sich Sinon ein: nackt und Ton Geißelhieben zerfleischt, wirft er sich Priamos zu Füßen; so haben ihn, gibt er vor, die eigenen Landsleute zugerichtet, weil er nicht wie sie fliehen wollte, sondern zum Bleiben aufforderte; dann ließen sie ihn im Feindesland allein zurück. Nun warnt er Pri- amos, den Zsvg ixiöiog zu kränken: wenn er durch Troer Hand falle, werde das den Argivem eine Freude sein.^) Priamos be- nihi£^ ihn:

ialve^ 6h fihv TqAsööl ftsiiLy^ivov ovx^V ioix€ rägßog i%BLV' atpvyeg yäg &vaQ6iov vßQiv l^xat&v. aUl S* "^iiirsQog q>Ckog sööaai^ ovdi 6s ndxQrjg ovdh Jtokvxredvov ^akayLov ykvxvg i^egog alQSl

dann fragt er ihn nach Name und Herkunft, sowie nach der Be- deutung des Rosses. Das erinnert freilich stark an Priamos bei Virgil:

quisquis es amissos hinc tarn öbliviscere Graios, noster eris; mihique haec edissere vera roganti

u. s. f. Aber führt bei Tryphiodor irgend etwas darauf hin, seine Fassung als sekundäre Umgestaltung der virgUischen anzusehen? Wie einfach und natürlich ist bei ihm die Entwickelung: Sinon widerriet die Abfahrt damit setzt er sich freiwiUig den Troern gegenüber ins Unrecht und erweckt ihren Glauben an seine weiteren Angaben ; da mißhandelten ihn die Landsleute und ließen ihn

1) xdgyba yccQ lAgysloiöi, yerijao^uci, homerisch x^Qy-tx = Schadenfreude; dann werden nämlich die Troer ihren Frevel büßen müssen. Das liegt weit ab von Yirgils iamdudum sumite poenas: hoc Ithacus velit et magno mercentur Ätridtie, weil nämlich deren böse Absicht dann durch Feindeshand ansgefOhrt wird.

80 Exkurs. Virgil, Qaiutus nnd Trjpbiodor.

mit grausamem Hohne, da er'B ja nicht anders wolle in Feindesland zurück; als Mißhandelter wendet er sich an die Feinde um Schutz das alte Motiv des yerräterischen Überlaufers, Zopyros u. s. f. und nimmt das Recht des Schutzflehenden in Anspruch: Priamos gewährt ihm dies Recht und nimmt ihn in die Gemeinschaft der Troer auf Bei Virgil ist diese Aufnahme Sinons, der ja Gefangener, nicht Schutzflehender ist, schwächer motiviert durch das Mitleid des Priamos mit Sinon, der eben darum unmittelbar vorher über den Verlust seiner alten Heimat klagen muß (137 S,): das Verdienst der Troer ist so freilich noch größer und das lag ja in Virgils Absicht , aber dem Ur- sprünglichen näher scheint gewiß die Fassung Tryphiodors zu liegen.

Sinon verrät über das Roß nun folgendes:

d ^hv yaQ ^cv iärs ^iveiv avrov ivl X^QV'i TqoCi]v ^i6q>ax6v iöxiv iXslv nokiv By%og ^A%aiGiv' sl de (iiv ccyvov ayaXfia läßn vrjolöiv ^A^r^vri^ (pev^ovtai. 7CQO(pvy6vxsg avrjvvöroig in Scid'Xoig,

Da haben wir also die virgilische Alternative, die wir bei Quintus vermißten: aber bei Virgil sind alle Motive weiter ent- wickelt, gesteigert; man empfindet, wie er sich bemüht, die Ein- bringung des Rosses den Troern dringender ans Herz zu l^en: das Roß ist der Ersatz für das geraubte Palladion und wird wie dieses die Stadt schützen; der jtöke^og nalcvogöog lixcctoov (282), der bei Tryphiodor nur gefürchtet wird, steht bei Virgil wirklich vor der Tür: sobald die Griechen in der Heimat die Götter ver- söhnt haben, werden sie zurückkehren; die Verheißung, daß die Griechen abermals zurückgeschlagen werden sollen, wird dahin gesteigert, daß die Nachkommen der Troer ihrerseits Griechenland mit Krieg heimsuchen werden; bei Tryphiodor endlich heißt es nur: 'wenn ihr das Roß hier stehen laßt', bei Virgil: 'wenn ihr es verletzen solltet': das ist durch Laokoon bereits geschehen, imd um so dringender soll es erscheinen, dies wieder gut zu machen und das Roß in die Stadt zu ziehen. Alles, meine ich, führt darauf, in Tryphiodors Fassung nicht eine vereinfachende Reduktion der virgilischen, sondern eine Wiedei'gabe der ursprüng- lichen zu sehen, in Virgils Fassung nicht originale Erfindung, sondern steigernde Ausgestaltung. Und recht überlegt ist es doch

Tryphiodor. 81

1 Yomherein sehr wenig wahrscheinlich, daß erst Yirgil jene ;ematiye erfunden haben sollte; wenn sie in unseren dürftigen ihographischen Exzerpten sich nicht findet und auch Quintus

in seiner mythographischen Vorlage nicht fand, so wird nie- nd den Schluß daraus ziehen wollen, daß sie Yor Yirgil nicht stierte: jene Erfahrung mit der Geschichte Ton Helenas Fackel- chen kann, wenn nötig, als Warnung vor solchen Schlüssen nen.

Im übrigen sucht man bei Tryphiodor Tergebens nach An- ngen an Yirgil, die nicht zum Gemeingut der Überlieferung lörten; nichts Ton dem, was an Einzelerfindung, Motivierung, lies und Komposition mit Wahrscheinlichkeit als yirgilisches ;entum in Anspruch genommen werden kann, hat bei Tryphiodor e Spur hinterlassen. Seine künstlerische Tendenz, der vir- LBchen diametral entgegengesetzt, ist nicht dramatisch-pathetischer ty und wenn er Yirgil kannte, hat er ihn sicher nicht geliebt; ih geht er auf nichts weniger aus als auf enzyklopädische llstandigkeit; für das, was seine Freude war und was er mte, den großen Sto£f mit anmutigen und interessanten Ant- iken, originellem Zierrat auszustatten, genügte ihm als Unter- e Yollauf, was wir als leichtzu^mgliches Grut der Überlieferung

Besitze der Gebildeten seiner Zeit voraussetzen dürfen.

Helnse, Tirgils epische Technik. 2. Aufl.

Zweites Kapitel.

Die Irrfahrten des Aeneas.

Daß an künstlerischem Wert das dritte Buch der Aeneis hinter dem zweiten erheblich zurücksteht, ist oft empfanden und ausgesprochen worden. Der Grund kann nicht nur sein^ daß dort ein großes Ereignis, hier eine lockere Folge Yon Abenteuern be- richtet wird; diese Eigenschaft teilt das Gedicht mit den Apologen der Odyssee, denen doch deshalb niemand minderen poetischen Wert zusprechen wird. Aber gerade dieser sehr nahe li^ende Vergleich ist für die virgilische Erzählung Terhängnisvoll. Ja man glaubt zu fühlen, daß der Dichter nirgends mit geringerer Freude und Selbstvertrauen sich in den Wettstreit mit Homer eingelassen hat; eben deshalb mag er die Arbeit an diesem Buche immer wieder hinausgeschoben haben: es ist, wie wir sehen werden, unter den chronologisch letzten der Aeneis. Wenn bei der Iliupersis die Fülle des yorhandenen poetischen Materials dem Dichter ein unschätzbarer Vorzug erschien, so sah er sich hier in der gerade entgegengesetzten Lage: er hatte, soviel wir wissen, keine einzige poetische Vorlage. An tatsächlichem StoflF fehlte es ja nicht; aber dieser Stoff war nicht gewachsene Sage, sondern künstliche Geschichtsklitterung; die Gewährsmänner nicht Poeten, sondern Antiquare; das Ganze von trostloser Einförmigkeit. Wir sind über die Gestalt der Überlieferung, die Virgil zu Gebote stand, leidlich gut unterrichtet, denn dieselbe liegt ganz offenbar auch der Darstellung des Dionysios (I 48 ff.) zugrunde; wir können also den Versuch wagen, uns den Gang der poetischen Umformung zu vergegenwärtigen, die Virgil mit diesem spröden Stoffe vorgenommen hat, um daraus ein Kunstwerk zu bilden.

1. Der Historiker, der die zahlreichen Traditionen über An- siedelungen, Kult- und Tempel gründnngen des Aeneas an den

Einheit der Erzählung. 83

Mittelmeerküsten zuerst in eine zusammenhängende Erzählung brachte, mußte um eine Motivierung der häufigen Fahrtunter- brechungen, der wiederholten StadtgrQndnngen yerlegen sein. Er hat für jene, wie Dionys lehrt, wesentlich zwei Motive verwendet: Aeneas verweilt entweder, um alte Beziehungen wieder anzu- knüpfen — so in Delos (c. 50), Arkadien, Zakynth , oder widrige Winde nötigen ihn zu Aufenthalt oder Umweg (49, 3 3rap' olg diatgißiiv inkoiccg evexev knoiiffiavxo): so wartet er in Thrakien die gute Jahreszeit ab (49, 4), bleibt notgedrungen längere Zeit in Zakynth (50, 3), wird zur ümschiflFung Siziliens gezwungen (52, 1). Die Stadtgründung in Thrakien (49, 4) er- folgt, um den zur Weiterfahrt ünlustigen eine sichere Stätte zu bereiten, desgleichen in Sizilien (52, 4), nach anderen hier, weil die durch den SchiflFsbrand verkleinerte Flotte nicht alle Troer weiterzubefordem imstande war. Die Richtung der Fahrt, west- wärts, ist entweder schon in der alten Heimat durch die erythrä- ische Sibylle oder erst durch das Orakel in Dodona gegeben; das Ende soll an dem Tischprodigium erkannt werden (55, 4). Was nicht in diese westliche Fahrtrichtung paßt, wird von Dionys entweder, wie die kretische Episode, ganz beiseite gelassen oder in der genannten Weise erklärt.

In dieser Erzählung liegt also die Einheit lediglich in der Fahrtrichtung; alle Einzelepisoden sind nur zufällige, willkommene oder unwillkommene Unterbrechungen, Verzögerungen der schließ- lichen Ankunft, die imter sich in keinem Zusammenhang stehen und beliebig vermindert oder vermehrt werden könnten, ohne den eigentlichen Gang der Handlung zu beeinträchtigen. Der Hand- lung innere Einheit, den Bestandteilen Notwendigkeit zu ver- leihen, war die erste Aufgabe, vor die sich Virgil gestellt sah; eine lose Folge von Landungen und Gründimgen, freundlichen Begegnungen und £;r>lotcf6 war für ihn kein ev^ keiner poetischen Darstellung würdig noch fähig. Virgil machte zum leitenden Faden die allmähliche, stufenweis fortschreitende Aufhellung des Fahrtzieles.^) Diese Aufhellung vollzieht sich in fünf Etappen: 1. Aeneas verläßt die alte Heimat auf Augurien hin, die ihn in der Fremde eine neue Heimat sich suchen heißen. 2. Er erhält in Delos das Orakel mit der Hindeutung auf die antiqua mater,

1) Vgl. auch Sabbadini, Studi criüci BoUa Eneide (Lonigo 1889) 107.

84 Zweites Kapitel. Die Infahrten des Aeneas.

3. erfahrt in Kreta durch die Penaten^ daß damit ItaUen gemeint Bei, 4. erhält auf den Strophaden Yon Gelaeno die Prophezeiung des Tischprodigiums, 5. in Buthrotum Yon HelenuB die Ver- weisung auf die Westküste Italiens und die Prophezeiung des Sauprodigiums, zugleich die Mahnung, sich weitere Weisungen über die Zukunft von der cumäischen Sibylle zu erbitten. Damit ist denn der Ort der Neugründung so deutlich bezeichnet, wie es ohne wirkliche Nennung eines eindeutigen Ortsnamens möglich war, und Aeneas würde nun auf dem Ton Helenus Yorgeschriebenen Wege sein Ziel ohne weiteren Irrtum oder Irrfahrt erreichen wenn nicht unmittelbar vor der ihm bestimmten Küste der Zorn der Juno ein neues Hindernis bereitete, in dem sich nun die beiden aus Dionys bekannten Motive verbinden: der widrige Wind und die verftlhrerische Grastlichkeit. Die einzelnen Bestandteile dieser Entwicklung waren meist in der Überlieferung bereits ge- geben oder wenigstens vorbereitet: Orakel in der troischen Heimat, die beiden Prodigien, die Sibylle, das Zusammentreffen mit Helenus in Verbindung mit dem dodonäischen Orakel, die Wahrsagung der Penaten; virgilisch ist die Einreihung in eine fortschreitende Entwicklung, vor allem aber das Motiv der allmählichen Auf- hellung des Fatums, und die überragende Rolle, die Apollo hier- bei zufällt. In beiden hat Virgil Anregungen benutzt, die ihm griechische Gründungslegenden gaben.

Apollo wird in den vorvirgilischen und von Virgil anab* hängigen späteren Berichten über Aeneas' Irrfahrten nicht ge- nannt; er wirkt bei der Führung der Troer nur indirekt mit, in- sofern die Sibylle seine Prophetin ist. Daneben gab es eine von Varro erwähnte Tradition, nach der Venus durch ihr Oestim die Fahrt geleitet habe (Serv. zu II 801). Bei Virgil ist dies bei- seite gelassen, Apollo dagegen mit großem Nachdruck in den Mittelpunkt gestellt Nicht nur, daß hervorgehoben wird, wie er es ist, der die cumäische Sibylle inspiriert an ihn richtet Aeneas VI 56 sein Oebet um Orakel; wie der Gott von seiner Priesterin Besitz ergreift, wird ebd. 77 ff. eingehend geschildert ; Aeneas ist in Delos gewürdigt, die eigene Stimme Apollos zu vernehmen; in Apollos Auftrag reden die Penaten (HI 155); von Apollo hat die Harpyie ihr Wissen (251); in Apollos Tempel hört er des Gottes Priester Helenus, der ihn auch für die Zu- kunft auf Apollos Beistand verweist (395). Den entscheidenden

Apollo. Grründungslegenden. 85

Anstoß zu dieser Heirorhebimg der von Apollo geleisteten Dienste mag Angastus' Vorliebe für diesen Hausgott des Julischen Oe- schlechts gegeben haben; die Anregung stammt; wie gesagt, von griechischen Gründungssagen. Es ist bekannt, welche Rolle bei der Aussendung von Kolonien Apollo, speziell sein delphisches Orakel, gespielt hat^); deutlicher noch ab die nicht wenigen uns erhaltenen Berichte über die Befragung des Orakels spricht die große Zahl der Pflanzstadte, die den Namen Apollonia tragen. Insonderheit waren es zwei der wichtigsten Städte der italischen Westküste, deren Ansiedler von Apollo geleitet worden waren: Rhegion^ und Cumä.^) Virgil stellt also die ixotxia des Aeneas als dritte daneben.

Auch die anfängliche Unklarheit des Orakels und seine all- mähliche Aufhellui^ entspringt griechischem Vorstellungskreise. Von den mir bekannten Gründungslegenden weist verwandte Züge vor allem die von Kyrene auf (Herod. IV 150). Der König von Thera erhält in Delphi die Weisung von der Pythia, eine Kolonie in Libyen zu gründen ; er weiß aber nicht, wo Libyen ist, und unter- laßt also die Aussendung. Da bricht eine große Dürre über Thera herein (analog dem Mißwachs, der die Troer in Ej*eta heimsucht), und das Orakel, um Hilfe be&agt, verweist von neuem auf Libyen. So entschließen sie sich, den Versuch zu wagen, und werden von einem Kreter namens Korobios, der ihnen das imbekannte Libyen zu zeigen verspricht, nach der Insel Platea geführt, die Libyen gegenüber liegt. Die besiedeln sie, aber ohne glücklichen Er- folg. Und wieder hören sie von der Pythia, noch seien sie nicht in Libyen. Da setzen sie denn endlich ans Festland über.*) Wie hier die Dürre die Theräer an ihre Aufgabe mahnt, so ist auch sonst häufig Dürre und Unfruchtbarkeit der Anlaß zur Kolonieentsendung oder das Zeichen, daß die Absicht des Gottes mit der Besiedelang nicht erfüllt ist: auf eine itpoQla in Chalkis

1) 8. RoBcher, Apollo u. Mars 82 ff. Mythol. Lex. I 440 f.

2) Strabo VI 257.

8) Das spricht deutlich aus Statins silv. lY 8, 47 tu^ ductor popult lange migrantia, Apollo,

4) Eine ähnliche Vorstellung scheint bei £uripide8 Helena 145 zu- grunde zn liegen, wo Teukros TOn der Seherin Theonoe erfahren will Zn-^ Piiog ßttiXa^L otv o^qiov nvsgbv Big yfjv ivaXiav Kvngov^ ov /i* id'ianiesv ohtMW 'Ax6XXav.

86 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

geht die Gründung von Rhegion zurück (Strab. VI 257); luyaXav avjuii&v ysvofiavcov verlassen die Aenianen auf des Orakels Ge- heiB das erst kürzlich besiedelte Eirrha (Plut. qu. Gh:. 26).

Was endlich die beiden das Ziel der Fahrt bezeichnenden Prodigien anlangt, so konnte Virgil einfach der Tradition folgen. Angenommen selbst, daß hier einheimische L^enden zugrunde liegen, so rührt doch die Verbindung mit Aeneas zweifellos von griechischen Historikern her, die ihrerseits nach der Analogie griechischer Gründungssagen dichteten: ich erinnere, um nur ein paar Beispiele anzuführen, an die Tjrrhenerkinder aus Brauron, die sich da festsetzen sollten, wo sie ihre Göttin und ihre Anker verlieren würden (Plut. virt. mul. 244 e), oder an den Lake- dämonier Phalanthos, dem das delphische Orakel einen festen Wohnsitz dann verhieß, wenn er vnb ald-gq: Regen spüren würde (Paus. X 10, 6), wobei der Doppelsinn von JXd'Qa als Eigen- name und als ^heiterer Himmel' ganz dem der mensae ent- spricht; noch häufiger sind bekanntlich die Fälle, wo ein Tier, wie hier die Sau, den Ort der Neugründung anzeigt.

Also eine einheitliche 'Poifii^g xtCötg ist bei Virgil die G^e- schichte von Aeneas* Irrfahrten geworden, griechischen Gründungs- legenden angeglichen, aber alle Motive dieser Legenden so voll- zählig in sich vereinigend, wie das kaum bei einer jener echten oder nachgemachten Legenden der Fall gewesen sein wird.

2.

Der Gedanke, die Irrfahrten des Aeneas in die geschilderte feste Form zu fassen, ist Virgil erst gekommen, als ein großer Teil der Aeneis in der uns vorliegenden Form bereits geschrieben war.^) Es verlohnt sich hierbei zu verweilen, da der Fall über

1) Das hat Schüler Quaestiones Virgilianae (Dies. Greifsw. 1888) 8 ff. richtig gesagt, wenn auch nicht ausreichend bewiesen; vorher hatten Coniade (Quaest. Virgil., Trier 1863) und Georgii (Über das dritte Buch der Aeneide, in: Festschrift zur 4. Säkularfeier d. Univ. Tübingen, Stuttg. 1877, 65flF.) um- gekehrt das Buch an den Anfang gesetzt; so dann auch Kroll (a. a. 0. [oben S. 64, 2] 167 ff.). Sabbadini, der in den Studi critici 105 ff. Schülers Ansicht vertrat, hat diese nachher (II primitivo disegno dell' Eneide SO ff.) dahin modifiziert, daß III ganz zu Anfang und zwar in einfach erzählen- der Form geschrieben, in einem späteren Stadium aber umgearbeitet und dem Aeneas in den Mund gelegt worden sei; ich brauche dem, was Helm (Burs. Jahresber. CXni, 1902, 60) gegen diese Hypothese gesagt hat, nichts

(h^dnngslegenden. Ziel der Fahrt. 87

Virgila Arbeitsweise wertvolle Aufschlüsse gibt. Sehen wir zu- luLchst; was abgesehen von lU über den Plan der Fahrt und die Kenntnis ihres Zieles verlautet.

Nach II 781 hat Aeneas noch in Troja von Creusa gehört, daß er in das ^hesperische Land' kommen wird, Vo durch reiche Pluren mit sanftem Strom der lydische Thybris fließt'.

Nach rV 345 hat der *gryneische Apollo und lykische Orakel- sprüche' ihm anbefohlen, nach Italien sich zu begeben.

Nach I 382 ist er auf Grund der ihm gewordenen Orakel in See gegangen, wobei ihm *die göttliche Mutter den Weg wies'.

Nach I 205 und 554, IV 432, V 731 und VI 67 kennen die Troer Latium als Ziel ihrer Fahrt, V 83 spricht Aeneas, wie dann VI 87 die Sibylle vom Thybris.

Als Virgil I, II, IV VI schrieb, hat ihm also die Vorstellung Toi^^chwebt, daß dem Aeneas der Name des Landes wie seines Stromes während der Fahrt bekannt ist, und nach den Angaben Ton II und IV, denen in den übrigen genannten Büchern nichts widerspricht, ist ihm diese Kenntnis bereits vor der Abfahrt ge- worden. Welche Rolle Virgil hierbei den beiden Prodigien zu- teilen wollte, bleibt fraglich: es ist sehr wohl denkbar, daß ihm darüber noch nichts feststand; andererseits scheint aus V 82

non licuit finis Italos fataliaque arva

nee tecum Ausonium, quicumque est, quaerere Thybrim

hervorzugehen, daß Virgil wenigstens vorübergehend daran dachte, «ich des oben aus griechischen Gründungssagen erwähnten Motivs xa bedienen, wonach zwar der Name des Bestimmungsortes, nicht .aber seine Lage bekannt ist^): dann konnte eines oder beide Prodigien dazu dienen, das erreichte Ziel erkennen zu lassen.

ihinzuzufügen. Im übrigen hoffe ich durch die Darlegung meiner eigenen Ansicht ausdrücklicher Polemik gegen andere enthoben zu sein auch ^er Verteidigung meiner Ansicht gegen Karsten, Hermes XXXIX, 1904, 269 f.; ich weise nur darauf hin, daß dieser mich leider mehr als einmal miß- verstanden hat und gegen Behauptungen polemisiert, die mir fem gelegen haben.

1) Erwähnenswert ist, daß Ovid in der Didoepistel diese Vorstellung

teilt: XV 9 certMS es . . quaeque ubi sint nescis ItcUa regna sequi ^ 145 non

jpatrium Simoenta petiSy sed Thyhridas undas . . utq%te latet vitatque tuca

4iMrusa earinas vix tibi continget terra petita seni. Auch in IQ spricht

aeneas einmal (600) vom Thybris als dem Ziel seiner Fahrt; diese Kenntnis

88 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

Diese Konzeption widerspricht dem oben dargelegten Ghnnd- gedanken der Komposition von III geradewegs: es fragt eich nnr^ welche Fassnng die der curcte posteriores ist Nehmen wir einmal an, Yirgil habe zuerst III geschrieben, so ist nicht der geringste Anlaß ersichtlich, der ihn bewogen haben sollte, nachträglich seine einheitliche Erfindimg wieder umzustoßen, mit der das ganze Buch steht und fallt Nicht nur die einzelnen Prophezei- ungen wären hinfällig geworden, sondern vor allem hätte Virgil für die Gründungen in Thrakien und Sareta, wenn er sie über- haupt beibehielt, ganz neue Motivierungen ersinnen oder zu der zusammenhangslosen Geschichtserzählung, wie wir sie bei Diony» lesen, zurückkehren müssen. Ein neuer einheitlicher Plan, der den alten hätte ersetzen können, ist aber aus den Andeutungen der übrigen Bücher gar nicht ersichtlich^ drei Faktoren treten nebeneinander auf die Führung durch Venus, die Prophezeiung der Creusa, das 'lykische' Orakel , die erst wieder in einen Zusammenhang hätten gebracht werden müssen, ohne doch Stoff für das neue 3. Buch zu liefern , die aber klärlich nicht ab Teile einer einheitlichen Konzeption, sondern aus dem Bedür&is der augenblicklichen Situation heraus erfunden worden sind, und die jedes an sich keineswegs so bedeutend sind, daß Virgil um ihretwillen verständlicher Weise auf seinen alten Plan hätte ver- zichten sollen.^) Denken wir uns dagegen III als noch nicht ge- schrieben, so sind die besagten Andeutungen jede an ihrem Orte

widerspricht hier durchaus dem Plane des Buches: es kann doch nicht- Zufall sein, daß Helenus in seiner Prophezeiung weder den Thybris (der in in sonst überhaupt nicht vorkommt), noch Latium oder Laurentum nennt: 389 sagt er geheimnisvoll secreti ad fluminis oram. An ein absichtliches. Erzählen %axa xh aioanmiuvov ist aber natürlich hier nicht zu denken: da» findet statt, um lästige Erzählungen oder ein Zurückgreifen auf frühere Er- eignisse zu vermeiden, wovon hier nicht die Rede sein kann. Ich kann also in der Nennung des Thybris y. 600 nur ein Versehen des Dichters erblicken, der sich von der früheren Konzeption noch nicht völlig losgemacht hatte. Daß an den Stellen in I, lY und VI, an denen Latium und Tiber genannt werden, das gleiche Versehen vorliegt, glaube ich deshalb nicht, weil in jenen Büchern sich keinerlei Andeutung davon findet, daß dem Aeneas die Lage der neuen Heimat unbekannt sei.

1) In Creusas Worten war der bestimmte Hinweis auf das Ziel mit Leichtigkeit zu entbehren; das matre dea monstrante mam in I ist ein in dieser Situation pikanter Zusatz, der aber ihren wesentlichen Gehalt nicht, berührt; in IV hätte ebensogut der delische Apollo eintreten können.

Tischprodigium. 89

als vorläufige Versuche sehr wohl begreiflich, und es ist aus Rücksichten der Bequemlichkeit auch weiter sehr begreiflich, daß Yirgil, ehe ihm der Plan von lU feststand, lieber mit bestimmten Namen, Latium und Thybris, als mit dem unbekannten Ziele operierte: wesentlich für seine Zwecke ist aber auch diese Nennung nirgends.

Das Resultat, die spätere Entstehimg von III ^) wird noch klarer werden, wenn wir die Behandlung der beiden Prodigien in VII und Vni hinzuziehen.

Das Tischprodigium ist nach der Tradition die Erfüllung einer Prophezeiung, die dem Aeneas von der erythräischen Sibylle oder vom dodonäischen Orakel gegeben war und die das erreichte Ziel der Fahrt anzeigt. Eben diesem Zwecke dient es bei Virgil in VII: die Prophezeiung wird hier auf Anchises zurückgeführt, der sie offenbar nicht in der Unterwelt, sondern bei Lebzeiten, vielleicht auf dem Sterbebett, wo die Sehergabe sich zu steigern pflegt dem Sohne hinterlassen hat (faiorum arcana reliquü). Aus der Art, wie sie eingeführt wird, vor allem aus der wörtlichen Anf&hrung der Prophezeiung, ergibt sich, daß Virgil an eine frühere Erwähnung nicht dachte: das Orakel wird ebenso unvor- bereitet eingeführt, wie VI 343 das Versprechen des Apollo und Vni 534 die Verheißung der Venus; das nunc repeto (123) des Aeneas laßt darauf schließen, daß es, wie das bei Orakeleinfüh- rangen so häufig der Fall ist, ihm nach langem Vergessen plötz- lich wieder in den Sinn kommt: so erfüllt sich genau die auf dies Prodigium bezügliche Weissagung von Lykophrons Eassandra (1252) ^vi^fir^v nakai&v Aij^£rat ^söXLö^drmv. Man könnte nun erwarten, daß, im Verfolg jenes früher angedeuteten Motivs, mit Freuden in Erfahrung gebracht würde, daß hier wirklich das ver- heißene Latium und der verheißene Thybris sei; aber darauf hat Virgil verzichtet: Aeneas betet zu den adhac ignota flu7nina, und als am folgenden Tage die Namen Numicius, Thybris und Latium erkundet wurden, scheinen damit keine vorhandenen Erwartungen erfüllt zu werden: womit nicht völlig ausgeglichen ist, daß auch

1) Daß ni nach I abgefaßt ist, ergibt sich auch aus der Betrachtung der gleichlautenden Verse I 680—638 und lU 163—166: die Berufung auf die fama paßt ebensogut im Munde des Aeneas wie schlecht im Munde der weissagenden Penaten; die Verse sind also aus dem fertigen I in III übernommen.

90 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

in der Rede des Ilioneus an Latinus, ganz wie in jenen früheren Büchern, das Wissen um die erstrebten Örtlichkeiten voraus- gesetzt zu sein scheint.^) Es mag bei der Ansführong Virgil klar geworden sein, daß, wenn die Namen bekannt sind, das Pro- digium im Grunde bedeutungslos wird: sie könnten ja auf ganz natürlichem Wege mit den Örtlichkeiten identifiziert werden. In Summa: die Fassung des Tischprodigiums lehnt sich in VII fast in allem der Tradition an; mit einem Plan der Irrfahrten ist sie in keiner Weise verknüpft, sondern steht ganz für sich.

In ni haben wir anstatt dessen eine höchst eigentümliche, aller Wahrscheinlichkeit nach originelle Erfindung Virgils: das Pro- digium wird nicht von befreundeter Seite oder einer gnädigen Gottheit als Abschluß der Irrfahrten verheißen, sondern von der Feindin Celaeno zur Strafe verkündet, nicht als günstiges Zeichen, sondern als Schrecknis, das den glücklichen Ausgang des Unter- nehmens überhaupt in Frage zu stellen scheint. Nicht nur wird schreckliche Hungersnot angedroht, sondern die scheinbar so un- zweideutige und negative Fassung ^ihr werdet nicht eher eine Stadt gründen, als bis euch der Hunger zwingt, eure Tische zu essen' scheint eine unmögliche Bedingung zu stellen: so verzweifelte auch Phalanthus, der Tarent gründen sollte, wenn er ix* at^qa Regen spüre, und glaubte, der Gott habe ihm Unmögliches auf- erlegt.^) Die Prophezeiung der Celaeno ist aber nicht nur der vortreflfliche Abschluß des Harpyienabenteuers, sondern nimmt auch in der Ökonomie des Buches eine hervorragende Stelle ein: nachdem die Penaten auf Kreta endlich das Ziel gewiesen zu haben schienen und die Troer hoffnungsvoll gen Westen steuern, tritt hier ein schwerer Rückschlag ein: die unerwartete Drohung veranlaßt den Aeneas, Helenus um Rat zu bitten, und von diesem empfängt er nicht nur Trost, sondern wird vor einem neuen ver- geblichen Versuch, die nächstliegende Küste Italiens zu besiedeln, bewahrt, der sonst schwerlich hätte ausbleiben können. So ist das Eintreten des Prodigiums vorbereitet: der Leser wartet darauf und die Wirkung der glücklichen Lösung ist nach der anfangs erregten Besorgnis unvergleichlich größer. Vergleicht man diese

1) 240 hinc Dardanus ortus, huc repetü ii^sisque ingentihxis urget Apollo Tijrrhenum ad Thybrim et fontis vada sacra Numici: das liegt völlig im Bereich der Vorstellungen von II, IV, V, VI.

2) Pausan. X 10, 6: udvvarcc ivöiii^sv ol rbv d-söv %p»j(fai.

Tiflcbprodigimn. Sauprodigium. 91

Fassung mit iex von YII; so kann m. E. kein Zweifel bestehen, welche Yon beiden bestimmt war, die andere zu ersetzen.

Das Sauprodigium bestimmt nach den älteren Traditionen entweder die Stätte von Alba Longa und die Zahl von 30 Jahren, nach denen die Gründung erfolgen soll^), oder die Stätte von Lavinium zugleich mit der Hindeutung auf Namen und (jründungs- zeit von Alba.^ Es ist begreiflich, daß Virgil auf das fest- stehende Stück der Sage nicht verzichten mochte, aber er konnte eine spezielle örtliche Bedeutung des Prodigiums nicht brauchen; weder für Alba das ist ohne weiteres klar , noch für Lavinium, denn dessen Gründung fällt nicht in den Bereich seiner Erzählung, da sie, anders als bei Dionys u. a., erst nach dem Ausgleich mit Latinus erfolgen solL Es blieb also zunächst nur die Hindeutung auf Namen und Gründungszeit von Alba übrig: das hat denn auch Virgil bei der Erzählung in VIII beibehalten. Die Einführung des Prodigiums mußte nun neu gestaltet werden, und Yirgil griff zu einem nicht einwands&eien Auskunfksmittel: Aeneas ist voll Sorgen um den bevorstehenden Krieg am Tiber- ufer eingeschlafen; da erscheint ihm der Gott Tiberinus und spricht ihm Mut zu: er habe wirklich den Ort erreicht, den ihm zu be- siedeln bestimmt sei, und brauche sich durch den Krieg nicht schrecken zu lassen. „Und", fährt er fort, „damit du beim Er- wachen nicht meinst, durch einen eitlen Traum getäuscht zu sein [so sei dir zum Zeichen gegeben]: unter den Eichen des Ufers wirst du eine ungeheure Sau mit dreißig eben geworfenen Ferkeln finden:

45 „alba, solo recuhans, aJbi circum ubera natiy 47 ex quo ter denis urbem redeuntibus annis Asccmius dari condet cognominis Älbam,^^

1) So Fabius Pictor: Cauer, Die römische Aeneassage von Naeyius bis Vergil (Jahrb. Suppl. XV) 104 ff.

2) So Dionys I 66. Varro de 1. 1. V 144 hinc post XXX annos oppidum eondüum Alba; id ah sue alba nominatum; haec e navi Aeneae qtwm fugisset Lavinium, XXX parit porcos (vgl. r. r. II 4, 18); ex hoc prodigio post Lavi- nium eandiium annis XXX haec urbs facta propter colorem suis et loci fui- turam Alba Longa dicta. Hier mag das quam fugisset Lavinium nach Dionys zu interpretieren sein 'an die Stelle, wo eben infolgedessen Aeneas dann Lavinium gründete^ ; so daß also Dionys die durch Yarro vertretene Sagen- version befolgt.

92 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

Dann folgt der Rat^ Euander um Hilfe zu bitten. Daß Aeneas den Hinweis auf die Gründang yon Alba dorch eine Tranm- erscheinung erhalt, entspricht der Tradition^): neu ist aber bei Virgil der Znsammenhang, in dem dieser Hinweis auftritt. Bei ihm dient das Prodigium zunächst nur dazu, f[Lr die Worte des Tiberinus Gewähr zu leisten; nur nebenbei und ohne jede inner- liche Verknüpfung mit jenem nächsten Zweck wird auch der Stadtgründung gedacht; örtliche Bedeutung hat das Prodigium überhaupt nicht. ") Und wenn es schon bei dem Tischprodigium in Vn so schien, als erführe der Leser zum ersten Male davon, so ist es bei diesem hier yollends ausgeschlossen, daß in früheren Teilen der Erzählung darauf vorbereitet wäre oder daß es eine Rolle im Plane der Irrfahrten gespielt hätte.

In UI weissagt Helenus das Prodigium: hier ist es dem Irr- fahrtsplan fest eingefügt. Da der Name des verheißenen Landes bis zuletzt dem Aeneas nicht genannt wird, muß ihm ein Zeichen gegeben werden, an dem er es erkennen soll: dies Zeichen wird das Sauprodigium sein. Darum ist hier nach seiner Beschreibung, die mit der in VIU gegebenen wörtlich übereinstimmt, ausdrück- lich gesagt (393) is locus urbis erü, requies ea certa laborum. Damit ist nicht gemeint, daß genau am Lagerplatze der Sau die Stadt gegründet werden soll denn secreti ad fluminis undam, wo nach 389 die Sau sich finden wird, liegt weder Lavinium noch Alba, und das Lager am Fluß kann mit requies certa laborum nicht bezeichnet werden sondern nur, daß an diesem

1) bei Fabius Pictor; nach Dionys a. a. 0. war es tpmvr^ xiq i% tf^g vdnrig &<pavovg övtog tov tp^Byyoiiivov oder nach anderen [LsyaXri xig xal ^av{uccxi] ivvnvlov x&v d'e&v ttvi x&v naxgioiv aluaöd'stea ö'ipig. Auch die Situation ist bei diesen ixsgoi ganz ähnlich wie bei Virgil: Aeneas hat sich von Kummer überwältigt an der Stätte des späteren Lavinium, wohin ihn die Sau geführt hatte, im Freien niedergelegt.

2) Vers 46 hie locus urhis erit, requies ea certu laborum (= UI 893, wie 48—45 = in 890—892) fehlt in MP und ist in R und jüngeren Hdschr. gans ohne Zweifel aus III interpoliert, wie abgesehen von diesen Tatsachen der Überlieferung der Sinn beweist. Zu dieser Interpolation mochte (außer der auch sonst nachweisbaren Neigung von R und jüngeren Hdschr., aus Parallel- steilen zu interpolieren: cf. U 76, IV 273. 628, IX 121, X 278. 872, XII 612 %.) die lose Anknüpfung Ton v. 47 mit ex quo verführen, die doch keinen ernstlichen Anstoß bietet, mag man nun die Worte zeitlich (so Heyne und Norden p. 197) oder, was ich lieber möchte, nach Analogie der S. 91 Anm. 2 angeführten Worte Varros ex hoc prodigio verstehen.

Zeit von m. 93

Zeichen das verheißene Land erkannt werden soll: auch vorher handelt es sich in Helenas' Rede nur um dies Land (ante . . qwim tuta possis urbem camponere terra: signa tibi dicam). Somit gewinnt das Sauprodigium die Bedeutung^ die in der Tradition das Tischprodigium hat: dies hat ja seinerseits die neue Bedeutung nicht eines örtlichen Zeichens, sondern eines zeitlichen, einer condicio sine qua non gewonnen. Danach läßt sich voraussagen, wie Virgil die Erfüllung beider zu kombinieren gedachte: nach der Landung am Tiberufer sollte Aeneas die Sau finden und daran das verheißene Land erkennen; noch aber erwartet er mit Bangen die von der Harpyie prophezeite Himgersnot: ehe er sich's versieht, beim ersten Mahl, ist auch dies Zeichen erfüllt.

Daß nun auch beim Sauprodigium die Fassung von III die spatere ist, dürfbe man schon daraus schließen, daß es hiemach nichty wie in VIII, unvorbereitet und mit gezwungener Motivierung eintritt, sondern einen festen Platz in der Ökonomie des Ganzen hat Man erkennt aber wohl auch noch, daß die in beiden Büchern gleichlautenden Verse (HI 390—392 = VIII 43—45) ursprüngüch für Vin geschrieben waren: dort hat die genaue Beschreibung des Wo und Wie einen guten Sinn, denn je mehr genauere Be- stimmungen gegeben sind, desto beweisender ist die wörtliche Erfüllung für die Zuverlässigkeit der Traumerscheinung; für das Orakel in lU haben die Nebenumstände keinerlei Bedeutung und widersprechen geradezu dem üblichen Stil solcher Prophezeiungen. Vor allem ist die nachdrückliche Hervorhebung der weißen Farbe wohl in Vin wichtig, da sich der Hinweis auf Alba daranschließt, nicht aber in UI, wo an Alba noch gar nicht gedacht wird. Aus der Situation von VHI hat sich auch die Bestimmung soUidto secreti ad fluminis oram in lU eingeschlichen: die Priorität von UI angenommen, widerspräche solche genaue Veranschaulichung einer in weiter Feme liegenden Situation ganz der Art Virgils.

Nach dem allen steht es mir fest, daß der einheitliche Plan der Irrfahrten, wie ihn III aufweist, erst gefaßt wurde, als das ganze Gedicht mindestens zu etwa zwei Dritteln bereits geschrieben war. Statt also zuerst sozusagen das Gerüst seines Baues herzustellen, hat Virgil dies weit hinausgeschoben und zunächst Einzelpartien bearbeitet, dabei je nach der Situation provisorisch Voraussetzungen gemacht, ohne doch diesen Voraussetzungen großen Einfluß auf die Gestaltung des einzelnen einzuräumen; er hat die beiden Pro-

94 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

digien in VII und VUI völlig voranssetzungslos eingeführt, so daß, die beiden Bücher als Einzelgedichte betrachtet, ihr Leser nichts yermissen würde. Erst nachtraglich hat er, ab er genötigt wurde, die Lücke zwischen Troja und Karthago auszufüllen, das einheitliche Gefüge der Prophezeiungen und Prodigien hergesteUt, ohne Rücksicht auf das bisher Geschriebene, zunächst aus dem Bedürfais heraus, dem 3. Buch Einheitlichkeit und künstlerischen Fortschritt zu verleihen. Die Konsequenzen dieser neuen Er- findung zu ziehen, dazu ist er nicht mehr gelangt: er hatte in den übrigen Büchern manches zu streichen, manche Einzelheit zu ändern, in VII die ganze Geschichte der Landung umzu- gestalten gehabt. Wohl möglich, daß ihm dabei einzelne Rudi- mente der früheren Fassung entgangen wären; in wesentlichen, daran zweifle ich nicht, hätte er Einheitlichkeit hergestellt.

Daß die Gestalt des Irrfahrtsplanes, wie sie uns jetzt in lU vorliegt, für Virgil bis zuletzt Geltung behalten hat, daran haben wir keinen Grund zu zweifeln. Zwar taucht noch einmal, in X (67 ff.) ein Motiv auf, das man geneigt sein könnte, als Anzeichen einer beabsichtigten Neuerung aufzufassen: danach soll Aeneas Cassandrae impulsus furiis Italien aufgesucht haben. Aber dies sind Worte der Juno, die sie der Behauptung der Venus ent- gegensetzt, daß die Troer tot responsa secuti quae superi manesque dabant (34 ff.) ihre neue Heimat gesucht hätten; und es ist klar, daß Juno in gehässiger Weise die Bedeutung dieser responsa her- abzusetzen sucht, indem sie gerade nur die eine Wahrsagung der Rasenden erwähnt: in der Tat ist ja nach III 183, welche Stelle der Dichter in X wohl bereits vor Augen hat, Cassandra die erste gewesen, von der Anchises, freilich ohne ihr Glauben zu schenken, Hesperien und das italische Reich hat nennen hören.

3. Die vorwitzige Frage, wozu denn nun diese jahrelangen Irr- fahrten dem Aeneas auferlegt worden seien, wird der antike Leser nicht getan haben. Denn freilich hätte ja Apollo, der doch ge- wiß es mit Aeneas zum besten meinte, durch ein unzweideutiges Orakel vor der Abfahrt ihm viel Mühsal ersparen können: aber wer kann es wagen, vom Gotte Rechenschaft zu fordern für das, was er den Menschen mitzuteilen oder zu verschweigen für gut findet? da doch jede Mitteilung, und wäre sie auch in das zwei-

Juno und Poseidon. 95

dentigste Dunkel der Orakelsprache gehüllt, als reinste Gnade nnd mitleidige Herablassung den demütigsten Dank verdient.

Wer aber das Prooemium der Aeneis vor dem dritten Buche gelesen hat, der wird doch vielleicht erwarten, eine besondere Motivierung für Aeneas* langes Irren zu finden. Denn danach scheint es doch, als trügen die Schuld daran Junos Rachgelüste: sie hat den frommen Helden in so viel Fährnisse, so viel Mühen getrieben, sie die Troer auf allen Meeren umhergejagt und von Latium femgehalten, wie der Dichter sagt^); ja die Götter- königin selbst spricht von ihrem Beginnen, den Teukrerkönig von Italien abzulenken, das sie nicht aufgeben wolle*), von dem Krieg, den sie nun schon so viele Jahre mit dem einen Volke führe.*) Nun ist sie ja von diesem Zeitpunkte an auch wirklich tätig genug: ihr Werk ist der Seesturm, der Aeneas nach Carthago verschlägt, ihres der Liebesbund mit Dido; ihr Anschlag ist später der Schiffsbrand, der zur Gründung von Segesta führt; sie erregt durch Allekto den Krieg in Latium und hört nicht auf, die Feinde der Troer zu unterstützen. Aber bis zu jenem genannten Zeit- punkte, also während der Jahre von der troischen bis zur sizilischen Abfahrt, während der Ereignisse, die das Buch IH behandelt, hören wir von Junos Eingreifen nichts; und doch umfaßt dieser Zeitraum den weitaus größten Teil der errores und lahores. Der Zwiespalt scheint offenkundig, und doch glaube ich nicht, daß wir es in diesem Falle mit einer Differenz verschiedener Pläne zu tun haben oder daß Virgil jenen Zwiespalt ausgeglichen hätte. Als er das Prooemium zu I schrieb, hatte er freilich aller Wahr- scheinlichkeit nach den uns jetzt vorliegenden Plan von HI noch nicht gefaßt, und es wäre denkbar, daß er damals daran dachte, Juno auch in der dem Beginn der Handlung in I voraufliegenden Zeit eine aktive Rolle zuzuweisen; glaublicher ist mir, daß er lediglich die kommenden Ereignisse im Sinne hatte und im Hin- blick darauf das Prooemium der Odyssee nachbildete. Als er dann HI ausführte, bot sich für ein sichtliches Eingreifen Junos

1) 29 his accensa super iactatos aequore toto Troers . . arcebat longe Latio, muitosque per annos errabant acti fatis maria amnia circum.

2) 37 mene iticepto desistere victam nee passe Italia Teucrorum avertere reffetnf

8) 47 una cum gente tot annos bella gero: das geht freUich mit auf den trojaniBchen Krieg.

96 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

keine Gelegenheit; aber falls dem Dichter Bedenken dai kamen, wie dies mit den Angaben des Prooemiums zu vereii sei, so konnte er sieh durch die Autorität seines Vorbildes gedeckt fühlen. Auch im Prooemium der Odyssee wird ja, noch unzweideutiger als in der Aeneis, der zürnenden Gotl hier Poseidon, die Schuld an des Helden langwieriger Irr gegeben; und doch greift auch hier Poseidon unseres Wii erst nach dem Beginn der Handlung, bei dem Seesturm in Odysseus' Schicksal ein; in den Apologen erfahren wir bei verschiedenen unglücklichen Abenteuern nichts davon, daß 1 phems Bitte an seinen Vater Wirkung gehabt hätte, und klarer als in der Aeneis scheint bei dem längsten Aufenthall Odysseus, den sieben bei Kalypso verbrachten Jahren, eine Wirkung des Poseidon völlig ausgeschlossen. Der Leser, der di aufmerksam wurde, konnte darüber nur mit der Annahme kommen, daß Odysseus eben nichts davon erfahren habe, da unter der Feindschaft des Gottes leide, und mit eben dieser nähme konnte Virgil rechnen. Daß er die Parallele im j gehabt hatte, geht aus der einzigen Stelle hervor, an der Junos Feindschaft in HI hingedeutet wird: Helenus gibt dringenden Rat (435 ff.), vor allem Jimo durch Bitten, Gel und Opfergaben zu gewinnen: nur wenn dies gelinge, werc glücklich von Sizilien Italien erreichen.^) Aeneas handelt da

1) Sabbadini hält a. a. 0. 27 diese Yerse für einen späteren ans 60 ff. herausgesponnenen Zusatz: irgend welche schlagende Gründe hi wie für seine ganze Reduktion der Prophezeiung auf einen ursprüngl Kern (874—896; 410—418; 429—482; 462 ff.) hat er nicht vorgebracht. Landung am Promunturium Minervae 631 ff. soll dem Grebot des He 881 388 widersprechen: viel eher doch noch den v. 896 ff., die Sab seltsam mißversteht. Die 89 Verse der Prophezeiung sollen zu der kündigung von pauca 377 nicht stimmen: aber es steht da pauca e m quo tutior hospita lustres aequora, und in der Tat übergeht ja He vieles, z. B. Polyphem, den Schiffsbrand, den Tod des Palinurus. Er 8% lediglich von Dingen, die im voraus zu wissen dem Aeneas nütze ist, c er danach handeln kann. Er schweigt also z. B. vom Tode des Anc und demgemäß auch von dem Besuch in der Unterwelt, der nach de: vorliegenden Fassung von VI eng mit Anchises^ Tod verknüpft ist: und Aeneas 712 sagt nee vates Heleni4Sj cum multa harrenda moneret, hos praedixit luctus, non dira Celaeno, so liegt darin keine Verwunderung dies Verschweigen, sondern es ist nur ausgedrückt, daß der Verlus Vaters ein schlimmeres Leid war als alles, wovon jene prophezeiten. He

Juno. Venus, 97

bei der ersten Landung in Italien (546), und diese einmalige Er- wähnung seines Gehorsams muß auch für die Zukunft instar imniuin gelten; daß es ihm trotzdem nicht gelungen ist, die Feindin umzustimmen, zeigt eben die Tatsache, daß die Überfahrt von Sizilien nach Italien nicht j glücklich verläuft: auf den in I «mhlten Seesturm deuten also die warnenden Worte des Helenus liiiL Diese selbst aber sind klärlich den Worten des Teiresias l 100 ff. nachgebildet: auch dieser warnt für die Zukunft vor Poseidons Zorn und gibt weiterhin (121 ff.) den Weg an, ihn zu beschwichtigen: von früheren Folgen dieses Zornes spricht er ebensowenig wie Helenus von bisheriger feindlicher Tätigkeit Junos.

Wie die feindliche, so bleibt auch die freundliche Gottheit im Hintergrunde: weder als Führerin, noch als Beraterin oder Helferin scheint sich Venus dem Aeneas, nach seiner eigenen Emhlung zu schUeßen, während der längsten Zeit seiner Irr- fabten genähert zu haben. Und in diesem Punkte muß Virgil allerdings, als er I schrieb, andere Absichten gehabt haben, wenn er Aeneas zu Venus sagen ließ, er habe matre dea monstrante tiam die Fahrt angetreten, und bei ihrem Abschied ihn klagen ließ quid natum totiens, cruddis tu quoque, fcdsis ludis inuiginihtts. Irgendwelche bestimmte Gestalt braucht aber damals diese A.\>- Ächt noch nicht gewonnen zu haben, und bei der Ausführung von lU Heß Virgil Venus ganz beiseite: auch dies analog der Odyssee. Von Athenas Schutz und Beistand erfährt der Odysseus der Apologe nichts imd beklagt sich über diese Vernachlässigung noch nach der Landung in Scheria (g 325, vgl. v 318), ohne zu wissen, daß ihm Athena eben diese Landung ermöglicht hat, liier 2um ersten Male, auch unseres Wissens, ihm tätige Hilfe ge- wahrend: der Dichter hat selbst das Bedürfnis empfunden, il;!^!.

»chweigt auch vom Seefitnrm und der gezwungenen Landung in Afrils^a. lücht, wie Karsten a. a. 0. 289 meint, weil Virgil bei Abfasaung voxx III die Erz&hlting von I und IV noch gar nicht beabsichtigte, sonderxx -weil Aeneae, um jenes Unglück zu vermeiden, nichts anders tun kann a.!« ^q. möglich Jmio zu versöhnen, wie ihm Helenus 433 f. rät: in diesena Rc^ti xinO winer Begründung erblicke ich gerade einen unzweideutigen Hinvr^i^ au den Seesturm. Daß Helenus hier nicht deutlicher wird, ist sachlicK ^ölli ausreichend durch v. 379 f. motiviert, künstlerisch einfach dadurcli , ^^^^ , dem Eindruck der Erzählung in I nur schaden könnte, wenn wir nna Aene «id die Seinen nicht durch die Ereignisse überrascht zu denken UlX\.\,eTi.

Heime, VirgUg epi«3hc Technik. 2. Aufl.

98 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

früheres Fembleiben durch die Scheu zu motivieren, ihres Vaters Bruder entgegenzutreten (1/ 341, vgl. 329). Dies ganze Ver- hältnis hat Virgil bei der Gestaltung des Verhältnisses von Venu« und Aeneas offenbar halb unbewußt im Sinn gel^n, und ich möchte vermuten, daß er bei jenem totiens fcUsis ludis imciginibus nicht an bestimmte Erscheinungen der Venus, sondern an die wechselnden Gestalten gedacht hat, in denen Athene dem Odysseus naht, der auch seinerseits, freilich ohne virgilisches Pathos, halb im Vorwurf öh yctg ainr^v navxl iCöTutg der göttlichen Beschützerin entgegenhält (y 313). Nach der definitiven Gestaltung von UI hatte freilich jene Beschwerde keinen dem Leser versiSndlichen Sinn, und es ist anzunehmen, daß Virgil, wenn ihm das Fehlen der Beziehung zu Bewußtsein kam, sie getilgt haben würde.

4.

Vergleicht man Virgils Bericht mit dem, was andere Über- lieferung von den Irrfahrten des Aeneas weiß, so fallt zunächst ins Auge, daß Virgil den Stoff stark reduziert hai Er strebte keineswegs nach gelehrter Vollständigkeit, sondern wählte aus, was seinen känstlerischen Zwecken taugte. Der positive Gesichts- punkt, der ihn dabei leitete, ist der eben besprochene: Marksteine der Fahrt sollten die Stationen sein, an denen ihm wachsende Gewißheit über das Ziel der Fahrt zuteil wird. Die wesent- lichsten negativen Gesichtspunkte waren einmal die Scheu vor lästiger Wiederholung der Motive, sodann die Scheu vor allem bloß gelehrten Material, das sich nicht irgendwie dem Gef&hl des Hörers nahebringen ließ. Die Reduktion des Stoffes ist in ni und vornehmlich in den Partien, die der Ankunft in Italien vorher gehen, sehr viel stärker als in den späteren Abschnitten der Fahrt, die sich auf die Bücher V VU verteilen: hier konnte das vorhandene Material breiter behandelt werden, weil die Einzel- heiten nicht auf engem Raum nebeneinander standen, und vor allem handelte es sich hier um Örtlichkeiten, die jedem seiner Hörer wohl bekannt waren, an denen Virgil selbst näheren An- teil nahm und bei anderen voraussetzen konnte.

In den griechischen Gewässern werden nur sechs Stationen erwähnt: Thrakien, Delos, Kreta, die Strophaden, Actium, Buthro- tum. Mit einziger Ausnahme von Actium dienen sie sämtlich der leitenden Idee des Ganzen. Der erste Fehlschlag der thraki-

Orakel. 99

sehen Gründung fQhrt dazn^ daß Aeneas sich in Delos an Apollon um nähere Weisungen wendet: er hat erfahren, daß den Göttern nicht jede beliebige Stätte f&r das neue Troja genehm ist^ daß sie also ein bestimmtes Ziel für ihn im Sinne haben müssen. In Ej*eta folgt auf die zweite negative Äußerung des Götter- willens sogleich die erneute positive; das Harpyienabenteuer auf den Strophaden bringt eine dritte^ das scheinbar schlimmste^ weil für alle Zukunft geltende ünglücksprodigium; die Weissagung des Helenus verleiht, als Gegengewicht, die klarste und stärkste positive Sicherheit. So wechselt also Hemmung und Förderung bis zu dem Augenblick, wo die Küste des verheißenen Landes den Suchenden gegenüberliegt. Bei den Prodigien hat sich Vir- gil nur einmal, fQr Kreta, eines traditionellen Motivs bedient, die beiden anderen klingen an Traditionelles nur an, sind aber im wesentlichen eigenartige Erfindungen. Bei den Prophezeiungen ist Yirgil ebenfalls eigene Wege gegangen. Die Tradition wußte von einer Weissagung der erythräischen Sibylle und von einer Befragung des dodonäischen Orakels. Die Sibylle mußte beiseite bleiben, um nicht mit der cumanischen zu konkurrieren; das Orakel von Dodona war schon darum ungeeignet, weil ihm Apollo fremd ist und es somit die Einheitlichkeit der Erfindung gestört hätte. An seine Stelle trat Helenus, den Aeneas nach der Tradition bei Dodona getrofifen hatte; er war um so besser geeignet, als er, nach der Analogie von Teiresias-Earke und Phineus, als mensch- licher Hypophet der Gottheit am besten die eingehenden und sorgfaltigen Weisungen geben konnte, die für dieses Stadium der Fahrt erforderlich waren; es verstand sich, daß das Zusammen- treffen nun nicht mehr in Dodona, sondern an der Küste, also in Buthrotum stattfand, wo die Tradition einen Aufenthalt des Aeneas ohnehin kannte. Desgleichen war der Aufenthalt in Delos und die Gastfreundschaft des Anius bezeugt; es hätte sehr nahe gelegen, ihm, den die Sage ja als bewährten Propheten kannte, die Weissagung zu geben: aber damit wäre das Helenusmotiv verdoppelt worden. So läßt Virgil den Apollo selbst aus seinem Adytum zu dem Orakelsuchenden sprechen es ist zum min- desten sehr zweifelhaft, ob der kynthische Apollon ein Orakel besaß, und Virgils Worte deu|;en auf eine Institution nicht hin: da pater a/ugurium atque animi^ inlabere nostris scheint um irgend welche nicht näher definierba^' Inspiration zu bitten, und wenn

f

] 100 Zweites Kapitel. Die lirfiEthrten des Aeneas.

dann vom Dreifuß, ans dem geöffneten Adytom, die Stimme des Gottes ertönt; so scheint dies eine unerwartete and um so wert- Yollere Onade zu sein. Der Spruch wird auf E[reta gedeutet und infolgedessen hier die Ansiedelung versucht: auch damit knüpfte Virgil an Überliefertes an, denn die Gründung von Per- ganios auf Kreta wurde nicht nur auf Troer zurückgeführt, sondern auch mit Aeneas selbst in Verbindung gebiacht (Serv. zu 133). Freilich gehörte sie nicht zu den berühmten Aeneasgründungen, und Dionys übergeht sie völlig; für Virgil war sie gelegen schon wegen der so erreichten Zweideutigkeit des Orakels, und sodann, weil die Irrenden dadurch nach Söden von der geraden Richtung ihrer Fahrt abgelenkt wurden, wie dann später durch den libyschen Seesturm, während die Fahrt, die z. B. Dionys beschreibt, ab- gesehen von dem Abstecher nach Thrakien, so ziemlich den regulären Weg von der Troas nach Italien darstellt, also nicht eben der Vorstellung von einem 'Umherirren' entspricht. In Apollos Namen sprechen hier die Penaten, die dem Aeneas als Traumbild oder Vision erscheinen. Damit überträgt Virgil, was die Überlieferung von einem späteren Zeitpunkt berichtete: in Latium sollten die Penaten, als das Heer der Latiner den Troern gegenüber lagerte, dem Aeneas im Traum geraten haben, statt des Kampfes ein friedliches Übereinkommen zu treffen.^) Das war bei Virgils Gestaltung der Fabel in VII fortgefallen und so das Motiv fiir die Verwendung an dieser Stelle freigeworden, wo es sich der Situation ungezwungen einfügt: sind doch bei der Frage nach der neuen Heimat die Penaten recht eigentlich die Hauptpersonen. Endlich hat Virgil die Prophezeiung des Tisch- prodigiums Celaeno in den Mund gelegt, sicher nach eigener Er- findung, worüber vorhin gesprochen wurde. Zu diesen vier Weissagungen kommen aus anderen Büchern die Prophezeiimg der Creusa, der Sibylle, des Tiberinus, im weiteren Sinne gehören auch die „Heldenschau" der Nekyia und die Schildbeschreibung hierher: man sieht, wie sehr Virgil darauf bedacht war, in der Fassung des Motivs zu variieren.

Ohne Beziehung auf die leitende Idee ist einzig die Station in Leukas-Actium.*) Die Überlieferung kannte von Aeneas ge-

1) Serv. m 148. Dionys I 67.

2) Die geographischen Angaben sind hier ebensowenig bestimmt wie bei der thrakischen Gründung, über die unten. 274 mox et Leucatae nimbosa

Reduktion des Stoffes. 101

gründete Aphroditeheiligtümer in Leukas, auf Aktion^ in Ambrakia: Virgil erwähnt keins von diesen, wie er denn überhaupt von sämtlichen auf Aeneas zurückgeführten Ugä tfjg 'j4(pQodttrjg einzig und allein das ftlr Rom weitaus wichtigste der Venus Erycina aufgenommen hat (V 760), auch hierin die Wiederholung strikt vermeidend. Bei Actium wird, der Tendenz der ganzen Erzählung durchaus entsprechend, Apollon genannt, wenn auch nicht aus- drücklich gesagt ist, daß ihm die Spiele gelten, die Aeneas am aktischen Strande zum Dank für die glückliche Flucht durch feindliches Gebiet^) feiern läßt. Es liegt auf der Hand, daß die ganze Episode eingefügt ist um der Bedeutung willen, die Actium för Virgils Zeit gewonnen hatte; darum ist auch nur hier von einem Weihgeschenk des Aeneas die Rede, von denen die Über- lieferung an zahlreichen Orten wußte: einen Schild, wie hier, sollte Aeneas in Samothrake geweiht haben (Serv. zu 287).

Mit dem Angeführten ist erschöpft, was Virgil für diesen Teil der Fahrt der Überlieferung entnahm. Es ist nur ein kleiner Teil dessen, was ihm vorlag; er schöpfte aus reicherer Tradition, als sie uns Dionjs gibt, und selbst dieser weiß vieles zu er- zählen, was Virgil verschmäht hat: abgesehen von zahlreichen Stationen und Tempelgründungen Aeneas' Verbindung mit Launa der Tochter des Anios; den Tod des Kinaithos, der auf dem da- nach benannten Vorgebirge bestattet wird; den Aufenthalt in Arkadien, wo Aeneas zwei Töchter hinterläßt; die in Zakynth ge- stifteten Aphroditespiele; den Abstecher nach Dodona, über den schon gesprochen wurde. Das alles hätte entweder durch künst- lerische Motivierung zu selbständiger Bedeutung gebracht werden

cacumina montis et formidatus nautis aperitur Apollo das kann nur eben der Apollon auf dem südlichen Vorgebirge von Lenkas sein hunc petimus fes»i et parvae succedimus urbi: unter der urbs kann sich Virgil die Stadt Leukas gedacht haben, oder er hat die Existenz einer Stadt Aktion an- genommen und sich diese noch ?om Apollon Lenkatas beherrscht gedacht, oder endlich er hat Anaktorion gemeint: jedenfalls hat er keinen Wert darauf gelegt, falls er überhaupt selbst eine bestimmte Vorstellung hatte, auch im Leser eine solche zu erwecken. Am unwahrscheinlichsten ist SerTius' Deutung auf Ambrakia.

1) Diese Motivierung (und das de Danais victoribus der Weih- inschrifb) rechnet auf die Kontrastwirkung: an eben der Stelle, wo Aeneas durch Spiele das medios fugam tenuisse per hostes feiert, stiftet sein größter Kachkomme den Agon zum Gedächtnis seines herrlichsten Sieges.

102 Zweites KapiteL Die Irrfahrten des Aeneas.

müssen; und dann hätte es nicht nur den Bericht ungebührlich angeschwellt; sondern auch das leitende Motiv unliebsam ver- dunkelt; oder es hätte^ im Chronikenstil des ApoUonios berichtet, lediglich gelehrtes Interesse gehabt, das für Yirgil nicht existierte: wir begreifen yollkommen, daß er auf dies überschüssige Material einfach verzichtete. Auch die Lokaltraditionen süditalischer Städte, die Spuren von Aeneas' Aufenthalt aufwiesen^), verzeichnet er nicht mit antiquarischer Genauigkeit. Aeneas legt nur am Castrum Minervae an, um das Gelübde für die glückliche Überfahrt zu lösen; im übrigen ist es in Helenus' Prophezeiung durch den Hinweis auf die griechische Bevölkerung der Küste motiviert, daß die Troer sich nirgends aufhalten: so wird der gefahrvolle, fluchtahnliche Charakter der Fahrt gewahrt. Verwundem könnte höchstens, daß Yirgil die Begegnung mit Diomedes, die nach der einen achtbaren Tradition in Calabrien stattfand, nicht aufgenommen hat. Zwar, daß Diomedes dem Aeneas die aus ihrer Gruft ent- führten Gebeine des Anchises zurückerstattete, konnte Yirgil nicht brauchen; aber eine andere Tradition wußte, daß, während Aeneas opferte, Diomedes genaht sei, um das troische Palladium zurück- zugeben, dessen Besitz ihm Unheil gebracht habe; Aeneas habe, um das Opfer nicht zu unterbrechen, sich verhüllten Hauptes abgewandt und so habe statt seimer Nantes das Heiligtum in Empfang genommen, bei dessen Nachkommen, den Nautiem, der Kult infolgedessen verblieben sei.*) Yirgil behält das alxiov der Yerhüllung beim Opfer bei, er kennt auch Nantes als Günstling der Pallas (Y 704); aber er motiviert jene Yerhüllung durch die Scheu, einen Feind beim Opfer zu erblicken, und läßt Diomedes ^nzlich beiseite; und doch, könnte man meinen^ mußte es ihm gelegen sein, die in Aeneas' Hut befindlichen pignora imperii hier durch das Palladium vervollständigen zu können, dessen jetzt nur in Sinons Erzählung vom Raube Erwähnung geschieht (H 166). Möglich, daß ihm jene Tradition sachliche Bedenken erregte');

1) Dionys I 61.

2) Varro (de familiia Troianis) bei Serv. II 166.

3) Nach VarroB Erzählung müßte das Eoltbild der Nautier (das simu- Uicrum aeneum Minervae, cui postea Nautii sacrificari soliti sunt Festus 178 M.) das Palladium sein, während dies doch nach der wie es scheint offiziellen Annahme, die auch Varro selbst in den Antiquitates vertrat

^(WisBowa Hermes XXII 40), unter den sacra Vestae sich befindet. Wenn

Bedoktioii des Stoffes. Poljdoras 103

möglicli auch, daß ihm die persönliche Begegnung des Aeneas und Diomedes gar zu romanhaft erschien und er es deshalb vor- zog, das Motiv umgebildet zu der Erfindung zu verwerten, die wir jetzt in XI von dem Fehlschlagen des latinischen Hilfe- gesuchs bei Diomedes lesen: auch hier ist Diomedes durch das Unglück, das ihn verfolgt, zur Einsicht gekommen, daß sein Kampf gegen Troja ein Kampf gegen Götter war.

5.

Wenn Virgil nun das aus der Tradition ausgewählte Material nach dem von ihm neu eingeführten leitenden Gesichtspunkt ordnete, so hatte er immer erst ein Gerippe der Handlung; für alles übrige, die poetische Belebung, blieb er auf freie Erfindung angewiesen. Diese Erfindung ist bei ihm nicht Neuschöpfung, sondern Umformung vorhandener Motive, Einarbeitung von ander- weit entlehnten Sagenzügen. Es sind drei Sagenkreise, die er sich zu nutze macht: die Ausläufer der Sage von Dions Zer- störung, die Odyssee und die Argofahrt.

Unmittelbar an die Diupersis schließt die Polydorussage an, die Virgil in höchst eigenartiger Weise verwendet, um das Auf- geben der ersten in Thrakien versuchten Stadtgründung zu moti- vieren. Die Speere, mit denen die verräterischen Thraker Poly- doros überschütteten, haben Wurzel geschlagen, und bedecken nun als ein Gebüsch von Myrten und Kornelkirschen seinen Grabhügel; als Aeneas einen Schößling aus dem Boden reißt, fließt Blut aus der Wurzel; das wiederholt sich beim zweiten Versuch; beim dritten ertönt aus dem Grabe die Klage des Toten, dessen Ermordung Aeneas jetzt erst erfährt. Virgil hat bei dem Bericht über Polydoros' Schicksal, den dann Aeneas gibt, allem Anschein nach Euripides' Hekabe vor Augen ^); in der Art des

Virgil jener Erzählong folgte, leugnete er zugleich die Existenz des Palla- dium Vesiae. Andereraeitfl begreift es sich leicht, daß er die Verlegenheits- aosktinft derer, die das Palladium unter den aus Troja geretteten sacra sein ließen, die Annahme zweier Palladion, nicht billigte; so blieb ihm nichts übrig, als g&nzlich davon zu schweigen.

1) IIoXvdtOQog , . hv ix Tgolag i^ol TCatriQ d/dootft Tlgla^og iv dd^ig rgdtpsiv^ ^noTtvog (av di} Tgauxi^g aXmüeag 1133 = hunc Polydorum . . infelix PriamuB furtim mandarat alendum Threicio regij cum tarn diffideret armis Dardaniae cinffique urbem ohsidione videret 69 ff. , das furtim und auri cum

104 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneas.

Todes und namentlich betreffs der Schicksale des Leichnams weicht er gänzlich von ihm ab. Die alten Erklärer haben eine Quelle Virgils nicht gekannt.^) Servius sieht sich genötigt, um den Vorwurf Wahrheit s widriger und unwahrscheinlicher Erfindung von Virgil abzuwehren, an den Kornelkirschbaum zu erinnern, der auf dem Palatin aus Romulus' Lanzenschaft erwachsen war: aber von dieser Sage zur yirgiliscben Erfindung ist ein weiter Weg. Ich glaube eher, daß Virgil, was er von irgendeinem anderen erzählt fand, auf Polydorus übertragen hat.*) Es ist nach der Situation, in der sich der Jüngling bei Polymestor befand, wenig wahrscheinlich, daß er auf die hier geschilderte Weise seinen Tod fand: irgendein im Nahekampf unwiderstehlicher Held mag eher aus der Feme mit Speeren überschüttet werden.') Daß die weitere Erfindung nicht virgilisch ist, schließe ich vor allem daraus, daß die wunderbare Verwandlung der Lanzenschäfte in triebfähige Schößlinge hier durch nichts motiviert wird: während man sich wohl denken könnte, daß nach der ursprüng- lichen Erfindung irgendeine Gottheit, die dem Gemordeten wohl wollte, auf diese Weise den Leichnam bedeckt und so für eine Art Bestattung gesorgt habe. Daß dann aus den Wunden des längst Getöteten noch Blut fließt, wird nach Sagen gebildet sein, die durch das Bluten von verletzten Pflanzen und Bäumen die vollzogene Metamorphose verraten werden ließen: welcher Zug häufiger gewesen sein mag, als Avir ihn jetzt feststellen können; ich wüßte nur die Lotis-Metamorphose (Ovid IX 344) zu nennen.*)

pondere magno nach 10 nolvv dh 6vv i^ol ;gpv(r6v i%ni\Lnu Xd^qa srari}^. 16 dum fortuna fuit = 1208 Bt' Tii}xv%Bi Tqoixx.

1) In neueren Arbeiten liest man hie und da, schon Lutatius Catolns habe die Geschichte der thrakischen Gründung wie Virgil erzählt; diese Wissenschaft geht auf Heyne zurück, der exe. I zu 1. III aus den Historiae des Q. Lutatius zitiert, was in der Origo gentis Romanae c. 9 kurz nach einem 'Lutatius'- Zitat steht, natürlich aus Virgil.

2) S. auch Norden 166.

8) Man denke z. B. an die Ermordung des Pyrrhoa durch die Delpher bei Eurip. Andr. 1128 ff., oder des Achilles selbst durch die Troer (schoL Eurip. Tro. 16), oder des Leukippos durch die Mädchen der Daphne Parthen. 16.

4) Etwas ferner steht die Heliadenmetamorphose II 869 f., wo wälirend der Verwandlung ein Versuch, die Körper von der Baumrinde zu befreien, Blut fließen läßt. In der Eurypylossage (VIII 762), der einzigen Parallele,

PolydoruB. 105

Eben dies Bluten aber mag Virgil zur Aufnahme der ganzen Er- findung in erster Linie veranlaßt haben: wie der Ausdruck monstra deum^) T. 59 deutlich lehrt^ soll der grausige Vorfall die Stelle eines Prodigiums vertreten, das den Troern ak göttliches Verbot der neuen Gründung zuteil wird; es ist aber bekannt, wie häufig bei den Prodigien Blut eine Rolle spielt: bald regnet es Blut bald erscheint es in Quellen, Flüssen und Seen, oder an ßötter- bildetm; bald auch und dies steht unserem Fall am nächsten bluten beim Mähen die Ihren (Liv. XXII 1; XXVIU 11).

Wichtiger als die doch vorläufig nicht mit Sicherheit lös- bare Frage nach der Vorlage Virgils ist die Beachtung der Art, wie er die ganze Episode erzählt. Die Gründung der Stadt, die für einen gelehrten Alexandriner etwas sehr Wesentliches gewesen wäre* wird in zwei Versen erledigt; der Name Aeneadae läßt Zweifel darüber, ob das makedonische Aineia oder das thrakische Ainos gemeint ist'); ja man müßte nach Aeneas' Erzählung eigent- lich annehmen, daß die Gründung überhaupt keinen Bestand ge- habt hat, da ja doch sämtliche Troer die scderata terra wieder verlassen, und weiter, wie wir uns das Verhältnis zu den das Land bewohnenden Thrakern und das v. 61 erwähnte hospitium zu denken haben, bleibt völlig im Dunkeln, wie auch alle Vor- fragen danach, was Aeneas über Poljdoros' Schicksal glaubte.

die Serrius kennt, ist das Bluten des Baumes wohl ovidischer Zusatz: Kalli- machoB weiß nichts da?on.

1) ID. 81 und 270 monstra für die Prodigien, die 58 portenta deum beißen.

2) Die Nachrichten über Aeneas als Gründer von Aineia und Ainos

8. bei Seh wegler, BOm. Gesch. I 301, 7. Virgil hat offenbar Ainos im Sinne, denn hier zeigte man den Grabhügel des Polydoros (Plin. n. h. IV 11, 43); aber das procul v. 13, die Erwähnung des Lykurgos und der Name AlvsidSai^ der durch Theon als poetischer Name für Aineia bezeugt ist (Steph. Byz. s. y.), könnte verleiten, vielmehr an dies zu denken: gegen Ainos wendet schon Servius, zu 16, ein, daß es bereits bei Homer vorkommt {J 520), also nicht Ton Aeneas gegründet sein könne, weshalb auch Virgil den Namen ver- meide. Auf der Chalkidike haftet die Aeneassage seit sehr alter Zeit, während Ainos als Gründung des Aeneas nur Pomponius Mela kennt (U 2, 8 ; auf Servius' Aenum constituit ut multi putant ist gar kein Verlaß), und es ist nicht undenkbar, daß dieser durch Virgil beeinflußt ist, wie denn bei Ammian. Marc. XXU 8 {Äenus qua diris auspiciis coepta moxque relicta ad Augomam veterem ductu numinum properavit Aeneas) und in der Origo g. R.

9, 4 Virgil zweifellos die Quelle ist.

106 Zweites Kapitel. Die Lnfahrten des Aeneas.

ehe das Prodiginm ihm die Wahrheit yerkündete n. dgL Man könnte meinen^ Aeneas habe^ wie dann in Latinm, gleich nach der Landung an öder Küste nur eben die Mauerlinien der Stadt gezogen und das Opfer am Strande sei das erste im neuen Wohn- sitze gewesen^ worauf dann nach kürzester Frist wieder die Ab- fahrt erfolgt sei wenn nicht doch wieder andere Angaben^) auf ein Überwintern an der thrakischen Küste hinzudeuten schienen, was der aus Dionys uns bekannten Tradition entspricht. Kurz^ all dies schiebt der Dichter achtlos beiseite, wobei er sein Gewissen wohl damit beruhigen mochte, daß der Erzähler Aeneas bei seinen Hörern keine Teilnahme dafür erwarten konnte; wozu aber der eigentliche Grund doch eben war, daß der Dichter selbst keinerlei Wert darauf legte. Das einzig Wichtige ist ihm die pathetische Begebenheit am Grabhügel; und wenn ein anQerer, der mehr zum Grausigen neigte als Virgil, auf eben diese Seite den vollen Nachdruck gelegt hätte, läßt Virgil ein anderes Pathos mit einfließen: des Mitleid mit dem armen Gemordeten, der selbst im Tode noch Schmerzen leidet, dessen Leib wie der eines Lebenden zerrissen wird.

Die Begegnung mit Helenus war eines der wenigen poetischer Ausgestaltung fähigen Motive, die Virgil der Tradition (Dionys. I 32) entnehmen konnte. Über die Weissagung ist bereits ge- sprochen; die Szenen der Begrüßung und des Abschieds hat Virgil mit großer Ausführlichkeit behandelt, um alles Pathos zu ent- wickeln, das namentlich infolge der Einfügung der Andromache die Situation in sich enthielt: auf sie viel mehr als auf den farb- los gehaltenen Helenus richtet sich der Sinn des Dichters. Auch hier hat ihn die Tragödie inspiriert: das Bild der unglücklichen Andromache des Euripides steht ihm vor Augen; freilich nicht die um ihren Sohn sorgende Mutter Molossos, des Neoptolemos Sohn, tritt nicht auf; er hätte das einheitliche Interesse zerstreut, und mit welchen Augen mußte Aeneas den Sohn des Verhaßten

1) 69 ff. : sie fahren ab übt prima fides pelotgo plcicataque venti demt maria et Unis a'epttans vocat auster in altum; das wird man am natflr- lichsten anf die Eröffnung der Schiffahrt im Frühjahr beziehen, da yob einem Sturm, der sich nun beruhigt hätte (wie V 768), vorher nicht die Rede war; auch zeigt litora complent 71, daß die Troer in der neuen Stadt wohnend gedacht sind.

Andromache. 107

ansehen! sondern als die ungetröstete^ ohne Ende trauernde Witwe Hektors und Mutter des Astyanax: der augenblicklichen vergleichsweise glücklichen Lage ist kein Einfluß auf ihr Wesen gestattet. So wird denn der Schmerz um die alten Verluste nicht durch die Freude an dem lebenden Sohn und dem troischen Gatten gemildert^ sondern nur durch die quälende Scham verstärkt; daß sie das Lager des übermütigen Siegers hat teilen müssen. Als sie Aeneas erblickt^ ist Hektor ihr erster Gedanke; ihre ganze Teilnahme wendet sich dem Ascanius zu; nach ihm bestürmt sie den Aeneas mit Fragen, ihn beschenkt sie beim Abschied, denn in ihm meint sie Astyanax zu sehen: das ist einer der tiefst emp- fundenen Züge in Virgils Gedicht.^) Wie an des Astyanax Tod erinnert wird, so gedenkt Andromache der Opferung der Polyxena: so werden zwei der wichtigsten Iliupersisepisoden, die Aeneas selbst nicht als Augenzeuge berichten konnte, gewissermaßen nach- getragen.*)

1) Im einzelnen viele deutliche BeminiBzenzen an Griechisches, meist schon bemerkt. In Aeneas' Anrede (317) quis te ccisus deiectam coniuge tanto exeipit erinnernd an Hektors Wort an Andromache (Z 462) aol S* al v4<H^ iünteai älyog %'fttz'i rotovd' &vdQbs &iivvsiv dovXiov fiuocQ. Andromache beginnt damit, Polyxena glücklich zu preisen, die durch den Tod der Knechtschaft entging: so sagt sie bei Eurip. Tro. 680 von Polyxena ÖXmXsv ^g Slalsv^ &IX' oiuog ifioH l^iitcrig y hXtoXhv siTvxeCTiga} n&ciicp und 677 9€cv6^la^iuci d' iyo) TCgög ^EXXdd' alxii^onTog slg dovXov ^vy6v. uq' ovx ihköc» t&v iyk&v iiyst xayimv IloXv^ivrig öXed'gov; beim Bericht über ihre Schicksale mag Yirgil ihren Bericht im Prolog von Euripides' Andromache ▼er Augen haben (s. Conington zu 32S); sachlich weicht ab 329 me famttio fenmUamque Heleno transmisit habendam: das charakterisiert Pyrrhus, der über die Sklavin mit der vollen Willkür des Herrn verfugt. Zu der Frage eequa tarnen puero est amissae cura parentis (841) vgl. Hekabes Frage nach Polydoros sl vfjg tixavarig xflcds n^uvTivai xi fiov Eurip. Hek. 992. In den Abflchiedaworten 4S6 ff. sind Reminiszenzen aus Telemachs Besuch in Sparta {S 180. 149. o 126 f.) verarbeitet: s. die Interpreten.

2) Die Andromacheszene wie die folgende Begegnung mit Helenus trägt deutliche Spuren der Unfertigkeit, auch abgesehen von den Halbversen 316 und 340 dies der einzige in der Aeneis, in dem sogar der Satz un- vollendet bleibt. So hat zwar Virgil den v. 347 et muUum lacrimas verba inter sinffula fitndit sicher geschrieben und durfte das selbstverständlich trotz des laetua 346, aber ich bezweifle auch, daß der Vers in unmittel- barer Nähe von 844 f. so stehengeblieben wäre. Auch die Aufnahme und Bewirtung der Teucri (wie Yirgil 862 statt des üblichen socii sagt, weil socia urbt folgt) wäre vielleicht besser ausgeführt worden, obwohl der An-

108 Zweites Kapitel. Die Lnfahrten des Aeneas.

Die Odyssee hat sich Yirgil mannigfach zunutze gemacht Er hat zunächst in der Weise, die uns schon öfters begegnet ist^ Situationen des Odjsseus auf Aeneas übertragen: hierher gehört die Weissagung des Helenus, in der die Weissagung des Teiresias

8toß, den man an illos 353 genommen hat, unberechtigt ist, denn Aeneas spricht hier in der Tat vom populus^ dem Helenas ein großes Fest gibt porticibus in amplis^ während beim Empfangsfeste im Palast der Dido nur die proceres zugegen sind, der popuius am Gestade schmaust (I 688). Über- haupt hat man, wie es zu geschehen pflegt, die feststehende Tatsache, daß den Szenen die letzte Hand fehlt, sich zunutze gemacht, um weit über das Ziel hinaus Anstöße zu entdecken (so namentlich Georgii a. a. O. 76 ff.). Das beanstandete Hedor uhi est? (812) ist vortrefflich: wenn überhaupt Ver- storbene erscheinen, meint Andromache, so darf sie vor allem Hektor zn sehen erwarten (Dante hat die Schönheit der Stelle empfunden, wie seine Imitation zeigt Inf. X 58 f.). Desgleichen untadelhaft die Fragen des Aeneas 317 ff.: daß er das Gerücht, Helenus und Andxomache herrschten in Chaonien, zunächst nicht glauben konnte, sagt er ja ausdrücklich incredtMis fama 294, und die Behauptung, daß er ohne diesen Glauben nicht am Strande des Pyrrhus gelandet sein würde, ist ganz willkürlich; es steht ja deatlich zu lesen, daß er das Gerücht erst nach der Landung vernahm. Die An- nahme, daß eine Erzählung des Aeneas über Creusas Schicksal ausgefallen sei (Ribbeck), ist ebenso falsch wie die andere, daß Yirgil Andromaches Wissen um Creusa'bei der Überarbeitung besser motiviert haben würde (Georgii): daß Virgil in diesen Dingen kein Pedant war, haben wir beim II. Buch wiederholt gesehen. Es ist auch selbstverständlich, daß Yirgil niclit meint, Andromache habe eine Frage nach der andern getan, ohne eine Antwort abzuwarten, wie das streng genommen 887 ff. besagen; aber wer kann hier ernstlich Aeneas' Antworten vom Dichter zu hören verlangen? In der Abschiedsszene ist die zwischen die Aufzählung der Geschenke ein- gefügte Anrede des Helenus an Anchises sehr auffällig; es sollte mich wundem, wenn noch niemand die Umstellung von 472—481 vor 468 vor^ geschlagen hätte: sie wäre jedenfalls besser als die gewaltsamen Operationen, mit denen sonst der ganze Abschnitt heimgesucht ist. An der Mahnung 477—479 hat man mit Recht Anstoß genommen das hatte ja Helenus schon viel ausführlicher gesagt. Oder sollte Anchises bei der Weissagung im Tempel des Phoebus nicht zugegen gewesen sein? In der Tat hat Yiigil bei dieser ganzen Szene Anchises völlig aus dem Auge gelassen, wie dieser ja auch bei der Befragung Apolls auf Dolos beiseite bleibt. Das ist gani begreiflich: Anchises, der gelähmte Greis, handelt selbst nie, er r&t oder befiehlt nur, oder betet als Haupt der Familie, 265 und 628, hier sians edta in puppt wie er U 699 se tollit ad auras adfaturque deos. Aber Yirgil empfand^ daß er, der doch immerhin das Haupt der Familie ist, bei den ganiea lang ausgesponnenen Helenusszenen nicht völlig ignoriert werden durfte, und so legte er denn die v. 472—481 nachträglich ein; eigentlich hatte freilich Helenus dem Anchises nichts Wesentliches zu sagen, und so ist der

Helenns und Andromache. Odyssee. 100

mit der Wegweistmg der Kirke kombiniert ist^); femer der Aufenthalt bei Dido^ der in mehr als einem Punkte an die Auf- nahme bei den Phäaken, in anderen an die Kaljpsogeschichte erinnert, seine Hauptmotive freilich anderwärts entlehnt; das Schlachten des Viehes der Harpjien, wobei ganz frei mit dem Motiv der Heliosrinder geschaltet ist; der Seesturm in I, bei dem außer der gesamten Situation und wesentlichen Zügen der Be- schreibung auch die Worte des Helden, freilich charakteristisch umgebogen, der Odyssee entlehnt sind*); endlich die Nekyia.

Zweitens hat Virgil die von Odysseus berührten Ortlichkeiten mit iliren fabelhaften Bewohnern in sein Gedicht eingeführt. Darin hatte er einen Vorgänger in ApoUonios, der die heimkehrende Argo u. a. auch den ganzen Weg des Odysseus durchmessen läßt, zumeist freilich nicht nach eigner Erfindung. Die gefährliche Fahrt durch die Flankten (IV 922) war durch die Odyssee selbst ({i 70) vorgezeichnet; dabei finden auch Skylla und Charybdis Erwähnung (823; 920). Auch die Entsühnung bei Kirke (659), wie den Besuch bei den Fhäaken (980) kannte die Sage, und ebenso war den Sirenen (889) ihre Stelle durch die Einführung des Butes in die Argonautensage bereits angewiesen. Aus ge- lehrtem, grammatisch -geographischem Interesse fügt Apollonios die Kalypsoinsel, deren Lage lediglich notiert wird (572), und die Heliosherden auf Thrinakia hinzu, die man beim Vorbeifahren hört und sieht (963). Aiolos endlich spielt als Verwalter der

Rat 477 ß, eine, wie ich meine, vorläufige Yerlegenheitsanskunft. Eingeführt wurde Anchises wieder als Oberstkommaudierender, wobei es unberück- sichtigt blieb, daß man nach 356 fF. besondere Anstalten zum Aufbruch gar nicht mehr erwartete. 482 schließt an 471 an, noch besser an 469 viel- leicht sind 470 f. erst eingefügt, um eine Grundlage für das Folgende zu schaffen: die Grastgeschenke gibt man im Augenblicke der Abfahrt, die Ausrüstung mit Leuten (die duces sind, wie schon Wagner sah, die von Dionys. I 82 erwähnten riyeiidveg, nicht wie Servius will agasones^ die nicht ducea heißen können), Pferden, Geräten und Waffen erfolgt billig vorher. Die Waffen des Neoptolemus sind für Aeneas bestimmt; es ist eine Art Grenng^ung für den Besiegten, daß er nun doch des Feindes Rüstung tragen kann.

1) Auch an Phineus' Weissagung bei Apollonios n 311 hat Virgil ge- dacht: daher stammt prohtbent nam cetera Parcae scire HeUnum farique vetat Satumia Iimo ^^ oi fisv ndwoc niXsi d-i^iig -Cfifit daijvai. (irpfx^g- Jtftftt d* öif<0Q8 9'solg (plXov^ o'6x inixsvam.

2) S. oben S. 76 fg.

110 Zweites Kapitel. Die Infahrten des Aeneas.

Winde, ohne mit den Argonauten direkt in Berührung zu treten, eine ähnliche Rolle wie dann bei Virgil (762. 775. 817). Virgils Aufgabe war erheblich schwerer: die Sage hatte ihm nicht vorgearbeitet^ und wenn er seinen Helden auf den Spuren des Odjsseus etwas erleben lassen wollte^ so war er ganzlich auf freie Erfindung angewiesen; dabei mußte er, seinen Eunstprinzipien getreu, das Episodische nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. Die Erwähnung der Phaeacum arces (291) dient nur der Orts- bestimmung, desgleichen die der Sireneninsel (V 864), wobei der Dichter in aller Kürze an ihre einstigen Schrecken erinnert Aeolns ist mit der Szene in I abgetan: und nur hier weicht Virgil, anderer Quelle folgend, von der homerischen Tradition in etwas ab.^) Skylla und Charybdis werden uns nahegebracht; nicht als episo- dische Zutat, sondern sie dienen dazu, den Umweg um Sizilien zu begründen. Aeneas sieht sie selbst nicht, sondern hört nur aus der Feme das Tosen der Charybdis; aber er weiß von den Ungeheuern durch Helenus, in dessen Munde ihre ausführliche Schilderung voi-treflFlich motiviert ist: nur so erhält seine War- nung den gebührenden Nachdruck. Auch bei Kirke fahren die Troer nur vorbei (VII 10 24): es ist Nacht, auf dem ruhigen Meeresspiegel zittert das Mondlicht; da flammt am Strande von der Zauberin hochragendem Palast der Feuerschein; das Brüllen wilder Tiere tönt durch die nächtliche Stille. Es ist die letzte Gefahr, die den Aeneaden droht, bevor sie ihr Ziel erreichen; Neptun geleitet sie gnädig daran vorüber. Der Dichter verweilt bei dieser Schilderung etwas länger; nicht nur weil Kirke allein von allen jenen Fabelwesen auch in die latinische Sage verflochten war; der Monte CirceUo, jedem Römer wohlbekannt, war auch ohne jene Sagenbedeutung als Kennpunkt der Fahrt zu verwerten, wie ihn noch heute jeder nennen wird, der eine Fahrt längs jener Küste beschreibt. Es bleibt, als einzige rein episodische Ein- fügung in III, die Szene am Kyklopengestade. Virgil wollte Poly- phem in seiner ganzen Furchtbarkeit schildern^), ohne doch Aeneas in ähnliche Gefahr zu bringen, wie sie Odysseus überstanden hatte:

1) S. oben S. 73 fg.

2) Der Schilderung des Polyphem durch Achaemenides wird gewisser- maßen der Boden bereitet durch die Schilderung der furchtbaren Natur: die Nacht hindurch hören die Gelandeten das Tosen des Aetna und sehen sein Feuer, ohne die Ursache dieser Schrecken zu erkennen.

Odyssee. 111

denn ein Seitenstück zu dessen unvergleichlichem Abenteuer zu erdichten, hütete er sich wohl. So half er sich mit der Mittels- person des Achaemenides, durch den nun zugleich der berühm- teste aller vöötoi in unmittelbaren Zusammenhang mit der Fahrt des Aeneas gebracht wird: die Tradition wußte ja von einer Be- gegnung des Aeneas mit Odjsseus selbst^), der hier durch einen seiner Gefährten ersetzt wird. Vii^ hat aber dieser neu erfun- denen Figur ^ und ihrem Schicksal ein pathetisches Interesse zu Terleihen gewußt, hinter dem das teratologische des Abenteuers zurücktritt: der Unglückliche, der seine Todfeinde um Rettung vor einem Schicksal anflehen muß, das schlimmer ist als der Tod das ist eine Erfindung, die ganz im Bereich virgilischer Kunst lag.*) Die Ähnlichkeit mit der Sinonszene ist von Virgil eher betont als verhüllt: es kann in der Tat die Menschlichkeit der Troer nicht schöner sich zeigen, als wenn sie, die mitleidiges Vertrauen ins Verderben stürzte, nun doch wieder des schutz- fiehenden Feindes sich erbarmen. Und hier, wo keine göttliche Macht den Frommen Unheil sinnt, findet der Edelmut seinen Lohn: dem Oeretteten verdanken sie selbst die Rettung. So tritt der

1) Dionys. XII 22. Ob die Ljkophronscholien in dem 1244 genannten Kanos, dem sich Aeneas in Etrurien verbindet, mit Recht Odyssens sehen^ kann dahingestellt bleiben (vgl. Qeffcken, Timaios* Geographie des Westens 44).

2) Daß er sie erfunden hat, folgt wohl schon aus dem Namen Achae- menides: ein griechischer Dichter und nur ein solcher könnte doch der Vorgänger sein hätte dem Gefährten des Odysseus schwerlich diesen spezifisch persischen Namen gegeben; den Römer mochte der Anklang an AchaeuB verführen.

8) Durch dies Pathos unterscheidet sich die Szene wesentlich von der Erzählung des ApoUonios II 1092 ff., der Rettung der Phrixossöhne durch die Argonauten. Äußerlich ist eine Verwandtschaft unverkennbar, und Virgil mag hier eine Anregung zu seiner Erfindung geschöpft haben: auch die Phrixossöhne sind hilflos auf eine Insel verschlagen, die von gefährlichen Bewohnern (den Aresvögeln) heimgesucht ist; die Wechselreden verlaufen ganz ähnlich wie bei Virgil. Aber weder ist zwischen den Aresvögeln und den Schiffbrüchigen irgend welche Beziehung hergestellt die Begegnung könnte auf jeder anderen Insel ebensogut spielen , noch ist überhaupt der Versuch gemacht, die Lage der Phrixossöhne pathetisch zu verwerten. Auch der dramatischen Wirkung ist die Spitze abgebrochen dadurch, daß dem Leser schon vorher ausführlich erzählt wurde, was die Argonauten nachher von Argos hören. Man vergleiche insbesondere die Schilderung von Achaemenides^ Auftreten mit ApoUonios' trockenen Worten tdxoc d*

112 Zweites Kapitel. Die Irrfahrten des Aeneaa.

kühnen Verschlagenheit des Odysseus die piekis der Troer eben- bürtig zur Seite.

In dem Harpjienabenteaer auf den Strophaden sind ver- schiedene Sagenmotive verschmolzen. ApoUonios hatte ausführlich erzahlt, wie die Boreaden Phineus von den flarpyien befreien und deren Verfolgung bei den hiemach Strophaden genannten Inseln auf der Iris Geheiß aufgeben; die Harpyien verschwinden dann in einer Höhle auf Kreta. Virgil läßt sie auf den Strophaden weiterhausen, die sogar ihr pairium regnum heißen (249); ja er gibt ihnen reiche Herden von Rindern und Ziegen, was zu ihrem Wesen als der immer Hungrigen, Speiseraubenden (auch bei Virgil haben sie pallida semper ora fatne) nicht wohl stimmt Diese Erfindung dient dazu, ein Abenteuer einzuführen, das dem des Odysseus auf der Heliosinsel analog ist: die Troer wie die Oe- fährten des Odysseus vergreifen sich an Herden, die göttlicher Besitz sind. Wenn weiter die Aeneaden den Kampf gegen die Unholden wagen, so mag das an der Argonauten Kampf gegen die Aresvögel erinnern, dessen Ausgang freilich ein anderer ist (II 1035 flf.). Das alles dient dem Dichter aber nur als unterbau für seine neue Konstruktion des Tischorakels, das in der Aeneas- sage fest war: über die Neuerung Virgils in der AuffiEissung des Orakels ist oben S. 90 gesprochen. Der künstlerische Wert der Szene liegt wesentlich in der durchgeführten Steigerung; hin- gearbeitet wird hier nicht auf Mitleid, sondern auf Schrecken, und es wird auch hier versucht, das bloß Grausig- Ekelhafte ins Grandios -Fürchterliche zu steigern: als Furiarum maxima und Verkünderin von ApoUons Wahrspruch soll Celaeno nach des Dichters Absicht über das Spukhaft - Monströse ins Mythisch- Heroische hinauswachsen.

In eigentliche Gefahr geraten die Troer auf den Strophaden nicht, aber sie erhalten doch wenigstens Gelegenheit, zu den Waffen zu greifen; bei den übrigen Abenteuern war auch das nicht einmal der Fall. Dem Polyphem entrinnen sie, ehe er sich ihrer bemächtigt; Skylla and Charybdis wie Kirke hören und sehen sie nur von weitem; von den Sirenen haben sie ohnedies nichts mehr zu fürchten. In unmittelbarer Lebensgefahr schwebt Aeneas allein bei dem Seesturm in I; doch auch hier ist dafür gesorgt, daß sich die Rettung ohne sein Zutun vollzieht. Aber wenn die Leiden des Aeneas während seiner Irrfahrten nicht^ wie

Pathos. 113

die des Odysseos^ die Tatkraft und Kühnlieit des Dulders heraus- fordern, wenn sie nicht mit immer wiederholtem Einsetzen von Leib und Leben überwunden werden, so hat doch Virgil sicher nicht gemeint, das Los seines Helden darum leichter gestaltet zu haben. Was er ihn erdulden läßt, ist seelisches Leid, das der Dichter selbst viel tiefer nachempfinden kann als körperliche Pein und Lebensgefahr; die Entbehrung der Heimat, die Bitternis der Verbannung, die immer wieder getäuschte Hoffnung, das jahre- lange Suchen nach unbekanntem Ziel: das sind die Nöte des Aeneas; sein Ruhm und seine Heldenschafk, daß er trotz allem aushält bei der von Gott auferlegten und den heimischen Göttern geschuldeten Pflicht. Schildern lassen sich freilich solche seelische Leiden und Taten sehr viel schwerer als sichtbare, körperliche Vorgänge, schwer vor allem durch den Mund des Helden selbst^); der Dichter rechnet darauf, daß der Leser sich so lebhafb in die Situation des Helden hineinversetze, daß er die Gefühle, die jenen bewegt haben müssen, in sich selbst von neuem erzeuge: darauf vielleicht noch mehr als auf dem Eindruck der einzelnei^ Aben- teuer beruht die vom Dichter erstrebte pathetische Wirkung der Lrfahrten des Aeneas.

1) Das Ethos von Aeneas' Abschiedsworten an Helenus und Andro- mache ist recht eigentlich das Ethos des ganzen Buches: vivite felices, qui- bus ett fortuna peracta tarn sua; nos alia ex aliis in fata vocamur u. s. f.

[•inae, VlrgiU epUohe Technik. S. Aiifi.

Drittes KapiteL

Dido.

Die Historie erzählte von Königin Didos freiwilligem Tode^ durch den sie dem Gatten Sicharbas über sein Ghrab hinaus die Treue bewährte: als ihr keine andere Rettung vor dem erzwun- genen Ehebündnis mit Jarbas blieb, bestieg sie den Scheiterhaufen. Irgendein Dichter, yielleicht Naevius^), hat diese Geschichte aus

1) So bestimmt, wie das neuerdings meist geschieht, möchte ich dies freilich^icht behaupten. Alles, was wir von Naeyius in dieser Frage wissen^ ist bekanntlich in der Angabe des Servins zn lY 9 enthalten: cu4us fUiae fuerint Anna et Dido Naevius dicit Daß Naevins, wo er zuerst auf Kar- thago zu sprechen kam, auch die Gründungsgeschichte erzählte, würde man a priori yermuten. Und auffällig ist immerhin, daß Macrobius (VI 2, 31) ans zwar berichtet, Virgil habe den Seesturm, die Klagen der Yenus und den Trost Juppiters in I aus Naeyius entlehnt, Ton Dido aber ^nzUdi schweigt, wie er denn auch V 17, 4 für die Fälschung der Didotradiüon, durch die in der populären Vorstellung ihr reines Bild getrübt sei, Viigil Terantwortlich macht, ohne eines Vorgängers zu gedenken. Aber diese Ar- gumente ex silentio genügen nicht zum Beweis dafür, daß Naeyius die Gre- schichte nicht hatte (wie L. Müller, Q. Ennius 147 Enni rell. XXTTT ange- nommen hat). Aus Servius' Notiz zu IV 682 Varro ait non Didonem md Ännam amore Aineae impulsam se supra rogum interemisse folgt freilich auch nicht mit absoluter Sicherheit, daß Varro mit seiner Aufstellung jene andere berichtigte; aber die wahrscheinlichste Erklärung der merkwürdigen Behauptung ist doch die, daß Varro, um die historische Tradition mit der poetischen auszugleichen, behauptet hat, da Dido sich aus anderem Anlaß getötet habe, könne die unglückliche Geliebte des Aeneas, falls er eine solche überhaupt in Karthago hinterlassen habe, nur Didos Schwester Anna gewesen sein: die Auskunft gliche dem beliebten Mittel, durch Annahme Ton Homonymen zwei sich ausschließende Sagenversionen miteinander in Tereinigen. Dann hätte Varro die Tradition doch für mehr gehalten als für bloße poetische Fiktion; ob Ateius Philologus in seiner Schrift An ama- verit Didun Aeneas (diesen Titel nennt nach Plinius Charis. I p. 127 K) sich mit jener Alternative auseinandersetzte oder, was mir wahxBchein-

Gründe der Einfuhnmg. 115

freier Erfindung nach dem Vorbilde hellenistischer Erotik um- gestaltet und auf dem Scheiterhaufen nicht die standhaft treue Witwe, sondern die verlassene Geliebte des Aeneas sterben lassen. Virgil hat diese Fassung aufgenommen und sie ist durch ihn po- pulär geworden, aber das Bewußtsein, daß sie poetische Fiktion war, hat sich nicht verloren: kein Historiker hat sie, soviel wir wissen, auch nur der Erwähnung gewürdigt.^) Selbst bei Virgil schimmert das altüberlieferte Bild Didos unter der modernen Übermalung noch durch; nicht nur darin, daß die Treue gegen den verstorbenen Gatten als wirksames Motiv dient: wenn Dido klagt, daß sie die Scham in sich ertötet und den Ruhm vernichtet habe^ der allein sie zu den Sternen hob (IV 322), so wirkt hier- bei — wohl unbewußt die Erinnerung an jene Dido mit, die um der Treue willen in den Tod ging und so unsterblichen Ruhm gewann.

Unter dem Zwange feststehender Tradition hat also Virgil jedenfedls nicht gehandelt, als er Dido seinem Epos einfügte.

Ebensowenig waren es Gründe der Tecknik, die ihn dazu be- wogen, etwa das Bedürfnis nach einem Zuhörer bei Aeneas' Er- i»hlungen: hier hätte ja z: B. Acestes eintreten können. Sondern eine Liebesgeschichte gehörte für Virgil einfach zum integrierenden Bestände des Epos. Eirke und Ealypso, Hypsipyle und Medea verlangten gebieterisch ein Gegenstück, sollten die Erlebnisse des Aeneas nicht ärmlich zurückstehen hinter denen des Odysseus und Jason: höchster Reichtum und eine möglichst erschöpfende

lieber ist, die historiBche Grundlage der Tradition von Aeneas* und Didos Liebe xmtersachte, läßt sich leider nicht feststellen. Existierte die Tradition aber schon in republikanischer Zeit, so wird man freilich am liebsten Nae- irius als ihren Schöpfer ansehen (so auch Meltzer nach Niebnhr u. A. Bosohers Lex. I 1013; kühne und schwanke Hypothesen anderer Art bei WOmer, Sage y. d. Wanderungen d. Aen. 17 ff.)- unwahrscheinlich ist Maaß' ZarückfÜhrang von OvidS Annafabel (fast. UI 646 ff.) auf Naevius (Gomment. myihogr., Gryph. 1886, XVll), der erstlich keinen Anlaß hatte, über Annas spftteres Schicksal zu berichten, und zweitens mit dieser ganzen Erzählung sehr schlecht der Absicht gedient hätte, die man doch bei seiner Erfindung Toraussetzen darf, den punischen Krieg gewissermaßen als die Rache von Didos Volk für Aeneas' Untat hinzustellen: bei Ovid söhnt sich Didos Erbin mit Aeneas aus, und Didos Volk verschwindet.

1) Abgesehen von Malalas 162 und Eedrenos I 246, die auf Virgil zorfiokgreifen. Man hat die Geschichte aus Timäus hergeleitet, mit Un- recht, wie nach anderen Geffcken zeigt, Timaios' Geogr. d. Westens 47 f.

8*

116 Drittes Kapitel. Dido.

Aasnutzung aller epischen Motive war aber gerade Virgils Ideal Wenn irgendeine ältere poetisclie Darstellung Virgils Blick auf die Oründerin Karthagos lenkte ^ so f&hlen wir nach, wie dieser Blick gebannt auf ihr haften blieb: sie war in der Tat ganz einzig geeignet für des Dichters Zwecke. Die Historie wußte ja Yon anderen Liebesbündnissen des Aeneas: mit der Tochter des Anius sollte er einen Sohn gezeugt haben (Serv. III 80), in Ar- kadien wußte man von zwei Töchtern, die ihm Eodone und Anthemone geboren hätten (Agathyllos bei Dionys. I 49); aber was waren diese namenlosen Mädchen gegen die gewaltigste Kö- nigin, von der die Geschichte wußte, die Gründerin der einzigen Stadt, die dem dereinstigen Rom furchtbar werden sollte? Und welche Perspektive gab eben dieser welthistorische Kampf zwischen Rom und Karthago für das freundlich-feindliche ZusammentrefPeo der beiden Gründer. Wenn nun aber die Einführung der Dido ins Auge gefaßt war, so ergab es sich von selbst, daß sie zn Aeneas* Zuhörerin wurde vielleicht gab auch hierzu Naevios die Anregung.^) Zweifellos war Virgil stolz darauf, dem home- rischen Motiv der Erzählung neue fruchtbare Seiten abgewonnen zu haben: die keimende Liebe ist für Dido der Antrieb zu ihrer drängenden Frage, und eben die Erzählung der Taten und Leiden steigert ihre Liebe aufs höchste, wird so selbst zum treibenden Motiv der Handlung.*)

Den tragischen Ausgang dieser Liebe übernahm Virgil von seinem Vorgänger. Wenn dies Naevius war, so stammt von diesem schwerlich mehr Bis das einfachste Gerippe der Handlung; die Ausführung gehört Virgil. Wohl in keinem Abschnitt seines

1) Falls nämlich za dem Satze blande atque docte percantat quo pado Troiam urbem reliquerit Dido Subjekt war. Daß aber Aeneas' Eln&hlang dann wiedergegeben wurde, ist ausgeschlossen; die Fragmente lehren ja, daß der Auszug in dritter Person erzählt war (Noack Herm. XXVII 487).

2) Hatte Virgil in dieser Wendung etwa einen Vorgänger an PhüetasV Dieser hatte im Hermes (Parthen. 2) nach x 14 erzählt, wie Aiolos den Odysseus xa ntqi TQolr,g aXaaiv xccl ov zqotcov a{>totg iöxsSdad^riöav cd Hjts %oiii,^o^poig &nb ti^g 'IXlov dtsnvvd'dveroy und wie sich die Tochter des Aiolos, Polymele, in den Helden verliebt. Was Naevius aus dem Motiv der Er- zählung gemacht hatte (s. o.) , wissen wir nicht. Ovid läßt ars am. 11 127 den Odysseus bei Calypso Troiae casus erzählen: ersichtlich eigene Erfin- dung (nach dem Vorbild Virgils, vgl. das iterumque iterumque mit Acn. IV 19 ff.), der echt ovidischen Schlußpointe zuliebe.

Gründe der Einführong. 117

Epos entfernt er Bich weiter von Homer als in diesem: er tat das offenbar mit vollem Bewußtsein. Wenn es überhaupt sein Ideal war, sich dem alten Epos so weit wie möglich zu nähern, ohne doch das, was er als Fortschritt und neue Errungenschaft spaterer Zeit schätzte, sich entgehen zu lassen, so betrat er hier ein Gebiet, das nach Homer eigentlich erst neu entdeckt war: die Schilderung der Liebe als seelenerfüllender und seelenzerstören- der Leidenschaft. Bei Homer werden von der Liebe nicht eben viel Worte gemacht; ungern zwar, aber doch mit echt göttlicher Freiheit des Gemüts lassen die liebenden Göttinnen ihren Helden ziehen: Ealypso sorgt für Wegzehrung, Eirke gibt die Wegweisimg, von keinem Abschiedsworte hören wir.^) Apollonios, ganz modern in seiner Schilderung von Medeas vergeblichem Kampf gegen die gewaltig aufsteigende Leidenschaft, geht in der an sich der Dido- geschichte analogen lemnischen Episode doch nicht zu weit über die maßvolle Stimmimg des alten Epos hinaus; zwar werden die Abschiedsworte der Hypsipyle und des Jason berichtet, von Tränen und Händedrücken ist die Rede; aber die beiden scheiden doch im besten Einvernehmen: nie hat Hypsipyle darauf gerech- net, den lieben Gast dauernd zu fesseln, sie denkt nicht daran, ihm ob seines Scheidens zu grollen. Auch hier bleibt das Wesent- liche die Begebenheit; die Grenzen des Pathos werden nur eben gestreift. Für Virgil war die Sagenform, die er wählte, vor allem deshalb wertvoll, weil sie ihm Gelegenheit gab, aufs stärkste pa- thetisch zu wirken. An Mustern und Vorbildern fehlte es nicht: in nichts war ja die letzte Blüte griechischer Poesie erfinderischer gewesen als im Aufspüren aller Fährnisse und Unglücksfolgen verzehrender Leidenschaft, nicht erhörter oder verratener oder verbrecherischer Liebe, die ihr Opfer durch Kummer, Scham imd Verzweiflung in den Selbstmord trieb. Freilich war dergleichen wohl kaum je zum Gegenstand epischer Darstellung geworden: im Epyllion hatte sich die hellenistische Zeit ein neues Gefäß geschaffen, wohl geeignet, den neuen Stoff aufzunehmen. Virgils

1) In stärkstem Gegensätze dazu Properz I 15, 11 multos üla (Calypso) dies incompHs maesta capillis sederat iniusto multa locuta solo usw.: das ist fOr Properz selbstverständlich und eine bestimmte hellenistische Vorlage gar nicht notwendig vorauszusetzen. Irgendein Spätling hat aber in fltnmpfiiiinigem Schematismus gar die göttliche Ealypso im Liebesleid sich selbst toten lassen, Hygin. Fab. 248.

118 Drittes Kapitel. Dido.

Didogedicht hat in seiner runden Abgeschlossenheit gewiß Ver- wandtschaft mit jener klassischen Form erzahlender E[leinkun8t: aber unverkennbar ist doch des Dichters Bestreben, dem Gegen- stand zum Trotz episch-heroischen Ton zu treffen und festzuhalten« Eine unschätzbare Hilfe hierbei bot ihm das Drama; hier konnte er lernen, seinen Stoff in erhabenem Stile zu behandeln, und er hat diese Hilfe nicht verschmäht.^) Die folgende Analyse soll versuchen, die Technik seines tragischen Epyllions in ihre Kom- ponenten aufzulösen.

1.

Der vierte Gesang ist Dido gewidmet; so sehr beherrscht sie die Szene, daß der Held des Epos als Deuteragonist erscheint. Wir finden sie am Eingang in den Fesseln der Liebe. Sie er- reicht das Ziel ihrer Sehnsucht; da tritt die Peripetie des Dramas ein, die zum raschen Absturz von der Höhe des erträumten Glücks und zum unseligen Ende führt. Die Exposition dieser Tragödie ist im ersten Buche in der Ausführlichkeit gegeben, die ein Vor- recht des Epikers vor dem Dramatiker ist.

Didos Auftreten ist zwiefach vorbereitet. Aeneas hört zuerst von ihr durch Venus; die kimstvoUe Erzählung ist darauf be- rechnet, nicht nur zu belehren, sondern einzunehmen.') Mitleid

1) Vgl. Norman Wentworth De Witt, The Dido Episode in tiie Aeneid of Virgil, disB. Chicago 1907, wo p. 88 ff. der dramatische Charakter der Episode gut behandelt ist.

2) Der Vergleich mit der ausführlichen Darstellung bei Justin XVIJJ 4 lehrt mit Evidenz, wie bewußt Virgil auch hier pathetisch zu wirken, Mit- leid mit Dido und Entrüstung über Pygmalion hervorzurufen sucht. Damm die wiederholte Betonung von Didos Liebe zu Sychaeus und die grausame Täuschung nach vollbrachter Tat, aus der sie erst der jämmerliche Anblick des Schattens reißt; andererseits die Steigerung der Freveltat: ante (gras, incautum super at, inhumati coniitgis, und die Epitheta des Pygmalion severe ante alios immanior omnis, inpius, securtis amoi'um germanae, mtdia malus simulans; den Tyrannen baßt oder fürchtet sein eigenes Volk (361). Daß der Gemordete selbst den Frevel aufdeckt, ist kaum virgilische Erfindung: i^ iwnviov tbv (fovov iniyva) Appian Pun. 1 ; vgl. die Erscheinung des ge- mordeten Polydoros in Euripides' Hekabe. Justin erzählt: Elissa diu fratrem propter scelus aversata ad postremum dissimülato odio mitiffatoque Interim vultu fugam tacita molitur; sehr viel dramatischer läßt Viigil die unglückliche zunächst durch die Vorspiegelung betrügen, daß der ver- schwundene Gatte am Leben sei, und dann plötzlich den Trug durch die Geistererscheinung zerreißen, worauf sofort die Anstalten zur Flucht ge-

EzpoBiiion. 119

wird im Hörer erweckt, das in Bewunderung übergeht: eine in tiefrter Seele gekrankte Fürstin rafiTt sich, durch das Unglück über ihr Geschlecht hinausgehoben, zu männlich kühner Tat auf äux femina facti und wagt es, sie die Frau, mitten unter Bar- barenstämmen eine Stadt zu gründen, deren künftige Größe schon der Anfang ahnen läßt. Und dann sieht zweitens Aeneas diese Stadt selbst, Didos Werk, und staunt über die gewaltige Anlage, über die rege Tätigkeit der Erbauer, in denen der Geist der Herrscherin lebt; ihren menschlichen Sinn, der fremde Größe ehrt und fremdes Leid mitfühlt, erkennt er aus den Bildwerken des Tempels, die ihm zugleich die Gewißheit geben, daß sein Name and seine Taten der Königin nicht unbekannt sind.

Nun erst erscheint Dido selbst, und ihre Erscheinung ent- spricht dem Bilde, das vorbereitet war: als Königin mit könig- lichem Gefolge tritt sie auf, mit königlicher Hoheit^), zu könig- lichem Tun: hatte Aeneas bisher ihre Werke bewundert, so sieht er sie nun selbst am Werk, imd hatte er auf ihren menschlich- edlen Sinn gehofft, so wird diese Hoffnung nun erfüllt durch den Empfang, den sie den schutzsuchenden Troern bereitet. So ist alles geschehen, um der nun endlich folgenden persönlichen Be- gegnung bei Aeneas den günstigsten Boden zu bereiten.

Das ist ein In-Szene-setzen, wie es mir in der antiken er- zahlenden Literatur sonst nicht bekannt ist. Einzelne Motive darin sind ja der Einführung des Odysseus bei den Phäaken ent- lehnt: wie Venus den Aeneas über Dido, so unterrichtet Athene

troffen werden. Die Flacht selbst wird ganz kurz geschildert: navia qwu forte paratae corripiunt onerantque auro; bei Jastin täuscht Dido zunächst den Bmder, dann dessen Abgesandten wobei sie noch dazu ein frevel- haftes Spiel mit den Manen des Gatten treibt; wenn Virgil das in seiner <)tielle vorfand (vgl. Gonington introd. p. XL, der aber nicht ganz richtig interpretiert), so begreift sich ohne weiteres, daß er von der schlauen Über- liatang absichtlich schweigt: das war ein störender Zug im Bilde des heroiBcben Weibes. Wenn Sjchaeus stark hervortritt, so ist das zugleich %ifa9aQaa*sv^ für die Rolle, die er in lY spielen soll; deswegen wird auch betont, daß er Didos erster Gatte war, worauf für die Erzählung selbst nicht viel ankommt.

1) Daß die Übernahme des homerischen Vergleichs von Nausikaa mit der den Njmphenreigen führenden Artemis nicht glücklich ist, hat Probus in seiner bekannten scharfen Kritik (Grellius IX 9) trefifend auseinander- gesetst; man halte dagegen die geschickte Umformung des Vergleichs bei ApoUonioB m 875 ff.

120 Drittes Kapitel. Dido.

den OdysseuB über Arete; ähnlich wie Aeneas beim Anblick Karthagos staunt Odysseus in der Phäakenstadt über Häfen und Schiffe, Plätze und Mauern {rj 43). Aber man sieht leicht, wie viel höhere Bedeutung beide Motive als vorbereitende bei Virgil gewonnen haben: Aeneas wird die Fürstin lieben, die er durch Venus preisen hörte, und wird, ihr Werk au&ehmend und fort- setzend, den Bau der Stadt leiten, deren werdende Ghröfle er be- wundert. Wie dann alles, was er im Tempel der Juno sieht und erlebt, darauf berechnet ist, daß Aeneas und mit ihm der Leaer Dido höher schätzen lernt, das hat in der Odyssee keine Parellele mehr; die Erfindung ist recht eigentlich dramatisch: alles, was uns der Dichter über seine Heldin mitzuteilen hat, setzt er in Handlung um, deren Träger Aeneas ist. So ist nicht nur dieser für Dido bereits gewonnen, ehe er noch ein Wort mit ihr ge- wechselt hat; auch der Leser erhält von ihrem ersten Auftreten einen Eindruck, wie im Drama vom ersten Auftreten einer Haupt- person, auf die durch eine kunstvolle Exposition seine Erwartung gespannt ist man denke etwa an Tartuffe oder Egmont , und die Erzählung von Didos weiteren Schicksalen in IV kann, da ihre Fäden bereits angesponnen sind, auf leichte Empfänglich- keit beim Leser rechnen.

Auch Dido ihrerseits ist auf die Erscheinung des Aeneas seit langem und stufenweis vorbereitet. Von Teukros hat sie nach Trojas Fall zuerst ihn nennen imd aus Feindesmund rühmen hören (619 ff), sie weiß, daß er als der Göttin Sohn gilt. Die Kämpfe um Troja und die Kolle, die Aeneas dabei gespielt hat, sind ihr bis in Einzelheiten bekannt: mit ihrer Darstellung hat sie das vornehmste Heib'gtum der neuen Stadt geschmückt, in dem sie selbst zu thronen pflegt. Und nun hört sie den König von seinen eignen Mannen preisen, hört, wie unbedingt sie auf ihn vertrauen; kein Wunder, daß der Wunsch in ihr rege wird, ihn auch selbst zu sehen. Kaum hat sie diesen Wunsch ge- äußert, so steht er plötzlich, wie eine göttliche Erscheinung^), vor

1) Der Nebel weicht von ihm, der ihn verhüllte wie den OdysseoB bei der Phäakenstadt, und wie Jason, bis er den Palast des Aietes erreicht, m 210. Übrigens mißversteht man das iamdudum erumpere nttbem arde' hcmt 680, wenn man paraphrasiert , 'der Held vor Eifer brennend, sich be- merklich zu machen, aber außerstande dies zu tun, bis der Zauber von ■elbst verschwindet': so Cauer, Grundfragen der Homerkritik 817. DaA

Liebe. 121

ihr, gehoben durch den Stolz über das Vemomraene, die Freude über die Rettung der Genossen und seiner selbst, die Bewunde- rung für Didos königliche Art: ^die göttliche Mutter hatte ihn mit Jugendglanz überhaucht', so erklärt Yirgil in echt home- rischer Weise ^) diese durch den Augenblick gegebene Steigerung seines Wesens und die Wirkung, die sein Anblick auf Dido er- zielen muß.

Da nun so beiderseits der Boden bereitet ist, könnte man yielleicht erwarten, daß auch gleich beim ersten Anblick die g^enseitige Liebe aufflammen würde. Bei den hellenistischen Erotikern ist ja diese blitzschnelle Entstehung der Leidenschaft geradezu ein 'Gesetz der künstlerischen Darstellung'*), und diesem Gesetz fügt sich auch die epische Erzählung des Apollonios wenigstens für die Leidenschaft der Medea: sie trifft der Pfeil des Eros, als sie zum ersten Male Jason erblickt, und sogleich erfüllt die Liebe ihr ganzes Sein (III 275 ff.), während Jason sie zunächst gar nicht beachtet und erst weit später, im Verlauf des heimlichen Zwiegesprächs, durch die Tränen der Liebenden auch seinerseits entzündet wird (1076 ff.). Medea ist verloren durch den bloßen Anblick, also durch die heldenhafte Schönheit des Mannes: und das ist ja bei jenen hellenistischen Erotikem auch ganz durchgängig der einzige Quellpunkt der Liebe. Wir sahen, wie viel seelischer Virgil die Neigung vorbereitet, und dem ent- spricht es denn auch, wenn er dem bloßen Anblick die Macht

AeneAS und Achates sich gern bemerkbar gemacht hätten, stand schon 614 avidi eoniungere dextras ardebant: sie tun es nicht, weil res incognita animos turhaU Erst in Achates' Worten 5S2 ff. ist ausgesprochen, daß nun jedes Bedenken schwinden muß, und eben da schwindet auch der Nebel: ans der Frage qutie nunc animo sententia surgit geht hervor, daß es nur auf den freien Willen der beiden ankommt. Tassos Nachahmung Gerus. lib. X 48 fg. ist for das Verständnis der virgilischen lehrreich.

1) Das Vorbild bekanntlich i 229 fg., wo aber äußere Mittel, Bad, Salbung und Kleidung zu der Erhöhung der Leiblichkeit führen, die das Eingreifen der Athena sozusagen nur anschaulich macht. Bei Virgil ist, wie so oft, das Motiv verinnerlicht und darum weniger unmittelbar über- zeugend, aber doch fein und wohlüberlegt. Weniger gut Apollonios m 918 fif.

2) Rohde, Griech. Rom. 149. So Virgil selbst früher: ut vidi ut perii ecl. Vm 41, vom Cirisdichter 429 f. yerdorben. Auch Catull 64, 86 hunc simulac eupido conspexit lumine virgo regia . . non prius ex illo flagrantia dedmavit lumina etc. Der hellenistischen Erotik ist auch hierin die Komödie vorangegangen: Terenz, Phormio 111, Eunuch. II 8 usw.

122 Drittes Kapitel. Dido.

nicht zuschreibt, den Brennstoff, mag er aach noch so sorgfältig aufgehäuft sein, zur lodernden Flamme zu entzünden. Freilicln ist ja dieses Paar auch nicht zu vergleichen mit jenen des Ero^ unkundigen Jünglingen und Mädchen, die der unbekannten Leidei^ Schaft; wehrlos anheimfallen. Von den Liebesgefühlen des Aenea^p« zu sprechen, hat der Dichter ganzlich vermieden: erst bei d^j Trennung hören wir durch kurze Andeutungen ausdrücklich, wL« tief ihn die Liebe gepackt hat. Im übrigen läßt der Dichter die Tatsachen sprechen, nachdem er die seelischen Yorbedingungexi so vollständig wie möglich gegeben hat; zu den Gefühlen der Bewunderung und der mitleidigen Teilnahme am früheren Leid kommt ja nun noch die Dankbarkeit hinzu, der er in über- schwänglichen Worten Ausdruck verleiht (597 ff.); das weitere Ver- halten Didos, ihre herzliche und offenkundige Neigung zu dem vermeintlichen Ascanius wie die leidenschaffcliche Teilnahme an Aeneas' eigenen Schicksalen tut das übrige. Später bedarf es keiner ausdrücklichen Versicherung mehr: wenn ein Held wie Aeneas über einem Weibe seine göttliche Bestimmung auch nur für kurze Zeit vergessen kann, wie übermächtig muß die Leidenschaft sein!^)

1) Daß Virgil von Aeneas' Liebe nur andeutangsweise spricht, aach von seinem Abschiedsschmerz nur ganz wenig sagt, hat seinen Grund vor allem in des Dichters Scheu, bei seines Helden Schwäche zu verweilen; da- neben wirkt die künstlerische Tendenz, die Einheit der Erzählung streng da- durch zu wahren, daß Dido resolut in den Vordergrund gestellt wird: vgl im 2. Teil ^Komposition'. Daß diese Zurückhaltung dem Dichter Opfer auf- erlegt, gebe ich Drachmanns Kritik meiner Ausführungen (Nordisk tidskr. f. filol. XIY 64) ZU: der Leser wird über Aeneas' eigene Empfindungen nicht ausdrücklich und weniger eingehend unterrichtet als er wünschen könnte. Aber Drachmanns Urteil über die Ungereimtheit und Unmotiviertheit der ganzen Erzählung kann ich mir nicht aneignen. ^Aeneas kann sich weder in einen ganz gemeinen Liebeshandel einlassen, um nur die Zeit zu vor- treiben, noch kann er sich ernstlich verlieben und dann doch die Ehe aus- schlagen, noch darf er ein gebrochenes Ehebündnis hinter sich haben. Dies hat alles Virgil vollkommen klar gestanden; trotzdem wollte er ans nahe- liegenden Gründen auf die Episode nicht verzichten . . nur von dieser Vor- aussetzung aus versteht man, warum V. schweigt, wo er reden müßte, warum er seine G-ötter an die Stelle der natürlichen Psychologie setzt.' Virgils Aeneas liebt aber nun in der Tat ernstlich; der Dichter berichtet dies wie mir scheint für den, der seinen Andeutungen willig folgt, klar genug, nur freilich mit Schonung für seinen Helden, weil es keine Buhmestat, sondern eine Schwäche ist, da Aeneas über der Liebe seine Mission vergißt. Nach de Witt (a. a. 0. 28 ff.) hätte sich freilich Virgil vielmehr für den ^gaaa ge«

Liebe. 123

Auch Dido muß vergessen, ehe ihr Herz den neuen Gefühlen offen steht: noch hängt sie ja an dem Gatten ihrer Jugend, Sychaeus; ja sie fiihlt die Pflicht, ihm treu zu bleiben, und scheut vor einem Bündnis als einem Unrecht gegen den ersten Gatten. So war denn auch bei ihr eine plötzliche Überrumpelung durch den Pfeilschuß des Eros, wie das neben vielen anderen^) Apollo- nios geschildert hatte, nicht am Platze. Yirgil schließt sich der hellenistischen erotischen Technik an, indem er die überwältigende Liebe durch ein persönh'ches Eingreifen Amors symbolisiert; aber er wählt eine Form, die eben das, wenn auch rasche, so doch allmähliche Eindringen der neuen Liebe') anschaulich machen soll: die erste Nacht hindurch, während Aeneas seine Taten und

meinen Liebeshandel' entschieden : 'Aeneas did not love Dido . . it only makes matteiB worse that he feit and confessed a certain affection for her.' Aber Virgil, nicht eine seiner Personen, nennt Aeneas und Dido amantes lY 221; ans Aeneas* Gedanken ist gesagt quando optima Dido nesciat ei tantos rumpi non speret amores 891 ; noch in der Unterwelt redet Aeneas dvUci amore Dido an VI 455, und ich sehe keinerlei Gnind, hier überall unter amor etwas anderes als 'Liebe', ganz ernstliche Liebe zn verstehen. Als Juno vor der Jagd ihren Plan Venus mitteilt tua si mihi certa voluntas lY 126, geht diese darauf ein: wm adversata petenH adnuit: damit ist die Göttin nicht 'an Stelle der natürlichen Psychologie gesetzt' darin unterscheidet sich frei- lich meine Auffassung der yirgilischen Götter fundamental von der Drach- manns — sondern es wird der psychologische Vorgang symbolisiert, den der realistische Erzähler in der Sprache des Alltags berichten würde. Mo- dernem Gefühl erscheint das Benehmen des Aeneas leicht herzlos und un- rittedich, vor allem weil man seine Worte beim Abschied 833 ff. nicht so ▼ersteht, wie sie Virgil gemeint hat: Aeneas, obnixus curam sub corde premens, Ewingt sich mühsam, sein Gefühl zu unterdrücken und nur die Vernunft Bprechen zu lassen, weil er weiß, daß er nur so fest zu bleiben vermag: dies Bezwingen der tiefsten Neigung dem Götterwillen zuliebe ist kurz, «"ber, wenn man die Worte nur ernstlich auffaßt, völlig ausreichend auch 846 f. und 440 ff. ausgedrückt. Klar ist allerdings, daß Aeneas' Gefühle denen Didos nicht gleichkommen: einer an Wahnsinn grenzenden Liebe, wie sie die Frau befallen kann, ist ein Mann, der diesen Namen verdient, nach Virgils Anschauung überhaupt nicht zugänglich, sondern der Verstand, oder die Pflicht, wird schließlich stets die Oberhand behalten; darin kann also Virgü mit bestem Gewissen der literarischen Tradition folgen, die, wie de Witt sehr richtig auseinandersetzt, einen insanus amor auf Seiten des Mannet zwar in der Komödie, der Bukolik und Elegie, nicht aber in der herouchen Poesie kennt.

1) Rohde, Gr. E. 149, 4.

8) paülatim abolere Sychaeum 720.

124 Drittes Kapitel. Dido.

Leiden erzählt und sich, wie wir oben sahen^ in Didos Herz hinein- erzählt, weilt Amor in Ascanius' Gestalt zwischen beiden. Virgil hat aber auch nicht yersäumt, dieses Einwirken der Gottheit selbst als ein notwendiges erscheinen zu lassen. Es handelt sich nicht nur darum, ein Frauenherz zu erobern, das der Helden- erscheinung eines Aeneas wohl ohnedies nicht widerstanden hätte; sondern es gilt, Vorkehrung zu treffen gegen die Ranke der Juno (671 ff.), die sich Didos als eines Werkzeugs ihres Hasses be: dienen könnte: und gegen gottgewollten Haß kann nur wieder gottgesandte Liebe standhalten.^)

2.

Didos Liebe hat zunächst einen Kampf mit dem Pflicht- gefühl zu bestehen: diesen Kampf und den Sieg der Liebe stellt uns das Zwiegespräch mit der Schwester vor Augen. Virgil hat die von der Überlieferung gegebene Treue gegen den ersten Gatten benutzt, um einen Konflikt in Dido selbst zu schaffen, der för die Handlung von größter Wichtigkeit ist. Damit Didos Tod poetisch gerechtfertigt erscheine, muß sie eine Schuld auf sich laden; diese Schuld besteht darin, daß sie die Pflicht der Treue, die sie als bindend anerkennt*), wissentlich verletzt Der pudor ist es, der ihr den neuen Ehebund verbietet und den sie, durch Annas Scheingründe nur zu gern verleitet, außer acht läßt. Die aldfag hemmt auch bei Apollonios Medeas Beginnen: aber es ist

1) Wie sehr die pathetische Szene zwischen Venus und Amor gegen die in allen Farben tändelnder Eleinmalerei spielende Parallelazene bei Apollonios abstiebt, ist oft hervorgehoben worden, z. B. von Sainte-Benve £tude sur Virgile (1857) 306 ff.; es wird darauf in anderem Zusammenhange noch zurückzukommen sein.

2) Warum die Betonung dieser Treue gegen den ersten Gatten *will- kürlich' sein soll so Drachmann a. a. 0. 66 bekenne ich nicht zu ver- stehen; etwa weil nicht alle Witwen im gleichen Falle so denken würden? Aber Dido ist eben nicht wie alle, weder in diesem noch in anderen Dingen. Das gilt auch, um dies gleich hier zu erledigen, für Drachmanna Bemer- kung über Didos Rachegedanken (s. unten p. 135): ^so wie Virgil selbst den ganzen Hergang dargestellt hat, wäre eine persönliche Rache von Seiten Didos ein durchaus natürliches und berechtigtes Verlangen. Daß V. das ausschließt, ist wiederum Willkür.^ So wie V. Dido dargestellt hat, wäre doch eben die inhumanitaa ^ die z. B. darin läge, des getöteten Ascanius Glieder dem Vater als thyesteisches Mahl vorzusetzen, nicht natürlich, gleichgfihig was man über tiie Berechtigung solchen Vorgehens denken mag.

Didoß Schuld. Anna. 125

dort nnr die jungfräuliche Sittsamkeit, die es verbietet, ohne Wissen der Eltern mit dem fremden Manne sich einzulassen; von ihr sagt sie sich nach langem Kampfe los: iggitoi al8(bg 111784. Didos pudar ist dagegen eine Macht, die sie als göttlich und unter gottlichem Schutze stehend anerkennt. Das ist spezifisch römische Denkweise: der vitius des Mannes entspricht als sitt- liches Ideal die pudicüia der Frau, und unter allen Zeugnissen, die uns die hohe Schätzung der univira lehren^), ist keines charakte- ristischer als die Nachricht, daß an den Altären der Pudicitia nur ,,Matronen von anerkannter Keuschheit, die in erster und einziger Ehe lebten***), opfern durften. Wie sich die Praxis der virgilischen Zeit zu dieser idealen Forderung stellte, ist bekannt; aber daß wenigstens in den Kreisen, die auf altrömische Sittlichkeit noch etwas hielten, die Forderung als solche aufrecht erhalten wurde, dürften wir schon aus Virgil schließen. Mit welchen Gefühlen Augustus diese Verse hörte, möchte man gern erfahren: er war Livias zweiter Gatte, war Scribonias dritter Gatte gewesen*); aber es ist nach der sonstigen Richtung seiner Politik und ihrer Unabhängigkeit von seiner eigenen Lebensführung durchaus nicht unwahrscheinlich, daß er einer Forderung sympathisch gegen- überstand, die ja der leidenschaftlich von ihm angestrebten Heiligung der Ehe nur dienlich sein konnte. Virgil hat jeden- falls Dido schon dadurch auf eine hohe Stufe der Sittlichkeit zu stellen gemeint, daß er sie jene Forderung als sittlich-religiöse Pflicht empfinden ließ; sie verletzt diese Pflicht, nachdem ihre starke Stütze, die Liebe zum ersten Gatten, gefallen ist; aber sie eni^eht den bereuenden Gewissensqualen nicht (552) und sühnt ihr Verschulden durch den Tod (457 ffi): vereint mit Sychaeus weilt sie imter den Schatten (VI 474).

Eine Schwester Didos, Anna, war in der Tradition gegeben: Virgil überträgt ihr eine wichtige Rolle, wichtig freilich mehr für die Technik der Erzählung als für die Entwicklung der Hand-

1) Vgl. Marquardt, Privatleben der Römer 42.

2) Liv. X 28, 9 ; weitere Zeugnisse bei Wissowa, Religion der Römer 208, 1.

3) Freilich hatte er sich auch von dieser, angeblich pertaesus morum perversUatetn eius^ scheiden lassen (Suet. Aug. 62), und die zweite Ehe der Liyia erklärt Ovid damit, daß sie allein des Augustus würdig gewesen sei und kein anderer also auch nicht der erste Gatte ihrer wert, trist. 11 161, Tgl. £Mt. 1660.

126 Drittes EapiteL Dido.

lung: die Rolle der ^Vertraaten^ Man ist zunadist geneigt, zum Vergleich aus Apollonios' Dichtung Chalkiope^ die Schwester der Medea, heranzuziehen; die aber ist durch die Handlang mit Not- wendigkeit gegeben, nnd Medea vertraut sich ihr nicht an, yer- birgt ihr yielmehr ihre eigenen Gefühle und handelt im ent- scheidenden Augenblick; bei der Flucht, ganz auf eigene Hand, ohne Rücksicht auf die Schwester. ApoUonios hält auch hier streng am epischen Stile fest. Die ,y ertraute' ist eine Schöpfung dramatischer Technik, von der klassizistischen Tragödie als stehende Figur aus der antiken (Medea, Phaidra u. s. w.) entnommen: sie dient dazu^ daß der Zuhörer Dinge erfahre, die von den handeln- den Personen nur die eine weiß imd wissen darf; ihr Terschwie- genes Seelenleben kann so der Dichter vor dem Zuschauer aus- breiten, Bedenken entwickeln und zerstreuen, ohne fortmhrend auf das Auskunftsmittel des Monologs zu rekurrieren. Der epische Dichter kann den Monolog durch die Erzählimg ersetzen oder wenigstens ablösen, wie das eben ApoUonios vortrefflich durch- geführt hat. Yirgil spart sich den Monolog für die pathetischen Höhepunkte seiner Erzählung auf; der Vertrauten bedient er sich, um in früheren Stadien den epischen Bericht in dramatische Aktion umzusetzen. Es ist bei ihm nicht die vertraute Dienerin oder Amme, die im Drama der Herrin zur Seite steht und dann in der erotischen Erzählung hellenistischer Zeit^) so oft den Ver- kehr zwischen den Liebenden vermittelt, der Leidenschaft ihrer Herrin in blinder Ergebenheit ohne Rücksicht auf Pflicht und Ehre zur Befriedigung verhilft; dieser Figur haftet meist etwas VulpLres an, und dergleichen widerspricht durchaus Virgils Be- griffen von der Erhabenheit epischen Stils. Die nutrix kann wohl einmal eine Botschaft ausrichten (Barce, 632), aber sie steht zu tief unter der Königin, um etwa Einfluß auf ihre Entschließungen zu gewinnen oder ihre demütigenden Bekenntnisse entgegenzu- nehmen und ihre Bitten dem Aeneas zu überbringen: zu alle dem ist Anna, die unanima soror, wie geschaffen. Ihrer bedient sich auch Virgil, um das Pathos der Schlußszenen zu steigern und,

1) tQ0(p6g der Peisidike Parthen. 21, der Etesylla Antonin. Lib. 1, 4, der Smyrna ebd. 34, 2, der Arsinoe ebd. 39, 8; überall ist sie für die Yer- nxitieloiig tätig. Ein ausgeführtes Beispiel neohellenistischeii Stils die Carme der Ciris, nach Sudhaus' schöner Vermutung (Hermes XLII 1907 491) in weit- gehender Anlehnung an die Smyrna des Helvius Cinna.

Anna. 127

worauf ihm bei jeder pathetischen Szene so viel ankam^ den Ein- druck des furchtbaren Ereignisses zu schildern: der Schmerz der getauschten und verlassenen Schwester (675 ff.)^ in deren Armen Dido stirbt^ vertieft beim Leser die Wirkung dieses Todes. GewiB kann man sich die Figur der Anna wegdenken, ohne die Handlung irgend wesentlich zu beeinträchtigen; künstlerisch aber ist sie von größter Bedeutung, und die Behauptung, daß die Annaszenen nachträglich vom Dichter hinzugefügt seien ^), trifft sicher nicht zu: eben weil sich in Yirgils Phantasie die Hand- lung von vornherein in dramatischer Form aufbaute, fand darin auch von vornherein die ^Vertraute' ihre Stelle.

Dido hat sich der Schwester eröf&iet, um ihrem bedrängten Herzen Luft zu machen. Sie f&hlt, wie neue Liebe gewaltig in ihr aufsteigt; sie empfindet es aber als Frevel, ihr nachzugeben^ und bekräftigt ihren vorgeblichen festen Entschluß, zu wider- stehen, durch einen furchtbaren Schwur, wie um sich selbst einen Halt zu verleihen: damit spricht sie sich schon im voraus selbst ihr Urteil. Anna, die unanima soror, weiß recht gut, wie der Schwester in Wahrheit zu Sinnen ist, und sucht ihre Bedenken zu zerstreuen, vornehmlich dadurch, daß sie die Erfdllimg ihres Herzenswunsches als politisch opportun, als königliche Pflicht hinstellt. Aber angesichts der religiösen Bedenken Didos rät sie zunächst, sich der Götter Zustimmung zu versichern, ihre venia oder, wie es dann heißt, pax nachzusuchen*): das ist dann der

1) Das erste Gespräch zwischen Dido und Anna 6 66 erklärte für spätere Zutat Schüler, Quaest. Yergrü. 24 ff. ; Sabbadini nahm das auf und dehnte das Verdikt auf weitere Szenen aus (L^Eneide commentata 1. IV, V, VI p. IX ff.). Gegen jenes Gespräeh dient als Hauptargument, daß die v. 56 ff. an den Altären gesuchte pax etwas ganz anderes sei als die nach y. 50 von den Göttern zu erbittende venia^ nämlich die Befreiung von den Liebes- qualen. Das ist sicher falsch: unter jener pax konnte nach dem feststehen- den sakralen Sprachgebrauch nie etwas anderes verstanden werden als die p(ix deorum. Über 65 ff. s. unten, über die Zeitverhältnisse im 2. Teil 'Zeit und Ort'; über das Argument, daß Dido im zweiten Gespräch 416 ff. Anna keine Vorwürfe wegen ihres früheren Zuredens mache, verlohnt es sich nicht zu reden.

2) Auf die Sicherung eines freundlichen Verhältnisses zu den Göttern, die Erlangung ihrer pax ac venia richtet sich jedes Gebet und Opfer, mag nun die €k>ttheit durch Prodigien u. dgl. gezeigt haben, daß sie zürnt (Liv. I 81, 7 bei einer Pestilenz unam opem aegris corporibus relictam^ si pax veniaque a diia impetrata esset credebant; Ul 7 desgl. iussi cum coniugibus

128 Drittes Kapitel. Dido.

beiden erste Sorge. Wenn der günstige Ausfall der Opfer Dido von der religio befreit hat; soll sie berabigt und mit gutem Gewissen auf die Erfüllung ihres Wunsches hinarbeiten, zunächst Zeit zu gewinnen suchen: dann wird sich das übrige von selbst geben. Wir hören nun, daß Dido mit größtem Eifer den Rat der Schwester befolgt; sich nicht genug tun kann mit Anbetung und Opfer: an Juno vor allem, cui vinda iugalia curaey wendet sie sich; die eines alten Ehebunds Fesseln löseU; einen neuen ein- gehen möchte; aus den Eingeweiden der Opfertiere sucht sie deiM. Götterwillen zu erforscheui^). Aber welches ist nun der Erfolg dieser Opfer? Künden die Eingeweide Günstiges oder Ungünstiges se^ Yirgil sagt nichts darüber; und so ist denn von den Interpretern beides mit gleicher Bestimmtheit und mit gleicher Berechtigung^ behauptet worden. In Wahrheit liegt die Sache wohl so, dal^K Yirgil sich etwas gewaltsam einer Schwierigkeit entzogen ha'fc. Denn, wie der schließliche Ausgang lehrt, können die Opf^Y nicht günstig gewesen sein: sonst hätten ja die Götter getrogd:xi oder die Seher geirrt Aber andererseits: wenn Juno unmittdl- bar darauf den Ehebund; um dessentwillen sie befragt wurde, selbst stiften will, so kann der Dichter unmöglich erzählen, daß sie die Annahme des Opfers verweigert habe. So ^t er denn die Sache geflissentlich im dunkeln. Es ist ja auch ganz

oc liheris supplicatum ire pacemque expascere deum . . . matres crintbus temph verrentes veniam irarum caelestium finemque pesti exposcunt; IV 80, 10, VII 2, 1 u. 8. f. ; Tgl. Aen. III 261), oder mag man fürchten, durch eine bevor- stehende Handlung göttlichen Zorn zu erregen (Liv. XXXIX 10 paeem veni- amque precata deorum dearumque, si . . silenda enuntiasset) , oder mag ein« Gefahr drohen, für die man sich des göttlichen Beistandes versichern wült wie namentlich im Krieg (Cic. pro Fonteio 13, 80 illae [sciL ceterae geiiks im Gegensatz zu den Galliern] in heüis gerendis ab dis immortalibue pcMM €u: veniam petunt): die htatio beim Opfer ist Beweis der Gewähr (Liv. 711» 12 qtwd non litasset . . neqtie incenta pace deum . . abiectus hosii exerätut Somanus esset; 12, 7; 41, 9 u. s. f.). So auch Cicero im feierlichen Pio- oemium der Rede pro Rabirio perd. reo (2, 6) db Jove optimo maximo cden»- que dis deabusque immortalibiis . . . pacem ac veniam peto. Endlich anch bei dem ganz allgemeinen Gebet an den neuen Gott Romulus : (Liv. 1 1^) pacem precibus exposcant, uti volens propitius suam semper sospitet progema^- Vgl. auch noch Aen. III 144. 370.

1) 64 spirantia consulit exta^ im folgenden Verse werden vates genannt: es handelt sich also um hostiae consultatoriae, wie Servius zu 66 richtig er- klärt (vgl. Wissowa, Rel. d. R. 355), und die vates entsprechen den hamupAo^

Opfer. LiebeBsymptome. 129

^eichgültig; was die vates yerkünden; sie ahnen ja nicht, was n Wahrheit Didos Gemüt erregt und bewegt*), und glauben irohl, daß Gelübde und Gebete ihr Ruhe schaffen könnten: während loch die Raserei der Liebe sie erfaßt hat, die Flamme der Liebe ihr Mark verzehrt.

Die Symptome dieser Leidenschaft, die 68 ff. geschildert prerden, sind die aus der erotischen Litteratur hellenistischer Zeit 3ekannten: quälende Unruhe; Vor wände, um mit dem Geliebten irenigstens beisammen zu sein^); ihre Stimme stockt in seiner Gt^enwart'); sie kann sich nicht ersättigen, ihn sprechen zu hören; Ist er abwesend, so sieht und hört sie doch nur ihn^); selbst nachts findet sie keine Ruhe^); und währenddem vernachlässigt sie, was sonst ihr Leben ausfüllte^), den Ausbau der neu ge- gründeten Stadt. Aber Virgil hütet sich sorgfältig vor jedem Zuge, der diese heroische Leidenschaft ins sentimental Bürger- liche herabziehen könnte, und verschmäht Details, die mehr der Kleinmalerei des Epyllious als der Großzügigkeit des Epos an- stehen; auch stockt während der Schilderung jener Symptome die Handlung nicht, sondern wir hören, was in Karthago weiter ge- schieht, verstehen, wie Didos Leidenschaft auch ihren Untertanen

1) heu vcUum ignartie mentes: ignarae amoris reginae erklärt ServiuB, ^e ich meine, einzig richtig; so hat man die Worte auch sonst im Alter- ^ verstanden, wie die von Forbiger beigebrachten Nachahmungen bei Silius Vni 100 heu aacri vatum errores (in der Didogeschichte) und Apuleius Biet. X 2 heu medicorum ignarae mentes beweisen: in beiden Fällen ahnen die Zugezogenen nicht, worum es sich in Wahrheit handelt. Bei Virgil mfissen die vates annehmen, daß Dido lediglich darauf aus ist, irgend welche f^giöse Bedenken zu beschwichtigen, und das ist ja auch der Anlaß der Opfer, nicht aber der wahre Grund von Didos qualvoll erregtem Gemüts- ''wtand, der schon v. 1—9 geschildert wurde und der sich ganz unabhängig ▼OQ den Opferhandlungen inmier verschlinmiert.

2) Terenz, Eun. 636 ff.

3) mediaque in voce resistit: Apoll. III 686 qp-d-oyyj 8' ol ngovßaivs

4) Apoll, in 453 ngongb d* üq' 6<pd-ccXu&v in ol MdXXsto ndivta, aitog ^ olog Iriv . . , iv o-ßatfi d* alhv öq(oqsi a'bdri zs ^ifjQ'oL xb iisXitpQOvtg ovs

6) Rohde, Gr. R. 157, 3.

6) Longns I 13, 6 tj)s äyÜrig xatsq>Q6vsi, Theokr. XI 73 arx* iv^cjv tttXoQiog TS nÜTLOLg etc. Virg. ecl. 11 70 semiputata tibi frondosa vitis in «fcio est (vgl. 8chon Sappho fr. 90; Hör. c. HI 12, 3).

Htinse, Tirffils epische Technik. 2. Aufl. 9

130 Drittes Kapitel Dido.

nicht verborgen bleiben kann und ihre Fama ins Schwanken gerät (91): so daß denn Jnno, um Schlimmeres zu verhüten und zugleich ihren letzten Zwecken zu dienen, den Gedanken fEMsen kann, die Ehe zu stiften.

Die Höhle, in der Aeneas und Dido vor dem Unwetter Schutz suchen, hat ihr Vorbild in der berühmten Hohle auf Eerkyra, die Jasons und Medeas Brautgemach war: auch dort waren, wie Apoll. lY 1141 ff. erzahlt, die Nymphen, von Hera gesandt, zur Verherrlichung der Feier beteiligt. Diese Vorstellung mag der Keim fiir Virgils Erfindung gewesen sein: seine Er- zählung ist meisterhaft in der natürlichen Motivierung des nacl». göttlichem Willen Geschehenden, anschaulich in der Beschreibung der glänzenden Jagd wie des Unwetters, vortre£Bich in jeder Be— Ziehung die knappen Verse, die der verhängnisvollen Hochzeits^ feier gewidmet sind, wobei Blitze als Hochzeitsfackeln leuchten, das Jauchzen der Nymphen von der Höhe der Waldberge den. Hymenaeus vertritt. Wenn Virgil den Jagdzug eingehend nnd mit aller Pracht seiner Farben schildert, so ist dies äußerlich, betrachtet nur Anlehnung an den epischen Stil, der in der Be- schreibung als solcher schwelgt: aber hier hat es den tieferen Sinn, daß die beiden wie im Hochzeitszuge, königlich geschmückt^ in prangender Jugendlust, mit glänzendem Gefolge ausziehen, und Virgil hat den tri^i^iBchen Gegensatz empfunden, der darin liegty daß Dido zum letzten Male im vollen Glücke strahlend uns sicht- bar wird an dem Tage, der ihre Sehnsucht zwar erfüllen, aber zugleich 'des Todes erster Tag' werden sollte.

3. Den Weg zum Tode beschreibt Virgil mit Aufbietung aller seiner Kunst. Die Peripetie tritt unmittelbar nach dem soeben besprochenen Höhepunkt der Erzählung ein; über das ruhige Zu- sammenleben der beiden Liebenden geht der Dichter rasch hin- weg, als scheue er sich, seinen Helden in Pflichtvergessenheit zu zeigen. Wir hören nur, was die Fama berichtet: sie entstellt die Wahrheit, wenn sie die beiden als in Wohlleben versunken und ihrer Herrscherpflicbt vergessend schildert; das erfahren wir später, \ da Mercur den Aeneas beim Werk des Stadtbaus tätig findet. 3ie Fama dringt zu Jarbas; auf Jarbas hört Juppiter und ent- sendet Mercur; seinem Befehl ergibt sich Aeneas unverzüglich^

Jagd. Weg zum Tode. 131

1 den ersten heimlichen Anstalten zur Abreise hört Dido eben )der dnrch die Fama, die somit ihr unseliges Werk vollendet, •n nun an begleiten wir Dido auf dem kurzen Weg, den sie ch zu gehen hat, der sie durch alle Seelenqualen zum Tode

irtO

Virgil hat weder das Bedürfnis gehabt noch die Yerpfiich- Qg gefQhlt, im Ausdruck, den Dido ihren Empfindungen gibt, iginal zu sein. Trotz der großen Lücken der erhaltenen älteren teratur gibt es kaum einen wesentlichen Zug in diesem Bilde, n wir nicht aus Virgils Yor^ngem belegen könnten. Auch hier ii der Dichter sein Material entlehnt; sein war die Kunst, mit nr er es verwertete, und diese Kunst war so groß, daß seine ido die einzige von einem römischen Dichter geschaffene Figur t, die in die Weltliteratur übergehen sollte.

Das Material, das Virgil vorfand, war reich genug; unzahlig %, in allen Dichtungsgattungen und Stilen hatte griechische ichtung das Leid der Verlassenen gesungen. Aus dieser Masse ■hied für Virgil von vornherein alles aus, was durch den größeren 1er geringeren Realismus der Darstellung vom 'hohen' Stile »lag. Die Tragödie bot den Urtypus der Rolle: Medea. Aus

1) Die Versuche, diese ganze Partie als stark überarbeitet zu erweisen d eine frühere Fassung herzustellen (Schüler a. a. 0.27 ff., Sabbadini a. 0. Xff. und IL primitive disegno delP Eneide 43 ff., Yiyona, Riv. di Ol. XXVI, 1898, 428 ff.) scheinen mir von Grund aus verfehlt. Der einzige ^ige Anstoß, den man nehmen kann, ist der an der Chronologie der eignisse: darüber s. im 2. Teil 'Zeit und Ort'. Im übrigen mag man ver- sintliche Mißgriffe des Dichters tadeln, z. B. daß er nach decrevü mori 5 diesen Entschluß 534 ff. Dido yon neuem fassen lasse obwohl mir B8 durch 631 ff. völlig ausreichend motiviert scheint und es vom technischen andpunkte sehr begreiflich ist^ daß Virgil dies Resum^ von Didos Motiven unittelbar vor die Ausführung der Tat setzt; man mag fragen, warum ch Dido nicht gleich nach Errichtung des Scheiterhaufens töte obwohl mir sehr einleuchtet, daß sie, mag auch der Entschluß noch so fest- shen, zur Ausführung doch erst schreitet, als mit der Abfahrt des Aeneas le Hoffnung unwiederbringlich geschwunden ist; man mag die erneute nfÜhrung Merkurs als überflüssig schelten was sie vielleicht sachlich, iher aber nicht technisch ist (s. unten 'Struktur der Handlung'): die Be- shtigung aber all dieser Einwände zugegeben, so folgt daraus für die ur- rfingliche Form und ihre Überarbeitung doch nicht das Geringste; allen wen Hypothesen liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Dichter seine che doch wenigstens einmal so gut gemacht haben müsse, wie der be- (ffende Kritiker es wünscht.

132 Drittes Kapitel. Dido.

der hellenistischen Erotik höheren Stils waren zahlreiche Gestalten heranzuziehen^ mehr jedenfalls, als wir heute wissen: aber wir können nennen Ariadne, deren Liebeskli^en Gatull dem römischen Publikum bekannt gemacht hatte ^); Phyllis, durch Eallimachos' Gedicht hochberühmt; Oinone, von deren unglücklichem Schicksal uns wenigstens eine hellenistische Darstellung (bei Quintus von Smyma) deutlich kenntlich ist, um von zahlreichen anderen ver- wandten Sagen zu schweigen, deren künstlerische Ausgestaltung in der dürftigen Überlieferung völlig verwischt ist. Von den Ge- nannten endeten zwei, wie Dido, durch Selbstmord: PhyUis er- hängt sich in der Einsamkeit (Ov. rem. am. 591), Oinone wirft sich iu die Flamme des Scheiterhaufens, der Paris verzehrt. Aber oft genug hat auch die griechische Poesie von unglücklichen er- zählt, die aus anderen Gründen als getäuschter Liebe Hand an sich legten, und wenigstens eine, vielleicht die berühmteste dieser Dar- stellungen hat Virgil ebenfalls herangezogen: den Aias des Sophokles. Virgil hat die Fülle der Motive möglichst erschöpfend aus- genutzt, auf den Reichtum der Darstellung wie auch sonst be- dacht. Aber er schildert uns kein dumpfes ungeregeltes Auf- und Abwogen der Empfindungen, seine Dido wird nicht hin- und her- geworfen im Widerstreit der Leidenschaften; sondern in klarer Gesetzmäßigkeit schreitet die Entwicklung dem Ende zu. So viel wie möglich wird auch hier dramatische Wirkung angestrebt. Der Dichter erzählt nur die äußere Handlung; er schildert nicht Gefühle, sondern läßt sie fast ausschließlich die Heldin selbst aus- sprechen. Und zwar hat er sein Augenmerk vor allem darauf gerichtet, die fortschreitende Steigerung dieser Empfindungen in enge Beziehung zur äußeren Handlung zu setzen. Jede neue Phase der äußeren Handlung führt auch eine neue Phase der inneren Entwicklung herbei; und jede dieser Phasen repräsentiert möglichst rein und unvermischt einen bestimmten Gemütszustand. Aus ihren ersten Worten an Aeneas spricht die schmerzliche Überraschung über seine Untreue^); noch verzweifelt sie nicht

1) An dem alexandrinischen Original von c. 64 wird ja nach Beitzen- Steins Ausführungen (Hermes XXXV 86 ff.) niemand mehr zweifeln.

2) Im ersten Augenblick erscheint ihr als das Härteste die vermeint- liche Absicht, sie heimlich zu verlassen; vgl. Med. 576 xgfjv a' sUneg riod'a ft^ xaxos, nsiaavtd ftc ya/iffv ydiiov T6vd\ &XXa ftij öiyjj q)ll(ov. Die Be- rufung a'if die data dextera quondam 307 ist durch die frühere Erzählung

Innere und äußere Handlung. 133

ganz darauf sein Mitleid and Pflichtgefühl zu erwecken. Als sie aus seinen Worten erkennt, daß alles vorbei ist, gibt sie in ver- ächtlichem Haß ihm den Abschied.^) Diese Wappnung hält nicht lange stand: als nun wirklich offen die Anstalten zur Ab-

nicht auBieichend motiviert, wenigstens nicht so wie bei Medea das &va%aXit Sh dt^Uts xlütiv lisyLaTriv 22. Die Bitten erinnern an Tekmessas flehende Worte, das Ganze besagt iy^l yccg o'bnit' iötiv sls S rt ßXinto icXiiv cov Aias 614; zu fuit aut tibi quicquam dulce meum vgl. ebd. 620 äv^gi rot. XQBcav ii,vi/iiifiv jcQoaetvai, xBffnvbv sH xi nov ndd'ot. 321 infensi lyni weshalb? Doch wohl, weil sie den Fremden über ihre Landsleute gestellt hat, also etwa wie Ovids Phyllis ep. 2, 82 quod ferar extemum praeposuisse meis u. d. übrige, vgl. auch Med. 496 rotg fikv oixo9'sv (pLXois ix^Q^ xad'iötrixcc : die ganzen Fragen Didos sind den dortigen der Medea nachgebildet. Die Pointe hospes, hoc aolum nomen quoniam de coniuge restat scheint entwickelt aus dem berühmten, scharf pointierten Wort der kallimacheischen Phyllis (fr. 650) vv(Lvpis JriiuKp6(ov, &ätxs ^ivs (worüber auch Rohde, Gr. R. 473, 2). Bei dem Schlußwort denkt man an Hypsipyle, die in zuversichtlicher Hoffnung auf einen Sohn Jason ziehen läßt (Apollonios 1 900 ff.).

1) Das so oft (auch von Yirgil selbst schon ecl. YULL IS) variierte yXav%r} 6i öS tUxB ^dXaöaa nitqai x* iiXißaxoi hat sich Virgil nicht gescheut hier wieder zu bringen, weil er der Formel durch den Gegensatz zu der diva parens Venus eine neue Seite abgewann (ähnliche Stellen bei Riese zu CatuU 64, 166: Ariadne sagt das gleiche von Theseus). 869 nwn lumina flexit? Med. 469 (fiXovg xocxcb? ägdcavx' ivavxLov ßXinsiv^ aber anders gemeint. nusquctm tuta fides: Med. 481 S^xcoy q>Qovdri nlcxis. Die Klage über den mangelnden Beistand der Götter, ursprünglich durch die Straflosigkeit der Eidesverletzung begründet (ecl.VIll20 quamquam nil testibus Ulis pro feci ; vgl. Asklepiades A. P. V 62 xfi'a &* Zgma . . . ij dh d's&v o{> tpccvsQri dvvaiugy Med. 410 d-smp oifxixi nLcxig &(fccQ6\ ist hier anders gewendet^ weil an keinen Schwur appelliert werden konnte. Ihre Verdienste um Aeneas nennt Dido erst hier, wo sie keinen Dank mehr fordert; yorher hat sie nur mit si quid de te merui darauf hingedeutet. Medea 466 iaaad ae etc. Ariadne 149 certe ego te in medio versantem turbine leti eripui etc. Phyllis 107 quae tibi . . longis erroribus acto Threicios portua hospitiumque dedi etc. Das stolze neque te teneo . . », sequere Itcdxam im Ethos von A IIB (psvys ficfX*, sH rot ^libg iniacvxai' oiydi a' iyatys Xiaöoiuei sivsfi* ifisto nivetv. Die Drohung 384 ff. wie Apoll. III 704 rj öolye (piXoig ai)v nccial d-avovaa sUriv i| kl&f(o cxvyBQri ii,€x6nLcd'sv 'Egivvg^ mehr noch wie Medeas Worte IV 383 ^vijffato 6k %ai nox" iyi^lOy ax^hvy6\isvog nafidxoiat' digog 9i xoi lüov dvslgoig oCxotx' ilg iQBßog lUxanmvLov. in di as ndxgrig aixU* i^i 6* iXdastav 'Egivvtg. Übrigens sind in Virgils Worten die beiden Vorstellungen, daß die Toten auf Erden umgehen (es ist ja hier nicht an gewaltsamen Tod gedacht) und daß sie in der Unterwelt weilen (Lucr. IV 38 ne forte animas Acherunte reamur effugere aut umbras inter vivos voUtare)^ als miteinander verein- bar gedacht.

134 Drittes Kapitel. Dido.

fahrt betrieben werden, erliegt ihr Stolz und der Dichter laßt uns fühlen, was dies bei einer Dido heißt sie erniedrigt sich zu flehender Demut.^) Dies äußerste Mittel verfangt nicht: Aeneas bleibt unbewegt; grausige Vorzeichen aller Art treten ein, und Dido beschließt den Tod. Die Vorbereitungen dazu werden getroffen, Dido selbst legt Hand an; wir hören die qualenden Ge- danken, die in schlafloser Nacht, als die mühsam erkämpfte Buhe wieder dem Ansturm der Leidenschaften weicht, zu dem Ergebnis führen, daß der Tod wirklich der einzige Ausweg aus dem Leid ist: die Verzweiflung am Leben ist endgültig entschieden.*) Und nun,

1) So tief freilich wie die Ariadne der alezaudiinischen Dichtung (zu rekonstruieren aus Gat. 168 ff. und Nonnos Dionys. 46, 386 ff.), die, wenn nicht als Gattin, so als niedere Dienerin um den Geliebten sein möchte, er- niedrigt sich Dido nicht (die euripideische Medea demütigt sich nur aus Verstellung 810 ff.). Es begreift sich auch ohne weiteres, daß sie diesen letzten Versuch nicht in eigener Person xmtemimmt, sondern ihre Schwester schickt, und es ist wunderschön, wie sie sich selbst einzureden sucht, daß dieser Schritt Erfolg haben muß: solatn nam perfidus tue te coiere, areanos etiam tibi credere sensus; sola viri mollis aditus et tempora norcis. Daraus spricht zugleich das bittere Gefühl, daß sie selbst doch nie das ganze Ver- trauen des Aeneas besessen habe: wie hätte er sie sonst jetzt so grausam täuschen können? Wieviel an Didos Äußerung wahr ist, überl&ßt der Dichter unsrer eigenen Phantasie zu bestinmien : auch das ist dramatische Technik. Didos Schlußworte 486 quam fveniam) mihi cum dederit cumulatam morte remittam können nicht besagen, diftß Dido bereits den Entschluß gefaßt habe, zu sterben: dem widerspricht ja 434 dum mea me victam doceat fortuna dolere. Der Sinn der dunklen Worte wäre ganz klar, hätte Virgil geschrieben cumtdatam vel morte remittam; das meint er, glaube ich, auch so: ^ich will es überreich vergelten, und wäre es mit meinem Leben' wobei an eine bestimmte Situation, in der Aeneas (oder Anna, falls Virgil dederis schrieb) Didos Leben fordern könnte, gar nicht gedacht ist. Terenz, Phormio 165 ut mihi liceat tam diu quod amo frui, iam depecisci morte cupio.

2) Die Art, den Tod als unvermeidlich zu erweisen, stammt aus dem Aias, 487: ich bin allen verhaßt, Göttern, Hellenen, Troern. 7c6rsQa ngbs oHKOvg . . nsQ(b; xal nolov ö^^ia nocxQl driXcaffco q)avBlg TsXaiicbvt\ . . . &l3ia ^fjt' loav ngbg igv^ia Tgtixov . .; o-öx ian tccvxa xrJl. Dann Medea, freilich in anderem Zusammenhange, 491 yDy not tgccTtoo^ucL; nStsga ngbg natffbg doiLovg; . . ^ ngbg xaXaivag ÜBiuHdag; xrX. Danach Ariadne 177 nam quo ine referam? . . Idaeosne petam montes? . . an patris auocilium sperem? . .

X coniugis an fido consoler memet amore? Berühmt die rednerische Ver-

N. Wendung der Form durch C. Gracchus (Cic de or. DI 214) quo me miser

^conferam^ quo vertam? etc., der^ seltsam genug, an die zweifellos allgemein

bekannten Worte der ennianischen Medea (23 Ribb.) sich anlehnt: quo nunc

l«t« vortam? quod iter indpiam ingredi etc.

Innere und äußere Handlang. 135

beim Morgengrauen, sieht sie das Geschick vollzogen: die Flotte schwimmt. Der plötzliche Anblick entfacht sie zur höchsten Wut, die sich mit Rachsucht^) paart: was der rächenden Hand versagt ist, soll der Fluch bewirken. Aber so, in besinnungs- loser Wut, kann Dido nicht enden. Sie triSt die letzten Anstalten, sorgt, daß ihre Schwester die erste an ihrem Leichnam sei*), und besteigt den Scheiterhaufen; im Anblick der stummen Zeugen ihres kurzen Glücks findet sie die erhabene Ruhe des Verzichts und macht ihre Rechnung mit dem Leben ^): im vollen Bewußt -

1) Der Gedanke 604 ff. aus Apollon. IV 391 isro S' ijys vijcc xataq>Xi^at 6ia. t' ifinsda ndvxa xcaffcrai, iv ds nBOBlv airtri ftaXegm nvgL Die Ver- wünschungen (die Form si längere poi'tus . . necesse est et sie fata lovis pos- cunt . . at etc. nach i 622 &XX' et ol fiolgd iatt. tplXovs t* Idisiv %ai lniad'ai . , iriif is ntxtgiSa yatccv, diph xa%&g Txoi etc.) wieder zuerst im Aias 835 xaXob d* &Qüayohs . . . asiivag 'Egivvg ravv^ro^aff xtX. Bei ApoUonios in der Form der Drohang, s. o. Ariadne: 193 Eumenides . . huc huc adventate meca audüe quereUcts etc. Phyllis Scgäg ^B{Uvr\ xara ^ri^otp&vvog kavvrjv Scvaigst Apollod. epit. 6, 16. So tötet sich auch z. B. £uopi8 noXXa ngdtsgov Xv7[flQcc xatagaffafiivri tm cclxita xf^g av^Ltpogag Parthen. 31 (Phjlarch). Diese Verwünschungen der Sterbenden gehen stets in Erfüllung: auch Didos, nur daß, wie sie als Fluch meint, sich alles zum Guten wendet: auch das tadiU . . media inhumatus arena ('falle, ohne bestattet zu werden', der Text ist ganz in Ordnung, vgl. XI 372 nos . . inhumata infletctque turba stemamur campia, Liv. I 47, 1 RomiUum insepuUum perisse dictitans): denn der Leich- nam verschwindet ja, Aeneas wird pater Indiges.

2) Entsprechend dem Gebet des Aias (827), Zeus möge den Teukros zuerst seinen Leichnam finden lassen: nur daß bei Dido nicht Hie Sorge um die Bestattung, sondern der Wunsch, daß die geliebteste Hand ihr die Augen zudrücke, das Motiv ist.

3) incubuitque ioro 650, os impressa toro 650 : so stirbt Deianeira Trach. 917 iTtsp^ogova' äva xad-i^tu' iv iiiaotöt.v s'bvaazTigLoig . . 'w Xix^l x«^ wfi(pst* ifut, r6 Xombv ^9ri x^^Q^'^^* *''^^- Vorausgegangen war Euripides mit dem Abschied der Alkestis 175 d-uXanov slcjcsaovöa %a\ Xixog . . 'm Xiurgov, iv^a xag^ivn IXvc* iyA, x^^9' ' ^^ 7^9 H^^^Q"^ ^* ' dyfmXsaag di fie fiovriv ' %xX. An die letzten Worte hatte Virgil schon vorher 496 leetumque iugalem ^MO perii gedacht. Die Situation entspricht mehr der in den Trachinfe- rinnen: wie dort den Hjllos, so holt hier die rgoq>6g die Anna, 930 ögdaiisv ücifvfiv &iJupLnXijyi (paaydvrp . . . nsnXriyiiivriv iüam . . ferro conlapsam as- pieiunt comites ensemque cruore spumantem; dann die Klagen der Herbei- geeilten: 8%nu germanam amplexa fovebat cum gemitu, 988 nX^vgödsv nXsvgav nagalg fxsixo n6XX' dvaaxivav. Das großartige vixi et quem dederat cursum fartuna peregt et nunc magna mei sub terras ibit imago ist echt römischer Heroismus; der Gedanke vielleicht erzeugt durch den Gegensatz: Soph. Antig. 896 xdxstftt., ngiv /tot nolgav i^rjxstv ßiov^ vgl. 916 ff. Der Wunsch

136 Drittes Kapitel. Dido.

sein ihrer Größe und ihres tiefen Falles scheidet sie, tmyersöhnt mit ihrem Mörder, aber ausgesöhnt mit dem Tode.

Dies alles wird uns so lebendig wie möglich mit Didos eigenen Worten vorgeführt: der Dichter gibt nur den verbindenden Text Technisch beachtenswert ist, wie Virgil offenbar absichtlich die Einförmigkeit des Monologisierens zu vermeiden oder zu ver- schleiern gesucht hat. Das Geständnis ihrer Liebe macht sie der Schwester. Nach der Peripetie folgen die beiden Reden an Aeneas, dann der AuftTag an die Schwester. Die Erwägungen, die zum endgültigen Entschlüsse führen (534ff.), werden nicht als Monolog, sondern als Wiedergabe ihrer Gedanken (secum ita corde voltäat) eingeführt. Der Anblick der abfahrenden Schiffe versetzt sie in besinnungslose Wut, daß sie in irre Rufe ausbricht: sie kommt zu sich, entsetzt sich, daß sie allein, ohne Zuhörer, spricht: quid hquor? aut uhi mm? quae ment^m insania mutat? Der Monolog geht in das Gebet und die mandata über, die natur- gemäß laut gesprochen werden. Auch der letzte Monolog ist eingeleitet durch eine Anrede, diese nach dem Vorbild der Tragödie. ^)

Individuell ausgestaltete Frauencharaktere wird Virgil bei seinen hellenistischen Vorbildern kaum gefunden haben; auch seine Heldin ist in diesem Punkte mit ihren großen tragischen Vorbildern, mit Deianeira, Medea, Aias nicht zu vergleichen. Sie weist weder realistische Porträtzüge auf, die an ein lebendes Modell denken ließen, noch auch typische Eigenart; aber sie ist doch auch keineswegs nur das an sich ganz indifferente Instrument^ dem der Dichter pathetische Töne entlockte; der Hörer soll sich nicht nur für ihre Seelenzustände interessieren, sondern sich für ihre Person erwärmen, wie das der Dichter selbst unverkennbar getan hat. Dido ist, kurz gesagt, das Idealbild eines heroischen Weibes, wie es sich Virgil darstellte. So ist sie denn zu charakte-

si litora tantum etc., der sich hier ungezwungen ergibt, bekanntlich fast formelhaft: Med. 1 stO"' iatpsl' kgyovg fif) dtantdöd'aL 6Tid(pog K6Xx(ov ig ulccv rLvuvioig Sv^LitlTiyddttg^ vgl. Apoll. IV 32. Ariadne 171 utinam ne . . Gnosia Cecropiae tetigissent litora pupjpes^ wörtlich von Virgil nachgeahmt. Sabbadinis Behauptung, die Reden 607 629 und 661—662 könnten nicht beide urspriinglich sein, weil sie von verschiedenen Stimmungen beherrscht würden, gehört zu dem oben S. 131, 1 Besprochenen.

1) Über den Monolog in der Aeneis s. unten den Abschnitt 'Rede'.

Monologe. Charakter. 137

ieren vor allem negativ: es ist ferngehalten von ihrer Person alles Idchenhaft Naive^ Zaghafte^); alles Niedrige (das so viele ovidische aaengestalten herunterzieht), alles Tückische, Gehässige und bar- risch Rohe (der Gedanke, Aeneas für seine Untreue leibhaftig

strafen, kommt ihr erst in den Delirien des Wahnsinns'); aber ch das Klagen und Jammern, das sentimentale Schwelgen im ^enen Unglück, unnützes Bedauern, daß es so und nicht anders kommen, all diese Inventarstücke der tragischen Monodien und Qenistischen Rührszenen sind aufs äußerste sparsam verwendet*); r einmal, wie wir sahen, vergißt Dido ihren Stolz. Diesen gativen Kennzeichen steht gegenüber das, was Virgil als echt nigliche Gesinnung erschien: die höchste humanüas in Ver- idung mit der magnanimitas, die aufs glänzendste in den letzten orten zutage tritt. Aber im übrigen ist darauf verzichtet LS für einen nach Charakteristik strebenden Dichter nahege- hen hätte , etwa die männliche Entschlossenheit und Tatkraft, ) sie nach Sjchaeus' Tode bewies^ zu einer qualit^ dominante

machen, die auch im Unglück standhielte; oder andererseits re humanüas nach modernen^) ethischen Anschauungen zu einer n Feind beschämenden, verzeihenden Milde zu steigern; oder dlich das Bewußtsein der königlichen Pflicht, an welches Anna peUierte, zum Mittelpunkt ihres Daseins zu machen, vor dem aließlich alles andere zurückträte während wir jetzt mit ligem Befremden bei der Sterbenden jede Sorge für die Zukunft rer Stadt vermissen.

Diesem Verzicht auf ausgeprägte Charakterisierung entspricht

denn auch, wenn Didos freiwilliger Tod nicht aus einem Motiv i^leitet, sondern aUe erdenklichen Motive ^usammengehäuft »rden; der Schmerz um den Verlust des Geliebten tritt hierbei ineswegs dominierend heraus. Hier steht Virgil, bewußt oder bewußt, unter dem Banne der Tradition. Denn seltsam genug,

häufig Dichter, namentlich hellenistischer Zeit, den Selbstmord

1) Das voltum demissa I 561 (nach Hypsipyle iyxUdbv öaös ßaXovaa 0, ebenso Medea III 1008) kann daher als Fehlgriff erscheinen.

2) S. dazu oben S. 124, 2.

8) Klagen 548—561. Dann die Anwandlung von Reue 596 ff.

4) Cic. de off. I 25, 88 nee vero audiendi qui graviter inimicis irascen- m putabuni idque magnanimi et fortis viri esse censebunt; nihil enim lau- büfWy nihil magno U praeclaro viro dignius placabüitate atque dementia.

138 Drittes Kapitel. Dido.

unglücklich liebender Jünglinge erzählt haben ^), und so häufig andererseits in griechischer Sage und Dichtung die treue Gattin dem Gatten freiwillig in den Tod nachfolgt*): so selten sind die Beispiele daflir^ daß sich Mädchen oder Frauen lediglich wegen unerwiderter oder getäuschter Liebe ein Leids antun.*) Vielmehr wirkt in den allermeisten Fällen die Scham über irgendeine frevelhafbe oder erniedrigende Tat mit: die drohende Schande oder das Grauen vor der eigenen Tat macht das Leben unerträg- lich/) Wir sahen, daß auch Virgil ein solches Motiv einfBhrt: non servata fides cineri promissa Sychaei ist der Gedanke, der ihren Entschluß besiegelt. Aber nicht genug damit: es kommt hinzu die Scham über die erlittene Kränkung (500 ff.), der Ver- lust ihres höchsten Rumestitels, ihrer Keuschheit (322); die Furcht vor der Verlassenheit der rings von Feinden Umgebenen, die nun auch das Vertrauen ihrer eigenen Untertanen verlorra hat (320ff., 534 ff.); die gräßlichen Vorzeichen aller Art, die diese Furcht verstärken (452 ff.); der Ruf des verstorbenen Gatten (457 ff). All dies stürmt zuhauf in sie ein, und diesem vereinigten An- sturm, nicht einem einzigen Leidgefühle erliegt sie. Hat Virgil auch hier nur der Reichtum der Motive gelockt? Oder meinte er, nicht genug Gründe häufen zu können, die einem Helden- weibe das Leben entwerten? Auch hier hat Virgil dafllr ge- sorgt, daß der Mannigfaltigkeit nicht die Einheit fehle: ist es doch eine Tat, aus der all dies Unheil sprießt, ein Mann, der diese Tat statt zum Segen, zum Verderben gewendet hat. Wir

1) Arkeophron b. Hermesianax (Antonin. Lib. 39), Iphis (Oyid, Metam. XIV 61)6 ff.), der theokritische igaatrii (XXIII, vgl. die Drohung III 26, da- nach Virg., ecl. VIII 69), Narkissos (Konon 24). Diese stellt Rohde, Gr. R. 80 fg. zusammen. Vgl dazu die Selbstmorde, ausgeführte und beabsichtigte, im Roman, Hermes XXXIV 497, 2.

2) Rohde, Gr. R. 111, 2.

S) So vielleicht Phyllis bei Kallimacbos, obwohl auch hier als Neben- motiv das Gefühl der unerträglichen Kränkung mitgewirkt zu haben scheint: et amoris impatientia et quod se spretam esse credebat Serv., ecl. V 10.

4) Ich führe aus der Masse der Beispiele einige an: Oinone hat Paris in den Tod gehen lassen. Byblis (Parthen. 11 [ApoUonios Rhod.?) inb xov ndd'ovg ft^ äviBiiivri, nQog dh xofl äoTiovöa altlcc yeyovivai Ka^vtü r!^ &7caXXccytjg, Eleoboia: ivvoi\9^flca mg dstvbv Hgyov ^dfdpaxsi, »al aHmg dh %atoiiivri öfpodgä l^cort Parthen. 15. Euopis: öiä tb äiog Tuä aUfxvptjif Parthen. 31 (Phylarchos).

MoÜve und Yorbeieitang des Selbstmords. 139

bewundern die Eonst, mit der die weitverzweigten Folgen dieser Tat eine nach der andern uns anschaulich gemacht werden, statt uns in langatmiger Aufzählung zu ermüden. Und eben diese Kunst, die dorch eine einzige Tat herbeigeführte Situation sich sozusi^en in natürlichem Wachstum nach allen Seiten entfalten zn lassen, diese Kunst zwingt dem Leser unvermerkt das Gefühl der Notwendigkeit des tragischen Schlusses auf, wie es bei andern grofien Dichtem aus den Voraussetzungen eines tief angelegten und individuell gezeichneten Charakters herauswächst.

Es bleibt noch die Art zu betrachten, wie Dido ihren Tod vorbereitet und ins Werk setzt. Das Schlußbild stand dem Dichter aus der Überlieferung vor Augen ^): Dido tötet sich mit dem Sehwert auf dem Scheiterhaufen, den sie unter dem Vorwande hat errichten lassen, sie wolle durch ein Totenopfer die alte Verpflich- tong losen {6xrjil;a^vri teleriiv ngbg avukvöiv oqx(dv iTCLtekeösiv

1) Man kann fragen, wozu überhaupt die komplizierten Todetvorberei- tongen nötig sind: konnte Dido nicht einfach wie Deianeira auf dem lectus imgalis sitzend das Schwert sich ins Herz stoßen? Die gleiche Frage kann man an die historische Dido richten, und wird für sie antworten müssen: üe wollte sterben nicht im Versteck und der Einsamkeit, als hätte sie sich deasen zu sch&men, sondern das gesamte Volk sollte Zeuge dessen sein, wie Dido Treue zu halten versteht. Dieses (mutmaßliche) Motiv fällt für Tirgil fort: der Scheiterhaufen wird penetrali in sede insgeheim erdichtet, auch ist hier der freiwillige Tod nichts eben Rühmliches. So meine ich denn, das überlieferte ergreifende Bild, Dido sich mit allem Pomp des groß- artigen Totenopfers selbst dem Hades darbringend, haftete in Yirgils Phantasie, und erst nachträglich fand er die Vorstellungen hinzu, die das CtewoUte motivieren, und die das Wort sie sie iuvat ire suh umbras zu- sammenfaßt: das Feuer soll zugleich mit ihr alle exuviae des Treulosen ver- sehren, und (da das Haus Didos natürlich auf der Burg steht) der Fliehende wird vom hohen Meer die Flammen aufsteigen sehen, secum feret omina mortis. Ob auch die andere Vorstellung noch hineinspielt, daß der Ver- nichtung der effigies des Feindes wirklich magische Kraft innewohne? Sabbadini schließt von seinem ^ersten Entwurf^ alles auf die magische Zeremonie Bezügliche (474—503, 609 521) aus, weil Anna ursprünglich bei der Errichtung des Scheiterhaufens nicht beteiligt gewesen sei: ^ alles was 494 497 Dido der Anna aufträgt, führt sie dann 504—508 selbst aus'. Das trifit zunächst für die Hauptsache, die Errichtung des Scheiterhaufens, gar nicht zu; auch versteht sich von selbst, daß weder Dido noch Anna, sondern Diener auf Annas Geheiß den lectus iugalis hinaufstellen ; daß dann Dido mit den exuviae sich selbst zu schaffen macht, sie auf den toriis legt, ist selbst bei strengster Interpretation damit vereinbar, daß andere dies alles in^po9tterunt pyra.

140 Drittes Kapitel. Dido.

Tim. fr. 23, placatura viri manes inferiasque ante nu^ias missmu Justin. XVIII 6). Virgil brauchte nur einen anderen Yorwind einzusetzeD, der Bezug auf Aeueas haben mußte, nm glaublich si erscheinen. Er hat an Stelle des Totenopfen ein Zauberopfer ge- setzt; das ja ebenfalls den Unterirdischen gilt, sa daß es euift Vorbereitung sein konnte auf ihren eignen Hinabgang. ^) Aber die Magie hat für römische Begriffe etwas Subalternes, Unyomehmes; man kannte ja die alten Hexen und Hexenmeister, die namenÜidk mit Liebeszaubem ein unanständiges Gewerbe betrieben. So mufito es sich Virgil angelegen sein lassen, alles ins Große, Heroische n übertragen. Die maga ist keine gewöhnliche Hexe, sondern bt 'den Hesperidentempel bewacht' und den Drachen zu zahmen ge- wußt^); so darf man ihr zutrauen, daß sie auch die übrigen Eiufte, deren sie sich rühmt, besitzt: der Liebeszauber steht voran, aber dann folgen Wirkungen der Zaubermacht, die über die gewohnlieh

1) So denn doppelsinnig sacra lovi Stygio quae rite ineepta panui perficere est animtuf.

2) Die Vorstellung der Zauberin Medea, die den Drachen beim goIdsM Vließ allein unschädlich zu machen vermag, hat sich bei Virgil mit dff ebenfalls durch ApoUonios (IV 1377) wieder wachgerufenen Erinnerung tt die Hesperiden verschmolzen; an den dort geschilderten Tod dei DridM denkt Virgil bei den Praeteritis dabat und servabcU. Daß die luUtToHt mit dem einschläfernden Mohn, wie dem Kerberos (VI 421) so auch Sobkngn gegeben wird, die man unschädlich machen will (Herzog Herrn. XXIX 626), begreift sich; damit ist freilich Ribbecks Einwand noch nicht entkrftftet, daß dieser Drache, dessen Beruf es ist, wachsam zu sein, eben nicht ein- geschläfert werden darf. Aber es kam Virgil darauf an, die Macht der Priesterin zu zeigen: wie die maga des Tibull dicitur sola feros Heeatst perdomuisse canes (I 2, 52), so hat diese hier Gewalt über den Drachen, wie Medea. Von dieser war ja auch gesagt (Apoll. HI 632) nal noraito^g tsnfiif aqpap %tXaistvä geovrag äöXQu tb nocl ^iiivrii Ugfjs iniärias xsXsv^ovg ^^ sisien aquam fluviis et sidera rertere retro^ wobei die letzte Steigerung den SisB der Zauberei beeinträchtigt (es kann wohl vorkommen, daß durch gött- liche Macht der Gang der Zeit gehemmt wird man denke an Zoua bei Alkmene , aber schwerlich, daß er zurückgeschraubt wird); so ßigt auoh Virgil das mugire videhis terram et descendere montibus omoa hinia, was keine eigentliche Zauberpraktik ist, sondern nur der Zauberin die Wirkung von Hekates eigenem Kommen zuschreibt, VI 266 sub pedÜH» mugire solum et iuga coepta mouri süvamm. Man vergleiche mit dieier Schilderung, was Virgil selbst ecl. VIII sein Landmädchen von zauberhaften Wirkungen nennen ließ: die marsische SchlangenbeschwOrung, den 'Wer- wolf, die excantatio frugnm: das ist die bäuerliche Alltagszaubeiei im Gegensatz zur heroischen.

Magißchea Opfer. Tod. J41

snannten hinausgehen, die Vorstellungen einer fast göttlichen All- lacht erwecken. Und in einem entsprechenden Stil vollzieht sich uin die magische Zeremonie: hier genügt kein einfacher Altar, ondem ein Scheiterhaufen, von Altären umgeben, wird errichtet, licht nur die Zaubergöttin Hekate, sondern Erebus und Chaos irerden angerufen, dreihundert Götter der Tiefe Mröhnt ihr Mund'. Und so heilig ist das Opfer, daß Dido selbst es nicht verschmäht, ÜB Dienerin an ihm teilzunehmen.^) Im übrigen ergibt der magische Ritus gerade das, was Dido beabsichtigt: daß sie nära- fieh umgeben von allen Denkzeichen ihres kurzen Liebesglücks ■terben kann. '

Wie die Tragödie uns zumeist den Tod nicht sehen, sondern nur an dem Eindrucke teilnehmen läßt, den das Furchtbare auf die nächsten Angehörigen oder die Umgebung hervorbringt, so ftach VirgiL*) Nicht wir sehen Dido das Schwert gegen die Brust «ücken*) den entscheidenden Moment selbst übergeht Virgils Er- Ahlung : die Dienerinnen sehen sie zu Tode getroffen zusammen- brechen. Die Klage dröhnt durch die Hallen, wälzt sich fort wie 8ÜL reißendes Feuer durch die Straßen, die Häuser der Stadt: wir empfinden, was der Tod einer Dido bedeutet, Annas Worte Sprechen es aus: exstinxti te mequCy soror, populumque patresque Sidonios urbemque tirnm})

J) Sie streut die mola ins Feuer (517): das tut bei Theokrit (11 18, tgl. Virg., ed. VIII 82) die Dienerin.

2) Das haben schon die alten Erklärer bemerkt, s. Servius z. St.

8) Das Schwert ist das des Aeneas: so tötet sich Aias mit Rektors Behwert. In ensem . . no7^ hos quaesitum muntis in usus 647 hat man [i. Coningion z. St.) einen unlösbaren Wiederspruch zu 607 exuvias ensemque rtUetum zu finden geglaubt, indem man scharfsinnig erwog, daß nach der Binen Stelle das Schwert dem Aeneas, nach der andern Dido 'gehöre', wo- bei noch das weitere Bedenken entstand, ob ein Schwert wohl auch ein [MUMendes Angebinde für eine Dame sei. Nun, eine juristisch gültige Schenkung wird wohl nicht stattgefunden haben, sondern Aeneas hat, auf Oidofl Bitten (qwiesitum\ sein Gewaffen im gemeinsamen Thalamus aufgehängt, jcleichBam als Pfand seiner Liebe (ecl. VIII 94) kein deutlicheres Symbol 1er g&nalichen Ergebung eines Kriegsmannes ist denkbar und hat dafür ron Dido als Gegengabe eine Prunkwaffe und ein tyrisches Prunkgewand »rhalten (261).

4) Aias 901 (Chor) xatins^pvsg &va^ tovös avvvavtav. Zum vorher- jiehenden 910 olo; &q* ceiiidxd'rig^ acpQaTitog (plXav iyo) i' 6 ituvra TKotpog 6

Viertes Kapitel. Wettspiele.

Die Leichenspiele für Patroklos geboren zu den anerkannten Hauptstücken der Ilias; die griechische Begeisterung für Agonistik würde für die Popularität des Gesanges gesorgt haben, auch wenn sein poetischer Wert geringer wäre, als er in Wirklichkeit ist Man wußte von mancher anderen altepischen Schilderung solcher Spiele; wie das späte Epos des Quintus und Nonnus diese Tradition wieder au&immt, so hat auch Virgil von yomherein eine den homerischen Leichenspielen analoge Schilderung für sein Gedieht geplant, das eine Schatzkammer aller epischen Kleinodien werden sollte; und hier ließ sich zugleich ein Stück nationalen Lebem^ die ludi funebreSy vordeutend wiedergeben. Spielgeber mußte Aeneas sein: das verstand sich von selbst. Er fragte sich weitor, wem die Spiele gelten sollten; sodann, welche Stelle die Schilde- rung im ganzen des Gedichts einnehmen, zu welchem Zeitpunkte und wo die Feier stattfinden sollte; endlich galt es, sie mit dem Fortgang der Handlung derart zu verknüpfen, daß sie, wenngleidi episodisch ausgestaltet, doch an sich als notwendiger Bestandteil, nicht als willkürlich angeklebtes Ornament erscheine. Wir ve^ mögen mit annähernder Sicherheit die Erwägungen zu rekonstru- ieren, die zu der uns vorliegenden Lösung der genannten Fragen führen mußten.

Die Person, der die Feier gilt, muß an sich von Bedeutung sein, im Gedicht selbst eine Rolle gespielt haben und dem Helden nahestehen: das sind Forderungen, die sich aus der Natur der Sache ergeben. Diese Bedingungen vereinigte für Virgil Anchises und nur er; ein Gefallener des Latinerkriegs etwa Pallas konnte schon deshalb nicht in Frage kommen, weil dann die zum Schlüsse drängende Folge der letzten Ereignisse aufs emp- findlichste gehemmt worden wäre. Anchises dagegen, der Stamm-

Einführung. 14$

Kter des Aeneadenliauses, gleich berühmt durch der Venus Liebe rie durch des Sohnes Rettungstat, war wohl geeignet^ den idealen littelpunkt einer großartigen Feier zu bilden^ die zugleich als leaes Zeugnis für die kindliche Pietät des Aeneas dienen konnte, kitlich mußte Virgil die Feier jedenfalls nach der karthagischen Episode ansetzen^ sobald er sich entschlossen hatte, die Ereignisse bis zur Ankunft in Sizilien durch Aeneas selbst in Karthago be- richten zu lassen. Er hätte sonst entweder jene Schilderung an die Spitze seines Werkes setzen müssen: dann wäre höchst un- l^ücklich gleich zu Anfang die Aufmerksamkeit vom Helden auf Nebenfiguren abgelenkt worden, und die Erzählung hätte, statt in lebhaft pathetischer Bewegung, in voller Ruhe eingesetzt; und welcher sorgfältige und technisch reife Dichter wird überhaupt mit einem Zwischenspiel beginnen? Ebensowenig aber hätte es Tiigil je in den Sinn kommen können, den Aeneas eiue auch nur einigermaßen ausführliche Schilderung dieser Spiele bei Dido Tortragen zu lassen: diese friedlichen Vergnügungen wären aus den Rahmen der casus und errores plump herausgefallen. Mit knappen Worten konnte Derartiges wohl erwähnt werden, wenn ■ich, wie bei den aktischen Spielen III 280 f. ein starkes sachlich- bistorisches Interesse daran knüpfte, keinesfalls eignete es sich flr detaiUierte Schilderung, am wenigsten aber am Schluß der Sr^hlung, an den es doch hätte treten müssen.^)

1) Um uns glauben zu lassen, daß Virgil je auch nur vorübergehend an einen solchen groben Mißgriff gedacht habe, bedürfte es jedenfalls er- beblich besserer Argumente, als sie (nach Conrads und Ribbeck) Eettner (Das Rbifte Buch d. Aen., Ztschr. f. d. Gynm. 1879, 641; bestritten von Schaper) vorgebracht hat, der wirklich meint, der wesentliche Inhalt von V Wett- ipiele und Schiffsbrand hätte ursprünglich als eigenes Buch den Schluß ron Aeneas* Erzählung gebildet und VI habe unmittelbar an lY ange- cbloBsen. Auch den Schiffsbrand konnte doch Aeneas nicht in der jetzigen ■orm, mit der wörtlichen Wiedergabe von Iris' Bede, erzählen das wäre in arger Verstoß gegen die sonst von ihm beobachtete Technik der Ich- Irz&hlung , und doch ist ein Wort der Iris (626 septima post Troiae ccidium tarn vertitur aestas verglichen mit I 755 nam te tarn septima portal . . «stas: vgl. darüber unten den Abschnitt 'Zeit und Ort') eines von Kettners auptargomenten für die ursprüngliche Stelle der Erzählung. Zwei andere edenken bat schon Plüß 160, 1. 165, 1 beseitigt. Daneben könnte noch w Folgende Eindruck machen: VI 338 heißt es von Palinurus qui Libyco mpet ewnu . . exciderat puppt. Das kann, sagt man, nur geschrieben sein, B Vizgil die Troer direkt von Karthago nach Cumä fahren lassen wollte.

144 Viertes Kapitel. Wettspiele.

Wenn nun Wettspiele zu Ehren des Anchises nach der kartha- gischen Episode gefeiert werden sollten, so ergab sich daraus die nicht eben willkommene Folgerung, daß es nicht wie in der Ilias eine wirkliche Leichenfeier am frischen Grabe, sondern eine Er- innerungsfeier sein mußte. Denn Anchises mußte gestorben sein, bevor Aeneas nach Karthago kam: in Gegenwart des Vaters wäre das Liebesabenteuer und das Vergessen der göttlichen Mission undenkbar. Nicht eben willkommen nenne ich diese Forderung, weil ja die Motivierung der Feier darunter notwendig litt; sie ist nun nicht mehr durch die Situation unmittelbar gegeben, auch nicht etwas Einzigartiges, sondern etwas, das beliebig oft wieder- kehren kann. Um nun diese Schwäche der Motivierung einiger- maßen auszugleichen, mußte die Feier wenigstens am Grabe selbst stattfinden, zu dem Aeneas ohne sein Zutun am Jahrestag der Bestattung zurückgeleitet wurde, so daß dies als Wink der Gotter erscheinen konnte (V 56).^) Dies Moment war bestimmend für

ohne den zweiten Aufenthalt in Sizilien. Ich meinesteils schließe ans der Fassung der Palinurusszene in VI mit Conrads, daß Virgil Y erst sp&ter geschrieben hat: nicht etwa, weil die Erzählung in Y und Yl sich nicht völlig deckt das würde an sich keinen Schluß auf die Chronologie er- lauben — , sondern weil der Bericht in YI gar nicht voraussetzt, daß in V bereits etwas von Palinurus' Tod erzählt ist; Yirgil hat YI geschrieben, ohne das zu berücksichtigen, was er in V würde zu erzählen haben, ganz wie er in YII und YIII die Prodigien wie etwas völlig Neues einfuhrt, ohne noch eine Vorbereitung ins Auge zu fassen, wie er sie später in III gegeben hat. Man muß sich nur gegenwärtig halten, daß Yirgil seine Bücher zunächst für die Einzelrezitation verfaßt hat. Wenn Yirgil, wie Sueton berichtet, Augustus und den Seinen zuerst die Bücher 11, lY und YI vorlas (p. 61, 17 R., vgl. Serv. zu VI 861), so existierte für die Hörer zwar der Aufenthalt in Libyen, nicht aber der in Sizilien: darum Libyco cunu, 1) Man bemerkt wohl, wie wichtig es vom künstlerischen Standpunkt ist, daß Aeneas wider seine ursprüngliche Absicht durch den Sturm ge- nötigt wird, Sizilien anzulaufen, und wie viel plumper es wäre, wenn er zu Beginn von V dem Palinurus sagte: 'richte den Lauf nach Drepanum; mich verlangt danach, meinem Vater Leichenspiele zu feiern'. Statt so mit der Tür ins Hau8 zu fallen, ist der Dichter auf allmähliche Einführung des Gedankens bedacht gewesen. Sachlich ist es ebenfalls wichtig, daß Aeneas, der gerade nach der langen Versäumnis seinem Ziele mit höchster Eile zu- streben muß, nicht freiwillig die Fahrt unterbricht. Endlich ist das Motiv des Seesturms so gut vorbereitet wie nur möglich: nach Didos Warnung vor den Winterstürmen und ihrer Prophezeiung der Gefahren des Meeres wäre es geradezu künstlerisch unzulässig, dem Aeneas eine glatte Fahrt bis Cumä zuzugestehen.

Motiyierang und Ort. 145

die Wahl des Ortes, an dem Anchises sterben sollte. Die Tradition schwankte: in Aineia, in Arkadien, in Epirus zeigte man sein Ghrab; römische Legende ließ ihn mit nach Latinm kommen und dort von Aeneas bestattet werden. Stellen wir uns vor, Virgil hätte den Tod nach Epirus verlegt; sachlich hätte sich dann alles so weiter entwickeln können, wie wir es jetzt lesen; die Totenfeier und die Erinnerungsspiele in Sizilien wären möglich geblieben sagt doch Aeneas selbst, daß er den Tag, wo er ihn auch verlebe, feierlich begehen würde; aber man sieht wohl, wieviel schwächer die Motivierung ausgefallen wäre. Es handelte sich also darum, einen Ort zu finden, den Aeneas mit einiger Wahrscheinlichkeit zweimal berühren konnte: geographisch lag die Westspitze Siziliens am bequemsten, imd für sie sprachen noch andere sehr wichtige Gründe. Ein beliebiger Küstenpunkt, etwa von Galabrien oder Lucanien, war künstlerisch unzulässig: der Ort mußte an sich von Bedeutung sein. Es war aber in der Tat von sämtlichen Stationen des Aeneas auf der Irrfahrt gen Westen die sizilianische für die Römer weitaus die wichtigste: die Aeneaslegende ist in die Anfänge der römischen Herrschaft in Sizilien verflochten, und das Heiligtum der lä(pQoöttri -^Iv^i'C^S auf dem Eryx, die Mutterstätte der römischen Venuskults, mußte gerade in augusteischer Zeit höchste Verehrung genießen. So ist es durchaus begreiflich, wenn Virgil, der die übrigen zahlreichen Gründungen des Aeneas teils verschweigt teils nur flüchtig be- rührt, alles Licht auf diesen einen Punkt, die Beziehungen zu Sizilien, die Gründung von Segesta und dem Eryxheiligtum sammelt. Aus der Tradition entnahm er den Anlaß zur Landung wie zur Gründung der Stadt, den Sturm und den Schiffsbrand ^); aus eigener Erfindung, soviel wir wissen, ließ er Aeneas durch ein neues Band an jene Stelle gefesselt sein, indem er das Grab des Anchises dorthin verlegte. So hatte er den Vorteil, die historisch wertvolle Tatsache des Aufenthalts und der Gründung mit der künstlerisch wertvollen Erfindung der Wettspiele durch die Einheit des Ortes und der Zeit zu einem Ganzen zusammen- zuschließen, statt beides zu isolieren. Aber das genügte ihm nicht: er suchte auch einen inneren Zusammenhang herzustellen und mußte dazu den von den troischen Frauen angelegten Schiffs-

1) Dionys. I 62. Heinse, VirgiU epiiohe Technik. 2. Aufl. 10

146 Viertes Kapitel. Wettspiele.

brand; der zu der Gründung den Anlaß gibt^ mit den Spielen organisch verbinden. Das ist ihm mit spielender Leichtigkeit gelungen. Um die Tat der Frauen zu ermöglichen^ .sind die Wettspiele so einzig geeignet^ daß man auf die gewiß nicht zutreffende Vermutung kommen könnte^ es sei dies ihr eigent- licher Zweck. Die Frauen müssen isoliert sein, nicht nur momentan, denn dann könnte der Brand sich nicht zur wirklichen Gefahr entwickeln. Die Männer müssen also insgesamt bei irgendeiner Beschäftigung vom Schiffslager femgehalten sein. Daß zu den Spielen alle Männer strömen, ist selbstrerständlich; durch das Trojaspiel ist schließlich auch die heranwachsende Jiigend be- seitigt; nur die Frauen bleiben zurück, wie es die gute Zucht verlangt.^) Das ist also ein Moment, für Junos Intrig^e und der Iris Sendung so geeignet wie vielleicht während der ganzen Dauer der Irrfahrten kein zweiter: jetzt oder nie muß der Versuch ge- macht werden, die Flotte der Troer zu zerstören und damit dem VoUzug des Fatums ein neues Hindernis zu bereiten.

2.

Die Schilderung der Spiele selbst ist für unsere Zwecke von hervorragender Wichtigkeit als offenlnindige Imitation, um nicht zu sagen Neubearbeitung eines homerischen Gedichts: dabei müssen sich Virgils eigene Kunstprinzipien mit Händen greifen lassen.

Als Ganzes betrachtet, unterscheidet sich die virgilische Schilderung von der homerischen zunächst durch die größere Ebenmäßigkeit der Komposition sowie durch die geringere Zahl der Kämpfe. Homer schildert acht, einen an den andern reihend, ohne daß ein künstlerisches Prinzip der Anordnung hierbei ersichtlich wäre, wodurch die Summe zur Einheit würde; als der letzte Kampf zu Ende ist, löst sich die Versammlung auf. Virgil be- schränkt sich auf die Hälfte der homerischen Zahl; als Abschluß folgt ein Spiel, das nicht eigentlich Wettkampf ist, der Troiae ludus. Bei Homer füllt der erste Agon, das Wettrennen, erheb- lich mehr Verse als alle folgenden zusammen; diese sind von ungleicher Ausführlichkeit, doch so, dass gegen Schluß die Neigung zur Kürze fast stetig wächst; das letzte Stück umfaßt nur 14 Verse

1) Augustus ließ wenigstens beim Faustkampf keine Zuschauerixmea zu: Sueton Aug. 49.

Komposition. Variation. 147

gegen die 389 des ersten. Bei Yirgil ist zwar der Anfangsagon auch am ausführlichsten berichtet^ seiner Wichtigkeit entsprechend; aber der dritte ist eben&Us recht erheblich; der zweite und vierte stehen diesen beiden mit etwa dem halben Umfang gegenüber^ so daß längere und kürzere Stücke zweimal abwechseln. So ge- winnt man nicht den Eindruck einer bloß zeitlichen Folge von vielen EinzeLstfickeU; sondern eines gegliederten Ganzen.^) Bei Homer sinkt das Interesse gegen den Schluß immer mehr; der letzte Kampf wird gar nicht mehr ausgefochten^ sondern Aga- memnon erhält als anerkannt bester Lanzenwerfer den Preis gegen- über Meriones ohne weiteres^ und wenn man auch annehmen darf, dass gerade um dieser Sonderstellung willen und weil die Aus- BÖhnung des Achill und Agamemnon endgültig darin besiegelt wird, dieses Stück an den Schluß gestellt ist, so ist doch dies Moment nicht zu künstlerischer Wirkung herausgearbeitet. Bei Virgil wird das vierte und letzte Stück gegenüber den früheren deutlich hervorgehoben durch das Wunderzeichen, das bei dem letzten Pfeilschusse eintritt: so steigt die Stimmung gerade am Schlüsse zur höchsten Höhe.

Der abschwächenden Wirkung öfterer Wiederholung hat Virgil auch sonst durch möglichste Differenzienmg der Kämpfe vorzu- beugen gesucht. Zunächst nach Art und Zahl der auftretenden Personen. Nur ein Zweikampf erfolgt; einer, an dem eine große Anzahl Genannter und Ungenannter sich beteiligt; vier Helden streben im ersten und letzten Spiele nach dem Preis, aber im ersten gemeinsam mit ihrer Schiffsmannschaft. Es sind Ahnherren ▼on römischen familiae Troianae und Führer von Schiffen, also die Ersten nächst Aeneas; es folgt beim Wettlauf die noch un- berühmte Jugend (pueri 349) und der Jüngste von allen ist Sieger; der Greis Entellus siegt im Faustkampf; der vierte Wettstreit, sonst dem ersten nahestehend, wird durch die Teilnahme des Acestes ausgezeichnet; den ludtis Troiae führen die noch nicht waffenfähigen Knaben und Jünglinge auf.

Die Einführung der einzelnen Kämpfe erfolgt bei Homer in stereotyper Weise: die Art des Kampfes wird genannt, dann die

1) Der Wettlauf, den Homer nach Faust- und Ringkampf einreiht, steht bei Virgil unter den Kämpfen zu Lande an erster Stelle: Leo, Dtsche. Litt. Ztg. 1903 p. 696, weist darauf hin, daß Virgil damit dem Vorbild der olympiachen xmd iBolympischen Spiele folgt.

10*

148 Viertes Kapitel. Wettspiele.

Preise; Acbilleus 6tfl d* ögd-bg xal fivdvv iv Iti^ysCouSiv iuxiv^ und nach der Rede: 6(pat\ mQto d* €%€i,ta oder tQvmo If aitixa und die Namen der Kämpfer: das wiederholt sich mit ge- ringf&gigen Abweichungen immer wieder; nur beim letzten Male ist auch diese Einleitung stark gekürzt. Yirgil yariiert auch hier nach Möglichkeit: bei 1 folgt auf die Nennung des Kampfs die Aufzählung der Bewerber; erst nach dem Kampf werden die Preise bei der Verteilung genannt. Bei 2 wird die Aufforderung des Aeneas zum Wettlauf berichtet; nach Nennung der Kämpfer be- zeichnet er in direkter Rede die Preise. Bei 8 fordert er in direkter Rede zum Faustkampf auf; dann Bericht über die Preise und ihre Bewerber. Bei 4 wird wieder die Aufforderung zum Kampf be- richtet; die Namen der Kämpfer erfahren wir bei der Auslosung der Reihenfolge; direkte Rede des Aeneas erst nach dem Aus- trage; von den Preisen wird nur der erste, und zwar von Aeneas selbst, beschrieben.

Auch der Ausgang der Kämpfe zeigt das gleiche Bestreben nach Variation: nur beim ersten verläuft alles ganz nach der Regel (wie in den meisten Fällen bei Homer); beim zweiten ist das Resultat infolge von Nisus* bedenklicher List zweifelhaft (wie beim homerischen Wagenrennen); beim dritten werden die Käm- pfenden vor der endgültigen Entscheidung getrennt (wie beim homerischen Ringkampf und floplomachie); beim letzten entscheidet wider Erwarten das göttliche Omen. Nur dies ist von Virgil neu hinzugetan; im übrigen zeigt sich sein künstlerisches Prinzip eben darin, dass er die von Homer gegebenen Möglichkeiten je einmal verwendet.

3.

Der Dichter von W erweist sich als Spätling schon durch seine der älteren epischen Poesie fremde Art des absichtsvollen Gharakterisierens. Denn das ist ja, nächst dem Technisch-agoni- stischen, sein Hauptaugenmerk: zu zeigen, wie die griechischen Helden ihre in ernster Lage häufig bewährte Art auch im fest- lichen Spiel an den Tag legen. Die scharfe Beleuchtung, in die hier durch kleine absichtliche Züge z. B. Odysseus und der jüngere Aias treten; die mit einer Fülle von Detail ausgeführte Chan^:te- ristik Achills; die Fingerzeige über den Rahmen der Ilias hinaus durch die Zeichnung von wichtigen Personen der Posthomerica,

Yaiiation. Personen. 149

irie des Epeios und yor allem des mit ganz besonderer Vorliebe behandelten, mit reifer Kunst plastisch gestalteten Antilochos aU das sind höchst reizvolle Eigentümlichkeiten dieses Dichters, deren Bedeutung für die Wirkung des ganzen Liedes einem ver- standnisTollen Leser wie Yirgil unmöglich entgehen konnte, die es aber dem Nachdichter Virgil aufs äußerste erschweren mußten, mit dem Vorbild gleichen Schritt zu halten. Der ungeheure Vor- sprang des homerischen Dichters lag darin, daß seine Personen dem Leser durchaus vertraut waren: er wiederholt bekannte Züge oder stattet bekannte Bilder mit neuen Zügen aus; in beiden Fallen ist er sicher, daß ihm der Hörer gern folgen wird. Virgil dagegen hat die Personen, an deren Wetteifer wir teilnehmen sollen, erst für diesen Zweck zu schaffen; während der Kämpfe selbst muß er nachholen, was der homerische Dichter bereits vor- fimd, und gelingt ihm das nicht, so hat er sein Spiel zum guten Teil verloren.

Die Führer der Schiffe werden als hervorragende Männer dadurch eingeführt, daß drei von ihnen ausdrücklich als Stamm- väter bekannter römischer Familien bezeichnet werden. Damit ist eine Brücke zur Gegenwart geschlagen, die dem römischen Leser den Vorgang näherbrachte, aber es ist für die persönliche Anschaulichkeit noch nichts gewonnen: denn, auch abgesehen von GyaS; dessen römische Nachkommen gar nicht erwähnt werden (als Stammvater der Oeganii kennt ihn Servius), so hat auch weder die gens Memmia noch die Cluentia in der römischen Ge- schichte eine so ausgeprägte Rolle gespielt, daß ihre Stammväter Ton der Phantasie ohne weiteres mit bestimmten Zügen aus- gestattet werden mußten, wie das etwa bei einem Ahnherrn der Fabü oder Appii der Fall gewesen wäre, und wie das möglicher- weise bei Sergestus als dem Vertreter der gens Sergia wirklich der Fall war: insofern L. Sergius Catilina in der Tat das so weit- aus bekannteste Glied dieser Familie war, daß wohl jeder Römer bei der Nennung des Namens sich an ihn erinnern mußte. Und es ist auch wohl denkbar, daß Virgil diese Erinnerung dadurch verstärken wollte, daß er gerade Sergestus in der Wut des Wett- eifers scheitern ließ: fwrens animi will er den kürzesten Weg um die Klippen einschlagen und rennt mit den Schiff auf den Fels.^)

1) Plüß, Neues Schweizer Mus. VI (1867) 41.

150 Viertes Kapitel. Wettspiele.

Wie hier^ so gibt auch sonst weniger die Qualität der Scbiffe als der Charakter der Führer den Ausschlag: GtjBS Imtte gesiegt^ ohne die Tollheit des Zorns, mit dem er seinen eigenen Steuer- mann über Bord wirft; Mnestheus, selbst von brennendem Ehr^ geiz getragen, weiß durch energische Worte seine Mannschaft zu den äußersten Anstrengungen anzufeuern und hätte dem Gloanthos^ der durch seine geschickte Steuerung, trotz der Mängel seines Schiffs, alle überholt hat, fast den Sieg entrissen; da weiß sich dieser, im letzten Augenblick, den Beistand der Meerdämonen zu yerschaffen, imd von ihnen geführt gleitet seine Scylla pfeilschnell in den Hafen. Beim homerischen Rennen gibt den Ausschlag in erster Linie, der Realität entsprechend, die Qualität der Rosse: in zweiter Linie, ebenfalls ganz der Wirklichkeit gemäß, steht der Zufall, oder, wie der Dichter das lieber ausdrückt, das Ein- greifen von Göttern, die jeder ihrem Schützling Gutes, dem Kon- kurrenten Übles antun; erst in dritter Linie steht der Charakter des Mannes selbst: der einzige Antilochos verdankt es seiner menschenkundigen Verwegenheit, daß er dem Menelaos zuvor- kommt. Bei Virgil steht dies dritte Moment durchaus im Vorder- grund: ein deutliches Beispiel für die so oft zu beobachtende Ver- innerlichung des Geschehens, die einen der wesentlichsten Unter- scheidungspunkte zwischen dem reflektierenden Nachdichter und der naiven Sinnlichkeit des Originals bildet. Dadurch wird aber dieser Wettkampf, statt die Darstellung eines einmaligen Gescheh- nisses zu bleiben, vielmehr typisch und gewinnt eine vorbildliche Bedeutung über den einmaligen Fall hinaus. Nicht als ob ich glaubte, daß Virgil das selbst beabsichtigt hat: er hat keine Alle- gorie, sondern eine einfache Erzählung geben wollen. Aber es ist die notwendige Eonsequenz seiner vom allgemein Moralischen ausgehenden Vorstellungsweise, daß auch das einzelne den Stempel der Allgemeinheit trägt, sich ganz zwanglos unter allgemeine Ge- sichtspunkte fügt. So ist denn in dieser Erzählung typisch die Wahrheit zum Ausdruck gebracht, daß die Leitenden und Herr- schenden durch unbesonnene blinde Verwegenheit und durch leiden- schaftliche Maßlosigkeit und Eigenwilligkeit scheitern; daß da- gegen besonnene und zähe Energie, verbunden mit geschickter Behandlimg der Untergebenen, vorwärts bringt, daß aber der höchste Preis dem zuteil wird, der dabei nicht vergißt, seinen Blick auf die göttliche Hilfe zu richten. Man braucht sich nur

Charaktere. 151

<Lie Feldherren und Staatsmänner der Republik^ wie sie nach fester l^radition Livius gezeichnet hat, zu vergegenwärtigen, um sich zu ^l>«rzeugen, wie echt römisch das alles gedacht ist.

Beim Wettlauf läßt der homerische Dichter wieder ent- ^lieiden den gottgesandten ^Zufall': Aias gleitet aus, so kommt ^iun Odysseus, zudem von Athena gestärkt, zuvor; daneben wieder '^d großes Gewicht auf die Fähigkeit der Kämpfer gelegt: Anti- lochos bleibt trotz Aias' Mißgeschick der letzte. Virgil über- nimmt den Fall, der wie bei Homer den vordersten Läufer be- bifit; aber wichtiger als der Fall selbst ist, was darauf folgt und wodurch Virgil wieder ein seelisches Moment den wirklichen Aus- schlag geben läßt: daß Nisus trotz des plötzlichen Unfalls der zarten Freundschaft mit dem jugendlichen Euryalus eingedenk ist und diesem durch ein (sportlich freilich recht bedenkliches) Manöver den Sieg sichert. Diese beiden Hauptfiguren greift Virgil aus den späteren Ereignissen heraus: das frühere, zum mindesten der Erfindung, wahrscheinlich auch der Ausführung nach, ist das gefährliche Wagnis und der gemeinsame Tod der beiden in Buch IX, dem nun hier ein heiter-gemütliches Vorspiel gegeben wird; das Verhältnis zwischen Ernst und Spiel ist umgekehrt wie bei Homer, für die Wirkung das ungünstigere. Euryalus wird als halbes Kind durch die lacrimae decorae, die ihm die Bestreitung seines Sieges entlockt (342) mit Worten remonstriert er nicht , prägnant bezeichnet; doch lassen die Halbverse 294 und 322 Termuten, daß Virgil hier noch mehr tun wollte. Nisus wird außer durch seine Leistimg im Lauf imd durch seinen Freund- schaftsdienst auch durch sein nachträgliches Verhalten als klug und lustig charakterisiert, ähnlich wie Antilochos, nur mit be- rechneterer Eimst der Rede.^)

Das Schema für die Personen des Faustkampfes hat Virgil übernommen: ein anerkannt trefflicher Kämpfer tritt auf, trotzig den Preis heischend; nur zögernd stellt sich ein Gegner. Die selbstbewußte Prahlerei des homerischen Epeios 'so Sprech' ich's aus und so wird sich's erfüllen: die Haut zerfetz' ich ihm

1) 358 ff. : in den scherzhaft gemeinten Worten verbirgt sich eine ganze An74ihl rhetorischer Erschleichungen: si tanta sunt praemia victis doch nicht allen et te lapsorum miseret aber nur der ohne eigene Schuld GrefaUenen; ni me qtuie Salium fortuna inimica tulisset doch in sehr ver- schiedener Weise.

152 Viertes Kapitel. Wettspiele.

und brech' ihm die Knochen' ist bei Virgil gemildert: Dare» ist weniger roh^ der virgilischen Auffassung von Schicklichkeit gemäß, verliert freilich dadurch an Anschaulichkeit. DafQr ist die Bolle des Gegners erheblich bereichert und psychologiscli^ vertieft : weder Ehrgeiz noch das Verlangen nach dem Preise be- wegt den Greis Entellus zu dem scheinbar ungleichen Kampf; er wird durch Acestes' Worte und sein eigenes Gefühl bei der Ehre gefaßt; im Namen des göttlichen Eryx, dessen Schüler er sich zu sein rühmt, und um nicht selbst als Tj^ger erlogenen Rahms^ als eitler Prahler dazustehn, auch als Vertreter Siziliens gegen- über Troia (417) wagt er den Strauß mit dem rüstigeren Gegner; ein erster Mißerfolg reizt ihn noch mehr, die Scham und das Bewußtsein dessen, was er war und noch ist (pudor et ccnscia virtus 455) verdoppelt seine Kraft und führt ihn zum gUmzen- den Sieg.

Beim letzten Gange verzichtet Virgil auf Charakteristisches. Mnestheus, von der Regatta her dem Leser schon bekannt, tritt wieder auf; Eurytion wird als der Bruder des Pandarus zu Bekanntem in Beziehung gesetzt; Hippocoon ist bloßer Name; die Aufmerksamkeit des Lesers wird aber vor allen anderen erregt durch Acestes' Auftreten: mit ihm wird sich, das ist nach Virgils Kunstgesetzen von vornherein zu erwarten, etwas Besonderes ereignen; und in der Tat gipfelt ja in seinem Schusse nicht nur dieser Abschnitt, sondern die Gesamtheit der Wett- kämpfe. —

Die Verteilung der Personen auf die einzelnen Wettkämpfe ist nicht gleichgültig. Augustus hat, wie man weiß, der Agonistik in jeder Form seine lebhafteste Teilnahme zugewandt, wobei außer seiner persönlichen Neigung und dem Wunsch, die Schaulust des Volkes zu befriedigen, wohl auch idealere Momente mitspielten. Er hat unverkennbar den Versuch gemacht, etwas von dem alten griechischen Geiste edler Agonistik wieder aufleben zu lassen. Er hat, freilich auf griechischem Boden, einen neuen 'heiligen* Wettkampf, die actischen Spiele begründet und damit die An- regung zur Einrichtung ständiger Spiele in einer Menge von Provinzstädten gegeben (Suet. Aug. 59). In Rom selbst wurden die dem actischen Apoll geweihten ludi pro scUute divi AugusH seit dem J. 28 periodisch gefeiert und, wie bei den großen grie- chischen Spielen, traten edle Männer und Knaben als Wettfehrer

Personen. 155

in. der Arena auf;^) auch sonst hat Augastus Jünglinge von hohem A^del im Circns Wagen und Pferde lenken oder an Tierkampfen »ich beteiligen lassen (Suet. Aug. 43); so fuhren bei den Spielen, 4ie er zur Einweihung des Gäsartempels i. J. 29 gab, Patrizier ^lö die Wette (Dio LI 22). Das mochte dem Kaiser ebenso PHsri decorique moris erscheinen, wie das öflFentliche Auftreten der adeligen Jugend im Trojaspiel (Suet. Aug. 43): sollten doch ^lach gelehrter Tradition in alter Zeit die Bürger selbst am Wett- kampf im Circus sich beteiligt haben (Phin. n. h. XXI 7). Aber Qn?ertri^lich mit römischen Begriffen der Schicklichkeit blieb vor- erst noch das Auftreten vornehmer Männer im athletischen Agon: Senatsbeschlüsse gegen das Auftreten von Senatoren nnd Rittern als Schauspieler, ja als Gladiatoren mußten schon unter Augustus gefekBt werden; sie scheinen nicht nötig gewesen zu sein, um Vor- nehme davon abzuhalten, sich nackt vor dem Pöbel zu prügeln.*) Diese Verhältnisse spiegeln sich bei Virgil wieder: wenn schon das öffentliche Wagenlenken den Vornehmen nicht entehrt, so ist es am so weniger anstößig, wenn die Ahnherren römischer Ge- schlechter mit ihren Schiffen um den Preis der Schnelligkeit ringen. Aber es wäre Virgil wohl nicht eingefallen, Mnestheus und Sergestus als Faustkämpfer einzuführen. Vielmehr wird hier geflissentlich jede mögliche historische Beziehung femgehalten und das mythische Element stark betont: Dares hat schon bei den Leichenspielen des Hektor den Bebryker Butes besiegt; Entellus hat seine Kunst vom vergöttlichten Eryx, der mit Hercules am sizilischen Strande gekämpft hat; auch die aus sieben Rindshäuten gefertigten Faustriemen (404) sollen den Eindruck verstärken, daß hier eine halbgöttliche Vorzeit in die Gegenwart hineinragt. Ebenso- wenig wie der Faustkampf hätte der Wettlauf hochstehenden Männern geziemt: aber der Jugend, auch der vornehmen Jugend (regius egregia Priami de stirpe Diores) ist es keine Schande, vor den Augen aller ihre Eräfbe im Lauf zu messen ; das hat Augustus

1) Das war schon bei Sullas Siegesfeier geschehen, Ascon. p. 79. 83 K. S., aber es scheint mit römischer Sitte damals noch so nnverträg- lich, da6 Cicero seinen Mitbewerber Antonius wegen der Beteiligung an jenen Spielen bitter verhöhnen kann, or. in toga cand. fr. 14. 26. M.

%) Tac. a. XrV 20 quid superesse, nisi ut corpora quoque nudent (pro- eeres Bomani) et caestus CLdsumant ewque pugnas pro tnilitia et artnis meäi- tentyr?

154 Viertes Kapitel. Wettspiele.

selbst gelegentlich nicht nur geschehen lassen, sondern selbst ver- anlaßt (Suet. Aug. 43). Die Jugend kann auch einen spaßhaften Unfall^ wie er dem Nisus begegnet, leicht nehmen und sich aus- lachen lassen: bei einem Helden, der dem homerischen Aias (W 774) an Rang gleichstände, hätte das Virgil und sein Publikum als Verstoß gegen die Würde empfunden. Dagegen mag an dem ganz mythischen Bogenschießen sich selbst der greise Göttersohn Acestes anstandslos beteiligen.

Mit ganz besonderer Zärtlichkeit weilt Virgils Blick auf dem jüngsten Nachwuchs des alten Troja, dem Troianum agmen der Altersgenossen des Julus. Ein heiteres, glänzendes Schauspiel, ein kindliches Vorspiel des ernsten Kampfes, für den diese Knaben heranreifen nichts könnte sich besser dazu eignen, die ernsten Spiele der Männer in einem friedlichen Akkord ausklingen zu lassen. Gewiß ist Virgil mit vollem Bewußtsein der Neigung des Augustus entgegengekommen, dessen Vorliebe für diesen lustis Troiae bekannt ist das Gedicht ist geschrieben, bevor wieder- holte Unfälle und die bitteren Klagen des nörgelnden Asinius PoUio, dem ein Enkel bei diesem Festreiten zu Schaden gekommen war, dem Kaiser die Freude an der Schaustellung verdarben, so daß sie weiterhin unterblieb (Suet. Aug. 43). Aber man empfindet, daß Virgil hier nicht bloß als Hofmann schreibt, sondern daß er selbst mit ganzer Seele bei dem Bilde ist, das er in so heiteren Farben malt. Das gilt nicht nur für dieses Bild: die gleiche Freude an der heranreifenden Jugend durchzieht die ganze Aeneis; sie ist einer der eigentümlichsten Züge an Virgils Persönlichkeit. Nicht nur Julus gewinnt hierbei: der Gedanke, Amor in seiner Gestalt auftreten zu lassen; seine kindliche Freude bei dem festlichen Jagdzug und der knabenhafte Wunsch, sich an richtigen wilden Tieren zu versuchen; seine überschwängliche Dankbarkeit gegen Nisus und Euryalus, die ihm den Vater holen wollen und denen er mit der Freigebigkeit eines Kindes, das Mond und Sterne ver- schenkt, alles erdenkbare Schöne verspricht; seine überquellende Kampflust, die durch des Gegners Hohnreden angefacht wird all das sind schön erfundene Züge, Virgil so eigen wie nicht vieles in seiner Charakteristik reifer Männer.^) Gewiß hat auch hier

1) Nach Neueren (die eich aber nicht auf Heyne berufen dürfen, der 111 ^ 857 seine Erörterung schließt absolvendus itc^ue in hoc Maro crimine

JulUB. 155

das Bestreben mitgespielt, dem Knaben eine möglichst herror- ragende Bolle zuzuweisen, der einst der Stammvater des julischen Greschlechts werden soUte, und diesem Bestreben dienen die Hin- weise auf Julus' Zukunft in Juppiters erster großer Verheißung (I 267 ff.).^) Aber es bleibt eben nicht bei der offiziellen Ver-

neglecti temporum ordinis) hätte sich freilich Yirgil von seinem Alter gar keine bestimmte Vorstellung gemacht, also wohl auch die ganze Gestalt nur in schemenhaften Umrissen gesehen. Beim Falle Trojas ist Ascanius ein kleiner Knabe, den seine Mutter wohl noch einmal emporheben kann, der aber doch schon eine ganze Strecke zu Fuß geht: also hat ihn sich Yirgil meinetwegen vier- bis fünfjährig gedacht. Wenn wir genau mit den sieben Jahren der Irrfahrt rechnen wollen, so ist er in Karthago elf- bis Bwölfj&hrig, in Latium ein Jahr älter. Was widerstreitet nun eigentlich dieser VorsteUung? Kann ein Knabe und Heroensohn dieses Alters nicht reiten? nicht mit auf die Jagd genommen werden (alles unter guter Aufsicht, das versteht sich beim Prinzen von selbst; auch erwähnt der Dichter ge- legentlich einen Pädagogen, V 546; IX 649)? nicht wünschen, es möchte ihm ein Eber in den Weg laufen? nicht auch^ wohlgemerkt mit göttlicher Gewährung, einen Feind erschießen? oder kann ihn eine Frau wie Dido nicht mehr anständiger Weise auf ihren Schoß ziehen? Ich gestehe in dem allen nichts zu pehen, was poetischer Wahrheit widerspräche. 'Aber wenn er in IX bei der Beratung der Führer zugegen ist und dem Boten selbst Auf- träge an seinen Vater mitgibt, so müßte er doch sicher über sein Alter Terständig sein.' Genau das sagt ja Yirgil selbst: ante annos animumque fferens curamque virilem. Yirgil hatte es erlebt, daß ein Neimzehnj ähriger die Erfahrensten und Reifsten an Besonnenheit imd praktischem Verstand beschämte.

1) Julus wird Alba Longa gründen und den Sitz der Herrschaft dort- hin übertragen, wo sie dreihundert Jahre bestehen wird gente sub Hect&rea, nicht etwa sub Juli gente. Als Stammvater der albanischen Könige er- scheint Julus bei Yirgil nirgends; freilich wird absichtlich auch nirgends ausdrücklich gesagt, daß er es nicht war. Yirgil folgt der Genealogie, die wir als die offizielle der augusteischen Zeit betrachten dürfen, da u. a. auch Yerrius Flaccus (Festus 340 M.) sie vertreten hat: danach stammen die albanischen Könige ab von Silvius, dem Sohne des Aeneas imd der Lavinia (YI 766 8üviu8 . . unde genus longa nostrum dominabitur Alba, unde natür- lich nicht zeitlich, sondern eng zu genus gehörig), nicht von Julus, der zwar Alba gründet, nicht aber die genealogisch zusammenhängende Reihe der albanischen Könige eröffnet. Daß und warum er (oder sein gleichnamiger Sohn) dem Silvius weichen muß und wie sie entschädigt werden, deutet Yirgil nicht an (abgesehen von dem versteckten Hinweis für Wissende XII 189 ff., 8. Norden, Neue Jahrb. YII [1901] 281) und braucht das nicht zu tun: wir wissen, wie sich die ofözielle Legende damit abfand (Schwegler R. G. I 837) ; far das GFedicht hatte diese einigermaßen künstliche Fiktion, bei der Julus immerhin verlieren mußte, keine Bedeutung, und wenn Julus in der Helden-

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herrlichung einer genealogischen Fiktion; die lebende Gestalt bat Virgils Liebe zur Jugend geschaffen.- und neben Julus, etwas älter und schon waffenfähig, aber doch yom ganzen Schmelz der ersten Jugend umflossen, stehen die dem Tode Verfallenen, Euryalus, Pallas und Lausus; der Schmerz über ihr vorzeitiges Dahinsinken ist wie ein Echo des großen und echten Schmerzes über des M. Claudius Marcellus frühen Tod; es sind Gestalten, deren gleichen Virgil nicht bei Homer und wohl auch anderwärts nicht gefunden hat. Es ist kein Zufall, daß Virgil auch hier mit Augustus sich berührt. Zahlreiche Züge aus des Kaisers Privatleben wie öffent- liche Maßnahmen deuten darauf hin, wie sehr das sittliche und körperliche Wohl der heranwachsenden Jugend ihm am Herzen lag, wie sehr er in der Jugend die Zukunft seines Lebenswerkes liebte.^) Man begreift das: aus den blutgedüngten Schlachtfeldern der Bürgerkriege wünschte er so leidenschaftlich ein neues Ge- schlecht aufsprießen zu sehen, das, rein von der Schuld der Väter^ die Früchte des jahrzehntelangen Mordens pflücken sollte: ein Sehneu, darum nicht weniger verehrungswürdig, weil die Zeit es nicht erfüllen sollte. Das ist die Stimmung, aus der heraus Virgil vor Zeiten schon sein Gebui*tstagsgedicht für des Konsul Pollio Söhnlein geschrieben hatte; das ist auch die Stimmung, die über der Schilderung des IttstiS Troiae liegt.

Aeneas selbst tritt weit weniger in den Vordergrund als Achilles; es fehlen die kleinen besonders charakteristischen Züge, durch die der homerische Dichter dafür gesorgt hat, daß der

schau von VI * totgeschwiegen ' wird (Grercke Nene Jahrbb. VII, 1901, 110), so geschieht dies, weil er neben Silvius schwerlich erwähnt werden konnte, ohne daß jene Verhältnisse wenigstens gestreift wurden: sachlich ist diea Verschweigen ja dadurch gerechtfertigt, daß Julus dem Vater in der Unter- welt nicht gezeigt werden kann und nicht gezeigt zu werden braucht. Ich bemerke übrigens, daß m. W. die Julier nirgends als Nachkommen der albanischen Könige, also auch des Bomulus, erscheinen (wer weiß von einem Sohn des Romulus?); Ovid, der die Silvier yon Julus abstammen läßt (Fast. IV 38 ff.), hat offenbar eine Nebenlinie angenommen, wie sein Ausdruck unde (sc. a lulo) domus Teucros Julia tangü avos lehrt; auch nennt er Romulus nie den Ahnherrn des Augustus, wozu er in den Fasten reichlich Gelegen- heit und in dem bekannten Zurückgehen des Augustus auf den Gründer Roms reichlich Anreiz hatte. In der Romuluslegende tritt ein Julier auf (Proculus); aber er ist mit den Königen nicht verwandt, sondern nur dem Romulus niatbg xal avv^^g Plut. Rom. 28.

1) Vgl. auch Norden a. a. 0. [e. vor. Anm.] 268.

Jagend. Aeneas. 157

Spielgeber selbst nicht dnrch die Kämpfenden in Schatten gestellt wird. Das unbefangene Rühmen seiner eigenen Rosse (276 ff.)^ die unverhohlene Freude über das von Antilochos ihm gespendete Lob, der beste Läufer zu sein (795 ff.), das Herausstreichen eines Ton ihm selbst ausgesetzten Preises (832 ff.), all das widerstrebt dem gebildeteren Schicklichkeitsgefühl der virgilischen Zeit, wie es dem unsem widerstreben würde. So rasch und entschieden, wie Achill, einen aufsteigenden Zank zu schlichten (492), findet Aeneas keine Gelegenheit: yirgilische Helden zanken sich nicht. Der Edelmut des Achilleus, der den früheren Gegner Agamemnon aufs ehrendste auszeichnet (890 ff.), konnte ebensowenig Ent- sprechendes finden, wie seine zarte Aufmerksamkeit gegen den Greis Nestor (616 ff.): an Stelle des letzteren tritt die freilich in ganz anderer Weise und von außen her motivierte Ehrung des Acestes. Die fürstliche Freigebigkeit des Aeneas strahlt in ähn- lichem Lichte; wie Achill treibt ihn sein Gerechtigkeitsgefühl, un- Yerschuldetes Unglück auszugleichen, ohne daß er doch, wie zu- nächst Achill (536), andere Rechte darüber vergißt: aber freilich entgeht damit wieder dem Dichter der charakteristische Zug, daß der Held berechtigten Einwänden augenblicklich weicht. Aeneas' Eingreifen beim Faustkampf (465), motiviert durch die Sorge, daß das Spiel in traurigen Ernst sich verwandele, verbindet das Eingreifen der für Aias fürchtenden Achäer bei der Hoplomachie (822) mit der Beendigung des Ringkampfes durch Achill, der ihn unentschieden sein läßt, damit man zu anderem übergehen könne (735). Man sieht: Virgil hat hier im wesentlichen das von Homer gegebene Material nur gesichtet, aufgenommen, was er brauchen konnte, zum Teil etwas anders pointiert, weggelassen, was sein Stoff oder sein Geschmack nicht zuließ. Das Resultat ist in diesem Falle, daß Aeneas weit ärmer dasteht als Achill.

4. Yirgil hat vielleicht selbst die Empfindung gehabt, daß seine Personen an sich nicht ganz die Teilnahme wecken können wie die homerischen, daß es ihm nicht völlig gelungen ist, die Vor- teile des homerischen Dichters, von denen wir oben sprachen, wettzumachen. Dafür hat ihn das Bewußtsein entschädigt, in der Komposition des Ganzen, vor allem aber in der Führung der Handlung sein Vorbild überbieten zu können. Man kann den

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Fortschritt, den Virgil anstrebte, kurz als das Erzielen von kon- zentrierter dramatischer Wirkung bezeichnen.

Bei Homer geht dem Wagenrennen vorauf die eingehende Instruktion des Antilochos durch Nestor. Sie charakterisiert den erfahrenen Alten und er&eut den agonistisch gebildeten Hörer, der den guten Rat zu würdigen weiß; für die weitere Handlung ist sie wertlos, denn weder hören wir, ob Antilochos den Rat zu be- folgen sucht, noch trifft auch nur die Voraussage Nestors ein, daß mit dem Umbiegen ums Ziel das Rennen entschieden sei (344 ff.). Wahrend des Rennens werden wir von den Fahrenden zu den harrenden Zuschauem geführt: das Intermezzo Aias-Ido- meneus. Beide Episoden hat Yirgil als störend empfunden und nicht nachgeahmt. Das Rennen selbst verläuft bei Homer in zwei Etappen: Diomedes überholt den Eumelos, der durch den Bruch des Jochs ausscheidet; und Antilochos überholt denMenelaos. Die beiden Paare werden nicht zusammengebracht: es ist, als würden zwei verschiedene Rennen geschildert. Der fünfte endlich^ Meriones, kommt gar nicht in Frage; es ist nichts von ihm zu berichten, als daß seine Rosse sehr langsam und er selbst der geringste unter den Wagenlenkem ist. Ganz anders Virgil. Fünf sind zu schwer zu übersehen; er beschränkt sich auf vier. Aber diese vier behalten wir bis an die entscheidende Stelle, die hier nun wirklich die meta ist, sämtlich im Auge; wir hören zunächst^ wie sie bei der Annäherung ans Ziel zueinander stehen: zuvorderst Gyas, dann Cloanthus, dann mit wechselndem Vorrang oder in gleicher Linie Mnestheus und Sergest. Nun kommt Cloanthus durch ein geschicktes Manöver dem Gyas zuvor, dieser verliert den Steuermann, so daß auch die beiden letzten Hoffnung schöpfen, ihn zu überholen: Sergest ist um keine ganze Schiffslänge vor- aus, Mnestheus, noch der letzte, strengt seine Ruderer aufs äußei-ste an: und ehe sie noch Gyas erreicht haben, läuft Sergest auf die Klippe, Mnestheus läßt nun erst ihn, dann auch Gyas hinter sich, nur Cloanthus ist ihm noch voraus. Nun beginnt der zweite Teil; zwei Schiffe sind vöUig distanziert, die beiden anderen haben den Rest miteinander auszumachen: der Eifer der Ruderer wie die Teilnahme der Zuschauer wächst. Bis zuletzt steigert sich die Spannung: kurz vor dem Hafeu erst fällt durch Cloanthus' Gelübde die Entscheidung Homer versetzt uns, wie wir sahen, für kurze Zeit von den Wagen zu den Tribünen der Zuschauer:

Führung der Handlang. 159

dieser Wechsel des Orts ist das gute Recht des Epikers. Bei Yirgil gehören die Zuschauer zum Bilde des Ganzen^ wir sollen sie über den Fahrenden nicht aus dem Auge verlieren: wie sie bei der Abfahrt, jeder seinem Fayoriten, zujauchzen, so hören wir bei der Hauptperipetie ihr fröhliches Lachen über des Steuermanns Mißgeschick, so begleitet ihr anfeuernder Zuruf den Mnestheus bei seinen letzten Anstrengungen und trifft ihr Hohn den ge- scheiterten Sergest, als er mit zerbrochenen Rudern endlich ein- läuft. Der Kunstgriff, den Leser dadurch lebhaft in die Situation hineinzuversetzen und die höchste ivägysia zu erreichen, daß die Wirkung eines Geschehens auf die Augenzeugen geschildert wird, dieser aus dem Drama erwachsene Kunstgriff begegnet uns hier nicht zum ersten Male.*) Auf eine kaum bemerkliche Abweichung Ton Homer sei noch hingewiesen, weil sie ebenfalls der lebendigen Anschauung des Vorgangs entspringt: bei Homer wird mit der Verteilung der Preise gewartet, bis alle da sind: es muß eine ge- raume Zeit verstreichen, ehe Eumelos, den zerbrochenen Wagen selbst ziehend, die andern am Ziele erreicht; aber dieser Zeitraum kommt nur durch nachträgliche Überlegung zum Bewußtsein, Homer deutet ihn höchstens durch jtavvötatog an. Sergestus dagegen läuft ein, nachdem der Sieger verkündet und bekränzt, die Preise an die Führer wie die Mannschaften verteilt sind, als schon alle, mit purpurnen Binden geschmückt, sich des Erworbenen freuen: so wird die Beschämung des Sergestus erst recht deutlich. Beim Wettlauf sind drei Preise ausgesetzt: drei Läufer sind's bei Homer, und wieder handelt es sich bei der Entscheidung nur um zwei, Aias und Odysseus; Antilochos bleibt hinten. Jene beiden sind einander fast gleichwertig, Odysseus bleibt dem Aias dicht auf den Fersen, wird schließlich mit Athenas Hilfe Sieger: also nur eine Entscheidung. Ihr entspricht bei Virgil Nisus* Fall: aber dieser führt noch eine zweite Entscheidung herbei, den Fall des Salius; und damit wird, ganz gegen Erwarten, der dritte Läufer Euryalus Sieger: in dem Klatschen und Beifallsrufen

1) Der Zuschauer wird auch im folgenden gedacht, beim Wettlauf (838. 843), beim Faustkampf (369. 385. 450), beim Bogenschießen (491. 529), endlich beim Trojaspiel (555. 575 fg.): durchgängig wird so das anschau- liche Bild der bewegten und teilnehmenden Zuschauermassen festgehalten. Darin ist aber Virgil über das homerische Vorbild nicht hinausgegangen: s. W 728. 766. 784. 816. 822. 840. 847. 869. 881.

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der Zuschauer (338) drückt sich ihre freudige Überraschung ai Also statt einer Entscheidung zwischen zweien, die so oder fallen mußte, eine unvorhergesehene Peripetie.

Einen Faustkampf hatten nach Homer wohl viele geschüdei wir haben die Darstellungen des berühmten Kampfes von Pol deukes mit Amykos bei ApoUonius (II 1 flF.) und Theokrit (XXL die auch Virgil beide gekannt und in Einzelheiten benutzt hs Der homerische Bericht ist sehr einfach. Daß Epeios siegt, d voller Zuversicht sofort alle andern herausfordert, und nie Euryalos, dem Diomedes erst Mut machen muß, entspricht de natürlichen Lauf der Dinge. Der Kampf wird nur ganz ku beschrieben; ein rascher Schlag, mit dem Epeios dem Gegn zuvorkommt, macht ihm ein Ende. Apollonius ist sehr viel au führlicher, aber auf technische Einzelheiten laßt er sich stand solchen Dingen recht fern wenig ein; die Vorbereitung^ zum Kampf nehmen mehr Raum ein als der Kampf selbst; ui in dessen Schilderung wieder spielen Gleichnisse mangels an Tc Sachen eine sehr bedeutende Rolle. Immerhin hat er den Au gang des Kampfes eigentümlich gestaltet: Poly deukes weicht eine gewaltigen Hiebe geschickt aus imd triflFt sofort den Gegner, d nun ohne Deckung ist, mit solcher Kraft an die Schläfe, daß zusammenbricht. Theokrit hat es besser zu machen gemein wenn man einmal einen Faustkampf beschreibt, so soll es am ein richtiger Kampf sein, wie man ihn im Stadion sieht, i werden denn die verschiedenen Treffer und Finten, das Blr spucken und Hautabschälen usf mit voller technischer Einsic beschrieben, und der Schlußmatch, der wie bei Apollonius verläu in alle Einzelheiten getreu wie in einem Sportbericht Vorgefühl Virgil hätte das, nachdem es einmal vorlag, mit leichter Mü] nachbilden können; er hat darauf verzichtet und es vorgezoge mehr in der Art des Apollonius ein zusammenfassendes Bild vo Verlauf des Ganzen zu entwerfen, wobei die Haltung der beid< Kämpfer charakteristisch unterschieden wird. Virgil aber eigen ui von all jenen Vorbildern abweichend ist wieder die Einführui einer unerwarteten Peripetie, die aus der einfachen geraden Lir eine gebrochene macht, ein dramatisches Moment in die Erzählui einführt. Entellus, der im Gefühl seiner geringeren Beweglichk( bisher auf einem Fleck stehend den Angriffen des raschen Gegne standgehalten hat, wird nach einem Fehlschlag, der ihn ;

Führung der Handlung. 161

Falle gebracht hat^ plötzlich ein ganz anderer: mit unwidersteh- licher Wucht; von Scham und Zorn aufs äußerste gereizt^ treibt er nun mit einem Hagel von Schlägen den Gegner vor sich her und hatte ihm ohne das Eingreifen des Aeneas arges Leid an- getan. Man mag zweifeln, ob es im wirklichen Kampf je vor- kommt, daß ein zunächst ebenbürtiger, ja in manchem Betracht überlegener Kämpfer wie Dares plötzlich der neu erwachten Wut des Gegners gänzlich hilflos und wehrlos anheimfällt: Virgil hat danach nicht gefragt; ihm lag an der Steigerung, und zwar verlegt er auch hier die Entscheidung nicht in die größere Muskel- kraft, sondern in die Psyche des Entellus.

Solches psychologische Moment fehlt beim letzten Wettstreit, dem Bogenschießen: aber auch diese Erzählung weist charakte- ristische Merkmale virgilischer Kunst auf. Bei Homer steht die hübsche Geschichte von zwei Schützen: der erste fehlt die Taube, aber der Zufall läßt ihn den Faden durchschneiden, der sie fesselt . was an sich als beabsichtigter Erfolg ja der größere wäre, nun aber doch Fehlschuß bleibt; schon glaubt man die Taube befreit, den Wettkampf unentschieden: aber mit raschem, sicherem Schuß trifft der zweite die frei in den Lüften schwebende. Der homerische Dichter hat das wohl nicht selbst erfunden, denn er verdirbt die Geschichte, indem er Achill schon von vornherein das sehr unwahrscheinliche Treffen des Fadens als Bedingung für den zweiten Preis hinstellen läßt: das hat Virgil mit gutem Be- dacht beseitigt.*) Im übrigen überbietet er sein Vorbild wieder durch eine durchgeführte Steigerung*) er schickt einen dritten Schuß voraus, der nur den Mastbaum trifft, und läßt einen vierten folgen, der, scheinbar bloßer Paradeschuß, nun ganz unerwartet den höchsten Erfolg, eine durch göttliches Wunder verliehene Auszeichnung bringt darüber gleich mehr.

1) Vielleicht durch die Homerkritik auf die Spur geleitet; die Scholien sagen zu ^^ 857 ij diitXfi Zxi ßiXtiov r^v rovxo [li] ngoXiyBaO'oti inb /^^'^^^^'^^t &^BQ nQoyiyv6ia%ovxog xh &nb xv%r\g aviißriao^isvov.

2) Nach Georgii, Die antike Aeneiskritik 269, hätte Virgil sein Vor- bild nur in der Zahl, vier statt zwei, überbieten wollen: ^da bleibt nun freilich f£Lr den ersten nichts als ein Fehlschuß und für den vierten ein LnftschuB nebst Wunderzeichen!' Als ob die Zahl hier das Wesentliche wäre und nicht vielmehr die Steigerung von eins über zwei zu drei sowie das unerwartete Überbieten von drei durch vier. Daß Acestes in die Luft schießt, ostentans artem arcumque sonantem^ nennt Georgii lächerlich, kin-

H«lnie, YirgÜB epische Technik. 2. Aufl. 11

162 Viertes Kapitel. Wettspiele.

Durch dies Wunder wird erzielt, daß die Stimmung der Zu- schauer gerade am Schluß des ganzen Wettkampfs ihren Höhe- punkt erreicht; man empfindet, daß nun nicht etwa noch ein Ringkampf oder dergl. folgen könnte: das würde eine Abschwächung bedeuten. Wohl aber ist nach der höchsten Spannung künst- lerisch eine Lösung erforderlich, die durch eine Ablenkung der Anteilnahme nach neuer Richtung die hochgestauten Wellen sich verlaufen läßt: diesen künstlerischen Zweck verfolgt das Trojaspiel, das deshalb ohne jeden aufregenden Zwischenfall, zur ungetrübten Herzens- und Augenweide der Versammelten verlauft. Nun erst ist die Stimmung wieder so weit beruhigt, daß eine neue Erregung die Nachricht vom Schiffsbrande die volle Wirkung haben kann.

5.

Was jenes Wunder des brennenden Pfeiles bedeutet, ist frei- lich nicht ohne weiteres klar; neuerdings ist vielfach angenommen worden Wagners Deutung auf den Kometen, der im Jahre 43 während der von Octavian geleiteten Spiele der Venus Genitrix erschien imd vom Volke als der Stern des vergöttiichten Cäsar begrüßt wurde (Plin. n. h. II 94). Die Deutung ist mir aus mehreren Gründen wenig glaublich.^) Zunächst beschreibt Virgil unzweideutig ein über den Himmel schießendes und alsbald in den Lüften zerstiebendes Meteor; das hat mit dem sieben Tage hindurch erscheinenden und lange sichtbaren Kometen eine für den vorliegenden Zweck doch gar zu allgemeine Ähnlichkeit: gerade das Wesentliche dieser Erscheinung, daß ein neuer Stern am Himmel aufgeht und die Zahl der vorhandenen mehrt wie der neue Gott Cäsar die Zahl der Unsterblichen mehrte gerade dies Wesentliche fällt ja bei dem Meteor weg. Der Komet war

disch and absurd; aber gegen die Yergiliomastix , die die Möglichkeit des artem in vacuo aere ostentare bestritt, haben schon die alten Sachverstän- digen (j)€riti bei Serv.) bemerkt posse ex ipso sagittariorum gestu artis peri- tiam iudicari; gegen arcum sanantem hat selbst die Yergiliomastix nichts einzuwenden gehabt, denn jedes Kind weiß, daß man mit einem guten Bogen höher schießen kann als mit einem schlechten.

1) Bestritten hat sie Plüß, Virgil und die epische Kunst 126 fg.; seiner eigenen Deutung kann ich weder im einzelnen noch im ganzen zustimmen; was für ihn Nebensache ist, die Beziehung auf Acestes imd Sizilien (136 fg.), scheint mir (und ähnlich schon Bibbeck, Gesch. d. röm. Dichtung IE 96) einzig in Betracht zu kommen.

Schuß des Acestefl. 163

selbst ein himmlisches Zeichen: wann ist je ein Zeichen dnrch ein anderes vorher verkündet worden? Ja, wenn Virgil etwas jenem zeitgenössischen Ereignis Analoges dargestellt, also etwa die Erscheinung eines Sterns auf die Apotheose des Anchises hätte deuten lassen: dann wäre wohl die Beziehung und Yorausdeutung ohne weiteres verstanden worden. So aber müßte man glauben^ Virgil habe seine Meinung absichtlich verschleiert. Er nennt die Seher, die des Prodigiums späte Erfüllung prophezeien, terrifici, Schrecken erregend: und doch ist der Komet Cäsars kein Schrecknis gewesen. Er verknüpft das Zeichen mit Acestes imd läßt es durch Aeneas ausschließlich auf Acestes beziehen: und doch hat dieser mit dem Kometen Cäsars nicht das Geringste zu schafifen. Und das führt auf mein schwerstes Bedenken, ein Bedenken künst- lerischer Art. Wie zu der Person, mit der das Wunder aufs engste verknüpfk wird, so hat ein Hinweis auf die Apotheose Cäsars oder, allgemeiner gefaßt, die Erhöhung der Julier keinerlei innere Beziehung auch zu dem Zeitpunkt, an dem das Wunder erfolgt; es könnte zu jeder beliebigen anderen Zeit während des ganzen Verlaufs der Aeneis so ziemlich mit dem gleichen Rechte eintreten und wäre von Virgil hier nur unter dem rein äußer- lichen Vorwande eingeschmuggelt, daß jetzt, wie dann bei der Erfüllung, Spiele stattfinden; maßgebend wäre für ihn ausschließ- lich der formal -technische Gesichtspunkt gewesen, daß der Akt einen glänzenden Schlußeffekt haben muß. Eine Erfindung also, künstlerisch gleichwertig dem Sonnenaufgang in Mey erbeers Pro- pheten, an dem Richard Wagner so schön das Wesen des Opem- effekts demonstriert hat.

Eine Deutung, die Virgils künstlerischen Grundsätzen gerecht werden will, hat meines Erachtens auszugehen von der Person des Acestes und von dem Zeitpunkt des Wunders. Aeneas läßt die seltsame Erscheinung als gottgesandtes Zeichen gelten^) und handelt danach, indem er Acestes die Siegerehre zuteil werden laßt: te vcHmt rex magnus Olympi talibtis atispiciis exsortes ducere

1) nee mcucimm omen abnuit Aeneas: das besagt nicht etwa, daß er es auf rieh bezieht; wie die übdgen Zuschauer einen göttlichen Wink an- erkennen — darum superos precati so auch Aeneas; er hätte in seiner Eigenschaft als Spielgeber, sagen wir als der den Spielen Vorsitzende Magistrat, dem Zeichen offiziell keine Bedeutung beizumessen brauchen, es fSr den Ausgang des Wettkampfs ignorieren können.

!!•

164 Viertes Kapitel. Wettspiele.

honores. Wir sollen aber nicht nur an diese augenblickliche Wirkung, sondern an die Zukunft denken: auf sie verwies uns der Dichter in den ankündigenden Versen. Welche Bedeutung haben diese Spiele zunächst für Acestes? In unmittelbarem Zu- sammenhang mit den Spielen steht der Schiffsbrand; die unmittel- bare Folge des SchifFbrandes, von Jupiter gewollt imd befohlen (726. 747), ist Acestes* Königreich und Königswürde. Man pflegt zu wenig zu beachten, daß der in 746 fg. geschilderte Vorgang doch mehr bedeutet als bloß die Gründung einer neuen Stadt zu anderen Städten hinzu. Sehr geflissentlich hat Virgil das ganze Buch hindurch vermieden, Acestes als König zu bezeichnen, desgleichen vermieden, von einer Stadt des Acestes zu reden.^) Wir hören infolgedessen gar nicht, wo denn die Trojaner Unter- kunft finden: sie scheinen einfach am Strande zu kampieren (43). Acestes und die Seinen sollen wir uns als Landvolk denken, das im Gebirg wohnend (35), höherer, städtischer Kultur entbehrt,*) und Acestes ist nicht ihr König sie bilden keinen Staat sondern ihresgleichen, wenn auch berühmt und durch seine göttliche Abstammung ausgezeichnet (38. 711). Nim aber wird eine Stadt gegründet und Acestes wird des neuen Reiches König: gaudd regno Troianus Acestes, Damit sind ihm zunächst exsortes honores noch in viel höherem Maße zuteil geworden als beim Wettspiel selbst, und das Zeichen könnte als erfüllt gelten: aber wenn die Seher sera omina cecinerunt,^) so müssen sie doch wohl in noch

1) Als Virgil I schrieb, hatte er das noch nicht geplant: Ilioneus spricht zu Dido von den sizilischen Städten und dem König Acestes (649. 668). Dagegen entspricht IX 286 moenia regia Äcestae auch den Voraus- setzungen von V. Man yeigleiche, wie oft der in V fehlende Königstitel z. B. in Vin dem Euander gegeben wird, 63. 102. 126. 186 u. s. f.

2) Ausdrücklich gcufa laetus agresti excipit 40; dazu stimmt die äußere Erscheinung des Acestes : horridus in iaculis et pelle Libystidis ursae 37. Die comites Äcestae 301 sind adsueti silvis. So wohnten nach Dionys. Hai. I 9 die Aboriginer in ältester Zeit inl rols ögsatv &vsv tsixmv vuofiridbv xori

3) Schon das offenbare Vorbild der Stelle, Kalchas' Deutung des Pro- digiums in Aulis, hätte davor bewahren müssen, diese Worte zu verstehen als 'spät erst haben die Seher die Deutung gefunden', nachdem nämlich der exitus ingens eingetreten war: sera omina ist das homerische tigag örpifLov drpitiXsaTov {B 324), auch von Cicero (de div. 11 30, 64) übersetzt mit portenta sera. Das Deuten ex eventu ist überhaupt nicht Sache des vates^ das kann jeder beliebige; dagegen vates canunt ist der technische Ausdruck für die

Acestes. Die Götter. 165

weitere Zukunft geschaut haben. Und so wird der Dichter wollen, daß wir an die Zukunft von Acestes' Reich denken; unwillkürlich mußten des römischen Hörers Gedanken sich auf den Zeitpunkt richten^ an dem Segesta eine Rolle in Roms Geschichte gespielt hat: das war die Zeit des ersten punischeu Kri^es, wo Segesta zuerst von allen sizilischen Städten mit Berufung auf die ge- meinsame troische Abstammung zu Rom übertrat, um dann Schulter an Schulter mit dem neuen Verbündeten im Kampf g^en Karthago auszuharren. Das waren freilich furchtbare, aber doch auch große und rühmliche Zeiten: ihnen hat, meine ich, der Seherspruch gegolten. Das Wunder erfolgt, während Sizilier und Troer bei fröhlichem Spiel sich verbrüdem; es erfolgt an dem Tage, an dem der Grund zu einem neuen troischen Reich in Sizilien gelegt werden soll; es zeichnet den Mann aus, der dieses Reiches erster König werden soll; es deutet, schreckend und tröstlich zugleich, auf die fernen Zeiten Yoraus, da der Fluch in Erfüllung geht, den die sterbende Königin von Karthago den scheidenden Troern nachrief. Ich meine, damit sind alle An- forderungen erftUlt, die wir an die Deutung eines Wunders stellen müssen, das kein Opemeffekt ist.

Das Göttliche greift hier, am Schlüsse des Ganzen, künstle- risch durchaus mit Recht, am augenscheiulichsten in die Hand- lang ein. In der Verwendung des Übernatürlichen liegt ein weiterer charakteristischer Unterschied der virgilischen Darstellung von der ho%erischen. Dort sind ApoUon und Athene lebhaft beteiligt: Apollon schlägt dem Diomedes die Geißel aus der Hand, flugs gibt sie ihm Athene wieder und zerbricht zur Vergeltung dem Eumelos das Joch; auf das Gebet des Odysseus hin stärkt ihm Athene Füße und Knie und läßt den Aias im Kote ausgleiten (mit deutlicher Vorausbeziehung auf das Unheil, das die Göttin später über Aias bringt); Teukros vergißt beim Bogenschießen, dem Apoll eine Hekatombe zu geloben, worob dieser erzürnt ihn

Prophezeiung, insbesondere fOr die Deutung eines Prodiginms durch die dazu berufenen Seher, Liv. I 46, 6; 66, 6; 11 42, 10; V 15, 4; VU 6, 3 u. ö. An dem Hysteroproteron bei Virgil docuit . . cecinere wird man keinen An- stoß nehmen; der Dichter nennt das ihm Zunächstliegende zuerst. magno futurum augurio monstrum können wir ganz ebenso ausdrücken ^das höchst bedeutungsvoll werden sollte'; von einer späteren Wiederholung des Zeichens ist nicht die Rede.

166 Viertes EapiteL Wettspiele.

fehlen läßt und dem frömmeren Meriones Sieg verleiht. Virgil hat diese Dinge mit seinen Begriffen von göttlicher Hoheit nicht vereinigen können: bei Actium mochte Apollo auf Augustus' Feld- hermschiff stehen^ und im männermordenden Kampfe sorgen die Götter, daß ihren Lieblingen kein Leid geschieht; aber einem Wettläufer ein Bein zu stellen, das ist ihrer nicht würdig. Darum wird denn auch beim wichtigsten Kampf, der Regatta, wo das erfolgreiche Gebet an die Götter eine sachliche, sagen wir eine tendenziöse Bedeutimg hat, nicht Neptunus bemüht, sondern die untergeordneten Meerdämonen; der glückliche Bogenschütze Eurytion richtet sein Stoßgebet nicht an Apoll, sondern an den Heros Pandaros, der sein Bruder war und ein Meister der Kunst zugleich; der Faustkämpfer Entellus kämpft und siegt im Namen des vergöttlichten Venussohnes Eryx (391. 412. 467. 488). Die Unfälle aber, die Sergest und Gyas und Nisus betreffen, haben diese sich selbst zuzuschreiben, nicht dem Neid eines göttlichen Gegners.

5. Einen letzten sehr wesentlichen Unterschied des virgilischen Gedichts vom homerischen kann man vielleicht am besten in ein Wort zusammenfassen: das virgilische hat Stimmung. Der Dichter hat sich mit großer Lebhaftigkeit in die Stimmung seiner handelnden Personen versetzt und bemüht sich nun, die Gefühls- lage, in der er sich selbst befindet, auf den Leser zu^ übertragen ; wieviel bei diesem Streben bewußt ist, wieviel unwillkürlich sich aus der eigenen Stimmung des Dichters herausgebildet hat, läßt sich schwer entscheiden. Aber jeder Leser, der sich dem Eindruck des Gedichts willig hingibt, wird die deutliche Emp- findung haben, daß er an einer freudigen Feier teilnimmt: das Freudige ist der Grundton der gesamten Schilderung.^) Vor- bereitet ist die Stimmung des Festes selbst durch die beiderseitige Freude bei der unerwarteten Bückkehr der Troer zu Acestes (34. 40) und durch das ersichtlich gnädige Prodigium bei der Grab- spende, die das Totenopfer zur freudigen Spende gestaltet (100). Li freudiger Stimmung (107) sammeln sich am strahlenden Morgen des Festtags die Teilnehmer am Strand, und diese Stimmimg, während der Feier selbst durch nichts getrübt, erreicht ihren

1) Das ist gut ausgeföhrt von Plüß 148 fg. , auf den ich verweise.

Götter. Stimmung. 167

HSheponki beim letzten Schauspiel^ dem glänzenden Aufzug der ^fickstraldenden Jugend (555. 675. 577). Und wie die heitere Pracht dieses Aufzugs mit liebevollem Verweilen ausgemalt wird, 80 ergreift der Dichter jede Gelegenheit, sein Bild mit hellen froidichen Farben zu schmücken: das Grün der Zweige imd der Kranze (110. 129. 246. 309. 494. 539; vgl. 134. 556), des rasen- bddeideten natürlichen Amphitheaters (388) und des grasbe- wachsenen Stadiums (287. 330); der Purpur der Siegerbinden (269), der goldverbnlmten Fürstenmantel (132) und Preisgewänder (250), der Glanz kostbarer Waffen und Zierstücke (259 u. s. f.) all das bildet gleichsam das äußere Komplement zu der glück- lichen Stimmung der freudig gespannten Zuschauer, der reich beschenkten Wettkämpfer und stolzen Sieger (269. 473), des Fest- gebers Aeneas und seines Gastfreundes Acestes, dem ganz wider Erwarten zum letzten Schluß der höchste Preis zuteil wird. Virgil sucht die gewünschte Stimmung nicht nur durch die Aus- wahl und Darstellung der Ereignisse hervorzubringen, sondern er beschreibt uns unmittelbar die Gemütsverfassung seiner Per- sonen: laehtö ist das Wort, das überaus häufig wiederkehrend^) den einmal angeschlagenen Ton immer wieder erklingen läßt. Der Eintönigkeit ist durch den ernsteren Verlauf des Faustkampfs vorgebeugt; das ethische Moment, das der Dichter hierbei ein- führt, versöhnt mit dem blutigen Ausgang, beugt einem Um- schlag der Stimmung vor.

Dem alten Epiker Liegt derartige Stimmungsmalerei gänzlich fem. Sorgsamer als mancher seinesgleichen unterrichtet uns der Sänger der Leichenspiele über den Eindruck, den die einzelnen Ereignisse auf das Gemüt der Beteiligten hervorbringen, und wir hören viel von Seelenbewegungen freudiger oder unfreudiger Art; aber all diese Lokalfarben sind durch keine einheitliche Tönung untereinander verschmolzen und keinerlei Versuch ist gemacht, im Hörer eine Gesamtempfindung zu erzeugen. Man beachte nur, wie sachlich und selbstverständlich die Spiele eingeführt werden avtäg ^AxikkBvg aixov Xabv sqvxs xal T^avsv s-öqvv iy&vtt und vergleiche damit, wie stimmungsvoll Virgil seine Feier einleitet; man vergegenwärtige sich das leuchtende Bild, in dem Virgil am Schluß wie in einem schmetternden Finale die

1) 84. 40. 68. 100. 107. 210. 236. 283. 304. 616. 681. 677.

168 Viertes Kapitel. Wettspiele.

Stimmung aller Beteiligten zusammenfaßt, mit dem nüchternen Ausgang des homerischen Agon.

Wir hatten yorläufig nur die Aufgabe, diese Eigentümlichkeit der virgilischen Darstellung, die hier durch die Möglichkeit des Vergleichs besonders leicht kenntlich wird, zu konstatieren; im systematischen Teil der Untersuchung wird der Einzelfall in seinen Zusammenhang eingereiht werden.

Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

Die Ereignisse von der Ankunft des Aeneas in Latium bis zur endgültigen Sicherung seines italischen Reiches stehen als gleichwertiger zweiter Teil den Ereignissen von der Eroberung Trojas bis zu jener Ankunft gegenüber; innerlich sollen sie nach des Dichters Absicht eine Steigerung darstellen , wie das neue Prooemium (VII 37 fg.) es ausspricht: maior rerum mihi nascUur ardOy maius opus nwveo. Den überwiegend friedlichen Erlebnissen des ersten Teils stehen hier überwiegend kriegerische gegenüber dicam horrida bella ; solche zu schildern ist des Epikers höchste Aufgabe, in eben dem Maße, wie der Krieg im Leben des einzelnen wie des Volkes an Bedeutung alles andere überragt, und müssen wir hinzusetzen in dem Maße, wie die Ilias dem Altertum als das überragende Meisterwerk Homers galt. Mit der Ilias mußte Virgil nun in Wettstreit treten.

I. Überblick. Virgils erste Aufgabe war, auf Grund der Überlieferung einen Gesamtplan der Vorgänge zu entwerfen und sie auf die einzelnen Bücher zu verteilen. Über die Fassung, die er der Legende von den Prodigien gab, ist oben bereits gesprochen worden; es handelt sich nun um das Hauptstück, die Beziehungen des Aeneas zu den Eingeborenen und die Kämpfe. Wir ver- gegenwärtigen uns zunächst kurz die Überlieferung*), um dann die Prinzipien festzustellen, nach denen sie Virgil umgeformt, er- weitert und disponiert hat.

1) Vgl. über das Einzelne F. Cauer, Die röm. Aeneassage (Jahrb. Suppl. XV), dem ich freilich in manchem nicht zustimmen kann. Zur Aufhellung von Virgils eigentümlichen Zielen und Wegen ist dort kein Ansatz gemacht.

170 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

Von älteren Darstellungen dieser Geschiclite ist uns nur die Catos einigermaßen bekannt. Danach folgen die Ereignisse einander so:

1. LatinuB weist den Ankömmlingen ein Stück Land an (Serr. Aen. XI 316 fr. 8 Pet.). 2. Übergriffe der Trojaner führen zum Ej-ieg, in dem die Rutuler unter Turnus Bundesgenossen der Latiner sind; im ersten Treffen fallt Latinus. 3. Turnus erneuert den Ki:ieg mit dem Beistand des Mezentius; Aeneas verschwindet, Turnus fällt. 4. Ascanius tötet bei einem dritten Treffen den Mezentius im Zweikampf (Serv. I 267. IV 620. IX 745 fr. 9. 10 P.). Daß Latiner und Rutuler vereint gegen die Troer kämpfen und Latinus als Feind des Aeneas fällt, findet sich bei den Späteren nicht mehr; sie legen Wert auf das Ehebündnis des Aeneas mit Lavinia*) und schwächen den Gegensatz zwischen Troern und Latinem nach Möglichkeit ab. Am weitesten geht darin die Tradition, der z. B. Dionysios folgt; bei ihm ist das Schema dies (I 57 fg.)^): 1. Aeneas setzt sich ohne Erlaubnis des Latinus an der Stelle des späteren Lavinium fest, vereinigt sich aber gütlich mit ihm, heiratet seine Tochter und besiegt mit ihm und seinen Aboriginem gemeinsam die Rutuler; Lavinium wird vollendet.

2. Nach zwei Jahren erheben sich die Rutuler von neuem unter Führung des latinischen Edlen Turnus: sie werden geschlagen, aber, wie Turnus, fällt auch Latinus im Kampf, so daß Aeneas nun allein über Troer und Aboriginer herrscht. 3. Nach weiteren drei Jahren neuer Krieg mit den Rutulem, die diesmal von den Etruskem unter Mezentius unterstützt werden: Aeneas fällt, Ascanius folgt ihm in der Regierung. 4. Ascanius führt den

1) Bei Cato scheint Lavinia keine Rolle gespielt zu haben; Serrius beruft sich in seinem Bericht VI 760 (fr. IIP.) fälschlich auf Cato, wie Jordan proll. XXVUI fg. (nach Niebuhr) richtig ausfuhrt; vgl. Serv. plan, zu I 259, der für den gleichen Bericht die historia zitiert. Cauers Versuch, den größeren Teil jenes Berichts für Cato zu retten (a. a. 0. 117, s. auch 116 Anm. 26), ist gänzlich mißlungen; catonisch ist darin nur, was mit dem Scholion zu IV 620 übereinstimmt, auf das sich Servius mit ut supra dixi- mus bezieht.

2) Fast genau ebenso erzählt Justin XLm 1; Lavinium wird bei ihm erst nach Turnus* und Latinus' Tod gegründet. Von Appians Darstellung haben wir nur flüchtige und unzuverlässige Exzerpte (reg. 1 fragm. I 1), aus denen man doch ersieht, daß Aeneas sich mit Latinus gütlich ab- fand und erst nach dessen Tode gegen Turnus und Mezentius zu kämpfen hatte.

Überlieferung. Eonzentrierung. 171

Kri^ glücklich weiter^ Mezentins schließt nach dem Tode seines Sohnes Laasus Frieden. Nur wenig anders Livius: 1. Latinus, voller Bewundening für Adel und Art des Aeneas^ verträgt sich mit ihm (die Variante, daß ein Kampf vorausgegangen sei; wird nur kurz erwähnt); Heirat und Gründung von Lavinium. 2. Turnus, König der Rutuler und Verlobter der Lavinia, greift die Ver- bQndeten an und wird besiegt, aber Latinus fällt. 3. Turnus ge- winnt die Hilfe des Mezentins, wird geschlagen, aber Aeneas fällt; Yon da ab herrscht Friede; von Turnus' und Mezentins* Ausgang erfahren wir nichts. Und so mögen andere Historiker und Antiquare die wenigen in der Tradition feststehenden Ereignisse noch etwas anders angeordnet und kombiniert haben; im wesent- lichen wird dadurch nichts geändert worden sein.

Virgils erstes Bedürfiois war die Konzentrierung des Stoffes: aas den drei oder vier Feldzügen der Tradition macht er einen, der allerdings mehrere Treffen umfaßt, und drängt die Ereignisse einer Reihe von Jahren in wenige Tage zusammen; lückenlos reihen sich die Begebnisse aneinander, ohne Einschnitt, der die Teilnahme des Lesers unterbräche. So hatte ja auch der Dichter der nias eine Fülle von Stoff, die sich auf Jahre verteilen ließe, m die wenigen Tage der fiijvirg zusammengedrängt.

Mit der Einheit der Zeit verbindet sich die Einheit der

Handlung. In der Tradition verzetteln sich die Erfolge der Troer:

erst werden die Latiner gewonnen und Lavinium wird gebaut,

dann werden die Rutuler geschlagen und Turnus fallt, endlich

werden die Etrusker besiegt und Mezentins fäUt oder weicht: nun

erst ist die neue Ansiedelung gesichert. Virgil konzentriert:

Aeneas hat Latiner, Rutuler und Mezentins gleichzeitig gegen

sich; der Fall des Mezentins, der entgegen aller Tradition vor

dem des Turnus erfolgt, ist nur ein Vorspiel des Zweikampfs, in

dem Turnus erliegt und mit dem jeder Widerstand beseitigt ist:

es ist dafür gesorgt, daß wir wissen, auch die Latin er werden

sich nun fügen. Nun erst, also nach Turnus' Tod, heiratet Aeneas

Lavinia und gründet seine Stadt: auch darin steht Virgil völlig

allein. Diese Chronologie ergab sich aus dem Bedürfnis nach

Konzentration ebenso, wie daß Virgil von der jüngeren Tradition

auf Gato zurückgehend, die Latiner Bimdesgenossen der Rutuler

sein ließ: so erfolgt die Verbindung mit der einheimischen Be-

YÖlkerong gleichzeitig mit der endgültigen Sicherung des Erreichten;

172 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

beides znsammen ist der Siegespreis des Zweikampfes, mit dem das Gedicht abschließt.

Virgil tri£R; also in der Stellung der Latiner zu Rutulem und Troern mit Cato zusammen; er weicht darin von ihm ab, daß er den König Latinus von seinen Untertanen trennt und am Kampf nicht teilnehmen läßt. Er mußte so verfahren, weil er, anders als Cato, alles auf die Ehe des Aeneas mit Lavinia hin- auslaufen ließ; Aeneas sollte die Braut nicht dem Vater mit Waffengewalt abtrotzen oder ^r den Weg zu ihr über die Leiche des Vaters nehmen. Vielmehr trägt ihm nun der Vater selbst, göttlichem Wink gehorchend, die Tochter zur Ehe an, und Aeneas verteidigt einen gerechten Anspruch, wenn er auf der Erfüllung dieses Antrages besteht. Auch durfte es nicht Latinus sein, der sein gegebenes Wort brach; und trotzdem sollte Aeneas sich die Braut erkämpfen. Das war eine sehr erhebliche sachliche Schwierig- keit, und wenn der Ausweg, den Virgil wählte, auch nicht ein- wandfrei ist, so erkennt man in ihm doch das Resultat sorgsamer und reiflicher Überlegung.

Als die entfesselte Leidenschaft der Kriegslust den Greis von allen Seiten umbrandet und er sie nicht mehr einzudämmen ver- mag, ruft er (VII 591 fg.) die Götter zu Zeugen dafür, daß er nur der Gewalt weicht; er läßt die Tobenden gewähren, aber er selbst will mit dem Verbrechen, dessen Ahndung er voraussieht, nichts zu schaffen haben: saepsü se tedis renimque rdiquit habe- nas; Juno selbst muß die Pforten des Ejriegs aufstoßen, da der König sich dessen, was sonst seines Amtes ist, weigert. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, daß er die Regierung gänzlich nieder- legt — es ist ja auch von einem Nachfolger, den er doch ein- setzen müßte, nicht die Rede ; auch sagt er sich Aeneas gegen- über nicht von seinem Volke los, so daß es ganz in der Ordnung ist, wenn dieser ihn für wortbrüchig hält (XI 113 rex nostra rdiquit Jiospitia d Tu/mi potius se credidit armis), und Latinus seinerseits, sobald er den Zeitpunkt zur Beilegung des Ejieges gekommen glaubt, einen Staatsrat beruft und diesem die Friedens- vorschlage unterbreitet (XI 234 fg.). Es ist diplomatische Klug- heit, wenn er zu Beginn seiner Rede bedauert, erst jetzt diesen Rat berufen zu haben (302), und wenn er, wie hier gegenüber seinen Edlen, so später Turnus gegenüber (XII 29) die Schuld an dem Kriege auf sich nimmt: staatsrechtlich korrekt, insofern

Latinus. Turnus. 173

er nicht bis zum Schluß bei seinem Veto verharrt hatte , sondern die anderen hatte gewähren lassen; da er König bleibt^ während sein Volk Krieg führt^ kann er selbst arma impia sumpsi (XII 31) sagen^ obwohl er, wörtlich verstanden^ weder selbst das getan noch die anderen es geheißen hat^ sondern nur zu schwach gewesen ist, am seinen Willen durchzusetzen. Es ist psychologisch sehr wohl begründet^ daß er im entscheidenden Augenblick von der Un- möglichkeit ^ sich dem Drängen der Kriegspartei erfolgreich zu widersetzen, schmerzlich überzeugt ist (VII 591) und sich später doch selbst Vorwürfe über seine Schwäche macht (XI 471). Aber freilich ist der Zustand, daß ein ganzes Volk wider den Willen und ohne Beteiligung seines Königs Krieg führt, so ab- norm und im einzelnen schwer anschaulich zu machen, daß die Klarheit der Situation notwendig darunter leiden muß.^) Das wirkt auch auf die Beziehungen des Latinus zu Turnus ein, insbesondere auf seine Haltung gegenüber Turnus* Ansprüchen auf Lavinia. Diese schienen zunächst gut gegründet: Turnus hatte sich durch seine Persönlichkeit (VII 55) wie durch seine Verdienste im Krieg gegen die Etrusker (423f g.) empfohlen und genoß die Protektion der Amata dies des Überlieferung (Dionys. I 64) entnommene Motiv gestaltet Virgil reich aus ; Latinus selbst hatte sich nicht ablehnend verhalten, so daß seine Qemahlin, freilich mit ab- sichtlich zweideutigen Worten (VU 365) und weiblicher Unbe- kümmertheit um objektive Richtigkeit behaupten kann, er habe sich Turnus gegenüber bereits gebunden. Daß die Verbindung,

1) So hat Bchou Probus angemerkt, daß es im Widerspruch zu dem Verzicht des Latinus (VU 600) steht, wenn nachher das latinische Heer (das er sich nicht anders als zu unbedingtem Gehorsam gegen den König verpflichtet denken kann) zu Turnus stößt: schol. Yeron. IX 368. Die Replik des Servius (vgl. Georgii, Aeneiskritik 412) zeigt, daß hieran, nicht an den regia (Latini) respansa 369, wie nach dem vollständigeren Servius in omnibtM bonis gestanden haben soll, Anstoß genommen wurde: in der Beplik ist auf diese Lesart gar keine Rücksicht genommen, wie sie denn auch zweifellos falsch ist. Übrigens ist klar, wie Virgil das Auftreten der Reiterschar (die er für seine Situation brauchte) motivieren wollte; Turnus ist ja (IX 4) von Ardea aufgebrochen, und zwar mit den auswärtigen Hilfs- tmppen (Messapus IX 27) und den agrestes Latini (Tyrrhidae ebd. 'jO); eine Tutulische Reiterabteilung unter Volcens hat er den Umweg über Laurentum machen lassen, um das städtische Fußvolk mobil zu machen: während das sich zum Auszug in Reih und Glied stellt, begeben sich jene Rutuler vor- aus zu ihrem König, um ihm Bericht zu erstatten.

174 Fünftes Kapitel. Aeneas in LaÜum.

bevor die warnenden Vorzeichen eintraten, in sicherer Aussicht stand, geht ja anch aus den Worten des Faunus ihalamis neu crede parotis (VH 97) hervor; aber ebenso sicher steht, daß ein förmliches Verlöbnis nicht erfolgt ist und Latinus selbst sich nicht gebunden fiihlt.^) Somit tragt er, als die Orakel mit der An- kunft des Aeneas sich zu erfftUen scheinen*), unbedenklich diesem die Tochter an: Aeneas sieht so die Prophezeihung der Creusa erfüllt. Turnus seinerseits empfindet dies, da ihm Allecto die Sinne verwirrt, als schmählichen Wortbruch: der Krieg hat für ihn in erster Linie den Zweck, Lavinia wiederzugewinnen. Wenn aber dann Latinus, wie oben dargelegt wurde, in greisenhafter Schwäche den Krieg zugibt, so versteht es sich von selbst, daß er damit auch die Bewerbung des Turnus von neuem zuläßt, der nun Lavinia als sein Recht in Anspruch nimmt (XI 359) und, als anerkannter Bewerber um die Tochter, in üblicher Weise den Vater als socer bezeichnet (440). Latinus selbst ist sich bewußt, mit der Zulassung des Kriegs auch das dem Aeneas gegebene Eheversprechen gebrochen zu haben (XII 30)'): promissam eripui

1) Ganz richtig Servins Xu 31.

2) Auch hier lehnte sich Virgil an die Tradition an: daa Traumorakel des Faunus entspricht dem heiatccg xad'* vnvöv inix^tgtog daiiuov, der nach Dionjs. I 57 Latinus, der zum Kampf mit Aeneas entschlossen ist, an- befiehlt dixfö^ai xovs ISiXXrivag rj Xo»Q(f ovvoinovg' r^nsiv yap a^xovg {i4ya d}q)iX7}iia Aarivtp xal xoivbv kfiogiyhaiv &ya9'6v. Virgil legt darauf um so mehr Gewicht, als uns so begreiflich wird, wie Latinus ohne weiteres seine Tochter dem Fremdling anbieten kann: er verstärkt daher das Motiv durch die Wunderzeichen, die den Latinus zur Befragung des Traumorakels be- wegen. — Daß übrigens wirklich ein solches Traumorakel des Faunus existiert hat, bezweifle ich: es wäre die einzige Spur von altitalischer Li- kubation, und in Yirgils Erzählung zeigt sich deutlich die Kontamination dreier Vorstellungen: 1. die weissagende Nymphe Albunea, 2. die im Hain (95) ertönende Stimme des Faunus, 3. die iy%ol\Lri6ig ^ die sonst in Zu- sammenhang mit Faunus' Weissagung nur von Ovid fast. IV 649 gebracht wird, dessen Erzählung mir sehr wenig echtitalisch scheint: die Verbindung des Somnus und Faunus, gleich der des ''Tnvog und 'Aaxltjniog^ die dem griechischen Ritus entlehnte Askese etc. Überhaupt hat doch der Schlaf auf dem Erdboden nur Sinn bei einer chthonischen Orakelgottheit: wann wäre Faunus das gewesen?

3) Es kann verwundem, daß in der latinischen Batsversammlung Turnus' Gegner Drances (XI 843 fg.) auf die Orakel keinen Bezug nimmt und auch Latinus sie erst XU 27 Turnus gegenüber erwähnt; an ein ab- sichtliches Geheimhalten zu denken ist ja ausgeschlossen nach der gerade

Latinus und Turnus. 175

gmero; und doch kann, nach der Lage der Dinge, weder eine Ab- sage an Aeneas noch eine Zusage an Turnus erfolgt sein. Die TOQ beiden Seiten stillschweigend anerkannte Tatsache, daB Layinia

entgegengesetzten deutlichen Angabe YII 102 fg. Man könnte meinen^ Yiigil habe in der Zwischenzeit das Motiv einfach aus dem Auge ver- loren: aber dem widerspricht XI 232 fatalem Aenean nianifesto numine fern admanet ira deum iMmulique ante ara recentea verglichen mit 272 hufie ülum poscere fata et reor et si quid veri mens augurat opto: also der ursprüngliche Gedanke des Latinus, daß auf Aeneas das Orakel ge- deutet habe, wird durch den Ausgang der Schlacht manifesto numine be- itätigt, muß also bis dahin zweifelhaft geblieben sein. In der Tat hatte ja Amata die Worte des Faunus so gedeutet, daß sie auch auf Turnus paßten (YII 867 fg.), und daß diese Möglichkeit von vornherein vom Dichter beabsichtigt war, geht mit Sicherheit aus ^er (im Orakel ja nicht auf- fälligen) Mehrdeutigkeit des Orakels hervor: conubis Latinis (VII 96) kann auf Latiner im engeren oder im weiteren Sinn, also mit Ein- schluß oder Ausschluß der Rutuler gehen; statt eindeutig zu sagen: 'übers Meer', oder: 'aus Asien wird der fremde Freier kommen' heißt es nur ex- temi generi. Also meine ich in der Tat, daß Virgil sich hierdurch sach- lich berechtigt gef&hlt hat, bei jener Beratung das Orakel ausscheiden zu lassen: der eigentliche Grund war natürlich ein technisch - künstlerischer, nämlich der Wunsch, den Gegensatz des Drances und Turnus von allen nicht rein menschlichen Motiven frei zu halten. Weiter hat man Anstoß daran genommen, daß Turnus überhaupt erst kurz vor seinem Tode, näm- lich durch die Worte des Latinus XII 27 von dem Orakel erfahre, während es doch nach YII 102 fg. in ganz Ausonien bekannt war. Ich bezweifle aber, daß die Worte sine me haec haud moUia fatu sublatis aperire dolis, simul hoc animo hauri so aufzufassen sind, als teile Latinus ihm nun etwas völlig Neues mit: die Fiktion wäre ja in der Tat töricht, daß Turnus bei den ganzen vor dem Ausbruch des Kriegs gepflogenen Verhandlungen nichts von dem Orakel erfahren habe. Sehr gut bemerkt Servius zu 22 hoc loco intellegimus Tumum dolore voluisse in aliqua verba prorumpere^ was be- stätigt wird durch 47 ut primum fari potuit sie institit ore, Latinus weist den Turnus auf andere vornehme latinische Jungfrauen hin und deutet an (nee non aurumque animusque Latino est), daß er selbst für die Mitgift sorgen werde: kein Wunder, daß der edelgeartete Jüngling aufbrausen wilL Latinus hält ihn zurück: 'laß mich bitte jetzt einmal ganz rück- haltlos und offen zu dir sprechen', haec sc. sententiam meam aperire, 'und nimm dir folgendes zu Herzen' simul hoc animo hauri; und nun spricht er aus, was anfänglich seine Überzeugung war und was jetzt, nach den vielen Mißerfolgen, erst recht seine Überzeugung ist: 'die Götter erlaubten mir nicht, dich zum Schwiegersohn zu nehmen; ich wollte es trotzdem tun du siehst, mit welchem Erfolge. Ein Widerstand gegen die Ehe mit Aeneas ist nicht möglich: früher oder später, ohne oder mit dem Opfer deines Lebens wird sie erfolgen'.

176 Ffinfbes Kapitel. Aeneas in Latium.

der Siegespreis sein soll, wird erst in dem foedus vor dem ent- scheidenden Zweikampf Xu 192 unumwunden ausgesprochen. Das alles würde sehr viel einfacher und klarer sein, wenn Latinus von An&ng an offener Gegner des Aeneas wäre oder sein erst gegebenes Wort offen bräche: wir sehen nun, wie schwierig es war, beides zu umgehen, und welche Opfer der Dichter diesem Bestreben bringen mußte.

2.

Der Konzentration des Stoffes, die sich Virgil, wie wir sahen, in erster Linie vorsetzte, steht eine erhebliche Erweiterung gegen- über. Künstlerische wie sachliche, d. h. politisch-nationale Gh-ünde führten zu dem Bestreben, was irgend von italischer Urzeit zu erkunden war, in den Kreis der Aeneis hineinzubeziehen. Dazu dient das einfache Motiv, daß beide Parteien alles Erreichbare von Hilfstruppen und Bundesgenossen aufbieten. Sehr nahe lag es, den Latinem und Rutulem die benachbarten Völkerschaften zu- zugesellen, was dann Gelegenheit gab, manche Gründungs- und UrspruDgssage einzuflechten. Aber auch die in Unteritalien so lebendige Diomedessage wird so für das Gedicht gewonnen und zur Erhöhung des troischen Prestige verwertet, ferner die eigen- artig reizvolle Gestalt der CamiUa eingeführt. Dasselbe Motiv ermöglichte die für die Tendenz des Gedichts so überaus wichtige Verbindung des Aeneas mit Euander, seinen Besuch an der Stätte des dereinstigen Roms, und, was symbolisch bedeutsam ist, seinen Oberbefehl über die Urbevölkerung Roms. Da Euander selbst seinem festgeprägten Typus nach zum Kiiegshelden nicht geeignet ist, auch schwerlich dem Aeneas untergeordnet werden kann, so vertritt ihn Pallas. Das war nach einer zur Erklärung des Namens Palatium erfundenen Legende ein Enkel des Euander, Sohn seiner Tochter Launa und des Herakles, in früher Jugend verstorben und auf dem Palatin begraben (Dionys. X 32. 43); Virgil macht ihn aus naheliegendem Grunde zum Sohn des Euander und gibt ihm eine sabinische Mutter (VHL 510); so repräsentiert er die Verschmelzung griechischen und italischen Stammes. Sein früher Tod, der Legende entnommen, gibt weitere dankbare Motive an die Hand. Zugleich hat Virgil die Fahrt des Aeneas zu Euander, die ihm um ihrer selbst willen wichtig war, aufs geschickteste in den Gang der Erzählung eingefügt, indem die Abwesenheit des

Erweiterung des Stoffes. 177

Helden als wirkendes Motiv an Stelle des achilleischen Zorns tritt. Weniger oflFensichtlich, aber doch wohl kenntlich, sind die Ghründe, die dazu führten, auch die Etmsker unter Aeneas' Truppen einzureihen. Die zu Virgils Zeit überwiegende Tradition wußte nur vom Kampf des Aeneas und Ascanius gegen die Etrusker unter Mezentius; eine ältere aber, von Timaios berichtet, uns leider nur in Lykophrons dunkler Sprache überliefert^), wußte von einem Aufenthalt des Aeneas in Agylla-Caere und seiner Verbindung mit Tarchon und Tyrrhenos. Virgil hat beides kom- biniert: Mezentius bleibt Feind der Troer, die Etrusker halten zu ihnen; nicht aber, und das ist für die sachliche Absicht Yirgils bezeichnend, als gleichstehende Bundesgenossen, sondern unter Aeneas' Führung, gens extemo commissa duci X 156, den ihr der durch Sehermund erklärte Götterwille zugewiesen hat: so kündet sich schon in jenen Urzeiten als Bestimmung des Fatums an, was erst nach Jahrhunderten und nach schweren Mühen wirklich erreicht werden sollte, die Unterwerfung Etruriens unter der Aeneaden Herrschaft. Für die Erzählung und ihre Wahrschein- lichkeit ist es Yon Vorteil, daß so die Streitmacht des Aeneas erheblich verstärkt wird, damit wir nicht zu glauben brauchen, daß die wenigen Troer und Arkader allein über die sämtlichen vereinigten Italiker gesiegt haben. Künstlerisch macht sich Virgil die Situation ausgiebig für die Bereicherung an Motiven zu Nutze: da ist der Katalog der etruskischen Streitkräfte, der, wie in der Ilias, dem der Gegner zur Seite tritt, und zwar als SchijBPskatalog ; die Seefahrt des Aeneas; die Figur des kecken entschlossenen Reitergenerals Tarchon; vor allem aber die eigenartige Aus- gestaltung von Mezentius' Charakter und seinem Verhältnis zu den einstigen Untertanen, eine Erfindung, zu der die Kombinierung jener beiden Traditionen geführt hat, da sie dazu nötigte, die Trennung des Mezentius und seines (ebenfalls der Tradition ent- nommenen) Sohnes Lausus von den Volksgenossen zu motivieren. Den Stoff für die Kampfschilderungen bot in erster Linie die Ilias; ihre wirksamsten Motive in angemessener Umformung zu einem neuen Ganzen kunstvoU zu vereinigen, hie und da, wie in der Camillaepisode, durch neue Situationen bereichert, darauf war Virgils Ehrgeiz gerichtet.

1) 1245 fg.; vgl. Geffcken, Timaios* Geogr. des Westens 44.

Heinse, Virgili «piache Technik. 2. Aufl. 12

178 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latimn.

3.

Bei der Disposition des Stoffes ; fär deii; wenn das Gleich- gewicht mit dem ersten Teil eingehalten werden sollte, sechs Bücher zur Verfügung standen, hat der Dichter vor allem zwei Klippen zu vermeiden gesucht: Unübersichtlichkeit und Einförmig- keit. Er empfand diese beiden Mängel schwer in der Komposition der Ilias, wo einerseits mit der Zeitrechnung aufis kühnste um- gesprungen wurde und das Hin- und Herwogen der Handlung einen festen Plan nur zu oft vermissen ließ, andererseits der Reiz, den die endlos gedehnten Schlachtschilderungen mit ihren un- bedenklichen Wiederholungen für Homers griechisches Publikum in alter Zeit besessen hatten, gewiß nur noch von sehr wenigen empfunden wurde.

Die Übersichtlichkeit hat Virgil erreicht zunächst dadurch, daß er wie schon im ersten Teil so auch hier den einzelnen Büchern abgeschlossene Handlungen zuwies: VII Von der Lan- dung bis zur Kriegsentscheidung; VHI Aeneas^ Ausfahrt; IX Vor- gänge während Aeneas' Abwesenheit; X Erste Hauptschlacht; XI Waffenstillstand; Reiterkampf; XII Entscheidungskampf. Weiter sondern sich drei Gruppen von je zwei Büchern: VII, VIH Vor- bereitimg zum Kampf; IX, X Bis zum ersten großen Zusammen- stoß; XI, XII Bis zur Entscheidung. Femer wird die Buch- abteilung, soweit es geht, mit der Zeitteilung in Einklang ge- bracht: VIII und IX schildern gleichzeitige Ereignisse, deren Mittelpunkt hier Aeneas, dort das troische Lager ist; X, XI 225 bis Schluß, Xn füUen je einen Tag aus.

Die Klippe der Einförmigkeit drohte am gefährlichsten in IX xn, die die eigentlichen Kämpfe umfassen. Das Ziel und der Endpunkt dieser Kämpfe war gegeben, sobald Turnus die Rolle des Hauptgegners übertragen war; sein Fall mußte die Entscheidung bringen, und nach künstlerischer Logik durfte er nicht, wie in der Überlieferung, einfach 'in der Schlacht', sondern mußte durch Aeneas^ Hand seinen Tod finden: Hektors ivatgsöig durch Achill war das Vorbild, das sich Virgil gebieterisch auf- drängen mußte. Alles Vorhergehende konnte nur der Retardie- rung dieses ausschlaggebenden Ereignisses dienen es galt, diese retardierenden Momente zu selbständig bedeutenden, abwechs- lungsreichen Begebenheiten zu erheben. Die Zuspitzung des

Disposition. Abwechslnng. 179

Qanzen auf den Zweikampf Aeneas-TumnB setzte nur eins voraus: -Mezentius mußte; entgegen der Tradition, schon vor Turnus ^fiJlen; im übrigen war Virgil völlig freie Hand gelassen. Er hat Zunächst die Abwesenheit des Aeneas benutzt; um die Helden- gestalt des Turnus in ungetrübtem Glänze strahlen zu lasseU; der ^Qch hier Hektors Rolle übernimmt: der Versuch; die Schiffe zu "Verbrennen; der Kampf an der Mauer; der Kampf im Lager; also ^e drei wesentlichsten Phasen der Kämpfe von Ilias MNSO, ^ben dazu Gelegenheit; und indem sich das Licht auf Turnus sammelt; wird zugleich die Schilderung des allgemeinen Kampfs der beiden Heere beschrankt, um den späteren Büchern nicht Torzugreifen. Das Motiv von Ilias K wird geschickt umgeformt: das mißglückte Wagnis des Nisus und Euryalus unterbricht die Scbilderung der Tumus-TateU; die den ersten und den letzten Teil Ton IX füllen. Ehe der Kampf in X wieder beginnt; haben wir einen Buhepunkt in der Götterversammlimg X 1 117: so stehen GoUerszenen zu Beginn von Hias J0NOT. Es folgt in X die erste eigentliche Schlacht; in der auf seiten der Troer Pallas durch Turnus erlegt wird dieser Erfolg bringt ihm selbst später den Tod; wie Hektors größte Tat in 77 ; auf seiten der [Feinde Lausus und Mezentius; der Kampf zwischen Aeneas und Turnus wird hinausgeschoben durch das von Hera gesandte Trug- bild: das Motiv vom Schlüsse des <P. XI wird wieder eröffnet durch friedliche Szenen im Lager und der Stadt; dann der zweite Kampftag; an dem nun Aeneas und Turnus gänzlich ausscheiden; die eigenartige Figur der Camilla steht im Vordergrund; der Reiterkampf vollzieht sich in eigener Form, die gegenüber X Ab- wechslung bringt.

Auch Xn setzt wieder nicht mit Kampfszenen ein; die Vor- bereitung des Zweikampfs durch die Verhandlungen in der Stadt, der feierliche Vertrag und sein Bruch: Ilias Fzi; dann ein noch- maliger Kampf; der endlich zur Entscheidung führt: Qias TOX, Auch hier ist dem allgemeinen Kampf nur ein kurzer Abschnitt (257 310) gewidmet; durch Aeneas' Verwundung ist dem Turnus nochmals Gelegenheit zu einer Aristie gegeben (324 382); als AeneaS; geheilt (wie Hektor in II. O), auf dem Schlachtfeld er- scheint und den Turnus sucht, tritt durch lutumas Eingreifen abermals eine Verzögerung ein; erst der Angriff auf die Stadt and die energische Mahnung des Saces bewegen TumuS; dem

182 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latiom.

scaena parhirienies furorem sagt schon Macrobius in der merk- würdigen Verspottung dieser ganzen Szenen V 17^ 3. Die Lyssa des euripideiscben Herakles ist von den Figor^i erhaltener Dich- tung die verwandteste^); noch näher mögen die Überbietungs- versuche der nacheuripideischen Tragödie gestanden haben. Ihnen wird Virgil im wesentlichen die Farben seines Gemäldes ver- danken: die Idee aber fand er anderwärts. Postquam Discordia tadra Belli ferratos postis portasque refregit hieß es in Ennius' Annalen; Yirgil erinnert geflissentlich daran mit Belli ferratos rumpü Saiumia postis 622. Es ist recht wohl möglich, daß Ennius die Vorbereitung des Krieges durch Discordia ebenfalls geschildert hatte und Virgil diese Schildemrg durch die seine überbietet; nur war ihm Discordia zu abstrakt, und er griff lieber zu dem feststehenden und plastisch ausgebildeten Typus der Erinys.

Allektos erstes Opfer ist die Königin Amata, der sie durch eines ihrer Schlangenhaare Wahnsinn einflößt. Die Schlange, sonst schreckendes Attribut der Erinyen, wird hier, als giftiges Reptil, zum Symbol des fressenden Wahnsinns; in den ver- schiedensten Gestalten, wie Allekto selbst tot sese vertu in ora, flößt sie ihr Gift ein. Die erste Folge der Betörung ist, daß Amata den Gemahl durch sophistische Auslegung des Orakel- spruchs bestimmen will, dem göttlichen Willen entgegenzuhandeln; als der Versuch scheitert und inzwischen der Wahnsinn, wie eine fressende Krankheit, tiefer ins innerste Leben dringt, da verfällt die Königin in offenkundige Raserei: in wahnsinniger Erregung durchtobt sie die Städte des Landes. Und der Taumel reißt sie weiter: als Mänade wirft sie sich in die Wälder, mit sich ent- führt sie die Tochter. Es ist nicht leicht zu sagen, wie Virgil seine Schilderung dieser ßaxxsCa aufgefaßt wissen will. In sävas

1) 8. Wilamowitz, Herakles I' 128. Den Gtöttern ist Lyssa verhaßt wie die äschyleischen Erinyen (Eum. 350. 366): Yirgil steigert das, indem er seine Allekto selbst Pluton und den Höllenschwestem verhaßt sein läßt, 827. sq. Als Grand wird neben ihrer scheußlichen Erscheinung angegeben tot sese vertu in ora, was sie im folgenden betätigt: das wird sonst vor- nehmlich einem anderen Höllengeiste, der Empusa, zugeschrieben, doch vgl. die Anrufung Tiüiq>6v7i vs Miyaiga %oi\ *A}Xri%xai noXviLogtps Pap. Paris, (ed. Wessely, Denkschr. d. Wiener Ak. XXXVI) 2798.

Amata. 183

^mulato numine Bacchi . . . evolat et natam frondosis manttbus €Mbdü quo ihalatnum eripiat Teucris . . ^euhoe Bacche* fremens, scluin ie virgine dignum vociferans. Zweierlei ist klar: erstens daß «^mata wirklich vom Wahnsinn erfaßt ist; nicht etwa mit schlauer ^Berechnung und bei ruhigem Verstände Wahnsinn heuchelt: schon ^▼orher ist sie ja wirklich lymphata, dann maiorem orsa furorem, ^^md schließlich heißt es taiem . . reginam ÄUedo stimiUis agü wmdique Bacchi (404). Andererseits ist ebenso sicher^ daß trotz ^iieses letzten Ausdrucks und trotzdem^ daß die Frauen nachher (580) attonüae Baccho heißen, von wirklich bakchischer Ekstase k:eine Bede sein kann: denn wie vermöchte solche Allekto zu verursachen, die doch wahrlich nicht über Bacchi stimtdi verfügt? Aber Virgil sagt ja auch ausdrücklich simulato numine Bacchi, und wie die folgende Schilderung sich vielfach unverkennbar an Euripides' Bakchen anlehnt^), so erinnert diese Wendung deutlich an Pentheus' Argwohn, daß die Weiber itXaötalöi ßccxxeiaiöt in den Bergen umherschweifen (216): nur daß, was dort irrtümliche An- nahme war, hier wirklich zutrifft. Und zwar spricht der Wortlaut, vor allem die Anknüpfung der Absicht in süvas evöUU gm thalamum eripiat Teucris tasdasque moretur dafür, daß Amata vorschützt, auf Bacchus' Geheiß zu handeli), nicht aber Allekto in ihr den Wahn erzeugt, von Bacchus besessen zu sein: das spätere stimulis agit undigue Bacchi ist also ein ixßaxxsvsiv, das hier dem Höllengeist zugeschrieben wird, wie bei Euripides, Troad. 408 Apollon ix- ßaxxBvet.^ Die Erfindung Virgils ist höchst eigentümlich und nur durch ein Zusammenfließen mehrerer Vorstellungen zu er- klaren. Zunächst spielt hier Allekto eine Rolle ähnlich wie Lyssa

1) 893 omnis . . . ardor agü nova qtioerere tecta: Bakch. 38—86; dese- ruere domos Yvvcclxag dmiiat' iTdsXovnivat . . iv dh dccttxioig öqsöi (frondosis montibus 387) ^oä^eiv . . Ji6woov tiiimoag xoQois Qustrare choro 891); 897 ipsa (Amata) inier medias . . . canit . . torvumque repente clamat ii öti Sh l^n^Q c&il($2v{«y iv i^iaccig ata^stücc Bdnxccig 689; capite orgia mecum ünsvijv ix^tv doyliov iii&v 34, noch nilher kommt der Ausdruck ÖQyta ai)tov ävalcciLßdveiv aus der Hjpothesis; stimtUis agit Bacchi olotgri^elg Jvovvöo} 119. Freilich werden die meisten dieser Ausdrücke ähnlich in jeder Man aden- schildemng wiederkehren.

S) Daß Amata ursprünglich heuchele, dann aber von Bacchus zur Strafe in wirkliche Raserei versetzt werde so hat man den scheinbaren Widersprach «u erklären gesucht davon steht bei Virgil nichts; zum mindesten mfißte dann 406 Bacchus selbst als Handelnder genannt sein.

180 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latiam.

Feinde die Stirn zu bieten. Vor dem letzten Gange wird im Olymp endgültig Junos Widerstand besiegt (791 842): dann fallt im Zweikampf die Entscheidung.

So hat Yirgil in der Tat die Wiederholungen auf ein Minimum beschränkt, die unvermeidlich einander ähnlichen Eampfszenen nach Möglichkeit durch andersartige Szenen unterbrochen und die Spannung bis zum Schluß erhalten: das alles durch Auswahl und Anordnung der überkommenen Motive, deren doch keines, wie wir noch weiter sehen werden, schlechtweg und ohne charakteristische Umbiegung übernommen ist.

IL Allekto. Die neue Leidenszeit des Aeneas, der Kampf um Latium, wird durch Szenen eröffnet, die in beabsichtigtem Parallelismus zu den entsprechenden des ersten Teils der Aeneis stehen. Wie dort, sieht hier Juno mit zorniger Überraschung das Glück ihres Feindes und drückt ihre Empfindungen im Selbstgespräch aus; wie dort, wendet sie sich, um die Vernichtung des Feindes zu erreichen, an. eine ihr untergeordnete göttliche Macht; wie dort, wird hier unverzüglich ihr Auftrag erfüllt und das Unheil geht seinen Gang. Aber dem Gesetz der Steigerung gemäß, und gemäß dem höheren Pathos dieses zweiten und letzten Racheversuchs, muß auch die Einleitung des Unternehmens in jedem Betracht gesteigert erscheinen. Diese Steigerung ist im Monolog der Juno kunstvoll durchgeführt: der Haß gegen die Troer, die Enttäuschung durch die erlittenen Mißerfolge, das Gefühl der Kränkung und Demütigung, alles das tritt mit erhöhter Wucht auf^); gerade weil sie das imvermeidUche Scheitern ihrer Pläne voraussieht, kennt ihre Begier, sich zu rächen, so lange und so gut sie es vermag, keine Grenzen. Mit der prachtvollen Antithese fledere si nequeo superos, Acheronta movebo ist die Überbietung der früheren Eampfesmittel gegeben: an Stelle des friedlichen Herrschers der Winde, der an den Tischen der olympischen Götter zu Gast ist.

1) Zn vergleichen z. B. I 47 una cum gente tot annos bella gero mit 308 linquere inausum quae potui infelix, quae memet in omnia vertiy vincor ah Aenea. Das stärkere Pathos tritt in der Häufung rhetorischer Figuren zutage.: num capti potuere capi? num incensa cremavit Troia viros? usw.

Juno und Allekto-DiBCordia. 181

tritt das Scheusal der Unterwelt^ das nicht nur den olympischen^ nein selbst den Göttern der Tiefe verhaßt ist, die Wahnsinn er- regende Furie Allekto; an Stelle der entfesselten Elemente die entfesselte und zu rasender Wut angestachelte Leidenschaft, der Wahn des Menschen, der so viel mehr Unheil stiftet als die Elemente je es vermögen. Krieg soll ja entbrennen, und was Krieg bedeutei^ wußte Yirgil und wußten seine Zeitgenossen: die Hölle kennt keine furchtbarere Plage; nur Wahnsinnige können den heiligen Frieden brechen. Nur wer den ganzen Abscheu jener Zeit vor dem Kriege nachempfindet, vermag auch zu würdigen, warum Virgil ihn das Werk der Allekto sein ließ: so rast denn die Königin lymphata, ihre Begleiterinnen fwriis accensae pedora, Turnus' Kampflust ist scderata insania belli, und Tyrrhus greift Spirans inmane zur Axt. So bricht der rasende Taumel an drei Stellen fast gleichzeitig aus: aus dem zufälligen Zusammentreffen oder der zusammenhanglosen Folge von Ereignissen gestaltet Virgil durch die Figur der Allekto eine Einheit, eine wohl- berechnete Reihe von sich ergänzenden Wirkungen des einen WiUens.

Allekto ist aber nicht eigentlich Personifikation des Wahn- sinns, sondern der Zwietracht, cui tristia bdla iraeque insidioLeque et crimina noxia cordi (325) und tu potes unanimos arma/re in prodia fraires, atque odiis versare domos; die Lösxmg und Ver- nichtung der friedlichen Übereinkunft ist ihr eigentliches Werk: disice campositam pacem, und nach vollbrachtem Werk kündet sie perfecta tibi hello discordia trisH: sie in amicitiam coeant et foedera iungant! Sie würde also zumeist der Eris entsprechen, die ja auch bei Hesiod (theog. 225 fg.) unter den Töchtern der Nacht (vgl. virgo sota Nocte 331) erscheint, und an deren verderbliche Einderschar Virgil bei dem oben zitierten Verse (325) gedacht haben mag. Sie erscheint also auch keineswegs als rächender oder strafender Dämon: Erinys ist sie, insofern der Erfolg ihres Tuns Wahnsinn ist (447. 570), und sie gehört zu den deae dirae (324), den sorores Tartareae, deren furchtbarste sie ist (327). So fßhrt sie, wie die Erinyen, Geißel und Fackeln (336), und Schlangen sind ihr Haar (vgl. VI 280 Discordia demens vipereum crinem vittis innexa cruentis), Virgil mag Anregung zu dieser Erfindung von der Tragödie empfangen haben, in der seit Aeschylus Erinyen und ähn- liche Dämonen häufig aufgetreten sind: sparguntiMr angues velut in

182 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

scaena pa/rtwirientes fuirorem sagt schon Macrobius in der merk- würdigen Verspottung dieser ganzen Szenen V 17, 3. Die Lyssa des euripideiscben Herakles ist von den Figuren erhaltener Dich- tung die verwandteste^); noch näher mögen die Überbietungs- versuche der nacheuripideischen Tragödie gestanden haben. Ihnen wird Virgil im wesentlichen die Farben seines Gemäldes ver- danken: die Idee aber fand er anderwärts. Postquam Discordia taetra BeUi ferratos postis potiasque refregit hieß es in Ennius' Annalen; Virgil erinnert geflissentlich daran mit Bdli ferratos rumpü Satwmia postis 622. Es ist recht wohl möglich, daß Ennius die Vorbereitung des Krieges durch Discordia ebenfalls geschildert hatte und Virgil diese Schilderurg durch die seine überbietet; nur war ihm Discordia zu abstrakt, und er griff lieber zu dem feststehenden und plastisch ausgebildeten Typus der Erinys.

2. Allektos erstes Opfer ist die Königin Amata^ der sie durch eines ihrer Schlangenhaare Wahnsinn einflößt. Die Schlange, sonst schreckendes Attribut der Erinyen, wird hier, als giftiges Reptil, zum Symbol des fressenden Wahnsinns; in den ver- schiedensten Gestalten, wie AUekto selbst tot sese vertu in ora, flößt sie ihr Gift ein. Die erste Folge der Betörung ist, daß Amata den Gemahl durch sophistische Auslegung des Orakel- spruchs bestimmen will, dem göttlichen Willen entgegenzuhandeln; als der Versuch scheitert und inzwischen der Wahnsinn, wie eine fressende Krankheit, tiefer ins innerste Leben dringt, da verfällt die Königin in offenkundige Raserei: in wahnsinniger Erregung durchtobt sie die Städte des Landes. Und der Taumel reißt sie weiter: als Mänade wirft sie sich in die Wälder, mit sich ent- führt sie die Tochter. Es ist nicht leicht zu sagen, wie Virgil seine Schilderung dieser ßaxxsia aufgefaßt wissen wiU. In süvas

1) 8. Wilamowitz, Herakles !• 128. Den Göttern ist Lyssa verhaßt wie die äschyleischen Erinyen (Eum. 350. 366): Yirgil steigert das, indem er seine Allekto selbst Pluton und den Höllenschwestem verhaßt sein läßt, 827. sq. Als Grand wird neben ihrer scheußlichen Erscheinung angegeben tot seae vertit in ora, was sie im folgenden betätigt: das wird sonst vor- nehmlich einem anderen Höllengeiste, der Empusa, zugeschrieben, doch vgl. die Anrufung TL6i<p6v7i t8 Miy aiga ital 'AXXrixTm noXviLOQtpe Pap. Paris, (ed. Wessely, Denkschr. d. Wiener Ak. XXXVI) 2798.

' Amata. 183

stnmlaio numine Bacchi . . . evolat et natam frondosis mcntibus abdii quo fhaiamum eripiat Teucris . . ^euhoe Bacche' fremenSy soium ie virgine dignum vociferans. Zweierlei ist klar: erstens daß Amata wirklich vom Wahnsinn erfaBt ist, nicht etwa mit schlauer Berechnung und hei ruhigem Verstände Wahnsinn heuchelt: schon Torher ist sie ja wirklich lympJuxta, dann maiorem orsa furorem, und schließlich heißt es talem . . reginam ÄUedo stimiUis agü undigne Bacchi (404). Andererseits ist ebenso sicher, daß trotz dieses letzten Ausdrucks und trotzdem, daß die Frauen nachher (580) attonüae Baccho heißen, von wirklich bakchischer Ekstase keine Bede sein kann: denn wie vermöchte solche Allekto zu yerursachen, die doch wahrlich nicht über Bacchi stimtdi verfügt? Aber Yirgil sagt ja auch ausdrücklich simulato numine Bacchi, und wie die folgende Schilderung sich vielfach unverkennbar an Euiipides' Bakchen anlehnt^), so erinnert diese Wendung deutlich an Pentheus' Argwohn, daß die Weiber nlccötcctöi ßaxxstatöt in den Bergen umherschweifen (216): nur daß, was dort irrtümliche An- nahme war, hier wirklich zutrifft. Und zwar spricht der Wortlaut, vor allem die Anknüpfung der Absicht in süvas evöUU gm thalamum eripicU Teucris taedasque moreH/ur dafür, daß Amata vorschützt, auf Bacchus' Geheiß zu handeli), nicht aber Allekto in ihr den Wahn erzeugt, von Bacchus besessen zu sein: das spätere stitnulis agit undique Bacchi ist also ein ixßaxxBvsiv^ das hier dem Höllengeist zugeschrieben wird, wie bei Euripides, Troad. 408 Apollon ix- ßaxxsvei^) Die Erfindung Yirgils ist höchst eigentümlich und nur durch ein Zusammenfließen mehrerer Vorstellungen zu er- klaren. Zunächst spielt hier Allekto eine Rolle ähnlich wie Lyssa

1) 893 amnis . . . ardor agi{ nova quaerere tecta: Bakch. 38 86; dese- ruere domos yvvai%ag dm^iar' ixXslotnivat . . iv dh &cca%ioig öqsoi (frondosis mantibus 387) ^od^Biv . . Jt6w6ov t^iuoaag x^Qo^s (fustrare choro 891); 397 ipsa (Amata) tnter medias . . . canit . . torvumque repente clamat i\ cr\ 61 ftiTTi]^ iiX6Xvi9v iv fiiaaig öta^staa Bd%%aig 689; capite orgia mecum ö^svijv iz^iw ÖQyimp iii&v 34, noch nllher kommt der Ausdruck ÖQyia ccinov iivalaiipdvBiv aus der Hypothesis; sttmtUis agit Bacchi olötQrid'elg Jiovvaq} 119. Freilich werden die meisten dieser Ausdrücke ähnlich in jeder Man aden- Schilderang wiederkehren.

S) Daß Amata ursprünglich heuchele, dann aber von Bacchus zur Strafe in wirkliche Raserei versetzt werde so hat man den scheinbaren Widersprach «u erklären gesucht davon steht bei Yirgil nichts; zum mindesten mößte dann 406 Bacchus selbst als Handelnder genannt sein.

184 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

in den euripideischen Bakchen, die Tom Chor geheißen wird, die Mänaden gegen Pentheus anzuspornen: auch da ist also höllischer Wahnsinn, freilieh neben wirklich bakchischer Ekstase, im Spiel.*) Hier bleibt der Gott ganz außer dem Spiel, obwohl sich die Orgien genau in derselben Weise vollziehen wie etwa in Euri- pides' Bakchen und sonst im Kult des Dionysos. Deutlich tritt bei Virgil römisches Empfinden zutage: der Gott Liber selbst kann einen ausschweifenden Mänadenkult nicht wollen, in dem ehrbare und hochgestellte Matronen alle Zucht und Sitte vergessen; der Name des Gottes wird dazu nur mißbraucht, was schwere Sünde ist darum maius adorta nefas und nur von höllischem Wahnwitz eingegeben sein kann. Ganz ähnlich hatte man ja einst in Rom die Bakchanalien, bei denen doch gewiß echte Ekstase eine Rolle spielte, als verbrecherischen Schwindel aufgefaßt und demnach polizeilich inhibiert.^) Wenn nun aber Amata mit ihren thiasi den Zweck verfolgt, ihre Tochter, als angeblich dem Gotte geweiht, der Ehe zu entziehen taedas morari , so erinnert dies an einen anderen vorgeschützten Bacchuskult, der ähnlichen Zwecken diente: den der Laodameia, die sich in Euripides' be- rühmtem Drama der Ehe durch solche Vorspiegelung zu entziehen suchte: deren tJiiasi dolosi^) mögen Virgil vorgeschwebt haben.

1) Wilamowitz, Herakles II' 196. Auch in Aeschjlos' Xantriai redete Lyssa ini^nd^ovaa xalg B<k%xaig. Natürlich ist der Übergang von bak- chischer Ekstase zu wirklichem Wahnsinn durchaus fließend.

2) In der Denunziation der Hispala (Liv. XXXIX 13) heißt es viros velut mente capta cum iactatione fanatica corporis vaticinari; mcUronas Baccharum hahitu crinibtts sparsis cum ard^ntibus facibus decurrere ad Tiberim, demissasque in aquam faces^ quia vivum sulphur cum ccUce insit, integra flamma eff'erre: also das Wunder als bewußter Betrug entlarvt. So denn auch ein christlicher Leugner des ivd^ovöLaoiiog, Amobius Vl7 Baccha- nalia . . in guibus furore mentito et sequestrata pectoris sanitate ctrct*m- pUcatis vos anguibus atque ut vos plenos dH numine ac maiestate doceaiis caprorum reclamantium viscera oribu^ dissipatis.

3) Stat. silv. II 7, 124; u. a. lehren die Sarkophage, daß die Sagen- version allgemein bekannt war. Der weithergeholten Kombinationen von M. Mayer, Hermes XX 123 können wir entraten: das Mänadentum erscheint überhaupt Mn einem Gegensatz gegen weiblichen Beruf und geschlechtliche Bestimmung': Rapp, Rhein. M. XXVII 21. Beachtenswert ist, daß bei Virgil außer Lavinia keine Jungfrau dem Thiasos sich anschließt: überall (392. 400. 580) ist ausdrücklich von maires die Rede. Das entspricht der griechischen Sitte historischer Zeit, von der auch in den mythischen Schil- derungen sich Spuren finden: Rapp a. a. 0. 12. 21.

/

Amaia. 185

f^reilich halt Amata ihre Fiktion nicht aufrecht: als die übrigen JUatronen^ yon gleichem Wahnsinn ergrilBPen, sich ihr zugesellen 'isjid sie nun in ihrer Mitte die Eienfackel schwingt^ wähnt sie ^v erwirrlen Geistes die Hochzeitsfackel im Brautzug zu tragen '^^Mni singt den Hymenaeus für die Tochter und Turnus.*) Aber :cKiitten im Gesang (so ist doch wohl 399 repente zu verstehen) ^^richt sie ab und ruffc die Latinerinnen auf zu gemeinsamem ^^iderstand gegen die Mißachtung des Mutterrechts^ deren sich X/atinos schuldig gemacht hat. Der Zweck^ den Amata, oder ^Allekto durch Amata erreicht^ ist ein doppelter: erstens wird XaTinia, frandosis motitibus ahditaj und als gewissermaßen gott- geweiht, dem Latinus vorläufig entzogen; zweitens werden die f rauen des ganzen Landes gegen die geplante Ehe erregt^ und das ^^rirkt auf die männliche Bevölkerung: quarum attonüae Baccho memora avia matres instdtant thiasis . . undique coUedi coeunt Mar- temque fatigant 580. Vielleicht hat Virgil hier ein griechisches üfotiVy das er übernahm, abgeschwächt, so daß es nicht ganz Uar zur Geltung kommt: es wäre wohl denkbar, daß in irgend «iner Dichtung die Männer durch eine ekstatische Bewegung, die «ich der Frauen bemächtigte und der diese sich ^lbt äxo6(iLag ^xdörig^) hingaben, etwa zu einem Kriege sich hätten bewegen lassen. Das wäre eine Fortbildung des Gedankens, den Aristoteles dem auffallenden Benehmen des Odysseus B 183 zugrunde legte: «r benehme sich unanständig, damit das Volk darüber verwundert sich zu ihm wende, 'wie es auch Solon gemacht haben soll, als er das Volk wegen Salamis versammeln wollte'; noch näher würde die von Dümmler (Kl. Sehr. II 405 fg.) mit Recht in diesen Zu- sammenhang gerückte dötoxia der Neleustochter Elegeis dem in Virgils Vorlage anzunehmenden Motive kommen; auch Virgil scheint zu meinen, daß die Männer zum Kriege drängen, um den zuchtlosen Taumel der Weiber zu enden. So ist ein sehr ge- eignetes Mittel gefunden, die Kriegswut durch ganz Latium zu

1) Hat dabei die Szene der Troades vorgeschwebt, wo Eassandra, ßtaixevovaa (841) oder fiaivdg (349), die Fackel schwingeiid sich selbst den Hjmen&us singt (808 sqq.)?

2) So Apollodor II 27 von den Proitiden. Charakteristisch, daß auch MacTobins' Autorität gerade an der &%oönia der Königin und ihrer Frauen Anntofl nahm: regina de penetralibus reverentiae matranalis educitur . . bac€haHir ehorus guondam pudicus et orgia insana celebrantur.

186 Fanftes Kapitel. Aeneas in Latiom.

verbreiten: die Weiber, als ansteckendem Irrwahn leicht zuganglich— sind das Medium^ durch das die in der Masse schwerer bewegliche!]^ Männer jeder einzeln zum Widerstand gegen Latinus' Pläne ent :flammt werden. Man muß nur bedauern, daB dies gut erfundenes Motiv infolge der Unklarheit der Behandlung nicht voll zur-^ Geltung kommt.

3.

AUekto hat ihr höllisches Werk begonnen mit derjenigen^ Aktion, die am wenigsten unmittelbare Wirkung haben kann undK zu ihrer Entwickelung die längste Zeit braucht, die zunächst nur:= vorläufig den Plan des Latinus durchkreuzt, indem sie seine Aus führung verzögert.^) Sie wendet sich nun an die eigentlichem Triebfeder des Kriegs, Turnus. Zu dem Schlafenden tritt sie in^ Gestalt der Junopriesterin und reizt ihn mit Worten, die auF^ seinen männlichen Stolz und Ehrgefühl trefflich berechnet sind;^ sie nennt selbst Juno, in deren Auftrag sie spreche. Turnus^ antwortet abweisend; da ergrimmt die Furie, erscheint in ihrer wirklichen Gestalt und stößt ihm die Fackel in die Brust: ei^ fährt aus dem Schlaf auf, in Schweiß gebadet, und fortan brennt in ihm das höllische Feuer. Auch in dieser Erzählung hat- Virgil durch Vereinigung mehrerer Motive die Klarheit des ein- zelnen getrübt. Der Erscheinung des Traumbildes liegt zunächst der Traum der Penelope d 795 fg. zugrunde, der ein von Athene gesandtes etScokov in Gestalt ihrer Schwester Iphthime Trost ein- spricht. Penelope antwortet im Traum wie Turnus (und das gerade unterscheidet diese Traumerzählung von den übrigen home- rischen), indem sie ihre Sorgen ausspricht: da gibt sich das südcokov als von Pallas, die den Telemach selbst beschütze, gesandt zu erkennen, und nun ist Penelope beruhigt. Ualkag . . ij vvv fis XQOStjxe rslv xdöe fix}d^6a6d'ai: das hat Virgil mit ipsa palam fari omnipotens Satumia iussü gleich in die erste Rede mit auf- genommen, und in der Tat kann ja Calybe als Priesterin der Juno im Traum deren Auftrag erhalten haben'): uns freilich scheint

1) Daß heißt postquam visa satis primos aetiisse furores consilium' gue omnemque domum vertisse Latini 406; von einer wirklichen Sinnes- ändemng des Latinus ist hier selbstverständlich nicht die Rede.

2) Der Zusatz placida cum node iaceres würde die Sache allerdings gänzlich verwirren: damit gäbe sich ja der Traum gleich von vornherein

I

AUekto. '187

es nicht recht glücklich, wenn Turnus diese Offenbarung zurück- iveist und sich dann selbst auf Juno beruft^ die ihn nicht ver- Spessen werde. Die Verse sind nicht zum Abschluß gebracht, wie der Halbvers 439 lehrt: Turnus sollte wohl sagen,, er glaube nicht aui die vorgebliche Mahnung der Juno, denn diese werde es nicht 80 weit kommen lassen, dafi seine Braut ihm vorenthalten werde. X)aran schließt sich die höhnische Zurechtweisung, die der Allekto £;anzen Zorn entflammt. Formell sind das Vorbild für die Schluß- Averse Hektors Abschiedsworte Z 490^): das Motiv der Abweisung gottlicher Warnung und des folgenden göttlichen Zorns ist aber anderer Herkunft. Eallimachos läßt (in Dem. 42) Demeter in Clestalt ihrer Priesterin Nikippa*) freundlich warnende Worte an Erysichthon richten, der ihren heiligen Baum fällen will; er weist sie schnöde ab: da zeigt sie sich in ihrer göttlichen Ge- stalt und Größe td-iiata (ihv %iQ6m^ xstpakä dh ot a^ad"^ 'OkvfiJtov und stößt furchtbare Drohung aus. Entweder aus Kalli- machos selbst oder aus einer sehr nahe verwandten Erzählung hat Virgil sein Motiv entlehnt: an die wohl in letzter Linie den Ausgang bildende Wechselrede von Helena und Aphrodite T 386 fg. zeigen sich bei ihm keine Anklänge im einzelnen; wohl aber ist der Erfolg der göttlichen Zomrede der gleiche: wie hier Turnus, tut dort Helena eilends, was sie anfangs verweigert hatte. Eben dieser Umschwung und die dadurch ermöglichte dramatische Steigerung der Erzählung ist es gewesen, was Virgil dazu be- wogen hat, das Traunmiotiv der Penelope mit dem Helena-Ery- sichthonmotiv zu verbinden, obwohl, wie man nicht leugnen kann, dieses letztere innerlich hier nicht völlig berechtigt ist: während es zur Charakterisierung der Helena wie des Erysichthon ganz

als solcher, 'wUhrend doch Turnus dann noch der wirklichen Calyhe ant- wortet. Ich halte Elou9ekB YerheBserung iacerem für evident.

1) eura tibi divom effigies et templa tueri: bella viri pacemque gerant^ ^is beUa gerenda: &XX' elg olnov lovüa a' a{>tfjs iQya %6fii^s, icx6v t* riitaLavriv te . . . TtolsfLog d* ävögsaat, (iBlrjaet. Die Worte quis heUa gerenda kann nur streichen wollen, wer die Pointe nicht versteht; der Ausdruck hat doppelte Bedeutung, zuerst ^für Krieg (und Frieden) Sorge tragen', dann 'Krieg fahren': so kommt auch erst AUektos Schlußwort heUa manu letum- que gero recht zur Geltung, indem der Ausdruck hier eine dritte Bedeutung annimmt.

i) So ist übrigens auch bei Aeschylus Hera als Priesterin verkleidet aufgetreten in den Xantrien, fr. 168.

188*^ Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

wesentlich beiträgt, daß jene zunächst den Versuch macht, sich Paris zu entziehen, dieser die priesterliche Mahnung aufs roheste zurückweist, so könnte Virgil höchstens beabsichtigt haben, zu zeigen, daß Turnus von yomherein ruhigen Bluts und keineswegs geneigt ist, seine Ansprüche mit gewaffiieter Hand geltend zu machen; aber das scheint ausgeschlossen dadurch, daß seine Ab- weisung bloß durch seinen Unglauben gegenüber dem wahrheits- gemäßen Bericht der Calybe begründet wird.

4. Turnus heißt seine Rutuler sich rüsten, um zimächst Latinus nachdrücklich von der neuen Verbindung abzuraten. Dabei wäre immer noch vielleicht eine friedliche Verständigung möglich; AUekto weiß, daß der Bruch unheilbar wird, erst wenn Blut ge- flossen ist, und so krönt sie ihr Werk durch den dritten Angriff: Trojaner und Latiner sollen handgemein werden. Dabei empfahl es sich aus zwei Gründen, den Ausgangspunkt des Zwists auf trojanische Seite zu legen. Es ist erstens alles darauf angelegt, um den Thron des Latinus allen erdenklichen Zündstoff zu häufen, denn dort soll ja schließlich die Flamme des Kriegs auflodern und ausbrechen. Die Untertanen können aber von Latinus den Krieg nur fordern, wenn sie sich selbst verletzt glauben; haben sie selbst den Streit begonnen, so fehlt ihnen Grund und Anlaß zur Empörung gegen die Fremden^ und sie dürften nicht wagen^ als Rache Heischende vor den König zu treten. Andererseits konnte es Virgil nicht gleichgültig sein, daß er auf diesem Wege die Tradition, so gut es ging, zu Ehren brachte, die ja die Über- griffe der Ansiedler Beutezüge oder sonstige Einfälle in lati- nisches Gebiet den Grund zum Kriege sein ließ. Virgil operiert sehr geschickt, indem er die Schuld auf troischer Seite so viel wie möglich mildert und doch die Erregung des latinischen Landvolks zu motivieren weiß. Des Landvolks das wird mehr- fach ausdrücklich betont (504. 521. 574), offenbar im Gegensatz zu der durch Amata erregten städtischen Bevölkerung (384); von den unzivilisierten, undisziplinierten^) Scharen, die stets bereit

1) duri agrestes 604, indomiti agricolae 521. Es scheint mir wichtig, daß man, nm die Vorgänge im Sinne Yirgils zu verstehen, sich jeden Ge- dankens an die milden und frommen Hirten der Bucolica und Greorgica ent- schlagen und vielmehr an den mißtrauischen , fremdenfeindlichen, gproben

Der Hirsch der Silvia. 189

sind, auf den Raf des Hirtenhorns einander zu Hilfe zu eilen^ um JRanber und wilde Tiere abzuwehren, von ihnen, die ganz dem augenblicklichen Impulse der Leidenschaft ohne reifliche Über- legung folgen, soll der erste Streich geführt werden.^) Aber das "Unrecht, das sie zur Gegenwehr reizt, ist hier kein Raub oder fireyelhafter Übergriff sondern eine Kränkung, an der derE[ränkende Selbst, Ascanius, unschuldig ist. Allekto weiß zu bewirken, daß ^r den zahmen Hirsch, den Hausgenossen der angesehenen und zahlreichen Familie des Tyrrhus, auf der Jagd tödlich verletzt, natürlich ohne zu ahnen, was es mit diesem Hirsch auf sich hat. bezeichnend, daß sich Allekto an den gottgeliebten Knaben selbst nicht wagt: sie führt seine Hunde auf die Spur, nachdem sie ihnen rabiem obiecüy wie einst Artemis den Hunden des Actäon. Ascanins, der Jagd (die ja zu Yirgils Zeit als echtrömische Übung galt) leidenschaftlich ergeben, erblickt den prächtigen Hirsch und, Yon begreiflichem Ehrgeiz (eximiae laudis sttccensus amore) gepackt, legt er auf ihn an. Die ihn zuerst verwundet sieht, ist Tyrrhus' Tochter Silvia; sogleich bricht sie in Jammern aus und rofi das Landvolk zu Hilfe: so geht von einem Weibe, das viel eher als der Mann besinnungslos dem Schmerz sich hingibt, der Anstoß aus; für die weitere Verbreitung sorgt dann Allekto (505. 611). Das Ganze ist zweifellos freie Erfindung Virgils: das Motiv der Unglücksjagd ist zu hellenistisch-genrehaft, als daß es in einer historischen Fassung der Legende mit Wahrscheinlichkeit gesucht werden dürfte. Aber den zahmen Hirsch und seine un- beabsichtigte Erlegung hat der Dichter vielleicht der Cyparissussage entnommen, die ihm, wie Ovid*) in Verbindung mit pompeja-

nnd jähzornigen rtisticus der Wirklichkeit denken muß, der bei jeder anch eingebildeten Ki^Uikung mit Steinwürfen oder Schwerthieben bei der Hand ist (Cassiiis an Cic. ad fam. XYI 19, 4 scis quo modo [Pompeius] crudeli- tiUem virtutem putet; scis ^[uam se semper a nobis derisum putet; vereor ne no8 rustice gladio velit &vrnivxT7iQlaai)^ und der Yirgil gewiß ans eigener Anschauung und Erfahrung gut bekannt war. Unter den überlieferten Charakterzügen des griechischen und römischen Bauern, die Ribbeck (AgToikoB, Abb. d. sächs. G. d. W. X 1 1885) gesammelt hat, treten die oben erwähnten häufig auf.

1) Dagegen der reiche Galaesus, der Großgrundbesitzer unter den Hirten und Bauern, bewahrt die Besinnung und will Frieden stiften (685).

2) Möglich, daß Ovid die Verse 121 fg. tu pabula cervum ad nova, tu liquidi ducebas fontis ad undam, tu modo texebas i'artos per cornua flores

190 FüofteB Kapitel. Aeneas in Latinm.

nischen Bildern (besonders Heibig 219 vgl. mit Oy. met. X 113) lebrt^ in einem hellenistischen Gedicht vorlag. Ich möchte fast sagen, man begreift den Schmerz und Zorn der Silvia und die übrigen Folgen des unglücklichen Schusses erst recht, wenn man den traurigen Ausgang der Cyparissusgeschichte im Gedächtnis hat; der hellenistische Dichter wird kein Mittel reifer Kunst un- benutzt gelassen haben, um den tödlichen Kummer des Knaben in rührender Weise dem Leser zu Herzen zu führen; Virgil mußte sich, epischem Tone gemäß, auf Andeutungen beschränken, und entging trotzdem dem Tadel nicht: einem antiken Kritiker er- schien das ganze Motiv als leve nimisqtie puerüe (Macrob. L c).

Wie nun zunächst auf Silvias Ruf die Ihren herbeieilen, Tyrrhus vom Holzfällen mit der Axt bewaffnet seine Schar ruft, wie dann irgendwer es muß wohl die Furie selbst gewesen sein das Notsignal bläst und es sogleich von allen Seiten strömt, das hat Virgil lebendig geschildert; und da Ascanius in Gefahr zu sein scheint, begreift sich auch, warum die troische Mann- schaft sofort zur Schlacht gewappnet ausrückt bei irgend einem beliebigen Troer wäre das erst eigens zu motivieren ge- wesen. Dann kann es nicht ausbleiben, daß Blut fließt, und kein Wunder, daß die notdürftig bewaffneten Landleute den kriegs- geübten Troern gegenüber den kürzeren ziehen. Das Blut schreit nach Rache.

So ist, mit künstlerisch berechneter Steigerung, das Werk der Allekto zu Ende geführt: sere crimina beUi, a/rma vdit pos- catqtie simtd rapiatque iuventus hatte Juno geheißen, und stant belli causae kann sie nun mit Befriedigung feststellen (553). Nun, da das Unheil im Zuge ist, bedarf es der höllischen Hilfe nicht mehr: ist die discordia unter den Menschen erwachsen, so wächst sie mit innerer Notwendigkeit zum Kriege aus. Die drei ver-

Bchrieb in Erinnerung an Virgil 488 (Silvia) mollibus intexens omalnU cor- nua sertiS' pectebatque ferum puroque in fönte lavahat: aber ganz ähnlich muß die griechische Vorlage gelautet haben, aus der ja Ovid sicherlich das unmittelbar Anschließende {nunc eques in tergo residens etc.) entnahm. Virgil hat aus dem zahmen, den Nymphen heiligen Hirsch (man denke an den heiligen Hirsch der Diana in Aulis) ein Haustier gemacht und deshalb ihn auch zu Haus fütt«m lassen {mensaeque adsuetus erili 490): Ovid hat hier wohl eher das Ursprüngliche bewahrt, wenn er den Hirsch von Cypa- rissus nur zur Weide fuhren läßt.

'Erster Kampf. Ilias. 191

sciliedenen Sbröme der Eriegswut yereinigen sich im Palast de» Latin 08 y und vergebens yersucht der schwache Greis sich ihnen en^^^enzQstemmen: es ist dafür gesorgt, daß er in seinem Wider- stand allein bleibt, und die Wogen gehen über ihn hinweg. Der wirkliche Ausbruch des Kriegs verlangt aber noch nach anschau- licher Verkörperung: so gestaltet Virgil, was bei Ennius (s. o. 182) vielleicht nur Bild gewesen war^ zum Ereignis: das öffiien der BeUi portae. Durch die Schilderung des Tempels und den feier- lichen Hinweis auf die noch jetzt bestehende Sitte wird der Handlung das nötige Schwergewicht gegeben^ und indem nicht wie bei Ennius Discordia sondern Juno selbst die Pforten auf- stoßt, erscheint trotz Allektos Hilfe der Krieg selbst doch als ihr eigenstes Werk.*)

IIL Die Kämpfe.

Vier Bücher der Aeneis, ein Drittel des ganzen Gedichts,. sind mit Kampfschilderungen angefüllt. Die Ökonomie des Ge- dichte verlangte, daß ihnen ein beträchtlicher Raum angewiesen werde; es mußte dem Aeneas Gelegenheit zur Entfaltung seines Heldentums gegeben werden, vor allem auch, um den Besiegten von Troja zu rehabilitieren; und abgesehen von Aeneas selbst: Schlachten und Siege erfüllen die Geschichte Roms, so mußte auch die Vorgeschichte Roms von Schlachten und Siegen Er- habenes berichteu. Der Typus der heroischen Kämpfe war in der nias gegeben: Virgil konnte nicht daran auch nur entfernt denken, diesen Typus selbständig umzuformen oder gar durch einen ganz abweichenden zu ersetzen. Die Ilias hatte aber auch von der Reiterschlacht abgesehen so ziemlich alle denk- baren Erscheinungsformen dieses Typus erschöpft, und der Ver- Buchy neue Formen auszusinnen, hätte höchstens auf Seltsamkeiten gefährt. So ist denn Virgil in diesen Schilderungen von Homer so abhängig, wie sonst nur noch etwa in den Leichenspielen; und doch sind die Schilderungen durch und durch virgilisch.

Die Schwierigkeiten der Aufgabe waren nicht gering. Für die charakteristische Zeichnung seiner Personen fand Virgil in der

1) Es sprach aber gewiß bei Virgil die Erwägung mit, daß er dem Höllend&mon das Recht nicht zugestehen wollte, das Heiligtum zu be- rühren: insofern korrigiert er den Ennius.

192 Fanftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

dürftigen Tradition so gut wie keinen Anhalt, vtbt also fast au ^s schließlich auf seine Erfindung angewiesen, und doch in der Er*" findung dadurch gebunden, daß er es möglichst zu yermeidess^ ^

hatte, das Neugeschaffene als solches empfinden zu lassen. Ei ^

kühnes Heraustreten aus dem Kreise der feststehenden mythistc=3 rischen Typen wäre wider den Stil gewesen; jede Aufdringlich:^ keit der Fiktion, jedes Hineintragen von offensichtlich modeme^v Verhältnissen hätte die Illusion zerstört, daß hier uraltgeheiligb^ Überlieferung geboten werde. Was die Handlung, also die Motiv^^ und Szenen der Kämpfe selbst angeht, so war hier freilich di^3 Übertragung des Homerischen an sich leicht zu bewerkstelligen^^ dabei aber große Vorsicht vonnöten. Das schlachtenfroh^' Publikum Homers konnte nicht genug von heroischen Einzel kämpfen hören; man merkt es dem Dichter an, wie er selbst eii^ reges technisches Interesse an den Wechselfällen des Lanzen- un(9^ Schwertkampfs, an den Verwundungen und Todesarten hat, im<9 er darf das gleiche Interesse bei denen voraussetzen, für die e^r: singt. Auch Virgils Zeit hatte Schlachten genug erlebt, und di^s Art, wie sie ausgefochten yrurden, stand immerhin der home rischen noch vergleichsweis nahe man erinnere sich, daß auctir in der römischen Taktik die Tüchtigkeit des einzelnen Mannes ^ nicht die Masse den Ausschlag gab ; aber wie wenige vonin Virgils Hörern und Lesern hatten je selbst ein Schwert geführt^^ imd vor allem, wie fem stand der Dichter selbst dem Waffen - handwerk. So sah er sich vor der ungeheuer schwierigen Auf— ^ gäbe, Personen, die eigens zu diesem Zwecke erst zu erfindend waren, Taten verrichten zu lassen, zu denen er selbst und sein^ Publikum ein inneres Verhältnis nur insoweit hatten, als ihrc^ allgemein menschliche Anteilnahme erregt wurde.

Die Richtschnur, die Virgil dieser Sachlage entnahm, war die: das Interesse auf möglichst wenig Personen zu konzentrieren, die Kampfschilderung durch vorsichtige Verwendung römisch- nationaler Züge seinen Hörern zu tunlichster Anschaulichkeit zu bringen, den allgemein menschlichen, also psychischen Gehalt der Taten zu betonen und in der Komposition durch Abwechslung imd energischen, dramatischen Fortschritt der Handlung die Spannung des Hörers wachzuhalten.

Typen der Kampfschilderung. 193

1. Rubrizieren wir die Formen der Kampfschilderung, so zeigt sich sofort, daß die ägtörelcCy also der Bericht über eine längere fieihe von Heldentaten eines Mannes^ durchaus überwiegt So ist IX &8t ausschließlich Aristie des Turnus; in X haben wir 310 bis 344 Aeneas, 862—509 Pallas' Taten und Tod durch Turnus' Hand, 510—605 wieder Aeneas (606—688 ist Einschub: Ent- fernimg des Turnus), 689 746 Mezentius und 755 bis zum Schluß 908 desselben Tod, als erste entscheidende Tat des Aeneas. Die Kampfe in XI (597—895) sind zum aUergrößten Teü (647—724, 759—867) Aristie und Tod der Camilla, unterbrochen durch eine Tat des Tarchon (725—758), abgeschlossen (868—895) durch die Schilderung der Polgen von Camillas Tod: Flucht der Latiner ond Yerfolgui^ bis unter die Mauern der Stadt. In XII endlich folgt auf den Schuß des Tolumnius und das anschließende Hand- gemenge am Altar (257 310) die Verwundung des Aeneas (311 bis 323), sodann wieder eine Aristie des Turnus (324 382) und die Heilung des Aeneas (883 440): dann sein Auszug mit den Getreuen, von denen kurz einiges berichtet wird (458 461), der Angriff des Messapus auf Aeneas und eine sozusagen kombinierte Aristie des Aeneas und des Turnus (500 553), bis dann Aeneas' Angriff auf die Stadt zum entscheidenden Zweikampf überleitet (554—696), der das Gedicht abschließt (697—952). Es sind also {finf Personen, auf die sich das Interesse konzentriert: Turnus, Aeneas, Pallas, Mezentius, CamiUa; von ihnen spielen nur Turnus nnd Aeneas in mehr als einem Buche eine Rolle; in zwei Büchern (IX und XI) herrscht je eine Person allein. Nimmt man weiter dazu episodische Einzeltaten anderer Nisus und Eurjalus IX 176—502, Ascanius 590—671, Tarchon XI 725—759 und sieht von den wenigen Personen ab, die als Gegner der Haupt- faelden einige Bedeutung gewinnen, um deren Aristie zu heben Lausus X 791—832, Aunus XI 699—724, Arruns 759 ff., in zweiter Linie Pandarus und Bitias IX 672 716, Halaesus X 411 bis 425 , so bleiben ganz wenige und wenig umfängliche Stücke übrig, die dazu dienen, eine Vorstellung von der allgemeinen Schlacht zu geben, wobei Namen der Sieger und Besiegten ge- nannt werden; und man bemerkt, daß Virgil nur je einmal in jedem Buche ein solches ^Metzelstück' seinen Lesern zumutet: IX 569—689 (durch 573—575 noch halb zu Turnus' Aristie ge-

H«lnie, Virgili epische Technik. 2. Aufl. IH

194 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

hörig), X 747—754 (dazu, etwas anders, 345—361), XI 612 biflS 647 (darin aber 618—635 ganz allgemeine Schilderung vom Hin und Herwogen des Kampfs), XH 458 461. Und zwar erweitert* sich hier die Erzählung nur ausnahmsweis zur wirklichen Schilde rung von Einzelkämpfen (so in XI, ferner IX 576 589, und inmz dem nicht eigentlich hergehörigen Stück XII 287 310); im^ übrigen sind es bloße Anhäufungen von Namen, nach Art von^ Ilias Z 29 36, an die sich einmal (IX 576 fg.) eine etwas aus geführtere Schilderung zweier Kämpfe anschließt, etwa wie in ,S 511 sqq. auf die Zusammenhäufung ^ie notdürftig qualifizierte»' Tötung des Hyperenor folgt. Dagegen ' fehlt bei Virgil gänzlich der nicht seltene homerische Typus der Kettenkämpfe, wie man. sie nennen könnte, bei denen der Versuch gemacht ist, mehrere Einzelkämpfe verschiedener Helden in eine Art Zusammenhangs zu bringen um ein Beispiel zu nennen, E 533 sq.: Agamemnon tötet Deikoon, den Genossen des Aineias, darauf dieser zwei Brüder, die dem Atreiden zu Liebe gen Troja gezogen waren,, darauf iXiri^s Menelaos, dem sich Antilochos zugesellt: die beiden töten nun ihrerseits zwei Troer; diese iv6i^6sv Hektor und rächt ihren Tod durch den zweier Feinde; diese iXdrjffe Aias und triflPt den Amphios (vgl. auch z. B. N 576—672, S 440—507, O 518 bis 59]). Solche Reihen wirken ermüdender als rasche nackte Aufzählungen, wenn nicht wenigstens bekannte Helden darin auf- treten, die einige Anschaulichkeit gewähren; und solche hatte eben Virgil nur wenig zur Verfögung.

2.

Das Bild des Kampfes, wie es sich aus Taktik und Art der Bewafi^nung zusammensetzt, ist dem homerischen zwar im wesent- lichen getreu nachgebildet, aber doch gelegentlich mit Zügen ausgestattet, die im römischen Leser die Empfindung erwecken, daß ihm Kämpfe seiner eigenen Vorfahren geschildert werden: dabei ist in manchen Fällen zu konstatieren, daß Virgil solche Züge vornehmlich von den einheimischen Kämpfern berichtet. Von Feldzeichen ist sonst nur in Wendungen wie signa se^i die Rede, aber den Beginn des Krieges verkündet Turnus durch das auf der Burg aufgesteckte vexiUum}) Den Misenus hatte

1) VIII 1 ut belli Signum Laurenti Tumtts ab arce extulit^ et rauco strepuerunt camua canUi: vgl. Lersch, Antiqmtates Vergilianae 48. Daa

F

Homerisches und Römisches. Reiterei. 195

Virgü in III und VI, der Tradition zufolge, als Trompeter ein- gefUurt, auch ausdrücklich bemerkt, daß er als solcher Hektor zur Seite stand (VI 167); in den Kämpfen wird der cUzssica oft gedacht, die mit iuba, bucina oder comu gegeben werden; aus- nahmslos aber da, wo von Etruskem oder Latinem die Rede ist^): Yirgil weiß, daß die Trompete als Erfindung der Tyrrhener gilt und den homerischen Kämpfern noch unbekannt ist.^)

Wohl der wesentlichste Unterschied der virgilischen von den homerischen Kämpfen ist die Einführung der Reiterei; Virgil hft fiie auch den Trojanern unbedenklich zugesprochen, veranlaßt Termutlich durch den ludus Trojae, dessen Herleitung aus der alten Heimat ja ohne diese Fiktion nicht möglich wäre wir wissen leider nicht, wie die römischen Antiquare sie mit dem Fehlen des Reiterkampfs bei Homer ausgeglichen haben. Es werden demnach vereinzelt troische Reiter erwähnt (Glaucus und Lades XH 343, Thymoetes 364, Amycus 509), aber darunter keiner der Vornehmen oder der Führer: Aeneas selbst sehen wir wohl auf dem Marsch (VIU 562), nie aber im Kampf zu Pferde. Die eigentliche Kavallerie in Aeneas' Heer stellen die Bundes- genossen^, die Arkader des Euander (VIII 518; X 364) und die Stnisker des Tarchon, die denn auch in XI als die eigentlichen Gegner der Camilla auftreten (Tyrrhenos equites 504, Etruscique duces eguUumque exercUus omnis 598, Tusci 629, Tyrrheni 733), wenngleich vereinzelt Troer auch hier nicht fehlen (Orsilochus and Butes 690, Cbloreus 768). So pflegt denn auch der Etrusker- könig Mezentius auf dem Schlachtroß in den Kampf zu ziehen (X 859), und sein Sohn Lausus heißt equum domitor VU 651.

Buch ist, von nützlichen Einzelheohachtungen ahgesehen, verfehlt infolge der Tendenz des Verfassers, alles bei Virgil auf römische Zustände zurück- zuführen und die homerische Imitation so gut wie gänzlich zu eliminieren.

1) VIT 618. 519. 628. «37. VIU 2. IX 394. Ö03. XI 192 (vgl. 184 Tarchon). 424. VlJI 526 bei dem Himmelszeichen, das den Aeneas dazu bestimmt, sich an die Etrusker zu wenden: Tyrrhenus tubae mugire per adhera clamor.

2) Darauf hatte man selbstverständlich auch im Altertum geachtet: schol. zu 27 219.

S) Von Beitergeschwadem (alae) weiß Virgil nur bei den Italikeru (Yolsker XI 604. 868, Etrusker XI 730, Arkader XI 885); daß die 300 Kelter des Yolcens der Reiterei einer alten römischen Legion entsprechen, be- merkt gehen Servius (IX 868).

13*

196 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

Auch auf latinischer Seite sind es die Bundesgenossen, die das Hauptkontingent der Reiterei stellen, obwohl sie den Butolem (IX 48, doch vgl. VII 793) und Latinem (XI 603) nicht ganz fehlt. Turnus selbst reitet nur mit ausgesuchten Begleitern, um möglichst rasch an das Lager der Feinde zu kommen (IX 47), nicht in der Schlacht: da sind beritten die Falisker unter Messapus, dem Neptunssohn und Rossebändiger, den der Dichter unserer Phantasie als den Reiter par excellence ebenso einprägen will wie Turnus als den Wagenkämpfer (X 354; XI 464. 518. 692; Xu 295; equum domitor bei ihm, eines der wenigen epitheta constanHa Virgils, VII 691; IX 523; XII 128); femer die Tiburtiner unter Catillus und Coras (XI 465. 519. 604), die deshalb, wie Servius gut bemerkt (VII 675), mit Centauren verglichen werden; endlich und vor allem die Volsker unter ihrer jungfräulichen Führerin Camilla (VII 804; XI passim), die denn auch in der Reiterschlacht von XI die gesamte latinische Reiterei befehligt (XI 519).

Diese Reiterschlacht hat Virgil, wie oben bemerkt, zwischen X und XII eingeschaltet, um durch den Wechsel der Eampfart wie der kämpfenden Personen der Ermüdung vorzubeugen: in der Tat kommt der Leser dem Entscheidungskampfe in XII so mit frischerem Interesse entgegen, als wenn sich dieser unmittelbar an die erste, in den Formen und Personen ganz gleichartige Schlacht anschlösse. Um aber den Reiterkampf nicht schon in X vorwegzunehmen, wurde dort fingiert, daß die Arkader durch Terrainschwierigkeiten genötigt worden seien, zu Fuß zu kämpfen, was zugleich ihr anfängliches Unterliegen erklärt (X 364); für die Tyrrhener ist eine ähnliche Motivierung nicht erforderlich, da sie beim Kampf um die Landung natürlich nicht daran denken können, die Pferde auszuschififen. Andererseits mag der Umstand, daß es zunächst sich um die Berennung des feindlichen Lagers handelt, zur Erklärung dafür dienen, weshalb die latinische Reiterei, also auch Camilla, in X noch nicht auftritt^): wiewohl es sehr ungewiß ist, ob Virgil selbst daran gedacht hat, dieses ihr ver- spätetes Auftreten so zu motivieren.

\ 1) So kämpft denn anch Mezentins in X zunächst zu Fuß, erst als ihm

di^ Verwundung das Gehen unmöglich macht, besteigt er sein Pferd; das führt- zu dem eigenartigen Kampfbild des Fußgängers Aeneas mit dem «leitet X 883—894.

Beiterkampf. 197

Fär die Reiterschlacht selbst mußte sich Virgil von seinem ständigen Führer Homer emanzipieren: die Schilderung ist darum nicht geringer ausgefallen Freilich dürfen wir nicht ohne weiteres alles als Virgils Erfindung in Anspruch nehmen, denn es hat ja, wie so viele bildliche, so auch sicherlich poetische Schilderungen Yon Amazonenkämpfen gegeben, aus denen Motive für Camillas Kampfe zu entlehnen waren; Yirgil erinnert selbst 659 fg. an die Amazonen am Thermodon, an Hippolyte und Penthesileia. Daß freilich Yirgil aus dem alten Epos, Amazonie oder Aithiopis, für seine Reiterschlacht geschöpft habe, ist undenkbar; abgesehen von der UnWahrscheinlichkeit, daß Yirgil diese Epen gekannt habe, schon darum, weil er Penthesileia gar nicht als Reiterin, sondern nur als Wagenkämpferin kennt (seu cum se Martia curru Penthe- süea refert XI 661), gewiß aus mythographischen Kompend(ien und Illustrationen: ein weiterer Beleg dafür, daß die berittenen Amazonen dem alten Epos fremd gewesen sind.^) Aber schon in früher Zeit, sicher im 6. Jahrhundert, ist die jYorstellang der be- rittenen Amazone durchgedrungen und nicht wieder verloren ge- gangen; nur sind die Gegner der Reiterinnen in der bildlichen Tradition, soviel ich sehe, durchweg Hopliten, nicht wie bei Yirgil ebenfalls Reiter: und gerade dieser Umstand gibt seiner Schilde- rung die eigentümliche Farbe. Wie die beiden Heerhaufen zu- nächst in geordneter Schar gegeneinander anrücken, dann, als sie bis auf Wurfweite sich genähert haben, plötzlich losbrechen und die vordersten, Tyrrhenus und Aconteus, mit den Rossen aufeinander prallen, so daß der eine wie vom Blitz getroffen herabschießt das ist ebenso anschaulich und lebendig geschildert wie das folgende Hin- und Herwogen der Massen, das dem eigentlichen Handgemenge vorangeht. Da sehen wir ein getroffenes Pferd sich hoch emporbäumen und mit den Yorderfüßen in der Luft schlagen (638); einen Reiter sich mühsam auf dem verwundeten und stürzen- den Pferde halten und die Zügel wieder zu gewiimen suchen: ein anderer will ihn stützen, beide werden tödlich getroffen (670); durch ein geschicktes Reitermanöver faßt Camilla einen Yerfolger

1) Wie das ans der bildlichen Überlieferung Graf erschlossen hat, WisBOwas B. E. I 17S0, gegenüber Welcker, Benndorf, Löschcke (Bonner Stadien 266). Von des Domitius Marsns Amazonis wissen wir leider gar nichts, nicht einmal ob sie Yirgil bereits vorlag.

198 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

im Rücken (694); Tarchon reißt einen Gegner vom Pferd zu sich hinüber und sucht ihn^ während er ihn vor sich festhält, mit der eigenen Lanzenspitze zu töten (741); hier ein Etrusker, in Felle gehüllt und mit leichten Speeren bewaffnet, als ob er zur Jagd ritte (677), dort ein Troer, gepanzert auf gepanzertem Roß (770); Verfolgungs- und Fluchtszenen mannigfacher Art (760. 780. 783. 814).^) So sieht die in eine bestimmte Richtung gedrängte Phan- tasie die Kämpfer beritten, auch wo dies ausdrücklich nicht er- wähnt ist (666. 673. 675), und wenn Camilla, durch den feigen Ligurer überlistet, einmal vom Pferd steigt, um der Herausforde- rung zum Fußkampf zu folgen, so findet es jeder Leser, der mit einigem guten Willen den Intentionen des Dichters gefolgt ist, selbstverständlich, daß sie nachher ihr Pferd, das inzwischen die Begleiterin hielt (710), wieder bestiegen hat (827), auch ohne daß dies ausdrücklich gesagt ist: es müßte im Gegenteil aus- drücklich gesagt werden, wenn Camilla zu Fuß weiterkämpfte.*) Der Streitwagen spielt eine weit geringere Rolle als in der Ilias: schon deshalb, weil er nur auf latinischer Seite erscheint. Das hat Virgil strikt beobachtet, offenbar in der Erwägung, daß Aeneas imd die Seinen Wagen übers Meer nicht mitgefiihrt haben, die Hilfstruppen aber, Arkader imd Etrusker, wesentlich Reiter- scharen bilden. Aber auch auf latinischer Seite ist der Wagen eine Auszeichnung, die dem gemeinen Soldaten nicht zukommt; er ist

1) Man halte etwa dagegen, was Quintus, der Penthesileia beritten sein läßt, mit diesem dankbaren Motiv anzufangen weiß: I 166 besteigt Penthesileia ihr Roß; 338 trägt dies Köcher und Bogen; 600 will Achill die Verwundete vom Rosse ziehen und durchbohrt sie dann samt diesem: das ist alles; im übrigen wird der Kampf wie jeder andere geschildert. Ob die 12 Begleiterinnen der Penthesileia beritten sind, erfahren wir über- haupt nicht.

3) Einen ganz analogen Fall haben wir z. B. in Dias O, wo Hektor 320 vom Wagen steigt, um gegen Teukros vorzugehen, und kurz darauf (348) wieder fährt, ohne daß es der Dichter für nötig befunden hätte, das selbst- verständliche Wiederaufsteigen zu erwähnen. pedem reportat 764 von Camilla ist ebensowenig wörtlich zu verstehen wie circuit 761 oder subit 763 von Arruns, der dann 766 celeris detorqtiet habencts. Daß die un- gepanzerte und nur durch die parma gedeckte Camilla sich nicht zu Fnß medio agmine (762) herumbewegt, bedarf eben keiner besonderen Erinnerung. Eher könnte, wer denn Pedant sein wollte, fragen, woher Camilla 711 ein Schwert nimmt, da sie doch selbst unseres Wissens keins fahrt und auch sonst in dem ganzen Reiterkampf keins gebraucht wird.

Streitwagen. Bewaffnung. 199

Tor allem in X und XII das standige Attribut des Turnus.^) Turnus springt vom Wagen, als er Pallas entgegenti'itt (X 453), fahrt mit seinem gottgeschenkten (XU 83) Schimmelgespann zum Zweikampf, besteigt den Wagen, als der Kampf wieder ausbricht (326), und kämpft fortan teils vom Wagensitz herab, teils ver- laßt er ihn, um den Gegner zu stellen (XII 226—340. 355. 370 bis 382); mit Hilfe der schnellen Rosse entzieht ihn Juturna, die an Stelle des Lenkers Metiscus tritt (468), dem Arm des Aeneas, und er darf noch einige Zeit den Kampf in gleicher Weise fort- setzen (511. 6 14 fg.), bis er auf die Nachricht von der Bedrohung der Stadt endgültig den Wagen verläßt, um Aeneas entgegen- zutreten (681). Der Dichter sorgt also dafür, daß sich uns das Bild des wagenkämpfenden Königs fest einpräge; er erreicht das auch durch die Beschränkung, mit der er im übrigen den Wagen verwendet: denn während seine Schilderung der italischen Hilfs- Völker keinen Zweifel darüber läßt, daß, nach des Dichters Meinung, die altitalischen Führer in der Regel des Wagens sich bedienten (VII 655 Aventinus, 724 Halaesus, 782 Virbius, vgl. auch IX 330 Remus), wird in XII nur noch der Wagen des könig- lichem Geschlecht entstammenden Murranus erwähnt (532), in X wird durch das Viergespann*) des Niphaeus (570) und das Zwei- gespann des Lucagus imd Liger (575) Variation in die Reihe der Gegner des Aeneas gebracht, und der zu Wagen fliehende Rhoetus (399) unterbricht die Aufzählung der zu Fuße kämpfenden Gegner des Pallas: im übrigen macht kein Streitwagen dem des Turnus

1) In IX reitet er zum Lager der Feinde (s. o.), kämpft natürlich dann «benso wie zu Anfang von X, wo das Lager berannt wird, zn Fuß. Wenn aber da, wo er das Trugbild des Aeneas verfolgt (X 645 ff.), des Wagens nicht gedacht wird, so ist das ein der homerischen Situation gebrachtes Opfer: weder hätte es einen Sinn, daß Turnus, ehe der Gregner sich zum Kampfe stellt, den Wagen verließe, noch geht es an, sich den Turnus zu Wagen das Trugbild, das doch zu Fuße geht, verfolgend und vergeblich verfolgend zu denken.

2) Das ist auffallend; Virgil hat vielleicht (trotz Aristarch) an die vier Bosse des Achill 6^ 185 gedacht; im übrigen kommt bekanntlich in den homerischen Schlachten kein Viergespann vor. Wenn Latinus XII 162 mit dem Viergespann zur Schwürstätte fährt, so ist das königliches Ehrenrecht, dMB sich nach römischer Auffassung im Viergespann des Triumphators er- halten hat: Dionys II 34 triumphiert Bomulus Tva t6 ßaaiXsiOv ä^iatfia

200 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

Konkurrenz. Bei den genannten vier Ausnahmen ist aber der Wagen nicht willkürlich und zwecklos genannt, sondern dient dazu, die Schilderung des Todes eigenartig zu gestalten.

3. In der Bewaffnung stimmt das homerische Bild mit dem überein, das sich Yirgil von der altrömischen machen mußte; es war ja, so sehr auch die Form einzelner Stücke sich geändert hatte, im wesentlichen noch das seiner eigenen Zeit. So begnügt sich Yirgil bei den Kampfschilderungen mit den Angriffswaffen der homerischen Hopliten: für den Fernkampf die lange schwere Wurflanze und im Notfall Feldsteine (X 381. 415. 689; XII 531. 897), für den Nahkampf das Schwert. In der Heerschau von VII hatte er eine große Anzahl spezifisch altitalischer Waffen ge- nannt: aber weder pilum, dolones und veru SabeUum, die den Mannen des Aventinus eigen sind (Yll 664), noch die mit Riemen geschleuderten adydes der Osker (730) und ihr Sichelschwert, noch die caieiae der Kampaner (741) treten in der Schlacht auf. Das ist um so merkwürdiger, als die große Menge der Synonyma, die Yirgil für hasta^) verwendet, zeigt, daß es ihm nm Yariation wenigstens im Ausdruck zu tun war: sachlich von hasta ver- schieden ist nur der einmal genannte Jagdspeer sparus (XI 682). Und ebensowenig wird, um dies hier gleich vorwegzunehmen, der eigentümlichen in YII genannten Rüstungs- oder Kleidungs- stücke weiter gedacht, der galeri aus Wolfshaut (688) und ledernen Gamaschen (690), der oskischen cetra (732), des kampanischen Eorkrindenhelms und mondförmigen Schildes (742). Die italisch- antiquarischen Notizen stehen also hier unvermittelt neben der homerisch-epischen Erzählung, wie ja auch Yirgil keineswegs darauf gehalten hat, die in YII und X erwähnten Heerführer im Yerlauf der Erzählung sämtlich auftreten zu lassen.^) Bei den Kriegsrüstimgen der Latiner werden auch Beile geschliffen (YII 627, vgl. 184); im Kampf werden sie nicht gebraucht (denn XII

1) Außer hastile (IX 402; X 795; XI 650 u. ö.) nnd den aUgemeinen Bezeichnungen tdum, ferrum, missüe noch fpictUum (X 888; XI 676 u. ö.\ iaculum (X 823. 842; XII 354 u. ö.), lancea (SR 375), ciuipis (X 484. 733; XI 691 u. Ö.) und nach dem Material, nsXiri entsprechend, äbies XI 667, comus rX 698; XII 267, robur X 479, vgl. myrtus 817.

2) S. darüber im zweiten Teil den Abschnitt 'Komposition'.

Waffen. 201

306 ergreift Alsus das zum Töten des Opfertiers bestimmte Beil)^ nur Camilla und ihre Genossin Tarpeia führen nach poetischer Tradition als Amazonen die Streitaxt (XI 656. 696), ebenso wie den Söhnen des Heraklesgefährten Melampus die Keule gegeben wird (X 318). Nur einmal erscheint im Kampf eine römisch eigentümliche, nicht homerische Waffe: die falarica, mit der Turnus den Riesen Bitias erlegt (IX 705); damit wird gleichzeitig die Kraft des Angreifers, der ein solches wohl sonst nur für den Wurf von oben nach unten (wie die pila mwralia) gebräuchliches Riesengeschoß zu schleudern vermag, und die Riesennatur des Angegriffenen, der nur einem solchen Geschoß erliegen konnte, Teranschaulicht; die Waffe aber hatte durch Ennius (ann. 544 Y.) Heimatsrecht im Epos gewonnen. Die leichtbewafiheten Prae- nestiner führen zumeist Schleudern (YU 686) wie die Lokrer des Aias JV 716; Bogenschützen werden öfters erwähnt (IX 572; X 754, Camilla YH 816; vgl. XI 654, Chloreus XI 773, Clusium und Cora X 168); in der Schlachtschilderung begegnet beides nur ganz vereinzelt (der Schuß auf Aeneas nach dem des Pandaros XU 319, eine Pfeilwunde XIT 651), wie bei Homer. Aber bei der Bestürmung des Lagers führt Mezentius die Schleuder, weil in solchem Fall auch die römischen Legionare zur Schleuder griffen^); sie werden dann, wie zum Angriff, so zur Abwehr auch Bogen und Pfeil benutzt haben, wie das Capys (IX 578) und Ascanius (IX 621), Ismarus (X 140) und andere Yerteidiger (IX 665; X 131) tun.

Bei den Schutzwaffen haben wir dasselbe Yerhaltnis. Die vollständige Hoplitenrüstung, Helm mit Busch, Panzer, Bein- schienen und Schild (so die Rüstung des Aeneas YIII 620, XU 430, des Turnus XI 487) entspricht der ionisch -homerischen so gut wie der römischen; im einzelnen lehnt sich Yirgil, wo über- haupt ein Unterschied zu konstatieren ist, enger an das home- rische Yorbild an und setzt nur gelegentlich national- italische Lichter auf. Der Schild wird im Kampfe am linken Arm ge- tragen: er fällt, wenn dieser abgeschlagen wird (X 545); als Aeneas, nachdem er seinen neuen Schild genugsam bewundert hat, sich zum Weitermarsch anschickt, hebt er ihn auf die Schulter, attoUii imwro (YIII 731), d. h. doch wohl, er trägt ihn

1) Marqnardt St. V. II 844.

202 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latiom.

an einem Riemen auf dem Rücken, wie der römische Legionär beim Marsch und wie Odysseas K 149 dfi(p' äfioiöL 6dxos ^e%c. Der Schild ist rund (dipei orbem X 545. 783; XII 926) und deckt den Mann bis zu den Weichen (X 588) oder bis mitten auf die Schenkel (XII 926); groß genug, daß sich der Träger hinter ihm ducken kann (se colUgit in arma poplite subsidens XII 491), um die drohende Lanze über sich hinwegsausen zu lassen; so, alfi gewaltigen Rundschild, hat sich Yirgil z. B. den des Idomeneus N 405 gedacht: xgvfp&tj yäg ix iöTtCdt ndvxoö* iiöri . . xfj vno xäg idkrj, Yirgil unterscheidet im allgemeinen zwischen dipeus und scuitum nicht, und unter den scuta der Troer VIII 93 wird man sich die 'argiyischen' Rundschilde denken müssen (heißen doch sogar die Reiter des Volcens IX 370 scutati):, wenn aber die Gefährten des Pallas den Gefallenen auf einem scutum yom Kampf- platz tragen (X 506), so weist das auf einen Langschild (vgL VIII 662 die scuta longa der Gallier), dem eigentlich dieser Name gebührt, und pian darf daran erinnern, daß nach der Tradition (Plut. Rom. 21) diese Waffe sabinischen Ursprungs ist. Einen hölzernen Schild aber kennt Virgil nicht; als Material wird ge- legentlich Erz genannt (X 336; XU 541); die Schilde des Aeneas (Vm 448: Erz, Gold und Eisen) und des Turnus (XII 925) bestehen aus sieben Schichten Metall, wie des homerischen Aias Schild iTtxaßösLos ist (ff 220) und der Wunderschild des Achill wenig- stens flinf Metallagen zählt. Homerische Imitation sind die dtw taurea terga ^ivol ßoög des Riesen Bitias (IX 706) und die aus Leder und Metall zugleich bestehenden Schilde des Pallas und Mezentius: dipeum, tot ferri terga, tot aeris, quem peUis totiens oheat oircumdata tawri X 482 (= i%iy]v Qivog ßoög T 276) und per orbem aere cavom triplici, per linea terga tribusque intextum tauris opus X 783: dabei ist die homerische Schilderung durch die Eisen- und die Leinenschicht noch gesteigert, und wenn das Eisen keiner besonderen Erklärung bedarf, so hat man für das Leinen vielleicht mit Recht daran erinnert, daß dies (nach Polybios' Beschreibung VI 23) bei den altrömischen scuta zur Verwendung kam. ^)

Über den Erzpanzer, lorica oder thora^ (VII 633; X 337; XII 381), fand Virgil bei Homer keine näheren Angaben; er

i; Lersch a. a. 0. 69.

u

Rüstung. 203

stellt sich darunter den Ketten- oder Schuppenpanzer (XI 488) seiner Zeit vor, der verstärkt wird durch Verdoppelung der Schuppenlage (duplici squama lorica fidelis et auro IX 707) oder Verdoppelung, ja Verdreifachung der Ringe: hilicem hricam XII 375, hricam consertam hamis auroque trilicem III 467. Ein solcher dreidrahtiger Kettenpanzer ist so schwer, daß ihn nur ein Held Ton außergewöhnlicher Kraft zu tragen vermag (V 263): also wird das märchenhafte Übertreibung sein.

Neben den Hopliten kennt aber Virgil auch LeichtbewaiSfnete, die nicht den homerischen Bogenschützen und Schleuderen! (N 716), sondern den römischen vdites entsprechen, d. h. keinen Panzer und statt des cUpeus die leichte parma tragen, dabei aber das Schwert führen: so der Troer Helenor ense levis nudo parma- que mglcrius alba IX 548 und der etruskische Königssohn Lausus, der, noch zu schwach für den Panzer, nur ein mit Goldfäden durchzogenes Wams und ebenfalls die parma, levia arma minacis (X 817) trägt: eine solche tunica squalens auro wird sonst unter dem Panzer getragen (X 313) wie der homerische ;|rtrQi/ unter dem O'CD^rijl; davon, daß bei Homer auch Schwergerüstete vor- kommen, die nur Chiton, nicht Panzer tragen, hat Virgil schwer- lieh etwas geahnt.

Häufiger als Homer schildert Virgil die eigenartige Aus- rflstnng einzelner, nicht nur der Anschaulichkeit wegen, sondern meist einer besonderen Färbung der Erzählung zuliebe. Daß der jugendliche Helenor (IX 545) nur ense nudo parmaqtie alba ausgerüstet ist, erfahren wir, damit wir den Verzweiflungsmut, der ihn treibt, sich mitten in die Feinde und qiui tela videt densissima zu stürzen, tiefer empfinden; wir schätzen auch Lausus' aufopfernde Tapferkeit höher, wenn wir wissen, wie schlecht er zum Kampf mit dem erzgepanzerten Gegner gerüstet ist (X 817). Auf der Mauer des Lagers steht des Siculers Arcens Sohn im reichgestickten Purpurgewande (IX 582): er fällt, imd unmittelbar darauf ruft Numanus die Hohnvrorte von der Weichlichkeit der Troer: vobis picta croco et fulgenti murice vestis. Mit purpurnem Federbusch und Purpurgewand ragt Acron aus den Seinen her- vor; seine Braut hatte ihn geschmückt, und ihre Liebe ist schuld an seinem Tode: von weit her erblickt den purpurnen Glanz Mezentius und stürzt sich mitten in die Feinde, um den Aus- gezeichneten zu fällen (X 719). Haemonides, der Priester Apollos

204 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

und Dianas, trägt auch in der Schlacht die Priesterbinde das weißglänzende lange Priestergewand (X 537): wie er son die gottgeweihten Tiere, so opfert (immolai) jetzt Aeneas ihn, ab erst nachdem er, priesterlicher Würde vergessend, übers Black feld geflohen und dabei hingestürzt isi Den riesigen Hermiiiiu^ "i, der im Vertrauen auf seine ünwiderstehlichkeit das blonde Hauj^Bvt und den Oberkörper ungeschützt tiilgt, trifft zur Strafe ftlr seine Übermut die Lanze in die nackte Schulter (XI 644). In Jl^et ausrüstung, wie zum Hohn, als gelte es, wilde Tiere zu erleger kämpft Omjtus: er büßt mit dem Tode, daß er Camillas Zor erregt hat (XI 677); aber für Camilla selbst wird die farbei prächtige und goldstrotzende Rüstung des Ghloreus, die ihre gierde erweckt, zum Verderben (XI 768). Virgil hat für ei^cr n Publikum geschrieben, das zwischen den Zeilen zu lesen yerstand nirgends legt er plump den Finger auf diese feinen Beziehungen

Für die Verwundungen bot Homer überreiches Material, das— ^^ die Möglichkeiten annähernd erschöpfte; Virgil trachtet natürlich nicht danach, originell zu sein, aber verleugnet doch auch hiei nicht seine Selbständigkeit. Für die erste Verwundung in de^^ Schlacht, die er beschreibt, hat er sich etwas Eigenes ausgedacht ^):^ Privemus, leicht gestreift, wirft in unsinniger Angst den Schill weg und greift nach der Wunde: da heftet ihm ein Pfeil die Hand an die linke Seite und dringt todbringend ein (IX 576). Öfters (IX 762, X 700) werden die Kniekehlen durchgeschlagen, was bei Homer, wohl zufällig, nicht vorkommt: wir wissen aber, daß das poplitcs succidere ein besonders gefürchteter Hieb des

1) So hat Virgil, während er im allgemeinen seine Gleichnisse dem griechischen Epos entlehnt, das erste Gleichnis der Aenels (1 148), das auch besonderes kuDstvoU aasgeführt wird (in dreimal drei Versen), römischem Vorstellungskreis entnommen (vorgegangen war freilich anch hier Homer: B 144) : indem er das erregte und beruhigte Meer mit einer aufrührerischen und beruhigten Volksmasse vergleicht, kehrt er einen in Rom populären Vergleich um: Cic. pro Cluentio 180 inUUegi potuit id quod saepe dictum est: ut mare, quod sua natura tranquillum sit, ventorum vi agitari atgue turbari, SIC populum Eomanum siui spante esse placatum^ hominum seditiosorum voci^ bus et violentissimis tempestatibus concitari. Vgl. Preiswerk in lavenes dum sumus, Festschr. Basel 1907, p. 82 (der dort angeführte Vergleich bei Demosth. fals. leg. 136 entspricht nicht genau).

Verwundungen. 205

römischen L^onars war. Viel wichtiger als diese Abweichungen in Einzelheiten ist der allgemeine Charakter der Schilderung. Zu- xiächst fallt beim Vergleich in die Augen, daß Virgil es möglichst vermieden hat, komplizierte Verwundungen vorzuführen, und sich ^em auf das Einfachste, Nächstliegende beschränkt. Das kann nur ein Beispiel klar machen: vergleichen wir die Verletzungen ^68 Kopfs, der ja neben der Brust das Hauptziel der Kämpfenden ist Bei Virgil wird Hehn und Schädel zerhauen, daß das warme Bim aufs Gesicht spritzt (XI 696); Stirn und Kinnbacken mit •einem Schwertstreich oder Beilhieb gespalten (IX 750; XII 307); <in Wurfspeer durch den Helm in die Schläfe getrieben (XU 537) -oder die Schläfe vom Schleuderblei getrofifen (IX 588); der ganze Kopf an den Schläfen vom Pfeil (IX 633) oder Wurfspeer (IX 418) durchbohrt; ein Pelsblock triflFt mitten ins Gesicht (X 698) oder zerschmettert von vom den Kopf, daß die Knochensplitter mit Hirn und Blut umherfliegen (X 415); Speer (X 323) oder Schwert (IX 442) fährt in den zum Schreien geöffneten Mund. Man sieht, wie Variation erstrebt, aber die AnfQhrung von Einzel- heiten möglichst vermieden wird. Auch in der Ilias findet sich das alles ganz ähnlich; aber außerdem noch Verletzungen mit dem Schwert an der Stirn über der Nase (N 616) oder mit einem Stein an den Augenbrauen (77 734), daß der Knochen zerbricht und die Augen herausfallen, oder der Speer dringt in die Nase am Auge, durch die Zähne, schneidet die Zunge ab und fährt unterm Kinn heraus (E 290), oder in den Mund und schlägt die Zähne heraus, daß Blut in die Augen dringt imd aus Mund und Nase schießt (77 346), oder unter den Augenbrauen, daß der Augapfel herausfällt, und durchs Genick hinaus (S 493), oder umgekehrt ins Genick und durch die Zähne, so daß die Zunge zerschnitten wird (Z 73); femer am Ohr (ji 509), ins Ohr (r 473), überm Ohr (O 433), unterm Ohr (N 177), unter Kinn- backen und Ohr (N 677 u. ö.). Bei jenen komplizierten Ver- letzungen, mit denen in gewissen Partien der Ilias (namentlich E N S, teilweis auch 77) geradezu ein Sport getrieben wird, hat Virgil zweifellos an der reichlichen Detailausmalung Anstoß ge- nommen, weil das zu nah ans Technisch-Medizinische streift und der Erhabenheit des epischen Stils nicht entspricht. Dagegen hat er mehrfach der Verwundung ein Interesse zu geben ver- «ucht, das weniger technischer als ethischer Natur ist, so wenn

206 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

ein Wurfspeer dem Pharus in den Mund fliegt, den er eben b^ eitlem Prahlen aufreißt (X 322, vgl. IX 442; X 348); oder wen.: dem Alcanor die Lanze den rechten Arm durchbohrt, mit decaa er eben im Begriff war, den fallenden Bruder zu stützen (X 338)^ oder wenn Hisbo sich wutschnaubend über den Tod seines Q0- nossen auf Pallas stürzt und dieser ihm nim das Schwert iumido in ptdmone recondit (X 387). Der Tapfere verschmäht es, den fliehenden Gegner von hinten zu töten, und begegnet ihm Brust an Brust, Imud furto mdior, sed fortibus armis (X 735), und so überholt Camilla das Pferd des fliehenden Ligurers, fallt ihm in die Zügel und tötet den Gegner von vom (XI 720). So erhalten denn auch die Edlen selbst, Turnus und Pallas, Euryalus, Lausus und Camilla den Tod in die Brust; der grausame Mezentius ver- dient es, erst an den Weichen verwundet und dann in die Gurgel gestochen zu werden. Wo aber der verräterische Pfeil (XII 318) den Aeneas trifft, wird verschwiegen, wie auch kein Lied des Schützen Namen nennt; mortalin decuit violari vclnere divom? (XII 797). Um die Verwimdung des Hopliten trotz der Rüstung möglich zu machen, berichtet Virgil, wie Homer, öfters, daß der kräftige Lanzenstoß Schild und Panzer durchdrang (X 336. 485), oder, wieder wie Homer, daß durch eine unvorsichtige Bewegung Brust oder Seite vom Schild nicht gedeckt ist (X 425; XH 374, vgl. XI 667; X 314), oder daß die feindliche Waffe zwischen Helm und Panzer eindringt (XI 691; XII 381): man wundert sich nicht, daß er dergleichen, ebensowenig pedantisch wie Homer, nicht in jedem Fall angegeben und gelegentlich wohl des Schildes, nicht aber des Panzers gedacht hat; wenn jedoch bei Turnus' erster Verwundung (XII 924) gesagt ist, wie beides am Schenkel durchbohrt wurde, nachher aber Aeneas ihm das Schwert ohne weiteres in die Brust stößt (950), so denkt man daran, wie sorg- fältig in gleich wichtigem Falle, bei Hektors Tod, der homerische Dichter seinen Achill eine ungeschützte Stelle suchen läßt: der trifft zwischen Helm und Panzer, da wo das Schlüsselbein an den Hals stößt, in den Schlund, aber die Luftröhre bleibt unverletzt, damit, wie der Dichter naiv hinzufügt, der Sterbende noch mit dem Sieger reden könne. Solche Genauigkeit in solchem Augen- blick hätte für Virgils Empfinden das Pathos des Ereignisses vernichtet: darum in möglichst einfacher Oröße ferrum adverso sub pectore condit.

Verwundung und Tod. Spolien. 207

Wenn hier die tödliche Verwundung möglichst kurz angegeben wird, so bleibt sie in anderen FiUlen ganz unerwähni Von den beiden Troern, die beim Einsturz des Mauerturms zunächst mit dem Leben davon kommen (IX 54ö), stürzt sich Helenor mitten in die Feinde, Lycus wird beim Versuch, die Mauer mit Hilfe der Freunde drin zu ersteigen, von Turnus herabgerissen mit samt der Mauerbekrönung; daß beide umkommen, versteht sich von selbst und war dem Dichter gleichgültig: ihm lag an den beiden Situationen und ihrem Kontrast Ghinz ähnlich, wenn Tarchon den Vennlns vom Pferd reißt, vor sich auf das seine legt, ihm die Lanzenspitze abbricht und damit eine ungeschützte Stelle zu treffen sacht, während jener die feindliche Rechte abwehrt (XI 741): der Ausgang des Kampfs kann hier sogar zweifelhaft sein, aber er interessiert den Dichter nicht mehr, den nur die eigen- artige Situation zur Schilderung verlockte. Der homerische Schilderer wäre in all diesen Fällen der sachlichere; sein Hörer will darüber beruhigt sein, daß der Feind auch wirklich den Tod findet, worauf es doch beim Kampf in Wahrheit allein an- kommt^)

Daß der Sieger dem getöteten Gegner die Waffen abnimmt und diese spolia sein größter Ruhmestitel sind, diese Vorstellung herrscht bei Virgil wie bei Homer traf doch auch hierin die nationalrömische Sitte mit der heroischen überein, und römisch sind die dem feindlichen Feldherm abgenommenen spolia opima (X 459) ; Arruns, der nach dem tödlichen Schuß auf Camilla flieht, verzichtet mit den Spolien zugleich auf den Ruhm der Tat (XI 790), und in vollem Waffenschmuck wird der Leichnam von Diana entführt (XI 594); dagegen spoliiert Euryalus den Rhamnes

1) In anderen Fällen, wo es dem Leser überlassen bleibt, den Eintritt des Todes, der nicht berichtet wird, sich zn er^nzen, liegt offen eine Scheu des Dichters zatage, das Gräßliche auszusprechen. So schildert er 11 526 fg., wie Neoptolemus den Polites mit geschwungener Lanze verfolgt und packt, dann, wie dieser zu Tod getroffen zusammenbricht: den Todesstoß selbst übergeht er; er sagt auch nicht ausdrücklich, daß Laokoon von den Schlangen getötet wird 11 226; verschweigt den Todesstoß, den Dido gegen sich führt (oben S. 141); läßt Palinurus nicht aussprechen, daß die Strandräuber ihn ermordet haben VI 861 (Norden z. St.). In den Kumpfschilderungen wilre eine Durchführung dieses Prinzips natürlich nicht am Platze.

208 Fünftes Eapitei. Aeneas in Latinm.

{IX 359), die Rutuler den Euryalus und Nisus (450), und so in den folgenden Kämpfen noch häufig. Aber auch hier spricht «das neue sittliche Empfinden entscheidend mit: sich selbst mit den erbeuteten Waffen zu schmücken, ist bestenfalls kindlicher Übermut, wie bei Euryalus, dem aber eben dieser Übermut den Tod bringt, oder weibliche Eitelkeit, wie bei Camilla (XI 779); beim Manne ist es frevelhafte Selbstüberhebung (X 501), der die ;gerechte Nemesis folgt: das Wehrgehenk des Pallas entscheidet Turnus' Untergang. Dagegen Aeneas, der Fromme imd Demütige, weiht die Spolien des Haemonides (X 542) dem Mars^), richtet •dem Mars aus den Waffen des Mezentius ein Tropaeum auf (XI 5); die Seelengröße des Lausus ehrt er, indem er dem Toten die Waffen läßt (X 827). Dem Vater Thybris gelobt Pallas die Spolien des Halaesus an einer heiligen Eiche aufzuhängen (X 423) Vielleicht hat auch Camilla die Goldwaffen des Chloreus im Tempel weihen wollen (XI 778). Mezentius, zu stolz, sich selbst mit den Spolien zu schmücken, und der Götter Verächter, gibt die Waffen des getöteten Pallas dem Lausus (X 700), und Lausus soll die Waffen des Aeneas tragen als ein Tropaeum, das der Frevler dem Gott, zu dem er betet, seiner eigenen Rechten, er- richtet (X 773). Jedenfalls sind es die Spolien nicht wert, um ihretwillen wichtigere Aufgaben zu versäumen: nirgends wird, wie bei Homer so häufig, um sie gekämpft, auch ziemt es den großen Helden nicht, selbst den Leichnam zu entkleiden und die Spolien fortzutragen: Aeneas überläßt das dem Serestus (X 541), Messapus seinen Soldaten (XII 297). Das wichtigste Beutestück aber, anders als bei Homer, ist die um die Schulter geschlungene, reich mit phcUerae und bullae verzierte Schärpe oder Schwertgurt, baUeus: nur er wird bei den beiden wichtigsten Spoliierungen, der des Rhamnes und der des Pallas, erwähnt.*) Auch in dieser Bevor- zugung des Schmuckstücks vor den eigentlichen Waffen denn des Schwertes wird in jenen Fällen gar nicht gedacht spricht sich wohl moderne Gesinnung aus.

1) So Ul 286 den Schild des Abas dem Apoll.

2) X 496 immania pondera haltet^ worauf in Gold getrieben die Tat der Danaiden dargestellt ist: Vorbild der Telamon des Herakles X 609. Er wird auch cingulum genannt (IX 350; XII 942"), ist aber mit dem um die Hüfte geschlungenen eigentlichen cingulum milüiae nicht zu verwechseln, ,s. IX 364; XII 941.

Aeneas und Turnus. 209

5.

Die homerischen Helden unterscheiden sich im Kampf nicht wesentlich durch charakteristische Besonderheiten voneinander. Wohl ist der eine stärker oder geschickter oder schneller oder tapferer: das sind alles Eigenschaften, die für die Entscheidung des Kampfes den Ausschlag geben; selten aber ist daran gedacht, neben dem Ejrieger auch den Menschen als Individuum zu zeigen. Gerade hierauf hat Yirgil aber großes Gewicht gelegt: auch in der Schlacht ist es das rein Menschliche, was ihn am nächsten an- geht. Vieles Hierhergehörige ist bereits zur Sprache gekommen: ich fasse hier das Wesentliche zusammen. Aeneas ist das Ideal des römischen Mannes imd Kriegers: voll Anerkennung, wo er seelische Größe beim Feinde trifit (X 825), Regungen der de- mentia auch dem erbittertsten Hasser gegenüber zugänglich (XU 940), ein Bild der römischen virtus (wie er selbst nach Römerart flieh berühmt, XH 435), der moderatio (s. o. 208), der fides (XU 311) und iustitia (XI 126), der pietas gegenüber den Göttern wie gegenüber dem ihm vom Vater anvertrauten Pallas, dem Gast- freund (X 516) imd Bundesgenossen: erst als es ihn zu rächen gilt, wird er in seinem Schmerze hart, ja höhnisch gegen die Besi^ten^), der Gedanke an ihn ertötet die keimende Mildherzig- keit, und in wütendem Schmerz tötet er den flehenden Turnus: hier wäre Mitleid pflichtwidrige Schwäche gewesen.

Turnus^) steht ihm gegenüber als ebenbürtiger Gegner an Kraft und Mut; aber es ist bei Aeneas die vis temperaia, hier die eis consüi expers-^ ihr bleibt der göttliche Beistand nicht treu, obwohl auch Turnus ein frommer Verehrer der Götter ist (IX, 24; XTI 778). Vor allem kämpft er nicht wie Aeneas für sein Volk und dessen Zukunft, sondern, wie ihm mit Recht vorgeworfen wird (XI 359. 371), für seine eigenen Ansprüche, und um ihrer

1) X 531. 657. 592. 599. 897. Es ist wohlerwogene Absicht, daß vor dem Tod des Pallas, in den Schlachtszenen 310—844, sich nichts von der- artigem findet. Daß Aeneas (X 617; XI 81) acht Feinde zum Totenopfer für Pallas lebendig fängt, hat mau als homerische Imitation getadelt , bei der der pius aus seiner Rolle falle : Yirgil kannte das nicht nur als altrömische Sitte (Vairo b. Serv. III 67), sondern hatte es erlebt, daß Augustus 300 ge- fangene Pemsiner als Totenopfer für Cäsar schlachten ließ ((lardthausen, AngustuB 209); sollte er bei seiner Erfindung nicht gerade hieran gedacht haben?

2) Vgl. zum folgenden Nettleship, Lectures and essajs 108 ff. Heins e, Yirgil« epische Technik. 8. Aufl. 14

210 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

willen einen Krieg zu entfachen ist frevelhaft.^) Die Furie hat ihr^ hineingetrieben; von ihr besessen hat er die Geistesklarheit un^3 Selbstbeherrschung verloren, ohne welche Kühnheit zur Ra^r» " wird: zum Heil der Troer, wie sich vor allem da zeigt, wo dei::^ im Lager Eingeschlossene vor wahnsinniger Mordlust nicht daraEzr denkt, den Seinen das Tor zu öffiien (IX' 760). Lebhaftes Ehr- - gefühl (X 681; XII 645. 679) beseelt ihn, aber auch dies äußert sich in krankhafter Übertriebenheit. Gegen die schlichten Wort^^ die das Selbstbewußtsein des Aeneas spricht, sticht grell ab de^ Turnus lautes Prahlen mit seiner Kraft imd Heldenschaft (IX 148 7 XI 393. 441; 360). Auch er bezeugt Achtung vor dem Heldenmut des getöteten Gegners (X 493); aber die modercUio besitzt er doch nicht, auf den Schmuck der Spolien zu verzichten, und der Siegesübermut wird zur Roheit, wenn er den Getöteten die Köpfe abschlägt und mit den bluttriefenden seinen Streit- wagen schmückt (XU 512). Er besinnt sich nicht, auf Aeneas loszugehen (X 645) und erklärt sich, sobald es verlangt wijrd, zum Zweikampf mit ihm bereit (XI 434), und als er dann beim Wort genommen wird, hält er es aufrecht, trotz Latinus' und Amatas flehentlichen Bitten; aber nicht mit ruhiger Entschlossen- heit, sondern in wildem Ungestüm {inolentia XU 9. 46, furiae 101) bereitet er sich zum Kampfe vor, und es ist ein fein beobachteter Zug, daß gerade nach dieser fieberhaften Erregung ihm im An- gesicht der Entscheidung der Mut entsinkt (220).*) Kaum ist die Gefahr vorüber, so entbrennt er wieder in Kampflust (325), aber dem Aeneas läßt er sich doch halb mit Wissen und Willen durch die göttliche Schwester entziehen, bis langsam das alte Ehrgefühl wieder angesichts der leidenden Seinen erwacht und, durch Saces angestachelt, ihn endlich zwingt, sich Aeneas zu stellen: aber jetzt in doppelt heißer Erregung (amens 622. 742, amens formidine 786, mixto insanm ludti et furiis agitatus amor 667, hunc sine nie fu/rere ante furorem 680) sein Ausgang ist besiegelt Als der

1) fied ea animi elatio, fßme cemitur in periculis et laborihus^ si iustitia octcat pugnatque nofi pro saluie communi sed pro suis commodis, in vüio est; non modo enim id virtutis non est sed est potius imtnanitatis omnem huma- nitatem repeUentis Cic. de off. I 19, 62.

2) oi ^hv d'gaastg ngonststg xai ßovXouBvoi ngb t&v xivdvvfov^ iv a^oig d' &(picravxaiy oi d* &v^Q(iot iv rotg ^gyaig d^ftg^ 7rg6t€Q0v d* fjavx'^^ Arietot. Eth. Nie. TTI 10, 1116a 7.

Turnus. MezentiuB. 211

f eind schon die Todeslanze schwingt^ rafft Turnus noch einen ge- "faltigen Felsbloek, einen uralten Grenzstein vom Boden, ihn auf den Gegner zu schleudern nicht umsonst bringt Virgil gerade liier den homerischen Kontrast zu den oioi vvv ßQoxoC eCötv^ noch dazu verstärkt : aber die Last ist zu schwer, im Laufe ^wanken ihm die Kniee und das Blut gerinnt in den Adern der Wurf gelangt nicht ans Ziel. Ein ergreifendes Symbol von Tomns' Schicksal, der sich einer Aufgabe vermaß, für die selbst seine Riesenkraft nicht ausreichte. Und wie er dem Entschei- dungskampf nicht ruhig entgegenging, so vermag er auch dem Tod nicht gefaßt ins Auge zu sehen: er erniedrigt sich nicht so weit, um sein Leben zu betteln (nee (feprgcor931), aber aus seinen letzten Worten spricht doch der heiße Wunsch, zu leben und um diesen Preis selbst auf Lavinia zu verzichten (936): wer das vermag, will der Dichter sagen, ist ihrer und der Krone niemals würdig gewesen.^) In scharfen Kontrast zu Turnus ist Mezentius gestellt. Als contemptor divom (VII 648) gab ihn die Überlieferung: er sollte von den Rutulem die Erstlinge der Früchte, die sonst den Göttern geweiht wurden, für sich verlangt haben; worauf die Latiner zu Jnppiter beteten, ihnen den Sieg zu verleihen, wenn er wolle, daß die Gaben wie bisher ihm, nicht dem Mezentius zufielen.^) Weiter war überliefert, daß Mezentius' Sohn Lausus in der Schlacht ge- faUen sei, und daß dies den König wesentlich mit zum Frieden bestimmt habe. Virgil kann das überlieferte Beispiel für die Gottlosigkeit des Etruskerkönigs zwar nicht brauchen denn zu einem derartigen Ansinnen fand sich nach seinem Plan keine Gelegenheit , er bildet das Motiv aber geschickt um: wenn dort Mezentius für sich göttliche Ehren verlangte, so verehrt er hier (X 773) seine Rechte und die Waffe, die sie führt, als einzige Gottheit*) und richtet an sie sein Gebet: er will seinen Sohn mit

1) 'Am auffallend sten ist die genaue NachahAung Homers im Zwei- kampf zwischen Aeneas und Turnus . . der dem zwischen Achill und Hektor fa«t wörtlich . . nachgebildet ist . . Endlich bittet Turnus 932 fg. fast mit denselben Worten wie Hektor X 387 fg. um ein anständiges Begräbnis ' F. Cauer a. a. 0. ISl. Also keine Ahnung davon, daß Virgil, der natür- lich bei seinen Lesern die Kenntnis von Hektors letzten Worten voraussetzt, gerade dtuch diese Erinnerung den Kontrast aufs schärfste herausarbeitet.

2) Cato bei Maciob. sat. HI 6, 10 fr. 12 P. Etwas anders Dionys I 66. 8) Das Motiv stammt aus Apollonius, der den Idas sagen läßt liCroi vi)v

14*

212 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latiam.

den Waffen des getöteten Feindes schmücken und so gleichsam 8i(^Ti selbst ein Tropaeum errichten, das der fromme Aeneas den Götteac-m weiht (s. o. 208): auch sonst zeigen ihn frevelhafte Reden a-^Mß contemptor divom}) Ans dem Bericht über Lausus aber bilde "Äe sich bei Virgil die Vorstellung von einem besonders innigen V^^:»- hältnis zwischen Vater und Sohn, und es lag nun nahe, (Ue Liebe zum Sohn zur einzig verwundbaren Stelle in einem son^t felsenharten Gemüt zu machen, andererseits diese Liebe ^.r- widern zu lassen und den Tod, den Lausus im Kampf gefunden hatte, zum freiwilligen, für den Vater übernommenen zu gestalten: um das Mitleid mit dem sich Opfernden zu erhöhen, wird er zu einer lichten Idealgestalt gemacht und so in starken Kontrast zu dem Vater gesetzt (VII 654). Weiter aber mußte Virgil, dem daran lag, die Etrusker als Aeneas' Bundesgenossen einzufuhren (s. o. 177), Mezentius von ihnen trennen: das geschieht durch die Fiktion, daß er, der grausame Tyrann, wegen vieler Gewalttaten von seinem Volk vertrieben worden sei; Virgil überträgt auf ihn, was Aristoteles und nach ihm Cicero von der Grausamkeit tyrrhe- nischer Seeräuber erzählt hatte (VIII 485). Diesen Gegensatz zu seinem eigenen Volke nutzt Virgil weiter aus, indem er ihn als drittes Motiv in Mezentius' Kämpfen verwendet: sie beginnen damit, daß der Tyrann vom wütenden Haß der Seinen allseitig bedrängt wird (X 691 fg.) so gewinnt das homerische Bild vom Eber, den die Jäger ringsum bestürmen, neues Leben ; sie gipfeln in dem Schmerzausbruch des Mezentius, der in Lausus*

d6QV %'OVQOV^ oxao Tcsgimaiov aXlatv xvSog ivi nxoXiyLOiaiv itsigoiLai, oi 94 fi' 6q)4Xlfi Zsvg x6aov, 6a6dti6v tcbq i^ibv S6qv, fiij vv xi TCfj^ XoLyiov icffBüd^ai^ fLtiS' &yiQdavxov as&Xov ^ISsoa ianofiivoto , xal sl d'sbg ccvxi6(pxo 1 466 , dem dann Idmon das ^sovg äxL^Biv vorwirft: auch diesen contemptor divmn hat ja später die Strafe erreicht.

2^) So sicher noch 880 nee mortem horremus nee divom parcimits tUli. Zweifelhaft bleibt 743 nunc movere, ast de me divom pater atque hominum rex viderit. Wie Serviuf richtig bemerkt, wird schon dadurch, daß Mezentius die Worte subriden^ spricht, die Auffassung ausgeschlossen, als lasse Virgil hier unbedachterweise den conttmptor deum in fromme Ergebenheit verfallen; aber die von Servius überlieferte Deutung ^viderit utrum Mezeniio possU nocere üle quem vos deorum et hominum creditis esse rectorem' ist doch vielleicht zu künstlich. Jedenfalls liegt in dem viderit^ wenn ich recht empfinde, hier wie sonst häufig etwas Wegwerfendes, was denn auch das Ethos von divom pater atque hominum rex bestimmen würde: 'mag er mich doch töten, was kümmert's mich'.

Mezentias. Gamilla. 213

Tod die Strafe für sein Tun erkennt und dies liier zuerst bereut^ ireil es dem Sohn Schande und Verderben gebracht hat (851); sie Bchliefien mit der Bitte des Überwundenen^ seinen Leichnam Torm Zorn der Seinen zu schützen: wieder ein echt virgilischer Kontrast zu Rektors Bitten, der seinen Leichnam den Seinen aus- zuliefern flehte. Man mag sich wundem, daß Virgil darauf ver- ziehtet hat, die Grausamkeit des Mezentius durch ein besonders munenschliches Gebahren in der Schlacht zu illustrieren das wäre ihm ein leichtes gewesen, aber derartige Effekte widerstrebten seiner Eunstauffassung, die das ^lagöv durchaus verwarf; es ist etwas andres, ob der Dichter dergleichen, wie von Euander oder Ton Achaemenides, erzählen läßt oder es selbst berichtet, also dem Leser unmittelbar vor Augen stellt. Immerhin ist es nicht ZujEeJI, daß gerade Mezentius auf den geföllten Gegner, der noch lebty den Fuß setzt und sich auf die Lanze stützt, die den Sterbenden durchbohrt; es ist sachlich gewiß weniger gerechtfertigt, daß er mitten in der Schlacht die Seinen den Päan anstimmen heißt, mit dem die Achäer nach Hektors Tod ins Li^er heimziehen, aber der Triumphgesang, der ins Ohr des Sterbenden dringt, ist eine stark pathetische Erfindung (X 736). Und es ist gleicherweise beabsichtigter Kontrast, daß Aeneas dem Lausus sogar die Waffen laßt, während Mezentius droht, mit den blutigen Spolien auch das abgeschlagene Haupt des Aeneas auf seinem Rosse aus der Schlacht tragen zu wollen (862). Andererseits hat Virgil mit Bedacht zu der, man möchte sagen nervösen Tapferkeit des jugendlichen Turnus die unerschütterliche eiserne Ruhe dieses grauhaarigen, langbärtigen Riesen in Kontrast gesetzt, der wie ein Fels im Meer den Anprall der ringsher Anstürmenden aushält (693), der auch den Aeneas unerschrocken erwartet et mole stia stat (771), den nur der Tod des geliebten Sohnes aus dem Gleichgewicht zu bringen vermag; wenn Turnus in der Todesstunde für sein Leben bangt und es gern mit dem Eingeständnis der Niederlage erkaufen will, so heißt Mezentius selbst den Feind den letzten Streich führen: als Besiegter mag er nicht leben, selbst sein Schlachtroß würde es verschmähen, den Teuerem zu dienen (865).

Camilla, die schlachtenfrohe Jungfrau, schnellfüßig, unermüd- lich, entschlossen, mit leicht entzündetem Stolz (XI 686. 709) und der List gegenüber ohne Arg, noch im Tode unerschrocken und ihrer Pflicht eingedenk {^2b): sie prägt sich der Phantasie wohl

214 Fünftes Kapitel. AeDeae in Latium.

am leichtesten von allen virgilischen Gestalten ein.^) Ihre Un- widerstelilichkeit wird am besten dadurch bezeichnet, daß ihre Feinde ihr im oflFenen Kampfe nicht gegenüber zu treten wagen: der eine sucht ihr durch List zu entrinnen ^ der andere tötet sie aus dem Hinterhalt und wagt nicht einmal, der Getroffenen zu nahen. Aber bei all ihrem Heldenmut bleibt sie doch ein Weib, und weibliche Schwäche bereitet ihr den Tod*): über der Begier nach der funkelnden Rüstung des Chloreus vergißt sie alles rings- um und föUt so dem sie Umlauernden zur Beute, der lange ver- gebens versucht hatte, ihr eine Blöße abzugewinnen: so ganz ein- genommen ist sie von dem blendenden Ziel, daß sie aUein nicht sieht und hört, wie die tödliche Lanze heranfliegt; die treuen Volsker sehen das Unheil kommen und vermögen ihm nicht zu wehren, erst die Sinkende wird von den Gefährtinnen aufgefangen. Neben dem idealen Manne Aeneas steht der ideale Jüngling Pallas. Wir sehen seine Taten, sehen, wie er durch Wort und Beispiel die wankenden Scharen der Seinen zum Stehen biingt, erkennen in den Worten, die er spricht, sein Ehrgefühl (X 371) und seinen frommen Sinn (421. 460), der auf die Hilfe der Himm- lischen vertraut, bewundern und beklagen zugleich den jugendlich kecken Mut, mit dem er, obwohl geringerer Kraft sich bewußt (459, vgl. XI 153. 174), doch der Herausforderung des über- mächtigen Turnus nicht ausweicht. Für ihn ist nicht das Leben

1) Die Jugendgeschichte der Camilla ist, wie sich aus Servius zu 1 317 ergibt, zum Teil der Harpalykefabel nachgebildet (s. Crusius in Roschers Lex. 1 1885; Knaack, Rhein. Mus. XLIX 526, der aber in der Angleichung zu weit geht), anderes mag auf lokal- volskische Legende zurückgehen (b. jetzt Ritter, de Varrone Vergilii . . auctore, Diss. Philol. Hai, XIV, 1901, 391 fg.). Die Verschmelzung der so gewonnenen Figur mit der einer Penthe- silea ist aber Virgil nicht völlig gelangen: Purpurgewand, goldene Haar- spange und goldener Bogen ziemen der Amazonenkönigin, nicht der Jäger- Jungfrau, die in der Wildnis aufgewachsen (670) und geblieben ist (848). Penthesilea herrscht über ein Volk von Weibern: aber wie kommt Camilla, die doch nur durch das einsame Waldleben des verbannten Vaters zu dem wurde, was sie ist, zu einer Schar kämpfender Begleiterinnen (665. 806. 820)? und wie kommt es, daß die Tochter des von seinen Untertanen ver- folgten VolskerkÖnigs Metabus, der fortan die Städte mied (567), nun doch wieder die Führerin ihres Volks ist? Über den Anlaß zu diesem Zwie- spalt s. unten Teil II im Abschnitt 'Rede'.

2) caeca sequebatur totumque incauta per agtnen femineo praedae et spolioruni ardebat amore 781.

Pallas. Nisus und Euryalus. 215

der Güter höchstes, sondern nächst dem Siege ein ruhmvoller Tod (450): das spricht er selbst ans, damit tröstet Juppiter den trauernden Hercules (467)^ und an diesem Gedanken richtet sich der schmerzgebrochene Vater wieder auf (XI 166 ff.); besser ein solcher Tod als ein Leben in Schande: darin beruhigt sich des Aeneas Mitleid mit dem Vater (55). Pallas, vom Boden des künftigen Rom entsandt, ist das erste große Opfer, das auf itali- schem Boden für die heilige Sache Roms gebracht wird; er kämpfte ja nicht nur gegen die alten Feinde seiner Vaterstadt (VIII 474. 569), sondern auch für die große Zukunft (XI 168). Als dolor atque decus magnwm, wie der Dichter in monumentaler Kürze sagt (X 507), kehrt der Entseelte zum Vater zurück; wie unendlich oft noch sollte Rom mit solch schmerzlichem Stolz auf seine gefallenen Söhne blicken. Ihnen gelten die Klagen, die um Pallas' Leichnam erschallen, ihnen die trauernde Pracht des Leichenzugs: wer das nicht empfindet, mag auch hier über die Bührseligkeit des Dichters witzeln.

In ganz anderer Art pathetisch ist die Erzählung von Nisus und Euryalus. Der Vergleich mit ihrem Vorbilde, der Dolonie, ist auch hier lehrreich. Die Anlehnung im ganzen wie in vielen Einzelheiten^) liegt ja auf der Hand; aber ebeuso ersichtlieh ist die Tendenz der Neugestaltung: dort breite und mühsame Ex- position — der Dichter braucht 200 Verse, um seine Fürsten zur Beratung zusammenzubringen , hier Konzentration auf die Hauptpersonen'): von ihnen geht die Erzählung aus und bleibt

1) Man meint zu sehen, wie Virgil den Iliasgesang bei der Aus- arbeitunf^ seines Gedichts sich noch einmal durchlas: aas X 177 stammt das Löwenfell des Mnestheus 306, aus 256 das Schwert des Ascanius 803, aus 322 das Boß des Turnus 269, ans 268 (der Wolfshelm ein Gastgeschenk) die Nachricht 361 (das Wehrgehenk des Rhamnes ein Grastgeschenk), aus dem Gebet des Diomedes, der 285 seines Vaters Tydeus gedenkt, die Er- wähnung des Hyrtacns in Nisus' Gebet 406 ; und meint man nicht auch in den Namen Bhamnes Remus Ehoetus den Namen Rhesus nachklingen zu hören? Die Reminiszenzen wirken noch im folgenden: in der Ascaniusepisode stammt der Jungstier mit vergoldeten Hörnern, der dem Juppiter gelobt wird, aus dem Gelübde des Diomedes an Pallas, 294.

2) Nur bei Ascanius verweilt die Erzählung länger als nötig; das ge- schieht, um von ihm vor den primitiae der Tat (LX 590 ff.) die des Rates za berichten: die Abwesenheit des Aeneas ist zu beidem mit Geschick be- nutzt. Der kindliche Charakter ist dabei gewahrt: s. o. 154.

216 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

bei ihnen, mit wenigen Versen ist der Rat der Vornehmen g^B&- schildert (IX 224—230), zu dem sie Zutritt begehren. Dort ei»- •< ruhig in einem Zuge verlaufende epische Erzählung, hier lebhaftep*» Pathos, dramatische Bewegung, Eintritt der Peripetie auf des^ Höhe des Erfolgs, Steigerung bis zum Schluß, der Rache un^^

dem Tod des Nisus. Vor allem aber dort die Tat zweier kühne

und vorsichtiger Helden, bei der die Tat selbst und ihr Gelingei^==: den Leser entzückt; hier in erster Linie seelische Vorgänge, dii^ von den äußeren Geschehnissen nur begleitet werden. In de:^ ehrgeizigen und tatendurstigen Seele des Nisus keimt der Placm des Unternehmens (186. 194); gleicher Gesinnung ist Euryalu^ (205 fg.), und seine Entschlossenheit überwindet die zarten Rück^ sichten des Freundes. Aber gerade der Ehrgeiz, die Triebfeder zm dem tapfern Unternehmen, führt sie auch ins Verderben: schon beim Auszug planen sie nicht nur, ihren Auftrag auszuführen, sondern cum spoliis ingenti caede peraäa wollen sie zurückkehren. (242); so haben sie zwar einen Weg gewählt, der sie sicher durch, die Feinde führen würde, aber widerstehen der Versuchung nicht, ein Blutbad unter den schlafenden Feinden anzurichten.*) Die

1) Der Dichter läßt sie das nicht 'gedankenlos', 'bloß dem Muster von Odysseus und Diomedes zu Liebe' tun (F. Cauer a. a. 0. ISO), sondern aus denselben Gründen wie jene. Diomedes muß sogar von Athena ab* gehalten werden, noch mehr zu töten und damit sich und den Freund zu gefährden: jeder antike Leser begriff ihn. Und es ist noch etwas anderes^ ob unerfahrene Jünglinge oder erfahrene Krieger wie Diomedes unvorsichtig sind. Für Nisus^ Ehrgeiz ist es zu wenig, nur eine Botschaft ausgerichtet^ zu haben: darauf hat der Dichter mit sorgfältiger Ökonomie Torbereitet (186), auch dafür gesorgt, daß Nisus gegenüber Euryalus als der Besonnenere erscheint (822. 364). Wenn Virgil das Blutbad noch außerdem damit hätte motivieren wollen, daß die beiden sich einen Weg bahnen müßten, so- wäre das freilich ebenso überflüssig wie sachlich unrichtig: es ist aber weder aus lato te limite ducam 328 noch aus via facta per hostis 866 ztf entnehmen. Wer mitten durch Feinde geht, muß sich den Weg mit dem Schwerte bahnen: sich hindurchschleichen, ohne eine Spur seines Wegs zu hinterlassen, hätte Nisus für unwürdig gehalten. Eine äßltipice Yirgils möchte ich gerade hier noch weniger als sonst annehmen, denn es ist auf- fällig, wie sorgfältig in dieser Episode alles motiviert wird, man könnte meinen, in gewolltem Gegensatz zu den Flüchtigkeiten, von denen die Dar- stellung der Dolonie wimmelt. Die Freundschaft der beiden hat sich schon in V gezeigt (und man beachte den Kontrast!); eben daher kennen wir Nisus als schnellen Läufer, was er hier 386 bewährt; seine Leistungen im Speerwurf 411. 417 begreiflich bei seiner Jagdleidenschaft 178. 407; durch

NisuB und Enryalua. 217

kecke Tat gelingt: Nisus ist verständig genug, um di^ kindliche TJnbesonnenheit des Euryalus in Schranken zu halten (354), aber nicht verständig genug, ihm die Freude zu versagen, sich mit den Spolien der Erschlagenen zu schmücke». So entgeht er selbst zwar den feindlichen Reitern; Euryalus büßt seinen Über- mut: der blinkende Helm verrät ihn, die geraubten WaflFen be- schweren seinen Lauf, er fällt dem Feinde in die Hände. Als ihn Nisus vermißt und dann inmitten der volskischen Reiter wieder- sieht, vergißt er alles über dem Wunsch, den Freund zu retten; seine Absicht, ihm durch die Verwirrung, die seine Wurfspeere unter den Feinden anrichten sollen, Grelegenheit zur Flucht zu geben, mißlingt; als er das Leben des Freundes bedroht sieht^ Terlaßt ihn die Besinnung: amens stürzt er vor, ihn sollen sie toten, den Freund verschonen. Umsonst: er kann den Getöteten nur noch rächen und bricht dann, mit Wunden besät, auf seiner Leiche zusammen. Nicht also die äußeren zuMligen Ereignisse^ nicht Feindschaft der Götter, sondern ihre eigene Leidenschaft I bereitet beiden den Tod: sua cuique deus fit dira cupido (185), wie Kisus selbst in unbewußter Vorahnung gesagt hatte. Sie haben gefehlt^), indem sie beide sich fortreißen ließen, ihre nächste

oben diese erklärt sich seine Ortskenntnis 246. Im Mondschein leuchtet

dex Helm des Euvyalus und zielt Nisus, während ihn selbst das Dunkel des

Richten' Waldes verbirgt, der andererseits des Euryalus Flucht hinderte

(^^). Und wie kann ihn dabei Nisus wiederfinden? audit equos 894. In

*ier Dolonie hat der Dichter große Not, einen plausiblen Grund für den

AtiBzng der beiden zu erfinden, und zieht sich übel genug aus der Sache:

^irgil hat auch hier nicht gedankenlos nachgeahmt. Daß während dea

-Blutbades von den Thrakern des Rhesos keiner erwacht, kann verwundem:

^irgii beugt dem vor durch die Fiktion des wüsten Zechgelags 816. 385.

^^0 (vgl. 165), und dies wieder ist vorbereitet durch Turnus* Worte 167 IneH

^^fie gestis corpora rebus proeurate viri.

1) Es ist mir freilich zweifelhaft, ob Virgil und seine Hörer die Ver- ^"«^hliuig des Nisus, die darin liegt, daß er nicht trotz Euryalus' Tod seinen ^^eg^ fortsetzte und sich seines Auftrags entledigte, als Pflichtverletzung so Empfanden haben, wie wir sie (wenn auch wohl erst nach einiger Über- i«^ng) empfinden. Sich besinnungslos hinreißen zu lassen von der Leiden- schaft ist dem Südländer gemäßer als uns, und selbst von uns denken bei ^iner ähnlich pathetischen Erfindung Schillers, dem Todesritt des Max Picco- ^omini, nur wenige an die viel stlirkere Pflichtverletzung. Ein Nisus, der %a8 geschützt-em Hinterhalt den Freund sterben sähe und, zu vernünftig, um ^äen aussichtslosen Kampf gegen die Überzahl aufzunehmen, pflichtgemäß fürbaß zöge ein solcher Nibus hätte für kalt und lieblos gegolten.

218 Fünftes E^apitel. Aeneas in Latium.

Pflicht anderen Wünschen hintanzusetzen; aber ihr Fehlen ent- sprang edlen Trieben^ und sie büßten es mit dem Tod: wer will es dem Dichter verargen, wenn er nicht als grämlicher Moralist mit einem &g ix6y>iro xal äXXog epilogisiert, sondern der Trauer und Bewunderung ihren Lauf läßt?

Es erübrigt noch, die Komposition der vier großen Kampf- öchilderungen zu betrachten. Wir werden sehen, daß Virgil, wie in der Anlage der gesamten Eriegserzählung (oben S. 178), so auch in der Komposition der einzelnen Akte und Szenen vor allem das zu vermeiden suchte, was in so manchen analogen Schilderungen der Ilias ihn jedenfalls noch empfindlicher störte als uns heutzutage: die Unübersichtlichkeit und das willkürliche Hin und Her. Durchsichtigkeit des Aufbaus und Klarheit des Ziels war auch hier sein Hauptaugenmerk.

Zunächst, wo die Nennung einer großen Zahl von Namen unvermeidlich ist, vermag eine gewisse Gruppierung der leicht «intretenden Verwirrung des Lesers vorzubeugen. Virgil fand Ansätze dazu bereits in der Ilias ^) und hat sie dann systematisch ausgebildet. In dem Kampf ums Lager in IX ist das am deut-

Ein virgiÜBches Gemüt neuerer Zeit, Bernardin de St. Pierre, urteilte über die Episode: Virgile a renferme dans une seule action les premiers devoirs de h vie sociale, que les moralistes ti'ant mis qu*en nMximes isolees (Oeuvres 1826 t. X 180).

1) Auf die Gruppierung zu Paaren, die in der JionrjSovg icgiettia vor- herrscht, hat Robert kürzlich hingewiesen, Studien z. Ilias 377: das geht, wie er richtig bemerkt, auf die Paarung von Wagenkämpfer und Wagen- lenkef zurück. In der *Ayaybiyi>vovos StgirOtela steht's ähnlich: Agamemnon tötet ^ 91 ff. drei Paare, darunter zwei Brüderpaare; ein viertes Paar, die Antenoriden Iphidamas und EoDn treten ihm 221 ff. gegenüber. Das geht dann weiter: ftlO ff. gesellt sich das Paar Diomedes-Odysseus zueinander: ihnen fallen drei Paare zum Opfer; Diomedes verwundet dann den Hektor, wird aber von dessen Bruder Paris selbst verwundet. 420 ff. tötet Odjsseus Tier, dann wiederholt sich bei ihm mit dem Brüderpaar Charops-Sokos der Fall des Agamemnon. Dazwischen tötet Hektor 300 ff. in drei Versen je drei, was wohl auch nicht Zufall ist. Die Dreizahl spielt in der Patroklie eine Holle: Patroklos tötet 11 399 ff. erst drei einzelne, dann dreimal je drei; hierauf 684 ff. wieder dreimal je drei und unmittelbar vor seinem Tode 785 dreimal neun : die Absicht der Steigerung ist unverkennbar. In N S (ab- gesehen vom Schlüsse S 608 ff.) findet sich dergleichen gar nicht.

Komposition. Grappienmgen. 219

lichsten: zunächst das kontrastierende Schicksal zweier Troer 545 568; dann eine *Metzelszene'; beim ersten Paar bekommt jeder einen Vers^ der Name steht am Anfang:

Ilioneus saxo atque ingenti fragmine niontis Liicetium portae subeuntem ignisque ferentem; nun zwei Paare^ nur die Sieger charakterisiert:

Emaihiona Liger, Corynaeum sternit Äsüas, hie iacuh bonus, hie lange fallente sagitta; nun wieder zwei Paare, ganz ohne Charakteristik, aber einer ist erst Sieger, dann Besiegter:

Ortygium Caeneus, victorem Caenea Turnus; bei Turnus verweilt der Dichter; zunächst zwei Paare in einem Vers:

Turnus Ityn Cloniumque, Dioxippum Promolumque bis hier also in immer steigender Kärze^), nun aber wieder ab- schwellend, noch ein Paar, die Namen am Yersanfang imd Ende: ei Sagarim et summis stanteni pro turrihus Idan,

und schließlich zwei ausführlichere Schilderungen, der Tod eines Angreifers (576—580) und eines Verteidigers (581—589). Es folgt die Ascaniusepisode (590—671); dann tritt das Paar Pan- darus und Bitias auf: sie töten vier (684 f.), darauf zum Entgelt Turnus gleichfalls vier (696 702) und dazu den Bitias und Pan- darus selbst (703 755); dann wütet er im Lager, tötet erst Phaleris imd Gyges, Halys und Phegeus; dann vier in einem Vers (767) genannte; schließlich nochmals vier (768 777), bis endlich das Paar Mnestheiis und Serestus die fliehenden Troer zum Stehen bringt. Man sieht, durch die ganze Schilderung, mit wenigen Ausnahmen, herrscht mehr oder weniger stark betont die Gruppierung zu zwei oder vier. Das eine Beispiel mag ge-

1) Diesem Prinzip sind bei längeren Aufzählungen gewiß hellenistiBche Dichter mit Bewußtsein gefolgt. Ganz deutlich z. B. TibuU I 8 , 37 ff. in der Schilderung des goldenen Zeitalters: zunächst zwei Distichen über die Schiffahrt, im ersten pinus^ im zweiten naviia Subjekt; dann je ein Distichon über Tierzucht Subjekte taurus und equus , Sicherung des Besitzes Subjekte domus und lapis , Ernährung Honig und Milch; endlich zwei Distichen mit je vier Subjekten über Eintracht und Friede, Krieg und See- fahrt. Hier entspricht die immer stärkere Zusanmiendrängung der steigen- den Erregung.

220 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

nügen; auch ist in den folgenden Büchern das Prinzip nicht so^: konsequent durchgeführt. Auf etwas verschiedene Weise, abei-:s ebenfalls auffallend symmetrisch, ist der Abschnitt Xu .^OOflLT^ komponiert, die Taten, die Aeneas und Turnus an Terschiedenen^ Stellen des Schlachtfeldes verrichten: Einleitungsverse 500 r)04^ dann 505—508 Aeneas, 509 512 Turnus, 513—515 Aeneas, 51ft bis 520 Turnus also Schema a b a b, dann ein das Wüten der beiden malender Vergleich 521 528; dann Aeneas: Turnus 529 537, Turnus: Aeneas 538 541, also Schema a b b a; der ausführlich besprochene Fall eines Troers (542 547), dessen Überwinder nicht genannt wird, leitet zu einer kurzen allge- meinen Kampfschilderung (548 553) über, mit der die Partie abschließt.

Der Gang der Erzählung ist in den vier Büchern jedesmal ein anderer; aber wenn Einförmigkeit vermieden ist, so sind die befolgten Kunstgesetze doch die gleichen: das wird ein rascher Überblick lehren.

Die Bestürmung des Lagers in IX beginnt mit einer all- gemeinen Schilderung (503 524), in der zunächst die großen Massen, Volsker, Troer, Rutuler als solche, dann andere Massen durch ihre Führer Mezentius und Messapus bezeichnet ohne weitere Detailschilderung auftreten. Die beiden letztgenannten leiten über zu Turnus, den die Anrufung der Musen (525 529) energisch in den Vordergrund rückt. Er beginnt mit der Zerstörung des einen Hauptturms: von den beiden Troern, die beim Zusammen- sturz entkommen, fängt er den zweiten ab imd reißt dabei einen Teil der Mauer ein (530 566). Das führt zur Verstärkung des Angriffs, dem es nicht an Abwehr fehlt hier ist die oben be- sprochene Metzelszene eingelegt, die in Turnus' Taten gipfelt ( 575) und ausläuft in zwei Einzelschilderungen, von denen die letzte, wie oben 201 gezeigt ist, die Ascaniusepisode vorbereitet ( 658). Ascanius' Erfolg und die sichtliche Teilnahme der Götter beleben den Widerstand der Troer ( 671), unter denen Pandarus und Bitias die kühnsten sind: sie öfihen das Tor, töten die Ein- dringenden, ja es kommt zu einem Ausfall der Troer ( 690). Damit ist Aeneas' ausdrückliches Verbot (42) verletzt: und hier, auf dem Höhepunkt der troischen Erfolge, setzt denn auch ener- gisch die Gegenwirkung mit Turnus' Angriff ein: die am weitesten Vorgedrungenen fallen unter seiner Hand, dann, schon am Tor Bitias:

Komposition: IX. 221

die Troer fliehen, Turnus wird durch Pandarus' Unvorsichtigkeit eingeschlossen und tötet diesen (der Zweikampf ist durch Pan- danis' Angriff und die beiden Reden hervorgehoben und als Gipfel von Turnus' Leistungen bezeichnet): bleicher Schrecken erfaßt die im Lager. Aber Turnus (s. o. S. 210) verpaßt in blinder Mord- lust den günstigsten Augenblick, die Feinde insgesamt zu ver- nichten, und wenn er auch noch die Fliehenden oder Überraschten in Massen erschlägt, so kann er, der einzelne, doch nicht auf die Dauer standhalten: sobald die troischen Führer von der Lage Kenntnis erhalten und Mnestheus' Rede die Verstörten zur Be- sinnung bringt, dringen sie in geschlossener Schar auf ihn ein (788). Er muß, wenn auch langsam und nicht ohne erneute Au- griffe, endlich weichen; Junos Beistand, der ihn in der größten Gefahr geschützt (745) und vorher gestärkt hatte, verläßt ihn; indem er in voller Rüstung in den Tiber springt und glücklich zu den Seinen heimkehrt, liefert er noch mit seinem Rückzug ein Heldenstück.

Also: die Darstellung führt allmählich zu Turnus, setzt bei diesem mit einer wichtigen Tat ein, verläßt ihn im folgenden zeit- weise, aber nur um ungezwungen immer wieder zu ihm zurück- zukehren und schließlich ganz bei ihm zu verweilen. Er ist der Mittelpunkt, und doch ist nicht er allein, sondern der Kampf als Ganzes geschildert. Femer: soviel wie irgend möglich ist darauf gehalten, den Zusammenhang der Erzählung zu wahren; ein Haupt- mittel dazu ist dies, daß bei hervorragenden Taten einzelner die Wirkung auf die Massen angegeben wird und aus dieser sich dann wieder Taten einzelner entwickeln. Ferner: die Darstellung verläuft nicht geradlinig, etwa so, daß Turnus vom Beginn bis zum Schluß Erfolg über Erfolg davon trüge, sondern nach den «rsten Erfolgen setzt eine Gegenaktion ein, die erst überwunden werden muß, und der Abschluß wird durch eine neue Gegenaktion herbeigeführt. Endlich: die Erzählung verläuft nicht in gleich- mäßiger Höhe oder mit regellosem Auf und Nieder, sondern mit planmäßigen Steigerungen, so zwar, daß, wo ein Höhepunkt er- reicht ist, auch die Peripetie eintritt; da nach der Natur der Sache der größte Effekt nicht den Schluß bilden kann, wird wenigstens durch die eigentümliche Bildung des Schlusses einer ^mzlichen Abflauung entgangen, ein letzter Aufschwung des Inter- esses erzielt. Wiederholung von Einzelmotiven oder Situationen

222 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

ist durchweg vermieden. Eine echte Episode, als solche nament- lich durch die Ausführlichkeit der Erzählung bezeichnet, ist der Schuß des Ascanius, aber gerechtfertigt durch die sachliche Be- deutung') und durch feine Fäden nach oben wie unten mit der Haupthandlung verknüpft.

Diese Eigenschaften treten noch deutlicher hervor beim Ver- gleich mit dem entsprechenden Teile der Ilias, obwohl die Teicho- machie (M) noch zu ihren einheitlich geschlossensten Abschnitten gehört. Da wird erst ausführlichst von der seltsamen Absicht des Hektor erzählt, mit dem Streitwagen über dön Graben zu setzen (hinter dem sich die Mauer erhebt), bis ihm das der kluge Polydamas ausredet: die ganze Szene hat nur Bedeutung als Vor- bereitung auf des Asios Tat, der trotzdem mit seinem Wagen zwar nicht über den (Jraben und gegen die Mauer, aber gegen ein offenes Tor vorgeht, wo er übrigens, zu Fuß kämpfend, offen- bar nicht mehr und nicht weniger als so erreichen würde. Da» Tor wird von den beiden Lapithen verteidigt, die Virgil über- nommen und mit der Haupthandlung verbunden hat: bei Homer verlassen wir den Schauplatz ihrer Taten, ohne zu hören, was aus Asios wird. Die übrigen Troer überschreiten den Graben, nach- dem Polydamas* durch das Vogelzeichen erregte Bedenken von Hektor niedergeschlagen sind; der Angriff des Sarpedon auf die Mauer wird ausführlich geschildert und behauptet, ohne ihn wäre es den Troern nicht gelungen, ins Lager zu dringen: wir erleben das aber nicht, sondern, nachdem Sarpedon einen Teil der Brust- wehr eingerissen und vergebens versucht hat, die Mauer zu er- steigen, zerschmettert Hektor an einer ganz anderen SteUe mit einem Felsblock ein Tor, was er ja gleich zu Anfang hätte tun

1) Nicht zwar für den Gang der Schlacht, aber für die Absicht des ganzen Gedichts: der Ahnherr der Julier als Rächer der Ehre seines Volks. Die Hohnrede des Numanus, in der zugleich ein Bild der altlatinischen Sitten gegeben wird (und zwar nach dem Vorbild der spartanischen Sitten, denn nach römischen Gelehrten [Cato? Serv. Aen. VIII 688, doch vgl. Jordan proll. XXVI] war infolge von Urverwandtschaft bei den Sabinem tioXXoc r&v vo(i,iiL<ov AotiKoviTid y fidXiata Sh tb qnXon6Xefi6v te aal Xito&lairov Ttal ro naga navxa xa, Jlgya toi) ßiov öuXrjgöv Dionys. 11 49, vgl. dit Erziehungs- grundsätze der alten Lucaner, quibtis et Spartani [liberos] instiiMere soliti erant, bei Justin XXIII 1,8), und die Situation der Troer erinnert an die von Livius gewiß nach ausführlicheren (poetischen?) Berichten erzählte Hohn- rede des Etruskers unter den Wällen des römischen Lagers, II 46, 3.

Kompositionen: IX. X. 223^

können. In den folgenden Büchern N bis 0 verzettelt eich die Darstellung weit mehr. Virgil war hier durch die Sache selbst zu konzentrierterer Erfindung genötigt: er kann nicht, wie Homer^ die Feinde insgesamt eindringen lassen, denn die ganze Haltung der Troer beruht ja darauf, daß sie an Zahl viel zu gering sind,, um einen offenen Kampf wagen zu können; er will aber auch außerdem den Massenkampf, den er im folgenden noch wiederholt wird schildern müssen, hier nicht vorwegnehmen und nimmt sa nur die Gelegenheit wahr, den Turnus in Aeneas' Abwesenheit von vornherein ins rechte Licht zu stellen: so ist er der einzige, der ins Lager gelangt und es unversehrt wieder verläßt.^) Dabei ist ein Angriff auf die Schiffe nicht möglich: Virgil hat diesen Teil der Epinausimache abgetrennt und das jenem Angriff entsprechende Ereignis auf den Tag zuvor verlegt.-)

Die Komposition der Kampfszenen in X ist erheblich kom- plizierter. Hier sollten Pallas und Mezentius fallen, Turnus und vor allem Aeneas gebührend in den Vordergrund treten; ein Kampf zwischen diesen beiden selbst aber mußte vermieden werden, um dem entscheidenden Zweikampf nicht vorzugreifen. Virgil geht aus von der erneuten Bestürmung des Lagers und der bedrängten Lage seiner wenigen (121) Verteidiger; dann schildert er die Fahrt des Aeneas und der etruskischen Schiffe, deren

1) Man wird dabei an ein Ergebnis des hannibalischen Kriegs er- innert: cum re fugt entern ad urbem Tauream Claikdius sequeretur, patenti hosHum partae invectum per alteram stupenttbuti miraculo hostibus intactun^ evasisse berichtet Livius XXIII 40 nach 'einigen Annalen'.

2) IX 67 ff. Um den Versuch znr Brandlegung der Schiffe ohne vor- herige Erstürmung des Lagers zu ermöglichen, läßt Virgil die Flotte nicht durch das Lager gedeckt sein, sondern neben dem Lager liegen, auf der Landseite nur von einem Wall, nicht von einer eigentlichen und in Ver- teidig:ang8za8tand gesetzten Befestigung umgeben: so ist, wie Drachmann, Nord, tidskr. f. filol. XIY 69 gegen meine frühere Ausführung richtig be- merkt hat, zu verstehen classem quae lateri castrorum adiunda latebat, ag- gertbus saeptam circum et fluvialibus ufuiis IX 69; so erklärt es sich auch, wie Turnus hoffen kann, durch den Angriff auf die Flotte die Troer aus ihren Mauern herauszulocken, und andererseits, warum jede Möglichkeit ausgeschlossen erscheint, die Schiffe vom Lager aus gegen den Brand zu schützen. Welche Gründe örtlicher Art zu dieser Trennung von Flotte und Lager geführt haben, sagt der Dichter nicht. Nach der Landung der Römer vor Aspis hebt es Polybios (I 29) besonders hervor, daß sie vsaXxriaavrsgy itt dh xäipiftp Tial ;|rdoaxt 7t6QtXocß6vT6g rag vaüg die Belagerung beginnen..

224 Fünftes Kapitel. Aeueas in Latium.

Katalog eingeschaltet wird; Cymodocea unterrichtet den Aeneas Yon der Lage der Seinen^ und wir erfahren zugleich, daß die arkadische Reiterei und ein Teil der Etrusker zu Lande gegangen sind und eine bestimmte Position bereits eingenommen haben.^j Auf die Lage am Lande wird die Aufmerksamkeit gerichtet, damit der Eindruck, den dort die Ankunft des Aeneas macht, zu voller Anschaulichkeit kommt: die Troer erblicken ihn zu- nächst, die Feinde wundern sich über ihr Freudengeschrei und ihren neu belebten Mut, bis sie sich umsehen und die Schiflfe bereits dem Strande zugekehrt erblicken: Turnus, der den Mut nicht sinken läßt, muß jetzt (285) den Hauptteil seiner Truppen eine neue Front einnehmen lassen. Es folgt die Landung und der Lau- dungskampf, dabei zunächst, wie billig, eine Reihe von Aeneastaten; Virgil fühlt sich verpflichtet, ausdrücklich zu motivieren, warum Aeneas nicht sofort mit Turnus zusammenstößt; freilich erscheint die Motivierung etwas gezwungen.*) Während Aeneas mitten im Siegen ist^), treten die Führer der Feinde auf. Clausus, Halaesus, Messapus: der Kampf kommt zum Stehen, schwankt tauge unent- schieden (anceps piigna diu 359): damit können wir diesen Teil des Kampfplatzes verlassen. Der Dichter versetzt uns anderwärts hin zu den vorher erwähnten Arkadern und Pallas*): hier beginnt

1) Nicht aber, wie man gemeiDt hat, daß sie bereits im Lager sind: Cjmodocea sagt im Gegenteil, Turnus woUe ihnen den Zugang zum Lager verlegen, medias Ulis oppanere tunnas ne castris iungant 289: und ebenso- wenig sind die Arkader am Treffen bei der Landung beteiligt: s. darüber Anm. 4.

2) 319 turnuis invasit agrestis Aeneas ^ omen pugnae stramtque Latinos: was doch wohl nicht, wie Servius will, zusammenzuhalten ist mit VIU 7 undique cogunt auxilia et Intos vastant cultoribus agros, sondern sich auf die schlechter bewaffneten Bundesgenossen des Turnus, z. B. die legio agrestis von Praeneste (VII 681) bezieht: 'auf sie wirft sich Aeneas zuerst, in der richtigen Voraussetzung, daß er hier am leichtesten Erfolg haben wird und so die Schlacht mit einem guten Vorzeichen eröffnen werde' Brosin z. St.

3) Von den sieben Söhnen des Phorcus, die dem Aeneas entgegen- treten, tötet dieser zwei, der dritte verwundet den Achates: hier bricht d^ Dichter ab, man sieht die weitere Entwicklung voraus.

4) Die Erzählung leidet hier an Unklarheit. Offenbar sind die Arkader- reiter, die durch Terrainschwierigkeit genötigt wurden abzusitzen und, an den Fußkampf nicht gewöhnt, den kürzeren ziehen, nicht am Landungskampf be- teiligt: das ergibt, abgesehen von dem stark betonten parte ex alia 362, auch

Komposition: X. 225

diejenige Handlung, die in logischer Abfolge zur Schlußkatastrophe dee Buches führt. Zunächst muß Pallas fallen: um die nötige Teilnahme dafür zu erwecken, erhält er seine Aristie, die, abge- sehen von den Einzelerfolgen, dazu führt, daß die schon auf der Flucht begriffenen Arkader wieder zum Stehen kommen (397, 402 fg.), dann lebhaft vordringen (410): hier tritt die Gegenaktion mit EbdaesuB ein, dessen Überwindung den Gipfel und Abschluß der Pallasaristie bildet und der deshalb zunächst selbst durch eine Reihe Yon Taten ausgezeichnet wurde. Dies ist der ge- gebene Moment, um Lausus einzuführen als olxovofita für sein späteres Eingreifen: nur Abas' Tod wird erwähnt, aber es ist genug, daß Lausus die Schlacht wieder gegenüber Pallas zum Stehen bringt (431) lange könnte er freilich nicht standhalten ohne Turnus, der nun, nach Pallas' größten Erfolgen, diesen nieder- streckt; ein Epilog des Dichters (501 509) hebt dies Ereignis hervor und verweist, da es der künstlerischen Regel entgegen keine unmittelbaren Folgen für Turnus kat, auf die Zukunft. Die Nachricht von Pallas' Tod entflammt Aeneas' Zorn aufs höchste: in unentschiedenem Kampf haben wir ihn verlassen, er dringt jetzt siegreich vor: die zweite Reihe seiner Taten, die hier einsetzt, bedeutet (wie oben S. 209 gezeigt wurde) eine Steigerung gegenüber der ersten. Mit der ausführlichsten Schilderung, dem Tod des Brüderpaars Lucagus und Liger, schließt sie zunächst ab: der Erfolg ist, daß der Ring der Belagerer durchbrochen, Ascanius mit den Seinen entsetzt wird (604). Aber der nächste Zweck des Aeneas war die Rache an Turnus (514): das Zu- sammentreffen, das der Dichter doch hier noch nicht gebrauchen kann, ließe sich jetzt nicht länger hinausschieben. So wird denn Turnus durch ein von Juno gesandtes Trugbild des Aeneas vom Schlachtfeld weggelockt und in die Heimat geführt; an seiner

der Vergleich von 288 fg. Aber unklar bleibt, ob sie Pallas, der ja mit Aeneas zu Schiffe gekommen idt (160), nur von fem vidit Latio dare terga sequaci, oder ob er sich bereits mit ihnen vereinigt hat: in beiden Fällen müßten wir früher oder später etwas davon hören, daß er sich zu ihnen durch- Bchlägt. Das vidit scheint (namentlich im Vergleich mit dem die fliehen- den Genossen anfeuernden Tarchon; inter caedes ced^ntiaque agmina fertur equo XI 729) für die erste Auffassung zu sprechen, die folgende Er- x&hlnng für die zweite. Auch das Topographische wird nicht völlig Uar: den Erklärungsversuch von Brösln (zu 362) bekenne ich ebensowenig sn Tentehen wie den Dichter.

H«iiis«, YirgllB epiicIkB Technik. 2. Aufl. 15

226 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

Stelle tritt auf den ersten Plan Mezentius, der nun durch ein^ Reihe von Taten die Gegenaktion bip auf den Gipfel führt; an seine letzte, die durch den Paean gefeierte Tötung des OrodeS; schließt sich die Schilderung des Erfolges: in der Metzelszene 747 754 sind die Sieger fast ausschließlich Latiner, die Erfolge des Aeneas scheinen einigermaßen aufgewogen (iam gravis ae- quabat luctus et mutua Mavors funera). Die Zeit für den Ent- scheidungskampf des Aeneas und Mezentius ist gekommen: ein neuer Einsatz mit neuer Schilderung des furchtbaren Mezentius bereitet auf 4ie Wichtigkeit dieses letzten Kampfes vor (762). Er verläuft nicht in gerader Linie: die Aufopferung des Lausus^ der dem verwundeten Vater den unbehelligten Rückzug ermög- licht, scheint zunächst die Entscheidung zu vereiteln; aber gerade der Tod des Lausus ist es, der Mezentius wieder in den Kampf zurückführt: mit düsteren Ahnungen und des Lebens überdrüssig, besteigt er sein treues Schlachtroß, das ihn im Todessturz der Waflfe des Gegners wehrlos ausliefert. Mit diesem größten Effekt schließt das Buch: kein Wert mehr über den weiteren Verlauf der Schlacht und des Tages. Freilich sagt sich jeder nicht gerade böswillige Leser, daß, nachdem die hervorragendsten Führer der Latiner, Turnus, Halaesus, Lausus, Mezentius beseitigt, die be- lagerten Troer ausgebrochen sind, das Schicksal des Tages ent- schieden ist: aber immerhin würde das ausdrücklich gesagt sein, wäre Virgil Historiker oder ein Dichter, dem die sachliche Exakt- heit und die Befriedigung pedantischer Leser höher stünde ala die pathetische Wirkung.

Gegen den komplizierten Aufbau dieser ersten großen Schlacht kontrastiert stark der schlichte Verlauf des Reiterintermezzos in XI. Es ist im wesentlichen Aristie der Camilla; aber damit dabei der Hintergrund des allgemeinen Kampfes nicht fehle, wird zunächst dieser in seinem allmählichen Entbrennen eingehend geschildert; das führt schließlich zur Hervorhebung einzelner Orsilochus auf troischer, Catillus auf latinischer Seite ; damit ist der Über- gang zu der vornehmsten unter den Kämpfern gegeben. Auch von ihr zunächst ein allgemein gehaltenes Bild (648 6(53), damit der Leser eine Grundlage der Anschauung erhalte, die in den. folgenden Szenen individuell belebt wird: zwei einleitende Verse (664 fg.) erhöhen die Aufmerksamkeit. Nun denn die eigentliche Aristie, abschließend mit der kühnsten und stärksten Tat^ die auch.

EompoBitionen: XI. 227

ausfährlichsten berichtet wird: der Gipfel des Erfolgs. In der uns nun schon bekannten Weise tritt hier die Gegenaktion ein: Tarchons Rede und kühne Tat^)^ als Folge davon Belebung des gesunkenen Mutes der Seinen (758), aus denen nun Arruns den Plan faßt, Camilla zu töten, ohne ihr offen gegenüber zu treten. Ihre eigene Unvorsichtigkeit, in der oben geschilderten Weise motiviert, gibt ihm Gelegenheit dazu: Camilla ßLUt (759 ^ii 835). Eingerahmt ist die bisher besprochene Partie, also der gesamte Kampf, soweit Camilla daran beteiligt ist, durch zwei Götterszenen: zu Beginn übergibt Diana der Opis Bogen und Pfeil, um den Tod des geliebten Mädchens zu rächen (533 596); mm Schluß führt Opis den Auftrag aus, indem sie Arruns nieder- streckt (836 867); so ist die Einheit der Erzählung geflissent- lich hervorgekehrt, ohne daß doch darum der Anschluß nach oben und unten versäumt würde. Denn hier freilich kann der Dichter mit Camillas Tod nicht schließen; notwendig müssen wir erfahren, was aus Turnus' Hinterhalt wird; seine beschleunigte Rückkehr (die den Aeneas vor großer Gefahr bewahrt) ist um so heeser motiviert, je größer der Erfolg der Feinde ist: so wird demi die Verfolgung der latinischen Reiter, ihre Vernichtung ontdr den Mauern der Stadt, der Kampf um die Tore in leben- digster Weise geschildert (868 895): das ist zugleich das künst- lerisch wirkungsvolle Gegenstück zur Eingangsschilderung der aorfickenden Heere (597 607). Dieser Eingangsschilderung ging immittelbar voraus die Erzählung von Turnus' Auszug (522—531); ebenso unmittelbar folgt auf die letzte Szene der Eampfschilderung der Bericht über Turnus' Rückzug (896—902); den Schluß des Buchs bildet die Schilderung der durch den Reitersieg neu ge- schaffenen Situation: das Lager der Troer, statt fem am Tiber, jetzt unter den Mauern der Stadt; aus der Verteidigung sind sie 2um Angriff übergegangen.

1) Sie entspricht dem Bilde, das wir uns nach eeinem Benehmen bei der Landung X 290 von Tarchon gemacht haben, wo ihm vorsichtiges Aus- setzen der Truppen zu lange währt und er das Schiff auf den Strand fahren läßt, mag es auch dabei zerschellen. Die Worte, mit denen er seine Ge- nossen anfeuert, erinnern an Brasidas' Worte bei der Landung in Pylos, wo er des Schiffs nicht schonen heißt, oxslXavtag $h %al notvxl zQ^nip ano- ßdvtag t&p %e ävö^äyv mal tov xtOQlov xQatfjöat: Thukydides IV 12. Die Thukjdidesstelle war als Meisterstück anschaulicher Darstellung berühmt: Flui, de gier. Athen. 8, vgl. Lukian de conscr. bist. 49.

9*

228 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latiam.

Das letzte Buch beginnt mit Tumns' Entschluß zum Zwei- kampf und endigt mit eben diesem Zweikampf und Turnus' Tod: die ganze Kunst des Dichters richtet sich darauf, diesen Aus- gang zu retardieren und dadurch des Lesers Erwartung zu spannen. Den ersten Widerstand leisten Latinus und Amata^ und ohne es zu wollen Lavinia: er wird rasch überwunden und der Zweikampf ist beschlossene Sache (1 112).^) Aber schon während die Völker sich zur Schwurstätte begeben, bereitet sich das neue Hemmnis vor in Junos Gespräch mit Jutuma; als der Schwur vollzogen ist, gibt Turnus' eigene Haltung') und ihre Wirkung auf die ihm nächststehenden Rutuler den Anlaß zu Jutumas Eingreifen; dadurch pflanzt sich die Bewegung auf die Laurenter und Latiner ^) fort; das täuschende Vogelzeichen bringt

1) Als Turnus den Idmon mit der Botschaft an Aeneas abgeordnet haty geht er ins Haus, läßt sich seine Bosse vorführen nnd legt den Panzer an, ergreift Schild and Schwert und schwingt schließlich die Lanze mit drohenden Worten totoque ardenUs <ib are seintiUcie cibsistunt, oeulia micat acribus ignis etc. (81 106). Das ist nachgebildet der Büstungsszene des Achill T 864 ff. : auch die von Aristarch athetierten Verse 866— 86S sind nicht übergangen, aber an passenderer Stelle yerwertet (doch ohne das Zähneknirschen: y^^^ov y^Q ^^ ßgvxäad'ai tbv kxMia schol. A z. St.). An sich ist es ja nichts Wunderbares, wenn Turnus, der am frühen Morgen in den Kampf soll, am Abend zuvor seine Waffen nochmals erprobt (so er- klärt Serrius: man möchte das freilich yon Yirgil selbst gesagt haben), auch die Lanze schwingt (so übt sich bei ApoUonius IQ 1262 Jason vor dem Kampf in Sprung und Lanzenschwung), und gewiß wäre es ver- nünftig, das rechtzeitig zu tun, wo noch etwaigen Mängeln der Büstung ab- geholfen werden kann. Auch ist das Mißverständnis, als gehe es nach V. 112 gleich zum Kample, durch v. 76 ausgeschlosseu, wo der Kampf aus- drücklich auf den nächsten Morgen angesagt wurde. (Man vgL auch, wie ganz anders die Büstung zum Kampf XI 486 geschildert ist.) Immerhin ist die definitive Büstung vor dem Kampfe selbst so viel wichtiger als diese vorläufige, daß man sich fragt, warum Yirgil nicht wie Homer und ApoUo- nius lieber jenen Augenblick gewählt hat. Offenbar, weil es ihm nicht sowohl auf die Tatsache der Büstung, als auf den Charakter des Tomas ankommt: am Abend vorher, unmittelbar nach dem Entschluß, der wütendste Kampfesmut, der es gar nicht erwarten kann, die Waffen gegen den Ver- haßten zu schwingen; am Morgen und angesichts der Tat selbst der Abfall: s. oben S. 211; dagegen Aeneas bleibt sich gleich.

2) Darüber s. o. S. 211.

8) Um dies plausibel erscheinen zu lassen, hat Yirgil es vermieden, etwa vorher von dem allgemeinen Drängen der Latiner zu sprechen, oder von ihrem Haß gegen Turnus. Nur Tumns selbst sieht (TEL 2) siia nunc

Yertragsbrach bei Y. und Homer. 229

sie zum Ausbruch: Tolumnius^ der Augur ^), tut den ersten Wurf und trifft Yon neun Brüdern den einen: die andern wollen ihn sUbstverstandlich rächen^ Laurenter treten ihnen entgegen^ jene erhalten Unterstützung Yon Troern^ Etruskem^ Arkadem: so er- ta&i allmählich alle insgesamt die neuentfachte Kampflust, ein tumultuarisches Ringen entspinnt sich um den Altar. Noch glaubt Aeneas ihm Einhalt tun zu können , aber ein Pfeil , von unbc: kannter Hand entsendet, verwundet ihn: mit seiner Entfemimg fallt die letzte Schranke, die Schlacht beginnt.

G^wiß: 'der Schuß des Tolumnius ist Nachahmung desPan- daros-Schusses'; das konstatiert die moderne Yirgilkritik und hat damit den Nachahmer Yirgil wieder einmal erledigt. Ich kenne kaum ein Beispiel, das geeigneter wäre, in das Verständnis der nachahmenden Kunst Virgils einzuführen, als dies. Bei Homer ist der von Menelaos besiegte Paris durch Aphrodite entführt: Menelaos sucht ihn vergebens überall, und auch von den Troern kann ihn keiner zeigen; sie täten's gern, denn sie hassen ihn alle wie den schwarzen Tod. Nun stellt Agamemnon die Forde- rung, der Zweikampf solle als erledigt betrachtet und die Be- dingung erfüllt werden. Inzwischen ist aber Athene in des Laodokos Gestalt zu Pandaros getreten (die Szene im Olymp^ die dazu f&hrt, wird ausführlich geschildert) und hat ihm geraten, auf Menelaos zu schießen: das würde ihm Dank und Ruhm von allen Troern, am meisten aber von Paris einbringen. Flugs ist der Tor dazu bereit: mit größter Anschaulichkeit wird der Bogen, die Vorbereitungen zum Schuß, der Schuß selbst geschildert:

pramissa repoM, se signari oculia: von wem, wird nicht gesagt. Vorher (XI 816) sind es aber die Witwen und Waisen det gefallenen Latiner gewesen, die den Zweikampf gefordert haben: nur Drances hat ihre Bache zni seinen gemacht. Von den Rutulem vollends ist dergleichen nie erw&bnt

1) Sein Auftreten ist XI 429 vorbereitet, wo Turnus die Latiner über Diomedes* Absage trOstet: at Messapus erit felixque Tolumnius (sc. atucüid) et quoa tot populi misere duces. Daß der augur T. mit diesem dux T. iden- tiBch ist, hätte man nicht bezweifeln sollen : so war Rcus Augur und EOnig zugleich, YII 187 fg. (vgl. Cicero de div. I 89), Rhamnes ist rex idem et regt Tumo gratiasimus augur IX 827 ; Tolumnius mag zu den Fürsten des Messa- pus gehören. Turnus verläßt sich auf ihn, wie der Schuß dann zeigt, nicht lUDBonst; aber das felix enthält unbewußt bittere Ironie, denn Tolumnius Terliert infolge seines glücklichen Schusses das Leben, XII 460.

230 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latium.

Menelaos wird dank Athenes Eingreifen nicht getötet^ nur yer* wundet; das Wie erfahren wir aufs genaueste. Nun eine lange Rede des Agamemnom an seinen Bruder, der ihn tröstet, es sei keine Gefahr; der Herold wird zum Arzt geschickt, richtet seine Botschaft aus, der Arzt kommt, zieht den Pfeil aus der Wunde, legt heilende Kräuter auf, die sein Vater von dem freundlich ge- sinnten Cheiron erhalten hatte. Inzwischen rücken die troischen Scharen an, Agamemnon hält seinerseits die große ixtxmXriöig in beiläufig 200 Versen; die Heere stoßen aufeinander. Wie lebendig und anschaulich ist hier alles Äußerliche beschrieben! Wir können danach den Versuch machen, den Bogen des Pan- daros und die komplizierte Kleidung des Menelaos zu rekonstru- ieren, wir hören den Bogen klirren, die Sehne schwirren und den Pfeil sausen, sehen den Pfeil stecken und das Blut auf Schenkel, Schienbein und Waden seine purpurnen Linien ziehen; aber wie sehr tritt dagegen das Seelische zurück, und wird Virgü hinzugesetzt haben wie schleppend geht die Erzählung vor- wärts, wie schlecht ist sie im einzelnen motiviert! Die Homerkritik unserer Zeit hat sich zu der Hypothese gedrängt gesehen, daß die Verbindung der ndgidos xal MevBXdov fiovofiaxLa mit der SpxcDir ciiyxv6ig keine ursprüngliche sei, daß manche sonstige Verkehrt- heit auf Rechnung von Nachdichter und Bearbeiter komme; Virgil übte nicht historische, soudem produktive Kritik. Bei Homer hassen die Troer insgesamt und die Bundesgenossen, zu denen doch auch Pandaros mit seinen Lykiem gehört, den Paris wie die Hölle; und doch ist Pandaros, um sich den Dank des Paris zu verdienen, gleich bereit, den verräterischen Schuß zu tun, uod die Lykier, ihn dabei mit ihren Schilden zu decken. Und als der Schuß gefallen ist, denkt niemand mehr daran, den Vertrag zu halten; statt den Pandaros zu steinigen, rücken die Troer in Schlacht* Ordnung vor, und statt daß Agamemnon versuchte, an ihr Ehr- gefühl zu appellieren, ordnet er seine Scharen zum Kampf. Die Versammlung im Olymp, das Gespräch der beiden Atriden und die Betätigung des Arztes, die ixmAXrjöLg Agamemnons sind nach der modernen ästhetischen Theorie echt epische Verweilungen^ nach Virgils Empfinden störende Unterbrechungen der Haupt- handlung; darum legt er die entscheidende Götterszene vor, die Heilung des Aeneas und den Auszug der troischen Führer hinter diese Handlung. Den Vertragsbruch selbst motiviert er aufis sorg-

Yertragsbrnch bei V. und Homer. 231

faltigste^); Stufe für Stufe sehen wir die Abneigung gegen den Zweikampf unter den Latinern wachsen, bis der scheinbar be- rufene Ausleger des Auguriums den Ausschlag gibt; stufen weis 0ehen wir den Kampf entbrennen, und vergebens sucht Aeneas dem Vertrag Geltung zu verschaffen , bis seine Entfernung auch Turnus' Mut neu belebt: und nun ist freilich kein Halten mehr. So liegt alles Gewicht auf der dramatischen Führung der Hand- lung und ihrer psychologischen Motivierung: von allen home- rischen Detailschilderungen der Äußerlichkeiten hat Yirgil nur <die zwei Verse übemonmien, in denen die Stelle beschrieben ^ird, an der Gylippus vom Speer des Tolumnius getroffen wird.

Während Aeneas' Abwesenheit darf die Handlung nicht stocken: die Pause wird ausgefällt durch Turnus' Taten (324—382), die der gesteigerten Stimmung der dem Ende nahenden Erzählung gemäß in erhöhtem Ton geschildert werden; hatten wir ihn in IX zu Fuß gegen eine Überzahl von Feinden fechten, in XI einen Zweikampf siegreich bestehen sehen, so fährt er jetzt wie der Kriegs- gott selbst mit dem Streitwagen übers Feld, alles vor sich nieder-^ werfend. Die Komposition der Szene ist etwas anders, als wir «ie bisher fanden: das Hauptgewicht liegt auf dem in der Mitte «iahenden Einzelkampf (346—361), der hervorgehoben ist durch Turnus' eigentlich fttr Aeneas bestimmte Worte en agros et quam hdlo Troiane petisti Hesperiam metire iacens; haec praemia qui me ferro o/usi temptare ferunt: sie moenia condunt ; eingerahmt durch zwei Namenhaufen (341 345 und 362—364), diese wieder durch zwei allgemeine Schilderungen der unwiderstehlichen Wucht des Dahinstürmenden (328 340 und 365—370): der Tod des Ph^eus, der sich umsonst den Rossen entgegenwirft, hingeschleift; und schließlich überrannt wird (371 382), dient zur Illustration.^ Eine Steigerung bis zum Schluß findet hier nicht statt, weil der Rückschlag erst längere Zeit nachher einsetzen kann.

Während nim so die Handlung fortschreitet, kann die Heilung

1) Dahin gehört außer dem oben erwähnten der Ausdruck volgi mtriare labantia corda: das volgus ist wetterwendisch und zu plötzlicher Empörung (XI 451) ebenso geneigt wie zu plötzlichem Mitgefühl; femer, 4afi Jatoma in der Gestalt des Camers auftritt, der als Angehöriger eines Tomehmen Geschlechts und durch eigene Vorzüge in höchstem Ansehen sieht; auch ihr Appell an die Ehre, die Freiheitsliebe, die Ruhmbegierde, den alten HaB gegen die Etrusker.

S) Das Schema also a b c b a.

232 Fünftes Kapitel. Aeneas in Latinm.

des Aeneas in aller Ausführlichkeit erzählt werden, ohne als Hem- mung zu erscheinen. Virgil hat die Situation Hektors^ der O 236 £ von Zeus und Apollo aufgerichtet in die Schlacht zurückkehrt^ mit Motiven aus der Heilung des Menelaos durch Machaon ^ 192S^ der des Euryp jlos durch Patroklos A 842 S. und der des Olauko» durch Apollon 77 508 ff. kombiniert^ so zwar, daß auch hier die einfache epische Erzählung zur dramatisch erregten wird. Ver* gebens bemüht sich Japyx, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen,, alle Mittel seiner Kunst scheinen zu versagen; und schon nähert sich das Getöse des Kampfs, Staubwolken verfinstern die Luft,, feindliche Geschosse fallen bereits mitten ins Lager: da hilft Aphrodite nicht eigenhändig, sondern indem sie in das Wasser den Saft eines Wunderkrautes traufeit, und nun plötzlich hat Japyz, der nichts ahnend mit diesem Wasser die Wunde wäscht^ Erfolg: der Pfeil folgt seiner Hand ohne Zwang, das Blut steht und die Schmerzen schwinden; nichts hindert Aeneas mehr, in die Schlacht zurückzukehren, der seine und seiner Getreuen Ankunft alsbald eine neue Wendung gibt (447. 463). Sein Sinn steht einzig auf Turnus wieder scheint der Zweikampf unmittelbar bevorstehend, da tritt die letzte Retardation dazwischen: Jutomas Versuch, in der Gestalt des Wagenlenkers Metiscus Turnus dem Aeneas zu entziehen. Noch verfolgt ihn Aeneas und nur ihn: er kann sich noch nicht entschließen, seinerseits das foedus außer acht zu lassen bis der Angriff des Messapus jede weitere Bück- sicht unmöglich macht (496). Es folgt die oben S. 220 analy- sierte gemeinsame Aristie des Aeneas und Turnus. Die künstle- rische Absicht der eigentümlichen Komposition ist klar. Vom Beginn der Kämpfe an bis zum Schluß werden die beiden Haupt- gegner einander allmählich genähert: in VIU und IX waren beide auf ganz verschiedenen Schauplätzen tätig; in X kämpften sie in derselben Schlacht, aber ohne sich zu treffen, oder anders als durch das gegenseitige Verlangen zueinander in Beziehung zu treten; in XH haben wir abwechselnd von Aeneas und Turnus erst in längeren Abständen gehört, hier löst Schlag auf Schlag^ der eine den audem ab: es soll die Illusion erweckt werden wie von einer immer stärker wirkenden magnetischen Anziehung, die schließlich mit Notwendigkeit zum Zusammenprall führen muß. Der Dichter leitet die Handlung so, daß Turnus die Schmach erspart bleibt, von Aeneas eingeholt und zum E^ampf gezwungen oder

Zweikampf des Aeneaa und Tninas. 233

einfach niedergemacht zu werden: es müssen zwar starke Motive in Aktion treten, um ihn zu bestimmen, den lange vermiedenen Kampf zu wagen die Gelegenheit wird benutzt, um die Hauptgegnerin des neuen Bundes, Amata, zu beseitigen, was aus künstlerischen Gründen notwendig vor Schluß des Gedichts erfolgen muß , aber zuletzt siegt doch sein besseres Ich, er stellt sich dem Gegner frei* willig, die letzte große Szene des Gedichts kann endlich beginnen.

Der Zweikampf Hektors und AchUls, der für Virgil hier das g^ebene Vorbild war, vollzieht sich in drei Szenen: erstens Flucht des Hektor und Verfolgung; zweitens, nach der Eerostasie und infolge von Athenes Eingreifen, der beiderseitige vergebliche Speerwoif; drittens der Nahkampf: Hektors Angriff mit dem Schwert, Achills tödlicher Lanzenstoß. In die erste Szene ist außerdem das Gespräch zwischen Zeus und Athene eingelegt, das (freilich in krassem Widerspruch zur Eerostasie) über Hektors Schicksal entscheidet Virgil hat die Elemente dieser Schilde- rung beibehalten, aber anders angeordnet und vielfach umgestaltet freilich hier, wo das Vorbild eine nur durch unerhebliche Zutaten entstellte einheitliche und großartige Komposition darbot, vermochte die Kunst Virgils weniger als sonst.

Auch Virgil führt uns drei Phasen des Kampfs vor, nach- dem er zunächst, um die Szene anschaulich zu machen, die Stim- mung der Zuschauer (704 709) geschildert hat^) Zuerst, nach einmaligem Lanzen wurf*), ein längerer unentschiedener Schwert- kampf; dann der Einschnitt, markiert durch die von Juppiter vorgenommene Abwägung der beiden Lose. Die zweite Phase beginnt damit, daß Turnus'% Schwert zerspringt'), worauf ihm nichts übrig bleibt als die Flucht, die ihn längere Zeit schützt, da Aeneas durch seine Wunde im Lauf behindert ist; während Aeneas vergebens seine Lanze aus dem Baumstamm zu ziehen

1) Auf aie wird auch im folgendeD mehrfach die Aufmerksamkeit znrückgelenkt: 780. 744. 768. 918. 928. Vgl. das oben 159 bei Gelegenheit der Leichenspiele Bemerkte.

2) coniectis eminus hastia: kein homerischer Dichter hätte gewagt^ über diese notwendige erste Phase des Kampfs mit drei Worten hinweg» zugehen, so daß wir die Erfolglosigkeit beider Würfe nur aus dem Still- schweigen des Erzählers zu schließen haben.

8) Motiviert 739 postquam arma dei ad Volcania ventum est mortalis mucro . . dissüuit: man sollte meinen, beim ersten Streich: aber es ging vorher 718 crd>roB enaibus ictus congeminant.

234 Fünftes EapiteL Aeneas in Latinm.

sucht, gibt Jutuma dem Tamas sein Schwert, Venus verhiX^ dem Aeneas zur Lanze: so stehen sie zu neuem Kampf gerüsb^^ wieder einander gegenüber; die Entscheidung ist wieder ins ITzt- gewisse verzögert. Da aber greift, durch Jutumas Tat veranlaBt^ Juppiter ein: auf seine Vorstellungen hin verzichtet Juno end- gültig auf ihren Haß, der Friedenspakt im Himmel wird ge^ schlössen. Es mag auffallen, daß Virgil seiner sonstigen Ge- wohnheit entgegen hier durch eine lange olympische Zwischen- szene den Oang der Handlung unterbricht (obwohl nicht yersäumt ist, die nötige Ruhepause zu motivieren: cuisistimt contra certa- mina Martis anhdi 790); der Grund ist der, daß Junos Besänfti- gung bis auf den allerletzten Augenblick verschoben werden mußte, da nach Beseitigung des letzten und im Grunde einzigen retardierenden Moments die Handlung notwendig zu Ende gehen muß. Mit Junos Zorn begann das Gedicht, mit ihrer Versöhnung muß es schließen: was darauf folgt, der Tod des Turnus, ist nur der irdische Ausdruck ihrer Entsagung. Virgil hat aber dafür gesorgt, daß dies Intermezzo uns nicht als bloß technisch er- fordert, sondern auch als sachlich wichtig erscheint: wenn bisher in allen Prophezeiungen nur von Aeneas' und seines Stammes Herr- schaft die Rede war, so erfahren wir jetzt, daß neben Troja auch Latium in dem neuen Bunde zu seinem Recht kommen wird; man hat den Eindruck, daß Junos Mühen und Ringen doch nicht ganz vergeblich gewesen ist. Die Entsendung der Dira leitet die dritte und Schlußszene ein: Jutuma verläßt ihren Bruder, Turnus selbst erstarrt vor Schrecken; er erkennt, daß die Götter gegen ihn sind. So wagt#er den Schwertkampf nicht mehr: Jurtunas letzte Wohltat war umsonst. Der Steinwurf, sein letzter Versuch, mißlingt; während er in ratloser Verzweiflung um sich blickt, trifiPt ihn des Gegners Lanze und wirft ihn zu Boden. Hektor spricht seine letzten Worte als Sterbender, sie gelten nur noch seinem Leichnam. Virgil verleugnet bis zum Ausgang nicht sein Streben nach dramatischer Spannung: noch einmal zeigt sich in Aeneas' aufsteigendem Mitleid ein Hofl&iungs- Schimmer für Turnus: aber jäh verlischt er, als der Anblick von Pallas' Wehrgehenk den Sieger an die Pflicht der Rache mahnt ast Uli solvontur frigare memhra, vitaque cum gemüu fugit indignata sub umbras.

ZWEITER TEIL

Erstes EapiteL Die Methode des Schaffens.

I. Die Quellen.

Yirgil steht zu der überlieferten Sage nicht wie ein modemer Dichter zu dem Stoff, der ihn zum Schaffen angeregt hat, sondern wie ein antiker Historiker zu der überlieferten Geschichte, die er nacherzählt. Der Stoff dient nicht nur als Unterlage für eigene Er- findung, sondern seine Überlieferung ist Selbstzweck; der Dichter fühlt die Verpflichtung, Wahrheit zu geben, Überliefertes weiter zu überliefern, soweit nicht sachliche oder künstlerische Tendenzen Einspruch erheben. Diese Verpflichtung war ältestes Erbstück der antiken Poesie; aber freilich hatte dies Erbstück im Laufe der Jahrhunderte sich beträchtlich modernisieren lassen müssen. In altgriechischer Zeit ist der Dichter, der episch oder dramatisch erzählt, nichts als Interpret der Sage; er interpretiert sie so, wie sie zu ihm gesprochen hat; die Sage lebt und der Dichter schafft weiter an ihr, wie das Generationen vor ihm getan haben. Später, als sich das innere Verhältnis des Menschen zur Sage ändert, bleibt das Verhältnis der Dichtung zu ihr doch äußerlich das- selbe; man lebt zwar nicht mehr in und mit der Sage, aber man hat sie gelernt, und sie und nichts anderes will man immer noch vom Epiker hören. Wem die allbekannten Sagen langweilig sind oder wer sie nicht mehr für zeitgemäß hält, gut, der mag sich in entlegenen Winkeln nach unbekannten umtun, mag volks- tümliche lokale Überlieferungen sammeln, die nicht Allgemeingut der Hellenen geworden^sind; aber erfinden soll er nur im Rahmen der Überlieferung. Wer dank seinem gelehrten Eifer ganz be- sonders Merkwürdiges und Unerhörtes auftischen kann, tut doch gut, sich im Vorwort feierlich dagegen zu verwahren, daß irgend etwas von dem Vorgetragenen aus der Luft gegriffen seL Virgil

238 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

stellt mitten in diesen Anschauangen, und es konnte ihm um so weniger beikommen^ freie Erfindung an Stelle der Tradition zu setzen, als die Geschichte, die er erzählen will, die Urgeschichte des römischen Volkes und des julischen Geschlechts isi^)

Wer repräsentiert fUr Virgil die Tradition? In erster Linie natürlich die nationalen Historiker und Antiquare: die müssen ja^ wenn irgend jemand, die Wahrheit geben , soweit sie sich geben läßty imd Virgil hat sich keine Mühe verdrießen lassen, aus dieser Quelle zu schöpfen. Neben ihnen aber auch, namentlich für die griechischen Dinge, die Dichter: es ist ja nur logisch, daß diese, eben weil man Ton ihnen annimmt, daß sie der Überlieferung treu sind, Späteren nun auch selbst wieder als Überlieferung gelten; auch sind sie ja fOr die ältesten Zeiten vielfach die einzigen, an die sich der gewissenhafte Erzähler halten kann. Es kann also nicht wundernehmen, wenn Virgil in der Iliupersis aus Eupho- rien so gut schöpft wie aus HeUanikos oder Varro, und er dehnt dies auf die heimischen Dichter aus, wenn er, wie es wahrschein- lich ist, für Didos Geschichte statt zu den Historikern zu Naeyius gegriffen hat.

Bei diesem Sachverhalt denkt Virgil natürlich nicht daran, in seinem Gedicht die Abhängigkeit von dem, was andere ge- sagt haben, künstlich vergessen zu machen, ebensowenig wie das seine hellenistischen imd römischen Vorgänger getan haben. ^ Es ist freilich eine Ausnahme, wenn sich ApoUonius gelegentlich ganz naiv auf Personen, die ^früheren Sänger' beruft'), die dies und jenes berichtet hätten; im allgemeinen zieht man ein un- persönliches tpMC oder, was dem gleich steht, das Zeugnis der <)pijfti7 vor. So hatte Catull, gewiß in engem Anschluß an sein griechisches Original, sein ganzes Epyllion nicht als Erzählung,

1) Es braucht kaum gesagt zu werden, daß für Virgü die Eroberung Trojas ebenso wie die Besiedelung Latiums durch Aeneas historische Fakta waren; zweifeln konnte man zu jener Zeit nur, wieviel von den Einzelheiten Glauben verdiene, und selbst der in diesem Falle außergewöhnlich kritische Liyius nimmt eine gute Partie davon gläubig an. Dionjs beweist die Richtigkeit seiner Fassung der errores Äeneae aus den rfxfiijpia, die an allen Küsten noch von Aeneas' Anwesenheit zeugen, ganz wie z. B. Strabo I p. 46 die historische Glaubwürdigkeit der überlieferten Argonautenfahrt aus solchen rsxiirjQta erhärtet.

2) Rohde, Gr. R. 97 f. Norden p. 112 fg.

3) 1 69 Kaipicc . . i&ov nsQ hi, xXeiovciv doi^ol KsvtcevQoi>ci>v 6li(f9'at> %tl.

Tradition und Zitate. 239

Bondem als Wiedererzählung gegeben^); so fährt Horaz gern Bei- spiele ans Mythus und Oeschichte als 'Bericht' ein^); so hatte Yirgil selbst das Aristaeusepyllion am Schlüsse seiner Oeorgica mit einem tU fama eingeleitet (IV 318; ygl. 286). Auch in der Aeneis beruft er sich nicht selten auf das^ was er gehört hat, was gesagt oder berichtet wird, was fama ist; ja er läßt keinen Zweifel darüber, daß die Muse, die er über besonders schwierige und dunkle Punkte um Belehnmg bittet , nichts anderes ist als eben jene fama^)', für deren Richtigkeit er so einerseits die eigene Bürgschaft ablehnt, während er andererseits dem Verdachte eigener !E!rfindung vorbeugt. Daß diese fania weit entfernt ist Ton un- bedingter Zuverlässigkeit, tarn fidi priwique tenax quam nuntia veri (IV 188), verhehlt er sich natürlich nicht, und ebenso weiß es der Leser ^); vornehmlich bei mythisch wunderbaren Erzählungen

1) 64, 2 dicuntwr, 19 fertur, 76. 124 perhihent, 212 ferunt.

2) c. I 7, 28 Teucer . . fertur vinxisse; 16, 18 fertur Prometheus . .; epp. I 18, 48 putcUur Ämphion; III 5, 41 fertur von Begolus^ Bückkehr nach Karthago.

8) Wie in der oben zitierten Stelle der Georgica der Bemfüng auf die fama eine Frage an die Muse voraufgeht, so steht Aen. I 15 fertur in dem Bericht über die Gründe von Junos Zorn, um den die Muse angegangen -war; VJU 79 redet der Dichter die Musen an vor der seltsamen Metamorphose der Schiffe: dicite; priaca fides facto, sed fama perennis (wohl im Sinne von ÜT. Vn 6^ 6 fama standum est, ubi certam vetustas derogat fidem) und fährt dann 82 mit fertur fort; VH 87 war firato zwar ausdrücklich nur zu dem Berieht über die gegenwärtigen Zustände Latiums angerufen, aber wenn dann Laünus' Abstammung von Faunus und Marica mit acciptmus ein- geführt wird, soll darin natürlich kein Gregensatz zur Offenbarung der Muse liegen. Ein solcher Gegensatz ist ausgedrückt, wo die Invokation der homerischen Boiotie imitiert wird, i^ielg yicg d^sal iarsy nd^Büxi re, Tcrirs xt 'xdintt^ illistg 61 %Uog olop &%ovoiuvy oi6i xi ÜSiisv ^^ et meministis enim, divae, et memorare potestis, ad nos vix tenuis famae perlab itur aura VII 646 : aber der Gegensatz des göttlichen Wissens zum menschlichen Nichtwissen wird hier zu dem zwischen sicherer Überlieferung, memoria, und dunklem Gerücht. Übrigens halte ich es keineswegs für ausgemacht, daß Yirgil überall da, wo er die Muse anruft oder sich auf die Überlieferung beruft, ihr auch wirklich folge: im Gegenteil liegt z. B. bei der Schiffsmetamorphose der Verdacht eigener Erfindung uahe; aber der Dichter wünscht nicht, daß der Leser das empfinde. Ohne Beziehung auf die Überlieferung ist die Anrofong der Muse z. B. IX 526 (vgl. XII 600) , lediglich homerische Imitation.

4) So berichtet Virgil XII 736 eine fama, die seiner eigenen früheren Erzählung (90 fg.) direkt widerspricht.

240 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

tritt ein solcher Hinweis auf die 'Rede' anderer ein^), fast aus* schließlich bei solchen, die mit seiner eigenen Erzählung nichts unmittelbar zu tim haben, örtlich und zeitlich von ihr entfernt sind^: es ist, als wolle er selbst nur fQr seine eigene Geschichte bürgen, för Abliegendes andern die Verantwortung überlassen.

1) Bezeichnend, daß im Katalog der latinischen HilfsTÖlker gerade das «mverkennbar Mythische und nur dies als Tradition gegeben wird: VII 680 €aecnlus Sohn des Volcanns omnis quem credidit cietas, 734 Oebalus quem generasse Telon Sebethide nympha fertur, 766 fenmt von der wunderbaren Wiederbelebung des Hippolytus, desgleichen im zweiten Katalog X 189 von der Metamorphose des Cycnus. Auch bei Latinus wird die Abstammung ^om Gotte Faunus mit (xecipimtts gegeben (s. o.), und weiter von Picus «9 parentem te Satttme refert\ und ähnlich vorsichtig drückt sich Aeneas selbst bei seinem und des Euander Stammbaum aus: ut Orai perM>ent und au- ^ditis 81 quicquam credimus (VIII 135. 140); IV 179 ut perhibent über die Genealogie der Fama. Man denkt daran, daß Asklepiades xfjg ipevdoijs .IoxoqUxs^ tovtiött tijg iiv&ixfjs ^v ii6vov eldog ^tuxqxsiv HyBi.^ tb YSvsaXoyix&v ■Sezt. ady. grammat. 268. Von anderen mythischen Einschiebseln ist noch zu nennen die Geschichte von Daedalus* Flug {ut fama est VI 14) und dem Labyrinth (fertur V 688); Gründung von Ardea durch Danae düihMr VII 409; auch die Personen des Gedichts sprechen so, Helenus (HI 416) und Aeneas (in 661. 678). In der Nekyia will der Dichter audita loqui (VI 266, vgl, Norden z. St. : in den von ihm angeführten Parallelen aus der transzendenten Ofifenbarungspoesie wird aber zumeist der Bericht durch Berufung auf be- sonders vertrauenswürdige Quellen bekräftigt, während Virgil, anders auch als Sokrates bei Piaton Pro tag. 624 B rai^ir' iariv & iym &%ri%oa)s mcts^m •äXrid'fj slpcci^ seinen eigenen Glauben an das von andern Gehörte höchstens dadurch manifestiert, daß er es für nötig hält, die Erlaubnis zur Mitteilung von den Göttern der Unterwelt zu erbitten); er schiebt dann nur bei den Berichten über den Wohnort und die Ausgangstore der Träume ein femnt (284) und ferttir (893) ein. Ans Wunderbare streift auch der Bericht vom Eingreifen des Knaben Ascanius in den Kampf IX 690 fg. , der deshalb mit dicitur eingeleitet wird. Zu accipimua VII 48 bemerkt Servius: propter varias opiniones hoc adiecit; das trifft vielleicht in einzelnen Fällen bei Apollonius zu (Abstammung des Orpheus von Kalliope I 24, des Augeias von Helios 172, Tod des Tiphys II 866); für Virgil stellt es Leo, Hermes XLn, 1907, 68 fg. mit Recht in Abrede, auch für buc. VI 74 quam fama secutast.

2) Das ist bei der überwiegenden Mehrzahl der angeführten Beispiele der Fall; auch IX 82 wird mit fertig das in der Vergangenheit liegende Gespräch der Mater mit Juppiter eingeführt. Ähnlich wohl IV 204 dicitur vom Gebet des Jarbas an Juppiter: das ist nichts Mythisches, aber der Dichter weilt gleichsam bei Dido und Aeneas in Karthago, was inzwischen in der Feme geschieht, weiß auch er nur vom Hörensagen.

Zitate. Tradition und Erfindung. 241

Aber diese Beschränkung ist Sache poetischen Taktes; bestehen bleibt, daß der Dichter die Existenz einer Überlieferung, von der er ausgeht^ selbst anerkennt; ja einmal, als er von einem gött- lichen Wesen eine sehr ungöttliche Handlung gekränkter Eitelkeit berichten muß, hält er mit seinem Zweifel an der Richtigkeit der Überlieferung nicht zurück, ganz wie das vorsichtige Historiker tun und wie das seine griechischen Vorbilder in ähnlichen Fällen getan hatten.^)

Welches für Virgil die Grenzen zwischen Tradition und Er- findung sind, mag ein kurzer Überblick über die im ersten Teil auch auf ihre Quellen hin analysierten Abschnitte zeigen.

Wir sahen bei der Analyse der Iliupersis, daß die einzelnen Züge bis auf wenige gleich zu nennende von Virgil im engsten Anschluß an die Tradition gebildet sind, daß dagegen ihre Aus- wahl und Kombination offenbar Virgils Werk ist. Er hat sich so muß man sich den Hergang denken , bevor er ans Werk ging, alles einschlägige Material vergegenwärtigt und daraus ein neues Ghmzes komponiert, das seinen ganz eigentümlichen Ab- sichten entsprach. In den Szenen am hölzernen Roß ist an Tat- sachlichem kaum ein Zug neu erfunden, wohl aber scheint, ab- gesehen von der Beleuchtung, in die Sinons Tat und Laokoons Untergang tritt, neu zu sein der künstlerische Aufbau der Szenen; ganz das gleiche ergab sich z. B. für die Szene von Priamos' Tod, wobei wir die Einzelheiten fast sämtlich in älterer Überlieferung fimden. Als Kombination verschiedener Traditionen erwies sich die Erzählung von Aeneas' persönlichem Schicksal: einerseits Hellanikos mit der Verteidigung der Burg u. s. f , andererseits die ynlgäre Tradition, endlich die Hilfe der Venus; kombiniert schien

1) VI 178 «' credere dignum est bei der Geschichte von Misenus und dem Triton; mit denselben Worten war geoig. HE 891 die ebenfalls der Gottheit unwürdige Fabel von Pan und Luna versehen. Apollon. J 154 sl i%9^ ys niUi xXiog bei Ljnkeus' wunderbarer Sehschärfe. Zu sl itsov bei Arat. Phaen. 80 (vgl. 260. 687) bemerkt der Soholiast ag iihv notririig nag- Bicdyu (seil, thv \i^^ov\ mg dh nsgl q>vai%&v SiaXsydasvog oi) ndvv x& ^iv^d'm avwQixHv doxet' inrjyaye yovv tb el itsbv Si/j, onsg iötl SiGxay^Lo^^ fixoi iroe &inpi,ßdlloptog. Das gilt in gewissem Sinne auch von Virgils Yer- bftltnifl zum Göttermythus: wir werden unten sehen, daß er dabei nach Möglichkeit vermeidet, was der philosophischen Religion widerspricht. Die Bchmerzliehe Frage tantaene animis caelestibus irae I 11 kommt einem sl ivt6p fast gleich.

Haiaa«, Yirgils epiiohe Technik. 2. Aufl. V^

242 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

die Figur des Panthus mit der Rolle eines uns unbekannten anderen; in Zusammenhang gesetzt war der Fall des Coroebos mit dem Raub der Eassandra, der Tod des Polites mit dem de» Priamus und so neue Ganze geschaffen; die Rettung der Crensa durch die Mater, sowie zahlreiche Personen Thymoetes, die Helden im Roß und Nebenumstande Brand der Stadt, Mondschein, Fackelzeichen usw. erwiesen sich als übernommen. Fragt man nach freier Erfindung, so würde nach unserer immer- hin beschränkten Kenntnis dafür zu gelten haben die Traum- erscheinung Hektors; Androgeos und die Kriegslist des Coroebus; die Szene zwischen Aeneas imd Venus nebst der Theophanie; die Szenen im Hause des Aeneas (wobei das von der Tradition später angesetzte auspicium maximum zurückdatiert ist); die Erscheinung der Creusa und ihre Prophezeiung. Man sieht, das alles dient nur dazu, die Lücken der Tradition auszufüllen, die sich heraus- stellten, sobald die Erzählung vom troischen Standpunkte gegeben wurde und sich mit den persönlichen Schicksalen des Aeneas be- faßte, von denen der sozusagen offizielle griechische Bericht wenig^ zu sagen wußte; es ist etwas ganz ähnliches, wie wenn helle- nistische Dichter, um einem vielbehandelten Mythus eine neue Seite abzugewinnen, eine Nebenperson in den Vordergrund stellen und sich so die Möglichkeit schaffen, im Rahmen des Mythus Neues zu sagen.^) Beachtenswert ist einmal, daß Virgil jene Lücken überwiegend mit mythischem Stoffe ausfüllt, und sodann, daß in keinem Punkte, soviel wir wissen, der gesamten Tradition widersprochen wird, daß aber eine Menge des überlieferten Stoffes beiseite gelassen ist.

Diese Reduktion des Stoffes trat uns bei den Irrfahrten eben- falls sehr deutlich entgegen; eine wirkliche Neuerung scheint sich Virgil erlaubt zu haben, indem er Anchises in Sizilien sterben ließ; wir haben gesehen, welche sachlichen imd künstlerischen Gründe ihn hierzu bewogen: berechtigt mochte er sich glauben, bei der stark schwankenden Tradition eine neue Version au&u- bringen. Im übrigen werden auch hier die Lücken der Tradition ausgefüllt: in III, abgesehen von der Andromacheszene, ausschließ- lich mit übernatürlichen oder fabelhaften Dingen: Polydoros, Apoll in Delphi, Penaten in Kreta, Harpyien, Omen bei der Lan-

1) Wilamowitz, Herakles I* 84 Anm.

Tiadition und Eifindnng. 243

dnng in Italien^ Polyphem-Achaemenides. In IV und V wird die Tradition lediglich ausgeschmückt.

Bei den Ereignissen in Latium sind die Personen und ihre Schicksale streng quellenmäßig; aber auch hier haben wir erstens Kombination yerschiedener Quellen Bündnis mit Tarchon und Kampf gegen Mezentius, freundliche Haltung des Latinus und Kampf gegen die Latiner ; zweitens gänzlich freies Schalten mit der Chronologie Tod des Mezentius vor dem des Turnus (darum im Zweikampf mit Aeneas^ nicht, wie die Tradition wollte, mit Ascanius), Konzentration auf wenige Tage, Tod des Turnus vor dem des Aeneas, Gründung vonLavinium erst nach Abschluß der Kämpfe , Erweiterung des StoflFs durch Hereinbeziehung sonstiger altitalischer Traditionen Euander und Pallas, die Hilfstruppen des Turnus, darunter Camilla, ferner Diomedes ; endlich Ausgestaltung der Tradition in epischem Stil Kämpfe mit mancherlei Episoden, vor allem aber wieder Mythisches: Pro- digien, AJlekto, Götterszenen und Göttergeschichten mannigfacher Art^ darunter so auffallende Erdichtungen, wie die Verwandlung der Schiffe durch die Mater und die Umformung der altlatinischen Gottin Jutuma zur Schwester des Turnus und Geliebten des Juppiter: dies (wie vielleicht das Traumorakel des Faunus, s. oben S. 174, 2) ein merkwürdiger Versuch, sich an der Gräzisierung der einheimischen Götterwelt zu beteiligen, wie ihn später Ovid mehr- fach unternommen hat. Sehen wir von der Chronologie und dem was daran hängt ab, so finden sich direkte Widersprüche gegen die Tradition nicht.

Von Nebenfiguren hat Virgil eine Anzahl frei erfunden: so wohl Androgeos in II, Achaemenides (oben S. 111, 2), Nisus und Euryalus, Drances, namentlich viele in den Schlachtszenen, wo die Überlieferung bei weitem nicht ausreichte; aber auch in diesen Dingen berührt er sich gern mit der Tradition, und häufig mag nur unsere mangelhafte Kenntnis Schuld daran sein, wenn wir das nicht zeigen können^): der Gesandte an Diomedes, Venulus, stammt aus lavinischer Legende (Serv. VIII 9), der Ober- hirt des Latinus heißt Tjrrhus nach dem Hirten, in dessen Hütte die Tradition Silvius geboren werden ließ (Serv. VU 760. Vn 484) u. 8. f.

1) Vgl. z. B. über den VI 488 genannten troischen Demeterpriester Poly- \)oim Norden p. 262 fg.

16*

244 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Die allgemeine methodische Richtschnur; die wir fQr Yirgils Verhalten zu seinen Quellen feststellen können, ist also die: mög- lichst viel Tradition y bis an das künstlerisch erlaubte Maß, und um das zu erreichen, auch Kombination aus verschiedenen Quellen; freie Ausgestaltung der Tradition, wo sie Lücken zeigt oder zu dürftig ist; beim neuen Sto£F Bevorzugung des Mythischen, das überhaupt an die Tradition nur in seinen allgemeinen Formen, nicht in den einzelnen Szenen gebunden ist^); Freiheit in der Anordnung und Kombination des Überlieferten, im übrigen Wider- spruch gegen die gesamte Tradition nur im äußersten Notfall.

Sieht man vom Mythischen ab, das zur Historie hinzuzufügen das gute Recht, ja die Pflicht des Epikers ist, so hat Yirgil im ganzen die Überlieferung gewissenhafter wiedergegeben als so mancher römische Annalist, von den historischen Romanen helle- nistischer Zeit ganz zu schweigen; man muß sich nur gegen- wärtig halten, was diesen Historikern im Punkte der öucötcbvi^^ der 'Herrichtung', für erlaubt galt. So hat denn auch die antike Aeneiskritik, soweit wir sie zu übersehen vermögen, zwar Virgils wenige Abweichungen von der Historie notiert, aber ohne ihm daraus irgendeinen Vorwurf zu machen. Man war überzeugt, daß er über feststehende Tatsachen der italisch -römischen Greschichte nur versehentlich unrichtiges gesagt habe'); im übrigen gesteht

1) Wo etwas Mythisches ganz ohne Analogie in der Tradition er- fanden wnrde, bemerkten das die Kritiker; Über die Berechtigong scheint man verschieden gedacht zu haben. Comutus (Macrob. Y 19, 1) notierte zu IV 698 unde haec historia ut crinis auferendus sit marientibtu^ ignoratur (und hier war die Frage sehr berechtigt, da der Dichter wie von einer bekannten Sache spricht), sed adsuemt poetico more aligua fingere ut de aweo ramo (VI 136); er hat also das Recht des Dichters zu solcher Erfindung nicht bestritten. Andere urteilten strenger: Serv. zu III 46 verteidigt die Poly- doruserfindung mit dem Beispiel der Romuluslanze, vituperdbÜe enim est poetam aliquid fingere, quod penitus a veritate recedat, und IX 81 (Schiffs- metamorphose) figmentum hoc licet poeticutn sit, tarnen quia exemplo caret, notatur a criticis. Das ist die Theorie, der Horaz folgt: ficta volupUUis causa sint proxima veris: ne quodcumque volet poscat stbi fäbula credi, neu pransae Lamiae vivum puerum extrahat alvo a. p. 888. Die Regel, daß der Poet in seiner ganzen Erzählung auf Wahrscheinlichkeit bedacht sein soll (Serv. zu XI 554 [Camilla an die Lanze gebunden] Probus de hoc loco iatl- 9'avov nXdöiia)^ wird so aufs Mythische übertragen: Bekanntes läßt sich der Leser aus Gewöhnung gefallen, bei Unerhörtem regt sich der Zweifel.

2) Hygin bei GeUius X 16 über den Anachronismus, der in der Nen-

Abweichungen von der Tradition. 245

man ihm eine gewisse Freiheit in der Gestaltung seiner eigenen Geschichte zu^ ja Servius hält es, mit komischer Yerkehrung eines bekannten ästhetischen Satzes, für unerlaubt, daß der epische Dichter die nackte Wahrheit berichte, auch z. B. über den Stern der Venus, der nach der Historie Aeneas bis Latium geleitet habe.^) Das eine aber ist zu verlangen, daß der Dichter die Historie kennt, also nicht aus Unwissenheit ihr widerspricht'): deshalb tut er gut, wo er von ihr abweicht, wenigstens, dem Kenner zur Beruhigung, auf die wahre Fassung versteckt hinzudeuten. In der Aufspürung solcher Hindeutungen hat die antike Virgil- erklamng ein Erkleckliches geleistet^) und ist gewiß vielfach Irrwege gegangen; aber ganz abweisen läßt sich, meine ich, die Beobachtung nicht. Virgil übergeht, wie wir sahen (oben 102), die Tradition von der Rückgabe des Palladiums durch Diomedes, deutet aber doch V 704 an, daß ihm die daraus hergeleiteten Beziehungen der Nautier zum Minervenkult nicht unbekannt sind; er übergeht die Tradition, daß Latinus den Troern ein bestimmtes Stück Land geschenkt habe, läßt ihn aber XI 316 die Absicht aussprechen, das zu tim; er läßt den Kampf der Latiner und Troer nicht mit Cato u. a. aus Raubzügen der Troer hervor- gehen, aber Juno wirft ihnen in ihrer haßerfüllten Rede doch vor das arva aliena iugo preniere atqtie avertere praedas (X 78); und so lassen sich gewiß noch manche Fälle finden^), obwohl die Grenze zwischen Hindeutungen gelehrter Tendenz und freier Verwertung überlieferter Motive im einzelnen schwer zu ziehen sein wird/)

nung der Vdini portus durch Palinuxus liegt, und über die vermeintliche Konfasion in den Versen über die Griechenbesieger, VI 866. 888; Hygin meint, Yirgil würde das bei der endgültigen Redaktion beseitigt haben. S. dazu Norden p. 112 fg.

1) I 382 hoc loco per transitum tangit historiatn, quam per legem artis poeHeae aperte non potest ponere . . . Lucanus namque ideo in numero poe- tarwn esse non meruit, quia videtur historiam composuisse, noti poema.

2) Serv. I 267 a& hoc autem historia ita discedit Vergüius, ut aliquibus loeis astendat, non se per ignorantiam, sed per artem poeticam hoc fecisse. Ganz wie Strabons Verteidigung des Homer gegen den Vorwurf der ayvoia.

8) So z. B. Servius zu I 863. 487. 491 ; III 256.

4) Mit Recht bemerkt Norden, daß VI 617 von Theseus in der Unter- welt sedet aetemumque sedehit so stark beteuert wird, um eine andere Fassung der Sage abzuweisen.

6) Zu den letzteren rechne ich z. B. die Benutzung der pacuvischen Dftntellnng von Priamus' Tod, oben S. 46, 1 ; die Äußerung Didos nee patris

246 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Ich bemerke schließlich, daß Virgils Verfahren mit der Über- lieferung eben das ist^ was nach den Anschauungen der Zeit auch Homer befolgt hatte. ^) Auch der hatte sich ja die wahrhafte Geschichte vom trojanischen Krieg und der Heimkehr des Odysseus vorgenommen und poetisch bearbeitet (dL66xsva6€)y d. h. die von der Tradition berichteten Ereignisse ausgeschmückt und veran- schaulicht (did^aöLg\ andererseits zu den schlichten menschlichen Vorgängen allerlei Übernatürliches und Wunderbares ([iv^og) hin- zuerfnnden, um seine Zuhörer mehr zu erfreuen iind zu ergreifen und angenehmer zu belehren, als dies eine einfache historische Erzählung vermag. Auch er berichtet also nichts direkt Un- wahres (höchstens hie und da, wo er's nicht besser weiß), sondern unter der Hülle des Mythus birgt sich, dem verständigen Leser kenntlich, die wahre und echte Historie.

H. Die Vorbilder. Mit dem, was wir Originalität des Dichters nennen, hat die geschilderte Abhängigkeit von der Tradition wenig oder nichts zu tun. Die Originalität besteht ja doch nicht in der freien Er- findung eines Stoffes wie wenige unter den großen Meister- werken der Poesie wären dann Original , sondern zumeist in der vollkommenen Aneignung, d. h. Neuschöpfung eines über-

Anchisae cineres manisve revdli IV 427 das hatte nach der Überliefe- rung Diomedes getan ; die Umformung von Mezentius* Forderung der primitiae zu seinem frevelhaften Gebet X 773 (oben 8. 211) u. a. m.

1) Das Folgende nach Strahons Einleitung, die auch für das Verständnis , Virgils sehr lesenswert ist: sie gibt die Anschauungen über Homer und die epische Dichtung, wie wir sie etwa bei Virgil voraussetzen dürfen. Der Eemgedanke p. 20 t6v ts 'Riaxbv noXsiiov yiyovota na^alaßonv ix6oiirics Tatg iivd^onouaig, %a\ xriv 'Odvüoioas nXdvriv «ffavrof ^x yLri$Bvbg d\ &XT\9'of}^ icvauTUv xsvriv tsQaToXoyiav oi)x 'Oftrjptxdv. S. 15 f. die Widerlegung des eratosthenischen Satzes notritriv ndvxa aroxd^sd'cei ipvxocytüYlceg , ov didaexoc- Xlag. Die Dreiteilung der Poesie in löTOQia^ Sidd'saig und ^iv^og (nach Poly- bios) p. 26: ri)g y,hv ovv iatogiag &XTJd'suxv slvai xiXog . . xf^g ÖB ducd^iöBtog ivigyuav . . {i^d'ov Sh rjdovriv xal ixnXri^tv (fast identisch die bekannte Unterscheidung der iavogoviisvcc in iövogia, ^ivd^og und nXdötia Sext. adv. gramm. 263, wobei der iivd'og als ngayiULTov äyhvr\xtxiv r.ai t^evSätv ixd'BHig definiert wird, lateinisch historia^ fabula, argumentum Cic. de invent. 1 27 u. a.) ; (las findet sich alles bei Homer, als Beispiel für die didO'BGig werden die Schlachtschilderungen genannt.

Homer nnd die Tiadition. Vorbilder des Stils. 247

lieferten. Sehen wir von den attischen Tragikern ab; selbst die hellenistischen Poeten, die zur Überlieferung in ähnlichem Ver- hältnis standen wie Virgil, fanden dabei doch, soweit sie eben .wirklich Poeten waren, Spielraum genug zur Entfaltung eigener schaffender Kräfte; und auch für Virgil bot die Überlieferung man denke etwa an Dido kaum je mehr als das Gerippe der Handlung. Des großen Dichters Phantasie wird durch einen in den Grundlinien feststehenden Stoff nicht niedergedrückt, sondern gehalten, gehoben und getragen; ja er sucht nach ausgeprägten Gestalten der Sage und Geschichte, daß sie ihm zu Gefäßen eigener mächtiger Gefühle dienen oder zu Gerüsten, an denen er die Fülle anmutiger Erfindungen ranken lassen kann, die ihm un- unterbrochen aus dem reichen Boden seiner Phantasie empor- sprießen. Yirgils Schafren ist anderer Art: bei ihm steht zwischen der eigenen Phantasie und der Überlieferung das Vorbild. Des Nachweises bedarf diese Tatsache nicht; wohl aber noch der näheren Bestimmung des Wie und Warum.

Die Abhängigkeit von den Vorbildern beginnt mit der äußeren JB'orm, bei der volle Selbständigkeit Ton vornherein ausgeschlossen rschien. Ein heroisches Epos war nur in homerischem Vers und Stil denkbar, und ein homerischer Stil in lateinischer Sprache nicht ohne Anknüpfung an Ennius. Virgil übersetzt nicht und übernimmt von seinen römischen Vorgängern selten mehr als einzelne Worte und Wendungen; aber über das ganze Gedicht Terstreut sind die deutlichen und absichtlichen Reminiszenzen. Virgil sucht nach Gelegenheiten, homerische Epitheta und Wort- fpruppen, Metaphern und Bilder zu übertragen, und Edelsteine «nnianischen Stils in neuer Fassung zu präsentieren. Er hat frei- lich sein eigenes Stilideal, und niemand bezweifelt, daß er auf diesem Gebiete Großes geleistet hat; aber er schuf auch hier nicht frei aus sich heraus, sondern prüfte mit unendlicher Geduld und unermüdlicher Erwägung, was sich von den alten Werksteinen äu dem neuen Bau verwenden lasse.

An die äußere Form schließt sich unmittelbar ein zweites großes Gebiet der Nachahmung. Die Welt, die Virgil im home- rischen Stil schilderte, mußte auch die homerische sein. Die Bewohner seiner Erde und seines Himmels waren die homerischen: so mußten sie auch wie jene sich tragen und gebärden. Das hsttai ja auch die großen hellenistischen Dichter empfunden;

248 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

und da sie nicht darauf yerzichten wollten, auch die Tradition der heroischen Dichtung wieder aufzunehmen, hatten sie die G^ biete nach Möglichkeit yermieden, die Homer ein für alle Mal besetzt hatte Schlachtschilderungen u. dgl. ; hatten Personen in den Vordergrund gestellt, die in der Sage nur Nebenrollen spielten; hatten mit Vorliebe Empfindungen und Leidenschaften dai^estellt, die es in jener alten Zeit ja wohl auch gegeben haben mußte, die aber in der Erhabenheit des alten StUs keinen Raum gefmiden hatten; kurz, sie hatten die alten Geschichten aus dem Mythischen ins menschlich Begreifliche hinübergespielt und das Resultat von dem allen war doch nur ein Kompromiß ge- wesen. Einen Kompromiß schließt auch Virgil; er verzichtet nicht darauf, seine eigenen Anschauungen über Leben und Welt und Gottheit, seine eigenen Gefühle auszuarücken, aber er tut es durch das Medium der homerischen, und, wie um jenes moderne Element möglichst unaufiällig anzubringen, schließt er sich in allem, was ihm indifferent erscheint, um so enger an das Vorbild an.

Auch dies aber ist im Grunde nur eine Frage des Stils, die mit der Inyention nicht unlöslich zusammenhängt. Wir treten jetzt an diese heran.

Landschaftliche Schilderungen gibt Virgil nur wenig; aber die wenigen ausführlichen sind Imitationen: der Hafen an der lybischen Küste nach dem Phorkyshafen der Odyssee; der Schlund im Ampsanctustal (VII 563) nach der acherusischen Höhle bei Apollonios (n 736); der Aetna mit seinen Schrecken (UI 571) nach Pindar (Pyth. I 34). Freilich hat Virgil in allen drei Fällen die Schilderung seines Vorbilds gesteigert und in seinen Stil übertragen; aber vom Vorbild geht er aus, nicht von der eigenen Anschauung. Die Schilderung des Seesturms in I vermeidet fast geflissentlich jeden Zug, der auf eigene Beobachtung schließen lassen könnte. Der Stoff der Gleichnisse, soweit sie Natur- vorgänge heranziehen, ist überwiegend entlehnt: selbst ein auffallendes und gesuchtes, wie den Vergleich eines schwankenden Gemüts mit dem von der Wasserfläche eines Beckens zurück- geworfenen zitternden Sonnenlicht übernimmt Virgil unbedenklich (VIII 22, ApoUon. III 754). All diese Naturdinge haben im Epos nicht viel Bedeutung; aber die Fälle sind vorbildlich für die ganze Erzählung.

Man kann im allgemeinen sagen, daß Virgil, wie er den

Vorbilder der Handlung. 24^

Stoff semer Handlung der Tradition entnimmt^ so in dem äußeren fJmrisse seiner Handlungen sich mehr oder weniger eng an die "Vorbilder anlehnt. Und zwar sind das Wesentliche hierbei nicht c51ie großen Hauptmotive, die die Aeneis der Odyssee und Ilias -^verdankt; daß auch am Grabe des Anchises Wettspiele gefeiert "^^erden, daß auch Aeneas zu den Schatten hinabsteigt, daß auch In Latiom ein Schiffslager verteidigt, eine Stadt bestürmt, um eine Frau gekämpft wird das und dessen gleichen sind All- gemeinheiten, die für die Selbständigkeit des Entlehners ohne Konsequenz sein könnten. Aber wenn nun auch in den Wettspielen der Aeneis ein trotziger Faustkämpfer schwer einen Gegner findet,, mi Aui^leiten den Sieg im Wettlauf entscheidet, ein Bogen- schütze den Faden, an dem die Taube hängt, statt dieser selbst taiffk; wenn auch Aeneas in der Unterwelt einen jüngst verun- glückten Gefährten, einen unversöhnten Feind und einen alten Kriegskameraden trifft und spricht; wenn auch Turnus wie Achill durch ein Trugbild von seinem Gegner abgezogen wird und der entscheidende Zweikampf sich iu denselben drei Phasen abspielt "^ie bei Homer so tritt unzweifelhaft zutage, daß Virgil, weit entfernt, fremde Motive zu vermeiden, vielmehr durchweg und niit vollem Bewußtsein von ihnen ausgeht und an sie erinnert, ^enn er ein Stück seiner Geschichte sich im Bild einer epischen Handlung veranschaulichen will, so entwickelt sich dies Bild nicht auf dem Grund seiner wenn auch von fremder Dichtung befruch- teten eigenen Phantasie, sondern er sucht in fremder Dichtung nach analogen Szenen und gestaltet diese nach den Anforderungea seiner eigenen Geschichte um.

Und es bleibt nicht bei den äußeren Umrissen der Hand- lung. Wenn er die Gefühle des Aeneas in der Todesnot des Seesturms ausdrücken will, so schafft er nicht selbst ein anschau* liebes Bild dafür, sondern überlegt sich, wie weit er den Aus- druck, den Odysseus in gleicher Lage seinen Gefühlen gab, für seine Zwecke brauchen kann. Wenn er Didos Jammer und Ver- zweiflung ausdrücken will, so verkörpern sich ihm diese Gefühle nicht intuitiv in anschaulichem Bilde, das sich aus dem eigenen Innern losrang, sondern er hält nach fertigen, von anderen bereits gestalteten Bildern Umschau, die sich mit der gedachten Situation zur Deckung bringen lassen. Er ist darin selten so weit gegangen wie in diesem FaUe; aber Spuren dieses Verfahrens fehlen nirgends.

250 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Der Modus der Nachahmung ist in den einzelnen Fällen sebr - yerschieden, bewegt sich aber zwischen zwei extremen Typen. , Der einfachste Fall ist der, daß ein Abschnitt fremder, meist ^ homerischer Dichtung als Ganzes die Unterlage zu einem ent* sprechenden yirgilischen Abschnitt hergibt: als Beispiel kann derra Eid und Eidbruch oder der Zweikampf am Schluß von XII dienen *,f im weitesten Umfange ist diese Technik bei den Wettkämpfen^ geübt. Der komplizierteste Fall ist der, bei dem man von Nach ahmung einer einzelnen Szene kaum mehr reden kann, sondern^ Motive und Züge verschiedenster Herkunft zu einem neuen Granzem^ zusammengeflochten sind: ich nenne das Harpyien- und Polydoros Abenteuer, die Szene der AUecto mit Turnus, vor allem aber di^ Oeschichte Didos, die Züge mehrerer poetischer Figuren in siclk^ vereinigt, ohne doch einer völlig zu gleichen.

Gewiß fehlt es bei Yirgil nicht ganz an Szenen, bei denen_ wir Anlaß haben, freie Erfindung anzunehmen; ich rechne dazu z. B. den vortrefflich erfundenen Auftritt im Hause des Anchises. Aber wenn man sich diese Szenen vergegenwärtigt, wird man bemerken, daß sie zumeist handlungslos oder handlungsarm sind, mehr Begegnungen und Gespräche als Taten, mehr Zustands- bilder als äußere Vorgänge oder innere Entwicklungen: mau denke an Creusas Erscheinung in U, an Aeneas mit Andromache in UI, an Ilioneus und Latinus in YU, an Aeneas und Euander: in diesen und anderen Fällen ist das wesentliche an der Erfindung nicht die Handlung, sondern was gesprochen und empfunden wird, «elbst in den Euanderszenen, die so lebendig und anschaulich dar- gestellt sind wie weniges von den Partieen, bei denen Virgil im wesentlichen auf eigenen Füßen steht.

Fragt man nun nach dem (rrunde der ganzen höchst merk- würdigen Erscheinung, so kann derselbe, wie schon oben bemerkt, in irgendwelcher Theorie, die das freie Schaffen verboten hätte, nicht gesucht werden. Die Grenze zwischen dem Nichtwollen und dem Nichtkönnen ist hier schwer zu ziehen; aber im letzten Orunde hat Virgü nicht selbständig gestaltet, weil auch er nicht besaß, was seinem Volke als Ganzem versagt war, eine starke Phantasie. Das ist ja bei jenen oben aufgezählten Stufen der Nachahmung das gemeinsame, daß sie hinweisen auf einen ursprüng- lichen Mangel an intuitiver bildlicher Anschauung, die sich sonst 4em Dichtergemüt mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängt, bis

Gründe der Imitation. 251

W3 ie ihn zu Gestaltung zwingt. Wohl lebte in Virgil, wie in anderen «großen römischen Dichtern, starkes begeistertes Gefühl; er hat <len Schmerz eines greisen Vaters, der seinen einzigen Sohn liingeben muß, oder Herzeleid und Kränkung einer stolzen Frau, clie vom Geliebten verlassen wird, ebenso tief empfunden wie die Chröße des augusteischen Prinzipats und die Segnungen des augu- steischen Friedens; aber die Phantasie war zu schwach, um zum selbständigen Ausdruck dieses Gefühls zu gelangen, und deshalb griff er zu bereits geformten Werkstücken ebenso wie Properz, an dessen glühender Leidenschaft ich nicht zweifele, doch diese Leidenschaft nur in den überkommenen Formen der heUenistischen Erotik auszudrücken vermochte, oder wie selbst Lucrez, der phan- tasiestarkste unter den Lateinern, dessen wahre Begeisterung für seine Lehre und ihren Meister aus jeder Zeile spricht, doch den flTmnus auf diesen Meister in Bilder kleidet, die er von anderen fibernommen hat. Diese eigentümliche Schwäche der Phantasie, die also mit Gefühllosigkeit keineswegs zu verwechseln ist, tritt ja doch nicht in der Poesie nur zutage; sie drückt dem gesamten i^mischen Geistesleben, Kunst und Wissenschaft, Religion und PhüoBophie ihren Stempel auf, ja bis in Politik und Krieg- fthrung erstreckt sie ihre deutlichen Wirkungen: das imperium Bomanum ist das Werk von Männern, deren Phantasie im Ver- gleich mit den übrigen Kräften des Geistes und Charakters nicht wie bei einem Napoleon stark genug war, um die Herrschaft an sich zu reißen.^)

Infolge dieser eigentümlichen Geistesanlage hat dem römischen Volke nicht nur die Fähigkeit, nein auch das Bedürfnis nach einer originalen Poesie gefehlt. Mehr als die Tatsache der Imitation selbst kann es uns verwundern, daß die stete Abhängigkeit von fremden Vorbildern nicht als Schwäche empfunden, nicht als Mangel beklagt wurde, den man, wenn er doch einmal unvermeid- lich war, doch wenigstens so viel wie möglich zu verdecken ge- sucht hätte. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Horaz, weit ent- fernt davon, auch nur den Versuch zu machen, sein selbständiges Talent zur Anerkennung zu bringen, setzt vielmehr seinen Stolz darein, der erste römische Interpret des Archilochos, des Alkaios und der

1) Ich verweise auch auf die schönen Ausführungen von W. Y. Sellar, The Boman poets of the Augustan age, Virgil', Oxford 1897 p. 87 fg.

252 Erstes E^apitel. Die Methode des Schaffens.

Sappho zu sein, und erkennt die Überlegenheit der griechischen Dichtung über die römische nicht etwa in ihrer Origiualitat^d sondern in ihrer größeren FormYoUendung. Bei Virgil bemerk*^- man nicht das Bestreben, sich von Homer und anderen Vorbildern zfü^ entfernen oder doch seine Abhängigkeit zu yerschleiem; man ha~ vielmehr den Eindruck, daß er diese Abhängigkeit möglichst offen sichtlich zur Schau trägt. Es ist ja auch seinen Zeitgenosse^E= nicht eingefallen, ihn deswegen zu tadeln; man tadelte, wo e^^ hinter seinem Vorbild zurückzubleiben, man lobte, wo er es zv:^ übertreffen schien, man entschuldigte einzelne mißlungene NacfaL^- ahmungen als Übertreibung eines an sich löblichen Bestrebens. ^^ Zweifel scheinen nur darüber gewaltet zu haben, ob die wörtlich<^s Übernahme zahlreicher Stellen des Dichters würdig sei: Virg&-J selbst bekannte sich zu dieser Übernahme offen und mit Stolz."^^ In Rom hat von jeher nicht nur eine von Vorbildern unab^ hängige Poesie, sondern auch der Begriff einer solchen gefehlt=u-»» man empfand die Imitation nicht als ein Zurückbleiben hinter de:^ Selbständigkeit, sondern als einen Fortschritt gegen die Übei "- Setzung; eigener Stil, nicht eigene Erfindung ist des römischer:^ Dichters Stolz die Jahrhunderte hindurch gewesen. Wenn ohe^^

1) Macrob. Y 13, 40 sed Juiec et talia ignoscenda Vergüio, qui stndiw^ circa Homerum nimietate excedit modum.

2) Auch sein Verteidiger Asconius war nicht damit einverstandeiff:^ quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sie defenderesf^ assuetum ait: ^cur non Uli quoque eadem furta temptarent? verum inteUecturoSg^'^ facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere' (Sueton p. 66), ^ D. h. der Tadel des Asconius bezog sich nicht auf die Imitation als solche^ ^ sondern eben auf die furta einzehier Verse. Zu Virgils Zeit, als die helle^ -' nistische Kleindichtung in Rom ihre Blüte eben erst erlebt hatte und, wie^ die Ciris lehrt, auch noch keineswegs abgestorben war, wird sich ohne^ Zweifel die aus Kallimachus' £j:eisen stammende Opposition gegen die^ großen epischen Homerimitationen auch gegen die Aeneis gekehrt haben ;^

und wie jene Alexandriner die skrupellose Entlehnung homerischer Wen

düngen bei ihren Zeitgenossen verhöhnten, mag man auch die homerischen ^ 'Diebstähle' Virgils benutzt haben ^ um sein Gedicht als 'kyklisches' zu ^ brandmarken. Die Furta des Perellius Faustus und die Homoeon Elencfion ^ libri des Octavius Avitus haben ja ihr Vorbild auch in Alexandria: eine ^ ganze Anzahl von Schriften über die nXonai berühmter Autoren hat Por- phyrios (bei Euseb. praep. ev. X 3) zusammengestellt; die Probe von den Homerdiebstählen des Antimachos, die da gegeben wird, ist das nächste Analogon zu Macrobius' Zusammenstellungen. Vgl. dazu jetzt Norden

p. 369, 1 und Kroll, Neue Jahrbb. 1903 S. 8.

HelleniBtische Imitation. Das Eigene. 253

«elbBt der geistige Aufschwung der augusteischen Zeit nicht zu «inem Durchbrechen der Tradition führte, so mag hierzu wohl mit- gewirkt haben die ganze Richtung der griechischen Literatur des Beilenismus, die Richtung auf Nachahmung der Alten, die wenigstens was den Stil anlangt in Poesie und Prosa jede Uoglichkeit erschöpft und jede Höhe erreicht zu haben schienen. Oewiß besteht ein großer Unterschied in Art und Grad der Ab- iiangigkeit, aber ebenso gewiß haben die Dichter der augujsteischen Zeit, wenn sie sich vom auschließlichen Einfluß der Alexandriner freizumachen und in Epos, Drama und Lyrik den Zugang zu den achten Klassikern zu gewinnen suchten, damit nur zu tun gemeint, was sie ihre bisherigen Lehrmeister tun saheu. Der Unterschied, dessen sie sich bewußt waren, bestand nur darin, daß ihnen die tuigleich schwerere Aufgabe zufiel, die Schöpfungen eines fremden V'olkes nachzuahmen, und die eigene Sprache hierzu erst ge- •chmeidigt und gefestigt, bereichert und verfeinert werden mußte. In der Aufgabe und ihrer Lösung lag aber zugleich ein neuer ^nmd des Stolzes: mit der Nachahmung wurden jene fremden Klassiker in Rom heimisch gemacht, für Rom sozusagen erst gewonnen« Virgil war zu bescheiden und verständig, als daß er gemeint hätte, Homer erreichen oder gar übertreffen zu können; ^ber gewiß hat er danach gestrebt, etwas zu schaffen, was f{lr "^en Römer annähernd das sein könnte, was dem Griechen Homer 'War. Dabei wäre es ihm widersinnig erschienen, auf homerische Schönheiten zu verzichten, um original zu sein; im Gegenteil, das Schönste und Beste des fremden Dichters glaubte er nachahmen müssen, um es damit für sein Volk zu gewinnen: die Imitation «rschien ihm nicht als Notbehelf, dessen er sich zu schämen hätte, Bondem als patriotische Tat, auf die er stolz war.

in. Das Eigene.

Die geschilderte Technik der Quellenbenutzung und Imitation •rore, ohne Geist und Gefühl, ohne Gedanken und Geschmack ausgeübt, nichts als ein untergeordnetes Handwerk; das Resultat ein billiges und schlechtes Mosaik, dessen Fugen überall klaffen, dessen Farben nirgends zusammenstimmen, dessen Linien, charakter- los und unklar, nichts ausdrücken als die Impotenz der Verfertigers. DaA die Aeneis ein solches Stümperwerk nicht ist, haben unzählige

254 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Leser empfanden und gerade solche yielfach bezeugt, die in Fragen literarischer Kunst ein gewichtiges Wort zu sprechen haben. Nach- weisen läßt es sich soweit man überhaupt die Vorzüglichkeit eines Kunstwerkes nachweisen kann nur dadurch, daß die eigenen Gefühle, Gedanken und künstlerischen Tendenzen des Dichters aufgezeigt werden; das ist in den Untersuchungen des ersten Teiles versucht worden und wird in den nachfolgendem zusammengefaßt und weiter geführt werden. Denn das freilich läßt sich wissenschaftlich beweisen, daß Virgil nicht mechanisch nachgeahmt hat. Gewiß sind ihm Fehlgriffe nicht erspart geblieben; gelegentlich deckt sich die nachgeahmte Situation zu wenig mit der darzustellenden, als daß man nicht trotz aller aufgewandten Kunst die Inkongruenz empfände; öfter noch sind bei der Ver- schmelzung disparater Züge zu einem neuen Granzen Widersprüche oder Unklarheiten entstanden; endlich, was vielleicht am bedenk- lichsten ist, büßen die eigenen Intentionen des Dichters bei dem Durchgang durch das fremde Medium an Leuchtkraft ein, so daß sie oft genug dem Leser nicht unmittelbar sich aufdrangen, sondern erst bei eingehender Betrachtung zutage treten. Das alles soU nicht geleugnet werden, und der objektive Nachweis solcher Falle wird zur richtigen Würdigung des Ganzen unerläßlich sein ^); nur kann man über die Mängel in der Ausführung von künstlerischen Absichten nicht billig urteilen, ehe man diese Absichten selbst erkannt imd die Fälle ihres Gelingens gewürdigt hat. Hier soll kurz rubriziert

1) Ich habe wiederholt auf dergleichen hingewiesen, z. B. S. 62 fg. 64. 63. 97. 104. 111. 119, 1. 187, 1. 140, 2. 186. 187; eine umfassende Untersuchung gehört nicht zur Aufgabe dieses Buches. In neuester Zeit hat man mit Vor- liebe solchen Mängeln dei Aeneis nachgespürt, zumeist leider ohne auf Virgils eigentümliche Absichten einzugehen, deren Erkenntnis zahlreiche scheinbare Anstöße hebt; so Georgii an vielen Stellen seiner Antiken Aeneis- kritik; Neermann, Über ungeschickte Verwendung homerischer Motive in der Aeneis, Plön 1882 ; P. Cauer, Zum Verständnis der nachahmenden Kunst des Virgil, Kiel 1886 ; W. Kroll a. a. 0. (oben 64, 2 ; s. dazu die Besprechungen von Deuticke in den Jahresber. d. philol. Vereins 1901 und Helm, Burs. Jahresber. 1902, und jetzt Kroll, Lit. Zentralblatt 1908 p. 746). Auf die Selbständigkeit Virgils in der Imitation hat (wie auch z. B. Sainte-Beuve) Plüß mehrfach vortrefflich hingewiesen, z. B. 88 f.; aber er spannt den Bogen zu straff, wenn er 342 ff. Virgil nur im gleichen Sinne Nachahmer sein läßt, wie das jeder andere große Dichter auch sei; dabei wird die Eigenart des virgilischen Schaffens verflüchtigt, der Schwerpunkt seiner Leistung verrückt.

Selbständigkeit in der Imitation. 255

werden^ in welchen Richtungen die selbständige Tätigkeit de» Dichters zu suchen ist; wobei ich von allem , was den Stil im engeren Sinne betriflEt, absehe.

Zunächst ist hier das^ was oben über den von anderen entlehnten äußeren Umriß der Handlung gesagt wurde, dahin zu präzisieren daß Virgil häufig ein von anderen entlehntes Bild selbständig ausführt, es sozusagen nach vorwärts oder rückwärts sich entr wickeln läßt, indem er es anders als in der Vorlage motiviert " oder andere Folgen haben läßt. So steht ihm, als er den Kampf um das Lager schildern will, aus der homerischen Teichomachie ein wirkungsvolles Bild vor Augen: ein Tor des Lagers ist ge- öffnet, zu beiden Seiten des Eingangs steht ein riesiger Wächter, Bei Homer halten diese das Tor offen, um die Fliehenden auf- zanehmen; bei Virgil haben sie es, da den Belagerten das Wag- nis der Feldschlacht untersagt ist, geöfihet und fordern höhnisch die Stürmenden auf, herein zu kommen: sie verlangen in ihrem trotzigen Übermut nach dem Kampfe Mann gegen Mann. Oder: Virgil will schildern, wie Aeneas und Dido sich zum erstenmal in Liebe vereinigen. Aus ApoUonios steht ihm das Bild vor Augen, wie Jason und Medea in einer Höhle auf Korkyra, durch die Not gedrängt, heimlich ihre Ehe vollziehen. Virgil übernimmt diese Situation, aber er muß sie neu motivieren, und man wird gestehen, daß der Jagdzug und das Unwetter zu diesem Behuf vortrefflich erfunden sind. Ein Beispiel für die Entwicklung nach vorwärts. Das Bild ist folgendes: ein Wettlauf; einer der Läufer gleitet aus und kommt damit um den Preis. So bei Homer und bei Virgil; aber bei jenem bleibts dabei, bei diesem benutzt Nisus, als er selbst nicht siegen kann, seinen Fall, um Enryalus den Sieg zuzuspielen. Oder: zwei Helden, nächtlich auf Kundschaft ausgesandt, morden im feindlichen Lager; bei Homer kehren sie glücklich zu den Ihren zurück, bei Virgil bringt ihnen - ihr ynvorsichtiges Wagnis den Tod. In allen den genannten Fallen wird nicht nur die äußere Handlung, sondern der seelische Vorgang neu gestaltet; das ist ein weiterer höchst wichtiger Punkt. Vieles der Art ist früher berührt worden; ich erinnere an die letzte Szene der Aeneis, Turnus' vergebliches Bitten: äußerlich der Iliasszene zum Verwechseln ähnlich, der seelische Vorgang bei Turnus wie bei Aeneas ein gänzlich neuer; der Held von «einen Irrfahrten dem Gastfreund erzählend: wie anders dabei

'256 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Didos Empfindungen als die des Alkinoos; der Eidbruch in XII psychologisch betrachtet völlig verschieden von dem in ^, u. s. f. Diese Neugestaltung haben wir aber selbst dort, wo Yirgil nicht nur die Führung der Handlung^ sondern auch den Ausdruck des Gefühls imitiert: Aeneas empfindet bei seinen Worten im See- usturm etwas ganz anderes als Odysseus in gleicher Lage, und auch ' in der Geschichte Didos ist der seelische Prozeß, der von der Entdeckung der Untreue bis zum Tode führt, in dieser Form Virgils Eigentum, so wenig ihm von dem einzelnen gehört.

Zu den genannten selbständigen Neumotivierungen u. dgL. führten wesentlich die sachlichen Anforderungen der Handlung •und der Charaktere. Der zweite wichtige Gesichtspunkt ist d^' Techt eigentlich künstlerische wenn man will formal küns^ lerische. Yirgil verfolgt sehr bestimmte und deutlich nachwei^ bare Ziele der künstlerischen Wirkung mit Hilfe einer aufs feinsi^ ^ausgebildeten und für ihre Zwecke einzig geeigneten Technik; un-^ wenn seine sachlichen Intentionen hie und da nicht mit alle:^ wünschenswerten Schärfe und Klarheit herausgearbeitet sind, sein* künstlerischen Intentionen verfehlen ihr Ziel nicht. Auch sie tretei^ vuns am greifbarsten entgegen, wo wir das Hilfsmittel des Vergleich*^ haben; um nur ein Beispiel von den früher erörterten zu nennend ^erinnere ich an die Umformung des homerischen Eidbruchs; weiter^ werden zahlreich im folgenden begegnen. Es versteht sich, da£ •wir auch hierin Virgil an Frühere anknüpfen können wo würd^ je eine künstlerische Technik aus dem Nichts geschaffen? abe^ man wird keinesfalls behaupten können, daß Yirgil in diesen^ Punkte unselbständiger Nachahmer sei; er hat von anderen gelernt^ .aber keiner seiner Lehrer hat, soviel wir wissen, das erstrebt un(9 erreicht, was sein Ziel war. In der Geschichte der erzählendeim Kunst macht Virgils Aeneis Epoche.^)

1) Daß auch in den Gleichnissen, deren Stoff, wie oben bemerkt, Virgils sehr vielfach übernimmt, keine gedankenlos mechanische Nachahmung, son— dem fast durchweg individuelle Neubildung vorliegt, betont mit Rechte Plüß in dem Aufsatz 'Das Gleichnis in erzählender Dichtung' (Festschrift^ zur 49. Philol. Vers. 1907) p. 68 (vgl. auch Sellar a. a. 0 418 ff.); das erfor- dert eingehende Untersuchung, doch mögen einige Beispiele hier stehen^ um das 'Eigene' auch in dieser Einzelheit zu veranschaulichen. Tumu9 eilt, herrlich gerüstet, in den Kampf gucUis übt abruptis fugit pretesepior vindis tandem liber equus u. s. f.: das Gleichnis äußerlich ganz nach Z 606 fg. r .aber hier hat Paris erst durch Hektors Scheltrede aus trSger Ruhe auf-

Eünstieriflche Ziele. 257

Die beiden genannten Richtungen sollen in den folgenden Kapiteln verfolgt werden; als Schlußresultat wird sich uns eine schärfere Bestimmung der Ziele von Yirgils epischer Technik ergeben. Die große Wirkung^ die sein Gedicht ausgeübt hat, beruht freilich zum besten Teile auf etwas anderem , das Wenigstens erwähnt werden muß, wo Ton dem Eigenen Yirgils die Rede ist: das ist einerseits die Wärme des sympathetischen Gefühls, andererseits die Kraft des sittlich -religiösen und natio- nalen Empfindens, beides zusammen recht eigentlich die Grund- j>feiler der Dichtung. Dies beides näher zu beschreiben ist nicht nnsere Aufgabe; wir haben es mit der a/rs, nicht mit dem Ingenium V^irgils zu tun.

S^^Mcheacht werden müssen; Turnus dagegen mußte bisher widerwillig der

B MtsYenwHnmlnng über Krieg oder Frieden beiwohnen, aus der er fortstürzt,

»iMkld die Nachricht vom Anrücken der Feinde eintrifft. Antilochos

»ringt O 682 auf den getüteten Melanippos zu, um ihn zu spoliieren, aber

\ Hektor auf ihn zueilt, weicht er zu den Seinen zurück ^^l xa%bv ^i^avxi

^«»ftxdbg, Off T8 %vva xtslvag ^ ßov*6Xov &iiq>l ßoiaatv (pevysi^ nQlv nsQ öfuXov

^^IXic^luvai &vdQ&v. Yirgil bezieht XI 809 den Vergleich auf Arruns, der

«ich furchtsam unter den Schaaren yerbirgt, nachdem er unbemerkt Camilla

S^tötet, wie der Wolf priusquam tela inimica sequantttr . . acciso pastore

**<>9not» iuveneo in die Berge flieht: der psychische Gehalt des Vergleichs

iBt bei Virgil erheblich bereichert. Helm und Schild des Diomedes strahlen

^^U. wie der Sirius £ 4: so Helm und Schild des Aeneas X 272, aber hier

** S^childert, wie der Anblick auf die Feinde wirkt, der Sirius heißt sitim

^'^^^^ctque ferens mortalibus aegris^ und der Unglück verheißende Komet ist

'^'^^ssiigefügt: also keine bloße Veranschaulichung des Sinnlichen, sondern

^S'^^oh des Psychischen. In dem zuletzt genannten Falle hätte Virgil,

^exi^ das Gleichnis fehlte, nicht fortfahren können haud tarnen audaci

^«9->^ fiduda cessit, und so l&ßt sich sehr häufig zeigen, daß in der Um-

get^x^Qg des Gleichnisses auf dieses selbst Bezug genommen wird, wenn es

''^^^ an sich unbeschadet der Konstruktion fehlen könnte : aus welch letzterer

^^^-^ache ich also nicht mit Norden p. 206 folgern möchte, daß die Gleich-

'^^^e erst nachti^lich Ton Virgil in den fertigen Rohbau eingefügt seien;

^^^b. sind sie m. E. keineswegs nur omatus causa da, ebensowenig allerdings

In den meisten Fällen zur Erhöhung der plastischen Realität, sondern

^^ dienen vorwiegend dazu, entweder die der gewöhnlichen Darstellungs-

mittel spottenden leidenschaftlichen Empfindungen der verglichenen Person,

0^^ den Eindruck, den etwas über das Gewöhnliche Hinausgehendes beim

^••chauer hervorruft, uns näher zu bringen. Wenn das 8. Buch nur ein

Oleichnii aufweist, so sehe ich den Grund davon nicht mit Norden iu seinem

fertigen Zustand, sondern in der Besonderheit des Inhalts und der Er-

^^nngsart

H •!&■•, TirgilB epische Technik. 2. Aufl. 17

258 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

IV. Die Arbeitsweise.

Es liegt auf der Hand, daß die Arbeit auf Grund c schilderten Methode mühsam genug sein mußte ganz abg von der auf die äußere Form verwendeten Sorgfalt. Eindrii Stadium der Quellen und Vorbilder mußte der Ausführung ^ gehen ^); überblickt man z. B. die in der Didogeschichte au noch kenntlichen Reminiszenzen aus Epos, Epyllion und Tr so kann man kaum anders annehmen, als daß ein Systems Durcharbeiten der einschlagigen Dichtungen die Grundla; eigenen Arbeit bildete.*) Wie unendlich vielfach abwägend« legung dazu gehörte, um dann die entlehnten Motive dem der eigenen Geschichte einzufügen, davon wird man sich s lieh eine zu große Vorstellung machen können.

Wie lange Virgil an der Aeneis gearbeitet hat, wiss nicht genau. Von der Vollendung der Georgica bis zum des Dichters stehen zehn bis elf Jahre zur Verfügung, von 21 aber es ist unwahrscheinlich, daß Virgil unmittelbar nac Georgica an die Aeneis ging: wir wissen durch seine e Worte'), daß er sich damals noch mit einem ganz anderen e{ Plane trug. Jedenfalls war er im Jahre 26 oder 25 bere Werk: Augustus hat ihn aus Cantabrien brieflich um Mit! des Entwurfs oder wenigstens einzelner Verse gebeten p. 61 R.), umsonst; um dieselbe Zeit verkündet Properz 63), daß die Aeneis im Entstehen begriffen sei, und schei Prooemium bereits zu kennen, braucht aber weitere vom Inhalt nicht besessen zu haben; wir werden uns das G damals in den ersten Anfängen zu denken haben. Frül gegen Ende des Jahres 23, nach dem Tode des Marcellu Virgil die Bücher 11^ IV und VI vor Augustus und seinem e Kreise rezitiert.*)

1) Virgil selbst schrieb an Augustus: tanta incohata res est, u vitio mentis tantum opus ingressus mihi videar, cum praesertim ut s quoque studia ad id opus multoque potiora inpendam (Macrob. I 24, 1] mit sind aber nicht nur historisch- antiquarische, sondern auch, ui leicht vor allem, philosophische Studien gemeint.

2) S. auch z. B. oben 216, 1.

3) Georg. IIl prooem., dazu Norden, Neue Jahrb. VII (1901) 81i

4) öuet. p. 61 R. Dagegen kann die Notiz bei Servius zu IV 3 pnvatim paucis praesentibus recitaret Augusto, tiam recitavit primun

Aibeitsweise. 259

Über die Arbeitsweise haben wir den gewiß auf beste zeit- genössische Quellen zurückgehenden Bericht Suetons (59 R.). Da- nach hat Yirgil die Aeneis zunächst in Prosa konzipiert und den Stoff auf zwölf Bücher verteilt, bei der Ausarbeitung sich aber oidit an die Reihenfolge der Bücher gehalten, sondern einzelne Stück, je nachdem es ihm paßte, herausgegriffen und für sich ausgeführt.^) Und zwar verfuhr er dabei nicht so, daß er mit peinlicher Erwägung Wort zu Wort und Vers zu Vers setzte, sondern überließ sich dem raschem Zuge der Improvisation, wo- bei auch Verse unvollendet blieben: die Ausfeilung, die zugleich wesentliche Verkürzung des ersten Entwurfs war, erfolgte nach und nach und ist nicht zu Ende geführt worden.^)

Das Merkwürdigste bei diesem Verfahren ist gewiß das par- iidfdatim und nihil in ordinem componere. Bei der ausgeprägten Dichtung des Dichters auf Einheit und Geschlossenheit der Wirkung wird man dies nicht so verstehen dürfen, daß er bald <U^es, bald jenes bruchstückweise in Angriff nahm, also etwa heute eixien Monolog der Dido, morgen ein beliebiges Stück der Kämpfe lUederschrieb; man wird vielmehr annehmen, daß es kleine ab-

i^rtium et quartum nicht in Betracht kommen; VI ist hier beiseite ge- laasen, weil das für die Stelle irrelevant war, Servius erwähnt die Rezitation »elbst VI 861 ; für 11 gegen TU (was »ogar absichtliche Korrektur sein kann) »pTicht schon, was über das chronologische Verhältnis der beiden Bücher festziistellen ist. Daß aber Yirgil jene drei Bücher wählte, weil sie zuerst fertig waren, ist mir die wahrscheinlichste Erklärung; welchen Sinn hätte M sonst z. B. gehabt, I wegzulassen? Das stimmt ja auch durchaus dazu, ^ er die Einzelteile proui liberet arripuit\ es liegt auf der Hand, warum ihn jene dr^ Bücher zu allererst zur Ausarbeitung und Ausfeilung an- locken mußten. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß damals von den übrigen Büchern noch gar nichts vorhanden gewesen sei tur neun Bücher ^''Üide allerdings die noch übrige Zeit von vier Jahren sehr knapp sein ; *W es wird eben, wenn z. B. I damals schon im wesentlichen ausgeführt ^ur, noch zu vieles darin imperfectutn gewesen sein.

1) Aeneicla prasa prius oratione formatam digestamque in XII libros P^^kulaHm componere instituit prout liberet quidque et nihil in ordinem ^''^piens.

^) tU ne quid impetum moraretur quaedam imperfecta transmisit, alia ^^^^mw verhis velut fulsit, quae per iocum pro tihicinibua int^rponi atebat ^ ^usUnendum opus, donec solidae columncke advtnirent ebd. Dazu über ^c Arbeit an den Georgica ebd.: traditur cotidie meditatoa mane plurimos ■*w« dietare solitus ac per totum dient retraciando ad paucissimos redigere.

260 EiBtes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

geschlossene Bestandteile^ Gedichte im Gedicht waren, die er för sich ausführte, daß also das nihil in ordinem stark übertreibt. Ein solches für sich ausgeführtes kleineres Ganze scheint die Jugendgeschichte der Camilla in XI zu sein, und man könnte das gleiche von mancher episodischen Szene, etwa der Geschichte des Nisus und Euryalus in IX oder der von Hercules und Cacus in VIII vermuten; im allgemeinen aber sind die Teileinheiten des Gedichts die einzelnen Bücher, und für eines wenigstens laßt sich die gesonderte Bearbeitung außer der Reihe mit absoluter Sicher- heit nachweisen, für III. Wenn Virgil dem Augustus II, FV und VI vorlas, so gab er damit drei für sich bestehende abgeschlossene Gedichte, die der Verbindung durch III und V nicht bedurften; VI ist sogar in einem unbedeutenden Einzelzuge vielmehr an IV angeknüpft worden, das bereits fertig vorlag.^) Virgil hat also diese Teilstücke nicht nur außer der Reihe ausgeführt, sondern auch ohne nähere Berücksichtigung dessen, was er in früheren, aber noch nicht ausgeführten Büchern zu sagen haben würde. Als er in VII und VllI die Prodigien, in VI die Palinurus- geschichte schrieb, mußte er, sollte man meinen, wissen, daß er in III und V von denselben Dingen zu sprechen haben wtlrde; aber er hat zunächst einmal provisorisch die Dinge so dargestellt, als erschienen sie im Laufe der Dichtung jetzt zum ersten Male; d. h. er hat zunächst völlig in sich abgeschlossene Gedichte ge- schaffen, die alle speziellen Voraussetzungen in sich selbst ent- hielten, und es der Zukunft vorbehalten, aus diesen Teilen ein Ganzes zu gestalten. Er hat aber auch, wie eben das Verhältnis von UI zu den späteren Büchern deutlich lehrt, diese späteren geschrieben, ehe ihm der Plan der früheren in allen Details end- gültig feststand. In großen Zügen mußte natürlich der Ghtng der Erzählung und ihre Disposition festgelegt sein; darum ist denn auch eine provisorische Fixierung des Stoffes und seine Verteilung auf die zwölf Bücher die erste Sorge des Dichters. Auch spricht nichts dagegen, daß dieser Plan bis zuletzt in allem wesentlichen unverrückt geblieben ist, so viel auch von einzelnem, wie eben in III, modifiziert wurde. Endlich schließt die Abfassung nach einzelnen Büchern natürlich nicht aus, daß in den geschriebenen nachträglich geändert und zugesetzt wurde: das war ja sogar

1) Oben 8. 148, 1.

Einheit des Ganzen und dei Teile. 261

notwendig, falls sich bei der Ausarbeitung früherer Partieen die Voraussetzungen yerschoben.

Die Berücksichtigung dieser Entstehungsart ist von größter Wichtigkeit, nicht nur für die Lösung einzelner sachlicher Schwierigkeiten, die Erklärung mannigfacher Widersprüche und lockerer Zusammenhänge^); auch die Komposition der einzelnen Bücher kann erst von diesem Gesichtspunkte aus richtig gewürdigt werden. Darauf wird später einzugehen sein; es gilt hier nur noch der Ursache jener seltsamen Prozedur nachzufragen.

Man wird am besten vielleicht von der äußeren Bestimmung des Gedichts ausgehen, wie das Goethe getan hat, als er sich den unterschied der epischen und dramatischen Technik klar zu machen suchte. Die Aeneis sollte nicht, wie ein heutiger Roman, im Zusammenhang gelesen, sondern in einzelnen Abschnitten rezitiert werden. Wir hören ja, daß Yirgil dem Augustus drei Einzel- bücher vorlas; er hat ihm auch die Georgica seiner Zeit vor- gelesen per continuum quadriduum (Sueton 61 R.), also täglich ein Buch. Das ist nicht zu wenig: diese Poesie will in kleinen Abschnitten genossen sein, damit all ihre Feinheiten zur Geltung kommen; wo jedes Wort vom Dichter erwogen ist, soll auch jedes Wort vom Hörer gewürdigt werden; dazu bedarf es ge- spanntester Aufmerksamkeit, frischester Empfänglichkeit, kon- Zentriertester Teilnahme. Es geht nun aber auch keineswegs an, irgendwo in einem langen zusammenhängenden Gedicht beliebig abzubrechen, wenn der Hörer genug hat, und die Fortsetzung auf den nächsten Tag zu verschieben; dann geht ja das Beste, die einheitliche Wirkung, verloren. Wenn man es also wagt, ein großes Epos zu dichten, so muß man versuchen, es aus Teilen zusammenzufügen, die jeder etwas Ganzes sind und jeder für sich yoUe Wirkung tun; mit anderen Worten, das Werk muß die Eigenschaften eines 'zusammenhängenden' langen Gedichts home- rischer Art und eines Kranzes von Einzelgedichten kaUimacheischer

1) Es ist Conrads^ Verdienst, zaerst darauf hingewiesen zu haben, Quaest. Virg. p. XVÜI: singulos libros tarn patet singula quasi corpora esse 3U0 quodgue nomine, ceterorum ratione non hahita confecta et quod ad res et materiam attinet quodammodo perfecta et ad finem perdiicta. Vgl. dann Wilamowitz, Homer. Unters. 117 Anm.; Schüler, quaest. Verg. 16 u. ö.; Kroll ft. a. 0. 148, von dem ich freilich in der Auffassung der Tatsache wie in der Beurteilung ihrer Folgen stark abweiche.

262 Erstes Kapitel. Die Methode des Schaffens.

Art in sich vereinigen. Wenn also jedes Buch ein iv sein soll^), so muß es auch Anfang und Schluß hahen, d. h. möglichst wenig Voraussetzungen machen und zu einem bestimmten Ziele fahren. Das widerstreitet schnurstracks der aus Homer abstrahierten Forde- rung des ununterbrochen strömenden epischen Sanges, bei dem wie in einer Kette ein Olied an das andere in stetiger Folge sich reihen soll; aber Virgil hat versucht, diesen Widerstreit zu über- winden. Logischer und sicherer wäre es ja nun gewiß dabei ge- wesen, die einzelnen Bücher in der gehörigen Reihenfolge aus- zuarbeiten, und ein Dichter, dem alles auf den unerbittlich logischen Zusammenschluß des Ganzen ankäme, würde wohl auch in Virgils Lage so vorgegangen sein; Virgil arbeitete protU libereU denn wer in erster Linie die Wirkung des einzelnen Teiles im Auge hat, wird auch dem Reiz nachgeben, den je nach seiner augenblicklichen Stimmung der betreffende Teil des Stoffes auf ihn ausübt. Dabei waren denn provisorische Widersprüche u. dgl- nicht zu vermeiden. Daß sie wirklich nur provisorisch waren und es Virgils Absicht gewesen ist, sie zu beseitigen, müssen wir annehmen; abgesehen von dem natürlichen und allgemein mensch- lichen Bedürfiiis nach logischer Einheit wissen wir, daß solche von der Theorie jener Zeit auch bei Homer vorausgesetzt und nach Möglichkeit hergestellt wurde. Wie weit es Virgil gelungen wäre, jene Absicht durchzuführen, muß dahin gestellt bleiben; völlig hätten sieh die unwillkommenen Spuren der Entstehongs* art kaum verwischen lassen. Diese Spuren haben wir jetzt schärfer zu erkennen gelernt als in früheren Zeiten, wo man sie entweder übersah oder durch willkürliche Literpretation beseitigte; wer sie jetzt hervorhebt, wie es die Pflicht des Interpreten ist, darf dabei nicht vergessen, wie wenig sie im Qrunde für das bedeuten, was des Dichters vornehmste Absicht war. Tatsache ist ja auch, daß sie die Wirkung des Gedichts bei denen, die für solche Wirkung überhaupt empfänglich sind, ebensowenig zu beeinträchtigen ver- mocht haben, wie die sehr viel stärkeren Widersprüche und In- konzinnitäten der homerischen Gedichte für deren Wirkung jemals in Betracht gekommen sind.

1) Kallimachus weist das ?v äkicaa 9iriv^%ig von sich ab, fr. 287; Dilthey de Callim. Cyd. 25. 'Das oft wiederholte Wort /i^ya ßißXlov fidycc 7ioex6v ist weit besser vom Standpunkt des Hörers als von dem des Bibliothe- kars oder Bücherfreundes zu erklären', Reitzenstein, Epigramm und Skolion 2.

Zweites Kapitel Erfindung.

I. Die Menschen.

a. Charaktere.

Die antike Theorie der redenden Künste hat mit großer Be- stimmtheit generelle nnd individuelle Charakteristik geschieden. Aristoteles legt in der Poetik das Hauptgewicht auf die indivi- duelle Charakteristik y laßt aber die Rücksicht auf die generelle mit hineinspielen; in der Rhetorik behandelt er diese eingehender. Es ist bezeichnend, daß Horaz im Brief an die Pisonen gerade diese Seite besonders hervorhebt (112 118; 156 178), bei der andern nur kurz verweilt und so, daß man sieht, wie er in der hohen Poesie die Individualcharaktere mit ganz wenigen hervorstechen- den Zügen erschöpfen zu können meint (119 127). Das ent- spricht der ^Richtung der nachklassischen antiken Poesie durch- aas; schon von der ^neuem' Tragödie urteilt Aristoteles, sie -entbehre des ^d-og überhaupt: es war durch das jcdd'og in den Hintergrund gedrängt. In der hellenistischen Poesie bleibt die feinere Individualcharakteristik fast völlig der Komödie und den niederen Gattungen der Poesie überlassen (um freilich hier mit wenigen leuchtenden Ausnahmen im Typischen zu erstarren), die ernsthafte Poesie strebt nach anderen Zielen; sie charakterisiert, wenn überhaupt, nur in großen Umrissen oder generell Akontios nnd Kydippe waren, so müssen wir glauben, der Jüngling und das Mädchen schlechthin, der indifferente Boden, dem die in reichsten Farben prangende Blume der Leidenschaft erwächst. Apollonios' Jason ist der heldenhafte Jüngling so gut ihn ein Apollonios begreift , seine Medea die Jungfrau schlechthin, die im Kampf gegen den übermächtigen Eros unterliegt: daß eine solche zur Medea ferox werden konnte, hätte nur individuelle

264 Zweites Kapitel. Erfindung.

Charakteristik glaubhaft machen können. Theokrits Amykos ist der dnmme, ungeschlachte barbarische Athlet im Gegensatz zu dem geistig und körperlich gleichmäßig gebildeten Hellenen Polydeokes^

Yirgil steht auf dem Boden der hellenistischen Poesie; aber er war doch ein zu eifriger und yerständnisvoller Leser Homer» und der attischen Tragödie, um nicht wenigstens hie und da den^ Versuch zu machen, sich über diesen Boden zu erheben.

Die wesentlichsten Gesichtspunkte der Charakteristik nach ytvrj sind erstens der Unterschied der Altersstufen sowie der zwischen Männern und Frauen; in zweiter Lijiie stehen charak- teristische Unterschiede der Nationen und der Stande; das Letzt- genannte föllt für Yirgils heroisches Epos so gut wie ganz fort.^)*

Über den Knaben Ascanius ist oben schon gelegentlich de» ludijis Troiae gesprochen worden (S. 154). Yii'gil hat in ihm den edelgeborenen und edelgearteten Knaben gezeichnet, freilich den Heroenknaben, der früher als das heutige Geschlecht zu den. Werken der Jagd und des Krieges heranreift bei ihm, der lange Jahre hindurch ohne mütterliche Fürsorge auf gefahr- vollen Kreuz- und Querzügen mitgeführt worden ist, begreift man wohl, daß er ante annos animumque gerit curamgue virilem (IX 311)^ Aber Virgil hat sich doch gewiß ein feiner Zug das kind- hche Alter zu nutze gemacht, um dem Ascanius das heus eHam mensas consumimus beim Eintreflfen des Tischprodigiums (VU 116)- in den Mund zu legen, als knabenhaften Witz (nee plura adludens)r dessen sich nun Aeneas wie eines zufällig eintretenden Omens so- fort bemächtigen kann.*) Ich bemerke noch, daß der glückliche ^chuß auf Numanus, die erste Kriegstat des Ascanius, die letzte Tat ist, die wir von ihm hören: er wächst gewissermaßen vor unseren Augen vom Kind zum Jüngling.

Dem Ascanius an Jahren zunächst steht Euryalus^); er be-

1) Vgl. das oben S. 18s, 1 i^ber das Landvolk Gesagte.

2) Addison hat darauf hingewiesen (Spectatx)r 361), wie geschickt Virgil dem Prodigium alles genommen habe, was der Würde des heroischen Epos zuwider sein könnte: the prophetess, who forieüs it, is an hungry Harpy, as the person who discovers it, is young Ascanius . . Such an Ob- servation, which is beautiful in the mouth of a hoy, tcould have been ridi- ctüous froni any other of the Company. Das ist ganz im Geiste Virgils ge- dacht. Dionys gibt das Wort einem der naldtg oder dftotfxT^yot I 56.

3) te, mea quem spatiis propioribus aetas insequitur, vener ande puer redet ihn Ascanius IX 276 an. Wenn er dann fortfährt nuUa meis sine te

Jünglinge, Greise. 265

teiligt sich bereits am Wettlauf der Jagend weint freilich noch kindliche Tränen, als ihm der Preis entgehen soll (V 443) , wie an den Gefahren des Kri^s freilieh noch ohne die Vorsicht und die Gewandtheit des gereiften Kriegers: das bringt ihm den Tod. Es folgen die jungen Helden Lausus und PaUas, wie Euryalus reich an Tapferkeit, die nur bei diesem mehr als ehrgeiziger Tatendurst, bei Pallas als entschlossener imd stand- hafter Mut^), bei Lausus in seiner einzigen, der Todesszene als pietätvolle Aufopferung charakterisiert ist: aber das sind mehr Unterschiede der Situationen als der individuellen Charaktere; im ganzen vertreten diese drei und Nisus kann man als vierten zu ihnen rechnen als ideale Typen die hofiEnungsvolle männ- liche Jugend, der es wohl ansteht, sich um eines hohen Zieles willen auch in Gefahren zu stürzen, denen sie nach menschlicher Voraussicht nicht gewachsen sind.')

Bei den gereiften Männern, Turnus, Aeneas, Mezentius, ver- sagen die generellen Merkmale der Altersstufe; hier tritt anderes an die Stelle.').

Typische Greisengestalten sind Ilioneus, Nantes (V 704), Euander, vor allem Anchises; sie reden und handeln ruhig, be- dacht, leidenschaftslos; sie lenken die Jugend und spenden Be- lehrung aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrungen, erzählen wohl auch gern aus früheren Zeiten^); Auserwählten ist tiefere Einsicht in den Willen der Götter und die Bestimmungen des Schicksals zuteil geworden: diese Gabe verdankt Nantes der Pallas; Anchises deutet das Omen bei der ersten Landung in Italien III 539; als Prophet erscheint er in dem Rest eines früheren Entwurfs VII 123. Auch Latinus' Bild ist reich an generell charakteristischen Zügen: aber hier kommt Individuelles hinzu.

quaeretur gloria rebus ; seu pacem seu bella geram, tibi maxima rerum verbo- rumque fides so ist damit ein Verhältnia geahnt wie das des Augustus. zu dem gleichaltrigen Agrippa.

t) Als audax beim ersten Auftreten eingeführt, VlII 110, ygl. daza X 879. 458.

2) Über die Einzelheiten s. o. 214 ff.

8) Aristoteles charakterisiert rhet. ü 12 fg. nur die vioi und die itgs- eßvtigoij die &%iid^ovTsg sind lediglich das ^iaov der beiden, 1390a 29.

4) So Euander nach Nestors Vorbild; bei ihm fügt sich der Zug aufa beste in die ganze Stimmung von VUI. Als typischer Zug der TtQSößvrsQot bei Alistot. rhet. 1390 a 6.

266 Zweites Kapitel. Erfindung.

Für die Frauen ist generell charakteristisch zunächst ihre größere Erregbarkeit; jedes Gefühl nimmt bei ihnen viel eher als beim Manne leidenschaftliche Formen an, die Leidenschaft zerstört das seelische Gleichgewicht und wird zur Raserei die troischen Frauen in V, Dido, Amata bezeichnen ihre Stadien , und wo erst eine von ihr ergriffen ist, pflanzt sich das ansteckend auf andere fort (VII 392); der Schmerz steigert sich zur Verzweiflung, die Verzweiflung treibt in den Tod oder macht doch das Leben zur verhaßten Qual (die Mutter des Euryalus; Jutuma XII 879). Das alles sind Züge, die auch die hellenistische Poesie im Bilde der weiblichen Natur mit einseitiger Vorliebe betonte , die aber römischer Anschauung an sich ganz geläufig waren. ^) Varium et mutdbile semper femina vernimmt Aeneas im Traume von Mercur (IV 569): die troischen Frauen warfen in verzweifelter Erregung den Brand in die Schiffe, aber kaum erblicken sie die Männer, pigd incepti lucisque (V 678); die Frauen von Laurentum haben^ indem sie sich Amata zur Verteidigung des verletzten Mntter- rechts anschlössen und des Turnus Sache zur ihren machten, wesentlich dazu beigetragen, den Eri^ zu entfesseln; nach der ersten Niederlage verfluchen sie den grausamen Krieg und des Turnus Heiratspläne: möge er doch allein, Mann gegen Mann, die Herrschaft erkämpfen, die er beansprucht (XI 215). Amata freilich hält an Turnus fest: sie hat bei der Parteinahme für ihn sich selbst auf Spiel gesetzt. Sie handelte dabei nicht ans eigen- tümlicher Charakterveranlagung heraus, sondern so stellt es Virgil dar wie wohl jede Frau in ihrer Lage handeln würde, nur daß nicht jede durch eine Allekto zum äußersten getrieben wird.^

1) Liv. III 48, 8 . . cetera^ qime in tali re tnuliebris dolor, qito est maestior inbecillo animo, eo miserabilia magis querentibua auhicit. VI 84, 7 parvis mobili rebus animo muliebri. Die Klagen der unglücklichen Mutter des Euryalus sind so herzzerreißend, daß die Führer sie beiseite bringen lassen, um der Stimmung des Heeres willen: man denkt an die Situation in Rom nach der Schlacht bei Gannä, wo der clamor lamentantium muliemm die Verwirrung aufs höchste steigert und die patres dafür sorgen müssen ut tumultum ac trepidatiotiem in urbe tollant, matronas publico arceant con- Üneriqne inira siium qtiamque Urnen cogcmt, conploratits famüiarum coerceant Liv. XXn 66. Vgl. auch Virg. XI 147: als die Matronen den Leichenzug des Pallas erblicken, maestam incendunt clamonbus urbetn.

2) quam super adventu Teucrum Tumique hymenaeis femineaeardetUem curaeque iraeque coquebant VII 344.

Franen. 267

Sie liat sich den schönen ^ Tornehmen und glänzenden jungen Helden, der zudem ihr Verwandter ist, zum Eidam ausersehen; ftls es nun anders kommt und die Tochter dem Landfremden, Heimat- und Besitzlosen ausgeliefert werden soll, ^widerstrebt sie aufs heftigste, wie nicht anders zu erwarten: Allekto hat leichtes Spiel mit ihr. Zunächst liegt sie dem König mit Bitten und Beschwerden in den Ohren, verdächtigt den Ankömmling als meineidigen Räuber und sucht das Orakel des Faunus durch kecke Ausflüchte zu ihren Grünsten zu wenden: alles dies soliio fnairum de more (VH 357). Da Latinus fest bleibt, wird sie zur tobenden Bacchantin; das Unglück nimmt seinen Lauf.

Camilla, die reisige Jungfrau, steht außerhalb des Frauen- Ikreises und ist nicht mit gewöhnlichem Maßstabe zu messen. Aber wie um sie nicht völlig unbegreiflich zu machen, hat ihr Virgil doch einen generellen Charakterzug geliehen: der glänzende Schmuck des phrjgischen Priesters sticht ihr ins Auge, femineo praedae et spoliorum amore (XI 872) vergißt sie bei der Ver- folgung alle Vorsicht und wird das Opfer ihres leidenschaftlichen Begehrens.

Allen diesen wenig erfreulichen Eigenschafben steht eigentlich nur eine lobenswerte zum Ausgleich gegenüber: die treue Liebe der Frau zu ihren Angehörigen. Dies Gefühl ist natürlich auch dem frommen Manne zu eigen: aber was bei ihm als Pflicht- erfüllung erscheint und als solche anerkannt wird, ist beim Weibe Natur, die keines Lobes bedarf; und was beim Manne eine Pflicht neben anderen ist, das füllt des Weibes Leben aus.^) Die Mutterliebe: Venus vor allem, die unermüdlich um Aeneas sorgt, wie Thetis um Achill, nur leidenschaftlicher und zärtlicher; die Mutter des Euryalus, die allen Kummer und Sorge bei der Arbeit für ihren Sohn vergißt, mit ihm den Inhalt ihres Lebens verliert; Andromache, die in Ascanius das Bild ihres Astyanaz liebt (III 486) und wünscht, er möge nach seiner verlorenen Mutter sich sehnen (341), weil sie empfindet, daß sie selbst im gleichen Falle im Gedächtnis ihres Astyanax gelebt haben würde; Creusa, deren letztes Wort an den Gatten ist nati serva communis amorem

1) Euryalus ist ein zärtlicher Sohn, aber der Gedanke, daß er sich seiner Mntter zu erhalten hat, kann ihn von der Rahm verheißenden Gefahr nicht zurückhalten. Euander ist der Typus des liebenden Vaters, aber mehr als das Leben seines Sohnes liebt er dessen Ehre (VUI 56).

268 Zweites Kapitel. Erfindung.

(n 789). Die Geschwieterliebe: Anaa; Didos unanima sorar, deren erster Gedanke beim Tode der *mehr als das Leben Geliebten' der Schmerz darüber ist, daß sie nicht gewürdigt wurde, mit ihr in den Tod zu gehen; Jutuma, der beim Tode des Bruders die Unsterblichkeit zur Qual wird. Die Gattenliebe: Dido, deren höchster Stolz Treue gegen den verstorbenen Gatten war, und die, als sie in unseliger Verblendung diese Treue gebrochen hat^ von dem Toten gerufen in den Tod geht, um drunten wieder in alter Liebe mit dem Gatten ihrer Jugend vereint zu sein; und wieder Andromache, coniux Hectorea^) auch als gezwungene GFattin des andern (III 488), die das unvergleichliche Heäor ubi est? spricht, da sie den Schatten des Aeneas zu erblicken meint (312). Endlich, wenn die Vaterstadt, die Väter, Gatten und Brüder in höchster Gefahr sind, dann erwacht auch in den Frauen Helden- mut, und verus amor pcUriae treibt sie auf die Mauern, dem stürmenden Feind zu begegnen (XI 475. 891).

In der generellen Charakteristik der Nationen beschrankt sich Virgil zumeist auf ganz wenige hervorstechende Züge, die ihm und seinen Zeitgenossen geläufig waren.*) Sinon ist der Typus des verlogenen, erfindungsreichen, listigen Griechen"). Von den Tyrii büingues fürchtet Venus Gefahr für Aeneas (I 661): das ist die römische konventionelle Auffassung der Karthager, für die freilich die Handlungsweise Didos und der Ihren keinerlei Bestätigung bringt. Die Etrusker schildert ihr eigener König Tarchon wieder ganz in der den Römern geläufigen Auffassung: Wollust, Tanz und Schmaus bei üppigen Opferfeiern, hie amor^ hoc Studium (XI 736); das mag historisch einigermaßen berechtigt sein, aber die Etrusker Virgils scheinen diese Vorwürfe nicht zu

1) V Ändroniaque d'Hector agenouiUee sur une tombe vide, gardant un amour unique et la fidelite du coeur dans Vinvolontaire infideliU d'un corps d'esclave Lemaitre Contemporains VI 276.

2) Bei Homer achtete man sorgfältig auf die Art, wie er Hellenen und Barbaren charakteristisch unterscheidet, die Scholien merken das massenhaft an (Dittenberger, Hermes 40, 459 ff.); dann auch z. B. Plutarch quom. adol. 29 d, natürlich auf älterer Homerexegese fußend. Virgil scheint e}aran gedacht zu haben, einen ähnlichen Gegensatz zwischen den kultivierten Tlroem und den barbarischen Italikem durchzuführen, I 263 paptdosqtte fero€!%8 contundet, V 780 gens dura atque (ispera cultu debellanda tibi Latio est; zur lebendigen Darstellung ist davon freilich kaum etwas gelangt.

3) 8. oben S. 9 fg.

Nationen. Aeneas. 269

verdienen; oder wollte der Dichter wirklich die Erfolge der Jung- frau Camilla mit durch die kriegerische Untüchtigkeit ihrer wesent- lich aus Etruskem bestehenden Feinde motivieren? Ein anderer Yon etruskischen Seeraubem überlieferter abscheulicher Zug von Orausamkeit ist zur Charakterisierung des Mezentius verwandt^ Vin 485 (oben S. 212). Die Ureinwohner Italiens charakterisiert einer von ihnen selbst, Numanus, so wie man sich wohl die alten Sabiner usw. dachte (VIII 603); ebenderselbe charakterisiert «eltsamer Weise die Ti^er als Phryger, so wie diese den Römern als Eybelediener bekannt waren (IX 614), imd danach hat sich Äuch der Numider Jarbas ein Bild von Aeneas gemacht (IV 215): auf Virgils Troer soll selbstverständlich diese Schilderung keines- wegs zutreffen. Die Ligurer sind alle Betrüger^): das weiß auch Camilla, wenn sie dem ligurischen Feinde, der sie feig zu über- listen versucht hat, zuruft nequiquam patrias temptasH luhricus ortis nee fraus te incolumem faUaci perferet Auno (XI 716).

2.

Was Virgil bei dem Griechen und dem Ligurer getan hat, einen Menschen als Typus seines Volkes zu bilden, das hat er im wesentlichen ganz ebenso, nur in weit reicherer Ausführung, bei Aeneas getan, dem Typus des Römers, wie er dem Römer selbst sich darstellt wohlgemerkt, dem Römer augusteischer Zeit und stoischer Observanz. Der Typus ist nach seinen Um- rissen bekannt; ihn im einzelnen nachzuzeichnen und aus den Anschauungen der augusteischen Zeit begreiflich zu machen, wäre eine wichtige und reizvolle Aufgabe, aber sie fällt einer Geschichte der römischen Moral, nicht einer Darstellung der virgilischen Kunst zu. Auch die Bedeutung dieses Typus für das Ganze des Gedichts kann nicht hier, sondern erst bei der Behandlung des Übernatür- lichen ins rechte Licht treten, denn gerade für Aeneas' Charakter ist sein Verhältnis zum Fatum und den Göttern das Wesentliche.

1) Serv. XI 700 Ligures autem omnes faUaces sunt, sicut ait Cato in seeundo ariginum libro. Dann Nigidius bei Senr. ebd. 716 Ligures qui Appenninwm Unuerunt, latrones insidiosi fallcices mendaces. Vgl. Cic. pro Clnentio 72: Staienns (qui esset totus ex fraude et mendacio (actus) hat sich von den cognomina der Aelier Paetus gewählt ne si se Ligurem fecisset, nationia magis quam generis uti cognomine videretur: das war also volks- ifimliohe Anschaunng.

270 Zweites Kapitel. Erfindung.

Hier hat uns eine andere sehr wichtige Frage zu beschäftigen. Es liegt auf der Hand, daß Aeneas in den verschiedenen Teilen des Gedichts durchaus nicht derselbe ist. Man hat ihn so oft als „Musterrömer" proklamiert, der ein Vorbild sein solle für die junge Generation, und der gerade durch seine Musterhaftigkeit zum abstrakten Schemen ohne Fleisch und Blut geworden sei. Ich gestehe, daß es mir in der ersten Hälfle des Gedichts mit der Musterhaftigkeit nicht eben weit her zu sein scheint^), und glaube, daß Virgil nicht anders geurteili; hat. Gewiß, Aeneas, der die Penaten, der Vater und Sohn rettet, der in der Nykto- machie gezeigt hat, daß er den Tod nicht fürchtet, darf als tapfer und liebevoll gelten: aber damit ist doch nicht alles getan. Ein Mann, der bei einbrechenden Gefahren so wenig Besonnenheit besitzt daß er von furor und ira hingerissen blindlings in den Kampf stürmt, ohne auch nur daran zu denken, die Seinen vorher in Sicherheit zu bringen; der dann bei der Flucht die Besinnung so sehr verliert, daß er erst am Sammelplatz des inne wird, sein Weib verloren zu haben; der erinnern wir uns an die Be- gegnung mit Venus in I in laute Klagen über sein trauriges Los ausbricht und den tröstlichen Versicherungen seiner gött- lichen Mutter nicht zu trauen wagt, ehe ihn der Augenschein überzeugt; der sich von süßer Liebe so gefangen nehmen läßt, daß er seine hohe Bestimmung vöUig vergißt und durch Juppiter mit harten Scheltworten daran gemahnt werden muß; der endlich durch den Schiffsbrand in Sizilien trotz der sichtbarlichen Er- hörung seines Gebets sich derart entmutigen läßt, daß er wieder daran denkt, fatorum dblitus bei dem guten Freunde Aeestes in guter Ruh zu bleiben, und den der alte Nantes wieder an seine höchste Pflicht gemahnen muß das soll, frage ich, noch ein Musterrömer sein, ein leuchtendes Vorbild der jungen Generation? War denn Virgil wirklich so jeden Verständnisses bar für das.

1) Das haben bekanntlich viele empfunden ; keiner hat es schärfer und beredter ausgesprochen als Saint -!^vremont (in: Bäflexions sur nos traduc- teurs). Aber die Kritik, die man zu üben pflegt, ist teils unbillig (daß z. B. Aeneas beim Seesturm nicht handelt wie Odjsseus, hat der Dichter völlig ausreichend motiviert), teils richtet sie sich an die falsche Adresse, wenn sie Virgil vorwirft, keinen Helden gezeichnet zu haben, wo er keinen zeichnen wollte. Eine ganz andere Frage ist die, ob es Virgil gelungen ist, seine Intention energisch zum Ausdruck zu bringen.

Aeneas. 271

was den Helden aasmacht? und glaubte er wirklich , das Bild dieses Helden nicht zu trüben, wenn er ihn immer wieder gegen das Gebot verstoßen ließ, das er doch selbst geflissentlich als das oberste hinstellt: das Gebot, dem Willen der Götter in stand- hafter Ergebung zn folgen? Gewiß sind alle jene Handlungen der Übereilung und Schwäche sorgfaltig aus der Situation heraus motiviert; aber auf einen anderen Charakter hätte die Situation anders gewirkt. Und wenn es dem Dichter nicht zum Bewußt* sein kam, wie sehr sein Bild dem Ideal, das er selbst aufgestellt hatte, nicht entsprach: wie kommt es, daß doch der Held diesem Ideal je länger je mehr sich nähert und in den letzten Büchern nun wirklich ihm völlig entspricht? Man könnte meinen, das bringe die Handlung so mit sich, imd bis zu einem gewissen Grade hätte sie das wohl tun können; aber man wird durch den Zwang der Handlung z. B. nicht motivieren können, daß sich Aeneas der Unbill des Schicksals gegenüber in Y so glmz anders benimmt als in XU. Ich kann mich nicht entschließen zu glauben, daß der ZufaU einen der größten künstlerischen Gedanken ohne Willen und Wissen des Dichters in das Gedicht eingeschmuggelt habe> und sehe in dem Wandel des Helden wohlerwogene Absicht des Dichters. Betrachten wir denn einmal Aeneas nicht als ein von Anfang an fertiges Ideal, sondern als einen in der Schule des Schicksals werdenden Helden.

Bei der Hiupersis zeigt sich Aeneas, was Vaterlandsliebe und aufopfernde Tapferkeit anlangt, von der besten Seite: nicht so, wie ich schon oben andeutete, im Punkte der überlegten Besonnen- heit; er betont selbst wiederholt, daß ihn die nötige Besinnung verlassen habe: Venus muß ihn von einem Schritte der Verzweif- lung zurückhalten, der seinen Tod und damit auch den Untergang der Seinen zur Folge gehabt hätte. Während der Irrfahrten ist es Anchises, der die Leitung in Händen behält und die Wei- sungen gibt, denen Aeneas sich willig fügt, als lediglich aus- führendes Organ des väterlichen Willens, der seinerseits dem göttlichen sich unterordnet. Man hat die deutliche Empfindung, daß bei Lebzeiten des Anchises die karthagische Episode nicht möglich gewesen wäre. Nach seinem Tode ist Aeneas der Führer der Schar; er ist sich nach dem großen Unglück, das augenblicks hereinbricht, seiner Verpflichtungen wohl bewußt und sorgt für die Seinen, nicht nur für ihr leibliches Wohl, sondern auch für

272 Zweites Kapitel. Erfindung.

Trost und Herzstärkung: er verweist sie^ ganz wie das Anchises getan haben würde, anf den Willen und die Verheißungen des Fatum (I 205); Gott wird auch diesem Leid ein Ende machen (199). Aber und das ist ein ungemein charakteristischer Zug

er selbst ist von dem Gottvertrauen, das er den Seinen einzu- flößen sucht, nicht im innersten erfüllt: curia ingentibus aeger spem voltu simulai (208). Das zeigt sich sofort in dem Gesprach mit Venus: statt des Fatum und der göttlichen Fürsorge glaubig zu gedenken, klagt er, daß er, pius Aeneas^ der doch nur den ihm gegebenen Schicksalssprüchen Folge geleistet habe, nun in dies Elend gestoßen sei nee plwra querentem passa Venus (385). Der Trost, den sie ihm spendet, geht fast spurlos an ihm vorüber

er ist wahrlich nicht stark im Glauben; erst beim Anblick der Mitleid atmenden Tempelbilder „wagt er auf Rettung zu hoffen und seine traurige Lage mit größerer Zuversicht zu tragen" (451). Dido nimmt ihn auf; die Liebe fesselt ihn; er ist in größter Gefahr zu „verliegen" foHsque datas non respicit urbiSy als ihn der Befehl Juppiters aus der pflichtvergessenen Buhe aufschreckt: heu regni rerumque dblite tuarum schilt ihn Mercur (IV 267) und appelliert nach Juppiters Befehl gar nicht mehr an seinen eigenen Drang nach ruhmvollen Taten, sondern an seine Vater- pflicht gegen Ascanius man kann kaum härter sein. Aber die Mahnung hat wenigstens Erfolg, Aeneas unterdrückt seine eigenen Herzenswünsche, bleibt für alle Bitten und Klagen taub und verlaßt das geliebte Land. Man könnte meinen, das Ziel, dem er ein «olches Opfer gebracht hat, stünde nun unverrückbar für ihn fest: aber noch immer hat er das andauernde Gott- und Schicksals- vertrauen nicht gewonnen, das dem Auserkorenen ziemt. Das Gebet, das er beim Schiffsbrande an Juppiter richtet, ist nicht das eines unerschüttert Glaubigen (V 691); und trotzdem der Gott es erhört, verfällt Aeneas in kleinmütige Zweifel: der alte Nantes muß die Rolle des beratenden Anchises übernehmen und

wieder sehr charakteristisch eben das, was Aeneas den Genossen früher als Trost und Stärkung spendete, ihm entgegen- halten: quo fata trahunt retrahuntque sequamur; quidg^id erü, saperanda amnis fortuna ferendo est (709). Der Rat macht auf Aeneas tiefen Eindruck (incensus dictis senioris amici 719), ohne ihm doch nun völlige Zuversicht zu geben; das bewirkt erst die (Geistererscheinung des Anchises nebst dem, was sie zur Folge

AeneaB. 273

luit: hier hat der Dichter einen Wendepunkt markieren wollen.^) Milien Wendepunkt im Schicksal des Aeneas: Anchises yerkündet ^em Sohn, daß Juppiter cado tandem misera4us ab aUo est ^MA kann wegen des tandemj das auf die Anrede fMite lliacis txercUe foHs Bezug nimmt, nicht nur auf das Löschen des Schiffis- biandes, muß vielmehr auf das gesamte Schicksal gehen. Dann besifitigt Anchises den Rat des Nantes und fügt den neuen hinzu, Xbn in der Unterwelt aufzusuchen: tum genus omne timm et quae

^Xeitkir moenia disces. Die Wirkung auf Aeneas ist augenblicklich

^Mjm] zuversichtlich und sicher tritt er auf:

extemplo socios primumque arcessit Äcesten et lovis imperium et cari praecepta parentis edocet et quae nunc animo sententia constet,

^^or allem aber lehren die Worte des Aeneas nach der Prophe-

^^ung der Sibylle, daß er innerlich ein anderer, festerer geworden

^^: sie hat ihm Schlimmeres noch, als er bisher erduldete, Tor-

^usgesagty aber statt zu klagen und zu zagen spricht er das stolze

^ort (VI 103)

non uUa täborum, 0 virgo, nova mi fades inopinave surgit: amnia praecqpi atque animo mecum ernte peregi:

darin hat der Stoiker Seneca die Haltung des Weisen gegenüber drohenden Schicksalsschlägen beschlossen gefunden (epist. 76, 33).') Die Heldenschau aber imd das ist ihre wichtigste Aufgabe in der Ökonomie des Ganzen soll dazu dienen, diese Stimmung za kräftigen: darum, sagt Anchises, habe er schon längst gewünscht, dem Sohne die Zukunft; seines Geschlechts zu zeigen, quo magis Jtaiia mecum laetere reperta (718); den Ruhm der Nachfahren will er ihm künden (757), und als er zum Gipfel dieses Ruhmes j;elangt ist, zu Augustus, spricht er die Worte, die nur aus der sozusagen protreptischen Absicht des Ganzen verständlich sind

1) Vgl auch Plüß 166».

8) Vgl. Norden z. St., der auch darauf hinweist, daß praecipere ein «toischer Terminus ist: Cic. de off. 1 80 f. fortis antmi et constantis est non per- turbari in relms cisperis . . .; quamquam Jioc animi, iüud etiam ingenii magni ^H praecipere cogitatione futura et aliquanto ante conatituere, quid accidere poitU in utramque partem.

Httinstt, Tirgili epische Technik. 8. Anfl. 1%

274 Zweites EftpiteL Erfindung.

und die zugleich, riohtig yerstandeiiy eiue stiurkere Huldig^mig flr Augostus enthalten als aller sonstiger Lobpreis (806):

et duhitamus adhuc^ virMem extendere fadis, aid mehis Ausonia prohibet consistere terra?

In den kommenden Gefahren gilt es nun, die gewonne&e seelische Sicherheit in Tat umzusetzen. Das geschieht nicht so^ daß Aeneas Yon vornherein, in fröhlichem Gottrertrauen alle Oe&hr mißachtend, auft Ziel losstürmte; Yirgil spart sich eine Steigerung bis zum Schlüsse auf. Als der Krieg droht, sehen wir Aeneas nicht in Klagen und Verzweiflung aber in Sorgen und vielfacher Überlegung^), wie sie dem Führer wohl ziemen; und als das Gesuch bei Euander nicht den gehoffben Erfolg hat und neue Ungewißheit eintritt, versinkt Aeneas von neuem in ernstes Sinnen. Aber der große Unterschied g^pen die früheren ähnlichen Situationen ist erstens der, daß er nun keines menschliehen Rats und Zuspruches (wie in Y von Nautes) mehr bedarf; und sodann, daß er der Traumweisung des Tiberinus und dem Himmelszeichen der Venus freudiges und unbedingtes Vertnaem schenkt: man vergleiche nur seine Worte VIU 532 ff. mit dem Erfolg von Yenusf leibhaftiger Erscheinung in I. Die neue Stimmung spricht auch aus den Worten, mit denen er sich bei Euander einführt (131):

mea me virtm et sancta aracula divom coniunxere tibi et faUs egere voleniem.

Man sieht, er ist so weit, sich vom Schicksal führen, nicht mehr ziehen zu lassen. Aber erst im Kampfe selbst zeigt sich der Held auf der vollen Höhe, von der er nun nicht mehr herab- steigt. Der Mythus drückt dies so aus, daß auch die göttliche Einwirkimg und Hilfe ganz in den Hintergrand tritt: Juppiter weiß, daß er ihn sich selbst überlassen kann, seinem animus ferox patiensque peridi (X 610). Nun kann ihn der Tod des Pallas zwar tief schmerzen, aber keinen Augenblick von seinen Pflichten abhalten (XI 2. 96); dem Zweikampf mit Turnus, den er endlich durchgesetzt zu haben glaubt, geht er mit unbedingtem Vertrauen

1) ym 29 tristi turbatus pectora bella, turhatue übrigens nicht Werwirrt' sondern 'erregt': turbatae Palladis arma YJJl 435.

Aeneail. 27t

«of die Fata entgegen und floßt dies Vertrauen den Seinen eiii^ (X 115), und als der Vertrag durch Verrat vernichtet ist) er selbst^ ^ verwundet dem Kampfe fernbleiben muß, der Feind die Ober- hand gewinnt, yerzagt er keinen Augenblick: mit dem Schwert M 8(A man ihm den Pfeil aus der Wunde schneiden ^ wenn er nur ^ ih den Kampf zurückkehren darf (381). Als er das tut, richtet er die Abschiedsworte an Ascanius, aus denen die abgeklärte f Sedenmhe spricht, wie sie dem Weisen ziemt: der Verzicht auf Ghiast des Olückes, das Bewußtsein des eignen Werts, die Zurersicht auf endlichen Erfolg: so darf er sich selbst als ^-'E M.mpbtm dem Sohne hinstellen.^)

Fragt man, wo Virgil die Anregung gefanden hat, eine solche

C^Iwakterentwieklung durchzuführen, so wird man schwerlich

A^Kft Poeten als Vorganger denken dürfen. Nicht als ob der antiken

^^oesie die Charakterentwicklung fremd gewesen wäre: ich wüßte

nieh^ wie man die seelischen Vorzüge, die Euripides

Medea und Hekabe uns miterleben läßt, anders be-

sollte, g^anz abgesehen von den gröberen, vielleicht durch

^i« Schuld der Bearbeiter yergröberten Gharakterwandlungen der

IK.cmSdie.') Aber hier liegen durchaus individuelle Entwicklungen

'^or, und in der Tn^die sieht man deutlich, daß des Dichters

Grobian dies war, eine bestimmte, ganz singulare Tat glaublich

zu machen. Anders Virgil. Ihm schwebte nicht die Aufgabe

k ^or, einen Einzelfall seelischen Lebens zu analysieren, und seine

ft Absicht war nicht, Aeneas durch jene anfänglichen Abweichungen

V 1) Xn 485 disee pner virtutem ex me vemmque laborem, forttmam ex

t ottf . . . le offtmo repetentem exempla tuarum et pater Äeneas et ammeulus I tSBciiet Heetor, So hätte er in 11 nicht sprechen können. Ich verkenne oichi, daß nach unseren Begriffen ein deutlicheres Hervortreten der Absicht Virgilfl m wünsehen wäre, wie er denn z. B. zu Beginn von VIU, um die Etaeheinung des Tiberinns zu motiyieren, die sorgenvolle Stimmung des Aeneas in fltarkeren Ansdrficken geschildert hat, als jener Intention dien- lieh ist. Aber deshalb, weil Virgil nirgends als Erzähler mit unzweideutigen Worten leine Absicht kund tut, darf man sie nicht leugnen, denn solche Hinweise Teimeidet er überhaupt; er erzählt einfach und überläßt die Be- urteilung dem Leser.

8) Tmculentus; Demea in den Adelphen. Was bei H. Steinmann, de ofÜB poeHeae veteris parte quae est tisqI f\^äiv p. I (Göttinger Diss. 1907) unter dem Titel de morwm mutatiane (64 ff.) aus den Scholien zusammen- gebradit hat, besieht sich freilich fast aasnahmslos auf Entstehen, Wachsen und Schwinden der nd^ri,

18*

^

Zweites Kapitel. Erfindong.

|ijn der rechten Linie als Individualität zu charakterisieren, die ^Ach so Ton anderen Heldengestalten des Mythus abheben sollte: unmöglich kann es ja in seinem Plane gelten haben, den von der Vorsehung zu großen Dingen Erkorenen aU einen im Ghrunde , Verzagten und Schwachen zu zeichnen. Vielmehr, wie der voll- kommene Held Aeneas das Abbild des ^Weisen' ist, so ist der werdende Held der Typus des Tortschreitenden', wie ihn die Stoa geplagt hat. Nicht mit einem Sprunge wird ja auch vom Auserlesenen das höchste Ziel der Sittlichkeit erreicht: die un- verbrüchliche Beherrschung der Affekte und die Felsenfestigkeit gegenüber den Launen der Fortuna ist der Preis eines zähen Strebens, bei dem Rückfälle in den alten Zustand der Schwäche und ^Torheit' nicht ausbleiben können und das keiner ohne gott- liche Hilfe durchzusetzen vermag.^) Die philosophische Belehrung über die Göttlichkeit der Welt und der Menschenseele, über das Ziel und die Wege zum Ziel, legt den Grund zur sittlichen Wiedergeburt; die klare unverrückbare Einsicht in das Wesen der Dinge, die dem Aeneas durch die Offenbarung in der Unterwelt zuteil wird, ist das Resultat der Lehre. Bewähren muß sich diese Einsicht in der Not des Lebens: darum fällt auch dem Aeneas die Ejone nicht als Gabe der Fortuna in den Schoß, sondern er hat sich ihrer würdig zu erweisen, indem er sie den Feinden in gerechtem Kampfe abringt.')

Daß Virgil es wagt, dies typische Schicksal der emporstreben-

1) Seneca epp. 42, 2 banus vir sine deo nemo est; anpotes^ äliquis super fortunam nisi ab iUo adiutus exsurgere? iüe dtxt consüia PMgmfiea et ereeia. Dieser *Gott' ist in nns: das Bild des Mythus stellt ihn dem Menschen als Person gegenüber.

2) Einige Sätze Senecas können am besten verdeutlichen, wie Viigil die 'Prüfungen' seines Helden aufgefaßt wissen wollte (Dial. I 4): prosperae res ei in plebem et in vilia ingenia deveniunt: at calamiUxtes terraresque mor- talium sab iugtrni mittere proprium magni viri est . . , deus quos probait, quos amat, indwrat, recognoscit^ exercet (V 726 redet Anchises den Sohn an nate Iliacis exercite fatis) . . . verberat nos et Iqcerat fortuna: patiamur; non est saevitia: certamen est, quod si saepius adierimus, fortiores erimus. soH- dissima corporis pars est quam frequens usus agitavit: praebendi fortunae sumus, ut contra ülam ab ipsa duremur. paulatim nos sibi pares faeit, contemptum pericuhrum adsiduitas periculi dabit . . . quid miraris bonos vires, ut confirmentwr, concuti? non est arbor solida nee fortis nisi in quam fre- quens ventus incursat. ipsa enim vexatione constringitur et radiees certiu figit. fragiles sunt quae in aprica volle creverunt

Aeneas. Ideale und Indiyidnen. 277

den Menschenseele im Bilde des Aeneas zn yerköipem ebenso wie er das Walten der göttlichen Yorsehong, so wie sie die Stoa lehrte, im Bilde Jnppiters verkörpert ist gewiß etwas Großes; aber es ist nun wohl ganz deutlich geworden/ daß yon eigentlich personlicher Charakteristik hier nicht die Rede sein kann. Und ahnlich wie mit Aeneas steht es mit anderen Personen des Ge- dichts. Nicht ein Mensch in seiner Eigenart wird gezeichnet, wie er einmal auf Erden wandelte und niemals wiederkehren wird; auch wird nicht von der Beobachtung des Lebens ausgegangen; sondern Anfangspunkt der Charakterschilderung ist ein Ideal, und der Mensch unterscheidet sich in seinen Entwicklungsstadien sowie yon an- deren Menschen durch den Grad seiner Annäherung an dies Ideal; nicht eigentlich durch die Eigenschaften, die er besitzt, sondern durch diC; die ihm mangeln.

3. Dido als Ideal der heroischen Königin habe ich bereits oben .geschildert: sie wäre vollkommen, er^ge sie nicht der Versuchung, >^e alles überwältigend an sie herantritt. Camilla das Ideal der JBjiegerjungfrau: nur in einem Zuge zollt sie der weiblichen Natur ^ahren Tribut; das ffihrt zu ihrem Verderben. Latinus das Ideal «des Königs: fromm, besonnen, freigebig, gerecht^ mildherzig; nur eines fehlt ihm: die constantia. Er hat bis ins Greisenalter fried- lich über ein friedliches Volk geherrscht; da er dem Grabe schon nahe steht^ wird er plötzlich in eine Lage versetzt, wo es gälte, das für recht Erkannte gegen den Ansturm seiner gesamten Um- gebung, seines Hauses, seiner Untertanen zu behaupten da —■ ■^^•H seine Kraffc. Das Gegenbild ist Priamus, der ein kampf- ^tes Leben hinter sich hat: er bleibt der Krieger bis zum an Augenblick, und als der Sohn vor seinen Augen fällt, vergißt 27 daß er ein schwacher Greis ist, und schleudert die ohnmächtige . fßDX/e gegen den Feind. Weiter Turnus, in allem das Ideal ^kraftvoller^ entschlossener Männlichkeit nur, wie ich oben\) Suisführte, consili experSy ohne Besonnenheit und Mäßigung. Hezentius, mit allen Eigenschaften ausgerüstet, die den Helden seren: nur ohne Gottesfurcht und die eng damit verbundene kumaniUiS] das entfremdet ihm sein Volk und treibt ihn in den Krieg, in dem er erliegt. Hier tritt als eigentümlicher Zug die

1)8. 209 fg.

^

Zweites Kapitel. Erfindung.

fun der rechten Linie als Individaalitat zu charakterisieren, die y>.5ich so von anderen Heldengestalten des Mythus abheben sollte: unmöglich kann es ja in seinem Plane gelegen haben, den von der Vorsehung zu großen Dingen Erkorenen als einen im Gh-onde . Verzagten und Schwachen zu zeichnen. Vielmehr, wie der voll- kommene Held Aeneas das Abbild des ^Weisen' ist, so ist der werdende Held der Typus des Tortschreitenden', wie ihn die Stoa geprägt hat. Nicht mit einem Sprunge wird ja auch vom Auserlesenen das höchste Ziel der Sittlichkeit erreicht: die un- verbrüchliche Beherrschung der Affekte und die Felsenfestigkeit gegenüber den Launen der Fortuna ist der Preis eines sahen Strebens, bei dem Bückfälle in den alten Zustand der Schwäche und Torheit' nicht ausbleiben können und das keiner ohne gott- liche Hilfe durchzusetzen vermag.^) Die philosophische Belehrung über die Göttlichkeit der Welt und der Menschenseele, über das Ziel und die Wege zum Ziel, legt den Grund zur sittlichen Wiedergeburt; die klare unverrückbare Einsicht in das Wesen der Dinge, die dem Aeneas durch die Offenbarung in der Unterwelt zuteil wirdy ist das Resultat der Lehre. Bewähren muß sich diese Einsicht in der Not des Lebens: darum fällt auch dem Aeneas die Krone nicht als Gabe der Fortuna in den Schoß , sondern er hat sich ihrer würdig zu erweisen, indem er sie den Feinden in gerechtem Kampfe abringt.')

Daß Virgil es wagt, dies typische Schicksal der emporstreben-

1) Seneca epp. 42, 2 honu» vir sine deo nemo est; an potest aliquis super fortunam nisi ab tüo aditOus exsurgere? iüe dat consüia fnagnifica et erecta. Dieser *Gott' ist in uns: das Bild des Mythus stellt ihn dem Menschen als Person gegenüber.

2) Einige Sätze Senecas können am besten verdeutlichen, wie Viigil die ^Prüfungen' seines Helden aufgefaßt wissen wollte (Dial. I 4): prosperae res et in plebem et in vilia ingenia deveniunt: at cälamitates terroresque mar- talium sfib iugum mittere proprium magni viri est , . . deus quos probat, q%§os amat, indurat, recognoscit^ exercet (V 726 redet Anchises den Sohn an nate Iliacis exercite fatis) . . . verberai nos et Iqcerat fortuna: pcOiamur; non est saevitia: certamen est, quod si saepiw adierimus, fortiores erimus. soli- dissima corporis pars est quam frequens usiis agitavit: praebendi fortunae sumus, ut contra ülam ab ipsa duremur. paulatim nos sibi pares faeit, contemptum pericUlorum adsiduitas periculi dabit . . . quid miraris bonos viros, ut confirmentur, concuti? non est arbor soUda nee fortis nisi in quam fire- quens ventus incursat. ipsa enim vexatione constringitur et radices certiu ßgit. fragiles sunt quae in aprica volle creverunt

Aeneas. Ideale und Individuen. 277

den Menschenseele im Bilde des Aeneas zu yerkörpem ebenso wie er das Walten der göttlichen Yorsehong; so wie sie die Stoa lehrte, im Bilde Juppiters verkörpert ist gewiß etwas Großes; aber es ist mm wohl ganz deutlich geworden/ daß von eigentlich persönlicher Charakteristik hier nicht die Rede sein kann. Und ähnlich wie mit Aeneas steht es mit anderen Personen des Ge- dichts. Nicht ein Mensch in seiner Eigenart wird gezeichnet, wie er einmal auf Erden wandelte und niemals wiederkehren wird; auch wird nicht von der Beobachtung des Lebens ausgegangen; sondern Ausgangspunkt der Charakterschilderung ist ein Ideal, und der Mensch unterscheidet sich in seinen EntwickluDgsstadien sowie yon an- deren Menschen durch den Grad seiner Annäherung an dies Ideal; nicht eigentlich durch die Eigenschaften, die er besitzt, sondern durch die, die ihm mangeln.

3. Dido als Ideal der heroischen Königin habe ich bereits oben geschildert: sie wäre vollkommen, erläge sie nicht der Versuchung, .die alles überwältigend an sie herantritt. Camilla das Ideal der Sjri^erjnngfrau: nur in einem Zuge zollt sie der weiblichen Natur ihren Tribut; das ftlhrt zu ihrem Verderben. Latinus das Ideal des Königs: fromm, besonnen, freigebig, gerecht, mildherzig; nur eines fehlt ihm: die constaniia. Er hat bis ins Greisenalter fried- lich über ein friedliches Volk geherrscht; da er dem Grabe schon nahe steht^ wird er plötzlich in eine Lage versetzt, wo es ^te, das für recht Erkannte gegen den Ansturm seiner gesamten Um- gebung, seines Hauses, seiner Untertanen zu behaupten da versagt seine Kraft. Das Gegenbild ist Priamus, der ein kampf- bewegtes Leben hinter sich hat: er bleibt der Krieger bis zum letzten Augenblick, und als der Sohn vor seinen Augen fällt, vergißt eXj daß er ein schwacher Greis ist, und schleudert die ohnmächtige Lanze gegen den Feind. Weiter Turnus, in allem das Ideal kraftvoller, entschlossener Männlichkeit nur, wie ich oben^) ausführte, consili expers, ohne Besonnenheit und Mäßigung. Mezentius, mit allen Eigenschaften ausgerüstet, die den Helden zieren: nur ohne Gottesfurcht und die eng damit verbundene hiMnunitas] das entfremdet ihm sein Volk und treibt ihn in den Krieg, in dem er erliegt. Hier tritt als eigentümlicher Zug die

1) S. 209 fg.

276 Zweites Kapitel. Erfindung.

v^n der rechten Linie als Indiyidaalitat zu charakterisieren , die ^ich so von anderen Heldengestalten des Mythus abheben sollte: unmöglich kann es ja in seinem Plane gelegen haben^ den von der Vorsehung zu großen Dingen Erkorenen als einen im Grunde Verzagten und Schwachen zu zeichnen. Vielmehr, wie der yoU* kommene Held Aeneas das Abbild des ^Weisen' ist, so ist der werdende Held der Typus des Tortschreitenden', wie ihn die Stoa geprägt hat. Nicht mit einem Sprunge wird ja auch yom Auserlesenen das höchste Ziel der Sittlichkeit erreicht: die un- yerbrüchliche Beherrschung der Affekte und die Felsenfestigkeit gegenüber den Launen der Fortuna ist der Preis eines zähen Strebens, bei dem Bückfälle in den alten Zustand der Schwäche und 'Torheit' nicht ausbleiben können und das keiner ohne gött- liche Hilfe durchzusetzen vermag.^) Die philosophische Belehrung über die Göttlichkeit der Welt und der Menschenseele, über das Ziel und die Wege zum Ziel, legt den Grund zur sittlichen Wiedergeburt; die klare unverrückbare Einsicht in das Wesen der Dinge, die dem Aeneas durch die Offenbarung in der Unterwelt zuteil wird, ist das Resultat der Lehre. Bewähren muß sich diese Einsicht in der Not des Lebens: darum fällt auch dem Aeneas die Krone nicht als Gabe der Fortuna in den Schoß, sondern er hat sich ihrer würdig zu erweisen, indem er sie den Feinden in gerechtem Kampfe abringt.')

Daß Virgil es wagt, dies typische Schicksal der emporstreben-

1) Seneca epp. 42, 2 hanus vir sine deo nemo est; an polest aliquis super fortunam nisi ab iUo adiutus exsurgere? ilie dat consüia magmfica et ereeta. Dieser *Gott' ist in uns: das Bild des Mythus stellt ihn dem Menschen als Person gegenüber.

2) Einige Sätze Senecas können am besten verdeutlichen, wie Viigil die ^Prüfungen' seines Helden aufgefaßt wissen wollte (Dial. I 4): prosperae res et in plebem et in vilia ingenia deveniunt: at calamitates terroresque mop- talium sub iugum mittere proprium magni viri est . * , deus quos probat, quos amat, indurat, recognoscit, exercet (V 726 redet Anchises den Sohn an nate Iliacis exercite fatis) . . . verberat nos et lacerat fortuna: patiamur; non est saevitia: certamen est, quod si sa^us adierimus, fortiores erimus, soli- dissima corporis pars est quam frequens usus ctgitavit: praebendi fortunae sumus, ut contra ülam ab ipsa duremur. paulatim nos sibi pares facit. contemptum periculorum adsiduitas periculi dabit . . . quid miraris bonos viros, ut confirmentur, concuti? non est arbor solida nee fortis nisi in quam fre- quens ventus incursat, ipsa enim vexatione constringitur et radiees certiu ßgit. fragiles sunt quae in aprica vcUle creverunt

Aeneas. Ideale und Individuen. 277

den Menschenseele im Bilde des Aeneas zn yerkorpem ebenso wie er das Walten der göttlichen Yorsehong, so wie sie die Stoa lehrte, im Bilde Juppiters verkörpert ist gewiß etwas Großes; aber es ist nun wohl ganz deutlich geworden/ daß von eigentlich persönlicher Charakteristik hier nicht die Rede sein kann. Und ähnlich wie mit Aeneas steht es mit anderen Personen des Ge- dichts. Nicht ein Mensch in seiner Eigenart wird gezeichnet, wie er einmal auf Erden wandelte und niemals wiederkehren wird; auch wird nicht von der Beobachtung des Lebens ausgegangen; sondern Ausgangspunkt der Charakterschilderung ist ein Ideal, und der Mensch unterscheidet sich in seinen Entwicklungsstadien sowie von an- deren Menschen durch den Grad seiner Annäherung an dies Ideal- nicht eigentlich durch die Eigenschaften, die er besitzt, sondern durch die, die ihm mangeln.

3. Dido als Ideal der heroischen Königin habe ich bereits oben geschildert: sie wäre vollkommen, erläge sie nicht der YersuchuDg, .die alles überwältigend an sie herantritt. Camilla das Ideal der Kriegerjungfrau: nur in einem Zuge zollt sie der weibh'chen Natur ihren Tribut; das fährt zu ihrem Verderben. Latinus das Ideal des Königs: fromm, besonnen, freigebig, gerecht, mildherzig; nur eines fehlt ihm: die constantia. Er hat bis ins Greisenalter fried- lich über ein friedliches Volk geherrscht; da er dem Grabe schon nahe steht, wird er plötzlich in eine Lage versetzt, wo es gälte, das für recht Erkannte gegen den Ansturm seiner gesamten Um- gebung, seines Hauses, seiner Untertanen zu behaupten da versagt seine Kraft. Das Gegenbild ist Priamus, der ein kampf- bewegtes Leben hinter sich hat: er bleibt der Krieger bis zum letzten Augenblick, und als der Sohn vor seinen Augen fällt, vergißt er, daß er ein schwacher Greis ist, und schleudert die ohnmächtige Lanze gegen den Feind. Weiter Turnus, in allem das Ideal kraftvoller, entschlossener Männlichkeit nur, wie ich oben^) ausführte, comili expers, ohne Besonnenheit imd Mäßigung. Mezentius, mit allen Eigenschaften ausgerüstet, die den Helden zieren: nur ohne Gottesfurcht und die eng damit verbundene humanitas', das entfremdet ihm sein Volk und treibt ihn in den Krieg, in dem er erliegt. Hier tritt als eigentümlicher Zug die

1) S. 209 fg.

278 Zweite! Ki^iteL Eifindimg.

Liebe zum Sohne hinzu, und es entsteht eine Antithese des Charakters, die Victor Hugo Ehre machen wtLrde. Beim Schifis- wettkampf ist das Ideal des Führers Gloanthus; von seinen Gegnern fehlt Gyas durch eigenwilligen Trotz, Sergestus durch rasendes Ungestüm, Memmius unterliegt im letzten Augenblick, weil er sich des Beistandes der Götter nicht versichert

Die Technik der Gharakterkonstruktion wird damit zur Genüge bezeichnet sein. Es leuchtet ein, daß die Folge dieser Technik ein Überwiegen genereller, ein Zurücktreten individueller Züge sein muß, und darin liegt eine Schwäche der virgilischen Gharak- ieristik. Die Mehrzahl der Beurteiler ist freilich, in dem Gefühl scharf ausgeprägte Individuen nicht zu finden, gegen die relativen Vorzüge der Gharakteristik ungerecht geworden. Es fehlt an solchen nicht; ich hoffe in dem, was ich früher z. B. über Tnmns sagte, gezeigt zu haben, daß die Person keineswegs ein bloßer Schemen des konventionellen Heros ist, daß vielmehr der ein- fache Grundzug des Gharakters lebendig und konsequent in den verschiedensten Situationen durchgeführt und nuanciert ist, mit wohl berechneter Steigerung und manchem fein beobachteten Detail, durch Kontrastwirkungen in helleres Licht gesetzt. Alle diese Züge sind freilich sehr diskret angebracht und konnten am so eher flüchtiger Betrachtung entgehen: man wird es dem Dichter als weiteren Vorzug anrechnen müssen, daß er nirgends kraß auftragt, sondern grobe Wirkungen durchweg verschmäht. Er würde das Yers1»ndnis seiner Absichten erleichtert haben durch direkte Gharakterisiemng; auch darauf verzichtet er fast durch- weg, wo nicht, wie in Euanders Bericht über Mezentius, die Hand- lung es verlangt; nur bei einer Nebenfigur wie etwa bei Drances berichtet der Dichter selbst über Motive des Handelns, die in der Handlung selbst zu entwickeln nicht anging (XI 336). Gharak- terisierende Epitheta freilich pifis AeneaSj Mezentius contemptor divom, Messapus acer vermeidet er nicht, sondern folgt in ihrer Verwendung der epischen Tradition; aber er speist uns mit den Epithetis nicht ab, sondern hält darauf, sie in der Handlung zu bewähren.

b. Handlungen.

Äußerlich betrachtet, ereignet sich in der Aeneis so ziemlieh das gleiche wie in Odyssee und Uias. Der tiefere unterschied der

Technik der Chankterisierung. Handlungen. 279

b«iden Handlungen beruht darauf, daB bei Virgil mit sehr viel gröflerer Entschiedenheit als bei Homer das Schwergewicht von den ftaßeren auf die inneren Vorgänge, vom Körperlichen an& Seelische verlegt ist

Auch in der Odyssee treten die seelischen Voi^ange schon mehr in den Yordergrond; aber daneben, wie nahe an Wert und Bedentnng stehen ihnen noch die physischen, körperliches Genießen und Entbehren, Leiden und Handehi. Wir erleben mit den Gefährten des Odysseus, was es heißt, Tag nnd Nacht an der Ruderbank zu flitBen, g^en Müdigkeit und Ermattung mit aller Kraft anzn- Umpfen, den Hungertod vor Augen zu sehen; wir empfinden mit Odysseus, wenn er schwimmend im weiten Meer in unerhörter An- spannung die Küste erreicht, um dann von der Brandung gegen den Fels geschleudert zu werden und mit zerschundenen Händen ins Meer zurückzufallen; i(fvii(i€vog ijv injx;ijv in greifbarer Deut- lichkeit ist Odysseus auf der Heimfahrt: wie oft entgeht er nur mit knapper Not jämmerlichem Tode. Er spannt mit leichter Mühe den Bogen, was keiner der Freier vermochte: so muß er ■ie auch im blutigen Streite besiegen. Aber auch der körperliche Ctenuß kommt so zu seinem Rechte: wir empfinden, was dem Hungernden ein Mahl, dem Frierenden ein Mantel, der vom salzigen Meerschaum zerfressenen Haut ein Bad bedeutet. Und vollends in der Uias: wie eindringlich wird uns nicht nur der Schmers der Wunde, auch die ungeheure körperliche Anstrengung, die stundenlanger Kampf in schwerer Rüstung und mit schwerem Schilde verlangt, vorgeführt. Das alles zeigt die Aeneis höchstens in Andeutungen.^) Aeneas und die Seinen sehen wir auf der Fahrt nur «nmal beim Seesturm in I in unmittelbarer Lebens- ge&hr, der sie ohne ihr Zutun entrinnen. Dira fames wird ihnen von der Harpyie angedroht: was wir in YH davon hören, ist kaum mehr als eine augenblickliche VerpflegungSBchwierigkeit, die dazu nötigt, sich mit vegetabilischer Nahrung zu begnügen. Aeneas nackt und hungernd nach gräßlicher Anstrengung in todes- ahnlichem Schlaf zusammenbrechend das kann man sich gar nicht vorstellen; was er erduldet, ist seelisches Leid: der Verlust der Heimat, der Gattin, das fruchtlose Suchen nach dem neuen Reich, der Abschied von der Geliebten, der Tod treuer Genossen

1) Vgl oben 8. 112.

280 Zweites Kapitel. Erfindung.

u. dgl. Und ganz so steht es bei den Kämpfen mit allen Be- teiligten: nicht die körperlichen Mühen des Kampfes^ nicht die Schmerzen der Wnnde sind die ärgsten; tiefer als die Wund» brennt den Mezentius das Leid um den Sohn; Nisus muß vor seinen Augen Euryalus &Uen sehen; Turnus will sich vor Scham und Verzweiflung töten, als ihn Juno vom Kampfplatz weg'^ gelockt hat.

Danach ist es denn begreiflich, daß auch beim Handeln das Hauptgewicht auf den psychischen Vorgängen Uegt: nicht eigent- lich die Handlungen selbst und ihre Durchftihrung, sondern ihre psychologische Motirierung oder die psychischen Begleiterschei- nungen beschäftigen den Dichter. Man stelle sich vor, wie eis Dichter homerischer Zeit etwa den Auszug des Aeneas aus Troja angefaßt haben würde: welche reiche Gelegenheit für tapfere oder listige Taten zur Überwindung materieller Hindemisse. Bei Virgil vollzieht sich die Büclükehr des Aeneas zu den Seinen und die Flucht selbst ohne Schwierigkeit: das wesentliche ist,, daß erst Aeneas und dann Anchises zum Entschluß der Flucht gebracht werden. Ein hellenisierender Dichter wie Tryphiodor schildert den Zug des hölzernen Rosses in die Stadt und die Freudenfeier der Troer mit größter Ausführlichkeit: Virgil hat dafür nur ein paar Worte, aber Himderte von Versen verwendet er darauf, den Entschluß der Troer begreiflich zu machen. In IV erfahren wir das Allemotdürftigste darüber, wie die Troer ihre Abfahrt bewerkstelligt haben, ganz genau aber wie Aeneas dazu gelangt ist, den Befehl zur Abfahrt zu geben. Die Gründung von Segesta in V vollzieht sich im Handumdrehen, der Entschluß wird sorf ältig motiviert. In Homers Dolonie liegt alles Gewicht auf der kühnen und klugen Durchfahrung des gefahrvollen Unter- nehmens, das zum Mord des Bhesos imd der Erbeutung seiner Rosse fQhrt; bei der Expedition des Nisus und Euryalus sind die seelischen Vorgänge vor, während und nach der Tat selbst weit wichtiger als diese selbst. Wenn bei Homer ein Gott seinen Schützling aus dem Kampfe rettet, so ist das an sich genug; Virgil begnügt sich nicht mit der Schilderung des Hergangs selbst^ sondern benutzt ihn, um uns einen charakteristischen Seelenzustand des Turnus vorzuführen. Der Schuß des Pandaros und seine Folgen sind bei Homer ganz oberflächlich motiviert, aber mit größter Ausführlichkeit und Anschaulichkeit beschrieben; bei Vii^

Seelisches und Körperliches. 281

ist, wie ich oben S. 229 ff. zeigte^ das Verhältnis gerade das um- gekehrte. — Wo Yirgil aus eigener Initiative äußere Yor^nge eingehend beschreibt, tut er das nicht um ihrer selbst willen^ weil es ihn freute, seine eigene lebhafte Anschauung der Dinge dem Hörer mitzuteilen, sondern weil er Gefühle im Hörer er- wecken oder (wie bei der Bestattung des Misenus) altheimischen Brauch ehren will.

Dem entspricht es, wenn bei Yirgil das Schicksal des ein- zelnen, sein Erfolg und sein Unterliegen in den Kämpfen des Xiebens wie der Schlacht viel seltener durch körperliche als durch innere Yorzüge und Mängel herbeigeführt wird; und es zeigt sich ^vreiter der yomehmlich aufs Sittliche gerichtete Sinn des Dichter» <3arin, daB jene Eigenschaften &st durchweg ^em moralischen,, "snieht dem intellektuellen Bereiche entnommen sind.

In den Schlachten liegt diese Tatsache am offenkundigsten

^Butf^: hier entscheidet sich das* Schicksal im Augenblick, jedem

^3roht in jedem Augenblicke der Tod durgh unglücklichen Zufall

^Dder fiberlegene Kraft des Gegners. Sarpedon fällt durch Patroklos,

IS^atroklos durch Hektor, Hektor durch Achill: jeder erliegt dem

^stärkeren Gegner, auf dessen Seite Gott und Schicksal stehen;

"^^ide dieser Stärkere siegt, das eben will der Dichter in erster

Hiinie zeigen. Yon einer Schuld des Unterlegenen ist ebensowenig

^üe Bede wie von einem Yerdienst. Wenn bei Yirgil Nisus und

ISuryalus der Übermacht erliegen, so ist das selbstverständlich

^mnd nicht anders zu erwarten; auch liegt der Nachdruck der

Üjizählung nicht auf der Art des Todes, sondern auf seinem

.Anlaß: darauf daß Eurjalus trotz der Warnung seines älteren

freundes von dem gefahrvollen Unternehmen sich nicht abbringen

Xieß, und daß er durch den schimmernden Helm, mit dem er in

£rohem Siegerübermut sich schmückte, sich den Feinden verrät;

daß Nisus, der sich selbst hätte sichern können, dies aus Liebe

zum Freund unterläßt und um seinetwillen sich in die dichten

Feinde stürzt. Wie Lausus und Mezentius dem Aeneas erliegen,

wird anschaulich erzählt: aber wichtiger als dies ist, daß Lausus

sich bewußt für den Yater opfert und daß der schwerverwundete

Mezentius, der bereits in Sicherheit war, nach des Sohnes Tod

zurückkehrt, um im ungleichen Kampf sein Leben, das keinen

Wert mehr für ihn hat, aufs Spiel zu setzen. Camilla sieht

keinen ebenbürtigen Gegner sich gegenüber: sie selbst schafft sich

282 Zwei«iee EapiteL Erfindung.

in unseliger Verblendung ihr Verderben. Turnus hat selbetli Krieg heraufbeschworen, dessen Opfer er wird; freiwillig, bMerar Begung folgend, geht er in den Kampf, d^n Jutoma ihn entr sieben wollte; er unterlieg^ aber wäre gerettet worden, fiele nidit das Auge des Siegers auf die Spolien, die er in frevlem Übermut dem Pallas abgenommen hat, um sich selbst mit ihnen zu schmückeo. Und der gleiche Vorgang wiederholt sich so und so oft auch bei Nebenpersonen: man denke an Numanus, an Tolumnius, au t^an- ^rus und Bitias, an Goroebus und Priamus, überall erfahren wir: 80 haben sie gehandelt^ in Übermut oder Verwegenheit oder Auf- wallung edlen Zornes, und das mußten sie mit dem Leben büßen. Im friedlichen Wettstreit ist es nicht anders: wir sahen, wie es bei den Leichenspielen Virgils, anders als bei Homer, wesentiüoh moralische Faktoren sind, die den Ausschlag geben. Und so ist's im Leben überhaupt, daß jeder sich selbst sein Schicksal bereitet: Dido und Amata ziehen mit eigener Hand die Konsequeuzen ihres Tuns. Die Folgen irdischen Tuns aber reichen über das Orab hinaus; denn das Urteil über Wert oder Unwert des Menschen wird ja nicht auf Erden yollstrecki Den Untergang findet auch der Edle, gerade durch seine edle Tat; aber zum Lohn wird seinem Namen unsterblicher Buhm zuteil, ihn selbst scheidet im Jenseits die ewige Gerechtigkeit vom Sünder und laßt ihn auf elysischen (Gefilden wandeln, während jener im Tartarus seine Schuld büßt.

c. Aflfekte.

Virgil zeigt uns seine Menschen ganz überwiegend im Zu- stande des Affekts; er yerspart sich das nicht für die Höhepunkte seiner Handlung, sondern reiht, von wenigen Ruhepausen ab- gesehen, ununterbrochen eine affektische Szene an die andere; man sieht, daß ihm recht eigentlich nur solche epischer Dar- stellung wert, ruhigere Stimmungen nur episodisch tauglich zu sein schienen. Man überdenke etwa die Stadien, die Aeneas' Stimmung in I durchlauft. Höchster Affekt des Todesschreckens und Seelenschmerzes bei seinem ersten Auftreten; nach der glücklichen Rettung Sorge und Kummer um die Qefährten, trost- lose Stimmung des Trostspenders selbst; gegenüber der Mutter schmerzliche Klagen; vor den Bildern im Tempel zu Karthago Tränen schmerzlicher Erinnerung; ängstliche Spannung beim Ein-

Mond der HaBdlnngeii. 283

Irafien der OenoBsen; affektvolle Bewunderung und übersehwäng- lieke Dankbarkeit g^enüber Dido. Nun ist er Torläafig ge- borgen, aber zur Ruhe des Gemüts kommt er noch nicht , neque emm pairius consistere mentem passus amor: man sieht, auch die Liebe zum Sohn wird zur Leidenschaft gesteigert Man nehme noch die affektvoUen Götterszenen ron I hinzu: den Eingangs- monolog d&c empörten Juno; die Scheltrede des wenn auch äußer- lieh ruhigen, doch tief erregten Neptun; endlich die Haltung der Y^ius im Gesprach mit Juppiter und Amor: da haben wir nicht '^Uui gütige aber ganz sachliche Eintreten der um ihren Schütz- Jung zwar sorgenden aber nicht leidenden Göttin , wie es Homer ss«ehilderty sondern Venus spricht als die Mutter, die um ihren Sohn sich grämt; Tränen fUUen ihre Augen, denn sie empfindet ^■ein Leiden als. das ihre, sieht sich getäuscht in dem einzigen ITrost^ der ihr im Kummer um Ilions Untergang blieb; und später ^ualt sie wieder die Sorge, und flehentlich nimmt sie ihre Zu- ^Ancht zu dem mächtigen Sohne, den so oft ^ihr Schmerz ge- -^Bchmerzt hat'. Die Affekte wechseln: in der Uiupersis ist es .j^urar iraque oder scievus harror, der den Aeneas erfüllt, in der •^^fekyia tritt neben dem tränenreichen Schmerz und der tränen- ^areichen Freude des Wiedersehens Furcht und Schrecken auf (270. -£59. 710); in der ersten Schlacht ist es nach dem Tode des Dallas außer dem Schmerz die Bachsucht, die nur einmal von ^l)ewundemdem Mitleid ingemuU miserans beim Tode des Jiausus abgelöst wird; die Leichenfeier in XI gibt Anlaß zu -^schmerzlichen Klagen; yor dem entscheidenden Zweikampf saevus -«e ameUai ira, und als nach der ruhig erhabenen Schwurszene -^er Eid gebrochen ist, rerzehrt den Verwundeten erst quälende TJngeduld (saevit, acerba fremens), und nachher entbrennt er in ^wildem Eamp&om (494. 499. 526) und grimmiger Freude (700), Hbis er den Sieg davonträgt und, nach einem kurzen Augenblick ^milderer Stimmung, furiis accensus et ira dem Feinde das Schwert in die Brust stößt. Nicht yiel anders als bei der Hauptperson «tehfs bei den übrigen; man denke nur etwa an Dido, die von einem Affekt zum anderen gerissen wird, oder an Turnus, der vom •ersten bis zum letzten Augenblick in höchster Erregung verharrt, sei es nun schwer gekränkter Zorn oder jubelnde Zuversicht, blasse Verzagtheit oder tobender Eampfinut, brennende Liebe oder brennender Haß, Scham oder Verachtimg.

284 Zweites Kapitel. Erfindung.

So sehr auch die ganze Handlung daraof angelegt ist, Affekte henrorzurufen^ so würde das doch noch nicht genügen, wenn nicht auch QefÜhle, die sonst in wesentlich ruhigerer Form aufzutreten pflegen, zu lebhaftem Affekt gesteigert würden. Zum Affekt steigert sich das Gefühl der Dankbarkeit in Aeneas' Worten an Dido in I und in Ascanius' Worten an Nisus und EuryaJus, die Liebe zum Sohn in der oben berührten Angabe über Aeneas und die Liebe zum Vater nicht nur yor der Flucht, wo es sich um Tod und Leben handelt, sondern auch nach dem Tode bei dem Gelöbnis ewigen Gedächtnisses, das Aeneas am Grabe ablegt (V 51); charakteristisch vor allem ist das Verhalten des Turnus,, den Juno durch ein Trugbild dem Schwert des Aeneas entzog (668): Paris ist im gleichen Falle sehr mit dieser Rettung zu- frieden und empfindet erst Scham auf Hektors Scheltreden hin; aber wie zahm ist dies Gefühl gegen den Leidenschaftsansbruch des Turnus, der in die Erde versinken oder sich ins Schwert stürzen möchte, um nicht mit dem Makel der Feigheit den Seinen vor Augen treten zu müssen. Wenn das Gefühl zum Affekt wird, muß freilich der Affekt, wo ein besonderer Anlaß yorliegi^ noch höher steigen: er wird zur Sinnlosigkeit, zur *Wut', zu bacchantischem Wahnsinn. Amens ist Andromache, als sie Aeneas erblickt, Nisus, als er Euryalus bedroht sieht, Jarbas, als er von Didos Ehebund hört; furar heißt der gesteigerte Affekt, Liebe oder Zorn, überaus häufig; wie eine Mänade bei der iwchtlichen Bacchusfeier durchtobt Dido die Stadt, als sie das Gerücht von Aeneas' Scheideabsicht yemommen hat^); und in wahrhaft bac- chantischen Wahnsinn verfällt Amata, als ihr Plan, die Tochter dem Turnus zu vermählen, durchkreuzt wird.

Nun ist freilich nicht jede Person unterschiedslos derartigen übermächtigen Affekten ausgesetzt; aber die Unterschiede, die Virgil hier macht, sind, der eben geschilderten Manier der Cha-

1) In ihrer Liebessehnsucht tota vagatur urbe furens (68), ohne ihre fama zn schonen (91); als sie von Aeneas' Absicht hört, totam incensa per urbem bacchatur, qualis commotis excüa aacris Thyias (800); man bemerkt die Steigerung, zugleich aber die Meinung des Dichters, daß eben in der &axriiioavvri (wie dann bei Amata) sich die Verzweiflung der Königin äufiertr die so aller Zucht und Sitte vergessen kann. In der Ciris heißt es von der verliebten Scylla, also einer wohlbewachten Jungfrau, die ihre Liebe allen

Steigening und Unterschied der Affekte. 285

xakteristik entsprechend, weniger individueller als genereller Art. Yirgil weiß, daß yomehmlich die Jugend zum jcd^oq neigt, im Alter das ii^og überwiegt. So gibt sich denn von den männ- lichen Hauptpersonen der jüngste, Turnus, dem Affekt am schranken- losesten hin. Das Greisenalter ist demgegenüber merklich ruhiger; wie Yor Dido der alte Ilioneus trotz der gefahrlichen und auf- regenden Lage placido pectore spricht, so redet Latinus die troischen Oesandten placido ore an, und nachdem er ihre Worte gehört, laßt er sich nicht vom ersten Eindruck hinreißen, sondern yer- harrt lange in nachdenklichem Schweigen; sedato corde spricht er, 4ils die Entscheidung naht, begütigende Worte zu Turnus, und ^enn ihn auch die Niederlage und der Mißerfolg des Hilfe- Besuchs mit tiefem Kummer erfüllt, so ist doch dann seine Bede in der Batsyersammlung von Yirgil geflissentlich als ein Muster besonnener Ruhe gestaltet, von der sich die leidenschaftliche Ge- Hiassigkeit des Drances und die ebenso leidenschaftliche Empörung «-des Turnus charakteristisch abhebt, und auch als alles zusammen- Imcht, die Königin sich erhängt hat, die Stadt bestürmt wird, als LaYinia und die anderen sich tobender Verzweiflung hingeben, Terharrt der Greis in dumpfem, lautlosem Grame. Virgil weiß femer, daß Frauen den Affekten leichter zuzüglich sind und sie -«ich bei ihnen anders und heftiger äußern. Sie wirken dort mit unmittelbarster Gewalt man sehe, wie Andromache, dem plötz- lichen Affekt der Überraschung erliegt: deriguü visu in media, ^edlar ossa rdiquit, labiiur et longo vix tandem tempore fatwr , und wirken verderblicher: Dido, Amata, die troischen Frauen in V, aber auch Silvia (oben S. 189) und Camilla (oben S. 213 fg.) sind Beispiele. Yor allem bemerkenswert ist der Abstand zwischen den Schmerzensäußerungen der Mutter des Eurjalus (IX 475) und des Euander (XI 148), die beide ihren einzigen Sohn in Jugendlichem Alter verloren haben: die Frau ganz aufgelöst in ihrem Weh, alles ringsum vergessend, schreiend, nach nichts ver- langend als nach raschem Tode, und dabei eigentlich sich selbst bejammernd, nicht den Sohn; der Mann zwar auch Icbcrimansque gemensque, aber doch noch fähig, bei allem Unglück das Glück «ines ehrenvollen Todes zu preisen, fähig, der Gattin zu gedenken,

verbirgt, *wie eine thrakische Mänade oder eine Kybelepriesterin ' infelix mrgo (ata hacchatur in urhe (167): man sieht, wie wenig der Nachahmer «ach hier sein Original verstanden hat.

286 Zweites EapiM. Eifindimg.

die ein frühes Scheiden yor dem Schmerz dietea Verlustes be- wahrt hat, fähig, die Gründe zu erwägen, die zu solchem Ende führen müßten; endlich bei aller Lebensmüdigkeit doch tob don Wunsche erfüllt, vor dem eigenen Tode den Sohn gerachi zu sehen.

Die yirgilischen Personen äußern ihre Affekte überwiegend nicht in Handlungen, sondern in Reden; sehr häufig können die Affekte nach Lage der Sache zu einer Handlung gar nicht führen^ wie dies denn bei dem häufigsten Affekt, dem seelischen Leid, fast durchweg der Fall ist. Das war bei Homer anders; dort ist mit verschwindenden Ausnahmen der Affekt nur dazu da, um eine Handlung zu motivieren, also ein integrierender Bestandteil der Erzählung. Aber andererseits hat es Yirgil auch so gut wie durchgängig vermieden, in der Art, wie es ein Teil der kleinen hellenistischen Erzählungen getan haben muß, die Handlung ganz in den Hintergrund treten, sie insbesondere während der Äuße- rung des Affekts völlig stocken zu lassen: man denke an GatuUs Ariadne oder die Klage der Carme in der Ciris, an Horaz' Europe, oder, aus anderem Qebiete, an Virgils eigenen GaUus, dessen Klagen ja freilich der Elegie, nicht dem Epyllion zuzurechnen sind.^) Li der Aeneis begleitet wenigstens der Affekt die Hand- lung, wenn er sie auch nicht motiviert; d. h. wir erfahren die Empfindungen einer Person während eines integrierenden Bestand- teils der Erzählung, und insofern wird das Gesetz des epischen Stils, der ununterbrochene Fortschritt der Handlung gewahrt

Über die Rede, die bei Vii^ überwiegend affektisch isty wird unten im Zusammenhange gehandelt und dabei manches für die Menschen Virgils Bezeichnende nachgetragen werden. Auf einen Punkt aber sei hier schon hingewiesen: daß wir nämlich häufig an Stelle der natürlichen Äußerungen des Schmerzes, Zornes usw. dasjenige zu hören bekommen, was sich dem Dichter bei psychologischer Analyse der Empfindung als ihre

1) Dagegen halte man die reiche Handlung in Theokrits Daphnit, auch während dessen eigenen Worten. Auch Eallimachos scheint in der Eydippe die Liehesklage des Akontios wenigstens äußerlich zum Bestand- teil der Handlung gemacht zu haben, wenn er ihn dabei den EntschhiB fassen ließ, nach Athen zu gehen, Dilthey 86.

AffektiBehe Bede. 287

KampoBenten oder ÜEiktisdie Grundlage herausgestellt hat: diese Momente werden mit einer Vollständigkeit nnd Umsicht anein- aiftder gereiht, die bei wirklichem Ausbrach des Affekts undenkbar wire. Der Diditer fragt sich, aus welchen Gründen der Tod des Euryalus seiner Mutter ganz besonders schmendich sein müsse^ und findet deren eine Menge: sie ist alt, er war ihr einziger Trost, sie ist jetzt vereinsamt; er hat ihr bei seinem Auszug nicht Lebewohl gesagt, obwohl er doch Gefahren entgegenging, das war grausam Ton ihm; der Leichnam liegt nun in der Fremde, unbestattet^ so hat sie ihm die letzte Ehre nicht erweisen dürfen; und doch bewegte sie der Gedanke an ihn Tag und Nacht, noch ehea wob sie ihm ein Gewand; ja sie weiß nicht einmal, wo der Leichnam liegt, er ist zerrissen und geschändet; das ist also der Lohn für die treue Liebe, mit der sie ihm (als einzige unter den Troerinnen) über Meere und Länder gefolgt ist. All das wird nun der Mutter im Augenblick, da sie den Tod des Sohnes er- fahren hat, in den Mund gelegt; nicht in weitschweifiger Aus- führung, die nach und nach alle jene Punkte streifte, sondern so knapp wie möglich, in etwa zehn Verse zusammengedrängt Man siebt, nicht eigentlich die arme gebrochene Frau spricht, sondern der Dichter für sie; er ist der Dolmetsch ihrer Empfindung und spricht, so g^t er selbst es vermag. In dem folgenden Beispiel ist die UnWahrscheinlichkeit der Rede nicht ganz so stark, aber die Konstruktion des Dichters tritt doch ebenfalls klar zutage. Warum mufi, fragt er sich, Aeneas der Dido für ihren Empfang zu ganz besonders heißem Danke verpflichtet sein? im Grunde ist doch, was sie tut, nichts als sdbstverständliche Pflicht der Menschlichkeit. Aber 1. die Troer waren in verzweifelter Lage, sie hatten alles Erdenkliche erduldet, zu Wasser und zu Lande, waren von allen Mitteln entblöfit, schiffbrüchig am fremden Strande. 2. Dido allein^) erbarmte sich ihrer und unterstützte sie nicht nur, sondern nahm sie in der Stadt, ja in ihrem Hause auf.

1) Man veigleicha Aristoteles* Analyse der xägigy rbetor. B 7. 1385 a 17 imm Sil x^f'S ^novQyia dio\Uv(p {lti &vtl nvoff, iLrfi' iva xi ainm vnovQ^ yo^ptt iiXX' ^va rt ixsivm- iifydXri dh div y cq>6dQa dsoitivca ^ iieydXav rj X^mXbkAp rj iv xcuQolg vouivtoig, rj fidvog rj rtf^tog ij (uiii6ta. Es wäre niclit verwunderlich, wenn Virgil derartige Analysen sich zu nutze gemacht hatta; man denke an Uoraz' rem tibi Socraidcae poterunt ostendere chartae a. p. 310 nnd was dazu Kießling ans Cic. de orat. I 12, 68 zitiert.

288 Zweites Kapitel. Erfindung.

nicht nur als Gäste , sondern als gleichberechtigte Freunde und Oenossen. 3. Sie tat das ans keinerlei eigennützigen Granden, sondern lediglich aus pietas, aus Sinn für Recht und Billigkeit 4. Aeneas ist um so mehr verpflichtet zu dankbarer Gesinnung, als er keine Aussicht hat, seinen Dank je durch die Tat ge- bührend abstatten zu können. Dies alles genügt gewifi, um den lebhaften Affekt des Aeneas zu motivieren; aber statt nun diesen Affekt ohne weiteres, der Situation gemäß, sich äußern zu lassen Aeneas tritt zu aller Anwesenden Überraschung plötzlich aus ■der verhüllenden Wolke hervor wird der Äußerung des Affekts «elbst seine ganze Rechtfertigung in Worten des Aeneas voraus- geschickt, und dann, im eigentlichen Ausdruck des Dankes, w^erden wieder alle Möglichkeiten erschöpft: der Wunsch, daß die Götter reichen Lohn geben mögen; die Bewunderung; das Ver- sprechen, der Edlen auch in Zukunft ehrend und preisend ge- ; denken zu wollen, in alle Zeit und an jedem Ort |

Es ist andererseits anzuerkennen, daß Yirgil trotz dieses konstruierten Elements des Affektausdruckes naheliegende Abwege vermeidet. Er hält sich strikt an den gegebenen Fall und ver- meidet es, sich in Deklamationen über das Generelle zu ei^ehen. Er kehrt die in der Situation gegebenen GefQhlsmomente mög- lichst erschöpfend hervor, vermeidet aber jedes verstandesmäßig^ Reflektieren über den Affekt. Er sucht auch durchaus [auf da^ Gefühl zu wirken und nimmt die pathetische Situation nicht zun^ Vorwand für geistreiche Spiele des Verstandes und Witzes. Aber^ •das alles sind nicht spezielle Eigenschaften der affektischen Rede> flondem des virgilischen Stils überhaupt.

II. Das Übernatürliche.^)

Die Beteiligung der Götter an der heroischen Handlung war' für Virgil durch die Tradition gegeben; wir wissen von keinem älteren Epos, das nicht der theophrastischen Forderung ent- sprochen hätte, eine Darstellung göttlicher, heroischer und mensch-

1) An Boiflsiers mit Recht berühmte Ansführongen über den religiösen Oehalt der Aeneis (La religion Romaine d^Anguste anz Antonins I ^ 848 ff.) brauche ich nur zu erinnern und kann es mir ersparen, das Yerh&ltDii meiner Auffassung zu der seinigen darzulegen.

Änßemng des Affekts. 289

lieber Dinge zu sein.*) Aber Virgil denkt vom Göttlichen zu ernsthaft^ als daB er es bloß als Schmuck und Zierrat seines Ge- dichts verwendet hätte. Die alten Dichter warea mit Recht da- f%ür getadelt worden, daß sie sich in ihrer Theologie zu weit von der Wahrheit entfernt hatten, indem sie Unwürdiges von den Göttern erzählten; Virgil will nicht nur dies nach Möglichkeit ▼ermeiden, sondern so viel positive Wahrheit wie irgend möglich in der mythischen Hülle geben. Er hat die Pflicht, die Götter mitspielen zu lassen, nicht als lästigen Zwang und nicht bloß als Gelegenheit zu eindrucksvollen Schilderungen, sondern als will- kommenes Mittel betrachtet, seine Anschauungen über die letzten Gründe alles Geschehens in Bilder zu kleiden, die dem Verstehen- den viel deutlicher als abstrakte Erörterung die höchsten Wahr- heiten vor Augen und zu Gemüt zu führen vermögen. Die Wahr- heit aber, die er zu verkünden hatte, war diese.

Eine Gottheit ist: Schicksal, weltdurchdringende Vernunft und Vorsehung zugleich. Diese Gottheit leitet die Geschicke der Menschen, ihren Willen kann niemand durchkreuzen, in jedem Augenblick steht jeder in ihrer Hand; Pflicht des Menschen ist es, sich willig von ihr führen zu lassen. Die Einzelgötter sind nicht selbständige persönliche Wesen, sondern lediglich Erschei- um^sformen der einen, allumfassenden Gottheit, ihre Kräfte, die "c3ie Reiche der Natur und des Geistes durchziehen. Ein Kult der Cjrottheit ist erforderlich; dieser ist für den Römer nur denkbar in den altüberlieferten Formen römischer Gottes Verehrung, die es in möglichster Reinheit wiederherzustellen tmd mit möglichster "Gewissenhaftigkeit zu beobachten gilt; dies ist einer der wesent- lichsten Bestandteile der Frömmigkeit. Rom ist groß geworden ^urch seine Frömmigkeit; alles Unglück geht auf Vernachlässi- gung der Götter zurück; wer sie recht verehrt, den führen sie ^um Heil. Ihren Willen offenbart die.Oottheit den Menschen in :inannigfacher Form, durch Orakel, Träume, Vorzeichen; auch lann er mit Hilfe der Auspizien bis zu einem gewissen Grade erforscht werden.

So etwa hatte sich im Geiste Virgils und vieler Gleich- gesinnter die theohgia physica mit der theologia civilis verbunden.

1) Saeton p. 17 R. ^«o? iorlv Tcsgioxr} d'slav ts xal rjQaCxav xa\ ccv^-qo)- B «ins e, Virgils epische Teclmik. 2. Aufl. 19

290 Zweites Kapitel. Erfindung.

Nun soll im Epos dieser Glaube im Gewände der theologia fabu- laris dargestellt werden; zum stoischen Dogma und dem national- römischen Kult tritt der homerische Mythus. Mit dem Kult war leicht auszukommen: die älteste erreichbare Form römischer Gottesverehrung wurde in die mythische Zeit übertragen, und Yirgil hat sich keine Mühe verdrießen lassen, dies Bild so richtig und vollständig wie möglich zu malen. Zudem entsprach es ja den populär römischen Vorstellungen durchaus, wenn die griechisch gesehenen Göttergestulten als Empfänger des National- kults auftreten. Aber sehr viel schlechter vertrug sich mit dem Mythus die Philosophie; hier waren Konzessionen auf beiden Seiten unvermeidlich, und Konzessionen muß ja die Philosophie auch der Staatsreligion machen. Ein offenes Bekenntnis zum stoischen Pantheismus ist in der Aeneis nicht zu erwarten: der Dichter kann selbstverständlich den Glauben an seine poetische Götterwelt nicht selbst zerstören und darf der offiziellen Religion nicht ins Ge- sicht schlagen. Andeutungen der Wahrheit müssen genügen: und diese liegen deutlich genug vor in der Schilderung der Götterwelt, in der Stellung, die Virgil seinem Juppiter zuweist, in der Rolle, die neben ihm dem fatum durch das ganze Gedicht gegeben ist, in der vorsichtigen, aber doch unverkennbaren Berücksichtigung physisch-moralischer Mythendeutung. ^)

1. Homers Zeus ist unter den Göttern primus inter pares; der höchste, stärkste und größte, der zwar kraft seiner höheren Ge- walt über die andern herrscht, aber sonst ihnen gleich und wie sie der Leidenschaft und der Schwäche unterworfen ist; Virgils Juppiter ist der 'Allmächtige'*), und ihm allein kommt diese Eigenschaft zu, in ihm verkörpert sich die 'ewige Gewalt''), der

1) Ein für sich stehender Einzelfall der Einkleidung yon philosophisch- theologischen, und zwar gleichfalls stoischen Lehren in mythisches Gewand ist Virgils Eschatologie : dafür kann ich auf Nordens Einleitung zu B. VI verweisen, der Virgils engen Anschluß an Poseidonios hier, wie mir scheint, außer Frage gestellt hat.

2) omnipotens 11 689; IV 220; V 887 u. o.; Allecto nennt so Turnus gegen- über auch Juno, die es nicht ist (VII 428) ; den Soracteanwohnem gilt Apollo, ihr summus deum, auch als omnipotens (XI 786. 790): das ist ethnischer Glaube.

3) X 18 hominum rerunique aeterna poiestas; I 229 qui res hominum- que deumque ctetemis regis imperiis; X 100 rerum cui prima potesttis.

Juppiter und das Fatum. 291

Götter und Menschen und ihre Geschicke Untertan sind. Der Dichter kann ihn freilich auch nur als Person^ wie die andern Götter^ darstellen; aber er beschränkt das Menschenähnliche bei ihm so viel wie möglich; er schaut herab auf Erde und Menschen, redet zu den Göttern, lächelt und nickt Gewährung, entsendet Boten, die seinen Willen verkünden, und wägt die Lose der Kämpfenden; aber nur einmal wird er uns als Person deutlicher sichtbar: als er sich nach beendeter Ratsversammlung von seinem goldenen Thron erhebt und die Götter ihm das Ehren- geleit geben (X 116). Die homerische MotQa ist eine unfaßbare Gewalt, die neben den Göttern steht und zu der Zeus kein eigen- tömliches Verhältnis hat; Yirgil läßt keinen Zweifel darüber, daß in Wahrheit das Fatum nichts anderes ist als des höchsten Gottes Wille.*) Das tritt begreiflicherweise ganz besonders deutlich her- aus, wo zum ersten Male diese Dinge berührt werden, in dem Gespräch zwischen Juppiter und Venus I 229 flf. Venus beruft sich auf ein Versprechen des Juppiter: das sind die fata (239), mit denen sie sich bisher über die unglücklichen fata des Aeneas getröstet hat; nun, da es anders zu kommen scheint, fragt sie, -warum Juppiter seine Absicht geändert habe (237). Juppiter be- ruhigt sie: ihre fata seien unverrückt, er habe seine Absicht nicht geändert. Um sie vollends zu trösten, enthüllt er ihr die weiteren Geheimnisse von Aeneas' fata (262); an Stelle der ein- fachen Voraussagung dessen, was geschehen wird, tritt einmal der Aasdruck des eigenen Willens: his ego nee metas rerum nee tem- pora pono: imperium sine fine dedi (278); man sieht, dieser Wille ist mit der vorherbestimmten Zukunft identisch. Er weiß dann

1) HI 875 sie fata deutn rex sortitur volvitque vices, is veriitur ordo, loBofem der Herr des Fatmus der Götter König ist, kann auch statt fata lovis (IV 614) ungenauer faia deum gesagt werden: II 64. 257; III 717; VI 376; Vn 60. 239, fast gleich 'der Götter Wille', und dann auch, aber nur ganz ausnahmsweise, von einer einzelnen Gottheit: fata lunonis (VIII 292) haben dem Herakles die Arbeiten auferlegt. Rhetorische Antithese ist in JunoB großem Monolog (VII 293) fatis contraria nostris fata Phrygum^ wo es erst 'Wille', dann 'Schicksal' bedeutet. Den etymologischen Zu- sammenhang mit fari hat Virgil empfunden; darauf deutet sowohl I 261 fabor enim . . et volvens fatorum arcana movebo, wie die öftere Gleich- •etEong mit fas (I 206; U 779; VI 438; IX 96; XII 28) und Entgegensetzung ▼<m infandum: VII 683 infandum bellum contra fata deum, vgl. I 261 *n- fandum Ton dem, was Juppiters Verheißung widerspricht.

292 Zweites Kapitel. Erfindung.

femer, daß Juno ihren Sinn ändern und gleich ihm selbst die Römer lieben wird, und fügt hinzu sie placitum (283): auch hier ist sein Beschluß die Zukunft. Dem entspricht es, wenn spater einmal in Venus' Worten die Ungewißheit über das Schicksal gleichbedeutend erscheint mit der Unkenntnis von Juppiters Wollen.^) Sobald das Fatum den Göttern unzweifelhaft als un- abänderlich bekannt ist, denken sie nicht daran, es zu durch- kreuzen.^) Junos Stolz empört sich dagegen, daß ihr, der Himmelskönigin, die Rache an ihrem Feinde durch das Fatom verboten sein soll, die Athene gestattet wurde (I 39flF.); sie hebt hervor, daß Juppiter seiner Tochter den Blitz lieh, seine Schwester und Gattin vergebens kämpfen muß. Wenn sie nun sich selbst mit Aeolus' Hilfe Recht zu schaffen sucht, so kann sie nicht hoffen, das fatum zu brechen (si qua fata sinant will sie v. 18 die Weltherrschaft, die, wie sie gehört hatte, Rom bestimmt war, Karthago zuwenden), sondern nur erwarten, daß Juppiter sie doch noch gewähren lasse, also neue fa>ta setze. Die Macht dazu be- sitzt er, wie sie meint; später fügt sie sich zwar in den Tod des Turnus, aber sie wagt doch noch zu hoffen, daß Juppiter sich eines Besseren besinne: in melius tua, qui potes, orsa reftectas (X 632).^) Freilich täuscht sie diese Hoffnung hier wie ander- wärts; Juppiter selbst fühlt sich durch das, was einmal Fatum ist, gebunden und weigert selbst seiner Mutter einen Wunsch, der den ewigen Gesetzen zuwiderläuft: er kann wohl die Schiffe des Aeneas in Nymphen verwandeln, nicht aber sie in ihrer

1) lY HO sed fatis incerta feror, si luppiter unam esse velü Tyriis urbetn Troiaque profectis. Auch V 784 nee lavis imperio fatisque infracta quiescit ist beides durch die Kopula gleichgesetzt. Über X 31 fP. s. u.

2) Vn 313 (Juno spricht) nofi dahitur regnis, esto, prohibere Latinis atque inmota matiet fatis Lavinia coniunx: at trahere atque moros tantis licet addere rebus. XI 587: Diana macht keinen Versuch, die so geliebte Camilla zu retten, quandoquidem fatis urgetur acerbis,

3) Die Entwicklung von Junos Verhalten ist sehr beachtenswert: in I glaubt sie durch eigenmächtiges Handeln noch die Fata beeinflussen zu können, in VII verzichtet sie darauf, strebt aber wenigstens ihre Rache zu kühlen, obwohl sie wissen muß, daß dies Juppiters Wünschen nicht ent- spricht; in X sucht sie anfangs ihr Tun sophistisch als dem Fatum nicht widersprechend zu verteidigen; X 611 gibt sie jeden eigenen Widerstand auf, hofft aber noch auf einen Umschwung in Juppiters Absichten; am Schluß von XII endlich verzichtet sie auch darauf und bittet nur noch um das nuUa fati quod lege tenetur.

Juppiter und das Fatum. Eonzessionen. 293

^sterblichen Form', d. h. als Schiflfe, unsterblich machen: cui tanta deo pennissa potestas? (IX 94 ff.). Man wird an Senecas Worte erinnert, durch die er kurz und scharf das VerhÄltnis des Welt- beherrschers zur Notwendigkeit ausdrückt: inrevocahilis kumana parüer ac divina cursus vekit Hie ipse omnium conditor et rector scripsü quidem faiot, sed sequitur; semper paret, semel itissit (Dial. I 5, 8). Die sluccQfisvrj ist aber zugleich die XQÖvoia: auch dies führt uns Virgil gleich zu Anfang des Gedichts vor Augen, wenn er schildert, wie Juppiter die elementare Macht der Stürme ge- bändigt hat, damit sie die Welt nicht zerstören, und wenn er ihn dann iadantem pectore curas Meere und Lander überschauen laßt (I 60. 227).

Diese Dogmen in voller Reinheit durchzuführen, ist freilich im Gedicht nicht möglich. Ein allmächtiger und allwissender Gott, ohne den und wider den nichts geschieht, und der seine freie Entschließung für alles und jedes von Ewigkeit selbst gebunden hat, ist vielleicht begrifflich faßbar, zur Person eines epischen Gedichts aber gänzlich unbrauchbar; Eonzessionen sind unvermeidlich, und es kommt nur darauf an, sie möglichst un- auffaUig zu machen. Eine Art Freiheit der Entschließung muß zuimchst gewahrt bleiben, imd hier genügte eine Konzession, die die Stoa selbst dem Kultus gemacht hatte: nur die Hauptsachen sozu- sagen sind durch das Fatum festgesetzt, anderes aber vorläufig noch in der Schwebe gelassen, so daß Juppiter durch Gebete der Menschen und Bitten der Götter sich bestimmen lassen kann.^) So bewirkt das Gebet des Jarbas seinen Entschluß, dem Aufenthalt des Aeneas in Karthago ein Ende zu machen; so erwirkt die Mater wenigstens einen Teil dessen, worum sie bat; so fügt sich Juppiter, vidus zwar aber doch volens, den Wünschen seiner Gattin in dem, nuUa faü quod lege tenetur (XII 819).^) Und weiter erhebt sich die

1) Seneca quaest. nat. II 87 no8 quoque existimamus vota proficere saha vi ac potestaie fatorum. quaedam a diis immm-tcüibus ita suspeiisa relicta gufU, ut in banum vertant, si admotae diis preces fuerint^ si vota suscepta: ita nan est hoc cofitra fatum sed ipsum quoque in fato est. Gegen das Fatum kann natürlich nichts geschehen ; wenn es Ton Dido IV 696 heißt 7iec fato merita nee mort4i perihat, so ist das = fatali morte nach gewöhnlichem Spiachg^brauch; s. Norden, Herrn. XXVIII 375, 1. Das Gegenteil ist vivendo viei mea fata XI 160, was niemand wörtlich verstehen wird.

2) Am schwersten ist zu sagen, was sich Virgil bei der nach home- rischem Muster in den letzten Zweikampf eingeschobenen Psychostasie ge-

294 Zweites Kapitel. ErEndung.

uralte Frage: wie kann ein allmächtiger und gütiger öott all das Elend und Jammer^ an dem die Erde so reich ist^ wollen oder dulden? Begreiflich, daß er sie als verdiente Strafe sendet (XII 853); aber wie, wenn der Betroffene schuldlos ist? Wo der Dichter als Person spricht, darf er sein schmerzliches Erstaunen über den unbegreiflichen Ratschluß des Allgütigen äußern^); wo er er- zählt, muß er das Unbegreifliche motivieren, und erdichtet, daß wider den Willen Juppiters und gegen sein Verbot eine feind- liche Gottheit Zwietracht und Eoieg entfesselt habe (X 6 9): Juppiter läßt sie, sicher, daß das Fatum doch seinen Weg finden wird, gewähren, bis die Dinge an einen Punkt gelangt sind, wo sie das Fatum zu durchkreuzen drohen: dann greift er ein, und jeder Widerspruch verstummt, jeder Widerstand verschwindet.^

dacht hat (XII 725): Juppiter legt in die beiden Schalen der Wage fata diversa duorum, quem damnet labor et quo vergat pondere letum. Zwar, dafi dem Turnus jetzt bestimmt ist zu fallen, war noch nicht gesagt: X 624 ff war Juno noch Hoffnung gelassen, daß er am Leben bleibe, und XII 157 glaubt sie auch noch an die Möglichkeit; also wird Virgil durch jenef mythische Bild haben ausdrucken wollen, daß sich jetzt endlich Turnus Schicksal in Juppiters Willen entscheidet. Aber hier ist jenes Bild wenig geeignet, denn es könnte der Kampf höchstens unentschieden bleiben, keinen- falls aber Aeneas jetzt dem letum verfallen. Wie sich Juppiter ent- scheidet, brauchte hier nicht gesagt zu werden: das erfährt ja der Lesei aus dem Erfolg.

1) Xn 603 tanton plctcuit concurrere motu, luppitety aetema geniis tu pace futuras?

2) Wenn Juppiter X 8 sagt abnueram hello Italiam concurrere Teucris. quae contra vetitum discordia? und weiter adveniet iustum pugnae, m arcessite, tempus, schließlich (105) quandoquidem Äusonios coniungi foedert Teucris haud licüum, so steht dies zweifellos in Widerspruch zu der in 1 der Venus gegebenen Prophezeiung: bellum ingens geret Italia populosqui ferocis cotitundet moresque viris et moenia ponet (263); nicht bloß weil dei Krieg hier als vom Fatum, d. h. durch Juppiters eigenen Willen bestimml vorhergesagt wird das könnte man zur Not noch damit erklären, da£ Juppiters Wissen um die Zukunft mit seinen persönlichen Wünschen nicht immer zusammenzufallen braucht, wie nach so mancher Theodicee , son- dern weil hier der Krieg als integrierender Bestandteil von Juppiters Planes teleologisch motiviert ist durch die Notwendigkeit, die Kultur mit dei Waffen dem noch rohen Latium aufzuzwingen: dies Motiv hat Virgil spätei ganz fallen lassen. Man soll diesen Widerspruch weder zu verschleiers suchen noch ihn einfach Virgils Unachtsamkeit zuschreiben , sondern ihr aus den oben dargestellten Schwierigkeiten erklären, die es selbst Virgil nicht gelingen konnte restlos zu beseitigen. Gerade in der so vielfach alf

Theodicee. Einzelgötter. 295

Die übrigen Götter behandelt der Dichter durchaus als selb- ständige Personen nach homerischem Vorbild. Im ganzen sind anch siC; wie Juppiter, in eine höhere Sphäre gehoben; nach Möglichkeit ist ihnen alles Niedrige sowohl wie alles Kleinliche und Spielende fem gehalten, alles was den römischen Gottesvor- Stellungen besonders augusteischer Zeit widerspricht; davon wird später eingehender die Rede sein. Aber völlig fem liegt ihnen menschliche Schwäche nicht: sie ist für die handelnden Personen des Epos unentbehrlich und der Dichter als Erzähler bedient sich ihrer, um die Handlungen zu motivieren, unterläßt freilich nicht^ seinerseits auch hier, in eignem Namen sprechend, darauf hinzuweisen, daß solches im Grunde mit dem Wesen der Gött- lichkeit unvereinbar sei (tantaene animis cadestibus irae? I 11), oder bei einer besonders ungöttlichen Handlung, wie der des eifer- süchtigen Triton, seinen Zweifel an der Richtigkeit der Tradition anzudeuten {si credere dignutn est VI 173). Beachtenswert ist, daß, abgesehen von diesen Fällen, die Handlungen der Götter, mögen sie auch wie bei Dido Unheil anrichten, im Endziel darauf

mechanisch unverständige Homerimitation getadelten Götterversammlung in X steckt eine Fülle von sachlicher und künstlerischer Überlegung: das hat vortrefflich A. B. Drachmann gezeigt (in seiner eindringenden Monographie Gudeme hos Yirgil, Kopenhagen 1887, 180 ff.), bei dem ich nur ein näheres Eingehen auf die eigentümliche Rolle des Fatums in den Götterreden ver- misse. Venus beruft sich für ihren Schützling auf das fatum, das ihm durch Orakel bekannt war, und das für sie mit Juppiters iussa identisch ist; in Junos Beginnen sieht sie das freche Unterfangen, neue fata zu setzen (34 ff.). Juno ihrerseits hütet sich wohl, Juppiter entgegenzutreten und seine Absichten anzugreifen : sie leugnet nur, daß das fatum^ dem freilich Aeneas nach Latium gefolgt sei, auch sein weiteres dortiges Tun bestimmt habe, und macht ihn selbst verantwortlich für das Unheil, das daraus erwachsen ist. Juppiter nun, der ja in Sachen des Fatums natürlich höchste Autorität ist, könnte ein Machtwort sprechen, den Streit niederschlagen und den Krieg beenden : aber dann wäre das Gedicht aus, und deshalb muß Juppiter vorziehen^ den Verlauf der Dinge selbst Aufschluß über das Fatum geben zu lassen, gleich als ob dies Juno besser von ihrem (wirklichen oder vor- geblichen) Irrtum überzeugen könnte als sein eignes Wort. Er verpflichtet sich nur, seinerseits nicht wieder einzugreifen, damit die Probe ungestört verlaufen könne: damit ist den Göttinnen natürlich ebenfalls untersagt, sich auf eigne Hand am Kampf zu beteiligen. (Warum dies Verbot nicht aus- drücklich gegeben wird , setzt Drachmann 149 f. sehr schön auseinander.) Nach den Erfolgen des Aeneas erklärt sich Juno auf Juppiters ironische Frage für überzeugt: 606 ff.

296 Zweites Kapitel. Erfindung.

gerichtet sind, ihren Schützlingen zu helfen, nicht andern zu schaden; wird doch selbst bei der Motivierung von Junos Haß gegen die Troer ihre Liebe für Karthago in den Vordergrund gesteUt (I 12flf.).

Wichtiger noch als dieser Erhöhungsprozeß und die ver- änderte Stellung der Götter zu ihrem Oberhaupt ist es, daß Virgil, wenn ich nicht sehr irre, mit vollem Bewußtsein Hinweise auf die physische Deutung der Göttergestalten in sein Gedicht eingeflochten hat; verständlich, wohlgemerkt, nur für den, dem diese raÜophyska bekannt ist, und zugleich so diskret, daß die Persönlichkeit der Götter dabei durchaus gewahrt bleibt. In manchen Fällen gehen diese Andeutungen nicht über das allgemein Übliche hinaus. Der Jäger Nisus, der zu Diana für seinen Wurf um Erfolg beten will, bUckt zum Monde auf und faßt den Mond mit der Göttin in seiner Anrede als Eines (IX 403). Iris ist bei Homer die Götterbotin^ die mit dem Regenbogen nichts zu tun hat; bei Virgil ist der tausendfarbige Bogen der Pfad, auf dem sie zur Erde herabeilt (V 609) oder der bei ihrem Verschwinden entsteht (V 558. IV 15), oder es wird geschildert, wie bei ihrem Flug tausend bunte Farben gegen die Sonne spielen (IV 700); und so kann es nicht ver- wundern, daß Turnus sie als decus codi, also als Regenbogen anredet (IX 18). Poseidon ist bei Homer freilich der Gott des Meeres, aber das ist nur das Reich, das ihm gehört, er erscheint auch auf dem Olymp oder nimmt am Kampfe teil. Bei Virgil ist er vom Meere unzertrennlich, und wenn er beim Sturme I 126 graviter commotus heißt und doch placidum Caput extulit undis, so kann man das erstere vom Element, das zweite vom Gotte verstehen. Am bezeichnendsten aber ist die Behandlung der Juno. Wenn Aeolus sich gerade ihr dafür verpflichtet glaubt, daß ihm Juppiter die Herrschaft über die Winde gegeben hat, so hat man das schon im Altertume aus der ratio physica erklärt, da Juno die Luft sei (Serv. zu I 78), und hier besteht, meine ich, diese Methode der Interpretation zu Recht ^): es ist doch auffallend, daß es gerade von Juno VH 287 heißt auras inveda tenehaf, daß

i

1) Um das zu verdeutlichen, ist wohl auch v. 80 durch nimbommgue facis tempestatumque potentem das hoc regni (78) nochmals erklärt. Die Gleichsetzung von ''Hga und Sci^q ist weitverbreitet; auch Varro nimmt sie an neben der Gleichsetzung von Inno und terra: Agahd, M. Ter. Yarr. antiqu. rer. div. 11. 215.

Ratio physica. Die Götter und die Handlung. 297

S^Tade sie XII 792 fulva de mibe (gelidis in nubihus 796 aeria -^^de 810 cf. 842) dem Kampfe zusieht, daß sie agens hieniem ^^^rnbo succinäa X 634 zur Erde niederfährt; und so sendet sie I"V 120 nigrantem commixta grandine nimbum und haucht V 607 <i«r eilenden Iris Winde zu. Anderes nahe Verwandtes wird "^^eiter unten zu erwähnen sein.

2. Bei Homer stehen die Götter, die der Menschen Geschicke l«ten, in der Handlung darin; sie sind Personen gleich den Xidischen und unterstehen ganz denselben psychologischen Gesetzen, "^^ir erfahren genau, wie Odysseus den Zorn des Poseidon auf ^ich lenkt, wie Agamemnon des Zeus verderblichen Ratschluß ver- ^choldet; und im weiteren werden so und so oft namentlich in der I^lias die Handlungen der Götter aus ihrer Seele heraus motiviert. X)a8 anbegreifliche Schicksal zeigt sich zwar ab und zu sozusagen in dunkler Feme: wir erfahren, daß dem Achill bestimmt ist, vor Troja zu fallen, dem Odysseus bei den Phäaken das Ende der I^hmisse zu erreichen; Einfluß auf die Handlung hat das so gut "^e nicht. In der Aeneis dagegen ist es gerade das Fatum, oder cler Wille Juppiters, der die gesamte Handlung in letzter Linie lenkt, und dieses Fatum steht völlig außerhalb der Handlung; ^wir erfahren seine Gründe nicht und sind auch gar nicht versucht, danach zu fragen; es stand fest von Ewigkeit, und nur, wie es eich durchsetzt, ist der Inhalt des Gedichts. Wir haben bei Homer durchaus den Eindruck, daß der Mensch seines Schicksals Schmied ist; auch dem Achill stand ja die Wahl frei, ein langes ruhmloses Leben statt des herrlich kurzen zu führen. Der Mensch geht seinen Weg nach eignem Wunsch und Entschluß, von seiten der Götter erfährt er Hinderung und Förderung, je nachdem er sie eich zu Freunden oder Feinden gemacht hat. Aeneas geht seinen Weg nicht aus freiem Entschluß, sondeni er ist ein Werk- zeug in der Hand des Fatums, das sich seiner bedient, um den Grund zum imperium Romanum zu legen. Hier steht nicht ein künstlerisches Prinzip gegen das andre, sondern eine Weltanschau- ung gegen ^ie andre. Welche dieser beiden poetischer Gestaltung sich williger darbietet, darüber kann kein Zweifel sein; aber unsere Au%abe ist zunächst nicht die, das poetische Resultat zu werten, sondern es als notwendig zu erweisen aus den Vor-

298 Zweites Kapitel. Erfindung.

\

aussetzungen, von denen der Dichter ausging; von denen ö ausgehen mußte, wollte er nicht cUieno ex ore Märchen ^ zählen, sondern den Glauhen seiner Zeit in poetisches Oewand kleiden.

Der Götter Wille war es, daß Troja falle, Aeneas aber unc die Seinen gerettet würden, um jenseits der Meere ein neues Reic zu gründen: das erzählt Virgils Iliupersis. Minerva hat die Troer^^ ins Verderben gelockt; die Götter selbst zerstören Pergamon: di läßt Venus ihren Sohn schauen und bewegt ihn so zur Ergebun nachdem ihn schon Hektors Traumerscheinung vorbereitet um ihm die Rettung der troischen Götter ans Herz gelegt hai Anchises' Weigerung, an der der Auszug gescheitert wäre, wiri durch Juppiters augurium aufgehoben; Aeneas fügt sich in Creosaj Verlust, da diese ihm ihr Zurückbleiben als der Götter Wille; enthüllt, die ihm in seinem neuen Reiche einen neuen Ehebun(^^=i bestimmt haben. Auf göttlichen Befehl geht Aeneas mit dea n Seinen in See; schrittweise enthüllt ihm Apollo das Ziel seinei^^ Fahrt; unermüdlich folgt er den göttlichen Weisungen. Nu einmal ist er, von Liebe gefesselt, in Gefahr, seiner Bestimmu: zu vergessen: aber es genügt eine Erinnerung Juppiters, um ihrr -^ das schwerste Opfer bringen zu lassen; mit blutendem Herzei^i=3i verläßt er Dido. Kurz darauf wird er in Sizilien durch einenrrr» neuen Angriff Junos der Verzweiflung an seiner Bestimmnn^^Sg nahe gebracht; von Juppiter entsandt ermutigt ihn Anchiser*^^ Schatten, seine Aufgabe ungebrochen weiter zu verfolgen; endlicbrrA landet er an der verheißenen Küste Hesperiens. Hier, an dei^*^^ Schwelle einer neuen und schwereren Aufgabe, wird er bestärkt, -=^; indem ihm Anchises zeigt, was der Lohn des Ausharrens sei wird: des Fatums Ziel, das imperium Ramanum, enthüllt sich iim der Heldenschau.

Auch in Latium ist dafür gesorgt, daß der Wille des Fatums^ den Menschen bekannt werde. Latinus hat den Befehl erhalten^ auf den Eidam aus der Fremde zu warten, dessen Nachkommen^ des Weltreichs Gründer werden sollen; die Etrusker sind auf den fremden Führer verwiesen, der kein anderer sein kann als Aeneas. Aber während die Etrusker, wie Aeneas selbst, den Weisungen des Schicksals sich fromm unterordnen, lassen sich die Latiner verführen, diese Weisung zu mißachten, uud Latinus selbst ist trotz besserer Einsicht zu schwach, ihnen den Irrweg zu ver-

s

k

300 Zweites Kapitel Erfindung.

Untergang Trojas, in den Verlust der Creusa, in die Trennung von Dido sich fügt, weil er das als der Götter Willen erkannt hat Er ist, wie wir oben sahen, keineswegs von vornherein ein Glaubensheld ohne Furcht und Tadel, er hat Zeiten der Schwache und Verzagtheit; aber er überwindet sie, fügt sich dem Fatum und trägt den Lohn davon; die Latiner widerstreben und erdulden die Strafe: volentem fata dtwunt, nolefitem trahuni,

3.

Die nächste Folge dieser Grundtatsachen ist die, daß bei— ^ Virgil die Mittel, durch welche die Gottheit ihren Willen zuum erkennen gibt, eine viel bedeutendere Rolle spielen müssen als-« bei Homer: also vor allem Orakel verschiedenster Art, dann aber auch Prodigien, weissagende Träume, Omina u. dgl. Das - Urteil über die künstlerische Berechtigung, diese Mittel der " Förderung anzuwenden, kann nicht unabhängig sein von ihrem Verhältnis zum Glauben der Zeit. Man kann nicht entschieden genug betonen, daß wir es hier keineswegs mit konventionellen, aus älterer Poesie entlehnten 'Maschinen' der epischen Darstellung zu tun haben, die lediglich als Lückenbüßer an Stelle rein mensch- licher Motivierung treten. Es wird niemandem einfallen, unter diesem Gesichtspunkte die zahllosen analogen Erscheinungen in der Geschichtserzählung etwa des Livius zu betrachten; soll der Epiker, dessen Handlung in die Anfänge der Geschichte Tällt, minderes Recht haben als der Historiker? Aber es steht ja nicht einmal nur so, daß beide aus dem Geiste vergangener Zeiten erzählen, daß sie sich gewissermaßen künstlich in die Vorstellungs- weise früherer Geschlechter versetzen, um Stimmung zu machen; mitten hinein in die helle Gegenwart Virgils ragten ja doch jene Vorstellungen, ja eben jetzt erhob sich so manches, was eine Zeit- lang überwunden zu sein schien, mit neuer Kraft. Noch immer gab ja Apollo durch den Mund der Pythia oder durch die Blätter der Sibylle seine Orakel, oder sandte sie denen, die in seinem Tempel schlafend sie erwarteten.^) Noch wurden Auspicien und Prodigien aufs sorgsamste beachtet, noch glaubte man an weis- sagende Tiäume: die Schellen am Giebel des Juppiter Tonans

1) Suet. Aug. 94.

Verkündung des Fatums. 301

bezeugten jedem Römer, daB Juppiter Capitolinus dem Augustus im Traume erschienen war, um sich über Vernachlässigung zu be- klagen.*) Noch erschienen Verstorbene: vor Philippi hatte der Schatten des göttlichen Caesar den Sieg verkündet.^) Man kann gar nicht daran zweifeln, daß auch Hochgebildete, keineswegs nur simple Bauern an die Wahrheit all dieser Dinge geglaubt haben: bürgte ihnen doch dafür nicht bloß die Tradition der Altvordern, sondern auch die Lehre des Poseidonios. Daß Virgil selbst in seines Herzens Grrunde diesen Glauben ablehnte, dies anzunehmen sehe ich keinerlei Anlaß; aber gleichviel; genug, daß wir eines wissen: er schöpfte für sein Epos aus dem Glauben seiner Zeit, und wenn er die Penaten im Traum zu Aeneas sprechen oder die Götter ein vordeutendes Prodigium senden ließ, so steht das als Motiv der Handlung rücksichtlich der Glaublichkeit den rein menschlichen Motiven völlig gleich; für die Zwecke des Dichters aber, wie wir sie erkannt haben, sind jene übernatürlichen Motive geradezu die Hauptsache: sie müssen in seiner Dichtung zur eigentlich treibenden Kraft werden, wenn diese Dichtung die An- siedelung der troischen Penaten in Latium als die vom Fatuni gewollte Tat des Aeneas erzählen sollte. Aufgabe des Dichters war es nur, all diese Äußerungen des Götterwillens, diese viel- artigen Verkündigungen des Fatums nicht zufällig, willkürlich oder zwecklos erscheinen zu lassen, was z. B. der Fall wäre, wenn Orakelsprüche oder dgl. den Aufenthalt in Karthago ver- anlaßten; Virgil bedient sich aber der Willensäußerungen Jup- piters und seiner Interpreten nie als retardierenden, stefas nur alH fordernden Motives, das die Handlung ihrem letzten Ziel uni einen Schritt naher führt. Und unwürdig möchte encheinen, wenn wie das in spätgriechischen Romanen nicht mtlUfn At-.r Fall ist das Fatum so oft bemüht würde, um beli<;hi(/< fi Sterblichen den Weg ihres Privatlebens vorzuzeieluuftt; \Ht\ \ir/A aber handelt es sich ja nicht einmal um das Hcbiduml Attn A^n«tf als Person, sondern um die Mission, deren Trig«r nr )<^.t. Qgi das letzte Ziel dieser Mission stand jedem Leser d«« ^i^Ai^ir^iB b^lückende Gegenwart vor Augen, das Fneduttn^fitn^fTi" n reich des Augustus.

1) Säet Aug. 91.

2) ebd. 96.

300 Zweites Kapitel Erfindung.

Untergang Trojas, in den Verlust der Creusa, in die Trennung von Dido sich fügt, weil er das als der Götter Willen erkannt hat. Er ist, wie wir oben sahen, keineswegs von vornherein ein Glaubensheld ohne Furcht und Tadel, er hat Zeiten der Schwäche und Verzagtheit; aber er überwindet sie, fügt sich dem Fatuin und trägt den Lohn davon; die Latiner widerstreben und erdulden die Strafe: volentem fata ducunt, nolenfem trahunt.

3.

Die nächste Folge dieser Grundtatsachen ist die, daß bei Virgil die Mittel, durch welche die Gottheit ihren Willen zu erkennen gibt, eine viel bedeutendere Rolle spielen müssen als bei Homer: also vor allem Orakel verschiedenster Art, dann aber auch Prodigien, weissagende Träume, Omina u. dgl. Das Urteil über die künstlerische Berechtigung, diese Mittel der Förderung anzuwenden, kann nicht unabhängig sein von ihrem Verhältnis zum Glauben der Zeit. Man kann nicht entschieden genug betonen, daß wir es hier keineswegs mit konventionellen, aus älterer Poesie entlehnten 'Maschinen' der epischen Darstellung zu tun haben, die lediglich als Lückenbüßer an Stelle rein mensch* lieber Motivierung treten. Es wird niemandem einfallen, unter diesem Gesichtspunkte die zahllosen analogen Erscheinungen in der Geschichtserzählung etwa des Livius zu betrachten; soll der Epiker, dessen Handlung in die Anfänge der Geschichte fällt, minderes Recht haben als der Historiker? Aber es steht ja nicht einmal nur so, daß beide aus dem Geiste vergangener Zeiten erzählen, daß sie sich gewissermaßen künstlich in die Vorstellungs- weise früherer Geschlechter versetzen, um Stimmung zu machen; mitten hinein in die helle Gegenwart Virgils ragten ja doch jene Vorstellungen, ja eben jetzt erhob sich so manches, was eine Zeit- lang überwunden zu sein schien, mit neuer Kraft. Noch immer gab ja Apollo durch den Mund der Pythia oder durch die Blätter der Sibylle seine Orakel, oder sandte sie denen, die in seinem Tempel schlafend sie erwarteten.^) Noch wurden Auspicien und Prodigien aufs sorgsamste beachtet, noch glaubte man an weis- sagende Träume: die Schellen am Giebel des Juppiter Tonans

1) Suet. Aug. 94.

Verkündmig des Fatams. 301

bezeugten jedem Römer, daß Juppiter Capitolinus dem Augustns im Traume erschienen war, um sich über Vernachlässigung zu be- klagen.^) Noch erschienen Verstorbene: vor Philippi hatte der Schatten des göttlichen Caesar den Sieg verkündet.^) Man kann gar nicht daran zweifeln, daß auch Hochgebildete, keineswegs nur simple Bauern an die Wahrheit aU dieser Dinge geglaubt haben: bürgte ihnen doch dafür nicht bloß die Tradition der Altvordern, sondern auch die Lehre des Poseidonios. Daß Virgil selbst in seines Herzens Grunde diesen Glauben ablehnte, dies anzunehmen sehe ich keinerlei Anlaß; aber gleichviel; genug, daß wir eines wissen: er schöpfte für sein Epos aus dem Glauben seiner Zeit, und wenn er die Penaten im Traum zu Aeneas sprechen oder die Götter ein vordeutendes Prodigium senden ließ, so steht das als Motiv der Handlung rücksichtlich der Glaublichkeit den rein menschlichen Motiven völlig gleich; für die Zwecke des Dichters aber, wie wir sie erkannt haben, sind jene übernatürlichen Motive geradezu die Hauptsache: sie müssen in seiner Dichtung zur eigentlich treibenden Kraft werden, wenn diese Dichtung die An- siedelung der troischen Penaten in Latium als die vom Fatum gewollte Tat des Aeneas erzählen sollte. Aufgabe des Dichters war es nur, all diese Äußerungen des Götter willens, diese viel- artigen Verkündigungen des Fatums nicht zufällig, willkürlich oder zwecklos erscheinen zu lassen, was z. B. der Fall wäre, wenn Orakelsprüche oder dgl. den Aufenthalt in Karthago ver- anlaßten; Virgil bedient sich aber der Willensäußerungen Jup- piters und seiner Interpreten nie als retardierenden, stets nur als fördernden Motives, das die Handlung ihrem letzten Ziel um einen Schritt naher führt. Und unwürdig möchte es erscheinen, wenn wie das in spätgriechischen Romanen nicht selten der Fall ist das Fatum so oft bemüht würde, um beliebigen Sterblichen den Weg ihres Privatlebens vorzuzeichnen; bei Virgil aber handelt es sich ja nicht einmal um das Schicksal des Aeneas als Person, sondern um die Mission, deren Träger er ist, imd das letzte Ziel dieser Mission stand jedem Leser des Gedichts als b^lückende Gegenwart vor Augen, das Friedensregiment im Welt- reich des Augustus.

1) Suet. Aug. 91.

2) ebd. 96.

302 Zweites Kapitel. Erfindung.

4.

Anders als um die notwendigen Verkündigungen des Fatums steht es nun freilich um die eigentlichen Götterszenen des Ge- dichts: die Gespräche der Götter untereinander; das hilfreiche oder verderbliche Eingreifen der Venus, der Juno u. a., die leib- haftige Erscheinung der Götter und ihrer Gesandten unter den Menschen. Hier kann von historischer Wahrheit in dem eben erörterten Sinne nicht die Rede sein, sondern es handelt sich um poetische Fiktion im traditionell epischen Stil.^) Es fragt sich nur, ob Virgil in dem unmittelbaren Eingreifen der Götter in menschliches Wollen und Handeln wirklich durchweg ein rein poetisches Spiel hat treiben wollen, eine poetische Welt hat schil- dern wollen, in der ganz andere Kräfte wirken als in der unsrigen^ in der alle physischen und psychischen Gesetze, die uns binden, aufgehoben sind, um märchenhafter Willkür Platz zu machen. Kein Zweifel, daß Virgil das rein Märchenhafte nicht völlig ver- mieden hat: er folgt der poetischen Tradition, wenn er die Schlangen des Laokoon, die einäugigen Kyklopen, die unholden Harpyien mit ihren Vogelleibem und Jungfrauengesichtem ein- führt, und er erfindet vielleicht auf eigene Hand dergleichen, wenn er etwa die Schiflfe der Troer sich angesichts der feind- lichen Heere in Nymphen verwandeln läßt. Aber das alles be- rührt nicht eigentlich das Eingreifen der Götter selbst. Was dies betriflft, so bin ich in der Tat geneigt, viel mehr, als man das heute meist tut, bei Virgil symbolisierende Absichten anzu- nehmen, d. h. eine bewußte Umsetzung einfacher psychologischer Vorgänge in die Form göttlicher Einwirkung, wobei darauf ge- rechnet ist, daß der gebildete Leser diese Götterszenen 'allegorisch' deuten werde.

Die Notwendigkeit solcher Deutung ist ja ohne weiteres klar bei einer Figur wie der der Fama, die wir als 'Allegorie' im heutigen Sinne zu bezeichnen haben, nicht verschieden von der Discordia Petrons und Voltaires. Hier ist durch Virgils Schilde- rung (IV 173 fif.) außer Zweifel gesetzt, daß nicht versucht werden soll, den Glauben an die Realität ein Göttin Fama zu erzeugen,

1) Freilich war auch diese nicht ohne Anhalt im Glauben der Zeit: sollte doch Apollo bei Actium die Schiffe des Angustus leibhaftig zum Siege gefahrt haben.

Symbolische Götterszenen. 303

(ondem daß es sich lediglich darum handelt^ statt des 'Gerüchts'^ las als solches keine anschauliche Schilderung verträgt^ ein dar- tellbares Symbol zu schaffen. Aber steht es im Grunde mit Lllekto anders? Wir haben oben gesehen, daß sie nichts anderes }t als die personifizierte Discordia, bei deren Gestaltung Virgil ich des überlieferten Typus der Furie bedient hat. Bei der ichilderang ihres Tuns ist alles vermieden, was die Lebendigkeit, Körperlichkeit der Gestalt abzuschwächen vermöchte; gerade um ie zu heben, läßt es der Dichter nicht beim bloßen Zureden der seelischen Einwirken, sondern erfindet wirkliche Handlungen, ie doch in ihrer Symbolik durchsichtig genug sind: sie stößt em Turnus die Fackel in die Brust ^) und peitscht ihn aus dem Ichlaf, sie läßt eine ihrer Schlangen in mannigfacher Gestalt sich n Amata drängen, um ihr das Gift tief ins Innerste zu flößen^ ie führt des Ascanius Hunde auf des Hirschen Spur und bläst om Dach des Tyrrhidenhauses das Notsignal; in allen Fällen ist las Resultat ihres Tuns, daß Haß und Zwietracht entsteht, der lUf ganz natürlicher Grundlage beruht: bei Turnus und Amata uf dem Haß gegen den Eindringling, bei den Landleuten, wie ie nun einmal geartet sind, auf dem Zorn über den (vermeint- ichen) frechen Übergriff des Troerprinzen. In diesem letzten ^aUe könnte Allekto bei ganz geringer Modifikation der Erzählung öllig entbehrt werden an Stelle des Höllendämons würde ein inglücklicher Zufall treten ; bei Amata ist die psychologische üntwicklung in und neben der symbolischen Darstellung so aus- Qhrlich gegeben, daß diese lediglich äußerer Yeranschaulichung ient; einzig im Fall des Turnus wird die psychologische Ent- acklung durch den symbolischen Vorgang geradezu ersetzt: in Wahrheit imd ohne übernatürlichen Einfluß würde der Umschwung on ruhiger Unbekümmertheit zu rasender Kriegswut kein so ilötzlicher sein. An sich aber ist er aus natürlichen Voraus- etzungen wohl begreiflich, und Allekto wirkt nicht entfernt so ehr als selbständige göttliche Person auf Turnus wie etwa die lomerische Aphrodite in der oben erwähnten Szene aus F auf lelena. Als allegorische Figur war weiterhin Eros schon vor ^irgil unzählige Male in griechischer und römischer Poesie auf-

1) Properz IV 4, 68 von Tarpeia nescia vae Furiis accubuisse ntwis; am Vesta . . . culpam cUit et plures condit in ossa faces, wo Rothstein mit »echt die Allektoszene vergleicht.

304 Zweites Kapitel. Erfindung.

getreten. Virgil bedient sich seiner nur in I, wo er auf Venus' Bitten in Gestalt des Ascanius Didos Liebe zu Aeneas entflammt. Der Zug ist psychologisch sehr fein, die Symbolik an sich ganz durchsichtig; durch das Gespräch zwischen Venus und Amor hat sie der Dichter ebenso über die blasse Allegorie herausgehoben wie Apollonios das Eingreifen seines Eros durch die vorbereiten- den olympischen Szenen. Wenn Juppiter von seinem Throne eine der DircLe herabsendet, die der Jutuma als Omen erscheint, Turnus aber als Nachtvogel in bleichen Schrecken versetzt, so deutet der Dichter selbst an, welcher psychologische Vorgang dadurch symbolisiert wird: 'die Schreckgespenster sendet Juppiter, um die armen Menschen mit Furcht zu erfüllen, wenn er ihnen furchtbaren Tod oder Krankheit zugedacht hat oder sündige Städte mit Krieg schreckt' (XII 850). Als Palinurus am Steuer wacht, übermannt ihn trotz allen Widerstrebens der Schlaf; er fällt bordüber und reißt das Steuerruder mit sich, das er noch mit dem letzten Aufgebote wacher Kraft krampfhaft festhielt: so würde der Historiker berichten ; der Dichter läßt Somnus in Gestalt des Phorbas zum Schlafen auffordern, dann mit lethegetranktem Zweige des Palinurus Schläfen besprengen, daß sich die Augen schließen: endlich stößt er ihn selbst mitsamt dem Ruder ins Meer. Auch hier nichts von einem Wunder, sondern nur eine Über- setzung des natürlichen Vorgangs ins Mythische, des unsichtbaren Vorgangs ins anschaulich Bildliche : Virgil dachte an Darstellungen des Hypnos, der mit dem Mohnzweig die Ruhenden in Schlaf senkt, und wollte ein bildender Künstler darstellen, wie ein Schlafender über Bord fällt, so mußte er, wie Virgil, Hypnos Hand an ihn legen lassen. Als in Nisus (IX 184) plötzlich mit zwingender Macht der Plan des gefährlichen Botenganges auftaucht, fragt er seinen Genossen dine hunc ardorem mentibus addunty an sua cuique deus fit di/ra cupido? Da haben wir die rein menschliche Deutung des seelischen Vorgangs einerseits, die Umsetzung ins Mythische andererseits. Wenn der Dichter erzählt, daß Juppiter den Tarchon mit nicht lindem Stachel in Schlachten- zoru getrieben (XI 725) oder daß Venus dem Aeneas den Gedanken eingegeben habe, die Stadt der Latiner anzugreifen (XII 554)*)>

1) Diese Andeutungen göttlichen Eingreifens, ohne jede nähere Aus- führung — luno vir in animunique ministrat DC 764 , lovis monitis Mezentius succedit pugnae X 689 u. s. f. widersprechen homerischem Brauche nicht:

1

Symbolische Götterszenen. 305

äo berichtet er als Tatsache, was Nisas nur ahnen kann; der Vorgang ist in Wahrheit der gleiche. So wird es der Dichter nicht anders meinen, wenn er etwa in V die troischen Frauen durch Iris zu dem unsinnigen Unterfangen verleiten läßt, die Schiffe anzuzünden; die Worte, die sie spricht, geben das, was der EUstoriker (wie es im gleichen Falle Dionys tut) als pragma- tische Motivierung gegeben hätte. Iris erscheint Beroe, wirft selbst den ersten Brand in ein Schiff, hebt sich dann auf Flügeln in die Lüfte, einen Regenbogen am Himmel ziehend: das alles gehört zur poetischen Hülle, kann und soll nicht rationalistisch gedeutet werden; der Dichter, um es nochmals zu wiederholen, gibt keine bloß sprachlichen Metaphern, sondern setzt die Szene in die mythisch-anschauliche Darstellung um, dabei die Grund- tatsache, den seelischen Hergang, hinreichend deutlich bezeichnend. Als letztes Beispiel mag das Auftreten des Mercur in IV und I dienen. I 297 entsendet Juppiter den Mercur nach Karthago, damit Aeneas dort aufgenommen werde. Mercur erfüllt den Be- fehl; das Wie erfahren wir nicht, sondern nur den Erfolg: ponunt ferocia Poeni corda volente deo; in primis regina quietum cuxipit «ff Teucros animum mentetnque benignam. Man hat an der un- epischen Kürze und dem Mangel an Anschaulichkeit mit Recht Anstoß genommen^); Virgil ist wohl nicht ausführlicher gewesen, weil er schon in IV eine Sendung Mercurs ganz in homerischen Farben geschildert hatte und Wiederholungen vermeidet, auch die Haupthandlung nicht durch eine zweite längere Abschweifung unterbrechen wollte; aber verständlich wird seine Kürze doch nur, wenn wir diesen Gott, der durch seinen Willen auf Herz, Gemüt und Sinn einwirkt, als den köyog fassen, der die jtädr^ der Menschen iShmty noch bevor die Gelegenheit da ist, wo sie ausbrechen könnten.^) In IV wird Mercur zu Aeneas gesandt, um ihn an

n 666 '^Exro^i &vdXxida d'viibv ivfjTisv (Zeus), t 479 t^ yccg kd'rivalri v6ov hifanav u. dgl.

1) An sich würde der Anstoß nicht herechtigt sein (s. vor. Anm.); aher wenn eine solche nicht näher zu definierende göttliche Einwirkung statt- finden Boll, braucht Juppiter dazu nicht erst den Mercur nach Karthago zu schicken, er kann das selbst tun; außerdem ist ganz singulilr die nicht für den Augenblick, sondern für die Zukunft gewollte Wirkung.

2) Plut. de tranqu. an. 465 b xal x&v XöyoaVy oaot ngbg ndd'ri ßorid^ovai^ SbI ngb %&v na^&v intiieXelöd^ai tohs vovv Hx^vxag^ iv* ix noXlov nagsansvaa- pipoi iiälXov d}(peX&aL, ein oft wiederholter Gedanke.

H«iBBe, Yirgilt episuhe Technik. 2. Aufl. 20

306 Zweites Kapitel. Erfindung.

seine Mission zu erinnern; er trifft ihn, wie er gerade beim Bau der karthagischen Burg tätig ist, und richtet seinen Auftrag ausr augenblicks ist Aeneas entschlossen, Karthago zu verlassen; dulci^ terras sagt der Dichter und deutet mit dem einen Worte an, wia^ schwer dem Helden der Entschluß wird. Denken wir hier di^: göttliche Einwirkung fort, so ergibt sich das natürliche Substrate ganz von selbst: statt des als Person gedachten von außen heran tretenden göttlichen köyog hat man nur den in der Brust jede^ Menschen wohnenden göttlichen Xöyog als die erinnernde Machte einzusetzen, und es ist ein sehr feines Motiv, daß gerade beim. Anblick der erstehenden Burg Karthagos plötzlich mit unwider- stehlicher Gewalt den Helden die Erinnerung an die Stadt über- fällt, die ihm vom Schicksal bestimmt war zu gründen. Es gibt kaum eine bessere Parallele zu dieser Szene als die homerische in Ay wo Athena plötzlich zu Achill tretend den wilden Ausbruch seines Zornes hemmt, d. h. der Held sich zu rechter Zeit noch auf sich selbst besinnt: hier wurde zu Yirgils Zeit die Oöttin als Xoyiöfiög gedeutet.^)

^Den in der Brust jedes Menschen wohnenden göttlichen Xöyog' sagte ich: diese Vorstellung, die wir ohne weiteres, schon nach VI 730, bei Virgil voraussetzen dürfen, mußte in der Tat mit großer Leichtigkeit dazu führen, das, was wir als natürliche seelische Vorgange auffassen, in dem Bilde göttlicher Einwirkung zu symbolisieren. BaHoni se subicere und deum sequi sind ja, wie z. B. Seneca so deutlich lehrt, für diese Anschauungsweise gleich- bedeutend, und andere geläufige Wendungen deus ad homines venitf immo, quod est propuis, in homines venit: ntMa sine deo

1) A 220 aij) ig xovXeöv mOB (liya ^itpog, O'bd* &nl&r\aBv (t/v9'ip kd^vairig: dazu Plut. quom. adol. 26 e dgO'&g %al nccJL&g^ Zxi xbv 9vil6v ixx^^fai navtd- Ttaai iiii dvvrid'sig, oiuog nglv &vi/j%etn6v xi ÖQ&aai fiitiavrias xal %€nic%Bv iimeiQ^fi xm Xoyicyim yevöiisvov. Daß diese Erkläningsweise, auch in Bom^ sehr viel älteren Datums ist, brauche ich nicht auszuführen; für Hermes als Xoyog genügt es auf Reitzenstein , Zwei religionsgeschichtliche Fragen (Straßburg 1901), zu verweisen. In der Homererklärung ist die Gleichsetzung ganz ständig, Xoyog bald » Rede, bald = Vernunft; z. B. wird Hermea dem Priamos auf dem Weg zu Achill mitgegeben, weil der l6yog am besten die 7cd&ri besänftigt, schol. Sl 486; Zeus sendet ihn zu Aigisthos: driXot ri^y i% d^smv &v9Qihnoig Xdyov xoü xor* &QSxiiv dagsdv schol. a 88; das fi&Xv^ das Odysseus von Hermes empfängt, ist der xiXsiog Xdyog, v<p' oi ßorfioviiBvog ^ oifdhv nad'stv dvvaxai^ schol. x 306.

Symbolisches und Märchenhaftes. 307

wns bona est ep. 73, 16 u. dgl. kommen der mythisch an- chaulichen Darstellung unmittelbar nahe.

Freilich läßt sich diese Betrachtungsweise keineswegs auf Ue Falle göttlichen Eingreifens ausdehnen. Venus' Erscheinung ÖL n könnte zur Not noch als das Symbol einer plötzlichen Erleuchtung' gedeutet werden; aber bei ihrer Erscheinung in I, vo sie Aeneas über Dido und ihre Schicksale auf klärt, scheitert eder solche Versuch ebenso wie in VTII, wo sie die WaflFe des /^ulcan dem Sohne bringt. Sehr zahlreich sind diese Fälle nicht; IS gehören dahin noch etwa die Szene in X, wo Juno den Turnus lurch ein trügerisches Wolkenbild des Aeneas aus dem Kampfe luf ein Schiff lockt, dann dies vom Ufer löst und nach Ardea EU treiben läßt; Apollos preisende und warnende Worte zu Ascanius n IX; Jutumas Auftreten in XII. Dabei ist zu bemerken, daß ron einem Wunder, dem der verwandelten Schiffe annähernd rergleichbar, abgesehen vom Schild des Aeneas eigentlich einzig yei jenem Eingreifen der Juno die Rede sein kann; die Worte 1er Venus in I könnte ebensogut eine wirkliche tyrische Jägerin iprechen, die des Apollo der wirkliche Butes, an Jutumas Stelle Könnte ebensogut Gamers den Rutulem zureden oder Metiscus len Wagen des Turnus aus Aeneas' Nähe lenken, beim Zweikampf las Schwert reichen. Wie Virgil überhaupt die Teilnahme der 3tötter am Kampfe auf das Äußerste beschränkt hat, so hat er TOT allem das eigentlich Wunderbare, das er in den Schlacht- ichilderungen der Ilias in so reichlichem Maße fand, fast gänzlich iiisgeschaltet oder doch herabgemindert. Um nur ein Beispiel mzuführen: man vergleiche die wunderbare Heilimg des Aeneas lurch Aphrodite in XII mit der Heilung des Hektor in ü. Bei Eomer {tS 409) hat Aias den Hektor mit einem gewaltigen Stein ror die Brust getroffen, daß er hinstürzt wie eine vom Blitz fällte Eiche; die Genossen tragen ihn aus dem Kampf; am ß*Iu8se zu Boden gelegt und mit Wasser übergössen, erwacht er, jpeit Blut, fällt wieder in Ohnmacht Kurz darauf 239) hat )r sich etwas erholt und sammelt seine Kraft; da haucht ihm ipollo (isvog (liyoc ein, und flugs springt er auf und eilt, leicht jnd schnell die Glieder bewegend, in den Streit zurück, wie ein mutiges Roß, das sich von der Krippe losgerissen; und freilich biaben die Achäer allen Grund zu erstaunen, als sie den Tot- {glaubten so unvermutet wieder bei vollen Kräften sehen. Aeneas

20*

308 Zweites Kapitel. Erfindung.

ist durch einen Pfeil am Bein verletzt, so aber, daß er auf seine Lanze gestützt noch stehen kann. Der Pfeil will aus der Wunde nicht weichen; da träufelt Venus in das Wasser, das der Arzt zur Hand hat, den Saft eines heilkräftigen, blutstillenden Krautes (keines Zaubermittels), und kaum benetzt dies Wasser die Wunde, da folgt der Pfeil der Hand, der Schmerz weicht und das Blut steht. Also das lange yergebliche Bemühen des kunstreichen Arztes hat endlich unerwartet glücklichen Erfolg: das kann er sich nur durch göttliche Hilfe erklären, und wir haben gehört, daß er recht hat. Aeneas kann wieder am Kampf teilnehmen, wenn ihn auch die Wunde am Lauf noch hindert (746). Man sieht, wie sich Virgil bemüht hat, das Wunder einem natürlichen Vorgänge näher zu bringen, ohne doch in rationalistische Trivialität zu verfallen.

5.

Die Erscheinungsweise der Götter ist ebenso mannig&ltig wie bei Homer. Sie wirken entweder unsichtbar (so Juno X 633 ff., Venus XH 411. 786), oder sie zeigen sich den Menschen^ iu eigener Gestalt (Venus in H und VHI, Mercur in IV, Iris in IX) oder in menschlicher Verhüllung (Venus in I, Iris und Somnus in V, Allekto in VII, Apollo in IX, Juturna in XII): dann werden sie wohl beim Verschwinden (Venus, Iris, Apollo) oder so nur Juturna XII 632 während ihres Wirkens vom Nächstbeteiligten erkannt; oder endlich sie erscheinen im Traum (Penaten in H, Mercur in IV, Allekto in VII, Tiberinus in VIH).^) Bei Homer ist irgendein festes Prinzip in der Art des Erscheinens m. W. nicht nachzuweisen, auch kaum die eine oder die andere Art als ursprüngliche oder wenigstens ältere kenntlich.^) Virgil hat emp-

1) Ohne homerische Analogie ist die Art, wie IX 110 die Mater sich offenbart: ein wunderbarer Glanz bricht am Himmel aus, Idaeos choros glaubt man wahrzunehmen, und die Göttin läßt ihre Stimme ertönen, ohne sichtbar zu werden oder sich zu nennen. Vergleichbar ist nur etwa die Stimme Apollos, die zu Delos aus dem Adyton tönt m 93. Gerade dies aber, daß die Stimme einer Gottheit aus ihrem Heiligtume sich hören läßt, berichten die Historiker nicht selten, z. B. Liv. VI 88, 5. Tac. bist. V 13. Cic. de div. I 45, 101.

2) Cauers Versuch (Grundfragen der Homerkritik 234 fg.), eine chrono- logische Abfolge aufzustellen, wonach unsichtbares Eingreifen das Älteste sei, Auftreten in eigener Person das Jüngste, bedarf zum mindesten noch besserer Begründung. Cauers jüngstes Stadium hält Robert (Studien zur Ilias 853) gerade für das älteste, mit weit besserem Recht, wie mir scheint.

Grött^rerscheintmgen. 309

nden, daß das Auftreten der Götter in eigener Person weit- 18 die stärksten Ansprüche an die Gläubigkeit des Lesers stelle^ id wendet es infolgedessen nur an, wo es unvermeidlich ist, also k, wo dem Aeneas ein Befehl des Juppiter mit vollster Autorität )erbracht wird, wo Venus dem Sohne das Treiben der Troja rstörenden Götter zeigen will und wo sie ihm die Waffen bringt; idlich da, wo Iris in Junos Auftrage dem Turnus Mitteilungen acht, die ihm keiner der Seinen bringen kann: auch ist es hier X 16) zweifelhaft gelassen, ob Turnus sie nicht erst beim Ver- hwinden erkennt Jedenfalls erkennt er ihr Erscheinen als über- hwängliche göttliche Gnade an imd wendet sich sofort zu Gebet id Gelübde. Die Szene zwischen Venus imd Aeneas in VIII k so knapp erzählt, daß nicht einmal Aeneas' Worte mitgeteilt srden; in II und IV sind die göttlicben Erscheinungen, kaum kB sie ausgeredet haben, auch schon wieder verschwunden, und ur den tiefsten Eindruck des Schreckens läßt die ganz visionär ischaute Erscheinung des Mercur zurück (IV 279).^) So ver- hwimmt auch die Erscheinung der Nymphen (X 219 ff.) wie n Gaukelspiel der Wellen, ehe sich Aeneas (249) von seinem rstaunen erholt hat. Überall ist der visionäre Charakter der rscheinimg so gut tunlich gewahrt; niemals läßt sich die Gott- dt dazu herab, etwa wie in v Athene mit Odysseus, gemütlich it dem Sterblichen zu plaudern oder gar, nachdem sie, wie in Aphrodite von Helena, erkannt ist, streitende Worte zu wechseln*); ich fällt es der Gottheit nicht ein, sich, wie das Poseidon und thena <& 288 tun, dem Sterblichen, dem sie erscheinen, selbst 3 Götter vorzustellen. Ein geflissentlich archaisierender Dichter itte vielleicht gerade solche Szenen bevorzugt, um sich an den iven Göttervorstellungen der alten Zeit zu ergötzen; ein gedanken- 3 nachahmender hätte wahllos zu dem oder jenem gegriffen; ie weit Virgil von beiden entfernt ist, liegt auf der Hand. Auch wo die Götter in fremder stets menschlicher

1) So auch die Erscheinimg der Penaten, die auf der Grenze von Bom und wacher Vision steht, HI 172 fg.

2) Bei Turnus und Jutuma XII 631. 676 liegt die Sache anders; die iden stehen als Geschwister Jutuma ist ja erst von Juppiter zur un- »■blichen Nymphe erhoben einander näher, und es mag darum hin- hen, daß Turnus sie erkennt und anredet, ohne daß sie sich sogleich inen Blicken entzöge.

310 Zweites Kapitel. Erfindung.

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Gestalt sich zeigen, verbirgt sich ihre wahre Art nicht immer' völlig. Sie verwandeln sich nicht eigentlich in Menschen, sL^ legen fremde Gestalt und Kleidung nur wie eine Maske an; Aene&^ ahnt in der tjrischen Jungfrau doch nach Antlitz und Sidmm ^ib

die Göttin, beharrt auch in diesem Glauben trotz ihres Wider

Spruchs (I 327. 372); die falsche Beroe verrät sich wenigsten-^s^ einer Troerin, die freilich auch aus anderem Grunde Verdacht ^ geschöpft hat, durch den Glanz ihrer Augen, durch Stimme, Schritfc::^ kurz alle divini signa decoris (V 647); so hat bei Homer B SO"^ Hektor die Iris, P 333 Aeneas den Apollon erkannt, obwohl si«^ in fremder Gestalt erschienen und sich nicht eigens, etwa durci::^ die Art ihres Verschwindens, als Götter bekannten. Aber Venu^^ und Iris haben ja auch ebensowenig wie Apollo IX 646 die Ab sieht, dauernd unerkannt zu bleiben: beim Entschwinden zeigei^- sie sich in ihrer wahren Gestalt und geben so erst dem, was si^ gesagt haben, den vollen Nachdruck: so kann sich Achates I 58^ auf die Verheißung der Göttin berufen, so erfährt Ascanius de^ Gottes fiirsorgende Gnade und damit eine Bestätigung seiner hohen^ Bestimmung; so werden endlich die troischen Frauen, die einer^ Beroe zu folgen trotz brennender Neigung nicht wagten, bei deirr" Erkenntnis, daß eine Gottheit zu ihnen gesprochen, auch wirklict^i»

erst 'des Gottes inne* (vgl. V 679) und lassen sich von enthu

siastischer Wut hinreißen, dem Beispiel der Verführerin zu folgen.

Ganz für sich steht die Erscheinungsweise Amors in I; majc ^ möchte wissen, ob das eigne Erfindung Virgils ist. Hier nimm*^^ der Gott nicht nur menschliche Gestalt an, sondern wird an Steiler^ des Ascanius gesetzt, dieser aber von Venus die Zeit über entfÖhrt==^- Die Erfindung hat den Nachteil, daß man sie eigentlich nicht zu=:=^ Ende denken kann: wir hören denn auch nicht, wann Ascaniu^^ zurückgebracht wird, ob ihm oder Aeneas diese Vertauschon^^ bewußt geworden ist u. dgl. Das ist durchaus unhomerisch un(X war für Virgil eigentlich nur dadurch möglich, daß I durch di^ beiden Bücher der Apologe von IV getrennt ist, so daß dann di^ Vertauschung ignoriert werden kann, ohne daß dies aUznsehir auffällt.

6.

Die Traumerscheinungen der Aeneis sind (abgesehen von Didos Träumen IV 465 ff.) nicht natürlichen Träumen, wie sie jeder erfahren kann, angeglichen, sondern vielmehr erbetene oder

Grötter- und Traumeischeinungen. 311

och erwünschte Orakel; aach erscheint dem Schlafenden nicht wie ei Homer eine Person seiner nächsten Umgebung, sondern ein rott oder was dem fast gleich steht ein Verstorbener. Die Vahl des Erscheinenden ist stets mit sorgfaltiger Beobachtung er Situation getroffen. Die Traumerscheinung der Penaten III 147 at Virgil der Tradition entnommen, wonach diese Götter wieder- olt im Traum ihren Willen kundgetan haben; Virgil wählt die assendste Gelegenheit, denn es handelt sich eben um das Land, 'ohin diese Penaten zurückgefOhrt werden sollen, sie geben übst fiber ihre uranfängliche Heimat Aufschluß. Hier ist es n Zweifel gelassen, ob es sich um Traum oder Vision handelt, jeneas glaubt an eine wirkliche Götterer^heinung: jeder Gedanke a einen trügerischen Traum soll ausgeschlossen werden.^; Hektor i einzig berufen, den Aeneas auf seine Mission vorzubereiten; Bin anderer Mund könnte das entscheidende Wort sprechen si Wgama dextra defendi posseni, etiam hoc defensa fuisseni U 291. [ercurs Traumerscheinung in IV ist durch sein erstes Auftreten Drbereitet, Anchises* nächtliche Erscheinung in V (die wohl ierher zu ziehen ist, obwohl auch ne als Vision, nicht als Tranm 98childert wirdi ist durch die Stimmung des ganzen Buches >wie als Vorbereitung auf VI 69ö gefordert Gott Tiberinus rscheint in Vlll dem Aeneas, der an seinem Gestade eingeschlafen t und den er am folgenden Tage selbst auf seinen besänftigten Togen zu Euander tragen wilL Auch hier soll Aeneas der rscheinung unbedingt trauen, die ihn reranlaßt, die Seinen in sfahrlicher Lage zu verlassen: daher tritt die Bekriftigong des ranmes durch das Prodigium der trächtigen Sau unmittdbar mach ein (VUl 81?. Allekto zeigt sich dem Turnus als Jano- riesterin, um ron der Wahrheit des Traume« als Qrakds zu »erzeugen; H e^st r/raadum quidem, sagt Maerobius'». cmm in mms parens rd alia sanda gravigce ptr^0ma aim $actrdo$ xA iam deus aperie etfuhimm quid aut wm tr^vdmrmm, facündum tandumrt demtmtiat; auch gibt sie sich ja als Botin ihrer gott- ^en Herrin. Dieee Träume aber erfolgen nicht sozusagen

1) 173 m€C 40p fjr iilud erat, f^A tfMmm ad^wt^jn^c^^rt r*Mmk mm» praanUiaqme ora tüUhmr: d«« huof «rx mr^ m> ^.^m,^^*» maa imd Tramn frfavaAkezkd«ii JBxieÄefBSBjr*«, TgL I><nibmz. dr fiita ciaattoor. Lyi. l'jfjfj. 6 cl ^.

t) Soma. Sczp. I %. 6, ef Dtnbner ^1L

312 Zweites Kapitel. Erfindung.

heiterem Himmel, ohne Vorbereitung, sondern dann, wenn de:^ Ruhende voller Sorgen über den Gegenstand des Traumes ein geschlafen ist, gleichsam in Gedanken eine Frage an die Götte^K* gestellt hat^); oder der Traum knüpft doch an die Ereignisse, di^^ am vergangenen Tage die Seele des Betreifenden heftig bewegifc haben, so unmittelbar an, daß eben daraus klar wird, wie jen^^ Ereignisse auch den Schlafenden noch erfüllen. Es wird abe»^~ auch in dem, was das Traumbild verkündet, die psychologische^?* Wahrheit insofern beobachtet, als das Neue, das der Traumend^ erfährt, doch immer an Bekanntes anknüpft, nie völlig neu und unerwartet ist. Bei den Erscheinungen des Hektor imd Mereur^ ist das ohne weiteres klar; Anchises in Y bestätigt den Rat de9 Nantes und fordert zum Gang in den Hades auf, der schon Aeneas"^ sehnsüchtige Gedanken beschäftigt haben mag; Tiberinus rät^. Euander um Hilfe zu bitten (von dem Aeneas bereits weiS^ Vni 138), und knüpft damit an die Prophezeiung der Sibylle an^ via prima saliUis Grata pandetur ab urbe V 96 völlig nea kommt hier freilich die Ankündigung des Sauprodigiums hinzu; die Penaten endlich weisen auf ihre Urheimat Hesperien und wiederholen damit ein (wohl eben nur zu diesem Zweck erfundenes} Orakel der Cassandra, das dem Anchises gegeben war, also auch nicht völlig außer dem Vorstellungskreise des Aeneas zu liegeik. braucht. In all diesen Weisungen ist so viel des Neuen, da^ man nicht sagen kann, der Träumende hätte bei wachem Nach— denken wohl von selbst darauf kommen können; geflissentlich ist> der Typus einer übernatürlichen 'Eingebung* festgehalten; aber^ man mache sich klar, wie gänzlich verschieden der Fall läge^^p. wenn Aeneas etwa das, was ihm Venus über Dido mitteilt, in»> Traum erführe, oder wenn Tiberinus den Aeneas, wie es dann Euander tut, nach Etrurien verwiese und über die dortigen Zu— stände aufklärte. Und so unterscheidet sich denn auch das rituelle Traumorakel des Pannus (VIH 81) von jenen anderen Träumen: auf die extemi generi und ihre erhabene Nachkommenschafb konnte Latinus aus sich heraus unmöglich verfallen.

I

3) ni 158 curas his demere dictis Y 720 in curas animo didacitur qmnis Vni 29 tristi turbatus pectora hello procubuit.

Träume nnd Vorzeichen. 313

7.

Vorzeichen mannigfacher Art, die von den Göttern zur IVamung oder Ermutigung gesandt werden, spielen schon bei Homer eine wenn auch bescheidene Rolle; es konnte nicht fehlen, daB der Römer Virgil ihnen breiteren Raum gewährte. Über das von Anchises vor dem Auszug erbetene auspicium maximum wurde oben S. 56 ff. gesprochen; als das verheißene Land erreicht ist, be- stätigt Juppiter durch dreimaligen Blitz und Donner die Erfüllung seines Befehls (VII 141), und wieder donnert er von links her und sendet den Blitz aus heiterem Himmel, als Ascanius vor seiner ersten Waffentat zu ihm betet (IX 630): damit knüpft Virgil an die Tradition an, die dies höchste Auspicium zum ersten Male dem Ascanius im Ejiege gegen Mezentius zuteil werden ließ (Dionys. n 5). Andere nannten hier an seiner Stelle Aeneas (Plut. q. R. 78); auch das läßt Virgil nicht beiseite: Blitz und Donner ans heiterem Himmel, dazu Tubaklang und Waffenklirren sind das ermutigende Zeichen, das Venus ihrem Sohne vor Ausbruch des Krieges sendet (VHI 524); hier ist, wie man sieht, mit dem eigentlichen Auspicium eines der häufigsten Prodigien verbunden, das sonst schlechthin auf Krieg oder Mord zu deuten pflegt, hier durch die Beziehung auf die arma Vulcania tieferen Sinn erhält. Den Himmelszeichen nahe steht der brennende Pfeil des Acestes (V 522), dessen Bedeutung oben S. 162 ff. besprochen wurde.

Die Beobachtung der Vogelzeichen war zu Virgils Zeit wie es scheint abgekommen: die Wiederholung des romulischen öeier- zeichens bei Octavians erstem Konsulatsantritt war offenbar etwas ganz Besonderes.^) Dazu stimmt, daß bei Virgil nur Venus ein- mal — als Tyrierin aus dem Vogelflug^ wahrsagt (I 393) ^), und daß das von Tolumnius XII 259 gedeutete Vogelzeichen trügt. Hamspicin wird ebenso bezeichnenderweise nur von Dido ange- wandt (IV 63), die auch allein zu den dunkeln Gewalten der Magie ihre Zuflucht nimmt.

Prodigien dagegen spielen, wieder dem Geiste virgilischer Zieit entsprechend, keine geringe Rolle. Die beiden der Tradition entnommenen von den Tischen und der trächtigen Sau fallen aus

1) Mommsen St. R. I 79, 1.

2) Wohl aber versteht sich auch Helenus auf die praepetis omina pinnae m 361.

314 Zweites Kapitel. Erfindimg.

dem Kreise der übrigen heraus^ insofern sie zur Bestätigung früherer Weissagung dienen; aber die Berichte über Didos Schreckens- zeichen (IV 452 jBF.) und über die auf Lavinia bezüglichen gött- lichen Warnungen (VII 58 ff.) lesen sich ganz wie Prodigienlisten römischer Annalen. So hat sich denn auch Virgil den römischen Glauben zunutze gemacht, um andere xigaza dem Verständnis seiner Leser nahezubringen. Die aus dem Grabe tönende Stimme des Polydoros (III 19 ff.) wird ganz als warnendes Prodigium be- handelt (oben S. 105); bei den Harpyien schwanken die Troer, ob sie es wirklich mit Göttinnen oder mit dirde vdlucres zu tun haben, man fordert zu Gebeten und Gelübden auf, um, wie nach Prodigien, die pax deum zu erlangen, und bei nächster Gelegen- heit wird die Schar entsühnt (III 261. 279). In Gestalt eines Unglücksvogels, also eben einer dira volucris, zeigt sich auch die von Juppiter entsandte Dira dem Turnus (XII 862). Als das hölzerne Roß viermal an der Schwelle des trojanischen Stadttores stockt, beachten die verblendeten Troer das Omen nicht (11 242), während sonst der Glaube an Omina durchaus feststeht (III 537. X 311).

Vom feierlich durch Göttermund verkündeten Fatum bis zu dem Schwanken vieldeutiger Omina ist ein weiter Weg. Virgil geht, wie wir sahen, an keiner Station dieses Weges achtlos vorüber; was irgend seine Zeit an übernatürlichen Offenbarungen und Einwirkungen glaubt, findet in dem Gedicht seine Stelle. Wenn wirklich, wie schon antike Beobachter empfanden, die dsLötäaiiiovla zu den wesentlichsten Grundzügen des römischen Wesens gehörte, so ist die Aeneis durch Virgils Kunst auch in diesem Punkte zum römischen Epos xar' i^oxt^v gewerden.

8. Die theologische Grundlage der virgilischen Götterwelt, wie ich sie zu rekonstruieren versucht habe, ist nicht ohne Einfluß geblieben auf die äußere Gestaltung der Götterszenen, die wir schließlich noch kurz zu betrachten haben.^) Oft genug ist her- vorgehoben worden, daß Virgils Götter an poetischer Realität die homerischen weitaus nicht erreichen. Virgil ist hierin nicht kon-

1) Vgl. dazu Drachmann a. a. 0.; hübsche Beobachtungen gibt auch G. Ihm, VergilatudieD I, Progr. Gemsheim 1902.

Grötterszenen. 315

K|nent yerfahren: er malt gelegentlich göttliches Auftreten mit Ächem plastischen Detail so die Fahrten Neptuns in I und V, m Botengang Mercurs in IV , aber das sind Ausnahmen; im uizen stehen die Götterszenen hinter den menschlichen Vor- ingen an Anschaulichkeit zurück. Wie unvollständig ist die ^hilderung der Situation z. B. in I bei Junos Gespräch mit eoluS; etwa verglichen mit Thetis' Besuch bei Hephästos: und ibei ist hier ein bestimmter irdischer Schauplatz der Zusammen- inft, des Aeolus Burg auf den liparischen Inseln, vorausgesetzt. Q äbrigen spielen die Götterszenen einfach 'im Himmel'^), bei )m nur einmal, mehr wissenschaftlich als poetisch, die der Erde Ibere Wolkenschicht vom reinen Äther unterschieden wird (XII J2), oder im 'Hause des Juppiter'*), wobei wieder nur einmal n ganz vereinzelter Zug, der goldene Thron des Juppiter (X 116), }r Anschauung einen gewissen Anhalt bietet; auch beim Zu- kmmensein des Ehepaares Venus und Vulcan muß die szenische Dgabe thcdamo coniugis awreo (VIQ 372) genügen, und man ist et überrascht, dann noch (415) vom 'weichen Lager' des Gottes i hören. Oder endlich es wird völliges Stillschweigen über den rt des Göttergespräches beobachtet.*) Nun ist ja solche Un- 38timmtheit auch bei Homer nichts Seltenes: aber dazwischen eben in der Ilias reich detaillierte Beschreibungen von der Otter Wohnen, Tun und Treiben, und die Phantasie des Lesers, lerdurch in bestimmte Richtung gedrängt, ergänzt sich leicht IS anschauliche Bild an den Stellen, wo der Dichter es nicht bt. In der Odyssee ist ein wesentlicher Abstand zu verspüren: e Götterversammlungen in cc imd s sind mit ganz virgilischer nbestimmtheit berichtet; und hier findet sich auch die virgilische ikonsequenz in der Behandlung des göttlichen Auftretens: in e fahren wir genau, woher Poseidon kommt, von wo er den dysseus erblickt, wohin er dann seine Rosse lenkt, während thena einfach zugegen ist und nicht als Person, sondern als ipersönliche göttliche Macht wirkt. Ebenso stark prägt sich jr Zwiespalt der Auffassung bei Virgil aus: in IV tritt Mercur

1) aeifiere summo und vertice caeli I 228. 226. superis in sedibus XI 532 elo aito X 6SS.

2) X 758 lavis in tectis 6 tectis bipatentibtts. 8) I 668. IV 92. V 780.

316 Zweites Kapitel. Erfindung.

nach homerischem Vorbild als göttliche Person mit vollster An- schaulichkeit auf, in I wirkt er, ohne daß wir das Wie erführen, ganz als göttlicher köyog. Wejin wir schon bei Betrachtung der menschlichen Handlung fanden, daß Yirgil das Hauptgewicht auf die psychischen Vorgänge legt, die physischen dagegen zurück- treten läßt, so ist das bei der göttlichen Handlung doppelt deut- lich: die psychologische Motivierung wird in Monolog und Rede und Verhandlung mit großer Sorgfalt gegeben, aber Virgil hat keinerlei Neigung, da wo die Götter nicht direkt in die mensch- liche Handlung eingreifen und der Einheit des Stils zuliebe wie Menschen behandelt werden, die plastische Verkörperung der geistigen Kräfte über das unbedingt Notwendige hinauszuführen.

HI. Die Handlung, a. Struktur der Handlung.

^^-^ Ich versuche, um die Erfindung der Handlung zu charakte- risieren, im folgenden die Typen aufzustellen, in denen sich diese Erfindung mit Vorliebe bewegt. Den generellen Unterschied der virgilischen Handlung von der homerischen könnte man wohl so bezeichnen, daß bei Homer die Handlung ihre Bedeutung in sich selbst trägt, während es bei Virgil auf die Erreichung eines Ziels hinausläuft. Man hat ja bei Homer so oft den Eindruck, daß der Erzähler das Ziel seiner Handlung aus dem Auge verliert; er verweilt, wie A. W. Schlegel schön gesagt hat^), 'bei jedem Punkte der Vergangenheit mit so ungeteilter Seele, als ob dem- selben nichts vorhergegangen sei und auch nichts darauf folgen sollte, wodurch das Erquickliche einer lebendigen Gegenwart über- all gleichmäßig verbreitet wird'. Diese 'epische Ruhe* findet man bei Virgil nur als Ausnahme; wie im Drama (soweit es auf spezifisch dramatische Wirkungen ausgeht) jede Szene auf ein bestimmtes Ziel hindrängt, so bei Virgil; man soll nie das Gefühl verlieren, daß die Handlung fortschreitet. Man vergleiche die Behandlung des durch Pandaros verwundeten Menelaos mit der Behandlung des verwundeten Aeneas in XH; daß der Leser auf die Folgen des verräterischen Schusses gespannt sein könnte^

1) Werke XI 191.

Fortschreiten und Einsetzen der Handlang. 317

kümmert Homer nicht im mindesten (man müßte ihm denn zu- trauen^ daß er absichtlich die Spannung hinhalte); auch hat es für die nächste Folge keinerlei Bedeutung^ ob Menelaos früher oder später wiederhergestellt wird, und doch verweilen wir dabei mit eingehendster Ausführlichkeit. Bei Yirgil hängt alles davon ab, daß Aeneas wieder kamp^ähig wird, sonst gewinnen die Feinde die Oberhand; die Szene spitzt sich energisch auf ihr Ziel zu, und die Erreichung des Ziels ist Vorbedingung für den Erfolg der Gesamthandlung. Eine Handlung wie die imnakriöLS 'Ayaiidiivovog, wie die xeixoöKonla^ wie die Einleitung der -^o- Xaveia erfindet Yirgil nicht. Die scheinbaren Ausnahmen be- stätigen die Kegel. Wohl finden sich Szenen, die zum Fortschritt der Gesamthandlung nichts beitragen und auch in sich keinen lebhaften Fortschritt zeigen; aber dann liegt das Interesse über- haupt nicht auf dem Vorgang und seiner Darstellung, sondern entweder wie bei der Andromacheszene auf der Darstellung eines Affekts, oder wie bei der Periegese Altroms in VIII auf dem historisch-nationalen Gehalt.

2.

Yirgil liebt es, die Handlung mit einem plötzlichen starken Ruck zu eröffnen, statt sie langsam und allmählich in Bewegung zu setzen. Das Interesse des Lesers soll nicht Schritt für Schritt gewonnen, sondern auf einmal erobert werden. Wie wenig Eile hat der Verfasser unserer Odyssee, zu seinem Helden zu gelangen, wie behaglich wird die breite Exposition gegeben, und wenn wir endlich bei Odysseus selbst sind, wie ruhig und leidenschaftslos entwickeln sich da vor unsern Augen die Begebenheiten. Die Aeneis beginnt, nach kurzem Vorwort, mit einer wildbewegten Szene, dem Seesturm: da wir den Helden zum erstenmal sehen, schwebt er in Todesgefahr. Freilich wird diese Szene vergleichs- weise ruhig exponiert, durch den Monolog der Juno und das Gesprach mit Aeolus: aber das Verhängnis kündigt sich schon in Junos ersten Worten an und schnell rückt es näher. Dies Ver- fahren wiederholt sich im Lauf der Erzählung, so oft dazu Ge- legenheit ist; ich habe darauf in den Analysen des ersten Teiles wiederholt hinzuweisen gehabt. Die Erzählung des Aeneas im zweiten Buch ist zunächst mehr beriAitend als darstellend: die Darstellung setzt mit dem plötzlichen Auftreten des Laokoon ein.

318 Zweites Kapitel. Erfindung.

Nach der langen Erzählung des Sinon bringt das Auftreten der Schlangen und das Unglück des Laokoon die Handlung mit einem Ruck energisch in Gang. Die Schilderung der Schreckensnacht setzt nicht damit ein^ daß Aeneas durch den Lärm erwacht und allmählich die Situation begreift, sondern mit der pathetischen Traumerscheinung HektorS; die mit einemmal die Lage grell be- leuchtet. — In IV handelt es sich darum, den Aufbruch des Aeneas herbeizuführen; einem andern hätte es vielleicht nahe ge- legen, die ünhaltbarkeit der Situation allmählich sich heraus- stellen zu lassen, oder aber nach Ablauf einer gewissen Zeit Aeneas seiner höheren Pflichten sich erinnern zu lassen. Bei Yirgil bringt ein ganz bestimmtes Ereignis, das trotzige Qebet des Jarbas, den Stein ins Rollen, und die Sendung Mercurs trifft den nichtsahnen- den Aeneas wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ähnlich bei der Abfahrt selbst: sachlich hätte es genügt, wenn Aeneas beim ersten Morgengrauen erwachte und den Befehl zur Abfahrt gab; aber damit hätte die so folgenschwere Handlung zu ruhig eingesetzt. Yirgil läßt Mercur zum zweitenmal auftreten und nun Aeneas subitis exterritus umbris corripit e somno corpus sociosque fcUigcd, Die eigentliche Handlung von VI setzt mit dem Auftreten der Sibylle ein; Virgil hätte schildern können, wie Aeneas sie aufsucht, sein Anliegen vorbringt usw.; statt dessen schildert er lieber zunächst einen Zustand der Ruhe Aeneas in die Be- trachtung der Tempelbildwerke versimken und läßt diesen jäh unterbrechen; nach wenigen Versen kann die Beschwörung be- ginnen. Als letztes Beispiel mag der Beginn von IX genannt sein: die Sendung der Iris zu Turnus hat wesentlich die tech- nische Bedeutung, ein mattes Einsetzen der neuen Aktion zu vermeiden. ,

3.

Der erfahrungsgemäß kräftigeren Wirkung, die eine dramatisch aufgeführte Szene im Vergleich mit einer episch erzählten aus- übt, sucht Virgil so viel wie möglich dadurch nahezukommen, daß er die Einzelteile seiner Erzählung szenenhaft komponiert. Ich wähle als erstes Beispiel den Vertrag und seinen Bruch in XII, die oben von anderem Gesichtspunkt aus analysiert wurden; der Vergleich mit Homef ist auch für unsem gegenwärtigen Zweck äußerst lehrreich. Bei Homer entwickelt sich die ganze

Dramatische Szenen. 319

Begebenheit Ton An&ng an vor unsem Augen in langem Zuge. Paris weicht dem Menelaos aus^ Hektor schilt ihn; Paris schlägt dann selbst den Zweikampf vor^ Hektor hält die Troer vom Kampf ab^ Agamemnon, seine Absicht erkennend, desgleichen die Griechen; Rede des Hektor und Gegenrede des Menelaos: der Zweikampf wird beschlossen. Herolde werden nach Dion und ins griechische Lager gesandt. Inzwischen geht Helena, von Iris angetrieben, zur Mauer und zeigt dem Priamos die griechischen Helden; dort trifft der Herold den Priamos, dieser fährt zum Kampfplatz. Dort Eidschwur und Opfer, Priamos fährt zurück; Vorbereitungen und Zweikampf Aphrodite entführt den Paris nach Troja, dort lange Szene zwischen ihr und Helena, die sich sehlie£iich zu Paris begibt. Währenddem sucht Menelaos diesen yeigebens auf dem Schlachtfeld. Nun lange Szene im Olymp^ deren Resultat die Verführung des Pandaros durch Athena. Ver- wundung des Menelaos, langes Gespräch zwischen ihm und Agamemnon; der Herold geht ins Lager, richtet seinen Auftrag an Machaon aus, kehrt mit diesem zurück, Menelaos wird ver- sorgt; währenddem rücken die Troer bereits zum Kampf an,. Agamemnon ermuntert die Seinen, einen nach dem andern. Bei Virgil sind die Verabredungen am Tag zuvor getroffen; als der Morgen anhebt, beginnt, wie im Drama so offc, die eigentliche Handlung. Schauplatz: Ebene vor der Stadt (116); diesen Schau- platz verlassen wir nur einmal für kurze Zeit in einer Pause der Handlung, um Junos Gespräch mit Jutuma beizuwohnen (134 160). Nacheinander, so daß der Zuschauer alles mit Muße wahrnehmen kann, treten die Personen auf; zunächst Diener, die Rasenaltäre errichten; dann von beiden Seiten die gewappneten Heere; die Führer, in Purpur gehüllt und goldgeschmückt, sprengen auf und ab; auf ein gegebenes Zeichen wird Posto gefaßt, die Waffen abgelegt; auf den Mauern und Dächern der Stadt zeigen sich Frauen, Greise und andere nicht waffenrähige Zuschauer: alles harrt der Hauptpersonen. Hier die oben bezeichnete Pause. Nun, da alles vorbereitet ist, treten Latin us und Turnus, Aeneas und Ascanius auf; mit ihnen die Priester: bei diesen Hauptpersonen ist die äußere Erscheinung geschildert, um ein anschauliches Bild zu erwecken. Nun die genaue Beschreibung von Schwur und Opfer. Währenddem hat sich schon bei den Rutulem Abneigung g^^n den Zweikampf erhoben; sie wächst, als Turnus mit deut-

320 Zweites Kapitel. Erfindung.

liehen Zeichen der Erregung dem Ältare betend naht: hier greift Jutorna in Camers' Gestalt ein; die Dinge entwickeln sich rasch bis zum Speerwurf des Tolumnius^ dem Getümmel um den Altar; Latinus flieht zur Stadt zurück, Äeneas wül Einhalt tun, wird aber verwundet und muß ins Lager abgeführt werden: nun ruft Turnus nach Wagen und Waffen, der regelrechte Kampf entspinnt sich. Die ganze Erzählung könnte man sich als genaue Wieder- gabe einer Szene denken, wie sie auf der ausstattungsfrohen Bühne der virgilischen Zeit gespielt wurde: das einzige kurze Gesprach von Juno und Juturna würde herausfallen. Ein zweites sehr deutliches Beispiel: erste Begegnung des Aeneas mit Dido. Schau- platz: Tempel der Juno in Karthago. Aeneas und Achates treten auf, Gespräch bei Betrachtung der Bildwerke. Bald erscheint in glänzendem Aufzuge die Königin, Aeneas imd Achates verbergen sich, um zunächst, selbst unbemerkt, die Situation zu beobachten. Dido nimmt, umgeben von ihrer Leibwache, Platz auf dem Thron in des Tempels Mitte und erteilt Befehle und Entscheidungen. Von außen hört man Lärm und Getümmel: heftig bewegt drängt die Gruppe der troischen Führer heran, von karthagischen Scharen umgeben; Ilioneus tritt vor, sein Gespräch mit Dido. Kaum hat diese ihr Verlangen geäußert, Aeneas selbst vor sich zu sehen, da wird dieser allen sichtbar in strahlendem Schönheitsglanze; er richtet erst seine begeisterten Dankesworte an die Königin, be- grüßt dann aufs herzlichste die verloren geglaubten Gefährten; Dido, die sich inzwischen nach heftigem Staunen gefaßt hat, heißt ihn freundlich willkommen und lädt ihn zu sich ein: alle ab in freudig festUchem Zuge (631). Und so findet man fast an allen Höhepunkten der Handlung die ganze Aeneis hindurch Szenen, die mit dem Auge des dramatischen Dichters gesehen, mit des epischen Dichters Mitteln wiedergegeben sind unter tun- lichster Bewahrung der dramatischen Wirkung; ich nenne nur die Szene beim hölzernen Roß, am Altar des Priamus (H 512); die Szene vor dem Aufbruch des Aeneas (634); die Szene am Tumulus des Hektor (HI 304); an der Ära des Hercules, die Ankunft des Aeneas bei Euander (VHI 102); von kleineren Szenen etwa die Begegnung des Aeneas und der Sibylle VI 59, die AchaemenidesBzene HI 588, die Rückkehr des Aeneas zu den Seinen X 215 275. Endlich sei daran erinnert, wie es Virgil gegebenenfalles versteht, die Zuschauer einer Aktion als Statisten

Szenen. Peripetien. 321

mit den handelnden Personen in einem Bilde zu vereinigen: bei Gelegenheit der Sinonszene, der SchifPsregatta, des abschließenden Zweikampfs ist fir&her darauf hingewiesen worden.

Dem rein epischen Stile entspricht die ruhig und stetig in einer Richtung ablaufende , wenn auch durch retardierende Mo- mente zeitweis aufgehaltene Handlung^ dem dramatischen der jähe Umschlags die xsQL^ireta. Die Analysen des ersten Teiles haben gelehrt^ daß Virgil; wo immer es angeht, die gebrochene Handlung, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, der geradlinigen Torzieht; er laßt die Handlung zunächst scheinbar auf ein auderes Ziel als das endliche losgehen und gibt ihr unerwartet eine neue Wendung; oder, wo die Richtung auf das Endziel gleich anfangs eingeschlagen wird, begnügt er sich nicht mit einer einfachen Retardation, sondern steigert diese womöglich zu einer wirklichen Ablenkung der Handlung nach anderer Richtimg.

Vom Standpunkt der Griechen aus gesehen, bildet die Hin- persis mit ihrer Vorgeschichte eine stetig sich entwickelnde Handlung, in der das warnende Auftreten Laokoons nur retar- liierendes Moment ist. Vom Standpunkt der Troer aus, wie sie Yirgil erzahlt, schreitet die Handlung zunächst scheinbar stetig auf die Rettung Trojas zu; in dem Freudenfest nach Einholung des Rosses erreicht sie ihren Höhepunkt: hier tritt die Peripetie eiiif und rasch rollt die Handlung nach entgegengesetzter Richtung ab. Der nächtliche Kampf selbst ist nach der Tradition ein un- unterbrochenes Siegen der Griechen; bei Virgil scheint es eine Zeitlang, als neige sich das Glück den Troern zu: aber nur kurze Zeit, dann wendet sich wieder das Geschick.

Odysseus strebt stetig und ununterbrochen heimwärts: der Aufenthalt bei Kirke und Kalypso verzögert seine Fahrt, ohne daß doch sein Ziel verrückt würde. Im 4. Buch der Aeneis läßt sich zunächst alles so an, als solle Aeneas in Karthago dauernd verweilen: Hera arbeitet darauf hin, Didos Liebe baut fest darauf, Aeneas selbst scheint seine Bestimmung völlig vergessen zu haben da plötzlich tritt mit Mercurs Erscheinen die Peripetie ein, und unaufhaltsam drängt die Erzählung nach entgegengesetzter Rich- tung, zur Abfahrt des Aeneas.

Der Brand der SchiflFe in Sicilien dient in der historischen

Heime, Yirgila epische Technik. 2. Aufl. 21

322 Zweites Kapitel. Erfindung.

Überlieferung nur zur Erklärung der troischen Kolonie: Aenea» hat die Mannschaft dieser Schifife notwendig zurücklassen müssen. In Virgils Erzählung^ die den SchifiTsbrand unmittelbar an die Leichenspiele anschließt, tritt er als Peripetie auf^): die Bilder heiteren Glückes werden plötzlich durch ein Ereignis unterbrochen, dessen Furchtbarkeit der Dichter geflissentlich steigert; freilich löscht Juppiter bald den Brand, aber das ganze unternehmen des Aeneas scheint trotzdem in Frage gestellt (700 704), und erst der Rat des Nantes in Verbindung mit der Traumerscheinung des Anchises führt die Handlung wieder auf den ursprünglichea Weg zurück.

Nach der Tradition geschah die Besiedelung Latiums zunächst ohne erhebliche Schwierigkeit; erst nachträglich haben Aeneas und Ascanius das Erworbene in wiederholten Kämpfen zu be- haupten. YirgUs 7. Buch ist nach dem gleichen Schema angelegt wie die bisher betrachteten. Zunächst scheint alles den glück- lichen Ausgang zu garantieren: das Tischprodigium gibt den Troern die Gewißheit, daß sie das gelobte Land endlich erreicht haben, Latinus ist durch das Orakel des Faunus zu günstiger Au&ahme der Fremden bereits vorher disponiert, die Gesandt- schaft verläuft zu beiderseitiger völliger Zufriedenheit da greift Juno ein, und Schritt für Schritt geht es rückwärts, bis der mächtig auflodernde Krieg alles bisher Erreichte in seinen Flammen zu ersticken scheint.

Wie im großen, so wirkt das Prinzip im kleinen, in den einzelnen Teilhandlungen. Ich brauche hier nur dai-an zu erinnern, wie bei den Wettspielen der Vergleich mit Homer die unerwartete Peripetie als virgilische Eigentümlichkeit deutlich machte; wie in den Kampfschilderungen sich immer wieder das Schema der bis zu bestimmtem Höhepunkte aufsteigenden und dann plötzlich umschlagenden Handlung herausstellte; statt auf diese Gruppen von Fällen hier nochmals einzugehen, führe ich lieber einige weitere vereinzelte an.

Bevor Aeneas und die Sibylle über das stygische Wasser den Zugang zur eigentlichen Unterwelt finden, haben sie den Widerstand des Fährmanns Charon zu überwinden (VI 385 ff.). Das würde einfache Ketardation sein, wenn auf Gharons Rede

1) Ausdrücklich betont 604 hie primum Fortuna fidem mutata novavü.

Peripetien. 323

etwa die Sibylle als Prophetin Apollos dessen Willen verkündete und Gharon sieh dem fügte. Bei Yirgil yerläuft die Szene weit dramatischer: die Antwort der Sibylle sucht zunächst Charons Befürchtungen zu zerstreuen^ sie nennt Aeneas^ preist seine pietas, bezeichnet den Zweck seines Kommens alles vergebens, Charon verharrt bei seiner ablehnenden Haltung.^) Da zieht die Sibylle aus ihrem Gewände den goldenen Zweig: ramum hunc adgnoscas und nun bedarf es keines Wortes mehr von keiner Seite, in schweigender Verehrung lenkt Charon seinen Kahn zum Ufer. Das Intermezzo ist ein kleines Drama für sieh.

£uand^ gibt am Morgen nach dem Herculesfest (VIII 470) dem Aeneas Bescheid auf sein Hilfegesuch. Der Bescheid ist so günstig wie möglich: was an Truppen aufgebracht werden kann, stellt er zur Verfügung und eröffnet zugleich die Aussicht auf das erheblich bedeutendere Kontingent der Etrusker; Aeneas könnte sich nun bedanken und freudig die Fahrt nach Caere antreten. Statt dessen ist der Bescheid so gewendet, daß ihn Aeneas als Fehlschlag seiner Hoffnungen empfindet, auch der neuen Aussicht nicht zu trauen wagt: gesenkten Blickes sitzen Aeneas und Achates, des Schicksals Härte voll Trauer erwägend (520 ffi) da gibt Blitz und Donner aus heiterem Himmel zur rechten Stunde ein frohes Zeichen, Waffen glänzen und klingen in den Lüften: Aeneas weiß, daß seine göttliche Mutter ihres Versprechens gedenkt, und nun ist alle Sorge verschwunden, augen- blicklich werden frohen Mutes die Anstalten zum Aufbruch ge- troffen.

Bei dem Seesturm der Odyssee erscheint das Eingreifen Poseidons (s 365 ff.) nicht als Peripetie: er sagt ja selbst gleich zn Anfang, daß dem Odysseus auf Scheria das Ende seiner Leiden bevorstehe, und wiU dies nur verzögern. Die Gegenaktion der hilfreichen Göttinnen, Leukothea und Athena, zersplittert sich in eine Reihe von Einzelaktionen, die nach und nach in Verbindung mit den verzweifelten Anstrengungen des Odysseus die Wirkung von Poseidons feindlichem Eingreifen aufheben. Bei Virgil setzt die Handlung mit dem Losbrechen des Unwetters ein: Schritt für Schritt kommen die Troer dem Verderben näher, schon ist

1) Diese ezeniache Notiz ersetzt der Vers 405 si te nuÜa movet tantae jpietatit imago,

21*

324 Zweites Kapitel. Erfindung.

ein Schiff versunken^ schon sind andere vier in der gleichen Gefahr ~ da taucht Neptuns gelassenes Antlitz aus den Fluten empor^ die Winde ziehen ab, der Himmel entwölkt sich, das Meer ebnet seinen Spiegel, die festgefahrenen Schiffe werden flott und treiben der rettenden Küste zu. Also anstatt einer zwar mehrfach retardierten, aber stetig aufs Ziel losgehenden, an Stadien reichen Handlung eine einmal und energisch durch die Peripetie gebrochene.

5. Ein jäher Umschlag, wie die soeben beschriel^enen, wird zumeist auch eine Überraschung für einen oder für alle Be- teiligten bedeuten. Solche Überraschung, als Folge von plötzlich und unerwartet eintretenden Ereignissen, deren Bedeutung so gewissermaßen unterstrichen wird, spielt in Yirgils Handlung eine wichtige Rolle auch da, wo wir von einer Peripetie kaum sprechen können. Man sehe etwa, wie Aeneas' Erscheinung Andromache^), Dido*), Acestes"), Euander und die Seinen*) überrascht, oder man begleite ihn selbst während der letzten Stadien der Iliupersis: Erscheinung der Venus, Weigerung des Vaters, Flammenzeichen, Himmelsauspicium, Feinde in Sicht, Verlust der Greusa, ihre Erscheinung man sieht, er muß aus einer Überraschung in die andere gefallen sein, und als er schließlich zu den Seinen zurückkehrt, bietet sich ihm auch hier überraschenderweise ein ganz anderer Anblick als der erwartete.^) Der Vergleich mit Homer stellt auch diese Eigenheit in helleres Licht. Als in A nach dem Vertragsbruch die Troer zum Kampf vorrücken, heißt es von den Achaeem ganz schlicht ol d' avrtg %axä %^v%t idvv, ^vrltSavto di X^^QM^- Wie Virgil das geschildert haben würde, kann man sich nach einer Szene in XI (445 ff.) ausmalen: der Waffenstillstand ist zu Ende, man muß in Laurentum eigenÜich auf die Erneuerung des Kampfes gefaßt sein; aber es wird ge- schildert:

1) III 307 magnis exterrita monstris deriguit visu in medio.

2) I 613 ohstipuit primo aspectu.

3) V 35 procul ex celso miratur vertice montis . . . occUrrit.

4) Vni 109 terrentur visu subito cunctique rdictis consurgunt mensis.

5) II 796 ingentem comitum adfluxisse novarum invenio admirans numerum.

Überraschungen. 325

nufUius ingenti per regia ieda tumtdtu ecce mit mcLgnisque urbem terroritms implet, instructos ade Tiberino a flumine Teucros Tyrrhenamque manum totis descendere campis. extemplo iurbctä animi amcussaqm volgi peciora

xk. 8. f. Als beim homerischen Faustkampf Epeios trotzig heraus- fordert, schweigen die anderen alle; ^Euryalos allein trat ihm entgegen . . . den ermunterte der Tydide zum Kampf (3*' 676). Als sich Eryx entschließt, die Herausforderung anzunehmen (V 400), wirft er mitten in den Kreis zwei gewaltige Gaestus: obstipuere ammi . . . ante omnis stupet ipse Dares. Eine ganze Gruppe derartiger Vorgänge bilden die Göttererscheinungen mit darauf folgender Erkennung. Wenn bei Homer Aias den Poseidon (iV61), Aeneas den ApoUon (P 333), Priamos den Hermes {Sl 468) er- kennt, 80 wird kein Wort über den Eindruck verloren, den das hervorbringt; es ist viel, daß Helena ^erstaunt', als sie Aphrodites Gegenwart empfindet (F 398). Virgil vergißt in solchen Fällen nie, uns die furchtbare Überraschung zu schildern, die den Sterb- lichen befällt aspeäu obniutuit amens^ a/rredaeque horrore conuxe et vox faucibus haesit (IV 279), oder wie dies sonst ausgedrückt wird. Hierher gehört, was sich mit dem oben unter 2 Aufgeführten berührt: daß Personen, die für die Handlung von Bedeutung werden sollen, rasch und plötzlich auftreten. Zu dem S. 13 unter diesem Gesichtspunkt betrachteten Auftreten des Laokoon gibt es keine bessere Parallele als das Auftreten der Camilla in XI, be- vor ihre Aristie anhebt. Man dürfte doch erwarten, daß sie an der Beratung teilgenommen hat; da wird ihrer mit keinem Worte gedacht; Turnus eilt von der Burg kampfmutig herab (498)

obvia cui Volscorum ade coniüante Camilla occurrit, portisque ab equo regina sub ipsis desikiit, quam tota cohors imitata rdictis ad terram defluxit equis})

1) Ich habe daran gedacht, ob Virgil vielleicht Camilla in diesem Augenblicke erst in Laurentom eintreffen lassen will, was um so passender wlüre, als er sie bei den bisherigen Kämpfen nicht verwendet hat; occurrit portis 8ub ipsis würde gut dazu stimmen, die einleitenden Worte von Dianas Rede 666 desgleichen; die homerische Analogie wäre das späte Eintreffen

326 Zweites Kapitel. Erfindung.

Man sieht die Szene; wie viel kraftiger wirkt sie, als wenn Camilla und Turnus im Rathaus ihren Schlachtplan verabredet hätten ; und wie viel helleres Licht fällt so auf Camilla in dem Augenblick, da sie in den Vordergrund der Handlung tritt.

6. Die oben besprochene Szene mit Neptuns Eingreifen beim Seesturm kann zugleich als Beispiel dafür dienen, wie die starke Wirkung der Peripetie oder eines plötzlich eintretenden Ereig- nisses überhaupt durch ein weiteres Prinzip künstlerischer Da^ Stellung unterstützt wird: den Kontrast. Wie dort die plötzUch eintretende Ruhe wesentlich durch den Gegensatz zu dem vorher geschilderten Brausen von Wind und Wellen wirkt der Ver- gleich 148 ff. prägt das aus , so liebt es Virgil auch anderwärts, die durch den Umschwung geschaffene neue Situation zur vorigen in grellen Gegensatz zu stellen. Das kann ein Gegensatz der Stimmung sein: ich erinnere an die Stimmung des Aeneas vor und nach dem Schiffsbrand in V, vor und nach dem Blitz- prodigium in VIU, vor und nach der ersten Erscheinung Mercnrs in IV; oder ein Gegensatz zwischen völliger Ruhe und aufgereg- tester Tätigkeit. Turnus wird aus tiefem mittemächtigem Schlaf durch AUekto in tobende Kriegs wut getrieben VII 413. 458; er sitzt in geheiligtem Waldtal, also in einsamer Stille, als ihn Iris aufscheucht nunc tempus equos, nunc poscere currus, rumpe moros omnis et turbata arripe castra IX 12; ähnUch erscheint in der Stille der Nacht, als Aeneas nach den Mühen des letzten karthagischen Tages mit den Seinen schläft, der zur Eile diungende Mercur, und nun sogleich fieberhafte Tätigkeit, rapiuntque ruuntque IV 554. 581. Und so in vielfacher Gestalt: mit dem frommen Tun des Aeneas, der eigenhändig grüne Zweige bricht, um der Götter Altäre zu schmücken, kontrastiert der gräßliche, grab- schänderische Erfolg (III 19; pa/rce pids scderare manus 42); mit der allseitig blühenden Entwicklung der kretischen Kolonie ihre plötzliche Vernichtung durch Pest und Dürre und MiBwachs

der Penthesilea. Aber auch wenn man die Einreihimg in den Katalog VII 803 außer acht lassen wollte, glaube ich, daß Turnus, wo er von CamiUas Beistand spricht (XI 482), ausdrücklich darauf hinweisen würde, daß man sie erst erwartet.

Kontrast. Steigerang. 327

(in 133); mit dem fröhlichen und üppigen Schmausen auf endlich erreichtem Lande das ekelhafte und schreckendrohende Erscheinen der HarpTien (III 219): in kurzem Abstand also drei hierher gehörige Fälle. Das Prius der Erfindung ist in all diesen und verwandten Fällen die zweite Situation: um ihre Wirkung zu steigern, ist die erste erfunden oder doch, wo sie sich von selbst ergab, mit den kontrastierenden Farben ausgemalt.

7. Wenn sich eine Handlung aus einer Reihe gleichartiger Szenen zusammensetzt, wird die abschwächende Wirkung der Wiederholung gern durch irgendwelche Steigerung wett ge- macht. Als hervorragendstes Beispiel können die Kämpfe der Ilinpersis dienen: wir haben da von ausgeführten Schilderungen die Androgeoskämpfe (370 385), den Kampf um Gassandra (402 434), den Kampf um die Burg (453—505), den letzten Kampf des Priamus (506 558). Gegenüber der ersten Szene ist in der zweiten nicht nur das Pathos gesteigert Coroebus' Ver- zweiflung beim Anblick der gesuchten Braut ; sondern es tritt auch dem ersten glücklichen Erfolge der erste schwere Mißerfolg gegenüber; an Stelle des unbekannten Androgeos erscheinen hier -die ersten Helden der Achäer, Aias und die Atriden, auf dem Kampl^latz; Neoptolemos bleibt für den folgenden schwersten Kampf aufgespart, der nun wieder den partiellen Mißerfolg der zweiten Szene zur entscheidenden Niederlage, der Erstürmung der Burg, steigert; und hier wieder bildet den Schluß die denkbar höchste Steigerung, der Tod des Königs selbst; darüber ist oben 8. 40 gesprochen. In den Didoszenen von IV ergibt sich die Steigerung bis zum Schlüsse aus der Sache selbst. In den Wett- kämpfen von V war nach dem hochdramatischen und leiden- schaftlichen Faustkampfe eine Steigerung in der Richtung des Pathetischen kaum mehr zu erreichen: Virgil erfindet statt dessen für den letzten Wettstreit das Wunder des Acestes und hebt da- mit die Stimmung in die höhere Region des ahnungsvoll Über- irdischen. — Am sorgfältigsten durchgeführt ist die Steigerung da, wo sie auch am dringendsten erfordert war, bei den Kampf- schilderungen der Bücher IX XH; darauf habe ich bei der oben gegebenen Analyse wiederholt hingewiesen. Der Vergleich mit den Xampfschilderungen der Ilias ist hier auch besonders lehrreich.

328 Zweites Kapitel. Erfindung.

Das Prinzip hat aber nicht nur für die einzelnen Szenen- folgen, sondern auch für die ganze Anlage des Gedichts Geltung, soll sie wenigstens nach Yirgils Absicht haben. Die erste Hälfte des Gedichts schließt mit dem Erhabensten , was sie überhaupt enthält, der Heldenschau und den Prophezeiungen des Anchises. Gegenüber diesem ersten soll aber der zweite Teil als das Höhere, Großartigere erscheinen: maior rerum mihi nascitwr ordo, malus opus moveo VII 44. Wir empfinden das freilich nicht so, und es ist auch fraglich, ob Virgil mit dem Erreichten zufrieden war: er hat zunächst nur aus den zeitgenössischen Anschauungen heraas geschrieben, denen zufolge der Krieg die gewaltigste Aufgabe des Epikers ist. Der Vorbereitung des Kampfes sind VH und VUI gewidmet; IX und X schildern die ersten Kämpfe und gipfeln in der ersten Haupttat des Aeneas, dem Fall des Mezentius; nach- dem in XI der Ton wieder etwas herabgestimmt war, um neue Steigerung zu ermöglichen, führt diese in XU zum Gipfel des ganzen Gedichts, dem Tod des Turnus: auf diesem höchsten Gipfel findet der lange Weg sein Ende; die ruhige Auflösung, die nach diesem Sieg des Aeneas sich ergeben mußte, zu schildern, daran kann Virgil nie gedacht haben.

b. Motivierung.

Motivierung der Handlung, d. h. das Aufzeigen von Ursache und Wirkung, ist eine selbstverständliche Forderung, die immer und überall an den Dichter gestellt worden ist. Wenn sich im Leben der Mensch oft genug damit bescheiden muß, daß er die Ursache eines Ereignisses nicht kennt, die ^Gott wissen mag', so spricht in der Dichtung die göttliche Muse durch des Dichters Mund und verschaflFt dem Hörer die Befriedigung, lückenlos den Gang der Ereignisse zu überblicken. Art und Grad der Moti- vierung aber ist, wie alle poetische Technik, zeitlich bedingt und hängt von der Einsiebt in den Weltlauf und die Menschenseele ab, die ein bestimmtes Zeitalter gewonnen hat.

Nach dem, was oben über die Stellung des Göttlichen in Virgils Weltanschauung gesagt wurde, ist es begreiflich, daß jedes wichtigere Ereignis zunächst durch göttliches Eingreifen motiviert wird. Das ist ja auch bei Homer sehr häufig der Fall; aber Virgil führt es viel konsequenter, man möchte fast sagen mit

übernatürliche Motiyiemng. 329

eigensinniger Eonsequenz durch. ^) Man hat den Eindruck , daß im letzten Grunde nicht der Wunsch, seine Darstellung episch zu schmücken, sondern der Wunsch, eine bestimmte Lehre auszu- drücken, für jene Eonsequenz maßgebend gewesen ist. Hätte man ihm YOi^worfen, daß er durch das fortwährende Eingreifen der Gottheit die Selbständigkeit seiner Menschen aufhebe, sie zu 'Marionetten' in Götterhand mache, so würde er wohl geantwortet haben, das sei nun eben in Wahrheit so, und er tue nichts ab diese Wahrheit veranschaulichen; konnte er sich doch selbst da- für, daß auch schlechte Handlungen (wie z. B. bei Amata und Turnus) nicht ohne Mitwirkung der Götter entstehen, auf philo- sophisch festgestellte Wahrheit berufen.*)

Die Regel gilt sowohl von Elementarereignissen wie von menschlichen Handlungen. Bei Elementarereignissen steht natür- lich die göttliche Motivierung allein; dabei kommt es nur darauf an, die Tat der Gottheit zu motivieren, was entweder in vor- bereitender Götterszene geschieht Monolog der Juno in I vor dem Sturm, Gespräch zwischen Juno und Venus vor dem Ge- witter in IV, Gespräch zwischen Venus und Vulcan in V vor der übernatürlichen Meeresruhe , oder sich aus dem Gang der Hand- lung ergibt Mißwachs und Seuchen nach der Eoloniegründung auf Ereta als Zeichen göttlicher Mißbilligung in III. ^) Bei mensch- lichen Handlungen erscheint die Gottheit ganz ebenso als die eigentlich treibende Eraft, entweder so, daß sie ihren Willen äußert resp. das Fatum verkündet und der Mensch dieser Weisung folgt: das steht, wie oben gezeigt wurde, mit rein menschlichen

1) Wir haben z. B. die Empfindung, daß die Vorbereitung Ton Aeneas' freundlichem Empfang in Karthago durch Mercur (1 297) überflüssig sei, weil dieser Empfang sich rein menschlich durchaus genügend erklären läßt; den gleichen Eindruck aber kann man bei der Motivierung von Didos Liebe durch göttliches Eingreifen haben (vgl. Boissier, Nouvelles promenades arch^olog. 803), und der Anstoß ist hier nur geringer, weil man in diesem Falle an Amors Mitwirkung aus sonstiger Poesie gewöhnt ist.

2) Ghxysipp bei Plut. de Stoic. rep. 47 (fr. 997): die tpcevraaUx, die einer schlechten Handlung zugrunde liegt, ist zwar göttlich, aber keine ccinorfM^g tfjg avynotta^dasms cclrla: für diese ist der Mensch verantwortlich.

8) Eine solche göttliche Motivierung fehlt bei dem Sturm zu Anfang yon Y, wird aber von den Beteiligten selbst vorausgesetzt: haud equidem sme metite, reor, sine numine divotn adsumus et paitus delati intramus amkas 66,

330 Zweites Kapitel. Erfindang.

Motiven auf einer Stufe; oder so, daß die Gottheit in poetisch- mythischer Weise auf den Menschen einwirkt: das schließt dann die menschlich -psychologische Motivierung der Handlung nicht aus, sondern diese geht daneben her oder wird durch die gott- liche Einwirkung vertreten, so aber, daß sie mit Leichtigkeit daraus rekonstruiert werden kann. So wird die psychologiBche Motivierung von Aeneas' Umkehr in 11 und IV ersetzt durch das Eingreifen von Venus und Mercur: nicht aber so, daß wir vor einem unbegreiflichen, lediglich göttlicher Willkür entstanunten Befehl stünden, der als völlig neues Moment den natürlichen Gang der Handlung in wunderbarer Weise unterbiüche: vielmehr geben die Befehlsworte der Götter das, was im natürlichen Verlauf der Dinge als psychische Faktoren den Entschluß des Menschen herbeiföhren würde. Noch deutlicher liegt das z. B. bei dem Einwirken der Iris-Beroe auf die troischen Frauen oder der I Jutuma-Camers auf die Latiner in XII zutage, weil hier nicht eine Umkehr stattfindet, sondern die psychologischen Momente der Handlung bereits so vollständig beisammen sind, daß es nur eines Funkens bedarf, um den Brand zu entfachen: aber statt uns jene Momente seelenschildernd selbst vorzuführen, legt sie Virgil der beratenden Gottheit in den Mund. In anderen Fällen wird die psychologische Entwicklung ganz selbständig und vollständig gegeben, das göttliche Eingreifen steht nur gewissermaßen als anschauliches Symbol daneben: so Amor in Gestalt des Ascanius: wie Didos Liebe vorbereitet ist, entsteht und wächst, wird unab- hängig von diesem Eingreifen dargestellt, und ehe sich die Liebende dem Geliebten hingibt, werden in dem kurzen Gespräch der beiden Schwestern die Gefühlsmomente wie die imterstützen- den Verstandesmomente erschöpfend vorgelegt. Bei längeren, allmählich fortschreitenden psychischen Prozessen beschränkt sich das Eingreifen der Gottheit auf den ersten Anstoß: alles weitere entwickelt sich vor unseren Augen in der Seele des Menschen, und der Dichter trägt Sorge dafür, uns jedes einzelne Stadium durch den Handelnden selbst in der Rede vor Augen zu führen: so ist es bei Didos allmählich reifendem Entschluß zum Tode, bei Turnus' Entwicklung, die vom ersten durch Allekto g^ebenen Anstoß unaufhaltsam ihren Weg bis zum Ende geht: die Reden XII 620. 632. 676 zeigen, wie nach und nach der letzte Entschluß in ihm durchdringt, sich dem Gegner wirklich zu stellen.

übernatürliche und natürliche Motivierung. 331

Regel ist es überhaupt bei Virgil, die psychologisdhe Mo- tiYienuig entweder durch die Rede des Beratenden oder durch die des Handehiden zu geben. Nur in AusnahmefäUeD, etwa zur Vorbereitung ausfuhrlicherer Motivierung oder wo ein Anlaß zur Rede künstlich und mühsam hätte geschaffen werden müssen, gibt er die Erklärung von sich aus: so vor den oben genannten Tumusreden, XII 616, vor der zum Vertragsbruche führenden Rede der Jutuma XII 216, vor der Iris-Rede an die Troerinnen V 615; andererseits z. B. bei Camillas verhängnisvoller Verfolgung des Chloreus XI 778, wo Virgil, aus der Rolle des Dichters finllend, wie ein pragmatisierender Historiker zwei Motive zur Auswahl stellt: sive ut templis praefigeret arma Traia capHvo sive id se ferret in auro.

Mit dem pragmatisierenden Historiker man denke etwa an Livius hat Virgil die Art gemein, wie er dem Leser ein voll- standiges Begreifen der menschlichen Handlungen zu ermöglichen sucht. Der Historiker, dem im allgemeinen nur die Handlungen Tomd die Ereignisse überliefert sind und der die Motive von sich aus hinzuzutun hat, der auch sehr oft in die Lage kommt, Massen- handlnngen zu motivieren, die sich aus individuellen Charakteren nicht herleiten lassen, neigt dazu, nicht ein bestimmtes einzelnes Motiv als maßgebend hinzustellen, sondern möglichst alle denk- baren Motive zu vereinigen und dem Leser das Urteil zu über- lassen, ob sie in ihrer Gesamtheit oder ein einzelnes daraus den Ausschlag gegeben hat. Analysiert man die motivierenden Reden des Livius, so stößt man immer wieder auf die gleiche Technik: Livius hat sich die Situation und die Stellung der Personen ver- gegenwärtigt und bemüht sich, nichts zu übergehen, was in solcher Situation auf solche Personen einmal Eindruck gemacht hat oder machen könnte: je mehr Motive, desto besser, und je reicher sich ein Motiv nach verschiedenen Seiten hin ausbeuten läßt, um so wirkungsvoller ist es.^) Virgils Technik ist dem aufs Nächste verwandt. Ich habe früher gezeigt, wie bei Didos Entschluß zum Selbstmord nicht ein dominierendes Motiv so sehr vertieft und verstärkt wird, daß die Handlung mit psychologischer Notwendig- keit daraus folgt, sondern wie eine Fülle von gleichwertigen Motiven angehäuft wird, unter deren vereinter Last Dido erliegt.

1) Als Musterbeispiel mag etwa die Rede des Appins V 3 6 dienen.

332 Zweites Kapitel. Erfindung.

Wie bei diesem wichtigen Ereignis steht es aber auch bei neben- sächlicheren: ich weise hier nur auf das oben erwähnte Gespräch zwischen Dido und Anna am Eingang von lY oder auf Pallas' colwrtatio an die Seinen X 369 hin: bei der Behandlung der Reden wird auf diese technische Eigentümlichkeit zurückzukommen sein. Wie bei jenem Gespräch, so rundet sich auch sonst wohl in Rede und Gegenrede die Motivierung allseitig ab. Das Verhalten des Entellus vor dem Faustkampf weist zwei Stadien auf: erst zögern, dann Entschluß; der Entschluß wird durch Acestes' Rede V 389, das Zögern durch Entellus' Antwort motiviert; es soll aber hier, wo es dem Dichter darauf ankommt, durch den Entschluß zu charakterisieren, auch ein naheliegendes Motiv ausgeschlossen werden das Verlangen nach dem Siegespreis , und auch das geschieht durch die Rede und Gegenrede. Der Historiker empfindet femer die Verpflichtung, einen auffallenden Entschloß dadurch plausibel zu machen, daß er sein allmähliches Werden schildert^): wie das Virgil etwa im Falle des hölzernen Rosses, oder bei Didos Selbstmord oder beim Vertragsbruche in XII mit überlegter Kunst durchgeführt hat, brauche ich hier nicht zu wiederholen.

2.

Wir haben bisher betrachtet, wie Virgil, um aristotelisch zu reden, iv toig ^^s6lv ad Irjrel ^ t6 ivayTcalov f^ rb slxög (a. p. 14); es bleibt das gleiche für die ngayiidrcov öiiöraöig zu prüfen. So- weit hier die Motivierung der Gesamthandlung im großen in Betracht kommt, wird das Nähere besser bei der Behandlung der Komposition erörtert werden; einiges Wesentliche möge hier be- reits vorweggenommen werden. Es ist von größter Bedeutung, ob der Stoff, den der Dichter zur Fabel umzugestalten hat, in sich bereits enggeschlossen und in allen seinen Teilen verknüpft ist, oder ob er aus ursprünglich selbständigen und erst nach- träglich in Zusammenhang gebrachten Teilen besteht. Im letzteren Falle ist die Motivierung selbstverständlich die schwerere Aufgabe, und sie wird noch mehr erschwert, wenn der Dichter wie Virgil bei der Aeneis sich veranlaßt sieht, den Stoff durch Nebenmotive zu erweitem, die mit dem Hauptmotiv nicht organisch verbunden

1) Musterbeispiel: die Aufnahme des S. Tarqoinius in Grabii Liv. I 58 fg.

Motiyiemng der Handlung. 333

sind. Die Fahrt des Aeneas nach Latin m^ wie sie die Tradition berichtete, bestand aus einer Reihe yon künstlich in einen geo*» graphischen Zusammenhang gebrachten Episoden; Virgil fügte zum Überlieferten den Aufenthalt bei Dido, die Wettkämpfe, die Nekyia hinzu, alles Dinge, die zu dem Hauptmotiv, der Ansiede- lung der troischen Penaten in Latium, kein inneres Verhältnis hatten. Er hat sich yerpflichtet gefühlt, ein solches Verhältnis herzustellen, aber der Übelstand einer solchen nachträglichen MotiYierung ist nicht überall verdeckt. Wie sehr diese Moti- yierong für Vii^il das Posterius war, ist deutlich vor allem daraus, daß wir bei dem unvollendeten Zustande des Gedichts noch er- kennen, daß Virgil, schon als ihm die Ereignisse selbst und ihre Anordnung längst feststanden, über die motivierende Verknüpfung flieh noch nicht im klaren gewesen ist; wir konnten mehrere An- «Ltze zur Motivierung von Aeneas' Fahrt feststellen, die dem jetzt in ni durchgeführten Plane vorauf liegen; bei der Nekyia ist ahnliches zu konstatieren. Für den zweiten Teil des Gedichts lag die Sache erheblich günstiger; hier konnte der in sich zu- sammenhängende überlieferte Stoff ohne wesentliche fremde Zu- taten gegeben werden; eine Episode freilich, die Schildbeschreibung, ist auch hier nicht aus poetischer Durchbildung des Stoffes er- wachsen, sondern von außen hereingetragen, und auch hier hat sich das bei der Motivierung gerächt, die Virgil zwar keineswegs vernachlässigt, aber doch nicht völlig ungezwungen hat gestalten können.

Von der Motivierung des einzelnen in der Handlung ist schwer ein Gesamtbild zu zeichnen. Man wird im allgemeinen aagen dürfen, daß in der fortlaufenden Handlung, auf die keine außerhalb stehenden Momente einwirken, die einzelnen Glieder sorgföltig untereinander kausal verbunden sind. Damit sollen einzelne Unklarheiten in Nebendingen nicht geleugnet werden. Wenn Aeneas und Achates, die in Nebel gehüllt durch Karthago gehen, Dido ohne weiteres im Tempel der Juno erwarten (I 454)^),

1) Die VorBtellung, daß Aeneas die Königin ganz schlicht in ihrem Hause aufsuchen könnte, liegt offenbar Virgil völlig fem; er kann sich die Begegnung nur als feierliche Audienz denken, als Schauplatz einen zur Curie bestimmten Tempel, wie das Begierungsgebäude des Latinus VII 170 ff. Die Bestimmung des Tempels konnte Aeneas wohl erraten, schwerlich aber, daB Dido eben jetzt dort zu erwarten sei.

334 Zweites Kapitel. Erfindnng.

so kann man mit einigem Recht nach der Ursache fragen, da sie 1^ doch nicht in der Lage waren, sich zu erkundigen; es muß dahin- gestellt bleiben, ob Virgil selbst eine bestimmte Erklärung im Auge gehabt hat. Im übrigen kann ich auf meine Analyse etwa der Iliapersis oder der Wettkämpfe verweisen und will nur bin yerweilen bei der Erinnerung an die Schlachtszenen von IX bis Xn. Ich habe vorhin gezeigt, wie sorgfältig hier durchw^ der Kausalnexus beachtet ist: natürlich nicht so, wie ihn eine technisch genaue Militärgeschichte aufzeigen würde, sondern den Gesetzen der poetischen Darstellung gemäß, so daß er, auf wenige not- wendige Glieder eingeschränkt^ den Schein der Wirklichkeit her- vorruft. Das Schema der Schlachtschilderungen ist ja im großen dies, daß Eiuzeltaten mit Massenszenen abwechseln: der Zusammen- hang wird so hergestellt, daß die hervorragenden Taten einzehier schließlich auf die Bewegung der Massen einwirken, und daß sich dann nach dem Gesetz der Gegenwirkimg aus den Massen wieder Taten einzelner entwickeln. Dem Gesetz poetischer Kausalität ent- spricht es, daß da, wo eine Aktion ihren Höhepunkt erreicht hat^ die Gegenaktion einsetzt: das bedarf nicht immer besonderer sachlicher Motivierung, da es natürlich ist, daß der steigende Erfolg des einen Gegners den andern zu den höchsten Kraft- leistungen anspornt. Der Gesichtspunkt, der von vornherein das Ganze beherrscht, ist der Gegensatz von Aeneas und Turnus. Turnus' große Erfolge in IX sind durch Aeneas' Abwesenheit motiviert; von dem Augenblick an, da Aeneas in den Kampf eingreift, wird das Zusammentreffen der beiden als entscheidend ins Auge gefaßt, und die Kunst des Dichters führt immer neue retardierende Motive ein, die das Ende hinausschieben. Das gött- liche Eingreifen ist in diesen Schilderungen stark beschränkt; wenn Juno z. B. in IX dem Turnus Kraft verleiht oder Juppiter in XI dem Tarchon kühnen Mut einflößt, so sind das fast formel- hafte Wendungen, die nur gleichsam das Bewußtsein aufrecht erhalten sollen, daß hinter dem allen die Gottheit steht. Nur ganz selten vertritt dies göttliche Eingreifen sozusagen die poetische Gerechtigkeit: wenn X 689 nach Turnus' Entfernung Mezentius lavis monitis gewaltig hervortritt, so wird dadurch ein Ersatz für die Schwächung der latinischen Partei geschaffen. Als Gegenbeispiel, sowohl für das göttliche Eingreifen als selbständiges Motiv wie für den erstrebten aber mangelhaft durchgeführten poe-

MoÜTieniiig der Handlung. 335

tischen Eaosalnexus mag die homerische xöXos iiäxri dienen. Bis zum Mittag steht die Schlacht; dann wägt Zeus die Schicksale^ donnert ond schickt seinen Blitz unter die Achäer: sofort ergreii't diese blasse Furcht und sie fliehen: Nestor bleibt allein not- gedrungen zurück, da sein Qespann in Unordnung ist. Diomedes nimmt ihn auf seinen Wagen , und statt mit ihm zum Lager zu £EJiren, geht er gegen die Feinde vor und tötet den Wagenlenker des Hektor: und sofort sind die Troer dem Verderben nahe und waren in Dion eingepfercht worden, wenn nicht Zeus durch aber- maligen Blitz Diomedes vertrieben hätte. Nim drängt Hektor die Achäer ins Lager und hätte die Schifl'e verbrannt (®217), wenn nicht Agamenmon auf Heras Eingebung die Seinen durch eine Ansprache ermutigt und zu Zeus gebetet hätte, der ein günstiges Zeichen schickt: darauf stürzen sich die Oriechen wieder mit großer Wucht auf die Troer und drängen sie (vornehmlich weil Teukros acht getötet hatte) bis an die Mauern von Uion (295): bis Hektor den Teukros verwundet und Zeus die Troer stärkt, worauf die Achäer wieder über den Graben bis zu den Schiffen fliehen und in ihrer höchsten Not das Mitleid der Athene imd Hera erregen. Es folgen einige lange Qötterszenen, dann sinkt die Nacht, und die Schlacht wird abgebrochen. Man sieht, die Absichten des Dichters sind den virgilischen verwandt, aber man vergegenwärtige sich die virgiUsche Ausführung: sie steht wie reife Eünstlerarbeit neben kindlichem Versuch.

Anders steht es, wenn in eine Handlung ein neues Moment von außen eintritt, das eine Motivierung verlangt. In solchem Falle ist zweierlei möglich: entweder, die Motivierung ist schon früher gegeben und der Dichter kann sich darauf beziehen; oder sie wird erst beim Eintritt des Moments nachgeholt. Nun er- fordert die unauffällige Vorbereitung eines Motivs, das erst später in Wirkung treten soll, häufig einen Aufwand an Mitteln, der zu dem dadurch erreichten Vorteil in keinem Verhältnis steht; ein erklärendes Zurückgreifen andererseits vermeidet Virgil, wie bei der Behandlung seiner Erzählungstechnik gezeigt werden wird, nach Möglichkeit. Diese Tendenzen führen ihn dazu, in dem oben genannten Falle die Motivierung öfters ganz zu unterlassen oder doch nach Möglichkeit zu verkürzen, so daß vöUige Klarheit nicht erreicht wird; freilich sind das alles Fälle, wo die Motivie- rung für die Handlung selbst recht gleichgültig ist. Ein sehr

>

336 Zweite? Kapitel. Exfindimg.

deutliches Beispiel dafür fanden wir bei dem Einsetzen der zweiten Laokoonszene U 201 ; ich füge hier einige verwandte Falle hinzu. Als die troische Gesandtschaft Yor Latinus erscheint^ redet sie dieser (VU 195) mit Dardanidae an*) und fügt, da sie über- rascht sein müssen^ ihm bekannt zu sein, hinzu: neque enim nescimus et wrbem et genus, auditiqm advertüis aequore curswn. Für die Troer mag das vorläufig genügen, sie können ja später das nähere erfragen; aber wir wüBten gern, wie Latinus zu dieser Kunde gelangt sein mag. Das zu motivieren, hätte es einer besonderen Erfindung bedurft, die an dieser Stelle die Anrede empfindlich unterbrochen hätte, früher aber nur mühsam anzu- bringen gewesen wäre; so zieht Virgil vor, schweigend darüber hinwegzugehen. Als Nisus und Euryalus das Lager der Feinde glücklich im Rücken haben, treffen sie (IX 367) auf latinische Reiter, die auf dem Wege von der Stadt zimi Lager begriffen sind. Virgil motiviert zwar diesen Ritt (man müßte ja eigentlich annehmen, die Truppen seien alle bereits vereinigt), aber um nicht durch weitläufiges Zurückgreifen die Erzählung aufzuhalten, so kurz und knapp, daß es der Kombination bedarf, um seine Mo- tivierung einigermaßen zu verstehen.

Eine gewisse Läßlichkeit zeigt Virgil hin und wieder bei der Behandlung von Nebenpersonen: sie sind da, wenn er sie braucht^ ohne daß ihre Anwesenheit erst motiviert würde. Dido redet IV 416 ohne weiteres ihre Schwester an, von der in den vorher- gehenden Szenen nicht die Rede war. Aeneas geht VI 9 in Cumä zum Tempel des ApoUo; wir erfahren nachträglich, daraus, daß der praemissus Ädiates mit der Sibylle zurückkehrt (34), daß dieser ihn begleitet hatte; er ist auch bei der Hirschjagd in I als armiger zugegen (188), obwohl wir ihn vorher beim Feuer- anmachen gesehen und nur von Aeneas' Fortgehen gehört hatten. In anderen Fällen dürfte auch ein nicht pedantischer Leser wohl um Aufklärung bitten. In V sind aUe Männer bei den Spielen, die Frauen allein bei den Schiffen so muß man es sich nach

1) Virgil will dem König die Ankömmlinge nicht TöUig &emd sein lassen (er kennt auch t. 205 die italische Abstammung des Dardanos), nm sein rasches Entgegenkommen namentlich mit dem Angebot der Ehe einiger- maßen vorzubereiten. Aristarch hatte es sehr unpassend gefunden, daß Alkinoos dem Odjsseus, ohne ihn näher zu kennen, seine Tochter zur Ehe anbot: schol. t} Sil.

Auftreten von Nebenpersonen. Zufall. 337

der ganzen Anlage der Erzählung vorstellen ; wie kommt ein gewisser Eomelus dazu (665)^ die Nachricht von dem Brande Aeneas und den Seinen zu überbringen? Die troischen matres sind in Sicilien yerblieben; wenn wir später erfahren^ daß die Mutter des Euryalus als einzige ihren Sohn zu begleiten gew^ hat (IX 217), so werden wir mit dem Dichter nicht darum rechten, daß er uns darauf nicht schon bei der Abfahrt von Sicilien vorbereitete; aber wenn weiterhin (XI 35) an der Bahre des Pallas die IHades crinem de more sdutae klagen, so rundet das zwar das rührende Bild schön ab, und es ist ja immerhin möglich, da famtdumque manus Troianaque turba vorhergeht, daß Virgil, wie Servius annimmt, hier nur die ancillulae im Gegensatz zu den Matronen im Auge hat: aber man dürfte das deutlicher ausgedrückt zu sehen erwarten. Wenn Virgil selbst dies Bedenken überhaupt gehabt hat, so wird er darauf vertraut haben, daß es dem Hörer der pathetischen Szene nicht zum Bewußtsein kommt: und damit wird er hier wie in anderen ähnlichen Fällen sich bei der großen Mehrzahl seiner Hörer gewiß nicht geirrt haben.

Den Zufall an Stelle des Kausalnexus zu setzen, hat Virgil im Gange der Haupthandlung durchaus vermieden. Wohl aber ist charakteristisch für ihn, daß er da, wo nicht der Gang der Haupthandluug begründet, sondern ein sachlich unwesentlicher poetischer Effekt erzielt werden soll, gern zu dem zufälligen Zusammentreffen zweier Ereignisse greift. Gerade zu der Stunde, da Aeneas Dido im Tempel zum erstenmal sieht, treffen auch die Abgesandten der verlorenen Schiffe ein. Als Aeneas sich der Stadt des Helenus naht, ist Andromache gerade bei dem feierlichen Opfer an Hektors Grab: die Stimmung der Szene hängt daran. Als die Troer zum Kyklopengestade kommen, ist gerade kurz Torher Odysseus dort gewesen; als sie von Karthago nach Sicilien verschlagen werden, trifft das genau auf den Jahrestag von Anchises' Begräbnis. Eben ist Sinon mit seiner langen Erzählung fertig: da kommen die Schlangen übers Meer. Gerade als Turnus in der RatsversammluDg seine Rede für den Krieg gehalten hat, trifft die Nachricht ein, daß die feindlichen Truppen anrücken. Gerade als Nisus und Euryalus aus aller Gefahr zu sein glauben,

Helme, Virgils epische Technik. 2. Aufl. 22

338 Zweites KapiteL Erfindung.

kommen ilmeii die Reiter des Volcens in den Weg.*) In den meisten dieser Fälle hätte sich die Handlung selbst ohne dies zufällige Zusammentreffen im wesentlichen ebenso entwickeln können, aber der Effekt wäre verloren gewesen. Man wird bei Homer kaum je dergleichen finden. Das Epos bedarf für seine spezifischen Zwecke dieses Ennstmittels nicht oder kann es^ wo ein solches Zusammentreffen wie bei der Begegnung von Nausikaa mit Odysseus fär die Handlung wesentlich ist, durdi göttliche Einwirkung motivieren. Wohl aber kann das Drama infolge seiner strengeren zeitlichen und inhaltlichen Geschlossen- heit dieses Mittels häufig kaum entrateo: Polybos von Eorinth muß gerade zur rechten Zeit gestorben sein, damit die Nachricht von seinem Tode zu Theben in die Zweifel des Oedipus ein- greifen kann; Herakles muß genau in dem Augenblick aus der Unterwelt zu Hause eintreffen, wo die Seinen sich zum Tode bereits geschmückt haben, Aigeus zufällig auf dem Wege nach Trozen Eorinth gerade dann passieren, als Medea um einen Zu- fluchtsort verlegen ist u. s. f. Vom Drama hat die dramatisch aufgebaute Erzählung das Eunstmittel zur Erzielung stärkerer Wirkung übernommen: wenn z. B. Livius vielleicht nach poetischer Quelle den Diktator Camillus gerade in dem Augen- blick vor Rom eintreffen läßt, als den Galliern das im schmäh- lichen Vertrage zugestandene Gold abgewogen wird (V 49), so ist das ein echt dramatischer und, dürfen wir nun hinzufügen, echt virgilischer Zufall.

c. Zeit und Ort. Die zeitliche Anlage und Verteilung der Handlung mag zix- nächst in einer Übersicht dargestellt werden: I. 1. Tag: Abfahrt von Sicilien, Seesturm, Landung in Libyen- *, Gespräch zwischen Juppiter und Venus: I 34 30-4= 2. Tag: Sonneoaufgang 305; Gang nach Earthago, B^ gegnung mit Dido, am Abend (726) Festgelage, J-* der Nacht (H 8) Erzählung des Aenea«: I 305 b£- IV 5.

Il In der Dolonie liegt der Fall anders : da müssen sich die feindlicbeir Späher begegnen, da sie den gleichen Weg haben; auch ist die AuBsendung^ des Dolon gerade zu dieser Zeit kein zufälliges Zusammentreffen.

Zufall. Zeittafel. 339

?3. Tag: Didos Gespräch mit Anna, Opfer, am Abend (77) neues Festmahl, in der Nacht Dido ruhelos. Ge- sprach zwischen Juno und Venus: IV 6 128. 4. Tag: Jagd und Gewitter: IV 129—168.

Zwischenraum von unbestimmter Dauer Qiiemem quam longa were 193): IV 169—197.

I. ? 1. Tag: Jarbas; Mercur' und Aeneas; Gespräch von Dido und Aeneas, Anna und Aeneas; Errichtung des Scheiterhaufens; in der Nacht (522) Selbstgespräch der Dido, Traum des Aeneas und Abfahrt: IV 198 bis 583.

2. Tag: Didos Tod; Fahrt nach Sicilien; Aufnahme bei

Acestes: IV 584— V 41.

3. Tag: Ankündigung der Leichenspiele auf den 9. Tag und

Opfer fiir Anchises: V 42—103. 12. Tag: Wettspiele; Schiffsbrand; in der Nacht Erscheinung des Anchises: V 104 745. ? 13. Tag: Gründung von Segesta: 746—761. 4. 22. Tag: Neuntägiger Zwischenraum: Festfeier 762.

23. Tag: Abfahrt; in der Nacht (835) Unfall des Palinurus:

763—871.

24. Tag: (Der Anbruch ist nicht bezeichnet) Ankunft in

Cumä; Orakel der Sibylle; der goldene Zweig; Be- stattung des Misenus; in der Nacht (252) Opfer für die Unterirdischen: VI 1 254. ? 25. Tag: Nekyia; Fahrt nach Caieta: 255—901.

26. Tag: Bestattung der Caieta; in der Nacht Fahrt am Cir-

caeum vorüber: VII 1 24.

27. Tag: Morgens Landung an der Tibermündung, Tisch-

prodigium: VU 25—36; 107—147.

28. Tag: Bau des Lagers; Gesandtschaft an Latinus: VII 147

bis 285.

Zwischeuraum von unbestimmter Dauer: Tätigkeit der AUekto^ riegsrüstungen.

^1*

340 Zweites Kapitel. Erfindung.

in. 1. Nacht: Traumerscheinung des Tiberinus (Morgen VIII 67); Tag: Opfer an Juno, Vorbereitung zur Fahrt.

2. Nacht: (86) bis Mittag (97) Fahrt auf dem Tiber; Hercules-

fest: VII 86—368. Erster Angriff des Turnus: IX 1—158.

3. Nacht: Venus und Vulcan. Nisus und Euryalus: IX 159

bis 458. Tag: Verhandlung mit Euander, Aeneas nach Caere. Zweiter Angriff des Turnus. VÜI 369—731 (vgL X 148—156) und IX 459—818.

4. Nacht: Fahrt des Aeneas: X 146-255. Tag: Götterrer-

sammlung; neuer Angriff des Turnus; Ankunft des Aeneas; erste Schlacht: X 1—145; 256—908.

5. Tag: Leichenfeier für Pallas; Gesandtschaft der Latiner;

Vorbereitungen zur Bestattung: XI 1 138.

6. (Nacht: Ankunft des Leichenzuges bei Euander? 139 bis

181.) Erster Tag des 12tägigen (133) Waffen- stillstandes; Bestattung der Toten: 182—224.

18. Tag: Rückkehr der Gesandten von Diomedes; Ratsver-

sammlung; Ausrücken der Troer und Latiner; CamiUas Taten und Tod; Turnus' Herausforderung XI 225— XII 112.

19. Tag: Letzter Kampf: XII 113—952.

Die Übersicht lehrt sogleich eines: daß Virgil danach ge- strebt hat, die Handlung auf einen möglichst kleinen Zeitraum zusammenzudrängen; sieht man von den handlungslosen oder handlungsarmen Zwischenräumen ab, so sind es nur einige zwanzig Tage, von denen Virgil erzählt. Dazu hat nicht nur das Vorbild von Ilias und Odyssee geführt: das Streben nach konzentrierter Wirkung mußte das gleiche Resultat haben. Je unmittelbarer ein Ereignis sich an das andere anreiht, um so fester wird der Leser bei der Sache gehalten; umsomehr erhält er auch von der Erzählung den Eindruck der Vollständigkeit, um so weniger wird die Phantasie gezwungen, die Zwischenräume der Darstellung selbst- tätig auszufüllen. So vollständig wie den Redaktoren unserer Ilias und Odysee konnte es freilich Virgil nicht gelingen, die Einheit der Zeit durchzuführen; er bedarf eines längeren Zwischen- raums für Aeneas' Verweilen in Karthago, damit der Eindruck erzielt wird, daß dies Verweilen nahe daran ist, zu einem dauern-

Zeittafel. Konzentration. 341

den zu werden; und eines zweiten Zwischenraums für die Vor- bereitungen zum Krieg: nicht nur die Amatageschichte erfordert mehr als einen Tag, auch die Verbreitung des Kriegs über Italien, das Zusammenziehen der Kontingente u. s. f. bedarf einer längeren Zeit; das müssen wir uns freilich selbst sagen, der Dichter vermeidet jeden Hinweis darauf.*) Vom realistischen Standpunkte wäre es mit diesen beiden FäUen nicht abgetan: der obige Konspektus lehrt auch, daß Virgil nicht selten an einem Tage weit mehr geschehen läßt, als in Wirklichkeit möglich oder wahrscheinlich wäre. Es ist unwahrscheinlich, daß zwischen des Aeneas Ankunft in Karthago und seiner Vereinigung mit Dido in der Grotte nur ein Tag liegt: und wenn es gleich zweifellos scheint, daß Virgil das ursprünglich so beabsichtigt hat, so sind ibm doch o£Fenbar nachträglich selbst Bedenken gekommen und er hat Zusätze gemacht, die es nahe legen, einen längeren Zwischen- raum anzunehmen^): aber er hat sich jeder direkten Andeutung enthalten, offenbar um die Vorstellung der Kontinuität der Hand- lung möglichst wenig zu stören. Ganz ebenso steht es mit dem Tage, an dem Mercur dem Aeneas erscheint. Es ist gewiß un- wahrscheinlich, daß sich an eben diesem Tage alles abspielt, was sich bis zu der Nacht von Aeneas' Abfahrt ereignet, und so steht auch keine direkte Angabe des Dichters dem entgegen, die Er- eignisse auf mehrere Tage zu verteilen, ja die Angaben über die Prodigien, die bei Didos Entschluß mitwirken, machen das geradezu nötig*); aber es fehlt andererseits auch hierfür gänzlich an posi-

1) Noack Hermes XXVII 422 setzt wenigstens die Öffnung des Kriegs- "tempelfl auf den zweiten Tag nach Aeneas' Ankunft sachlich sehr w^nig ^wahrscheinlich, der Dichter läßt die Frage offen.

2) Bis 83 glaubt man nur den Bericht über einen Tag zu hören, und instaurcU diem donis 68 kann ich nur so verstehen. Immerhin ließe sich das n%MC . . nunc 74. 77 auch tou wiederholten Handlungen verstehen, und die Angabe 84 aut greniio Ascanium genitoris imagine eapta detinet kann ▼oUends nicht auf dieselben Nacht gehen, wo Dido sola domo maeret vacua: ebenso wie die Angabe 86 ff. , daß die Arbeiten des Stadtbaus unterbrochen werden offenbar weil Dido sich nicht mehr darum kümmert nur bei längerem Zeitraum Sinn hat.

3) Man müßte denn annehmen, daß die Prodigien z. B. exaudiri voees et verha vocantis visa viri, nox cum terras ohscura teneret 460 imd tigit ipae furentem in somnis ferus Aeneas 465 schon vor die erste Unter- redung mit Aeneas fallen, wo Dido praesensit motus futuros 297. Aber die Annahme findet an des Dichters Worten keinerlei Halt.

342 Zweites Kapitel. Erfindung.

tiven HinweisBDy and in der Erzählung schließt sich alles so ohne Unterbrechong aneinander , daß man auch hier deutlich die Ab- sicht des Dichters merkt^ die Vorstellung eines ULngeren Zmi- raums nicht aufkommen zu lassen: er zieht es Yor^ den Leser in Ungewißheit zu halten, auch um nicht die Vorstellung zu trüben, daß Aeneas die Abfahrt mit größtmöglicher Eile betreibt. Da- neben bliebe freilich die Annahme möglich, daß Virgil an die chronologische Festlegung der Ereignisse hier selbst gar nicht gedacht habe: doch wäre dies in der Aeneis wohlgemerkt für die in genauer Ausführung dargestellten Ereignisse der einzige FaU^ während wir auch weiterhin noch Fälle finden, in denen sich Handlungen mit einer in Wirklichkeit unmöglichen Schnelligkeit vollziehen. Schon Servius (zu V 1) macht darauf aufmerksam, daß Aeneas nicht in einem Tage Yon Karthago nach Drepanum habe gelangen können^), und meint, Aeneas habe am Abend den Scheiterhaufen brennen sehen und sei dann noch die Nacht und einen Teil des folgenden Tages gefahren; Virgil selbst der sich die Entfernung freilich auch gar nicht völlig klar gemacht zu haben braucht erweckt zweifellos die Vorstellung, daß sich die Fahrt in einem Tage vollendet, wie er ja auch in I die Troer in einem Tage den gleichen Weg in umgekehrter Richtung zurück- legen und rechtzeitig in Libyen landen ließ, um Aeneas noch auf die Hirschjagd schicken zu können: die zeitliche Möglichkeit bleibt dabei ganz außer Frage, und der Dichter hütet sich, durch irgend- welche zeitliche Angaben etwa über Eintritt von Mittag oder Abend uns die Frage nahezulegen. Ganz ebenso steht es am Schluß von V mit der Gründung der Stadt Segesta: vorher und nachher finden sich genaue Zeitangaben, und so wird der Leser verleitet, am Tage nach Anchises* Erscheinung sein Geheiß sich vollzogen zu denken, ohne zu erwägen, daß dies schon wegen der räumlichen Entfernung von Drepanum -Eryx und Segesta nicht wohl möglich ist.*) Nicht ganz so auffallend ist die gleiche Er-

1) Die Entfernung ist annähernd so groß, wie die zwischen Delos und Kreta: darauf werden bei günstiger Fahrt drei Tage gerechnet III 117. Die noch längere Fahrt Ton Drepanum nach Cumä wird man sich nach Yirgils Darstellung in einem Tag und einer Nacht vollendet denken, obwohl auch hier ein Hinweis darauf nur in der Zeitangabe Y 885 liegt, die hier sachlich unvermeidlich war.

2) Aber Virgil hütet sich wohl, Segesta an die Küste zu verlegen: I 570

Konzentratioii. Tag und Nacht. 343

schemung bei Aeneas' etrurischer Expedition. Yirgil hat sich, wie weiter gezeigt werden wird^ den Synchronismus zwischen den Erlebnissen des Aeneas und den Ereignissen in Latium sehr genau überlegt; rechnen wir nach^ so muß Aeneas am selben Tag^ an dem er Euander verließ, noch die Verhandlungen mit Tarchon abgeschlossen haben und mit den neuen Verbündeten in See ge- gangen sein, so daß wir sie um Mittemacht (X 147) in yoUer Fahrt treffen. Virgil sagt auch hier nirgends ausdrücklich, in wie kurzer Zeit sich das vollzieht, aber er ist darauf bedacht, die Schnelligkeit zu motivieren: nach Euanders Darstellung ist die bewaffnete Macht der Etrusker bereits versammelt, die Flotte li^ am Strande und alles brennt darauf, in den Krieg zu ziehen (VIII 497. 603): als nun Aeneas sein Anliegen vorbringt, Jiaud fit mora, Tarchon iungü opes . . tum ddssem conscendit gens Lydia (X 153),0

Die Marksteine im Fortschritt der Ereignisse sind die Sonnen- au^ange: sie werden in der zusammenhängenden Darstellung regelmäßig angegeben.^) Daß dann der Tag zu Ende geht, es Nacht wird imd man sich zur Ruhe legt, wird ausdrücklich nur gesagt, wenn sich in der Nacht etwas von Bedeutung ereignet was in der Aeneis merkwürdig häufig der FaU ist ; aber auch

Tind V 86 ist von Segesta nicht die Rede. Von Unbestimmtheit der geo- ^[laphischen Begriffe kann man bei Aeneas' thrakischer Gründung reden ^oben 104): von dieser Gegend hatte freilich weder er noch die weitaas überwiegende Mehrzahl seiner Leser eine klare Vorstellung.

1) Größte Eile ist auch durch die Situation des troischen Lagers so wohl gerechtfertigt, daß mir Deutickes Annahme (Yirgils Gedichte IIP zu T. 147), Yirgil lasse den Aeneas eine Nacht beim Lager der Etrusker ver- l)riDgen, sachlich nicht gefordert erscheint. Ebensowenig kann ich seine nachträglichen Bedenken teilen (Anhang p. 287), ob wir überhaupt die Tage nachrechnen dürfen; die Frage, wieviel Stunden die etruskischen und arka- dischen Reiter gebraucht haben, um von Caere in die Nähe des troischen Lagers zu gelangen (X 288), wird sich Virgil allerdings nicht vorgelegt haben , aber das steht auch mit der Verteilimg der Handlung auf die einzelnen Tage und Nächte nicht auf gleicher Linie.

2) Unterlassen ist das bei dem Tage, den die Troer, wie man an- nehmen mnß, in Caieta verweilen VU 1 : hier wird nichts berichtet, sondern die Handlang teils durch die Apostrophe an Caieta bezeichnet, teils als ver- gangen bei der Abfahrt nachgeholt. Desgleichen fehlt die Angabe zu Be- ginn von VI: das mag damit zusammenhängen, daß die Bücher V und VI nicht in einem Zuge gedichtet sind.

344 Zweites Kapitel. Erfindung.

dann erfaliren wir oft nur im Lauf der Erzählung nebenbei^ daß es Nacht ist.^) Anderer Tageszeiten wird lediglich beim Besuch des Euander gedacht: da hören wir vom Mittag (VIII 47), Abend (280) und Anbruch der Nacht (369): sehr bezeichnend für den idyllischen Ton des Ganzen; der uns der Natur näher rückt, als die sonstige Erhabenheit des Epos das liebt.

Wie den Tageszeiten, so steht das Epos den Jahreszeiten gegenüber. Sie werden herangezogen, wo es die Handlung aus ihnen zu motivieren gilt, nicht aber um den Ereignissen Farbe und Stimmung zu geben. Zu welcher Jahreszeit die ILias spielt, erfahren wir nicht; für den gemütlich bürgerlichen Ton gewisser Teile der Odyssee ist es charakteristisch, daß hier die winterliche Situation durchgeführt wird.^ Im großen wirkt die Jahreszeit vor allem auf die Schiffahrt, und aus diesem Gfrunde gedenkt ihrer denn auch Virgil: in IV ist es Winter, damit Dido einen Yorwand hat, Aeneas zurückzuhalten'), und sich später beklagen kann, daß er trotz der Winterstürme sie verlassen wolle*); diese Vorstellung hat Virgil festgehalten, wenn er die Fama verbreiten läßt, daß die Liebenden hiemem inier se luxu, quam longa, fovere (192). Aber über IV hinaus wirkt diese Vorstellung nicht: so- wohl in I (755) wie in V (626) wird von der sq^tima aestas ge- sprochen, die die Troer nim schon auf Irrfahrten zubrächten.^)

1) VI 262 tum Stygio regi noctumas incohat aras, VII 8 ad^irant aurae in noctem nee Candida cursus luna negat, VlU 86 Thybris ea fluvium^ quam longa est, nocte tumentem leniit.

2) Wilamowitz, hom. Unters. 87.

3) 61 sagt Anna indulge Jiospitio causasque innecte morandi , dum pelago desaevit hiems et aquosxis Orion, quassataeque rates^ dum non tracta- bile Collum.

4) 309 quin etiam hiberno moliris sidere classem, et mediis properas aquüonihus ire per altum. Über III 286 s. u.

6) Doch wohl aus der allgemeinen Vorstellung heraus, daß man im Sommer auf See ist. Oder hätte Virgil (wie Ribbeck meinte) den Gebrauch, nach dem aestas in der Zusammen Zählung für ^Jahr' gesagt wird, auch auf das Einzeljahr ausgedehnt? Ähnliches geschieht gelegentlich mit agotog (rbv iihv nagsld'dvT' ägorov iv in^nst ;up<Jvov Soph. Trach. 69 neben Scaöixoctog &Qoxog 826); aber lateinische Parallelen kenne ich nicht. Aus I 535 cum subito adsurgens fluctu nimbosus Orimi in vada caeca tulit hat man ge- schlossen, daß Virgil in Übereinstimmung mit 755 auf den Sommer deute, weil der Orion um Mittsommer aufgeht (Ovid. fast. VI 719); aber adsurgens meint kaum das Aufgehen des Gestirns, sondern sein dräuendes Sicherheben

Jahreszeiten nnd Jahre. 345

Als Aeneas Pergamum. in Kreta gegründet hat^ verbrennt der Sirius die unfruchtbaren Äcker; *das Gras ward dürr und das kranke Saatfeld verweigerte die Frucht' (HI 141); es 'ist also Hochsommer^ damit das Prodigium der ifpoQia eintreten kann; aber wenn dann die Troer nach der Abfahrt einen dreitägigen furchtbaren Sturm erleben (203), so hat der Dichter gewiß nicht gemeint, daß inzwischen die Zeit der Herbststürme ein- getreten ist

Das Letztgenannte führt uns bereits in die so viel verhandelte Frage nach der Chronologie von Aeneas* Irrfahrten. Bei längeren Zeiträumen, die von der Erzählung nicht erschöpft, sondern nur oberflächlich berührt werden können, verlangt das poetische Inter- esse auch keiue Spezialisierung der Zeit. Es kann von Bedeutung sein, einen größeren Zeitraum als solchen empfinden zu lassen: wenn Dido von den sieben Jahren der Irrfahrt spricht, so will sie damit nur andeuten, wie viel sie zu hören erwartet, und weun die gleiche Zahl von Jahren in Iris' Rede an die Troerinnen ge- nannt wird, so soll deren Sehnsucht nach Ruhe damit motiviert werden. Aber wenn es nun, in HI, zur Darstellung dieser Irr- fahrten kommt, so hat weder Dido noch der Leser ein Interesse daran, sich von Aeneas oder dem Dichter vorrechnen zu lassen, wie sich die Ereignisse chronologisch zueinander verhalten, und es wäre öde Pedanterie gewesen, diese Chronologie wirklich kon- sequent durchzuführen. So wird man denn von vornherein er- "warten müssen, die zeitlichen Verhältnisse eher verwischt als hervorgehoben zu finden, und diese Erwartung wird durchaus T)estätigt: geflissentlich, möchte man sagen, läßt uns der Dichter ^ber die Dauer der einzelnen Aufenthalte im Unklaren, und bei ^en erzählten Hauptereignissen finden wir ganz dasselbe Bestreben "wie in der zusammenhängend eingehenden Darstellung, die Illusion »der kurzen Zeiträume zu erwecken. Alles was v. 16 68 von

(adsttrgit ira etc.) in poetischer Analogie mit dem Anschwellen der Flut (fluetibus et firemitu adsurgens Benace marino georg. 11 160). Sicherlich hat aber Virgil nicht an einen bestimmten Termin des Orionanfgangs gedacht oder gar nach dem Parallel von Karthago gerechnet, wie ihm Heyne noch zniraute; er weiß vom Orion nur, daß er zu den horrida sidera ^Plin. n. h. XVin 278) gehört, und verwendet ihn demgemäß, gleich anderen römischen Diehtem (Gundel, de stellarum appellatione et religione Romana p. 181), wo er von Sturm spricht.

346 Zweites Kapitel. Erfindung.

dem Aufenthalte in Thrakien erzählt wir.d, könnte man sich in einen Tag zusammengedrängt vorstellen: ungewiß bleibt und soll bleiben/ ob die Angabe des Termins der Abfährt 69 ff. besagt, daß man das Frühjahr abgewartet habe^ was freilich bei genauer Interpretation sich als das Wahrscheinliche herausstellt (s. oben S. 106). Unklar bleibt, wie lange man in Kreta zugebracht hat: nur aus dem oben besprochenen Prodigium kann man schließen, daß eine Saat- und Erntezeit dabei vergangen ist. Recht ge- eignet zu längerem Aufenthalt, sollte man meinen, etwa zur Winterruhe, wäre die Stadt des Helenus: aber wie um die ge- wissenhafte Eile der Troer zu kennzeichnen, werden hier aus- drücklich nur wenige Tage verstattet (356). Sonach kann es nicht wundernehmen, daß von den vielfachen Versuchen, die Irr- fahrten auf sieben Jahre zu verteilen, auch nicht einer irgend überzeugt, und man würde sich gern und mit Anerkennung der poetischen Absicht dabei beruhigen, daß Virgil selbst jeden solchen Versuch von vornherein habe abschneiden wollen \) wenn nicht unerwarteterweise doch einmal die Nachricht erschiene, daß nun ^die Sonne ihren Jahreslauf beendet hat und der eisige Wintersturm die Wogen aufwühlt (284)'. Die Angabe ist auch mit ihrer Umgebung so wenig ausreichend verknüpft es wird nicht einmal klar, ob Aeneas an jener Stelle den Winter ab- gewartet bat oder ihm trotzend weitergefahren ist , daß ich nicht glauben kann, wir hätten den Passus in definitiver Gestalt, und es unentschieden lassen muß, was Virgil mit dieser vereinzeltere chronologischen Notiz bezweckte; schwerlich wird man annehmen" wollen, daß hier ein noch nicht durchgeführter Ansatz zu go^" nauerer chronologischer Fixierung des Ganzen vorliegt.

Wie mit den sieben Jahren der Irrfahrt, so steht es mit denc::^ einen vollen Jahr, das nach V 46 zwischen dem Tod des Anchise^ und der Rückkehr des Aeneas nach Sizilien liegt. Nur kommfc^ es dem Dichter hier nicht auf den verflossenen Zeitraum an,^ sondera auf die Wiederkehr des Jahrestages: um so weniger Anlaß ^ hat er, uns klar zu machen, wie sich die in I und IV erzählte und die etwa in der Erzählung am Schlüsse von III zu sup-

1) So Schüler, Quaestt. Verg. 6 (vgl. auch Deuticke im Anhang zu III), der auch gut Conrads' Versuch zurückweist, die Irrfahrten auf nur zwei Jahre zu verteilen.

Jahre. Allgemeine Zeitrechnung. 347

erenden Ereignisse auf dies Jahr verteilen. Nun hat man ftigen Anstoß daran genommen , daß trotz des etwa jährigen itraumes, der zwischen den obengenannten Angaben der Dido d der Iris liegt^ in beiden Fällen die gleiche Jahreszahl Hima aestas genannt wird. Das liegt wohl einfach daran, i an beiden Stellen deren Niederschrift ja möglicherweise i Jahre auseinander liegt die Zahl 7 dem Dichter als be- iders naheliegend in die Feder kam^): das schwierige Problem,

der Dichter bei der Niederschrift der einen Stelle an die lere gedacht hat, und, wenn ja, ob er des Widerspruches sich vußt geworden ist, und, wenn ja, ob er ihn für belanglos ge- ien oder sich innerlich vorgenommen hat, ihn später noch aus- nerzen dies Problem zu entscheiden muß ich anderen über- sen; solange es nicht entschieden ist, wird man Folgerungen

die Kunst Yirgils aus besagtem Widerspruch nicht ziehen dürfen. Was endlich die allgemeine mythisch-historische Chronologie xifFt, so hat sich Virgil von ihr keinerlei Schranke für seine indung setzen lassen. Er akzeptiert den Zeitraum von 333 iren bis zur Gründung Roms (I 265), aber er übernimmt zu- ich eine chronologisch ganz unbefangene poetische Erfindung, em er Aeneas mit Dido zusammentreffen und damit die Grün- ig Karthagos in die Zeit des trojanischen Krieges fallen läßt.

vereinigt alle ihm bekannten Heroen aus der Urgeschichte liens in seinen Katalogen, ohne zu fragen, ob es wahrscheinlich , daß diese alle zu gleicher Zeit gelebt haben. Er läßt Neo- demus bereits durch Orest getötet sein, als Aeneas Andromache ft, obwohl jener Mord nach der Tradition erst im zehnten Jahr ^h Trojas Zerstörung geschah, und läßt den Achaemenides nur i Monate im Kyklopenlande umherirren, obwohl Odysseus nach mers Erzählung bereits im ersten Jahre seiner Irrfahrren dort

1) Stünde octava da, so läge dem eine bestimmte Berechnung zü- nde; auf die Zahl 7 verfäUt Virgil sehr leicht (und so Homer: Diels, bschr. fcLr Gomperz 10); 7 mal ringelt sich die Schlange am Grab des ihises (V 86), aus 7 Rindshäuten sind die Caestus des Entellus (404), ihener mußten jährlich dem Minos gesandt werden (VI 21), mit 7 Schiffen let Aeneas in Libyen (I 170), aus 7 Lagen besteht der Schild des Aeneas I 448) und des Turnus (XII 9*26), 7 Söhne des Phorcus treten Aeneas enüber (X 329), zweimal 7 Nymphen hat Juno (I 71). Nächstdem stellen . die Bundzahlen 9 und 12 am leichtesten ein; die Zahl 8 kommt bei a^ überhaupt nicht Tor.

348 Zweites Kapitel. Erfindung.

gewesen war. Das alles verursacht ihm keinerlei Bedenken^)^ lind es war ein seltsames Verkennen allgemein poetischer Prin- zipien, wenn man yersucht hat, nach solchen Synchronismen die Ereignisse der Aeneis selbst chronologisch zu fixieren: z. B. das Alter des Ascanius daraus zu berechnen, daß ihn Andromache 111491 einen Altersgenossen des Astyanax nennt, dieser aber nach Homer im letzten Jahre des trojanischen Kriegs noch ein Tragkind war: diese Rechnung wäre auch dann verfehlt, wenn wir nicht zufällig wüßten, daß Virgil sich den Astyanax gerade nicht als Tragkind gedacht hat (II 457).

2.

Über den Ort, soweit er als Entfernung in Betracht kommt^ ist im vorigen bereits gehandelt.*) Der Ort als Lokal der Hand- lung spielt bei Virgil dieselbe geringe Rolle wie in der antiken erzählenden Poesie überhaupt. Die ro7CoyQaq)Ca^ Schilderung er- dichteter Örtlichkeiten, war freilich nach Ansätzen, die sich bei Homer fanden, von der hellenistischen Poesie gepflegt worden; aber es handelt sich dabei weniger darum, die Handlung lokal zu motivieren, als ihr einen stimmungsvollen Hintergrund 2U geben; das findet sich, wenngleich selten, auch bei Virgil. Iib übrigen kommt er mehrfach in die Lage, im Verfolg der Hand- lung auf kompliziertere Lokalverhältnisse Bezug zu nehmen; es läßt sich schwer entscheiden, ob er selbst sich ein klares BilA- der Lokalität gemacht hat und dies im Leser nicht ebenso kla.:^ wachzurufen vermag, oder ob ihm selbst immer nur einzelne Z^g^^ der Lokalität vorgeschwebt haben, ohne sich zu einem einheit^ liehen und festen Bilde zu verbinden; jedenfalls schickt er seine^ Erzählung nicht eine zusammenhängende Beschreibung der Loka- - lität voraus was das sicherste Mittel wäre, um Klarheit z\]^ schaflfen, aber mit Virgils Grundsätzen der Darstellung unver^ einbar ist , sondern erwähnt im Laufe der Erzählung bald diese^ bald jene Einzelheit; womit denn den Wünschen eines Lesers, dei

1) Über die chronologischen Freiheiten in der Behandlung der Tradition 8. auch oben S. 243.

2) Vgl. auch Piüß 81 über die Gleichgültigkeit, mit der die Entfer- nungen in der trojanischen Ebene in II behandelt sind. Darin ist Tryphiodor viel sorgfältiger: als das Roß in die Stadt gezogen wird 6dbg ißagvvno fuxugi] öxi^ouBVTi nota^otßi. nal oi) Ttsdloiaiv 6ftoii] 828.

Ortsangaben. 349

nicht nur die Menschen^ sondern auch den Ort der Handlung deatlich sehen möchte^ schlecht gedient ist.^) Zwei wichtigere Fälle mögen als Beispiele dienen. In V spricht Aeneas zu den Seinen zunächst yon einer Anhöhe am Strande (43 fg.) und hegibt sich dann mit ihnen zum iumulus des Anchises (76)^ dessen Lage nicht näher bestimmt wird. Am Tage der Festspiele versammelt sich wieder das Volk am Strande^ und die Preise werden eben dort Circo in medio ausgestellt (109): was sich Yirgil unter diesem circus denkt^ ist nicht auszumachen. Der agger, yon dem das Signal zur Eröffnung der Spiele gegeben wird (113), mag der Torhin (44) erwähnte sein. Nach dem Schiffskampf begeben sich die Festteilnehmer auf einen ^Grasplatz^ den im Bogen bewaldete Hügel umgeben ; und mitten im Tal war ein Theaterrund ^ circus thecUri^^: der gramineus campus scheint mit dem circus identisch, aber yon dem früher genannten circus yerschieden zu sein. Als nun die Schiffe in Brand geraten, wird die Botschaft ad tumulum cuneosque theatri gebracht (664): der tumtdus kann doch wohl Aar der früher genannte des Anchises sein, und gewiß wäre es sehr passend, wenn dicht bei ihm die Leichenspiele stattfänden, «her diese Vorstellung wird in uns also erst nachträglich erweckt. Höglich, daß sie dem Dichter selbst bereits früher vorschwebte, ^enn er ließ (329) den Nisus im Blut getöteter Rinder ausgleiten: Vorbild ist der gleiche Vorgang bei Homer, wo diese Rinder ^ben als Opfer an Patroklos' Grab gefallen sind; möglich freilich -«kuch, daß Virgil an diese Motivierung gar nicht gedacht hat. JVll jene Einzelangaben widersprechen sich also untereinander ^icht, und es ist denkbar, daß sie aus einheitlicher lokaler Vor- ^stellung geflossen sind: der Leser aber, dem überhaupt daran ge- diegen wäre, müßte sie sich aus zufällig hingeworfenen Notizen jrekonstruieren.

In einem zweiten Falle können wir beim Dichter selbst eine

1) Norden zeigt p. 183 fg. , daß sich die Angaben Virgils in VI über Sibyllengrotte und Apollotempel mit den wirklichen lokalen Verhältnissen wohl vereinigen lassen ; aber ohne Kenntnis dieser Verhältnisse würde schwer- lich ein Leser dazu gelangen, sich ein einigermaßen klares Bild davon zu machen. Über die Unbestimmtheit der virgilischen ünterweltstopographie 8, Norden 207. 216. 260: auch hier spricht nichts dagegen, daß dem Dichter selbst ein bestimmtes Bild vorschwebte; aber es liegt ihm wenig daran, es auch dem Leser zu verdeutlichen.

350 Zweites KapiteL Erfindang.

bestimmte Vorstellung mit Gewißheit yoraussetzen^ ohne ihrer doch unsererseits habhaft werden zu können: ich meine das troische Lager am Tiber mit seiner Umgebung. Das Lager hegt *am Strande* (VIU 158), stößt aber nicht unmittelbar ans Meer: die stürmenden Feinde haben das Meer im Rflcken (X 267 ff.; vgl. IX 238 in hivio portae quae proxima ponto). Wohl aber stößt es unmittelbar an den Fluß, und zwar offenbar, ohne daß es nach dieser Seite hin noch durch Mauern geschützt wäre: sonst könnte Turnus nicht aus dem Lager ins Wasser springen (IX 815).^) Soweit wäre alles Topographische noch verständlich: nun heißt es aber IX 468, als die Feinde anrücken

Aeneadae duri murorum in parte sinistra opposuere adeni nam dextera dngitur amni ingentisque tenent fossds et turribus altis stant maesti. Das ist, wie Servius richtig sagt, Prooeconomie für den Rückzug des Turnus: es soll sich uns die Lage am Flusse einprägen. Aber wie kann man bei einem Lager überhaupt von einer linken und rechten Seite der Mauern sprechen? Recht wohl beim quadra- tischen römischen Lager, wo es eine Front und Rückseite, also auch ein Links und Rechts gab; aber hier scheint ja überhaupt das Lager nur zwei Seiten zu besitzen, und wenn ein quadra- tisches Lager auf einer Seite durch den Fluß gedeckt ist, bleiben drei dem Angriff ausgesetzt. Nehmen wir also etwa an, die Mauer habe einen flachen Bogen beschrieben, dessen beide End- punkte an den Fluß stießen: dann könnte immerhin die dem Feinde ausgesetzte Seite die linke (nach dem Tiberlauf gerechnet)-),

1) Über die vom Lager getrennte Flotte 8. o. S. 228, 2.

2) Links und rechts kann selbstverständlich nicht vom Standpunkte der den Feinden zugekehrten Troer aus gemeint sei. Die Feinde hatten in der Nacht den ganzen Mauerkreis umzingelt (IX 169 öbsidere portas cura datur Messapo et moenia cingere flammis; dies Feldlager heißt Laurentia castra X 636. 671, vgl. IX 371. 461); wenn sie also nun zum Sturm anrücken, 80 ist das, auf welcher Seite es auch geschehen mag, für die Verteidiger ^vom'. Wenn Virgil übrigens, wie ich annehme, nach dem Tiberlanf gerechnet hat, so tut er das nicht, weil ihm fSr die Bezeichnung von Flu^ ufern rechtd und links in unserm Sinne geläufig wären (vgL Stürenburg, Die Bezeichnung der Flußufer bei Griechen und Römern, in: Festschr. d. 49. Philo! ogenvers., Dresden 1897, 289), sondern weil er von Rom aus in Gedanken den Tiberlauf nach Ostia zu abwärts verfolgt.

Ortflangaben. 351

die Flnßseite die rechte Seite (genau genommen des Lagers, nicht der Mauern) heißen; aber gewiß ist es eine starke Zumutung an den Leser^ sich jene Hilfsannahme oder ähnliche gleichwertige selbst zu konstruieren. Sicher hat ja der Dichter mit pars sinishra und dexira selbst eine bestimmte Vorstellung yerbunden und beabsichtigt sie dem Leser zu suggerieren: gelungen ist ihm das nur sehr unyoUkommen. Billig wird über diese Schwäche urteilen^ wer sich yergegenwärtigt^ wie uuyollkommen selbst Histo- rikern des Altertums in den allermeisten FäUen die Veranschau- lichung des Topographischen gelungen ist, und wer andererseits daran denkt, wie selbst die genaueste Ortsbeschreibung eines auf derartiges erpichten modernen Erzählers Zweifel und Unklarheit beim Leser zurückzulassen pflegt, die nur durch eine Planskizze yermieden werden könnten.

Li anderen Fällen wird man eher zu der Annahme geneigt sein, daß Virgil sich nicht yon yornherein ein festes Bild der Gesamtlokalität entworfen hat, sondern je nach Bedürinis diesen und jenen Zug zu bestimmtem Zweck einfährt: so den Wildbach, der X 362 die arkadischen Reiter zum Absitzen nötigt (oben S. 224), oder den ausgedehnten Sumpf, der XII 745 die Flucht des Turnus einengt. Nur wird man hier, wo es sich um Örtlich- keiten handelt, die Virgil wie seinen Lesern genau bekannt sein konnten, stets mit der Möglichkeit zu rechnen haben^ daß er an die Vorstellung yon Vorhandenem und Bekanntem anknüpft. Wie sich danach Andeutungen, die für Nichtkenner unklar bleiben können, ohne weiteres zu einem klaren Bilde zusammenschließen, kann das Beispiel des etruskischen Lagers in VHI lehren. Euander hat 478 seinen Bericht über die etruskischen Verhältnisse mit der xwco^söCa der urhs AffyUina d. h. Caere, dem Eönigssitz des Mezentius, begonnen, hat die Eroberung der Stadt durch die rebellischen Etrusker berichtet: wenn er unmittelbar darauf (497) erzahlt, nun brenne ganz Etrurien auf die Verfolgung des Mezentius und die Flotte liege fahrtbereit am Strande, litore, so kombiniert jeder Leser, der die Lage von Caere kennt, daß dies litus das yon Palo ist, und im Anschluß daran versteht er 504 unter dem hie Campus, wo die Streitmacht der Etrusker lagert, den campus um Caere. Sonach verbindet er weiterhin mit der Angabe von Aeneas' Ziel, den Tyrrhena arva (551) und den Tyrrheni litora regis (555), eine ganz bestimmte Vorstellung und verlegt aus

352 Zweites £[apiiel. Erfindung.

dieser heraus den Hain prqpe Caeritis amnem (597), in dem Aeneas die Waffen des Yulcan empfängt and der unweit Ton Tarchons Lager ist (603), nicht an den Oberlauf des Caeres was die Worte an sich natürlich auch besagen könnten sondern eben in die Gegend von Gaere.^) Endlich wundert er sich sonach gar nicht, später (X 55) zu hören, daß das Heer unverzüglich die SchiflFe bestiegen hat; wer aber ohne die geographischen Verhalt- nisse zu kennen die letztgenannten Stellen nicht im Zusammen- hang des Ganzen läse, würde geneigt sein, auch hier über un- genaue Ortsangaben Virgils zu kls^en.

1) Es yersteht sich, daß es der Lokalgelehrsamkeit gelungen ist, die Stelle dieses Haines genan zu bestimmen: er lag etwa einen Kilometer von der Stadt anf dem Monte Abetone dicht am Lauf des Vaccino. So Rosati, Oere e suoi monumenti, Foligno 1890, p. 13.

Drittes Kapitel. Darstellang.

I. Erzählung.

Der Erzähler^ der nach Anschaulichkeit der Darstellung strebt; wird es nach Möglichkeit zu vermeiden haben ^ yon einer Vielheit von Personen zusammenfassend zu erzählen. Mit einer Masse kann sich der Zuhörer nur dann identifizieren, wenn sie ihm^ von einem gewaltigen Triebe belseelt, als Einheit erscheint, in der die Individuen verschwinden. In aUen anderen Fällen wird das Bewußtsein, einer Vielheit von Individuen gegenüberzustehn, 4iie Phantasie zerstreuen und also das Bild nicht deutlich werden lassen. Apollonios erzählt sehr häufig von seinen Argonauten insgesamt, daß sie dies oder das getan hätten, ohne daß die Hand- lung weiter spezialisiert würde. Solche Gesamthandlungen sind ^uch nicht zu umgehen, wo, wie bei Apollonios und Virgil, der THeld von einer großen Schar von Genossen umgeben ist; aber Virgil beeilt sich, so oft er an derartiges gelangt, Einzelvorstel- llungen zu erwecken. Apollonios erzählt etwa die Leichenfeier -des Idmon (II 837): 'da hemmten sie ihre Fahrt, unwilligen JBerzens blieben sie bei der Besorgung des Leichnams. Drei ^anze Tage klagten sie; am folgenden balsamierten sie ihn treff- lich ein, und das Volk (der Mariandyner) mitsamt dem König Lykos nahm teil an der Bestattung; dabei schlachteten sie, wie es dem Verstorbenen zukommt, Schafe die Menge. Und es ist ein Grabmal des Mannes in jenem Lande aufgeschüttet, und ein Zeichen darauf, auch Spätgeborenen zu schauen, eine Schiffswalze aus Olivenholz' u. s. f. Man halte daneben die (zweifellos in Er- innerung an die Apolloniosszene geschriebene) Leichenfeier des Misenus VI 212 ff. Auch Virgil beginnt mit summierendem '^ie Troer beweinten den Misenus am Gestade imd erwiesen der Asche

Heime, Virgils epische Technik. S. Aufl. 23

354 Drittes Kapitel. Darstellung.

die letzten Ehren". Dann aber folgt eine detaillierte Beschreibung^ wie der Scheiterhaufen errichtet wird, und im folgenden werdeiL bei der ebenso detaillierten Darstellung der weiteren Geschäfte die einzelnen Gruppen herausgehoben: pars calidos latices . . ex- pediunt . . pars ingenti suhiere feretro . ., bis wir zu Individuen kommen: ossa cado iexit Corynaeus, idem etc., ai pius Aeneas sepulcrum imponit usf. Und so bei der Laudung in Hesperien (VI 5): die junge Mannschaft springt ans Ufer: ein Teil schlagt Feuer aus den Kieseln, ein Teil holt Holz aus dem Wald, sucht fließendes Wasser und zeigt es den anderen. So bei der Landung^ in Libyen: die Teukrer gehen ans Land und strecken die Glieder am Strande aus: Achates macht Feuer an usw.; dann bei der Bereitung des Mahls: sie zerlegen die Hirsche, ein Teil schneidet das Fleisch in Stücke und steckt sie an die Bratspieße, andere^ stellen Kessel auf usw.

Gebieterischer noch als bei solchen friedlich-alltaglichen Be- richten drängt sich die Forderung nach anschaulicher Speziali- sierung bei der Schilderung der Kriegstaten auf. Hier besonders^ hat Virgil von Homer gelernt; in der Ilias wird ja fast aus- nahmslos möglichst rasch von der summarischen Gesamterzählun^ zu den Individuen übergegangen. Gesamtschilderung war unent- behrlich bei der Erhebung der italischen Völker VH 623. Di»-

steht nur ein zusammenfassender Vers voran: ardd inexcita Au

sonia atque immobüis ante; dann wie bei den früheren Beispielen^

Teilung: pars pedes ire parat campis, pars arduns altis pulveru

lentus equis furit (wo die Epitheta uns das Individuum, und dei^^

herausgegriffene Moment uns ein bestimmtes Bild statt des un^

bestimmten 'rüsteten sich für den Reiterdienst' sehen läßt); danis=^ werden fünf Städte genannt, die neue Waffen fertigen, wie in:^^ einzelnen mit großer Proprietät des Ausdrucks ausgeführt wirdir:^ endlich, als das Zeichen zum Aufbruch ertönt, kommen wir zi^^ Individuen: hie (jaleam tectis trepidus rapit usf., was zur Auf Zählung der einzelnen benannten Führer überleitet. Man ma^0

noch etwa das erste Anrücken der Feinde gegen das Lager be

trachten (IX 25): nur ein allgemeiner Vers, dann werden einzelne?^^ uns vor Augen gestellt; nur ein Vers dann für die Troer ins- gesamt, dann direkte Rede des Caicus, der zu den Waffen ruft. Oder die Situation der belagerten Troer X 120 ff.: wir sollen uns das Bild einprägen, darum wird länger dabei verweilt, aber nicht

Spezialisienmg. Verkürzte ErzSMnng. 355

nit aUgemeiner Schilderung, sondern indem eine Art Katalog der

I^ührer gegeben wird, den wir hier eigentlich nicht erwarten und

<ier wohl auch ohne jene Absicht des Dichters hier nicht stehen

^«^ürde. Nicht anders verfährt Virgil bei den Kämpfen selbst; es

ist bezeichnend y daß der Gesamtschilderung weitaus am meisten

Saum gegeben wird in der Reiterschlacht, XI 597 635 (worin

"»iur ein einziger Zweikampf) und 868 flF.: die in kompakter Masse

beranbrausenden und wieder zurückjagenden Geschwader können

der Anschauung wirklich als Einheiten gelten. Es stellt sich

siber nun hier (624 flF.) wie in ähnlichen Fällen^) der auch nur

^^nz kurzen Gesamtschilderung ungesucht das Gleichnis als Stütze

der Anschauung ein: auch hierin war ja Homer y orangegangen

man denke an die drei aufeinanderfolgenden Gleichnisse in B

l>eiin Vorrücken der Heere.

2.

Der summarische Massenbericht zieht das Nebeneinander zu- sammen^ die verkürzte Erzählung das Nacheinander; auch mit ihr ijst aus einleuchtenden Gründen volle Anschaulichkeit nicht ver- «einbar, und der Dichter wird sie also nach Möglichkeit zu be- schranken haben. Das wesentlichste Mittel hierzu ist die Kon- 2:entration der Ereignisse auf möglichst geringe Zeiträume; je fiiusgedehnter die Handlung zeitlich ist, desto häufiger wird ver- kürzte Erzählung die Lücken zwischen den anschaulich dar- gestellten Szenen ausfüllen müssen falls überhaupt auf Kon- tinuität der Erzählung gehalten wird. Hierbei ist der wichtigste Hunsl^iff der aus der Odyssee übernommene, die Handlung erst g^en Ende des Zeitraums einsetzen zu lassen, über den sich die Fabel erstreckt, die vorausliegenden Ereignisse den Helden selbst ^J^ahlen zu lassen; wir haben im übrigen gesehen, wie Virgil die Ereignisse nach Möglichkeit auf wenige Tage zusammendrängt ^^d, wo tatsächlich ein längerer Zeitraum notwendig wäre, doch ^es zu verdecken sucht (oben S. 341 fg.). Am leichtesten recht- fertigt sich die Verkürzung in der Ich-Erzählung; der Dichter schiebt die Verantwortung dafür auf seinen Erzähler und dieser ^eder ist durch die Rücksicht auf seine Hörer gedeckt; der Leser

1) IV 402; Vn 628. 586; IX 30. 668. 71)1; X 06. 264. 866. 406. (714); XI 297. 466. 669; XII 865. 587.

28*

356 Drittes Kapitel. Darstellung.

verlangt von ihm weniger als vom Dichter selbst volle An- schaulichkeit^ weil der Erzähler selbst schon als handelnde Person die Phantasie beschäftigt. Eine Ungleichheit der Behandlung wie sie z. B. in t zwischen dem Kikonen- und dem Kyklopenabenteuer besteht^ ist nur in der Ich-Erzählung möglich; die Eikonen- geschichte, so wie wir sie jetzt von Odysseus hören vom Dichter erzählt, würde aus dem Stil des ganzen Gedichts völlig heraus- fallen. Diesen Vorteil hat sich Virgil vor allem in HI zunutze gemacht: er läßt den Aeneas nur einen Überblick über die Er- eignisse der sieben Jahre geben, aus denen er einige wenige, die auf die lebhaftere Teilnahme der Hörer rechnen dürfen^ ausführlich darstellt. So darf er z. B. die Abfahrt von der Heimat und was vorausgeht auguria divom, Bau der Motte*) ganz kurz er- ledigen, darf aus dem ersten Stadium ihres Exils, dem Aufenthalt in Thrakien, einzig die pathetische Szene an Polydoros' Grab dar- stellen, über den Empfang in Delos, Anius und seine Grastfreund- schaft rasch hinweggehen usf, bis zum Tode des Anchises: ami^ Ändiisen; nirgend sonst in der ganzen Aeneis hat Virgil annähernd so viel verkürzte Erzählung angewandt.

So enge Schranken wie Homer hat er ihr freilich auch sonst nicht gezogen. Der homerische Stil läßt verkürzte Erzählung fast nur bei Nebenhandlungen zu, die hinter der Haupthandlung zurücktreten sollen*); und selbst da wird oft genug noch ganz ausführlich dargestellt. Nach Virgils künstlerischen Prinzipien war Verkürzung zunächst überall da geboten, wo dem Leser bereits Bekanntes hätte wiederholt werden müssen. Wo also eine Person bei ausführlicher Erzählung anderen das berichten müßte, was wir selbst bereits geschehen sahen, wird regelmäßig verkürzt:

1) IX soff., bei Gelegenheit der Verwandlung der Schiffe, wird das Gespräch berichtet, das die Mater damals mit Juppiter über Aeneas" Flotten- bau fahrte, wozu die Scholien bemerken sane haec narratio tertii libri erat,

sed düata est, ut hic opportunius redderetur polest igitur aut xccra xh

atoTtdoiuvov videri aut hysteroproteran. Also das Zurückgreifen, das ja so selten ist, wurde als solches angemerkt, nicht etwa, wie Georgii, Aeneis- kritik 394 meint, die schmucklose Kürze jener Erzählung in m getadelt. Natürlich ist Servius" opportunius noch zu wenig gesagt, in in war ja die Erzählung gar nicht möglich.

2) Beispiel aus der sehr ausführlich erzählten Telemachie ß 882 ff.: Athene bringt die Reisegefährten des Telemach zusammen und entlehnt das Schiff des Noemon.

Verkürzte Erzählung. 357

hier wird der Phantasie ja nur Reproduktion des bereits vor- geführten Bildes zugemutet, und eine Wiederholung führt zwar die Handlung äußerlich vorwärts, aber der virgilische Leser hat nicht die Ruhe des homerischen, der sich damit begnügt, auch ohne selbst Neues zu erfahren. Also Verkürzung z. B. da, wo Aeneas seinen Genossen den uns bereits bekannten Entschluß zur Abfahrt von Karthago, die Erscheinung Mercurs usw. berichten müßte (IV 288), wo Anna den Auftrag Didos ausrichten müßte (IV 437); desgleichen nach Anchises' Traumerscheinung (V 746), nach Turnus' Entschluß zum Kriege (VII 407), Aeneas' Entschluß 3ram Besuch Euanders (VIII 79) usf.; fast regelmäßig ist dann auch die Erzählung dessen, was sich unmittelbar an die Mit- teilung anschließen müßte, verkürzt, im letzten Falle also der Aufbruch des Aeneas, bei dem doch wichtige Bestimmungen zu treffen sind (IX 40. 172), von denen wir nun erst nachträglich erfahren. Den Empfang bei Acestes (V 35 41) berichtet Virgil mit ganz unhomerischer Kürze: auch hier hätte bei anschaulich ausführlicher Erzählung die Wiederholung von Bekanntem viel Worte erfordert. Ebendahin gehören Botschaften, deren Inhalt wir bereits kennen: IX 692 an Turnus nach dem Ausfall der Troer, X 510 an Aeneas nach Pallas' Tod, XI 896 an Turnus nach der Camilla Fall, XII 107 die Herausforderung des Aeneas znm Zweikampf: Homer würde in diesen und zahlreichen ähn- lichen Fällen uns die Einzelheiten nicht erlassen haben.

Virgil ist durchaus darauf bedacht, nur Dinge zu erzählen, die an sich bedeutend sind, selbständigen Wert haben und Ein- druck machen; alles an sich Gleichgültige, das nur etwa als Vor- bereitung für zukünftige Ereignisse oder als Folge vergangener Bedeutung hat, wird nach Möglichkeit vermieden. Eben dies künstlerische Prinzip hatte ja die neohellenistischen Erzähler da- hin geführt, aus ihren Stoffen einzig die pathetischen Szenen herauszunehmen, alles andere, und mochte es auch sachlich das Wichtigste sein, kurz andeutend beiseite zu schieben. Damit ist freilich das Prinzip der öv^^atQia gröblich verletzt, welches gebietet. Wichtiges und Unwichtiges auch durch entsprechende Ausführlichkeit oder Knappheit der Behandlung zu unter- scheiden.^) Virgil läßt nichts Wichtiges beiseite, sondern be-

1) Auf die Forderung der övii^irgici weist z. B. Diodor öfters hin, wexm ex auf einen Gegenstand nifht ausführlicher eingehen will: lY 5, 4;

358 Drittes £[apitel. Danteilung.

müht sich; allein^ was sachlich von Bedeutung ist, auch künstle- rischen Gehalt zu geben^ so daß es der Erzählung wert wird. Es begegnet ihm ganz selten ^ daß er im Zusammenhang der Er- zählung Umstände y die sachlich zu wichtig sind, um Übergangs zu werden, doch nur flüchtig streift, um nicht einen Effekt zu beeinträchtigen.^) Noch seltener drückt er aus künstlerischen Rücksichten wirklich Bedeutendes zur Nebensache herab: ich wüßte kaum einen zweiten so starken Fall wie X 604 tandem erumpunt et castra rdinquunt Äscanius puer et nequiquam obsessa iuventus. Das sollte eigentlich am Schluß des Buches stehen: die Latiner genötigt, die Umschließung des Lagers an&uheben, der Ausfall vollendet ihre Niederlage. Aber nach dem Tod des Mezentius kann Virgil am Schluß nichts mehr brauchen, also wird das Resultat hier yorweggenommen und als Folge von Aeneas' Wüten eingeschaltet; hier kann es aber nur nebenbei er- wähnt werden, da der Dichter Eile hat, zu Turnus zu gelangen, dem des Aeneas zorniges Toben in erster Linie galt. Aus ähn-

68, 6; vgl. I 8, 10; 9, 4. Dionys vermißt bei Thnkjdides die Symmetrie der Erzählung: de Thucyd. 18 ff.

1) Wohl am kühnsten VI 40 talibus adfata Äenean (nee sacra moran^f iussa viri) Teucros vocat alta in templa sacerdos: da ist nicht einmal der Satz durch das Opfer der sieben Stiere und sieben Schafe unterbrochen. Aber hier kam es Virgil darauf an, die Handlung energisch in Gang zu bringen; das erste Auftreten der Sibylle wäre durch einen längeren Ein- schub zu sehr isoliert worden; auch folgt 236 ff. ein sehr viel wichtigeres Opfer, das als Wiederholung keinen Eindruck mehr gemacht hätte. Weniger auffällig 211 vatis portat sub tecta Sibyllae (ramum). Dagegen fällt die kurze Andeutung 890 f. exin bella viro memorat usw. ganz aus dem Stil der Erzählung heraus und wäre sicher bei der t3l)erarbeitung beseitigt worden: s. darüber Norden 44fg. , der durch Drachmann, Nord, tidekr. f. filol. Xin 128 fg. nicht widerlegt worden ist. Seltsam vor allem ist Drach- manns Annahme, Virgil habe die Verse 890 f. nur aus Gewissenhaftigkeit eingelegt, damit die von Helenus III 468 fg. gegebene Vorhersage erfüllt werde; während sie sich nun gerade nicht erfüllt, indem es Anchises ist, nicht, wie Helenus gekündet, die Sibylle, die prophezeit. Den Zusammenhang des Sibyllenorakels 83 ff. mit der Ankündigung des Helenus kann man gar nicht bezweifeln; ob Virgil, da ja die Angabe genauer Daten und detaillierter Verhaltungsmaßregeln im Sibyllenorakel höchstens für rituelle Dinge zu- lässig ist, gut daran getan hat, die für Anchises' Prophezeiung gepr&gten Verse nur leicht verändert für Helenus' Vorhersage zu verwenden, ist eine andere Frage. Über die Entstehung der Dublette VI 83 ff. und 890 ff. denke ich etwas anders als Norden: s. u* Kap. IV 2.

Verkürzte ErrfÜilung. Äußere Details. 359

liehen Ghründen soll am Schiasse von YUI der Schildbeschreibung nichts mehr angef&gt werden, das den Eindruck schwächen könnte; die Yerhandlimgen des Aeneas mit den Etruskem und ihr Auf- brach werden also erst nachträglich X 148 berichtet: aber hier leidet die Sache nicht, und der Dichter hat den Vorteil, da er nur rekapituliert, kürzer sein zu dürfen, als wenn er die Vor- gänge ihres Ortes erzahlt hätte; dabei wären schleppende Wieder- holungen der ersten Euanderszenen Vorstellung des Aeneas, Bericht Über das bisher Vorgefallene sehr schwer zu vermeiden gewesen.

Ganz vereinzelt endlich steht der wirklich nur andeutende Bericht über Aeneas' und Didos Vereinigung IV 165, insofern es hier nicht künstlerische Gründe waren, die zur Verkürzung führten:

spduncam Dido dtix et Troianus eandem deoenUmt. prima et TeUtiS et pronuba luno dant Signum; ftUsere ignes et conscius aether conubis summoque tdularunt vertice nymphae.

Das ist meisterhaft in jedem Zuge; freilich hat hier die moderne Empfindung sich auch des modernen Stils bedienen müssen.^) Aber wer sieht nicht, wie hier die Paraphrasis, weit entfernt, nur der Prüderie zu dienen, das Ereignis wirklich von jeglichem vulj^ren Beigeschmack befreit, es ins Heroische erhebend?

3. Vollkommene Anschaulichkeit der Erzählung ist nur dadurch za erreichen, daß ganz bestimmte und detaiUierte Angaben über äußere umstände der Handlung ebenso bestimmte Vorstellungen im Leser erwecken. Virgil läßt uns, was er erzählt, auch immer mehr oder weniger deutlich sehen. Nähere Untersuchung würde zeigen, daß er auch hierin von seinen Vorbildern beein- flußt wird und, je anschaulicher eine Schilderung ist, die er be- nutzt, um so mehr auch selbst, wenn auch mit eigenen Mitteln, nach

1) Es ist bezeichnend, daß Apollonios IV 1126 ff. zwar die Vorberei- tungen zum Beilager des Jason und der Medea ausführlich schildert, auch seine Betrachtungen darüber austeilt, über den Vorgang selbst aber vere- cunde hinweggleitet: 1166 tSt xai xovg yXv^SQfj TtSQ laivoiiivovg (pdorriri dttpL* MxBV bI reUoiro diaxpiffig }iXxiv6oio.

a

vj

ü^

360 Drittes Kapitel. Darstellung.

dem gleichen Ziele strebt; die wichtigere und schwerere Aufgabe wäre, darzustellen, was Virgil an den Dingen gesehen hat und wie er es gesehen hat; aber dies liegt von unserem Wege ab. Auf eines sei zur Vorbereitung für das Folgende hingewiesen: auch auf die äußere Anschaulichkeit der Erzählung konnte nicht ohne Einfluß bleiben die überwiegende Richtung Virgils auf das Psychische, die wir zu konstatieren hatten. Er 1^ selbst yiel mehr Gewicht auf das, was seine Menschen fühlen und wollen, als was sie sichtbarlich tun; er will auch im Hörer lieber die Illusion des miterlebenden Fühlens als die Illusion körperlichen Sehens hervorrufen. Wo sichtbare Details gehäuft sind, dient das in der Mehrzahl der Fälle nicht der Anschauung an sich, sondern dem zu erweckenden AfiTekt; Virgil weiß, daß das Pathos des Mitleid» oder des Grausens am sichersten durch den höchsten Grad yoic^ Anschaulichkeit erregt wird.^)

Das eigentlich Charakteristische an Virgils Erzählung is'fc? daß sie durch und durch mit Empfindung getränkt ist.^) Niclm-^ als ob, wie in jüngerer hellenistischer Poesie, des Dichters Emp^ ' findung sich unaufhörlich uns aufdrängte (obwohl, wie wir sehei^ci werden, Virgil auch in diesem Punkte viel weniger zurückhat ^

1) Quintil. VI 2, 82 ivdgysia quae a Cicerone ülustratio et evidenti^^^ nominatur, quae non tarn dicere videtur quam ostendere: et affectm nan aUte^ ' quam si rebus ipsi intersimus, sequentur. Er gibt dann Beispiele aus deser i Aeneis: excussi manxbus radii revolutaque pensa IX 476; levique patens ij^^^ pectore volnu^ IX 40; das Pferd beim Leichenbeg^gnis des Pallas positf^^"^ insignilius ü lacrimatis guttisque umectat grandibus ora XI 89. Derglciche^^^ vor allem auch bei ausgeführten pathetischen Schilderungen: Troilus, an leeren Wagensitz hängend, die Zügel noch in den Händen, Nacken unc Haupthaar schleift über den Boden, im Staube zieht die umgekehrte Lanz« Furchen (I 477). Priamus' Tod: Neoptolemus schleppt den Zitternden, de im Blut des getöteten Sohnes ausgleitet, zum Altar, die Linke wühlt er ic sein Haar, die Bechte stößt das Schwert bis ans Heft in die Seite (H 880> Man vergleiche des Achaemenides Bericht über den Fraß des Eyklopen mis der Erzählung der Odyssee, oder wobei an Stelle gehäufter Details die iTCtfwvri auf einer Vorstellung tritt die Verse über Tityos bei Virgil (V^^ 695) und Homer. Solche Stellen können am besten die bekannte Äußerun^^ Lukians de bist. 67 über hellenistische Detailmalerei illustrieren: bI äh JTap— ^ ^ivLos ri Ei)q)OQio)v r} KaXU^axog ^XsyBv (im Gegensatz zu Homer), ndüoig cti^^ oht ^Tttai vStüQ äxQtr Ttgbg t6 x^^^^S to^ TavvdXov ijyaysv; slta nocotg at^ 'I^iova ixvXias; (von Dilthey, de Callim. Cyd. 22 richtig aufgefaßt).

2"! Hierüber gute Bemerkungen schon bei Sellar, Virgil, 410 ff.

Ethos der Erzählung. 361

Homer); sondern die Empfindung der handelnden Personen l nns durch die Erzählung suggeriert werden^ auch ohne daß drücklich von ihr die Rede ist. Homers Erzählung überläßt im allgemeinen dem Leser^ aus den Ereignissen selbst die be- itenden Empfindimgen zu erschließen, und unterstützt dies nur eh Gespräche und Monologe; Virgil erzählt nie, ohne wenig- is durch Ton und Farbe, wenn nicht durch ausdrückliche Lgerzeige, auf jene Empfindungen hinzuleiten. Er hat sich in

Seele der Handelnden versetzt und erzählt aus ihr heraus; er jiziert die Empfindung sogar in die unbelebte Natur; er will

Hörer das gleiche erwecken, sei es nun heftig aufflackernder ekt oder gleichmäßig wärmende Stimmupg. Ich verweise auf ine Ausführung über die Stimmung der Wettspiele in V (S. 166);

weitere Beispiele wähle ich nicht Erzählung von aufregen- 1 und pathetischen Ereignissen da springt die Tatsache le weiteres ins Auge , sondern von verhältnismäßig gleich- tigen Verengen, und muß da längere Stellen ausschreiben. Der Aufbruch der Troer von ihrer Heimat, HI 1:

Postquam res Äsiae Priamique everiere gentem inmeritam visum superis, ceciditque superbum Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia, diversa exilia et desertas quaerere terras augwriis agimur divom, dassemque sub ipsa Antandro et Phrygiae molimur montibus Idae incerti quo fata ferant, ubi sistere detur, contrahimusque viros. vix prima inceperat aestas, et pater Anchises dare fatis vda iubebat, litora cum patriae lacrimans porttisque relinquo et campoSy ubi Troia fuit; feror exul in altum cum sociis naioque penatibus et magnis dis,

Anschauung geben die Verse nicht viel, wohl aber wird

eine Fülle von Empfindungen mitgeteilt, obwohl nur ein ►rt lacrimans ausdrücklich darauf hinweist. Wir sehen rjas Fall mit Aeneas' Augen, als ein ungeheures Ereignis,

Schuldlose aus imbegreiflichem Ratschluß der Götter traf;

werden in die Stimmung der Auswandernden versetzt, die ins gewisse, in unwirtliche ferne Lande, in die Verbannung geschickt 'den; die trotzdem, gehorsam den Göttern, keinen Augenblick

362 Drittes Kapitel. Darstellang.

zögern und sich fromm dem Schicksal ergeben; wir erleben den Schmerz bei der Fahrt an Troias Statte vorüber; der Zwiespalt ier Empfindung wird ims in den letzten Worten klar: tiefer Gram, und doch Trost in dem, was Aeneas mit sich führt: die Grenosseii; den Sohn, yor allem die Götter; wuchtig schließen die Spondeen d magnis dis die Schilderung ab, gleichsam als der feste Punkt in der schwankenden Zukunft.

Hier sprach Aeneas; aber der Ton ist nicht wesentlich andere, wo der Dichter erzahlt. Man sehe die Ankunft in Cumä (VI 5)

iuvenum manus emicat ardens Utas in Hesperium; quaerit pars semina flammae abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum ieda rapit süvas inveniaque flumina monstrat at pitis Aeneas arces, quihus altus Apollo praesidet, horrendaeque procid secreta Sibyllae, antrum immane petit

einerseits die freudige Geschäftigkeit der jungen Leute man kann nicht rasch genug ans Land, an die Küste des endlich er- reichten Hesperiens, aquam et ignem der neuen Heimat zu finden; andererseits die Gefühle des Aeneas, der mit frommem Schauder einem feierlich erhabenen Ereignis entgegengeht. Aeneas' Fahrt zu Euander, VIII 86:

Thybris ea fluvium quam longa est nocte tumentem leniit et tacita refluens ita substitit unda mitis ut in morem stagni placidaeque paludis sterneret aequor aquiSy remo ut litctamen abesset, ergo iter i^iceptum celerant rumore secundo, labitur uncta vadis abies; mirantur et undae, miratur ncmus insuetum fulgentia lange scuta virum fluvio pictasque innare carinas. olli remigio noctemque diemque fatigant et longos superant flexus variisque teguntur arboribiis viridisque secant placido aeqtiore Silvas, sol medium codi conscenderat igneus orbem, cum muros arcemque procul ac rara domorum tecta mderU, quae nunc Romana potentia caelo aequavit, tum res inopes Euander habehat, ocius advertunt proras urbique propinquant.

Ethos der Eizählung. 363

Hier haben wir die Beseelung der Natur: der ßott des Stromes, der die Fahrt geheißen hatte, hemmt seiner Wasser Lauf und kann sich nicht genug tun in der hilfreichen Teilnahme; Wellen und Wälder staunen, wie Naturkinder, das nie gesehene Wunder an; andererseits die Stimmung der Rudernden: freudiger Eifer, da sie merken, wie ihnen die Arbeit erleichtert wird, die doch noch langwierig und schwierig genug ist; Freude an den mannigfach bewaldeten Ufern; als diese sie nicht mehr vor der Olut der Mittagssonne schützen können, ist auch endlich das Ziel in Sicht, und nun eine verdoppelte Anstrengung bis zum Landen. Dazu kommt ein Gefühl, das den Handelnden selbst fremd ist: der gewaltige Unterschied zwischeu dem Einst und Jetzt, eiu Lieblingsgedanke yirgilischer Zeit. Man vergleiche, was sonst vom Tiber erzählt wird: wie er die Troer bei der An- kunft zum Verweilen einladet und Aeneas laettis fluvio swxedü cpaco (VIL 36); wie Turnus, der Übermacht weichend, in den Strom springt (IX 815):

üle suo cum gurgite flavo accepit venientem ac mollibus extulit midis et laetum sociis abluta caede remisit:

es ist, als könne der Gott selbst dem Helden die Bewunderung nicht versagen, so freundlich empfängt er ihn, und was för andere Lebensgefahr wäre, ist für Turnus nur ein erfrischendes Bad. Anders, als die Nymphen, eben noch Schiffe, zum Meere hinab- schwimmen (IX 124); die Zuschauer stehen entsetzt

cunctatur et amnis rauca sonans revocatque pedem Tiberinus ab alto.

Man sehe weiter etwa, wie Boten kommen und gehen: die Abgesandten der troischen Schiffe, von den Karthagern bedroht, kommen concursu magno, templum clamore pctebant (I 509). Die Boten des Aeneas an Latinus: da es zu den augusta momia regis geht, werden hundert sorgfältig Auserwählte gesandt; sie gehen ins Ungewisse, ader haud mora, festinunt iussi rapidisque feruntur passibus, mit rascher gehorsamer Entschlossenheit (VII 156); sie kommen zurück sublimes in eqiäs pacemque repartarU (285): das erste Wort gibt die volle Stimmung. Sie waren gesandt pa<:em exposcere Teucris; viel bescheidener kommen nach der Schlacht

364 Drittes Kapitel. DarstelluDg.

die Latiner zu Aeneas veniam rogantes. Endlich die zu Diomedes gesandten Unterhändler (XI 243):

Vidimus o cives Diomedem Ärgivaque castra atque iter einensi casus superavimtis omnis contigimxisqtie manum qua concidü lUa tellus:

erst die Befriedigung^ als nach langem beschwerlichen Weg das Ziel erreicht ist; dann das Gefühl'^ das jeder kennt^ der einem wahrhaft Großen die Hand reichen durfte.

Genug der Einzelbeispiele; jeder kann sie nach Belieben ver- mehren. Nur eine Gruppe von zusammengehörigen Zügen sei hier noch erwähnt, bei der wir an die Beobachtung eines antiken Kritikers anknüpfen können. Asinius Pollio hat (nach Servias zu XI 183) behauptet, daß Virgil bei der Beschreibung des Tages- anbruches immer eine Wendung einfließen lasse, die auf die augen- blickliche Situation Bezug habe. Wenn die Beispiele, die Senrius anführt, auf Asinius zurückgehen, so hat dieser spitzfindig Dinge in Virgil hineininterpretiert, an die der Dichter sicher nicht ge- dacht hat^); die Bemerkung selbst können wir uns, wenn auch mit Einschränkung, zu eigen machen. Daß Virgil nicht anabsichtlich an Stelle des stereotypen f^fiog d' riQiyivBia q>ävri ^ododdxzvXog Tjcjg fast immer neue Wendungen einführt, ist ja klar*): es würde

1) extulerat lucem soll XI 188 gebraucht sein, weil es sich im folgen- den um das eff'erre Ton Toten handelt; Tithoni craceum linquetis Aurora cuhile (IV 686), weil Aeneas Dido verläßt; zu 11 801 behauptet Servius sur- gehat Lucifer deute darauf hin, daß de patria discedit Aeneas, also surgit. Anderes bei Georgii, Aeneiskritik 145, der nur wieder eine ganz unbegreif- liche ^Kritik' zu sehen glaubt, im übrigen das Richtige an Pollios Bemerkung verkennt.

2) Auf diese Variation der Darstellung will ich nur in der Anmerkung kurz eingehen; das Weitere gehört in die Lehre vom Ausdruck. Das alte Epos befolgte das Prinzip, Vorgänge, die sich naturgemäß ohne merklichen unterschied wiederholen, auch immer wieder ganz in derselben Weise, mit denselben Worten zu berichten. Diese stereotypen Wendungen hatte schon Apollonios gemieden; Virgil geht noch über ihn hinaus. Bei der Beschrei- bung der Schildverfertigung geht Homer regelmäßig vom Verfertiger aus, variiert nur auch er schon mit bewußter Kunst in der Wahl des Verbums. ApoUonius variiert ebenfalls ein und dieselbe Einführungsformel in seiner Beschreibung von Jasons Gewand I 780 ff. Virgil beginnt VJil 628 mit fecerat Ignipotetis . . fecerat et . . C37 addiderat, geht aber dann zu einfacher Beschreibung über 641 stabant 643 distulerant 646 iubebat 650

Tagesanbruch. 365

seiner sonstigen Darstellungsart widersprechen ^ suchte er damit nicht, so oft es anging, auch eine eigene Stimmung zu erwecken. Zum idyllischen Ton der Euanderszene paßt (VIII 455)

aspiceres 663 stahat 656 ceniebat, unterbricht diese nur zweimal durch Rück- kehr zu Vulcan (666 extuderat . . addit, 710 fecerat Ignipotens), mit dem er auch das Ganze abschließt (726 finxerat). In der Boiotie wechselt die Einfuhrungsformel zwar mehrfach, scheinbar absichtslos, und ohne daß genaue Wiederholung vermieden wäre. Apollonios variiert I 23 ff. nach Möglichkeit mit allen Worten des Kommens und Gehens, ergänzt die Dürftig- keit der positiven durch negative Formeln, findet auch die und jene eigen- artige, ohne doch durch die Variation irgendeinen poetischen Eindruck zu erzielen. Yirgil steht ihm näher als dem homerischen Dichter, insofern auch er das Ankommen der Führer, nicht ihr Dasein schildert; wie er da- bei durch Anschaulichkeit die Aufzählung zu beleben sucht, wird unten gezeigt werden; auch in den einführenden Formeln finden sich zwischen den Verben des Kommens und den negativen Formeln anschauliche Bilder: Aventinus zeigt auf dem Rasen seine siegreichen Rosse (666), Messapus ruft seine längst des Kriegs entwöhnten Völker zu den Waffen und legt wieder Hand ans Schwert (691), Halaesus schirrt die Rosse an den Wagen (723), Turnus überragt alle um Kopfeslänge (783); keine einzige Einführungsformel ist wörtlich wiederholt, insbesondere ist auch bei annähernder inhaltlicher Gleichheit die Satzform verschieden was freilich durch die geringe Zahl der Beteiligten erleichtert ist. Es wird aber weiter auch in der Bezeich- nung der Völker und Stämme eine Variation erstrebt, die sich nicht nur deutlich von der homerischen Einfachheit des ol vatop, ^z^p^, iviyiopto ab- heben soll, sondern wirklich dazu dient, die Phantasie des Lesers mit Bildern, statt sein Gedächtnis mit Namen zu füllen (z. B. 797 ff. qui saltus Tiberine ttu>8 sacrumque Numid Utus arant Butulosque exercent vomere colUs Circaeumque ingum, quis luppiter Anxwrus arvis praesidet, et viridi gaudens Ferofiia luco; qua Saturae iacet atra pälus gelidusque per imas quaerit iter valles atque in mare conditur üfens). Die antike Kritik hat das Streben nach Variation bemerkt und, feinsinnig genug, nicht unbedingt als Vorzug vor Homer anerkannt: Macrob. V 16, 14 in catalogo suo curavit Vergilius vitare fastidium, quod Homerus alia ratione non cavit eadem figura saepe repetita . . hie autem variat velut dedecus aut crimen vitans repetitionem . . hos copias fortasse putat dliquis divintie iUi simplicitati praeferendas , sed nescio quomodo Homerum repetitio iüa uniee decet: est ingenio antiqui poetae digna enumerationique convenitns quod in loco, mera nomina relaturus^ non incurvavit se neque minute torsit dedacendo stiium per singulorum varietat^, sed stat in consuetudine percensentium tamquam per aciem dispositos nu- merans^ quod non aliis quam numerorum fit vocabulis. Wenn aber darin ein Tadel für Virgil liegen sollte, so wäre übersehen einmal, daß die virgilische variaiio auch an dieser Stelle durch den Stil des ganzen Epos gefordert war, die repetitio als stilwidrig und als affektierter Archaismus empfunden werden müßte, und zweitens, was wichtiger ist, daß Virgil eben Anschau-

366 Drittes Kapitel. Darstellong.

Euomdrum ex humili tecto lux suscikU cUma et nuüutini volucrum sab culmine cantus

ebenso wie zu Beginn des Tages^ der die letzte Entscheidung bringen soll; das großartige

cum primum dito se gurgite tdlunt Solls equi lucemque datis nartbus ef flaut (XII 114);

am heiteren Tag der Spiele (V 104)

expectata dies aderat nonamque serena Äuroram Phaethontis equi iam luce vehebant,

am Tage heißer Kampfinühen (XI 182)

Aurora interea miseris mortalibus alma extulerat lucem referens opera atque läbares.

AeneaS; in der ersten Nacht am libyschen Gestade voll Sorgen wachend, empfindet den nenen Tag als Wohltat; da er sich nun vergewissem kann, wohin sie der Sturm verschlagen hat (I 305):

per nodem plurima volvens ut primum lux alma data est exire locosque exphrare novos . . . constituit.

Das erste weiße Licht des Morgens wird erwähnt; als Dido, schlaflos auf hoher Warte, die Flotte auf dem Meere schwimmend erblickt {ut primam albescere lucem vidit IV 584); im glänzenden Sonnenstrahl (iuhare exorio IV 130) formt sich der fröhhch prunkende Jagdzug; im hoflFnimgs vollen Morgenrot sehen die Troer ihr neues Heimatland zum erstenmal am Horizont auf- tauchen {rubescebat stdlis Aurora fugatis HI 521); in der ersten Helle des vollen Tageslichts (matura luce X 256) naht Aeneas mit der tyrrhenischen Flotte der latinischen Küste: sein im Sonnen- strahl erglänzender Schild und seine funkelnde Rüstung sollen ja den Seinen schon von weitem anzeigen, daß Rettung naht.

Die Gefahr liegt nahe, und Pollios Beispiel kann uns wanieu; daß man in diesen Dingen dem Dichter zu viel Berechnung zu-

lichkeit erstrebt, also keine bloße Liste geben will. Wie Virgil bei den Wottkämpfen die gleichlautenden Einführungen vermeidet, wurde oben S. 147 f. bemerkt.

EthoB. 367

Kraut: im ganzen und großen wird wohl niemand behaupten wollen, daß die angeführten Nuancen bloß zufällig Beziehung zur Situation zu haben scheinen. Und so steht's im tlbrigen auch: mag man bei mancher Einzelheit zweifeln, die Hauptsache wird jeder zugestehen, der unter diesem Gesichtspunkt eine beliebige längere Partie der Aeneis liest; und jeder etwa noch vorhandene Zweifel wird schwinden, wenn man eine entsprechende Partie atwa des Apollonius daneben hält.*) Der Vergleich ist um so lehrreicher, als Virgil in diesem Punkte sich höchstwahrscheinlich in bewußten Gegensatz zu ApoUonios gestellt hat. Ein Haupt- gprund für die Verwerfung des großen Epos durch Eallimachos

1) Ich empfehle etwa die Schilderung von Apsyrtos' Tod IV 921 £F. ; ). femer z. B. oben S. 111, 3. Noch eine Parallele sei gezogen: Oben gnirde die Leichenfeier des Idmon bei ApoUonios mit der Leichenfeier des üiisenus verglichen; die Berichte über den Tod der beiden sind gleichfalls ■ür die beiden Dichter bezeichnend. Von ApoUonios erfahren wir (EL 817), laß Idmon Wahrsager war, aber seine Kunst ihn nicht rettete. Ein Eber der des näheren geschildert wird) stürzte aus dem Röhricht des Flusses, in dem Idmon entlang ging, und schlug ihn an die Hüfte, Knochen und lehnen zerreißend; laut schreiend fiel er hin. Der Eber ward von Pallas md Idas erlegt; den sterbenden Idmon trugen die Genossen betrübt zum khiff; in ihren Händen verschied er. Eine zwar nicht geschickt angelegte, bber durchaus klare und sachliche Erzählung, bei der keinerlei Absicht )athetischer Wirkung zutage tritt. Bei Virgil ist die Erzählung des Er- eignisses selbst (VI 162) ganz kurz rekapitulierend es wird nachträglich )erichtet ; alles Gewicht fällt auf die Stimmung der übrigen Beteiligten, leneas und Achates sind durch die Sibylle darauf vorbereitet, einen Leich- lam am Strande zu finden; in trüber Stimmung, besorgt, wer es wohl sein nöchte, gehen sie hinab: da sehen sie Misenus liegen, indigna morte per- mptum. Was nun rühmend über diesen erzählt wird quo non prae- iantiar alter aere eiere viros etc.; er war Hektors Kampfgenoß gewesen, lann hatte der fortissimus heros sich in Aeneas* Gefolgschaft begeben las soll nicht unser Mitleid mit dem Toten erwecken, sondern den Verlust les Aeneas fühlbar machen; die Erzählung des Todes gibt mit dem ein- gefügten demens den Gesichtspunkt an, unter dem Aeneas und mit ihm der )ichter das Unterfangen des Misenus betrachtet; bei der Stimmung der Jberlebenden wird dann verweilt: ergo omnes magno circum clamore freme- *ant, prc^dpue pius Aeneas; dann gehen sie flentes an die Bestattung. ^uch ApoUonios vermeidet die stereotypen homerischen Verse und prägt i. B., wie Virgil, immer neue Wendungen für den Tagesanbruch: man mache )ei ihm den Versuch, eine Beziehung zwischen diesen Wendungen und der Jituation zu entdecken. S. I 619. 1278. II 164. 461. 722. 1288 ^cbs d* oit ^a dfiQOv isXdoiiivoiai q>oidv9-7\. III 827. 1223. IV 188. 888. 978. 1168. 1711.

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368 Drittes Kapitel. Darstellung.

und seine griecliisclien wie römischen Nachfolger war ja eben der ^ viele Schlamm', den ein so breiter Strom ihrer Ansicht nach notwendig mit sich führen mußte; .unmöglich, meinten sie, im Tone des homerischen Epos, der kein Verschweigen, Andeuten, Abkürzen duldet, die langweiligen, leeren, toten Stellen zu ver- meiden, die im Leser keine lebendige Anschauung, kein GefÖhl erwecken. Daher ja eben die eigentümliche Tecknik gewisser Kleindichter, selbst eine wenig umfängliche Fabel nicht in gleich- mäßiger Breite zu behandeln. Wenn nun Virgil, der Warnung jener poetisch-kritischen Schule zum Trotz, doch an ein großes Epos sich wagte, so mußte ihm freilich viel daran liegen, zu zeigen, daß es doch möglich sei, ein solches in aUen seinen Teilen gleichmäßig zu beleben; von Apollonios eben konnte er lernen, was zu vermeiden war. So mi^ auch hier die Rücksicht auf die ästhetische Theorie der Zeit dazu beigetragen haben, die künstlerischen Tendenzen zu verstärken, die natürlich ihre Haupt- nahrung aus des Dichters eigener künstlerischer Natur zogen; wie die Georgica zum hellenistischen Lehrgedicht etwa des Nikander, so steht die Aeneis zum hellenistischen Epos des Apollonios.

4. Das geschilderte Verfahren ist mit einer völlig objektiven Haltung des Dichters durchaus verträglich: er führt uns in die Empfindungen seiner Personen ein, ohne ims die seinen aufeu- drängen. Diese objektive Haltung, die man bei Homer fast aus- nahmslos streng bewahrt sah, war auch in der älteren helle- nistischen Zeit von der Epik, so viel ich sehe, bewußt festgehalten worden; es fällt in die Augen, wie vöUig z. B. Theokrit, wo er erzählt, mit seiner Person zurücktritt, im Hylas, Herakliskos, Polydeukes und Kastor: selbst hier, im Hymnus, äußert sich die Teilnahme des Dichters nicht anders als durch seltene Anrede des Gefeierten; in den Erzählungen der kallimacheischen Hymnen steht es kaum anders; Apollonios tritt zwar in seiner Eigenschaft als Sänger gelegentlich hinter dem Vorhang hervor; eigene Urteile und Empfindungen auszusprechen, in denen er als Mensch zu menschlichen Vorgängen Stellung nähme, erlaubt er sich höchst selten. *) In den beiden Gedichten, die uns vom Stile der römischen

1) Am weitesten geht er wohl IV 445 ff. in der Anrede an Eros: rtxitXi' "jEpm^, fiiya Ttfjficc, ftaya örvyos Scvd'QayTtotöiv u. s. f.

SubjektivitÄt. 369

Neoteriker und zugleich von gewissen Richtangen der gleich- zeitigen und jüngstvergangenen griechischen Poesie allein eine Vorstellung gehen können, Catulls Ariadne und der Ciris, ist das Verhältnis ein völlig anderes: da bedauert der Erzähler seine Heldin, entsetzt und betrübt sich bei der Vorstellung ihrer Leiden, wünscht, daß sie dies und jenes unterlassen hätte, sucht sie zu entschuldigen, kurz er trägt geflissentlich zur Schau, wie nahe ihm selbst die Geschichte geht, die er zu erzählen hat, und sorgt dafür, daß wir ihn selbst über der Geschichte nicht vergessen. Virgil hatte sich von dieser aufgeregten Manier schon in dem Aristaeusepyllion seiner Georgica ferngehalten und nur dem er- zählenden Proteus hie und da derartige Bekundungen der eignen Persönlichkeit in den Mund gelegt. In der Aeneis strebt er mit Bewußtsein die gleiche Objektivität an; aber man meint zu merken, wie schwer es ihm wird, sie festzuhalten. Es ist be- zeichnend, daß die Erzählung von Dido, die ja hellenistischer Art am nächsten steht, auch am meisten Verstöße gegen jenes Gesetz enthält: ein solcher ist schon streng genommen das wiederholte infelix^) und misera, wobei denn auch der weiteren Entwicklung vorgegriflFen wird: pesii devota futurae (I 712), ille dies primus leti primusque malorum catisa ftdt (IV 169); da steht, ganz in neoterischem Stil, der Ausruf heu vcUum ignarae mentes (05); da finden sich Ansätze zu Betrachtungen über die Liebe: improbe amor, quid non mortcdia pedora cogis (412) (dies eine stark ver-* kürzte Wiedergabe der oben erwähnten Apostrophe bei Apollonios); quis fallere possit amantem? (296), da die teilnehmende Anrede quis tibi tum, Dido, cernenii talia sensus (408).

Ganz fehlt es auch in anderen Teilen der Erzählung nicht an derartigem;- im wesentlichen aber drängt der Dichter seine Empfindung konsequent zurück und hält sich nach Möglichkeit an die wenigen Ansätze zu subjektiven Äußerungen, die ihm Homer darbot. Als Patroklos den AchiU gebeten hat, ihn in den Kampf zu entsenden, kann sich der Dichter eines bedauernden Hinweises auf die Folgen nicht enthalten (77 45): 'so sprach er flehend, der nichtsahnende Tor: sollte er doch sich selbst Tod und Ver- derben erbeten haben'. Das erweitert Virgil, nachdem Turnus den Pallas erschlagen und spoliiert hat (X 501): 'Unkundig

1) I 712. 719. IV 68. 460. 629. HeiüEe, Virgils epische Technik. 2. Aufl. 24

370 Drittes Kapitel. Daretellung.

wahrlich sind die Menschen des Schicksals und der Zakunft^ und wissen vom Glück emporgehoben das Maß nicht zu wahren! Dem Turnus wird kommen die Zeit, da er viel darum gäbe, wenn Pallas unversehrt wäre, und da er diese Spolien und diesen Tag verwünschen wird!' Der Fall ist ganz vereinzelt, wie jener home- rische, und auch dadurch als bewußte Nachahmung kenntlich. Wo sich Virgil sonst gedrungen fühlt, selbst zu sprechen, greift er zu anderer Form. Nach dem Tode des Nisus und Euryalus bricht er in den Ruf aus ^Glücklich ihr beide P) Wenn mein Sang etwas vermag, so wird niemals der Tag kommen, der euch aus der Menschen Gedächtnis streicht, so lange die Aeneassohne den unerschütterlichen Felsen Capitol umwohnen' (IX 446). Lausus' Aufopferung für den Vater kündet der Dichter an (X 791): 'nun will ich deinen heldenhaften Tod und didi, unvergeßlicher Jüngling, besingen'. In beiden Fällen also spricht der Dichter als solcher; sie sind generisch gleich mit den ohne besonderes Ethos gebrauchten Wendungen der Kataloge nee tu captninibus nostris indictus abibis (VII 733) und nofi ego fe, Ligurum duäor fortissime hello, transierim (X 185), und dies wieder sind nur Nach- klänge der Formeln des Prooemiums, arma virumque cano oder dicam horrida heUa (VII 41), die an dieser letzteren Stelle mit der homerischen Anrufung der Muse verbunden auftritt: avi^a fioi svvsTte fiovöa und ^'IXiov aelSa sind also die Keime jener parabatischen Einlagen, zu deren Entwicklung Homer selbst schon den Weg gewiesen hatte, indem er vor der Boiotie ein neues Prooemium einschob und darin von sich selbst und seinem Ver- hältnis zum Stoffe sprach.^)

Auch nach anderer Seite hin konnte Homer wenigstens den Vorwand zur Vernachlässigung strenger 'Objektivität* geben. Mit dem berühmten oloi vvv ßgorol elöLv setzt er sich und seine Zeit der Vergangenheit, von der er erzählt, gegenüber; blitzähnlich beleuchtet die eine Wendung die ungeheure Kluft, die ihn von

1) Dies Fortunati ambo ist geiade durch den Kontrast zu der Torher- gehenden, höchstes Mitleid erregenden Schilderung von größter Kraft.

•2) An eine derartij^e Einlage quis mtfii nunc tot acerba deus, quis carmine caedes . . expediat XII öOO schließt Virgil noch eine persönliche Gefühlsäußerung an: tanton placuit concurrere motu, Juppiter, aetenia geniis in j)ace futuras: hier kommt der Widerstreit des religiösen und des poli- tischen Empfindens zum Durchbruch.

Subjektivität. 371

jener Vergangenheit trennt, da man sonst meinen möchte, er singe von jüngstverflossenen Zeiten. Die gelehrte Epik helleni- stischer Zeit verzichtet von vornherein darauf, diesen Schein zu erwecken, und denkt nicht daran, den Zeitahstand vergessen zu machen; daher wir denn z. B. von Apollonios in den periegetischen Abschnitten unaufhörlich aus der Illusion, die Geschichte mitzu- erleben, herausgerissen werden, indem von späteren Vorgängen berichtet oder auf das Fortbestehen eines Brauches, einer Stiftung, eines Denkmals in der Gegenwart verwiesen wird. Der Dichter der j^tzLu empfand das sicherlich als grobe Stilwidrigkeit: er selbst hatte ja für sein Gedicht, das Gegenwart und graue Ver- gangenheit verband, weislich auf die epische Form verzichtet. Vii^ treibt es so schlimm durchaus nicht wie ApoUonios; in den meisten Fällen begnügt er sich damit, die Beziehungen des Erzählten zur Gegenwart vom Leser selbst finden zu lassen \), aber z. B. bei genealogischen Angaben^) oder um Örtlichkeiten zu identifizieren, spricht er öfters von späteren Verhältnissen: lucos qui post Albae de nomine didi Älbani (IX 387) und a summo gut nunc Albanus habetur tumulo (XII 134), und so in der Peri- egese Urroms: Carmentalem Bomani nomine portam quam memo- rant, lucum quem Bomulus acer asylum rettulit, Bomano foro (VIII 338. 342. 361)'): und von dem Gedanken an das, was einst aus diesen unscheinbaren Anfängen entstehen sollte, wird er so leb- haft ergriffen, daß er sich fortreißen läßt, von der herrlichen Gegen- wart zu sprechen (99. 397). Im übrigen wird nur zweimal auf die Fortdauer von damaligem Brauch bis zur Gegenwart ge- sprochen: beim ludus Troiae (V 596 flF.) und bei der feierlichen Kriegserklärung (VII 601 ff.): beides hat, wie man weiß, besonders nahe Beziehung zu Augustus' archaistischen nationalen Bestre- bungen: hier hat also Virgil sein künstlerisches Gewissen der sachlichen Tendern» zuliebe schweigen lassen." Freilich ist ja klar, daß die Beschränkung in diesem Punkte nur für die Form gilt; in Wahrheit greift Virgil unter dem Vorwand der Prophezeiung

1) Notwendig war das natürlich vor allem in Aeneas' Erzählung, z. B. ni 280. 602; gut motiviert dagegen in Helenus' Worten der Hinweis hac casti maneant in religione nepotes 409.

2) V 117 mox Italus Mnestheus, genus a quo nomine Memmi, und so 121. 668, vgl. X 145.

8) Das ist Gepflogenheit der hellenistischen Ätiologie: Norden 193.

24*

372 Drittes Kapitel. Darstellung.

mit vollen Händen in die Gescliichte der jüngstverflossenen Zeiten und in die Gegenwart hinein.

5. Scheinbar nahe verwandt mit jenen Äußerungen subjektiven Empfindens und doch im Wesen ungleich ist das Bestreben^ den Hörer mit allen Mitteln an die Handlung heran^ ja in sie hinein- zuziehen. Es ist Virgils Absicht nicht, den Hörer, wie bei Homer, die Handlung als eine vollständig vergangene empfinden zu lassen und ihm die Freiheit des Gemüts zu bewahren, die über den Dingen steht; je lebhafter er die Illusion in uns erzeugt, daß wir unmittelbar vor den Ereignissen selbst stehen, um so vollständiger glaubt er sein Ziel erreicht. Eine äußerliche aber sehr charakteristische Eigenheit seiner Erzählung ist der weitaus überwiegende Gebrauch des Praesens historicum. Das ist nicht einfach ein bequemer Ersatz für die schwerfälligen prateritalen Formen^); es soll uns wirklich die Ereignisse als gegenwärtige malen. Das Praesens wird auch beibehalten, wenn der Handelnde vor einer Entscheidung steht: quid faciat? heißt es dann, oder quid agat? als stünden wir selbst vor der Frage, was ihm zu raten sei.*) Das häufig eingeschaltete ecce!^ rüttelt uns aus der bequemen Ruhe des Hörers vergangener Geschichten auf und zwingt die Phantasie, das Geschilderte sich leibhaftig vorzustellen. Der Apostrophe hatte sich bereits Homer nicht selten, aber ohne pathetische Absicht bedient; Virgil geht darüber weit hinaus, wenn er und der Hörer mit ihm gleichsam selbst an den Leichnam des Pallas tritt und ihn apostrophiert o dolor atque decus magnum rediture parentis! haec te prinia dks hello dedü, haec eadem aufert (X 507). Es ist nur ein Seitenstück zu dieser Vergegenwärtigung des Vergangenen, wenn Anchises in der Helden- schau, vom Affekt hingerissen, das Zukünftige als gegenwärtig sieht, dem Caesar zuruft proice tela manu, und Blumen heischt, sie auf des Marcellus Grab zu streuen (VI 835. 883): das ist Vision, wie sie beim Propheten nicht wrmdemimmt; aber auch

1) Vgl. Norden 113.

2) IV 288. IX 67. 399. XII 486.

3) Z. B. X 133. 219. 322. 670. Senr. zu IV 152 et bene hae partictOa utitur; facit enim nos ita intentos ut quae dicuntur putemus videre.

Lebhaftigkeit. Klarheit. 373

der Dichter ist vates und erzählt nicht nur, sondern schaut, wo er am heftigsten ergriflfen ist.

6. Als ein wesentliches Erfordernis der Klarheit wird man be- zeichnen können, daß der Erzähler seinen Hörern die Voraus- setzungen, auf denen sich die Erzählung aufbauen soll, in jedem Falle rechtzeitig und vollständig mitteilt; mit anderen Worten, daß er die einzelnen Teile der Handlung sowie die Personen kunstgerecht exponiert. Um ein Beispiel aus der Aeneis zu geben, verweise ich darauf, wie in U Aeneas dem, was er selbst erst später erfahren hat, vorgreift, um dem Hörer die folgenden Ereignisse völlig verständlich zu machen (oben S. 21 fg.). Wir werden weiter unten sehen, daß Yirgil solche Exposition gern in die Handlung verflicht, indem er einer Person das, was zu wissen nötig ist, durch eine andere mitteilen läßt, z. B. Didos Schicksal durch Venus, Mezentius' Geschichte durch Euander, CamiUas Jugend durch Diana. Zu einer Exposition in eigenem Namen entschließt sich der Dichter nur selten, weil der Gang der Erzählung dabei gehemmt wird; so ist als unvermeidlich zugelassen die Erklärung für die Schiffsmetamorphose; weniger bedenklich und ebenfalls durchaus notwendig war die Exposition der Verhältnisse in Latium, die gleichsam als Prolog zum zweiten Hauptteil gegeben wird, wo ein starker Abschnitt in der Erzählung markiert werden darf. Auch zu Beginn des Ganzen erklärt Virgil das Verhalten Junos in einem Vorbericht (I 12 33), den man einem dramatischen Prologe vergleichen kann, während das Verhalten der freundlichen Gottheiten, Venus und Juppiter, in einem Gespräch exponiert wird, das nach dem ersten Akt der Erzählung eingeschoben ist (223 296). Dem gegenüber scheint auf den ersten Blick die Exposition der menschlichen Seite der Handlung zu Beginn des Gledichts vernachlässigt zu sein. Das Prooemium (1 7) unter- richtet uns über den Stoff; aus dem Bericht über die Gründe von Junos Zorn erfahren wir, daß die Troer noch auf der Fahrt nach Latium begriffen sind; zu Beginn der eigentlichen Darstellung, daß sie soeben frohen Mutes Sicilien verlassen haben und auf offenem Meere schwimmen. Das ist alles aber es ist auch völlig ausreichend: was sie in Sicilien und vorher erlebt haben, wie lange sie schon umherirren, kurz alle weiteren Angaben

374 Drittes Kapitel. Darstellang.

würden die Exposition lediglich beschweren^ ohne das Versi»ndnis des Folgenden zu fordern^ nnd zugleich Dinge vorwegnehmen, die später doch noch im Zusammenhang zu erzählen sind. Die erste jeuer Mitteilungen ist als die Folge von Junos Abgunst, die zweite als Zeitangabe für Junos Monolog berichtet: so hat der Dichter den Vorteil, daß er bei Juno, die den ersten Teil der Handlung leitet, verweilen kann, ohne eigentlich mit der Erzählung ab- springen zu müssen: ein Vorteil, den er, wie wir sehen werden, sehr hoch anschlug. Er hat weiter den Vorteil, unmittelbar mit der Darstellung zu beginnen, also in medias res zu gehen, ohne daB irgend etwas von Handlung berichtend und einleitend voraus- geschickt würde: ein Vorteil, den man bekanntlich an Homer zu schätzen wußte. Die Uias erreicht dies dadurch, daß sie die Verhältnisse, unter denen die Handlung beginnt, als bekannt voraussetzt.^) Das hat Apollonios nachgeahmt, indem er zu Beginn seines Gedichts zwar erzählt, warum Pelias den Jason entsandte, auch vom 'Vließ' spricht, aber weder über dies Vließ noch über das Ziel der Fahrt näheres angibt: das weiß der Hörer. Virgil macht derartige Voraussetzungen für die Handlung gleich- falls, insofern er vom trojanischen Krieg, von der Flucht des Aeneas usw. nicht eigens erzählt, aber er erinnert doch an das alles, teils im Prooemium, teils in dem Prolog über Junos Ab- sichten-, das wenige, was zum Verständnis der speziellen Anfangs- situation erforderlich ist, wird ebenfalls nur beiläufig, scheinbar absichtslos, angebracht.

Noch deutlicher ist, wie Virgil bei den Personen die home- rische Gepflogenheit mit Bewußtsein nachahmt. Es fällt Homer natürlich nicht ein zu sagen, wer Achill oder Agamemnon war; daß der Menoitiade, der ^ 307 auftritt, Patroklos ist, weiß der Leser: der Dichter 'folgt ja nur der Überlieferung*.*) So begegnet es denn dem Dichter des Odysseeprologs, daß er seinen Helden zunächst gar nicht nennt; erst nachdem mehrfach von 'ihm* die Rede gewesen ist, erscheint wie zufällig der Name Odysseus (a 21); wer der avriQ TtoXvtQOTCog war, brauchte keinem Hörer

1) in medias res non secus ac notas auditorem rapit Horaz a. p. 147.

2) mg Ttagadtdousvois SriXoroti. ;i;9a>ft€ro? aal o^x ainbg nXdactov dvouara schol. A zu T 40; Tgl. W. Bachmann, die ästhet. AnBchauimgen

^ Aristarchs I, Nürnherg 1902, 9 fg.

Exposition der Personen. 375

eigens gesagt zu werden. Und so ist, meint Virgil, für jeden Römer der Mann, *der von Troia an den lavinischen Strand kam und die troischen Götter nach Latiam brachte', eindeutig bezeichnet; weiterhin ist nur von den Troern (30), dem König der Teuerer (38), dem der Juno verhaßten Geschlecht die Rede (67). Erst da, wo Aeneas selbst handelnd auftritt, erscheint sein Name, im Vers 92.

Diese späte Nennung des Namens begegnet bei Nebenfiguren so häufig, daß man an Zufall nicht glauben kann. Die 'Tochter' des Latinus (VII 52) wird Lavinia genannt erst da, wo sie in einer Handlung mitspielt; die 'Gattin' (56) heißt Amata erst, als Allekto ihr naht (343); Jutuma wird als cUma soror des Turnus eingeführt, wo sie gleichsam aus der Ferne wirkt (X 439), den Namen nennt erst Juno, als die Nymphe selbst auf die Bühne kommt (Xn 146); der Sibylle ist mit allgemeinen Bezeichnungen schon wiederholt gedacht worden (III 443. V 735. VI 10), ehe wir im Augenblick, da Aeneas ihrer ansichtig wird, Deiphobe, Tochter des Glaucus, kennen lernen (VI 35). Es ist, als hätte der Hörer erst dann, wenn ihm eine Person leibhaftig gegenüber- tritt, ein Interesse daran, ihren Namen zu erfahren. Wir finden, merkwürdig genug, bei Homer gelegentlich das gleiche: der Gemahlin des Alkinoos wird als solcher und als Mutter der Nausikaa in ^ häufig gedacht; erst als Odysseus ihr gegenüber- treten soU {rj 55), erfährt er und mit ihm der Hörer den Namen Arete. Der Sauhirt des Odysseus wird v 404 eingeführt und dann öfters erwähnt; erst als er selbst sprechen soll (g 55), fühlt sich der Dichter gedrängt, ihn Eumaios anzureden.

Die Erscheinung beschränkt sich aber bei Virgil nicht auf die bloße Namensnennung; fast durchweg werden nähere Angaben über die Personen erst dann gemacht, wenn sie selbst ^auftreten', oder gar erst, wenn sie ihre Hauptszene zu spielen haben. Man könnte versucht sein, dies darauf zu schieben, daß Virgil seine Bücher nicht der Reihe nach schrieb und so über gewisse Personeh schon in späteren Näheres gesagt hatte, die er nachträglich dann in firüheren nur kurz erwähnen zu müssen glaubte. Nehmen wir denn zunächst einen Fall, wo damit nicht gerechnet werden kann. In XI wird als Sprecher der latinischen Gesandten, die Aeneas um einen Waffenstillstand zar Beerdigung der Toten bitten, Drances eingeführt, ein * älterer Mann, gehässiger Gegner des

376 Drittes Kapitel. Darstellung.

Turnus': so viel ist zum richtigen Verständnis seiner Worte an dieser Stelle (122) erforderlich. Wir hören weiter (220), daß der sctevurS Drances in Laurentum eifrig die Mißstimmung g^en Turnus schürt; aber erst die folgende Ratsversammlung ist seine Glanzszene, erst unmittelbar vor seiner großen Rede gegen Tumos erfahren wir Näheres über ihn: er neidet den Ruhm des Turnus, weil er selbst zwar reich und redebegabt, aber kriegsuntüchtig ist; sein Wort gilt viel im Rat, und er hat eine große Partei hinter sich; mütterlicherseits stammt er aus vornehmem Geschlecht^ nicht so von Yatersseite. Man sieht, genau dem Interesse ent- sprechend, das dem jedesmaligen Auftreten zukommt, werden dem Leser die Personalien zugemessen; zweifellos besser, als schüttete der Dichter seinen ganzen Sack voll Nachrichten gleich bei der ersten Erwähnimg aus und enttäuschte dann die lebhaft erregte Erwartung des Hörers. Danach sind die analogen Fälle zu be- urteilen. Jarbas wird in Annas Rede nur eben erwähnt als ab- gewiesener Freier der Dido (IV 36); Näheres erfahren wir, als sein Gebet an Juppiter ])edeutsam in die Handlung eingreift (198). Misenus gibt bei dem Harpyienabenteuer (lU 239) das Trompeten- signal zum Angriff: über sein Geschlecht, seine Kunst, sein Vor- leben zu handeln, wäre hier ebenso deplaziert, wie es da am Platze ist, wo sein Tod und seine Bestattung erzählt wird (VI 164 E): Virgil hätte in diesem Falle nicht anders verfahren können, auch wenn HI vor VI entstanden wäre. Acestes war jedem Gebil- deten als Siculer troischer Herkunft und erster Beherrscher Segestas behannt; aber auch wer nichts von ihm wußte, erfuhr bei seiner ersten Nennung I 195 genug aus den beiden Versen vina hontis quae deinde cadis onerarat Acestes litore Trinacrio dederatqtie aheuntibus Jieros: er hatte die Troer in Sizilien bewirtet; in der Rede des Ilioneus vor Dido ergibt sich aus der Situation die Erwähnung, daß er troischen Stammes sei und sizilische Städte beherrsche (549). Persönlich nahe, durch genaue Angabe seiner Herkunft, Schilderung seines Äußeren usf. tritt er uns erst in V bei der Begegnung mit Aeneas. Ganz ähnlich verfährt Virgil bei Nisus und Euryalus (V und IX), bei Euander u. a. m. Für die Kriegshelden des zweiten Teiles boten die Kataloge in VII und X bequeme Gelegenheit zur Einführung; Virgil hat aber doch auch hier weise Beschränkung geübt und gerade über die wichtigsten Personen, Mezentius, Camilla, nicht mehr gesagt, als

Einführung der Personen. Kontinaität. 377

dem Stil des Katalogs angemessen war: Näheres erfahren wir noch zeitig genug später, wo es seine volle Wirkung tun kann. Die konsequente Durchführung dieses Prinzips, dessen Wir- kung sich in anderen Fächern der Erzählung gleichfalls zeigen ließe, braucht nicht notwendig auf theoretische Erwägung zurück- zugehen; aber man erinnert sich wohl dabei der horazischen Regel über den lucidus ordo: der Dichter iam nunc dicat iam nunc debentia dici, pleraque differat et praesens in tempus orniMat (a. p. 43).

Um den Hörer beim Gegenstande festzuhalten, muß der Dichter auf Kontinuität der Erzählung bedacht sein; er darf den Faden nicht zu häufig abreißen lassen. Wo das geschieht, wo die Erzählung einen Sprung macht, um an anderem Orte, zu anderer Zeit, bei anderen Personen neu einzusetzen, wird der Phantasie immer eine Anstrengung zugemutet: sie muß ein neues Bild schaffen, statt ein bestehendes weiter zu entwickeln. Am ehesten wird sich das, wenn auch nicht ausnahmslos, bei der Ich- Erzählung vermeiden lassen; wo der Autor erzählt und die Er- zählung sich nicht auf die Schicksale einer Person oder Per- sonengruppe beschränkt, wird ein öfteres Abspringen und Neu- einsetzen notwendig, um so öfter, je mehr sich die Handlung verbreitert. Im antiken Epos ist schon durch die Verteilung der Handlung auf Himmel und Erde der Anlaß zu häufigem Wechsel des Standpunkts gegeben. Um diesen zu erleichtern, wird sich der Dichter mit Vorteil zweier Kunstgriffe bedienen. Er wird erstens nach Möglichkeit unvermittelte Übergänge vermeiden, viel- mehr dem Hörer irgendwelche Brücke bauen, die ihn ohne An- strengung vom einen zum andern führt. Er wird zweitens nicht etwa, wie ein auf erregte Spannung des Hörers ausgehender Romanschriftsteller, die eine Handlung gerade dann abbrechen, wenn sie vor einer Entscheidimg steht, sondern erst dann, wenn sie zu einem mindestens vorläufigen Abschluß gelangt oder in ein Stadium eingetreten ist, wo wir ihre weitere Entwicklung voraussehen.

Dem eben genannten steht ein zweiter für die Erzählung wichtiger Gesichtspunkt nahe, die Rücksicht auf Kontinuität der Handlung. Der Dichter wiU in uns die Illusion erwecken,

380 Drittes Kapitel. DarBtellungen.

8.

Die eben besprochene Erzählung kann als Beispiel anch da- für dienen, wie Virgil zwei gleichzeitige Handlungen, die mehr- fach zueinander in Beziehung treten, zu erzählen liebt: er gibt nicht gleichmäßig Bruchstücke bald der einen bald der andern, sondern stellt die eine resolut in den Vordergrund und gibt uns sozusagen nur Durchblicke auf die andere, so wenig wie möglich abspringend, yielmehr sorgsam vom einen zum andern überleitend. Jenes Überwiegen der einen Handlung kommt ganz wesentlich für die Komposition in Betracht; hier sei nur auf die Behandlung der Übergänge hingewiesen. Man prüfe daraufhin etwa^ wie der Erzähler in IV, das zwar wesentlich von Dido handelt, Aeneas aber nicht aus dem Auge yerlieren darf, die mehrfach erforderten Übergänge von der einen zur andern Person bewerkstelligt (nur einmal 554 durch den bloßen Synchronismus); oder wie in IX zwischen den Angreifem und den Verteidigern des Lagers ver- mittelt wird. Die Erzählung beginnt hier mit Turnus und ver- weilt auf dessen Seite während des ganzen ersten Abschnitts; in das Lager werden wir nur auf kurze Zeit 33 46 versetzt: man sieht dort die von den anrückenden Feinden aufgewirbelten Staub- wolken, prospidunt Teucri; sie rüsten sich armatiqtie cavis ex- pedant turribus hostem; damit ist die Rückkehr zu diesem ge- geben. Der Dichter zeigt uns weiterhin nicht die Troer selbst bei ihren Anstalten zum Schutz der Schiffe, sondern wir er- schließen diese Anstalten nur aus den Worten der Mater (144 ne trepidate meas Teucri defendere navis neve armcUe manus), die von Troern und Latinem gleichmäßig vernommen werden, deren Wirkung uns aber auch nur auf latinischer Seite vorgeführt wird (123 127); auf dieser also verweilen wir. Die Nisusepisode unterbricht die Turnusaristie; ihretwegen führt uns 168 {haec, d. h. die Umzingelung der Mauern, prospedant Troes) ins Lager. Die Episode endet auf Seiten der Feinde: noch einmal wird uns der Erfolg ihres Tuns (des Prunkens mit den Köpfen der Er- schlagenen) bei den Troern gezeigt; wir hören die Totenklage der Mutter des Euryalus; während die Verzweifelte beiseite gebracht wird, ertönt die Tuba zum Angriff, und nun treffen endlich die beiden Parteien zusammen, der Leser sieht sie mit einem Blick, und Überleitungen sind nicht mehr erforderlich.

Gleichzeitige Handlungen. 381

9.

Überaus häufig ist der Fall^ der nur eine Abart des eben »prochenen dar^ellt^ daß in die eine Handlung eine andere ein- ift, deren Vorgeschichte zeitlich mit den letzterwähnten Stadien er ersten zusammenfällt. Dabei kann der Dichter auf zweierlei i vorgehen: entweder er fährt in seiner Erzählung fort, bis die 3ite Handlung eingreift, und schiebt an dieser Stelle rekapitu- •end ein, was zur Erklärung der Situation nötig ist Dabei ibt sich der Übelstand, daß die fortlaufende Handlung unter- gehen werden muß, um Vergangenes, sozusagen in einer merkung, nachzuholen. Dazu kommt anderes: es muß plus- imperfektisch erzählt werden; die Komposition wird leicht un- jrsichtlich; die Rekapitulation wird stets berichten, nicht dar- ilen, also Anschaulichkeit vermissen lassen. Virgil hat statt sen den zweiten Modus vorgezogen: er verläßt die erste Hand- g, geht zur zweiten über und erzählt diese fortschreitend bis dem Punkte, wo sie mit der ersten zusammentrifft. Hier wird 3 die Kontinuität der Erzählung unterbrochen und dieser Bruch ist nur durch ein interea u. dgl. verdeckt; aber ein Absetzen re auch bei der rekapitulierenden Methode unvermeidlich, und

der neueinsetzenden ergibt sich der Vorteil, daß stets eine tschreitende Handlung erzählt und der Hörer nicht an einem tikte festgehalten wird durch eine Erklärung, die Vergangenes abträgt. Ich führe als Beispiel die Nisuserzählung an: wir ver- sen Nisus und Euryalus auf dem Wege zum Königszelt (IX J); hier bricht der Erzähler ab und setzt prononziert neu ein: e Wesen lagen in tiefem Schlaf und vergaßen Kummer und •gen; die Führer der Troer aber hielten Kriegsrat usf.: da Ben Nisus und Euryalus um Audienz bitten.' Ebenso weiter ien (366); statt zu erzählen, wie die beiden plötzlich von ferne idliche Reiter kommen hören und sehen, und dann erklärend zufügen: 'das waren nämlich dreihundert latinische Reiter, die »r Führung des Volcens sich zu Turnus begaben' usw. bt so erläuternd zu rekapitulieren und dann weiter bei den den Troern zu verbleiben, bricht der Dichter ab und erzählt: zwischen ritten zum Lager des Turnus aus Laurentum drei- idert usf; die erblickten die beiden, riefen sie an und, da sie ne Antwort erhielten, verteilten sie sich, um ihnen die Flucht

382 Drittes Kapitel. Darstelluiig.

abzuschneiden': hier erst wird wieder ganz zwanglos zu den Fliehenden zurückgekehrt.

Besonders häufig macht sich dies Verfahren bei den Götter- szenen nötige die dem Eingreifen der Götter in die Handlung Yoraufgehen. Da wird nie berichtet^ daß dies und das geschah, weil oder nachdem im Olymp so und so der Beschluß gefaßt war, sondern stets wird neu eingesetzt. Wir begleiten also z. B. I 656 den Achates nicht bis zum Lager und zu Ascanius, um dann zu hören, daß dies nicht der wirkliche Ascanius, sondern Amor war, den seine Mutter um diesen Liebesdienst gebeten hatte; sondern wir verlassen Achates auf dem Wege und wohnen dann der olympischen Szene bei, die uns über die Voraussetzungen des folgenden iamque ibat Cu/pido 695 aufklärt.^)

Wenn nun der Dichter in diesen Fallen es vorzieht, die eine Handlung zu verlassen und mit neuem Anfang weiter zu erzählen, statt die Erzählung rekapitulierend zu unterbrechen, so muß und dies gilt auch von den im vorigen Abschnitt besprochenen Übergängen die Eingangs erwähnte Vorbedingung erfüllt sein, sollen wir das Verlassen der ersten Handlung nicht als ein ge- waltsames und willkürliches Abbrechen empfinden: sie muß bis zu einem Punkte geführt sein, wo wir ihren weiteren Verlauf voraussehen, d. h. sie muß in ein Stadium gleichmäßigen Ver- harrens oder gleichmäßigen Fortschreitens*) eingetreten sein. Diese Vorbedingung findet sich bei Virgil fast ausnahmslos erfüllt. Wir haben bei der Analyse der Schlachtschilderungen, wo der Natur der Sache nach ein öfterer Wechsel des Schauplatzes er- fordert ist, gesehen, daß Virgil stets darauf hält^ an einem Punkte die Handlung bis zu einem wenigstens vorläufigen Abschlüsse zu

1) Ein ganz ähnliches Vorfahren beobachtet Virgil, wo die EUindlung auf einen Ort übergeht, der genchildert werden mnß. Da heißt es z. B. I 168 nicht: sie landeten in Libyen an einem von der Natur zum ruhigen Hafen geschaifenen Ort: es war da nämlich eine geschützte Bucht usw.; sondern Virgil erzählt: Libyae vertuntur ad oras. Est in secsssu longo locm usw.: huc Aeneas subit. Vgl. III 13. 78. 210 (hier ist der Name der Stro- phaden vorher genannt: um so auffälliger auch hier der neue Einsatz Strophades stant Graio nomine dictae) 670. V 124; VE 170. 563; VIII 416; XI 522. Vergleichbar auch II 453 Urnen erat caecaeque fores, IX 530 turris erat vasto stispectu et pontibiis altis. Und so VH 601 neu einsetzend mos erat Hesperio in Latio u. s. f. Vgl. Norden 132. Anders I 62. VE 83.

2) Ich eigne mir Zielinskis termini an, 1. c. 412.

Übergänge. 383

führen, ehe er zur Sciiilderong der gleichzeitigen Ereignisse an einem andern Punkte übergeht. Das gleiche ist bei jedem son- stigen Übergang von einer Handlung zur andern der Fall. An der zuletzt besprochenen Stelle greifen drei Handlungen ineinander: die Vorbereitungen zum Festmahl in Karthago: sie werden 637 ff. als gleichmäßig fortschreitende Handlung geschildert; sodann die Entsendung des Achates: ihn verlassen wir 656 auf dem Wege, iier ad navis tendebat, und können so unsere Aufmerksamkeit der dritten Handlung, dem Gesprach von Venus und Amor zuwenden. Einige weitere Beispiele: die Wettspiele in V könnten wir nicht verlassen ohne störende Unterbrechung der rasch und unauf- haltsam neu sich entwickelnden Handlung: der ludus Traiae, der ruhig und ohne daß ein Resultat erwartet würde, sich abspielt, ist der geeignete Moment, um zu den trojanischen Frauen und Iris' Erscheinen überzugehen. Vor dem feierlichen Eidschwur in Xn sehen wir die beiden Völker anrücken und Posto fassen, der Könige gewärtig: das ist der Moment, wo wir sie ruhig verlassen können, um das Gespräch zwischen Juno und Juturna 134 160 mit anzuhören. In XI sollte sich die durch Opis an Arruns voll- streckte Bache der Diana eigentlich unmittelbar an seine Tat und Flucht (815) oder wenigstens an den Bericht von CamiUas Tod (831) anschließen, aber in beiden Fällen würde die Handlung unliebsam unterbrochen, denn der Leser will erfahren, welches das Resultat von Arruns' Schuß ist, und ebenso, welche Wirkung Camillas Tod auf den Gang der Schlacht hat; so führt Virgil die Haupthandlung bis zu einem dauernden Zustand (833 crudescit pugna, 834 incurrunt etc.), der eine kurze Abkehr nach einem andern Schauplatz gestattet. Die Szene zwischen Juppiter und Venus in 1 ist im Motiv Naevius entlehnt, bei dem, wenn auf Macrobius (VI 2) Verlaß ist, Venus während des Seesturms Juppiter ihr Leid klagte und von ihm getröstet wurde. Sachlich ist dieser Zeitpunkt gewiß sehr gerechtfertigt: technisch war er für Virgil unannehmbar, da während des Sturms bereits eine göttliche Handlung spielte und gleich darauf die Handlung nicht wieder unterbrochen werden durfte: wir wollen zunächst mit den Aeneaden näher bekannt werden. So wird also die Szene da ein- gelegt, wo die irdische Handlung in einen dauernden Zustand, den Schlaf aller Beteiligten, übergegangen ist; nicht etwa zurück- greifend (Vährend Aeneas in Todesgefahr schwebte, hatte Venus

384 Drittes Kapitel. Darstellong.

sich an Juppiter gewendet'), sondern die Erzählung weiterführed, so daß wir ans das Gespräch bei Nacht za denken haben. Jb der Nacht, die in IV dem verhängnisvollen Jagdansflng vorausgeht, schmieden Juno und Venus ihren Plan (118 übt primas crasÜnus ortus extulerü Titan, 129 Oceanum interea surgens Aurora rdiquit). Sachlich besser motiviert ist es, daß in VUI die Szene zwischen Venus und Vulcan in der Nacht spielt, als sich alles zur Ruhe begeben hat: das ist die Zeit, wo sich auch die himmlischen Gatten im Thalamus vereinen. In allen diesen Fällen und zahl- reichen verwandten wird zugleich der Vorteil einer absoluten Kontinuität der Handlung erreicht, die selbst während der Nächte keine Lücken aufweist.^)

In einem Falle nur ist jene Regel verletzt: bei dem Gespräch zwischen Juno und juppiter während Aeneas' und Turnus' Zwei- kampf, Xn 791 842. Die beiden ersten Phasen des Kampfes sind vorüber, die Kämpfer stehen zum dritten Angriff bereit, der der entscheidende sein soll: da^ in diesem Moment größter Span- nung, wo höchstens auf Augenblicke ein dauernder Zustand ein- getreten ist, müssen wir die Szene verlassen, um dem Dichter zu den Göttern zu folgen. Die Absicht Virgils ist keineswegs, unsere Spannung künstlich in der Schwebe zu halten, das widersprache seinen künstlerischen Tendenzen durchaus: diese haben sich viel- mehr hier sachlichen Rücksichten unterordnen müssen, wie oben S. 234 dargelegt wurde. Da bei dieser einzigen Ausnahme zwingende Gründe nachzuweisen sind, bleibt also die Regel als solche bestehen.

1) Ein eigentümlich komplizierter Fall liegt in XI vor, wo vier Handlungen (streng genommen fünf, aber der Zug des Aeneas kommt nicht in Betracht) nebeneinander hergehen. 449 hören wir, daß die troische Reiterei gegen Laurentum vorrückt. 620 schickt Turnus die Seinigen ihr entgegen und bricht selbst auf anderem Wege gegen Aeneas auf: diese letzte Handlung wird 530 fg. bis zu Ende geführt: huc tuvenis nota fertur regimie viarum arripuitque locmn et silvis insedit iniquis: indem so ihr späteres Resultat vorweggenommen wird, schaltet sie ans dem Bilde aus. Die beiden anderen aber sollen wir uns als fortlaufend denken, während (interea) das Gespräch der Diana mit Opis stattfindet, 682 596; hier sprang die Erzählung ab und geht 597 wieder zu dem fortdauernden Yoirficken über: at manus interea muris Troiana propinquat. Um aber bei der Er- wähnung der Feinde nicht wieder abspringen zu müssen, bleiben wir auf Seite der Troer und sehen die Feinde anrücken: apparent 606; dann kann (607 uterque) von beiden gemeinsam erzählt werden.

SjBchronismuB von VIII— X. 385

10. Eine besondere Betrachtung erfordert die Behandlung der gleichzeitigen Ereignisse in VIII X. Es ist das der einzige Fall, wo Virgil zwei längere gleichzeitige Handlungen zu berichten hat, die sich erst am Endpunkte berühren, sonst ohne Beziehung zueinander verlaufen ; mit einiger Überraschung bemerkt man, wie schwer ihm die Durchführung des Synchronismus geworden ist. In Vni war Aeneas bis dicht vor Caere geführt, und zwar ver- teilten sich die Ereignisse des Buches auf drei Nächte und Tage von der Erscheinung des Tiberinus an gerechnet (oben S. 340). Wir verlassen Aeneas am dritten Tage; nach Betrachtung des Schildes scheint er wieder aufzubrechen (731), um mit Tarchon zusammenzutreffen. Der Beginn von IX führt uns nun zu Turnus mit den Worten atque ea diversa penUiis dum parte geruntury Irim de cado misit Satumia Inno audacem ad Tunmm, Man wird das nach dem sonstigen Gebrauch solcher synchronistischer Formeln zunächst verstehen Während der zuletzt geschilderten Ereignisse', also den Besuch der Iris auf den dritten Tag setzen, und dazu paßt durchaus, wenn sie von Aeneas meldet (10) eoctremas Corythi penetravit ad u/rhes Lydorumque manum, coUectos armat ödestes: wobei das letzte genau verstanden sogar noch etwas über den Schluß von VIII hinausführt, vielleicht absichtlich den Ereignissen vorgreift.^) An sich wäre es aber wunderbar, wenn Juno mit ihrer Mahnung so lange zögerte und nicht schon am Morgen nach Aeneas' Abfahrt den Turnus angreifen hieße, imd so hat auch Virgil, wie die Chronologie der folgenden Ereignisse beweist, gerechnet: wir haben für den zweiten Tag das Anrücken der Feinde und die Verwandlung der troischen Schiffe, für die dritte Nacht die Expedition des Nisus, für den dritten Tag (459) den Kampf ums Lager; den Anbruch des vierten Tages würde X 256 bezeichnen: an diesem würde also Aeneas zurückkehren und die erste große Schlacht stattfinden. Dann hat freilich Virgil zu Be- ginn von IX das zeitliche Verhältnis dadurch verschleiert, daß er, um sich ein Zurückgreifen zu ersparen, von den beiden in Wahr- heit gleichzeitigen Handlungen scheinbar die zweite der ersten zeitlich nachfolgen ließ.^

1) S. darüber unten m (Rede) 7.

2) Ober ähnliche Fälle bei Homer b. Zielinski a. a. 0. 482 ff.

Heinse, VirgUa epische Technik. S. Aafl. 25

386 Drittes, Kapitel. Darstellung.

Prüfen wir daraufhin die 2ieitangaben im ersten Teil yon X, so stoßen wir auf neue Schwierigkeiten. Wann findet der große Götterrat statt? X beginnt mit pandüur interea domus omnipotetUis Olympi: man denkt bei interea zunächst an Gleichzeitigkeit mit dem Schluß von IX, also mit Turnus' Errettung aus dem troischen Lager. Das ist aber durch die Worte des Juppiter 107 fg. aus- geschlossen: qtuie cuique est fortuna hodie . . . nuUo discrimine habebOy wo hodk doch wohl einen neuen Tag im Gegensatz zum gestrigen bezeichnet, und noch deutlicher besagt in der nun folgenden Schilderung der eingeschlossenen Troer, die mit interea 118 an den Götterrat angeknüpft ist, der AuBdruck pulsi pristina Tumi gUma (143), daß seit Turnus' Aristie eine Nacht yergangen ist. Dann würde also der oben zitierte erste Vers, wie auch alte Erklärer verstanden haben^), den Tagesanbruch umschreiben, mit- hin dem ersten Vers von & riiag ^\v XQOx6yt€ütXog ixCövaxo näöav 1% alav entsprechen: wie weiterhin die in © folgenden Verse genau nachgebildet sind: ist doch auch der Ratschluß des Juppiter dem des Zeus in & analog. Das interea würde also, ganz wie zu Beginn von XI, als ein lose verknüpfendes *nun' zu verstehen sein*) nur wird man gerade hier wegen des naheliegenden Mißverständnisses weder dies interea noch die Umschreibung des eindeutigen homerischen Ausdrucks glücklich nennen können.

Beginnt nun also mit X der neue vierte Tag, so bleiben zu erklären die Verse, mit denen nach der oben erörterten Schilde- rung des LsLgerB zu Aeneas zurückgekehrt wird, 146 iUi inter sese du/ri certamina belli conttUerant: media Aeneas freta nocte secabat. Ist das gleichzeitig? Unmöglich; um Mittemacht wird nicht ge- kämpft. Ebensowenig kann die folgende Mittemacht gemeint sein: unverkennbar soll doch 260 ff. an die Schilderung 118 bis

1) Namentlich der Vergleich mit 1 874 ante diem clauao eomponet Vesper Olympo spricht dafür.

2) Daß Virgil interea öfters so braucht (vgl. Hand Turs. DI 416), ist zweifellos; z. B. VI 703 ist sicher nicht gemeint, daß Aeneas den lethäiachea Hain erblickte, während er vergeblich den Vater zu Tunarmen snchte, vgL femer III 568; VIU 213; IX 169; auch XI 182 und XII 842 ist es wahl- scheinlich so aufzufassen. Ovid fast. III 89 dixerat (Süvia) et plenam non firmis viribus umam sustulit; implerat, dum stia visa refert, interea eres- cente JRemo crescente Quirino caelesti tumidus pondere venter erat: quominuf emeritis exiret mensibus annus restabant nitido iam duo Signa deo. Hier überbrückt das interea einen Zeitraum von zehn Monaten. Vgl. fast. XU 465.

Chronologie von X. 387

145 anBchliefien. Es bleibt also nur übrig, anzanehmen, daß Yirgil hier in höchst eigentümlicher Weise scheinbar ein gleich- zeitiges Ereignis berichtet, tatsächlich aber wir zu verstehen haben: 'am Morgen waren die dort im Kampf begriffen: (einige Stunden vorher) um Mittemacht war Aeneas auf See': also noch vor dem X 1 gemeinten Tagesanbruch, der mit dem X 256 beschriebenen identisch wäre.^) Warum dieses höchst bedenkliche Wagnis? Offenbar nur, um öfteres Abbrechen der Erzählung zu vermeiden. Chronologisch korrekt wäre von Aeneas' nächtlicher Fahrt vor dem Götterrat berichtet worden; aber ganz abgesehen von dem Verlust der pathetischen Eingangsszene hätte dann nach der Szene mit den Nymphen abgebrochen werden müssen, wir wären erst in den Olymp geführt worden (wobei nun der Zu- sammenhang der öötterreden mit den Ereignissen des vorigen Tages zerrissen worden wäre), dann zum troischen Lager denn die bedrängte Lage der Eingeschlossenen mußte geschildert werden, damit die packende Szene wirken kann, wo der im Morgen- Sonnenstrahl vom Meere her aufflammende Schild des Aeneas Bettung verheißt , dann wieder zu Aeneas. Dies wiederholte Abspringen wird also, freilich mit recht gewaltsamen Mitteln, vermieden. Virgil muß nun aber noch weiter zurückgreifen, über die nächtliche Fahrt des Aeneas hinaus: denn noch bleibt zwischen dieser und dem Schluß von VUl eine Lücke, die aus- gefüllt ist durch die Verhandlung des Aeneas mit Tarchon und dem Aufbruch der Flotte. Zu wirklichem plusquamperfektischem Rekapitulieren entschließt sich der Dichter auch hier nicht, sondern er versetzt uns mit einem Sprunge in jenen Zeitpunkt zurück und erzählt in der gewohnten Weise präsentisch: narnque, ut ab Etumdro casiris ingressus Etruscis regem adit . . hcMd ß

1) Etwas anders hat sich Vir^l I 679 geholfen, aber doch auch nicht YÖllif^e Klarheit erreicht Die Szene kann in des Dichters Vorstellang sich nur so abgespielt haben, dafi unmittelbar nach Didos Worten Aeneas und Achates, die bis dahin vom Nebel Verhüllten, sichtbar werden. Ehe das geschieht, sollen wir aber auch über die Empfindungen der beiden unter- richtet werden; Virgil greift mit his animuim arrecti didis . . iamdudum erumpere ntibem ardebant wirklich zurück, und wir sollen uns wohl die Worte des Achates gleichzeitig mit denen Didos denken (auf die er denn auch nicht Bezug nimmt). Aber um das völlig deutlich zu machen, müßte 686 von neuem synchronistisch auch auf den Abschluß von Didos Bede Bezug genommen werden.

386 Drittes. Kapitel. Darstellung.

Prüfen wir daraufhin die Zeitangaben im ersten Teil Ton X, so stoßen wir auf neue Schwierigkeiten. Wann findet der grofie öötterrat statt? X beginnt mit pandüur interea domus omnipotefUis Olympi: man denkt bei interea zunächst an Gleichzeitigkeit mit dem Schluß von IX, also mit Turnus' Errettung aus dem troischen Lager. Das ist aber durch die Worte des Juppiter 107 fg. aus- geschlossen: qiuie cuigue est fortuna hodie . . . nUUo discrimine habebo, wo hodie doch wohl einen neuen Tag im Gegensatz zum gestrigen bezeichnet, und noch deutlicher besagt in der nun folgenden Schilderung der eingeschlossenen Troer, die mit interea 118 an den Götterrat angeknüpft ist, der Ausirnck pulsi pristina Tumi gloria (143), daß seit Turnus' Aristie eine Nacht Tergangen ist. Dann würde also der oben zitierte erste Vers, wie auch alte Erklärer verstanden haben'), den Tagesanbruch umschreiben, mit- hin dem ersten Vers von & 1)05 ^iv XQOxönsTtXog ixidvavo TCäöav i% alav entsprechen: wie weiterhin die in © folgenden Verse genau nachgebildet sind: ist doch auch der Ratschluß des Juppiter dem des Zeus in & analog. Das interea würde also, ganz wie zu Beginn von XI, als ein lose verknüpfendes *nun' zu verstehen sein^) nur wird man gerade hier wegen des naheliegenden Mißverständnisses weder dies interea noch die Umschreibung des eindeutigen homerischen Ausdrucks glücklich nennen können.

Beginnt nun also mit X der neue vierte Tag, so bleiben zu erklären die Verse, mit denen nach der oben erörterten Schilde- rung des LsLgers zu Aeneas zurückgekehrt wird, 146 Uli inter sese duri certamina belli conhUerant: media Aeneas freta nocte secabat. Ist das gleichzeitig? Unmöglich; um Mittemacht wird nicht ge- kämpft. Ebensowenig kann die folgende Mittemacht gemeint sein: unverkennbar soU doch 260 ff. an die Schilderung 118 bis

1) Namentlich der Vergleich mit 1 374 ante dieni clauao componet Vesper Olympo spricht dafür.

2) Daß Virgil interea öfters so braucht (vgl. Hand Turs. HI 416), ist zweifellos; z. B. VI 703 ist sicher nicht gemeint, dafi Aeneas den lethäiachen Hain erblickte, während er vergeblich den Vater za umarmen suchte, vgL femer IE 668; YHI 218; IX 159; auch XI 182 und XH 842 ist es wahr- scheinlich so aufzufassen. Ovid fast. HI 89 dixerai (Süvia) et plenam tum firmis viribus umam sustulit; implerat, dum sua viaa refert. interea eres- cente Remo crescente Quirino caelesti tumidus pondere venter erat: gtunninus emeritis exiret mensibus annus restabant nitido iam duo Signa deo. Hier überbrückt das interea einen Zeitraum von zehn Monaten. Vgl. fast. ÜI 466.

Chronologie von X. 387

145 anschließen. Es bleibt also nur übrig, anznnehmen, daß Yirgil hier in höchst eigentümlicher Weise scheinbar ein gleich- zeitiges Ereignis berichtet, tatsächlich aber wir zu verstehen haben: 'am Morgen waren die dort im Kampf begriffen: (einige Standen Yorher) am Mittemacht war Aeneas aaf See': also noch vor dem X 1 gemeinten Tagesanbrach, der mit dem X 256 beschriebenen identisch wäre.^) Waram dieses höchst bedenkliche Wagnis? Offenbar nar, am öfteres Abbrechen der Erzählung zu vermeiden. Chronologisch korrekt wäre von Aeneas' nächtlicher Fahrt vor dem Götterrat berichtet worden; aber ganz abgesehen von dem Verlust der pathetischen Eingangsszene hätte dann nach der Szene mit den Nymphen abgebrochen werden müssen, wir wären erst in den Olymp geführt worden (wobei nun der Zu- sammenhang der öötterreden mit den Ereignissen des vorigen T^es zerrissen worden wäre), dann zum troischen Lager denn die bedrängte Lage der Eingeschlossenen mußte geschildert werden, damit die packende Szene wirken kann, wo der im Morgen- Sonnenstrahl vom Meere her aufflammende Schild des Aeneas Rettung verheißt , dann wieder zu Aeneas. Dies wiederholte Abspringen wird also, freilich mit recht gewaltsamen Mitteln, vermieden. Virgil muß nun aber noch weiter zurückgreifen, über die nächtliche Fahrt des Aeneas hinaus: denn noch bleibt zwischen dieser und dem Schluß von VIII eine Lücke, die aus- gefüllt ist durch die Verhandlung des Aeneas mit Tarchon und dem Aufbruch der Flotte. Zu wirklichem plusquamperfektischem Rekapitulieren entschließt sich der Dichter auch hier nicht, sondern er versetzt uns mit einem Sprunge in jenen Zeitpunkt zurück und erzählt in der gewohnten Weise präsentisch: namque, ut ab Euandro castris ingressus Etruscis regem adü . . haud fU

1) Etwas anders hat sich Vir^l I 679 geholfen, aber doch auch nicht TÖllif^e Klarheit erreicht. Die Szene kann in des Dichters Vorstellang sich nur so abgespielt haben, dafi unmittelbar nach Didos Worten Aeneas and Achates, die bis dahin vom Nebel Verhüllten, sichtbar werden. Ehe das geschieht, sollen wir aber anch über die Empfindungen der beiden unter- richtet werden; Virgil greift mit hia animum arrecti dictis . . iamdudum erumpere nubem ardebant wirklich zurück, und wir sollen uns wohl die Worte des Achates gleichzeitig mit denen Didos denken (auf die er denn auch nicht Bezug nimmt). Aber um das völlig deutlich zu machen, müßte 686 von neuem synchronistisch auch auf den Abschluß von Didos Bede Bezug genommen werden.

388 Drittes Kapitel. Darstellung.

mora, Tarchon iwngü opes . . . classem conscendü gens Lydia . . Äeneia puppis prima tenet. Auch hier also wird die Eontinniiat der Handlung, freilich auf Kosten der Kontinuität der Erzählung,

gewahrt.^)

11. Wir sahen bisher, wie sorgfältig Virgil eine Unterbrechung der Erzählung durch erklärendes Rekapitulieren zu Termeideu sucht und lieber eine neue zusammenhängende Erzählung anhebt. Bei gleichzeitigen Ereignissen ließ sich das so durchführen, daß die neue Handlung bis zu ihrem Zusammentreffen mit der alten verfolgt wurde; schwieriger liegt die Sache, wo auf Vergangenes zurückgegriffen werden muß: mag das nun dem Beginn der ganzen Erzählung vorauf liegen oder zwar im Lauf der Erzählung ein- getreten sein, aber erst nachträglich berichtet werden. Jene vor- vergangenen Ereignisse läßt Virgil, wenn irgend möglich, durch eine seiner Personen erzählen: dadurch bleibt die Kontinuitöt seiner eigenen Erzählung und Handlung gewahrt. Der Venus Bericht über Didos frühere Schicksale in 1 wird in IV noch er- gänzt durch Annas Äußerungen über die abgewiesenen libyschen Freier (36 ff.). Von Euanders Ansiedelung erfährt Aeneas durch Tiberinus (VHI 51 ff.), durch Euander selbst von Mezentius' Greuel- taten und den Verhältnissen in Etrurien (VIH 477ff.)5 Andro- mache (UI 325 ff.) erzählt ihre Leidensgeschichte selbst, nachdem

1) Auch die folgende Darstellung gibt za Bedenken Anlafi. Mit der Rekapitulation 148—156 war noch nicht alles getan: Virgil hat die vor- treffliche Gelegenheit, hier den Katalog der etruskischen Hilfsvölker su geben, nicht vorübergehen lassen und schließt ihn an die Beschreibung der nächtlichen Fahrt (156—162) an; wir yerlassen Aeneas und Pallas in dauern- der Situation: Aeneas in Sorgen um den Ausgang des Kriegs, Pallas an seiner Seite, unbekümmert um die Zukunft, schaut nach den Sternen and läßt sich von den merkwürdigen Erlebnissen des neuen Freundes erzählen. Nach dem Katalog soll durch das Auftreten der Nymphen die Hand- lung wieder in Gang kommen; statt aber nun hier auf die Yorher ge- schilderte Situation zu verweisen und so anzuknüpfen, setzt Virgil neu ein und erzählt ganz unbefangen noch einmal: der Tag war gesunken, schon war es Mitternacht geworden u. s. f.; nur sitzt jetzt Aeneas selbst am Steuer, da ihn die Sorgen nicht schlafen lassen, und kommandiert die Segelmanöver. Dabei kann er sich freilich weder der Sorge um die Zukunft hingeben noch die Unterhaltung des Pallas brauchen: das Bedürfnis, die gleiche Situation ^ zum zweiten Male zu schildern, hat zur Inkouzinnität geführt.

VergangeneB« 389

das zur Einführung der Episode Nötige so kurz wie möglich als Fama gegeben war (295 297); und so hören wir aus Achae- menides' Munde von Odysseus und Polyphem (623 ff.). Das ist also feste Technik, mag sie nun auf bewußtem Prinzip beruhen oder sich im einzelnen Falle Virgils künstlerischem Feinsinn von selbst ergeben haben. Selbstverständlich ist diese Technik durch- aus nicht; man halte daneben, wie Apollonius etwa die Phineus- geschichte behandelt II 178. Zunächst berichtet der Dichter von sich aus (178 193) über des Phineus Schuld and Strafe; dann erzählt dieser von der Harpyienplage (220 233); endlich erleben wir noch diese Plage selbst (266 272). So erzählt auch der Dichter ganz unbefangen selbst, als die Argonauten der Insel Lemnos nahen, was sich vor ihrer Ankunft dort ereignet hatte, I 609; erzählt selbst die Geschichte der Söhne des Phrixos vor ihrem Zusammentreffen mit den Argonauten II 1095, obwohl diesen dann Argos jene Geschichte im wesentlichen wiederholen muß (1125). Der Abstand gegen Virgils Technik liegt auf der Hand.

Für die Gründungsgeschichten italischer Städte und die daran hängenden Legenden sind die beiden Kataloge ein bequemes Vehikel: hier spricht nicht der Dichter, sondern die Muse. Was hier nicht unterzubringen war, flicht Virgil bei passender Ge- legenheit mit Hilfe besonderer Kunstgriffe ein: Venus beruft sich Juppiter gegenüber auf das Beispiel des Antenor, der Patavium gründete (I 242): ihr genaues Eingehen auf die Umstände dieser Gründung ist vielleicht durch die Situation allein nicht völlig gerechtfertigt. Diomedes berichtet den latinischen Gesandten die Verwandlung seiner Genossen (XI 271): das ist dort sehr ge- schickt motivieii, ebenso wie Euanders lange Erzählung vom Kampf des Hercules mit Cacus und der Einsetzung des Hercules- kults VIII 18ö. Wieder anders, nicht als direkte Rede, aber doch auch nicht als bloßer Bericht des Dichters, ist die Geschichte von Daedalus' Ansiedelung in Cumae und der Gründung des Apollo- tempels eingeführt, als Ekphrasis der von Aeneas betrachteten Büdwerke (VI 14).

In seltenen Fällen nur ist solche Einreihung des Vergangenen ins Gegenwärtige nicht möglich. In VH wird mit der Schilde- rung des gegenwärtigen Zustandes begonnen; unmerklich führt diese Schilderung in die Vergangenheit zurück, und das Resultat

390 Drittes Kapitel. Dantellnng.

des Erzählten; mit dem der Einschab abschließt (Fama per urbes Ausonias Uüerat 104), ist wieder gleichzeitig mit der Landung des Aeneas, zu der wir dann zurückkehren. Immerhin unterbridit der ganze Einschub den Gang der Handlung, die mit 107 un- mittelbar an 36 anknüpft; da Virgil das nicht zu vermeidai wußte, sucht er es auch nicht zu yerschleiem, sondern hebt es im Gegenteil 37 44 mit einem eigenen Prooemium hervor, das den Beginn des neuen zweiten Hauptteiles der Dichtung markiert: da- bei ist ein leiser Übergang entbehrlich, ja nicht einmal wünschens- wert. Ahnlich in einem zweiten Falle, der hierher gehört: IK 77 soU die Vorgeschichte der troischen Schiffe erzählt, also zurück- gegriffen werden; von dem Gesprach zwischen Juppiter und der Mater weiß keine Yon den Personen der Dichtung, der Dichter selbst muß es berichten. Er markiert durch die Anrufung der Muse, daß es sich um etwas in jeder Beziehung Außergewöhn- liches handelt. Man fragt sich nur: warum verlegt er die Szene in die Zeit zurück, da Aeneas auf dem Ida das Holz zum Bau der Schiffe fällte; warum läßt er nicht, in gewohnter Weise, tnterea, während Turnus Feuer anzulegen, die Troer das zu ver- hindern suchen, die Mater bittend ihrem Sohne nahen? Der Grund ist offenbar nicht der, daß ihn irgendeine Tradition bände, denn in solchen Dingen schaltet er mit der Tradition völlig frei; sondern es muß der Frage begegnet werden, warum denn bisher die Schiffe dem Wüten des Wassers (in I) und des Feuers (in V) schutzlos ausgesetzt gewesen sind, gerade jetzt aber die Mater eingreift Der Anruf der Muse, scheinbar durch die sachliche Seltsamkeit des Ereignisses erzwungen, hat doch zugleich die technische Be- deutung, das Abbrechen und Zurückgreifen der Erzählung weniger störend erscheinen zu lassen.

Die zweite der oben genannten Eventualitäten war die, daß etwas im Zeitraum der Handlung selbst Vorgefallenes nachträg- lich berichtet werden muß. Entweder handelt es sich um Er- eignisse, die der Haupthandlung gleichzeitig waren, aber nicht wichtig genug erschienen, um ihretwegen den Faden der Er- zählung in der oben erörterten Weise abzubrechen. Wir werden nur zum Resultat jener Nebenhandlung geführt und diese selbst wird als Erklärung des vorliegenden Zustandes nachgetragen. So der Tod des Misenus, der während der Abwesenheit des Aeneas blgte, aber erst berichtet wird, als Aeneas bei der Rückkehr den

1^ der

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Nachträgliches. 391

Leichnam yorfindet^ VI 162.^) Äußerlich ganz gleich erscheinen die Fälle, in denen ein der Haupthandlung angehöriger Zug be- richtet wird^ der an seiner eigentlichen Stelle beiseite gelassen war: so die Anordnungen, die Aeneas beim Verlassen seines Lagers getroffen hat, IX 40. 172: ihre eigentliche Stelle wäre VUI 80 gewesen, aber vielleicht dachte hier Virgil noch gar nicht an die Notwendigkeit solcher Anordnungen. Desgleichen Turnus^ Ver- tauschung der Schwerter, die beim Zweikampf mit Aeneas Ter- hängnisYoU wird und also auch erst hier, XII 735, nachträglich berichtet wird, nicht schon 326, weil sie zunächst keine Folgen hat, also unwichtig erscheinen würde. Das sind aber äußerst seltene Fälle, und Virgil selbst wird sie als Freiheit empfunden haben. Solches Rekapitulieren kann dadurch vermieden werden, daß der Dichter auch hier das Vorgefallene nachtraglich durch eine seiner Personen erwähnen läßt. Wir erfahren dann also aus ihrer Rede Dinge, die der Dichter uns selbst früher hätte erzählen können: das ist bei Homer, soviel ich sehe, weit seltener der Fall als bei Virgil. XI 446 hören wir nur ganz kurz casira Aeneas 4icienique movebat: das Nähere, daß Aeneas die Reiterei zur offenen Schlacht vorschickt, während er selbst auf anderer Marschroute Laurentum erreichen und durch einen imerwarteten Angriff über- rumpeln will , das erfahren wir aus Turnus' Mitteilung an Gamilla, 511. Daß Aeneas für die Wettspiele als Überraschimg eine Reiteraufführung vorbereitet hat, lelyrt uns sein dem Päda- gogen zugeflüsterter Auftrag (V 547). Daß bei dem Aufbruch von Caere etruskische und arkadische Reiterei zu Lande ge- schickt war und Turnus ihr den Zugang zum Lager verlegt, diese Nachricht hätte den kurzen Bericht über die Vorgänge in Caere (X 148) zu sehr beschwert: der Dichter trägt sie 237 in Cymodoceas Worten an Aeneas nach. In diesen FäUen ist zweifellos, daß Virgil bewußt xarä 6i(Dxd)fi€vov erzählt, d. h. eine vorher verschwiegene Tatsache uns aus der Erzählung selbst als geschehen erschließen läßt.^) Das ist wichtig für andere Fälle, in denen es sonst zweifelhaft sein könnte, ob der Dichter

1) Über X 148 ff., wo sich Virgil dem plusquamperfek tischen Rekapi- tulieren entzieht, indem er an einem zurückliegenden Punkte einsetzend eine neue fortlaufende Erzählung beginnt, ist oben 887 gesprochen.

2) Bei unwichtigen Dingen, namentlich dem Kommen und Gehen von Personen, die sich aus der folgenden Erzählung ohne weiteres ergeben, ist

392 Drittes Kapitel. Darstellung.

ein auf diese Weise neu eingeführtes Motiv yorzubereiten ret- gessen oder absichtlich imterlassen hat^ und ob in Fällen^ wo diese Vorbereitung in einem früheren Buche hätte gegeben werden müssen, ihr Unterbleiben lediglich auf die mangelhaft durch- geführte Yerbindimg der Bücher untereinander zu schieben ist IV 351 erwähnt Aeneas in seiner Verteidigung gegenüber Dido, daß allnächtlich im Traum Anchises ihm erscheine und an seine Pflicht mahne das hätte vor der Erscheinung Mercurs erzählt werden müssen, wo aber für dergleichen keine Gelegenheit war. IV 421 spricht Dido Ton dem Vertrauen, das Aeneas der Anna geschenkt habe (s. oben S. 134, 1); um das an seinem Orte anschaulich zu machen, hätte es erheblicher Verbreiterung der Erzählung bedurft. VI 343 bezieht sich Aeneas auf eine yon Apollo betreffs des Palinurus gegebene Weissagung: der Ort, sie zu berichten, wäre in gewesen; da findet sich nichts davon, aber ich glaube nicht, daß es Virgil für nötig befunden hätte, in VI nachträglich etwas zu ändern.

Ganz ähnlich verfährt Virgil gelegentlich mit zukünftigen Ereignissen: in direkter Bede werden Dinge gesagt, die geschehen werden, und damit begnügt sich der Dichter, dem an der Er- zählung des Faktums selbst nichts gelegen ist: hciec in oeconomia praeiudicia nominantur, quotiens negotii futuri exitus tdUiiur Serv. zu XI 593, wo Diana voraussagt, daß sie den Leichnam der Camilla vom Schlachtfeld entführen und in ihrer Heimat bestatten werde. Sehr gut verweist Servius auf Venus' Wort (an Amor) I 683 tu fadem iUius noctem non amplius unam falle dolo, womit der Dichter eine spätere Angabe über den Ersatz des fiJschen durch den wirklichen Ascanius entbehrlich zu machen sucht.

Das führt uns weiter zur Behandlung der Zukunft, die jenseits des ganzen Gedichts liegt.

12.

Das Zukünftige spielt in der Aeneis eine sehr erhebliche

Rolle: die Bedeutung der erzählten Handlung liegt ja wesentlich

darin, daß sie den Grund für die Zukunft legt. So bedürfen wir

der Voraussagen schon für das Schicksal des Aeneas selbst; müssen

das natürlich noch weit häufiger der Fall; ans Buch VI stellt Norden S. 145 [ die Beispiele zusammen.

Zukünftiges. Prophezeiungen. 393

wir doch erfahren, wie sich nach dem Tode des Turnus die Ver- schmelzung der beiden Völker vollzieht, wer die Nachkommen des Aeneas sein werden, wie Lavinium, Alba, scbließlich Rom ge- gründet werden. Aber das genügt weitaus nicht: die ganze ge- waltige Geschichte Roms, die Entwickelung des Imperium Romanum bis zu dem jüngst erreichten Höhepunkte wird in den Stoff des «Gedichts hineingezogen, ganz so wie die Vorgeschichte Italiens und die Vorgeschichte der Troer, über den trojanischen Krieg zurück bis auf ihre italische Urheimat: so hatte ja auch Homer, wenn er auch nur wenige Tage des troischen Krieges beschrieb, doch es yerstanden. Vergangenes wie Zukünftiges seinem Gedichte einzuverleiben.^) Homer hatte auch vorbildlich gezeigt, wie das Zukünftige einzuführen ist: nicht so, daß etwa der Dichter selbst aufbritt und erklart, die Geschichte werde so und so ablaufen; sondern einer seiner Personen legt er die Prophezeiimg in den Mund, von AchiUeus' Tod oder Trojas FaU oder des Aeneas Herrschaft, oder was er sonst seinen Hörern zu wissen tun will. Der Kunstgriff war äußerst bequem für die hellenistische Technik des kleinen Gedichts: wo nur eine Episode eines Mythus erzählt wird, muß der Zuhörer doch erfahren, was die Folgen dieser Episode sein werden: dazu dient eben die Voraussage, Vision oder Prophezeiung.*) Wir sahen auch, daß in ganz ähnlicher Weise Virgil seine als Einzelgedicht konzipierte Iliupersis mit einer

1) Vgl. die Bemerkungen in den Schollen, namentlich aber bei EuBtathios, die zusammengestellt sind bei Adam, Die aristotelische Theorie vom Epos nach ihrer Entwicklung bei Griechen und Römeni, Wiesbaden 1889, 41 ff.

2) Ich erinnere an Kallimachos' Hymnus auf Delos und Bad der Pallas (auch die Krähe in der Hekale erzählte wie Vergangenes so Zukünftiges, Wilamowitz, Gott. Nachr. l69S, 734), an Theokrits Herakliskos, an Gatulls Hochzeit des Pelens und der Thetis, an die Prophezeiung der Hera in der hellenistischen Vorlage von Quintus* Oinoneepisode (Rohde, Gr. R. 110, 5 und oben S. 68). Auf die Spitze getrieben ist diese Manier in Gedichten wie Lykophrons Alexandra und Alexanders des Aetolers ApoUon; auch das Original von Horaz c. I 15 gehört hierher. Man darf wohl annehmen, daß in zahlreichen Gedichten, die zum Lobpreis von Herrschern Taten ihrer V^or- tahren berichteten, oder zum Lob von Städten ihre xtiais, diese Technik ausgiebig benutzt wurde; ließ sich doch so die kräftigste Schmeichelei an- bringen, ohne daß sie der Dichter in eigenem Namen auszusprechen brauchte. So hatte auch Ennius sich wohl im ersten Buch der Annalen, ähnlich wie Virgil, der Voraussage Juppiters bedient, um das letzte Ziel der Handlung sichtbar werden zu lassen.

394 Dnttcs Kapitel. DarBtellung.

Prophezeiung abschloß, die alles Wesentliche yon Aeneas' späteren Schicksalen enthielt (oben S. 63). Nun ist ja die ganze Aeneis eigentlich nur eine Episode freilich eine der wichtigsten aus dem gewaltigen Epos der römischen Geschichte, dessen Schloft- katastrophe die Schlacht bei Actium, dessen letzte Olanzszene die Friedensherrschaft des Augustus ist: bis dahin also wird jene Episode durch das herkömmliche Mittel ergänzt. So steht denn zu Beginn des Gedichts die umfassende Vorhersage des Jappiter, die nur die höchsten Gipfel streifend bis zur Gegenwart des Dichters führt; recht eigentlich im Mittelpunkte des Gedichte die Vision in der Unterwelt, die Heldengestalten Roms in langem Zuge YorbeifEihrend; bevor Aeneas selbst in den Krieg zieht, darf er auf dem Schilde, den Vulcan, wohl kundig aller Zukunft, ihm gesandt hatte, die Kriegstaten der Enkel, pugnata in ordine hdla^ schauen; endlich wird der Abschluß der eigentlichen Handlung des Gedichts, der jenseits des Rahmens der Erzählung liegt, in XU durch das Versprechen Juppiters gegeben. In keinem dieser FäUe also ist die Kontinuität unterbrochen: die Handlung stockt selbst während der Schildbeschreibung nicht völlig, da wir uns Aeneas als Beschauer zu denken haben, der rerum ignarus itna- gine gaudet und dann weiterschreitet aUdlens umero famamque d foita nepotum.

II. Beschreibung. Erzählung schildert das Nacheinander, Beschreibung das Nebeneinander; zu Gegenständen der Beschreibung können also außer konkreten Dingen auch Vorgänge werden, wenn es der Dar- stellende darauf ablegt, uns nicht den Verlauf des Vorgangs zu erzählen, sondern durch Nebeneinandersteilen von Einzelzügen ein zusammenfassendes Bild des Vorgangs zu entwerfen; die antiken Techniker haben solche Schilderungen z. B. einer Schlacht, einer Feuersbrunst, eines Unwetters mit Recht unter den BegriflF der exq)Qa6vq descriptio gezogen. Das Gemeinsame aller Arten von Beschreibung ist, daß dabei die fortschreitende Handlung stockt; der Leser bleibt stehen und beschaut ein Bild in allen seinen Einzelheiten. Aus dem, was über die Struktur der Handlung bei Virgil oben gesagt wurde, ergibt sich, daß die Beschreibung bei ihm stark zurücktreten muß; wo sie sich findet, ist sie der Er- ^sählung nach Möglichkeit angenähert.

Beschreibungen. 395

Jene exfpQaöig von Vorgangen tritt in volle Blüte erst nach Virgil; aber nicht nur Redner und rhetorische Historiker, auch Dichter müssen schon früher dergleichen gehabt haben; die gute Poesie älterer hellenistischer Zeit hat sich zwar, soviel ich sehe, davon zurückgehalten und danach getrachtet, jeder Schilderung (soweit sie nicht ausdrücklich als Beschreibung eines Bildes u. dgl. eingeführt wurde) den Charakter der Erzählung zu wahren. Bei Virgil ist dies Bestreben unverkennbar: vergleicht man etwa seine Schilderung des Seesturms in I mit der des Quintus (oben S. 76), so fällt ins Auge, wie er sich bemüht, das Nacheinander zu be- tonen.*) Die Iliupersis konnte zur schildernden Anhäufung von Einzelzügen verlocken, und die späteren Epiker schwelgen darin; Virgil beschränkt das aufs Äußerste.^) Didos Liebesleidenschaft, für malende Ausführung ein höchst dankbares Objekt, wird zwar nach hellenistischem Vorgange mit einer Anzahl beschreibender Züge ausgestattet (IV 68 ff.), aber indem ein Tageslauf geschildert wird, kommt auch hier der Fortschritt der Handlung zu seinem Rechte.

Die Beschreibung von Örtlichkeiten beschränkt sich, wie früher schon angedeutet wurde, auf ganz wenige Fälle, in denen der Handlung ein stimmungsvoller Hintergrund gegeben werden solL Am ausführlichsten wird, in acht Versen, der Hafen an der libyschen Küste beschrieben (I 159); das ist Imitation einer Schil- derung der Odyssee und will als solche bemerkt werden; bei Virgil soll die Schilderung nicht in erster Linie die Situation ver- anschaulichen, sondern uns in die Stimmung der aus dem wilde- sten Aufruhr der Elemente Geretteten versetzen, die ein vor jedem Windhauch und Wellenschlag geschützter Zufluchtsort aufnimmt. Als Gegenstück zu der späthomerischen Beschreibung von Alkinoos' Königssitz (rj 86 ff.) kann man die Beschreibung von Latinus* Palast VII 170 auffassen; bei Homer das anschauliche und reizende Bild kostbaren Bauwerks und üppiger Natur, bei Virgil die Schilde-

1) 84 86 Losbrechen der Stürme, 87 insequitur damar virutn etc.; h8 bis 90 Nacht nnd Gewitter, 91 Folge für die Schiffer, 92 für Aeneas, 94 bis 101 seine Bede, 102—105 was darauf geschieht; 106. 107 zwei schildernde Verse, dann bis 128 fortschreitende Handlang.

2) Man sehe die kurze Schilderang des Zustandes, den Aeneas beim £rwachen vorfindet 810—312; die Ablehnung einer aasfährlichen Beschrei- bung der Schreckensszenen 361.

V

396 Drittes Kapitel. Darstellung.

rung der Urform eines römischen Atrinms, ausgestattet mit den Bildern der ältesten latinischen Könige; das Interesse nicht de- skriptiv sondern historisch.^) Die Stätte des alten Roms wird in VIII geschildert, namentlich 337 361, nicht als beschreibende toxoyQaq)Ca sondern als der Weg, den Euander und Aeneas Ton der ara maxima nach dem Forum zurücklegen, also in der Form einer Handlung. Als Stationen des Weges werden auch in der Unterwelt die einzelnen Landschaften kurz, aber anschaulich cha- rakterisiert: wir sehen die stygische Sumpflandschaft mit ihrem Schlamm und Schilf, die yerschwiegenen Pfade des schattigen Myrten Wäldchens, in dem die Opfer unglücklicher Liebe weilen, die flammenumtoste Eisenfeste des Tartarus, endlich das sonnen- durchleuchtete Elysium mit seinen Rasen- und Sandflächen, den Übungsplätzen der Gymnasten und Ringer, seinem Lorbeerhain des Ruhmes am Eridanus, und jenseits einer Höhe das grüne Tal des Lethestromes: alles deutliche und durch den Kontrast noch mehr verdeutlichte Bilder, aber nur im Vorübergehen aufgefaßt.

Gegenüber dieser Sparsamkeit in der Naturbeschreibung kann es scheinen, als sei der Beschreibung von Kunstwerken ein über- mäßig großer Raum gegeben. Abgesehen von kurzen Schilde- rungen ausgezeichneter Rüstungsstücke*) haben wir V 250 257 eine gestickte Chlamys mit der Darstellung von Ganymeds Raub; I 466—493 die Bilder im Tempel zu Karthago; VI 20—30 die Türen des ApoUotempels zu Cumä, auf denen Daedalus seine Ge- schichte dargestellt hat; endlich VIII 626—728 den Schild des

1) Die Beschreibung scheint nachträglich eingelegt zu sein, eben um die Reihe jener Könige vorzuführen, die so oder so im Gedicht angebracht werden mußten. Der Tempel heißt 171 Laurentis regia Pici, während man aus 61 ff. schließen mußte, daß erst Latinus die Gegend besiedelt und Laurentum gegründet habe. Nach 177 ff. gehören zu den Ahnen des Latinus Italus, Sabinus, Janus, Satumus: nur der letztgenannte steht in der 47 ff. gegebenen Genealogie, während der dort genannte Vater des Latinus, Faunus, wieder hier übergangen wird. Man beachte, daß 194 ohne Lücke an 169 anschließt und 192 fg. lediglich das 168 fg. Gesagte wiederholen.

2) X 496 das Wehrgehenk des Pallas: das soll sich der Erinnerung einprägen, weil es später bei Turnus' Tod eine Rolle spielt. VII 786 Turnus' Helm (die feuerschnaubende Chimära symbolisch für Turnus' ardor et ira, die logeschichte als Rache Junos, der Schutzgöttin des Turnus). Über die Schilderung einzelner hervorstechender Rüstungen, stets einer besonderen

'ärbung der Handlung dienend, oben S. 203 fg.

Schilderang von Kunstwerken. 397

Aeneas. Hier ist änßerlicli die Anlehnung an die Technik der hellenistischen Dichter ganz klar, die dergleichen Beschreibung Ton Kunstwerken mit Vorliebe übten. Aber auch bei ihnen war ja diese Gepflogenheit, ursprünglich gewiß aus der Freude an kostbarem und schönem Gerät hervorgegangen, schon vielfach zum Verwände geworden^ um beliebige Geschichten in beschrei- bender Manier zu erzählen; bei Virgil vollends ist das Kunstwerk nicht als solches, sondern fast durchweg nur um des Inhalts der dargestellten Szenen wegen wichtig.

Fragen wir zunächst nach dem Anlaß, der Virgil zur Ein- führung bewog, so hat die Schilderung in V keine notwendige Beziehung zur Handlung: die Kostbarkeit des von Aeneas ge- stiflieten Preises konnte auch in anderer Weise veranschaulicht werden. Aber wenn irgendwo in der Aeneis, so hat solche aus Freude an einem schönen Gegenstand geflossene Schilderung ihren Platz in diesen recht eigentlich von Lebensfreude überquellenden Szenen (s. ob. S. 166 fg.); der Hörer soll sich in die Stimmung des Siegers versetzen, der dies kostbare Kunstwerk empfängt. In I und VI hat die Beschreibung zunächst technische Bedeutung: Virgil will Szenen komponieren (ob. S. 318) und muß Aeneas, bis dort die Königin, hier die Sibylle erscheint, beschäftigen; dazu dienen die Bilder, in deren Betrachtung er sich vertieft. Die Schildbeschreibung endlich ist dem Zwange epischer Tradition entsprungen; der Schild des Achill und so mancher anderer epischer Helden mußte ein Seitenstück haben, wie die Liebe der Kalypso und des Odysseus Gang zur Unterwelt.

Das schwierige Problem, während der Beschreibung die Hand- lung nicht stillstehen zu lassen, hat Virgil am besten in I gelöst: da ist wirklich der Eindruck erzielt, daß uns nicht sowohl Bild- werke beschrieben als die wechselnden Empfindimgen des Aeneas erzählt werden. In VI ist hierzu kein Ansatz gemacht; erst am Schlüsse wird gesagt, daß Aeneas die geschilderten Bilder sah {quin protinus omnia perlegerent ocxdis 3;J); freilich ist die Be- schreibung, ebenso wie in V, so kurz, daß man den Mangel an Handlung wenig empfindet. Auch in VUI wird uns der Schild beschrieben, während ihn Aeneas betrachtet: aber hier mußte wegen des Inhalts, der ja für Aeneas unverständlich ist, er selbst während der Beschreibung völlig ausgeschaltet werden. Der Dichter gleicht den Mangel an Handlung dadurch aus, daß seine

398 Drittes Kapitel. Darstellang.

Beschreibung selbst zur erzählten Handlung wird; geht sie doch im ersten Teil in raschem Flug durch die älteste römische Gre- schichte^ und gibt im zweiten eine zusammenhangende Darstellung der Schlacht bei Actium und des darauf folgenden Siegesfestes, bei der nur der Form wegen gelegentlich an den Schild und seinen Verfertiger erinnert wird.^)

Der Inhalt des Dargestellten steht überall in Beziehung zum Inhalt des Gedichts. Am glücklichsten ist das in I erreicht, wo der Inhalt geradezu als förderndes Motiy in den Qang der Hand- lung eingreift (oben S. 119). Die Bildwerke stellen hier Szenen des troischen Krieges dar; die Stickerei in V eine berühmte Szene aus der älteren Geschichte Trojas; die Darstellung in VI ist benutzt, um bei Daedalus, dem Gründer des cumäischen Apollo- tempels, zu verweilen, und gibt die Vorgeschichte dieser Grün- dung, also gewissermaßen ein Stück aus der Geschichte Uritaliens. Wie diese Darstellungen in die Vergangenheit, so führt die Schild- beschreibung in die Zukunft: sie wird, statt poetischer Zierat zu bleiben, zum vorwärtsweisenden Motiy, das neben Juppiters Ver- kündigung in I und der Heldenschau in VI die letzten Ziele der im Gedicht erzählten Handlung schauen läßt imd somit das Ge- wicht dieser Handlung verstärkt.

Die Tendenz der Schilderung kann nur in V als rein male- risch-anschauliche bezeichnet werden. Die Bilder in I sollen, wie sie dem Aeneas Tränen entlocken, so auch das Mitleid des Hörers

1) Bei der großen Bedeutung, die Yirgil dem stetigen Fortschritt der Handlung beilegt, glaube ich nicht, daß ihm die Feinheit seines Musters', daß nämlich der homerische Schild nicht als fertiger, sondern als entstehen- der geschildert wird, entgangen ist; aber auch die zweite Ton Lessing gestellte Alternative Mie Dinge, die er auf seinen Schild bringen wollte, scheinen ihm Ton der Art zu sein, daß sie die Ausführung vor unseren Augen nicht gestatteten' trifft kaum zu; auch beim Entstehen hätte die Prophezeiungen nicht ^der Gott geäußert', sondern 'der Dichter ausgelegt', ganz wie er es bei Homer tut. Bestehen bleibt aber, daß Homer erzählt und Virgil der Form nach schildert; daß die Handlung bei Homer fortschreitet, bei Virgil stockt; Plüß' Einwände 270 ff. scheinen mir diesen Punkt nicht zu treffen. Aber schon wiederholt ist ausgesprochen worden, daß Virgil den Schild in erster Linie deshalb als fertigen schildern mußte, weil er diese Schilderung als Schlußstück des Buches brauchte; wozu noch weiter kommt, wie Plüß 284 richtig bemerkt, daß der Inhalt der Bilder so in nähere Beziehung zu Aeneas selbst tritt, als wenn uns der Schild in der ^yklopenschmiede gezeigt würde.

Bescbreibung von Kunstwerken. 399

erregen: darum wird auf den schmerzlichsten Szenen des Krieges Terweilt, der weniger pathetische eigentliche Kampf nur kurz gestreift. Auf das Pathos zielt auch die Schilderung in VI mit augenfälliger Deutlichkeit: der jämmerliche Menschentribut Athens, die gräßliche Verirrung der Pasiphae, die yerzweifelte Liebe der Ariadne, mit der Daedalus selbst Mitleid fühlte, wird genannt; schließlich wird gar der nicht dargestellte Tod des Icarus her- angezogen, um uns den Schmerz des Vaters nachfühlen zu lassen. Bei der Schildbeschreibnng ist das Ziel ein anderes: bei dem Gange durch Roms Geschichte, der von den verlassenen ZwiUings- knäblein in der Wolfshöhle zu dem in strahlender Hoheit trium- phierenden Augustus führt, soll der Hörer die Erhabenheit des Fatums empfinden, das des Aeneas Geschlecht von unscheinbaren Anfangen zum Weltregiment emporhob.

Die Form der Schilderung endlich bezweckt nicht in erster Linie, den Eindruck eines realen Bildwerks hervorzurufen. Am meisten ist dies Ziel bei einzelnen Darstellungen des Schildes ins Ange gefaßt, aber auch hier sollte es schwer fallen, namentlich das Schlußbild zu rekonstruieren: hier sind zwar noch Ansätze zu einer Bildbeschreibung vorhanden, im wesentlichen aber haben wir die Schilderung eines Festes ganz ohne Rücksicht auf Dar- stellbarkeit des einzelnen.^) Ebenso in VI: wie die Szene des

1) Vom Ganzen gilt dies in noch höherem Grade, und die immer wiederholten Bekonstruktions versuche (ein Ansatz dazu noch wieder bei W. Yolkmann, Unters, zu Schriftstellern d. klass. Altert. I, Progr. BresL 1906; über dessen weitere Aufstellungen s. u. Kap. IV 3) sind gänzlich fruchtlose Bemühungen; man sollte sich wirklich auch hier dabei beruhigen, daß man es mit einem dichterischen, nicht plastischen Kunstwerk zu tun hat, wie dies n. a. Plüß richtig ausgeführt hat. Yirgil hat selbst durch die Verse 626 629, vor allem durch genus omne futitrae stirpis ab Äscanio pugnataque in ordine bella (von denen im folgenden nur ganz wenige genannt werden), deutlich genug gesagt, daß der Schild eine Menge Bilder enthielt, die er nicht des näheren beschreiben will. Ich freue mich, bei Robert (Stud. zur Dias 17) wieder die Meinung vertreten zu finden, daß auch Homer bei eeiner Schildbeschreibung ein plastisches Bild höchstens ganz schattenhaft vorgeschwebt hat, so daß denn auch hier jeder Rekonstruktionsversuch ganz jn der Luft schwebt. Von dem ^Kaleidoskopischen' vieler homerischen Bilder haben die Beschreibungen z. B. des Apollonios (I 730 fi*.) und des Moschos (Europa 44 ff.) nichts an sich : da sind , wenn auch nicht immer anschaulich, durchweg feststehende Figuren und Gruppen beschrieben; das überwiegt auch bei Virgil.

400 Drittes Kapitel Dantellung.

Ariadnefadens dargestellt war, kann niemand sagen^ die Gescliichte wird uns erzählt. Und so geht in I die Beschreibung gelegent- lich in Erzählung über.^) Ich glaube nijcht, daß das Ungeschiek des Dichters daran schuld ist; der den Standpunkt des einfach Schildernden nicht vermocht hätte festzuhalten. Sein Interesse liegt auch hier mehr auf den Vorgängen^ als auf dem konkreten Kunstwerke ; das sie darstellt, und er will im Leser mehr die Erinnerung an jene Vorgänge als die Vorstellung eines sichtbaren Gegenstandes wachrufen; so haben wir denn reine Beschreibung selbst hier nicht; auf ihrem eigensten Gebiete.

Dazu lassen sich Fälle heranziehen, in denen der Dichter von anderen etwas beschreiben oder es doch uns gleichsam mit den Augen anderer sehen läßt. Wenn Achaemenides den Fraß des Kyklopen schildert; so fließt dabei ein kleiner Zug ein, der nicht mehr Anschauung gibt; sondern aus dem Wissen des Erzahlenden herausgeflossen ist.') Der Dichter selbst verfahrt nicht anders. Als die Troer an der Insel der Circe vorüberfahren ; sollte man erwarten; daß uns erzählt wird; was sie sahen und hörten; das geschieht auch zum Teil; aber es kommen andere Züge hinzU; die der Dichter selbst von sich aus berichtet (VII 10 20). Als Aeneas auf dem Weg nach Karthago von einem Hügel aus die Tätigkeit der Bauenden überschaut; wird uns im wesentlichen nur berichtet; was er wirklich sehen kann; aber schoU; daß ^einige sich den Platz zu ihrem Hause wählen' (I 425), ist kaum mehr anschaulich; und so zweifle ich; ob man den folgenden Vers iura mcufistrahisque legunt sanctunique senatum als interpoliert ansehen darf: das ist eine Tätigkeit; die für Virgil zu jeder Stadtgründimg gehört (III 137. V 758), und die ihm daher vielleicht auch hier; unpassend genug, in den Sinn gekommen ist.*)

1) W 29 Dacilalus ipse dolos Udi ambagesijue resolvit caeca regens fiio vestigia. I 483 ter circutn Iliucos raptaverat \Hectora muros exanimumque auro corpus vendebat. 481 Peniftesilea . medm in milihua ardet.

2) III 026 vidi atro cum menibra fluentia tabo manderet et tepidi tremeient 8 üb dentibus artus.

3) Vgl. auch den oben S. 52 besprochenen Fall, wo der ursprüngliche Anlaß zu der Erscheinung zwar wohl ein anderer ist, aus dem oben Ge- sagten aber begreiflich wird, warum Yirgil an dem Mangel an Anschau- lichkeit keinen Anstoß nahm.

Aufzählung. Rede. 401

Der Beschreibung nahe steht in gewissem Sinne die detail- lierende Aufzählung^ insofern auch hier das Nebeneinander ge- schildert wird, die Handlung stockt. Ich gehe nur auf eine solche Aufzählung ein^ bei der wiederum Vergleiche lehrreich sind: den Katalog der latinischen Hilfsvölker in VII. In der homerischen Boiotie sowohl wie in ApoUonios' Katalog der Argonauten (I 23 ff.), wie endlich in Virgils Katalog ist das wesentliche Interesse das gleiche historische. Während der hellenistische Epiker dabei stehen bleibt, auch Homer nur ganz ausnahmsweis die Aufzählung durch Schilderung belebt^), hat Virgil mit bewußter Kunst an die An- schauung appeUierty um die tote Au&ählung zu yermeiden: er erweckt nicht nur eine plastische Vorstellung Yon den Führern*), sondern schildert auch das Aussehen, die Ausrüstung und Bewaff- nung der Völker. Die Beschreibimg bleibt aber auch hier nicht das Wichtigste. Die Boiotie nimmt nur ganz selten auf den Zeitpunkt Rücksicht, der den Katalog motiviert nämlich das Rüsten und Ausrücken zur Schlacht , und begnügt sich im allgemeinen damit, die Zahl der Schiffe zu nennen, die jeder stellt. Apollonios vermeidet es, die Versammelten aufzuzählen; er erzählt, daß dieser und jener kam*); aber es bleibt bei dem Wort. Virgil dagegen bemüht sich auch hier, wirkliche Handlung zu geben; er schüdert teils die Truppen auf dem Heranmarsch hunc lote legio co- mitatiMT agresHs; ibant aequati numero regemque canebant; scixta sonant puisuque pedrnn contenrüa teUus; insequitu/r nimbus peditum dipeataque totis agmina densentur campis teUs das Ausrücken oder Eintreffen der Führer: agmina in arma vocat suibito ferrum- que retradat; cwrru iungit HdUtesus equos; Virbius aequora campi exercebat eques cwnruque in beUa ruebat; ipse pedes . . regia teäa stibibat; mit besonderem Nachdruck ganz zuletzt das Auftreten der Camilla, bei deren Ankunft omwis vu/ventus turbaque matrum aus den Häusern imd von den Ackern zusammenströmt, um die herrliche Erscheinung anzustaunen.

X) Z. B. vom jüngeren Aias dXlyog iihv ^ijv, Xivod-titQri^ 629; 7}vg re liiyas Tc TlepolemoB 663, yidlXiarog äviiQ ^nb *'IXMH^>lO'ev Nisens 673, ömd'sv xo^oDvtsg die Abanten 542.

2) LansuB 660, Aventinus 666, CatilluB und Coras 674, Umbro 751, Tornufl 885 AT., Camilla 814 ff.

3) Kaibel, Hermes XXII 511.

Hein s e, YirgllB epische Teohnik. 2. Aufl. ^^

402 Drittes Kapitel. Darstellung.

lU. Rede.

Die reichliclie Verwendung direkter Rede hat Virgil yen seinem yomehmsten Muster, Homer, übernommen. Auch bei ihm begleitet und durchsetzt sie die ganze Erzählung; auch bei ihm wird ihr sogar eine über die Wirklichkeit hinausgehende Rolle zugewiesen, indem sie der Dichter auch da eintreten läßt, wo er, realistisch getreu, Gefühle des Handelnden zu beschreiben hätte. Wie bei Homer, bestehen bei Virgil die Götterszenen ganz wesentlich aus direkter Rede; wie bei jenem, hören wir Frage und Antwort, Auftrag und Botschaft;, Bitte und Gewährung, Qe- bete und Wünsche, Prophezeiung und Zeichendeutung in direkter Rede. Die Übereinstimmimg geht bis in Einzelheiten; wenn ein Auftrag mit ungefähr denselben Worten ausgerichtet wird, mit denen er gegeben wurde (IV 226~270, 232r^272); wenn Schlafende sich mit Traumbildern unterhalten (11 281; VH 435); wenn Kämpfende einander höhnen und Sterbende eine letzte Bitte an den Sieger richten so ist das offenkundige Imitation, durch die dem Ganzen der Erzählung homerische Farbe gegeben werden soU. Aber so groß auf den ersten Blick die Übereinstimmung scheinen mag, so groß ist doch andererseits der Abstand: Virgil hält auch hierin seinen eigenen Stil gegenüber dem homerischen konsequent fest.

1. Was zunächst bei Virgil ins Auge fällt, ist etwas Negatives: die große Einschränkung, die bei ihm das Gespräch erfährt Große Gesprächsszenen, wie am Hofe des Alkinoos (z. B. l 353 ff.),, oder im Palast des Odysseus (z. B. q 369 ff.), oder wie die Ver- sammlung in Ay in der Achill und Agamemnon, Ealchas und Nestor redend auftreten, auch Athena freilich nur für Achill hörbar das Wort ergreift, Achill selbst nicht weniger als acht- mal spricht; oder ausgedehnte Zwiegespräche wie in a, wo zwischen Athene und Telemach viermal die Rede wechselt; oder reichausgestaltete Gesprächsreihen wie in Z, wo Hektor nach- einander mit seiner Mutter, mit Paris und Helena, mit der Schaff- nerin, mit Andromache, endlich wieder mit Paris Worte tauscht all das findet sich in der Aeneis nicht. Zu allermeist be- schränkt sich das Gespräch auf Rede und Gegenrede zweier

BeBchränkung des Gesprächs. 403

Sprecher^); öfters repliziert der erste noch einmal; zweimalige Rede und Gegenrede findet sich überhaupt nur in I zwischen Venus und Aeneas, und in IX zwischen Nisus und Euryalus, wenn man die kurzen abbrechenden Schlußworte des Earyalus (219 221) überhaupt noch als Gegenrede gelten läßt. Über das Zwiegespräch geht Virgil sehr selten hinaus, und fast nur bei der Wiedergabe YonEÄtsversammlungen: zu Beginn von X sprechen außer Juppiter noch Venus und Juno; im laurentischen Senat XI 243 der Berichterstatter Venulus, Latinus, Drances imd Turnus; im troischen Lager und dies ist die reichste all dieser Szenen (IX 232 ff.) Nisus, Aletes, Ascanius, Euryalus und nochmals Ascanius. Im übrigen kann man nur von aneinandergereihten Zwiegesprächen reden: in I antwortet Dido erst dem Ilioneus, darauf dem neu auftretenden Aeneas; in II (638 ff.) spricht erst Anchises und Aeneas, dann Creusa zu Aeneas, dann wieder An- chises und Aeneas; in IX erst PaUas und Aeneas, dann dieser mit Euander; in XU erst Latinus, dann Amata mit Turnus; weiterhin (625 ff.) erst Jutuma mit Turnus, dann Saces zu diesem, endlich Turnus wieder zu Juturna. Man sieht, auch in der An- einanderreihung beschränkt sich Virgil in auffallender Weise.

Diese Technik wird als bewußte dadurch erwiesen, daß Virgil wiederholt durch bestimmte Kimstmittel ein Zwiegespräch unter- brechen läßt, um es über ein- oder zweimalige Gegenrede nicht auszudehnen. In lU haben Aeneas und Andromache je einmal gesprochen: da naht (345) Helenus und begrüßt die Seinen. In IV hat Dido auf Aeneas' Gegenrede erwidert: ehe er noch ant- worten kann, verläßt sie ihn, mtUta vokntem dicere (390), Dienerinnen tragen die Ohnmächtige in ihr Gemach. In. VI hat Deiphobus, nachdem er dem Aeneas geantwortet, dringende Fragen an diesen gerichtet: aber die Sibylle schneidet die Fortsetzung des Gesprächs ab (538). In XI muß Latinus die Ratsversamm- lung, ehe noch ein Beschluß gefaßt werden konnte, abbrechen (469), da plötzlich das Anrücken der Feinde alles in Aufruhr bringt.

Es gilt die Gesichtspunkte aufzuzeigen, von denen aus Virgil

1) Man halte die Gespräche, die Aeneas in der Unterwelt mit Palinurus und Deiphobus (auch, bevor die zweite Periegese beginnt, mit Anchises) fahrt, gegen die langausgedehnten Unterhaltungen des Odysseus mit Teiresias, der Mutter, Agamemnon.

404 Drittes Kapitel. Daratellung.

zu dieser Beschränkung des Gespi^hs, also auch der Rede über- haupty gelangt ist; negatiy lassen sie sich am besten fassen.

Virgü vermeidet alles, was zur künstlerischen Wirkung direkt nichts beitragen und den Leser nichts Neues lehren, sondern nur der Vollständigkeit wegen da sein würde. Wenn die homerischen Dichter zumeist bestrebt sind, die Szene, die ihnen yor Augen steht, in all ihren wechselnden Momenten festzuhalten und dem Hörer vor Augen zu stellen, somit wirken durch Totalitat der Wiedergabe, wobei der Phantasie des Hörers möglichst wenig überlassen bleibt, so erwartet Virgil vielmehr von jedem Einzel- bestandteil der Erzählung eine gewisse Wirkung und läßt alles weg, was an sich Wirkung nicht erzielen kann.^) Dies Prinzip beherrscht bei ihm wie die Erzählung, so auch die Auswahl der Reden. Die innige Teilnahme der Andromache für Aeneas und die Seinen, die staunende Verwunderung des DeTphobus über Aeneas' Hadesfahrt drückt sich in ihren Fragen aus: Aeneas seiner- seits könnte ihnen nichts antworten, als was der Leser bereits weiß, also unterbleibt die Antwort ganz. Bei Homer spricht Agamemnon zu dem verwundeten Menelaos {/l 190) „deine Wunde wird der Arzt heilen und den Schmerz durch Kräuter stillen^, darauf zum Herold Talthybios „rufe mir schnell den Machaon, daß er Menelaos seh^, den ein Pfeilschuß verwundet hat^', worauf Talthybios ins Lager geht, nach Machaon späht, ihn erblickt bei seinen Mannen stehend, zu ihm tritt und spricht „auf, Asklepiade; Agamemnon ruft dich, daß du den Menelaos sehest, den ein Pfeilschuß verwundet hat" also drei direkte Reden mit der Ankündigung des Auftrags, dem Auftrag selbst und seiner Er- ledigung. Bei Virgil heißt es an der betreffenden Stelle (XII 391) nur ianique aderat Phoebo ante dlios dUeäus lojpyx daß man nach ihm einen Boten ausgeschickt hat und daß der Bote seinen Auftrag ausgerichtet hat, kann man sich ja denken. Virgil gibt einen Auftrag z. B. V 548 in direkter Rede wieder: Aeneas schickt zu Julus, das Trojaspiel könne jetzt beginnen; daraus er- fährt der Leser den Sinn des folgenden Aufzugs und zugleich, daß er eine von Aeneas geplante Überraschung für die übrigen Zuschauer ist. Der Auftrag, den bei Homer, um nur wenige

1) Besser also noch als für Homer würde für Virgil passen Horaz* Urteil qwjke desperat tractata nitescere passe relinquit a. p. 149.

Antwort und Frage. 405

Beispiele von vielen zu nennen, der ovXog bvBiQog an Agamemnon, Iris an Priamos, Hermes an Kalypso ausrichtet, ist ihnen vorher von Zeus in direkter Rede gegeben worden (B 8. £1 144. 29); offenbar überflüssig, da er sich aus der Bestellung selbst ergibt. Bei Virgil V 606 und IX 2 hören wir zunächst nur, daß Juno Iris entsendet; zu welchem Zwecke, erfahren wir erst gleichzeitig mit den beteiligten Menschen. Umgekehrt hören wir Didos Auf- trag an Aeneas (IV 416) direkt, nicht aber seine Bestellung: hier war die Darstellung von Didos Gemütszustand das Wichtigere. Aber einmal, bei der Nachahmung jener Entsendung des Hermes in der Odyssee, teilt auch Virgil den Auftrag, der nachher direkt ausgerichtet wird, zunächst in direkter Rede mit (IV 223): er empfand, daß die ausfuhrliche Schilderung von Mercurs Rüstung zur Fahrt und der Fahrt selbst breiterer Unterlage bedürfe als eines einfachen misit de caelo, in dem die Fahrt eigentlich schon mit enthalten ist. Daß der Beauftragte seinen Auftrag stumm entgegennimmt, ist auch bei Homer durchweg üblich; auch z. B. wenn Iris die Winde ruft, folgen diese ohne Erwiderung (^212), oder wenn ein Held den andern zimi Mitkommen auffordert, ent- sendet u. dgl. (so K 72. 148. N 468); dagegen liegt es in der Natur der Sache, daß, wo an einen gleich oder höher Stehenden eine Bitte von zweifelhafter Erfüllung gerichtet war, der Oebetene seine Zustimmung ausdrücklich erklärt (Zeus und Thetis ^ 518, Aphrodite und Hermes ^212, Hephaist und Thetis 2J 463). Virgil verfährt hier im wesentlichen gleichartig; Anna und Barce erwidern nichts auf Didos Aufträge (IV 437. 500. 641), ebenso- wenig Camilla auf Turnus' Geheiß XI 519; dagegen antwortet Aeolus der Juno (I 76), Neptunus (V 800) und Vulcanus (VIH 395) der Venus. Aber unterdrückt wird die Gewährung Amors gegenüber Venus (I 689), AUektos gegenüber Juno (VII 341). Das ist schon den alten Exegeten aufgefallen*), während sie es

1) Serv. zu I 689 sane notandum, quod interdum ubi indttcit minorem festinantem parere, maiari respondentem eum non facti, ut hoc loco Cupidinem, ut in quario ' iUe patris magni pokere paräbat imperio\ et in septimo ^exin Gorgoneis Allecto infecta venenis*. Femer schol. Veron. su VII 841 h<iec sine uVa Uctionis mtercapedine pronuntianda svmt^ quia %ai(pbv nQ6c(oitov induxit hoc ex nocendi festinatione ideoque iüam perfecta officio induxit loquentem. Natürlich konnte kein antiker Kritiker darauf verfallen, die Einführung von 'stummen Personen' überhaupt zu tadeln, wie das Georgii 823 versteht:

406 Drittes Kapitel. Dantellung.

mit Recht selbstTerstAndlich fanden, daß z. B. Opis den Befehl der Diana schweigend entgegennimmt (XI 595). Der Unterschied ist der, daß Diana befiehlt, Venus sowohl wie Juno bitten, jene sogar in sehr beweglichen Worten.^) Aber trotz dieser Form der Bitte ^ ist in beiden Fällen die (Bewährung selbstverständlich: der Sohn kann sich dem Wunsch der Mutter nicht entziehen so entspricht Hephaist 0 342 ohne weiteres der Anffordemog Heras , der Dämon dem Oeheiß der Himmelskönigin nicht widerstreben: also kann sich der Dichter auch hier die direkte Rede ersparen. Zum Entbehrlichen gehören endlich Fragen, sofern sich in ihnen nicht ein besonderes Ethos ausspricht und der Gefragte auch ohne sie seine Mitteilung machen würde; also etwa Agamemnons Frage an die aus Achills Zelt zurückkehren- den Gesandten (/ 673) und sehr vieles ähnliche bei Homer. Virgil übergeht das entweder man vergleiche Juno bei Aeolus und Venus bei Vulcan mit dem Besuch der Thetis bei Hephaist (27 424) oder des Hermes bei Kalypso {s 87) oder, wo die Situation derartiges verlangt, resümiert er kurz, statt reden zu lassen: primus lulus accepit trepidos ac Nisum dicere iussU (IX 232), Latinus legatos quae referant fori iubet et respansa reposdt ardine cuncta suo (XI 240); auch in der Nekyia, wo Aeneas wiederholt durch seine Fragen die Erklärungen seiner Führer hervorrufen muß (318; 560: hier stark pathetisch, wie seine Fragen an Palinurus, Dido, Deiphobus; 863 um zu zeigen, wie lebhaft der wehmütig schöne Anblick des MarceUus den Be- schauer bewegt), tritt einmal (710) die verkürzte indirekte ein,

ngoarog iDiLtiQog nffdaana xraqpa nuQi^Y^Y^'^ ^^? ^^^ rgayadlav schol. A 8S8, und sie sind bei ihm häafig genug. Getadelt ist an jenen Stellen überhaupt nichts worden; die antiken Kritiker empfanden nnr gerade wie wir dM Ungewöhnliche und suchten wie wir eine Erklärung: hoffentlich ist die unsrige besser als der Verweis auf die fesünatio der Beauftragten.

1) nate, meae vires, mea magna potentia soltis . . ad te canfugto et supplex tua numina posco. Juno: hunc mihi da proprium . . laboremr hanc operamy ne noster honos infractave cedat fama loco.

2) Die in beiden Fällen bestimmter Wirkung dient: die Anrede der Venus an Amor zeigt uns in diesem nicht den spielenden Knaben des ApoUonios, sondern die kosmische Macht, den trotz seiner Jugend gewaltigen €rott; die Anrede der Juno zeigt, wie weit sie der Haß treibt (dubitem haud equidem imphrare quod usqnam est): sie erniedrigt sich dazu, den verhaßten Höllendämon zu bitten.

Grespr&ch und Handlung.

um in der gleich darauf (719) folgeodeD direkten Frage {gesteigerte Erstaunen des Aeneas markieren zu können. Variation zuliebe zieht Virgil auch anderwärts indirekte '. der direkten vor: bei den homerischen Wettspielen leitet A jeden einzelnen Kampf mit derselben Wendung ein; bewußte innerung an dies Formelhafte ist es, wenn Virgil bei zwei frc auseinanderliegenden Kämpfen fast die gleichen einführe Worte anwendet^); aber nur einmal wird die Einladung Wettkampf in direkter Rede gegeben: es ist das einzig gel liehe Spiel, der Faustkampf, imd dabei kann Ethos in die forderung gelegt werden; zwei andere Male genügt die indii Rede (291. 485). Einmal auch nennt Aeneas selbst die F (309), einmal entscheidet er den zweifelhaften Ausgang (I einmal deutet er das Himmelszeichen auf den Sieg des Ac (533).

2. Virgil vermeidet weiter überall da, wo die Handlung au bestimmtes Ziel drängt, ihren Oang durch ablenkende Einl irgendwelcher Art zu unterbrechen, soweit er nicht wir! Retardation bezweckt; die angestrebte Konzentration der Wirl verbietet es, auf einem Punkt die Handlung gleichsam still st und, wie bei Homer so oft, die Handelnden im breit angele Zwiegespräch sieh ergehen zu lassen. Der Unterschied macht vor allem in den Schlachtschilderungen fühlbar. Während Schlacht bei den Schiffen tobt, treffen sich Idomeneus und Meri und führen ein langes Gespräch {N 249 294), das zum gang des Kampfes nicht das geringste beiträgt: ein Beispiel i vielen für das, was Virgil unzulässig schien. Auch er läßt hei ragende Kämpfer, wenn sie in der Schlacht aufeinander tre Worte wechseln, ehe sie die Lanze werfen: aber es sind k Ausrufe von wenigen Versen Umfang*), niemals entwickelt

1) 291 hie qui forte velint rapido contendere eursu, inviUU pretiis ai et praemia ponit, 486 protinus Aenew celeri certare Singitta invitat qui velint et praemia ponit.

2) 1X787—739. 741 fg. 747 fg. X 441— 443. 449-461. 481. 681- 649 fg. 778—776. 811 fg. 876 fg. 878—882. XI 716— 717. Xu 889— 805 die längste dieser Reden: aber hier will Aeneas den dem Kaoxp weichenden Tnmns zum Stehen bringen). 894 fg. Die Hohnrede des H\ IX 698 620 ist in ihrer Länge durch die Situation motiviert.

408 Drittes Kapitel. Darstellang.

sich zu der Ausdehnung etwa des berühmten Zwi^esprächa zwischen Achill und Aineias (T 177 258). Etwas gröBerer Raum kann den Bitten des Unterlegenen an den Si^er gewährt werden^): aber auch hier kommt es nicht entfernt zu so breit an- gelegten Auseinandersetzungen, wie sie etwa zwischen Achill und Ljkaon stattfinden (0 71 113), noch dazu nachdem über diesen Ljkaon der Dichter berichtet und Achül für sich eine Betrach- tung angestellt hat. Äußerst belehrend ist die Art^ wie Aeneas über die im troischen Yaterhause vor dem Aufbruch gepflogenen Verhandlungen berichtet (II 634 flf.). Unverkürzt wiedergegeben^ würden die Oesprache hier zu ganz erheblichem Umfange gedeihen. Wir hören aber überhaupt nicht Rede und Gegenrede, sondern jede der drei Hauptpersonen, Anchises, Aeneas und Creusa^ kommt nur je einmal zu Wort, und zwar wird jedesmal ein Höhepunkt der Handlung in dieser Weise ausgezeichnet: erstens, Aeneas trifft bei Anchises auf unerwarteten Widerstand; zweitens, nach rer- geblichen Versuchen, diesen zu brechen, entschließt er sich, in den Kampf zurückzukehren; drittens, als er sich gerüstet hat und das Haus verlassen will, fleht ihn Creusa an, um der Seinen willen zu bleiben: so ist das Dilemma herbeigeführt, aus dem nur das göttliche Wunderzeichen heraushelfen kann. Aeneas übergeht ganz kurz seine eignen ersten Worte (genitor, quem toUere in aUos optabam primum montis primumque petebam), denn er müßte da berichten, was der Leser schon weiß, und vorschlagen, was er besser nachher beim wirklichen Auszuge (707 f.) vorschlägt. Er übergeht auch den ersten Teil von Anchises' Rede (abnegat excisa vitam producere Troia exsüiumque pati), um so das Pathos der mitleiderregenden Schlußworte breiter entwickeln zu können, ohne doch durch eine lange Rede die Handlung empfindlich hemmen zu müssen. Er übergeht endlich die weiteren Versuche, den Vater umzustimmen, und dessen Erwiderungen mit knappem Resüme, weil hier Wiederholungen unvermeidlich wären. So wird das Interesse auf die am meisten pathetischen Momente der Handlung konzentriert, die pathetische Wirkung verstärkt.

3. Das führt auf einen weiteren für die Beschränkung des Gesprächs wichtigen Zug der virgilischen Kunstrichtung. Das 1) Z. B. X 624—629.

Charakteriflidsches Gespräch. 409

Gespräch, mag es nun ohne eigentliches Resultat verlaufen oder mit mehr oder weniger Steigerung einem Ziele zustreben, dient im Epos nur in seltenen Fällen recht eigentlich dazu, die Haupt- handlung zu fördern: was dazu nötig wäre, ließe sich viel kürzer sagen. Sondern es dient dazu, die handelnden Personen dem Leser nahezubringen, indem ihre Beziehungen untereinander dar- gestellt werden oder sich vor den Augen des Lesers entwickeln, befestigen, verändern. Das Gespräch gibt die beste Möglichkeit zu charakterisieren, zu individualisieren, zu differenzieren. Diese beiden Ziele strebt aber Yirgil gar nicht in erster Linie an; sie entsprechen der Art nicht, wie er den Menschen sieht und sehen lassen will. Er hat nicht das Bedürfnis, im Gespräch individuelle Gharakterzüge und Seelenregungen seiner Personen darzustellen; er hat dergleichen kaum selbst beobachtet, empfindet das aber für sein Epos auch nicht als Mangel, der durch fremdes Gut zu ersetzen wäre. Seine Psychologie genügt ihm, um das anschaulich herauszuarbeiten, worauf es ihm ankommt: die moralische Eigenart und den Affekt. Es ist weiter auffällig, wie atomistisch sozusagen die Menschenwelt des virgilischen Epos geschildert ist. Unendlich viele Beziehungen der Personen untereinander entfaltet Homer vor unseren Augen; Virgils Personen stehen fast durchweg jede für sich. Selbst im besten Falle: wie wenig erfahren wir vom inneren Yerhältnis des Aeneas zu Dido. Der Dichter bereitet die Liebe der beiden, wie wir früher sahen, aufs sorglichste vor, und aus dieser Vorbereitung kann auch die Phantasie des Hörers, in diesem einen Falle, etwas wie ein differenziertes Bild dieser Liebe ent- werfen; aber der Dichter selbst scheute davor zurück: sobald die beiden vereinigt sind, überläßt er sie ihrem Schicksal, um sie uns erst bei der Trennung wieder zu zeigen. Die gegenseitigen Be- ziehungen zwischen Aeneas und den Seinen sind mit dem einen Worte pieias bis auf den Grund zu erschöpfen: ein einziges Mal (XU 435 ff.) im ganzen Gedichte hören wir Aeneas zu seinem Sohne, dem ständigen Begleiter seiner Fahrten, sprechen: es ist eine Ermahnung zur virttis. Man sehe, wie wenig Creusas Ab- schiedsworte (H 776) über die Beziehungen zwischen ihr und dem Gatten lehren: nichts, als daß er ihr dulcis conitmx, sie seine dilecta Creusa ist und sie den Sohn gemeinsam liebten (nati serva communis amorem) also etwa das, was eine römische Grabschrift über ein Eltempaar auszusagen weiß. Einen Versuch,

410 Drittes Kapitel. Darstellung.

Beziehungen des Aeneas zu Layinius und Lavinia; Turnus und Amata herzustellen^ unterläßt Yirgil völlig: und doch hatte ihn hier die anfängliche Freundschaft Homer gegenüber in Vorteil setzen können. Endlich den Genossen gegenüber^ die den Helden ja auch von Anfang bis zum Ende begleiten , zeigt sich zwar wieder generell seine pietas: aber ob sie Achates , Misenus oder Palinurus heißen ^ macht keinen Unterschied. Nur Pallas gegen- über tritt einen Augenblick (XI 45) ein spezielles Gefühl der Verantwortlichkeit auf; aber die in VHI reichlich gebotene 6e- legenheit; dies vorzubereiten und zu vertiefen ist versäumt; und die Abschiedsrede an den Gefallenen verweilt &si nur auf dem Mitleid mit dem lebenden Vater. Ich brauche die Betrachtung auf die übrigen Personen der Aeneis nicht auszudehnen: es ist klar genug, warum das vielgliedrige Gespräch fUr Virgil kaum irgend- einen Wert haben konnte.

Wir begreifen nun auch, warum selbst an solchen Stellen, wo der Natur der Sache nach ein längerer Wechsel von Bede und Gegenrede das Gegebene wäre, Virgil dem ausweicht. Mancher andere Dichter hätte die Abschiedsszene zwischen Aeneas und Dido als einen allmählich sich steigernden Dialog geformt und durch das allmähliche Anwachsen des Affekts auf Seiten DidoB, durch den Kontrast zu der immer gleichen Ruhe auf Seiten des Aeneas große Wirkungen erzielt. Man könnte bei Virgil derartiges vielleicht um so mehr erwarten, als diese Wirkung echt drama- tisch wäre, und Virgil ja sonst dem so vielfach zuneiget. Aber ganz abgesehen von der Frage, ob ein solcher Wortwechsel (etwa wie der des Agamemnon und Achill in A, oder der wiederholte des Telemach mit den Freiem) seinem Ideal heroischer Würde entsprochen hätte: jedes solche Gespräch wäre auf eine Entwick- lung, zum mindesten auf eine allmähliche Entfaltung seelischer Verhältnisse hinausgelaufen, die für Virgil nun einmal nicht existiert: sein Ziel ist es, zwei Zustände des Affekts mögUchsi packend und erschöpfend vorzuführen, und dazu dienen ihm die beiden zusammenhängenden Reden Didos vor und nach der Ab- weisung viel besser als ein längeres Gespräch. Vollends in den Katsversammlungen der Götter und der Menschen ist die ein- malige Rede und Gegenrede für Virgil ohne weiteres das Gegebene:

Ersatz des Gesprächs. Vorbilder. 411

eine aUercatio mit ihrem raschen Hin und Wider Ton Behauptung und Widerlegung, Vorwürfen und Rechtfertigung würde auch der Historiker umstilisieren in je eine zusammenhängende Dar- legung der beiderseitigen Meinungen: so gewinnt der Leser ein reineres Bild und nur darauf, nicht auf exakte Wiedergabe der Wirklichkeit, kommt es ja auch dem Historiker an , und nur in der oraiio kann sich die Kunst des Re(kiers in ihrem ToUen Glänze zeigen. Virgil hat aber doch gelegentlich das Be- dürfiiis gefühlt, das Ausbleiben eines wirklichen Gespräches zu motivieren. Daß Aeneas Didos erste Rede, ohne zu protestieren, ruhig bis zu Ende anhört, ist nicht bloß Höflichkeit: er muß nach Fassung ringen, weil er selbst aufs heftigste ergriffen ist und doch äußerlich ruhig bleiben muß: obnixus curam suh corde jßremebai, t andern pauca refert (Vf 332). Daß der ungestüme Tiirnus die Rede des Latinus mit ihren fast beleidigenden Zu- mutungen nicht unterbricht, könnte ver wundem: so läßt ihn Virgil durch Latinus ausdrücklich beschwichtigen (XH 25, s. o. S. 174, 3), und Turnus' Antwort wird eingeleitet ut primum fari potuü, sie institü ore (47). Diese Konzessionen an den Realismus zeigen immerhin, daß Virgil nicht gedankenlos die Formen ge- wählt hat, die seinem Stil gemäß waren.

Ob Virgil für diese Behandlung des Gesprächs klassische Vorbilder in der erzählenden Dichtung hatte, weiß ich nicht. ApoUonios kennt diese Form nicht: wir finden z. B. im dritten Buch der Argonautica lange Gespräche zwischen Hera, Athene und Aphrodite (t. 10 HO), zwischen Medeia und Chalkiope (674—738), zwischen Medeia und Jason (974—1144). ApoUonios' Antipode Theokrit vollends überträgt auch auf die heroische Er- zählung die halbdramatische Form seiner Bukolik und berichtet das Gespräch zwischen Polydeukes und Amjkos in Gestalt einer dramatischen Stichomythie (XXII). Virgil selbst hat noch in der Aristaeusgeschichte der Georgica kurze Gesprächsbruchstücke (353. 358. 380. 445), aber die lange Einzelrede überwiegt. Möglich, daß in der neohellenistischen Poesie zugleich mit der Steigerung des pathetisch -rhetorischen Elements die Gesprächsform, wie wir sie in der Aeneis finden, sich mehr und mehr entwickelt hatte, aus- gehend vielleicht vom zusammenhängenden pathetischen Monolog, der seinerseits in der erzählenden Elegie einen sehr günstigen Nährboden gefunden hatte. In Gatull 64 findet sich nur dreimal

412 Drittes Kapitel. Danteilung.

direkte Rede: die Klage der Ariadne; der Auftrag des Aegeus (auf den Theseus nichts erwidert)^ das Lied der Parzen. Der Verfasser der Ciris gibt das Gespräch zMrischen Scylla und ihrer Amme nicht, wie es die Realistik verlangen würde, in der Form kurzer wiederholter Reden und Gegenreden, sondern ganz in virgilischer Art (freilich vielleicht auch wesentlich nach virgilischem Vorbild): eine lange Ansprache der Carme (224 249), eine Antwort der Scylla (257—282), eine Schlußrede der Carme (286—339). Auf eine andere schriftstellerische Gattung, die als Vorbild Virgils in Betracht kommen könnte, habe ich schon soeben hingewiesen: die Historiker, bei denen man in der Tat die genaueste Ent- sprechimg für die virgilischen Versammlungsreden und feierlichen Ansprachen finden dürfte.

T.iX

Et <}e

1) Man vergleiche die schönen Bemerkangen A. W. Schlegels, Werke XI iy3fg.

2) Wenn Hephaistos Z 894 ff. der Charis die Geschichte von seiner Rettung durch Thetis und Eurynome erzählt, so geschieht das nicht, weil das für die Hörerin im Augenblicke wissenswert wäre, sondern weil Homeit Hörer das Pietätsverhältnis kennen lernen soll, in dem der Gott sa der Bitt- stellerin sich weiß.

K

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o. So sehr Virgil in dem bisher Betrachteten sich vom Drama entfernt, so sehr nähert er sich ihm wieder in der Konstruktion der einzelnen Reden. Auch hier gehen wir vom Vergleich mit Homer aus. Das Charakteristische der altepischen Rede ist^ kurz ( gesagt, ihre unbegrenzte Er weiter ungsfähigkeit^), vor allem in der Aufnahme neuen epischen Stoffes. Wo und wann immer es dem Dichter beliebt, läßt er die Rede zur Erzählung werden^ mag das auch der realistisch betrachteten Situation so unangemessen wie möglich sein. Freilich entspringt diese Eigenheit der epischen Reden durchaus nicht nur, wie man es allzu einseitig au&ufassen pflegt, der unersättlichen Fabulierungslust des Dichters; vielmehr bedient er sich dieser Einschaltungen auch als eines bequemen kon- ventionellen Mittels, um dem Hörer tatsächliche Voraussetzungen für die Empfindungen seiner Personen mitzuteilen, durch die ihre Handlungen in helleres Licht treten^), ihre Beziehungen zu den Gegenspielern psychologisch vertieft werden. Diese Erweiterungs- fähigkeit ist aber nur die auffallendste Konsequenz des Stilpnnzips,

l

Erzählunfjf in der Bede. 413

i tmter dem die Einzelrede wie das ganze Epos steht. ^Man be- merkt kein Hinstreben zu einem Hauptziel^ wenn dies auch in dem Inhalt der Rede vorhanden ist; jedes^ wodurch das folgende vorbereitet wird, scheint doch nur um sein selbst willen da zu stehen: ganz das verweilende Fortschreiten, die sinnlich belebende Umstän(Uichkeit, die leichte Folge, die lose Verknüpfung, wie im Epos überhaupt.' In dem allen ist die virgilische Rede das gerade Gegenteil. Konzentration heißt ihr Prinzip: die Rede ist der Aus- f druck eines einzigen Affekts, eines Vorsatzes oder Gedankenganges. Statt der leichten Folge strenge Geschlossenheit; statt der Um- ständlichkeit pointierte Prägnanz des Ausdrucks; statt der sinn- lichen Belebung wesentlich Gefühlsausdruck; statt des verweilen- den Fortschritts energisches Streben zu einem Ziel oder ver- weilendes, aber ebenso energisches Erschöpfen einer Empfindung. Virgil empfindet wohl, wie sehr gerade jene Erweiterung der Rede durch erzählende Einfügungen für den epischen Ton, den er doch anstrebt, wesentlich ist. Er vermeidet sie also keines- wegs, sucht vielmehr nach Gelegenheiten dazu: aber für ihn ist Gelegenheit erst da, wenn sich die Einschaltung aus der Situation genügend motivieren läßt, d. h. zum Zweck der Rede, also auch zur Handlung etwas Wesentliches beiträgt: imd solche Gelegen- heiten ergeben sich nicht gerade häufig.^) In einem Falle dienen solche epische Einlagen der Ethopoiie: wenn Euander, der alte König, außer den selbständigen Erzählungen von Hercules und von Saturn auch sonst Erzählungen einflicht von seiner Be- gegnung mit Anchises VIH 157, von Mezentius' Gi-ausamkeiten 483, von seinem Kampf mit dem Praenestiner Erulus 561 , so soll dieser Zug an Nestor erinnern und damit das Wesen Euanders bestimmt werden; aber, anders als bei Nestor, sind all diese Er- zählungen durch die Situation sorgfältig motiviert, mit Ausnahme der letztgenannten, wo die Imitation deutlich empfunden werden

1) I 39 Juno über Pallas' Rache an den Griechen, I 242 Venös' Bericht über Anienor, 341 über Dido, 619 Didos Bericht über Teucros' Anwesenheit in Sidon, 11 640 Priamos über Achill, UI 623 in Achaemenides' Rede die Erzählung von Odysseus bei Poljphem, V 803 Neptun über die Rettang des Aeneas vor Troia, VI 682 die Sibylle über die Aloiden und Salmoneus, 896 Charon über Hercules und Theseus, VI! 206 Latinus über Dardanos, VIII 61 Tiberinus über die Ansiedelung der Arkader, XI 261 Diomedes über die v6ötoi der Griechen und die Verwandlung seiner Genossen in

414 Drittes Kapitel. Darstellung.

soU^) und Virgil es zugleich erreicht, eine italische Legende ein- zuflechten, die in den Katalogen keine Stelle fand. Zu dieser einen Abweichung vom feststehenden Stilgesetz tritt eine zweite weit merkwürdigere in der großen Erzählung der Diana über Camillas Jugend, XI 539 584.^) Daß diese Erzählung in der Situation höchstens eine ganz notdürftige Motivierung findet, li^ auf der Hand; Yon Absicht der Ethopoiie kann nicht die Bede sein. Rechnet man dazu^ daß in der Erzählung selbst die Er- zählerin, obwohl sie an der Handlung beteiligt ist, sich selbst völlig zurücktreten läßt, ja da, wo ihre Erwähnung nicht zu um- gehen ist, von sich selbst in dritter Person spricht'), und erw^ man endlich, daß das in der Erzählung gezeichnete Bild der Camilla mit dem an anderen Stellen uns gegebenen durchaus nicht harmoniert*), so wird man nicht zweifeln, daß hier ein vorläufiger Versuch des Dichters letzter Hand entbehrt.^)

Vögel. Reden, deren einzigster oder wesentlicher Zweck Erzählung ist Sinon, Palinurus, Deiphobus etc. gehören natürlich nicht hierher.

1) 0 mihi praeteritos referat si luppiter annos, qualis eram cum primam aciein Praeneste sub ipsa stravi = ^ 670 i£9'* mg rjfimoifu^ ßiri di iloi l^xedo; sUri, ms bnox 'HXsioiöi xai riyiXv vklxog Mx^ri etc. Aber die homerische Erzählang erstreckt sich über beinah hundert, die virgilische über sieben Verse, und wie um den Einschub noch mehr zurücktreten zu lassen, wird 568 die vorher begonnene Satzkondtruktion festgesetzt.

2) Als eine vom Dichter in eigenem Namen der Rede eingefügte Parenthese können diese Verse unmöglich gelten; das wäre ohne jedes Bei- spiel nicht nur bei Virgil, sondern m. W. in der antiken Epik überhaupt; und nach analogen Singularitäten wird man bei Virgil vergebens suchen. Und wie sollte dem antiken Leser diese Absicht des Dichters verdeutlicht worden sein?

3) Die Nennungen in v. 537 neque enim novos iste Diancte venu amof und 682 sola contenta Diana aeternum . . amorem colit würde man sich noch gefallen lassen, obwohl doch auch in den nächststehenden Beispielen (etwa Xll 66 per si quis Amatae iangit honos animum) die Nennung des Namens durch größeres Pathos besser gerechtfertigt ist (s. darüber jetit Norden 259 fg.). Aber ganz schlimm steht es mit donum Triviae 566, und vollends unbegreiflich ist, daß Diana, die von Metabus angerufen die kleine Camilla beschützt hat, das nicht von sich in erster Person berichtet: das beweist m. E. unwiderleglich, daß die Erzählung ursprünglich nicht für die Rolle der Diana geschrieben war.

4) S. o. S. 214, 1.

5) Ribbeck hielt v. 537 neqyie enim bis 584 intemerata colit für späteren Zusatz. Zum mindesten ist diese Abgrenzung verfehlt, da, wie Sabbadini, Studi critici 87 mit Recht betont, das cara mihi comüumque foret

416 Drittes Kapitel. Darstelloxig.

von seiner Regel nicht abgeht, ist schon oben S. 287 fg. gezeigt worden; eindringliche Überzeugungskraft sucht er seiner Schilde- rung durch größtmögliche Vollständigkeit der erregenden Momente zu geben. Wie hier der Dichter den Leser zu gewinnen sucht, 80 läßt er auch seine Personen untereinander yerfahren: soll jemand durch Bitten oder Überredung gewonnen werden, so ge- nügt nicht ein Argument, das etwa durch Vertiefung oder Aus- führung wirksam gemacht würde, sondern es werden möglichst yiele Argumente aneinander gereiht. Das gilt nicht nur von längeren Ansprachen, wie der der Venus an Juppiter I 229 ff. oder der Dido an Aeneas IV 305 ff., sondern auch von ganz kurzen Anreden. Die Bitten, die Magus X 524 ff. an Aeneas um sein Leben richtet, sind den Bitten des homerischen Adrestos Z 46 nachgebildet; dieser setzt seine Hoffiiung ausschließlich auf die Gewinnsucht des Gegners, dem er reiches Lösegeld verspricht: Magus vergißt das nicht gleichfalls zu tun, aber vorher noch appelliert er an die Gefühle des Aeneas als Sohnes und Vaters, um das Mitleid mit seinem eignen Vater und Sohn zu wecken^), und zum Schluß argumentiert er, daß ein Toter mehr oder weniger für den Sieg der Teuerer nichts bedeute: das alles ohne wesentlich mehr Worte zu brauchen als das homerische Vorbild. Wenn Somnus in Phorbas' Gestalt den Palinurus zum Schlaf bewegen will (V 843—846), drängt er in wenigen Versen zu- sammen den Hinweis auf die Ruhe der Wogen und das gleich- mäßige Wehen der Winde, die bisherigen Anstrengungen und die Müdigkeit des Steuermanns, den Ersatz, den er selbst leisten will; und Palinurus weist das Angebot ebenso kurz (848 851) zurück, indem er die Unzuverlässigkeit des Ungeheuers Meer, die täuschenden Winde, den Trug des heiteren Himmels hervorhebt, seine eigene Erfahrung in diesen Dingen erwähnt und auf das Verantwortliche seiner Stellung hinweist, da es Aeneas sei, der sieh ihm anvertraut habe. In den zahlreichen anfeuernden Za- rufen der homerischen Könige an ihre kämpfenden oder zaudern- den Mannen pflegt der kurze Appell an die Ehre oder die augen-

1) per patrios manis et spes surgentis luli te precar^ hane €inimam servei gnatoque patrique. Das mag entwickelt sein aus Hektors Bitte X 338 Hc€o^ inhg 'ijyvxfjs xal y(n)vcov a&v ts toxiJoov: aber charakteristisch für Virgil ist es, wie der einfache Gedanke 'ich bitte dich, bei dem was dir das liebste ist' nach einer ganz anderen Seite entwickelt wird.

Vollständigkeit d«r Rede. 417

blicklichen günstigen Anjssichten auf Erfolg oder die Gefährlichkeit der Lage oder die Folgen von Sieg und Niederlage allein zu stehen oder doch nur wenige dieser Motive verbunden zu werden; wenn Pallas X 369 seine Scharen anfeuert , so appelliert er zu- nächst mit der Anrede socii an ihr kameradschaftliches Gefühl, sodann erinnert die Beschwörung per vos et fartia facta usw. an ihre eigene ehrenvolle Vergangenheit , an ihre Treue gegen Euander und dessen frühere Erfolge^ an seine eigenen ehrgeizigen Hoffnungen, endlich an ihre Verpflichtungen gegen die gemein- same Vaterstadt und ihre Größe (vos et Pallanta ducem patria aUa reposcity^ dann folgt die Beleuchtung der augenblickUchen Lage: wir kämpfen gegen gleichstehende Sterbliche, nicht gegen göttliche Abgunst, wir sind den Feinden an Zahl gleich; wir sind andererseits auf £iimpf und Sieg angewiesen, da uns nach jeder Richtung die Flucht abgeschnitten ist. Man sieht, die Arkader werden mit einer Flut von Argumenten überschüttet, jedes einzelne so kurz und inhaltsreich angedeutet, daß keine Inhaltsangabe kürzer sein kann als die Rede selbst. Ebenso Annas Suasoria an Dido, IV 31 49: was nur irgend gegen Didos Alleinbleiben und für die neue Ehe sprechen kann, ist hier knapp zusammen- gedrängt — im homerischen Stil würde diese Argumentation Seiten füllen , und man hat nicht den Eindruck, daß der Dichter an die Möglichkeit gedacht habe, ob Anna sich das alles so rasch klar machen und Dido alles einzelne sofort in seiner ganzen Tragweite würdigen könne; vielmehr wird Annas Rede vom Dichter nur als Vorwand benutzt, um die Tat Didos möglichst erschöpfend psychologisch zu motivieren. Lehrreich ist endlich, um nur noch ein Beispiel anzuführen, der Vergleich von Latinus' Mahnung an Turnus (XII 19 ff.) und Priamos' Mahnung an Hektor, vom Kampf mit dem überlegenen Gegner abzustehen. Priamos verweilt auf zwei Punkten: auf dem Schicksal seiner beiden Söhne Ljkaon und Polydoros hier schweift er vom eigentlichen Zweck seiner Rede weit ab und auf dem traurigen Schicksal das ihm selbst nach Hektors Tode bevorsteht: das wird mit grausam schmerzlicher Anschaulichkeit breit ausgemalt. In Latinus' Worten verbindet sich mit der Schilderung dessen, was Turnus nach dem Verzicht auf Laurentum und Lavinia verbliebe, der Hinweis auf den Willen der Götter und die traurigen Folgen, die seine Mißachtung bisher schon gehabt hat; dann zeigt der

Hains e, VirgUs epische Technik. 8. Aufl. 2X

418 Drittes Kapitel. Dantellnog.

König; warum er selbst wünschen müsse^ den Krieg zu beenden; schließlich erinnert er nor verschleiert und kurZ; mit kluger Berechnung auf Turnus' Charakter an das GeßLhrliche seines Vorsatzes {respice res beUo varias) und führt ab letztes die schuldige Rücksicht auf den hochbetagten Vater des Turnus ins Feld. Wenn das alles zusammengenommen nicht Erfolg hai, so wird freilich' nichts mehr helfen.

Wenn Magus und Turnus (XII 933) den Aeneas bei seiner Vaterliebe zu fassen suchen , Anna ihr Zureden am eindrucke- vollsten mit dem Blick auf die glänzende Zukunft Karthagos ab- zuschließen glaubt, Latinus in seiner eben besprochenen Warnung die Gefahr, die Turnus selbst läuft^ ganz in den Hintergrund stellt^ so spricht aus dem allen und zahlreichen verwandten fallen eine kluge Rücksicht auf die persönlichen Eigenschaften des An- geredeten, die zu den hervorragenden Merkmalen der virgilischen Rede gehört: sie charakterisiert nicht nur den Sprecher, sondern auch den Hörer. Es ist gewiß gewollter Gegensatz^ wenn Pallas seine Arkader, die Urrömer, an ihre kri^erische Ehre mahnt, Tarchon im gleichen Falle seine Etrusker mit beißendem Hohn überschütten muß, um sie zum Standhalten aufzustacheln (XI 732); und wenn andererseits wieder Androgeos, um die vermeintlichen säumigen Landsleute zur Eile zu mahnen, ihnen vorstellt, wie andere bereiis im besten Plündern seien (alii rapiufU incensa feruni- que Pergama U 374), so verurteilt dieser Zug in des Dichters Augen ihn wie die Griechen überhaupt.

Diese feine Berechnung der Rede auf den Charakter des Hörers ist nur ein besonders bezeichnender Beleg für die äußerst berechnete Haltung jeder Rede, die ein bestimmtes Ziel zu er- reichen strebt. Das Meisterstück in dieser Beziehung ist Sinons große Rede, bei der oben S. 11 auf einzelnes hingewiesen wmrde. Es bedarf weiter keiner ausgeführten Beispiele: dem aufinerksamen Leser etwa der verschiedenen Bittreden der Venus (1229; V 781; Vni 374, wobei freilich 387 fg. dazu zu rechnen ist) können die zahlreichen einzelnen artificia nicht entgehen. Aber das mag doch erwähnt werden, wie selbst in den Gebeten, vielfältig variiert, versucht wird, durch besonders berechnete, stets nur flüchtig an-

Bereehnung der Rede. 419

gedeutete Argumente die Götter zur Gewährung zu bewegen: dahin gehört abgesehen von Gelübden (V 236; IX 625 u. ö.) wenn Aeneas im Gebet an die Magna Mater sich und die Seinen als Fhryges bezeichnet (X 2bbY\ wenn er Apollo daran erinnert^ daß er seiner Führung bisher gefolgt sei (VI 59); wenn der Jäger Nisus Luna die Jägerin an die ihr geweihten Jagdtrophäen (IX 407), Pallas den Hercules an die bei Euander genossene Gast- freundschaft gemahnt (X 460), andererseits Turnus (XII 777) den Faunus zu gewinnen sucht, indem er die Troer beschuldigt, seinen heiligen Baum umgehauen zu haben, den die Eingeborenen stets in Ehren gehalten hätten. So soll denn fiir den prahlerischen König Jarbas und seine barbarischen GottesYorstellungen be- zeichnend sein, daß er auf den Himmelskönig Juppiter mit Vor- würfen, die zugleich versteckte Drohungen enthalten, Eindruck zu machen sucht (IV 206 flf.).

Der naive Redner stellt die Sachlage so dar, wie sie ihm erscheint, indem er darauf yertraut, daß der Angeredete sie dann ebenso ansehen und die Konsequenzen ziehen wird, die er, der Bedner, selbst für sich zieht und yom andern gezogen wissen möchte. Der berechnende Redner denkt zunächst nicht daran, wie er sein eigenes Gefühl möglichst deutlich äußern könne, sondern daran, was wohl den andern von dessen Standpunkte aus bewegen könne, in dem gewünschten Sinne zu handeln. Er sucht also die Sachlage in erster Linie so darzustellen, nicht wie sie ihm erscheint, sondern wie sie dem andern erscheinen soll. Er wird leicht dazu geführt, Tatsachen zu verschweigen, zu ent- stellen oder zu erfinden^ wenn er sich Erfolg davon verspricht.*)

1) So werden die Troer soost mit Vorliebe von ihren Feinden in ver- ächtlichem Sinne genannt: IV 108 und VIl 294 Juno; YU 868. 868 Amata; 430 Allecto; Vn 679, IX 184, XI 408, XII 76. 99 Turnus; IX 699. 617 Nu- manuB; XI 484 die Matronen von Laurentum.

2) Diese Beobachtung wurde auch von den Homerinterpreten benutzt, um Widersprüche zwischen den Behauptungen eines Redenden und der übrigen Erz&hlung zu erklären: schol. Z 166 Srai; . . i]^lQig sünrj tm kiiXUl

vHv^ äXlcc naQOQufjaat a^röv slg trjv xccrcc t&v ßaQßdgav dffyijv. Heras Sendung der Iris an Achill ist das Vorbild der Szene bei Virgil IX 1 ff., Sendung der Iris an Turnus zum Zweck des nuQogiLijaai: möglich, daß Virgil in absicht- licher Nachahmung des homerischen %l)eü9og Iris die Wahrheit übertreiben läßt: oben S. 886.

420 Drittes Kapitel. Darstellang.

In solchen hinterhaltigen Insinuationen sind die virgilischen Redner groß; natürlich bedürfen ihrer zumeist die Vertreter einer schlechten Sache, also hier die Feinde der Troer. Das Meisterstück dieser Kunst ist, wie billig, die Rede der Allecto an Turnus VII 421 £: wie da in wenigen Worten die gesamte Sachlage verdreht wird, so daß Turnus als der um den wohlverdienten und yerheißenen Lohn seiner Mühen Geprellte, Latinus als der gewissenlose Egoist erscheint, der den arglosen Turnus ausnutzt und ihn hinterher auslacht das ist des höllischen Dämons würdig. Die von AUecto eingegebenen Worte Amatas VII 369 fiP. treten dem fast ebenbürtig zur Seite: in beiden Fällen wird mit raffinierter Kunst jede direkte Unwahrheit vermieden, und doch ist das Ganze eine große Lüge. Wie gefährlich diese WafiPe im politischen Kampfe sein kann, hatte VirgiL nur zu reichlich Gelegenheit gehabt^ selbst zu beobachten; es ist fast selbstverständlich, daß Drances, der Typus des politischen Parteiführers, sich ihrer gegen Turnus bedient (XI 343): mit großer Geschicklichkeit drängt er ihn in die Rolle des rücksichtslos egoistischen Tyrannen, der keinen Willen neben dem seinen aufkommen läßt, jeden Widerspruch bereit ist mit Gewalt zu ersticken, das Volk als minderwertige Masse verachtet: man weiß, wie häufig in den römischen Parteikämpfen gerade dieser für den guten Republikaner schwerste Vorwurf hin und her geschleudert wurde. Turnus verwahrt sich [denn auch gerade gegen dies formidine crimen acerbare (407) mit größter Empörung. Selbst in den Parteikämpfen der Götter werden solche vergiftete Waffen zugelassen. Venus freilich wiU nur Mitleid mit den Troern erwecken, wenn sie wider besseres Wissen, statt von einem Hilfs- gesuch der Latiner bei Diomedes zu sprechen, die abermalige Er- hebung des Diomedes gegen die Troer als Tatsache hinstellt (X 28), und wenn sie dann auf das troische Reich in Latiiun ver- zichtet, Karthago die Herrschaft in Italien zugesteht und nur bittet, den Ascanius zu ruhmlosem aber ruhigem Dasein entführen zu dürfen, so ist dies listige Verstellimg, um dem Juppiter ein- dringhch vor Augen zu führen, wie weit es der Haß der Juno bereits gebracht hat steigert sie sich doch am Schluß sogar zu der Bitte Herum revolvere casus da paier Iliacos Teucris})

1) Also ein echter X6yos i6%rnLaxia[Livog^ der etwas ganz anderes za erreichen sucht, als was er sagt, vgl. Serv. zu 33. 42. 60. Als figuriert faßt

Entstellungen. 421

Aber wenn Juno in ihrer Antwort durchblicken läßt, die den Troern gegebenen Schicksalssprüche bestanden wohl nur in den Weissagungen der rasenden Cassandra^), so ist das böswillige Entstellung, desgleichen wenn sie die Troer als frevelnde Rauber hinstellt, die friedliche Absichten nur vorgespiegelt und Krieg gewollt hätten (77 80); und wenn sie Venus für die Verwand- lung der troischen Schiffe in Nymphen verantwortlich macht, so konnte das nur ein Dichter erfinden, der in seiner Jugend tag- täglich von der Rednertribüne die gröbsten Verleumdungen gegen politische Gegner hatte aussprechen hören und wirken sehen. Man weiß ja, daß selbst die Theorie der Rede Entstellungen und Verschleierungen der Wahrheit, sofern sie nur dem Endzweck zugute kamen, nicht mißbilligte'), mochte sie das auch nicht so kraß ausdrücken, wie es Servius gelegentlich übrigens wohl am unrechten Orte faßt: in arte rhetorica tunc nöbis concedüur uti mendaciOy cum redargtiere nuUus potest,^) In dem letzterwähnten Falle trifft das freilich insofern nicht zu, als den sämtlichen Oöttem natürlich der wirkliche Hergang bei der Verwandlung der Schiffe ebensogut bekannt ist wie Juno selbst: sie wird hier vom Pathos fortgerissen, das ja unwillkürlich zu Entstellung und

Servius auch die Bede des Latinus XI 802 ff., die sich versteckt gegen Tnrons richte: zu 312 excusatio haec ostetidü obliquam esse in Tumtim ora- tionetn LcUini, also das axljiuc nXdyiov, Ebenso beim Schloß der Turnus- rede, zu 434 utitur ductu (axrnuetufiLOs) : nam oblique promitHt se singulciri eertamine dimicare veüe, cum nolit

1) Italiam petiit fatis attctoribus, esto, Cassandrae impulsus furiis 67 fg.

2) Z. B. Quintil. II 17, 20 orator cum falsa utüiMr pro vero, seit tsse falsum eoque se pro vero uti; non ergo falsam habet ipse opinionem sed fallü alium. nee Cieero, cum se tenebras offudisse iudieibus in eausa Cluentiana gloriatus est, nihil ipse vidit.

3) Zu IX 186 sunt et mea eontra fata mihi. Turnus kann sich, wenn hier überhaupt eine bestimmte göttliche Verheißung und nicht das bloße Vertrauen auf den Sieg der guten Sache gemeint sein sollte, recht wohl auf die ihm im Traum gewordene Verheißung der Juno berufen: ipsa palam fari omnipotens Satumia iussit VII 428, außerdem auf die siegverheißende Mahnung der Iris IX 6 ff. Dagegen hat Servius vielleicht Becht, wenn er zu Vni 18 in der Meldung der Latiner an Diomedes muUM viro se adiungere gentis eine bewußte Unwahrheit erblickt: richtiger noch vielleicht eine be- wußte Übertreibung und Entstellung dessen, was VII 236 ff. der troische Gesandte Ilioneus sagte: multi nos poptUi . . . et petiere sibi et voluere adiungere gentes.

422 Drittes Kapitel. Daxstellimg.

Übertreibung führt. ^) Dido glaubt in ihrer höchsten Err^ung selbst daran, nicht nur die Troer vom Tode^ sondern auch ihre Flotte vom Untergange gerettet zu haben (IV 375) ^ sie glaubt selbst, schon als sie Aeneas aufnahm, ihn als Frevler und LOgner gekannt zu haben (697), und wie hier bei Dido, so verschieben sich auch sonst dem aufgeregten Sinne die Tatsachen, ohne daß eine Wirkimg auf andere beabsichtigt wäre: das von Pallas an den kriechen vollzogene Strafgericht nimmt für Juno ungeheuer- liche Dimensionen an*), weil das ihrer Empörung über die eigene Ohnmacht Nahrung gibt: hier ist Juno gleichsam ihr eigenes Publikum, se susciUU ira.

8. Nach allem Gesagten wird man von vornherein auch bei der Disposition der virgilischen Rede ein reiches Maß von Überlegung und Berechnung zu finden erwarten. Wer da gelernt und er- fahren hat, wie sehr die Wirkung einer Rede von der Anordnung ihrer einzelnen Teile abhängt, wird ganz unwillkürlich auch hierin den Regeln der Kunst folgen. Man sehe etwa, wie in der Hohn- rede des Numanus IX 598 fiP. sich in klarer Ordnung ein Gedanke an den andern reiht: er will die Troer aus ihrer Yerschanzung locken, also zunächst der Vorwurf der Feigheit; 'ihr schämt euch nicht?' Das führt zu dem Verächtlichen 'und das sind die Leute, die, wahnsinnig genug, mit den Waffen uns das Eonubium ab- trotzen wollen! uns, die wir doch weit mehr bedeuten als die Griechen, denen sie bereits einmal erlagen.* Nun dies *wir* aus- geführt: Schilderung des italischen Lebens nach den Altersstufen: Kinder, Jünglinge, Männer, Greise. 'Und was tut ihr dag^^? ihr schmückt euch und lebt in träger Üppigkeit.' Folgerang: 'Darum geht ihr zu euren phrygischen Orgien in die Heimat und weicht uns Männern': die stärksten Beschimpfungen o vere Phrygiae neque enim Phryges und sinite arma viris am Schlüsse.*) Diese

1) Schol. zu A 299 inü n* icfpilB^^i ys &6vTsg gegen Zenodots Versach, durch die 'Verbesserung' inel \l i^iUvg &(peXiöd'ai das i^cD^o; su beseitigen: 6qyV ^f^ivoTiOLSl (6 kxt'U,s^s) tlg anavtocg^ cb? rbv atxiov xi^q itpccigiasrng itywoi^ (nach Lahrs' und Friedländers Schreibung).

2) 1 39 Pallas exurere dassem Argvocm atque ipaos potuü 9ubmergere ponto. 8) Für weitere Beispiele kann ich jetzt auf Nordens Analysen der

Reden des 6. Buches verweisen. Aber in der DurchfähruDg der ifaetoritohea

Disposition der Bede. 423

Eigenschaften behält auch die afifektische Rede. Die Klagen des Aeneas an Pallas' Leiche beziehen sich nacheinander auf den Toten (XI 42—44), auf Euander (45—67), auf die Zukunft des Reiches und seinen Beherrscher, Julus (57. 58); bei Euander wird wieder erst an die Vergangenheit erinnert, dann die Gegenwart erwogen, drittens das Kommende yorausgesagt; zum Abschluß die cansoUUio vorweg genommen. Aeneas selbst stellt sich nicht in den Vorder- grund und Terschweigt, was er unmittelbar an Pallas yerloren hat: er ist indirekt getroffen dadurch, daß des Toten nun ver- eitelte Freuden seine eigenen gewesen wären (42 fg.), daß er dem Vater gegenüber sich für den Sohn verantwortlich White (45 ff. 55), und was als selbstverständlich nicht gesagt zu werden braucht daß er an der Zukunft der Seinen den wärmsten An- teil nimmt. Didos erste Rede an den scheidenden Aeneas zer- fällt in zwei Teile: Vorwürfe (indignatio) (IV 305—313), Bitten (miseratio) (314 330); der Übergang vom einen zum andern sehr ungezwungen: 'Du hast es so eilig mit deiner Flucht, daß du selbst der winterlichen Stürme nicht achtest, und doch ist es nicht einmal die Heimat, sondern ein fremdes Land, dem du zustrebst': daran schließt sich von selbst der Gedanke an das, was

Schemata geht mir Norden zu weit. Virgil selbst, glaube ich, würde es als stilwidrig empfunden haben, die sermones seiner Personen nach dem Schema der arationes zu komponieren. Wenn im Gespräch der eine ünter- redner, bevor er sein Anliegen vorbringt oder seinen Bericht erstattet, zn- nächst auf die Worte des anderen erwidert, wie z. B. Aeneas gegenüber der Sibylle 103 106, Palinurus 347 fg. und Deiphobus 609 fg gegenüber Aeneas, so ist es schwerlich im Sinne der rix^^ ^^®^ ^^^ prooemium zu bezeichnen, und ebensowenig würde ich in Aeneas' Rede die Verse 116 128, die mit 110 116 aufs engste zusammenhängen, oder in Palinurus* B«de die Bitten an Aeneas 863 371 als Epilog von einem eigentlichen Xöyog absondern. Wenn Palinurus zuvörderst die irrige Annahme des Aeneas zurückweist, so^ dann erzählt, was ihm in Wirklichkeit zugestoßen ist und was er jetzt leidet, endlich daran die Bitte knüpft, ihn aus seinem Elend zu erlösen, so ergab sich diese Anordnung aus der Sache selbst so unmittelbar, daß es wahrlich, um sie zu erklären, nicht der Erinnerung an technische Dis- positionsvorschriften bedarf, und ebensowenig glaube ich, daß die Erzählung des Deiphobus 509 680 anders hätte ausfallen können, wenn Virgil von allen Regeln über die xQodirjyriaig und Sirjyriaig oder über die nsgicraoeig nie etwas vernommen hätte. Wenn ich oben von 'Regeln der Kunst' spreche, meine ich auch viel weniger spezielle Vorschriften über Anordnung und Ausführung der partes orationis, als die allgemeinen Regeln, daß ein lucidus ordo da sein müsse, daß Steigerung zum Sclilusse zweckmäßig sei u. dgl. m.

424 Drittel Kapitel. Daratellimg.

er aufgibt: metie ftigis? Die Bitten wieder stützen sich auf das Vergangene 315-318, das Gegenwärtige 320—323, das Zu- künftige 324 326; den SchlaB bildet, onmittelbar herrorgemfen durch den Gedanken an die Zukunft, die Klage, nicht wenigstens im Bild eines Söhnleins den Geliebten weiter besitzen zu sollen: wenn etwas, so mußte dies letzte den Hartherzigen rühren und zum Verweilen zwingen.^) Wie Aeneas seinerseits die Vorwürfe einen nach dem andern kurz zurückweist, um dann ausführlich und Punkt für Punkt darzulegen, daß seine Abfahrt keine frei- willige sei, das brauche ich nicht zu zeigen.

So sicher nun auch der Dichter in diesen drei Fallen, die als Vertreter vieler anderer genügen werden, sich den Stoff dis- poniert hat, so sehr hat er doch andererseits vermieden, diese Disposition äußerlich hervortreten zu lassen: er verwischt die Gliederung mehr, als daß er sie markierte. Die Unnatur, die darin liegt, daß ein heftig erregter Mensch die Äußerungen seiner Gefühle sorgfältig disponiert, wird durch größte Kunst der Natur wieder so weit wie möglich angenähert, das Knochengerüst der Rede so wohl überkleidet und die Übergänge so weich angelegt, daß man ein lebendes Gebilde, kein Skelett zu sehen glaubt Also keine kühle propositio, sondern ein Sprung in medias res, ein Ausgehen vom Nächstliegenden; keine Ankündigung oder Hervorhebung der neuen Teile ^), keine ausdrücklichen Schluß- formeln; psychologische, nicht logische Gedankenfolge, ganz ent- sprechend dem Zweck der Rede, die bei Virgil weit überwiegend nicht auf den Verstand, sondern auf das Gefiihl zu wirken be- rufen ist. Das gilt selbst von den Reden, die der rhetorisch kunstmäßigen oratio am nächsten stehen, den Versammlungsreden von Venus und Juno in X, von Drances und Turnus in XI: sie argumentieren, und die Erwiderung geht beide Male auf die Vor-

1) Wenn Virgil, wie Servius berichtet, die Verse 828 326 ingerUi ad* fectu rezitierte, so kann man sicher sein, daß er bei den Worten aaUtm »i qua mihi de te suscepta fuisset ante fugam suboles 827 ganz andere Töne anwandte, leisere, zärtliche, wehmütige.

2) Wenn Aeneas IV 887, nachdem er einleitend seine Dankbarkeit beteuert hat, die eigentliche Verteidigung einführt mit pro re pavea loquar, so ist diese Ausnahme sehr wohl motiviert: er war im Begriff, die Selbst- beherrschung zu verlieren dum memor ipse mei, dum spwüu» hos retfü artus und ruft sich gleichsam selbst zu ruhiger Erörterung zurück.

Disposition der Rede. Monolog. 426

rede so genau ein wie nur eine Replik im Senat oder vor Ge- richt, sogar mit Zitierung der gegnerischen Worte; aber sie bleiben dabei doch durchweg pathetisch, in allem einzelnen auf Gefühlswirkung berechnet, und nur in Turnus^ Rede trifft man einen Ansatz zur rhetorischen Hervorhebung der Disposition^): die überlegte t)ratio ddiberativa soll sich dadurch von der hitzigen invectiva, dem ersten Teil der Rede, deutlich abheben.

Die Gewöhnung des Dichters an diese disponierende Ge- staltung der Rede ist so fest, daß er selbst da nicht völlig darauf verzichtet, wo er, wie bei den Klagen von Euryalus* Mutter (IX 481 497), durch die äußere Form und die Gedanken der Rede den Eindruck des völligen Außersichseins hervorrufen will; in einem einzigen Falle versteigt er sich zu abgerissenen Äußerungen wahnsinniger Erregung, in Didos Wutausbruch beim Anblick der absegelnden Flotte IV 590 ff.: aber selbst hier beruht die Wirkung mehr auf der äußern Form der Rede lauter Ausrufe und Fragen und ihrem an hellen Wahnsinn streifenden Inhalt, als auf der Zerstönmg der normalen Gedankenfolge.

9. Monologe sind bei Homer nicht eben häufig^; Yirgil hat mehrfach äußerlich an Homer angeknüpft, entfernt sich aber in Wahrheit sehr weit von ihm. Der Monolog, der uns den Wider- streit zweier Neigungen vorführt und den Sieg der einen motiviert^)

1) Die Abkehr von Drances, zugleich Übergang zum zweiten Teil: nunc ad te et tua nuigna pater consulta revortor, dann Erörterung dreier Möglichkeiten si . . (411—418), sin . . (419—483), quod si (484—444).

2) S. jetzt C. Hentze, die Monologe in den homerischen Epen, Philol. ti3, 1904, 12 ff.

8) A 404 (Odysseus), P 91 (Agamemnon), ^ 558 (Agenor), JT 99 (Hektor): in allen vier Fällen schwankt der Held, ob er Stand halten oder weichen sollf jedesmal leitet der Vers &lXa xiri fM>i xa^a (piXog dieXi^octo ^(log die Entscheidung ein: zum sicheren Beweis, daß ein eigevi/jg hierin Schule ge- macht hat. In allen anderen fllllen, wo zweifelnde Erwägungen schließlich zu einem Resultat führen, berichtet der Dichter selbst, vermeidet also den Monolog absichtlich oder kennt ihn noch nicht: z.B. ß 9; K 6; S 1^; H 646; & 116. Nicht hierher gehören Fälle, wo der Redende seine Gefühls- äußerungen durch irgendeinen Entschluß beendet^ wie in Achills Ausdruck der Verwunderung * 54 ff., itXX* &ye di} %al Sovgbg &xonLfjg iiftsziffoto ysvöatai 60, und anderes von dem in nächstfolgender Anmerkung genannten.

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426 Drittes Kapitel. Darstellung.

das scheint die älteste Art zu sein^ wie sie auch im Drama die größte Rolle gespielt hat , dieser Entscheidungsmonolog findet sich bei Yirgil nur einmal^ bei Didos Entschluß zum Tode (lY 534£); und da liegt, wie oben S. 134 gezeigt wurde^ kein epischer, sondern ein dramatischer Typus vor: Dido schwankt nicht eigentlich zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sondern macht sich (d. L der Dichter dem Leser) klar, warum der verzweifelte Ausw^ der einzig mögliche ist.^)

Der Monolog kann weiter, ohne ein innerliches Zwiegespräch zu sein, dazu dienen, lediglich dem Leser die Empfindungen einer Person in einer bestimmten Situation, den Eindruck, den ein Er- eignis auf ihn hervorbringt, zu schildern: diesen Monolog, der sich sonst bei Homer nur ganz vereiuzelt findet^), hat der Dichter des Ealypsoliedes mit Vorliebe verwendet: er wurde dazu freilich fast notwendig durch die lange Vereinsamung seines Helden ge- führt, aber ein älterer Dichter hätte doch wohl die verschiedenen auftretenden Gottheiten benutzt, um uns im Zwiegespräch zu Teil- nehmem an Odysseus^ Empfindungen zu machen. Hier redet nicht nur Odysseus ausführlich XQog ov fieyakiiroQa dn}fi4v 249 bis 312. 356—364. 408—423. 465—473), sondern auch Poseidon äußert sich zweimal (286—290. 377—399) im Selbstgespräch*), das zweite Mal freilich in gedachter Anrede an Odysseus.*) Das erste Mal äußert Poseidon seine zornige Überraschung über den veränderten Ratschluß der Götter: 'Odysseus ist schon den Phai- aken nahe, wo das Ende seiner Leiden ihm bestimmt ist. Aber

1) Über den in II (577) interpolierten Monolog des Aeneas b. ob. S. 46 ff.

2) £ 6 Achill vor der Nachricht von Patroklos' Tod; * 54 Achill beim Anblick des totgeglaubten Lykaon und sehr ähnlich T 344 nach der Ent- rückung des Aeneas, sowie 425 beim Anblick des Uektor: dies mehr ein Ausruf der Freude {{{jx^f^^^i ^^^s ri^äa), kein eigentlicher Monolog; X 297 Hektor nach des vermeintlichen Deiphobos Verschwinden: hier ist der Monolog nicht ausdrücklich als solcher bezeichnet, sondern es heißt einfi^h 296 (p^vri<S6v, 306 qxovrjöag. In der Odyssee (außerhalb s) die beiden Parallel- monologe nach der Ankunft in Scheria (f 119) und Ithaka (v 200), femer die sehr geflissentlich als Anrede an die xgudiri gekennzeichneten Worte v IS. Dagegen Penelopes Klagen v 61, die recht eigentlich Selbstgespräch sind, führt der Dichter als Gebet an Artemis ein.

3) Man vergleiche damit etwa die Schilderung von Poseidons oder Heras Gefühlen JV 10 ff.; S 158 ff.

4) Wie Zeus^ Anrede an den fernen Hektor P 201 und bald danuif an die Rosse des Achill.

MoDolog. 427

er soll bis dahin noch genug der Unbilden erdulden.' Dieses Selbstgespräch hat Virgil mit der ganzen Anlage der Szene in I übernommen und in der oben S. 180 bezeichneten Weise in VII gesteigert wiederholt; aber er gibt, statt des einfiekchen Selbst- gesprächs, sozusagen Selbstansprachen^ in denen sich Juno nicht die einfachen Tatsachen, sondern die Gründe TorfÜhrt, weshalb und worüber sie ergrimmt sei und ergrimmt sein müsse. ^) Yirgil ist vom Drama und aus der hellenistischen Dichtung die pathe- tische Monodie ; die durch das Wühlen in Schmerz oder Ent- rüstung den Zuhörer zum iiioiona^Blv zu bringen bestimmt ist, so sehr gewohnt, daß ihm die Monologe des Poseidon und Odysseus notwendig matt und wirkungslos erscheinen müssen. Darum gibt er denn auch weiterhin beim Seesturm Ton der langen Betrach- tung des Odysseus seinem Aeneas (94 101) nur den letzten Teil, auch diesen pathetisch gesteigert und von den argumentierenden Schlußversen') entlastet: es ist mehr ein an die Götter {duplicis tendens ad sidera palnMs) gerichteter Stoßseufzer als ein Selbst- gespräch. So wird VI 186 das im Selbstgespräch geäußerte Ver- langen des Aeneas nach dem verheißenen Zweig ausdröcklich als ein precari bezeichnet, wie auch die gleich (194 ff.) folgenden Bitten an die Tauben und Venus: der kurze Monolog hat dort wesentlich die technische Bedeutung, als Stichwort für die un- mittelbar darnach erscheinenden Tauben zu dienen, deren Be- deutung sonst nicht ohne weiteres empfunden würde. In die Form des Gebets kleidet Virgil auch die Schmerzensrufe des von Juno auf dem Schiffe entführten Turnus X 668 ff.: zu Beginn vorwurfsvolle Worte an Juppiter, zum Schluß Bitte an die Winde: die folgende zweifelnde Überlegung dagegen berichtet der Dichter selbst. Oben S. 136 wies ich darauf hin, wie Vii^ auch bei Dido das schlichte Selbstgespräch durch andere Formen teils Wiedergabe bloßer Gedanken, teils eigenartig motivierte laute Rede zu umgehen sucht.

1) Auch hier sehr überlegte, schematische Disposition, namentlich in Vni: 1. Aufstellnng des ThemM der indignaUo: 298. 294. 2. Rückblick auf das (Jeschehene, durch die ^Ttotpoga at credo 297 fg. in zwei Teile ge- teilt: Aeneas in Troja 294—297, Aeneas auf der Irrfahrt 299—803. 3. Re- sultat fair die Gegenwart mit einem argumentum ex contrario: 804—310. 4. Voraussage der Zukunft 310—822.

2) e 311 fg. tm x iXaxop xtigi&v, xai {iw xXiog ^yov ÄiouoL' 9vv 6i pit levyaXdm ^ccvdxm BtftccQTo aZc&vai. Darüber mehr im 6. Kapitel.

428 Drittes Kapitel. Darstellung.

Die Totenkiage ist, wie Homer ^) sehr deutlich zeigt, nicht eigentlich Monolog, sondern dazu bestimmt, gehört zu werden: die ursprünglichen, unwillkürlich lauten Ausbrüche des Schmerzes sind zur stehenden Sitte des -^p^og geworden. So bei Virgil die Klagen des Euander (XI 152), Aeneas (XI 42), der Mutter des Euryalus (IX 481), der Anna (IV 675)*): aber während Aeneas gefaßte Abschiedsworte spricht, Euander nach langen stummen Tränen den Mund zur feierlichen Klage öfiEaet, so sollen die Worte der beiden Frauen das unmittelbar hervorbrechende Gefühl mimisch darstellen: auch das ist dramatische, nicht altepische Art. Virgil hat dies ausgedehnt auf die Klagen der Jutuma XII 872, die ihren Bruder in Todesnot verlassen muß: sie redet zwar Turnus an, dem sie bis dahin in der Gestalt des Metiscus zur Seite stand, aber Virgil kann nicht gemeint haben, daß ihre Klagen dem An- geredeten wirklich zu Ohren kommen; die feststehende Form der Klage-Monodie ist am unrechten Orte verwendet

Näher als Homer und ApoUonius (bei dem nur die einsame Medea monologisiert: III 464. 636. 770. IV 30) steht der Art des virgilischen Monologs die pathetische Kleindichtung älterer und jüngerer hellenistischer Zeit; inhaltlich, insofern auch bei ihr der Monolog weniger Ausdruck von Zweifeln, Gedanken, Emp- findungen als Träger höchsten Affekts ist; formal, insofern auch sie dem Pathos des Inhalts entsprechend mit Vorliebe den Monolog vom Redenden nicht an sich selbst, sondern an einen gedachten Hörer, die Götter oder die abwesende Geliebte, die Gestirne oder die Bäume des Waldes richten läßt. Inmitten dieser zum Halbdialog gesteigerten Monologe stehen bei Vii^l die beiden echten Monologe der Juno vereinzelt: sie entspringen bewußter und absichtlich in die Augen fallender Homerimitation, ohne doch dabei das spezifisch Moderne des virgilischen Stils zu verleugnen.

10.

Ein kurzes Wort über das Verhältnis der virgilischen Kunst zur Rethorik wird hier am passendsten seine Stelle finden: kurz

1) Ä 725 usw. an der Leiche des Hektor, wie T 287. 816 an der Leiche des Patroklos. X 480 Tgtojaiv d' ^Exäßri &divov i^fJQxe y6oto 476 (Andromache) &nßX7i&riv yo6(oaa fiBtä Tgtofatv hmtv.

2) Auch die kurzen Worte des Aeneas nach Palinums' Tod V 870 fg. darf man wohl hierherziehen.

Totenklage. Rhetorik. 429

schon deshalb, weil eine erschöpfende Darstellung dieses Ver- hältnisses auf Grund der bisherigen Vorarbeiten doch nicht ge- geben werden könnte. Zudem fällt das Wertvollste, was Virgil ebenso wie Horaz und ihresgleichen der rhetorischen Schulung verdankten, außerhalb unseres Gebiets: ich meine die Sprach- kunst, die Sorgfalt und den feinen Takt in Wahl und Stellung der Worte, die Klarheit und Präzision, Knappheit und Fülle des Ausdrucks, die Freiheit zugleich und Gebundenheit der Periode: alles Dinge, zu deren rechter Würdigung jetzt Norden den Zu- gang eröffnet hat^). Was Schilderung, Darstellung und Kom- position anlangt, so neigt man jetzt, wenn ich recht sehe, dazu, den Einfluß der Rhetorik auf die älteren Augusteer eher zu über- treibjBu als zu unterschätzen.^) Man pflegt unter dem Namen 'Rhetorik' so ziemlich alles zusammenzufassen, was sich bei dem Ver- gleich mit anderen Dichtem und Prosaikern als typisch herausstellt und was man demnach aus der Beachtung gewisser Schulvorschriften herleiten zu können meint: die sich denn auch wirklich, zumal bei den Rhetoren der Kaiserzeit, sehr vielfach aufweisen lassen. Dabei läuft vieles mit unter, was mit gleichem oder besserem Rechte aus den Vorschriften der Poetik hergeleitet werden könnte.

1) Im einzelnen wird es auch hier nicht immer leicht sein, zwischen dem, was die Tradition der poetischen Sprache an die Hand gab, und dem, was aus Theorie und Praxis der Eunstprosa entlehnt wurde, zu scheiden. Norden ist z. B. geneigt, die Vorliebe für eine auch bei Virgil gelegentlich an- zutreffende Verbindung mehrerer Substantive mit je einem Attribut, wobei häufig zwei dergleichen Wortpaare einander gegenübertreten oder sich ver- schränken, bei den Lateinern auf den Einfluß der Rhetorik zurückzufuhren (S. 3S6). Wenn ich aber sehe, daß auch Theokrit dies Stilmittel in den nichtbukolischen Gedichten öfter verwendet (z. B. XVII 29. 32. 84 fg. 37. XVm 26 ff. 48 ff. XXn 40 ff.), nirgends häufiger - auch mit Verschränkung als in der so kurzen äolischen 'HXanani (XXVIII), andererseits in latei- nischer Poesie es kaum irgendwo derart auf die Spitze getrieben ist wie bei Catull, insbesondere in den Glykoneen des Hochzeitsliedes (61, s. v. 9 18; 101 109), so scheint mir dies auf einen anderen Weg der Erklärung zu führen. Es kommt hinzu, daß, soviel ich sehe, in der Rede z. B. Ciceros, die Attributdoppelung und -häufung ganz anderen Zwecken dient als in der Poesie Theokrits und der römischen vsStsgot: dort entweder scharfe Anti- these oder das as^vdv^ hier das ylvriv.

2) Die Alten trieben es darin freilich noch weit ärger; nichts kläg- licher und öder z. B. als die Behandlung, die Macrobius vom schulmäßig rhetorischen Standpunkt dem virgilischen Pathos an gedeihen läßt.

430 Drittes Kapitel. DarateUung.

die ja freilich vielfach aus dem Quell der Rhetorik gespeist ist, aber doch ihren eignen Gang und nicht selten der Rhetorik vorangegangen ist. Die vereinfachte Ausdrucksweise vräre be- langlos, mischte sich nicht überall, wo Einflüsse der 'Rhetorik' konstatiert sind, zugleich das Gefühl ein, daß die Poesie hier ihrem eigentlichen Wesen entfremdet worden sei: während doch der Dichter, der sich die aus klassischen Dichtungen geschöpften Beobachtungen und Regeln der Poetik zunutze macht, damit seinen eigenen Boden nicht verlaßt. Man ist femer leicht geneigt, die Wirkung der poetischen Tradition zu unterschätzen, die zu einer Wiederholung technischer Kunstgrifie fuhren konnte, auch ohne daß der Nachahmer sich bewußt war, dabei irgendwelche 'Regeln' zu befolgen. Endlich liegt die Versuchung nahe, sobald man einmal bei der Erklärung die rhetorische Theorie im Auge behält, ihre Wirkung auch dort zu vermuten, wo sich ein poe- tisches Motiv mit einer uns bekannten Vorschrift schlecht und recht zur Deckung bringen läßt, während es doch vielleicht die Sache selbst dem Dichter sozusagen mit Notwendigkeit an die Hand gab. Wenn man alle aus diesen Erwägungen sich ergebenden Abstriche bei dem macht, was man auf den ersten Blick geneigt sein könnte, bei Virgil als 'Rhetorik' in Anspruch zu nehmen, so werden nicht allzu viele technische Einzelheiten übrig bleiben. Von den Schemata gewisser Redegattungen ist Virgil unzweifelhail da beeinflußt, wo er das Gebiet der epideiktischen Beredsamkeit berührt. So hat, nachdem Marx in der 4. Ekloge das Schema des Xöyog ysvs^kiaxog gezeigt hatte, Norden in der großen Epideixis des Anchises in der Nekyia die rd^rot des köyog xavr^yvQLxög in dem Lobpreis des Augustus (VI 791 ff.), des löyog ixixdq)Log in der Klage um Marcellus (868 ff.), des iyxioatov 'Ptbfir^g im Epilog der Heldenschau (847 ff.) nachgewiesen. Man mag weiter etwa in den Abschiedsworten, die Aeneas III 494 ff. an Helenus richtet, die Vorschriften des Xöyog övvxaxr(.x6g sehr viel besser beobachtet finden als in dem von den Rhetoren angeführten homerischen Beispiel V 38 ff.; mag den seltsamen Einwurf, den sich Turnus IX 140 in einer Cohortatio selbst macht {'sed periisse semd satis est') und wider- legt, auf eine nicht ganz zeitgemäße Erinnerung an die von den Rhetoren geforderte iksov ixßokil zurückführen; ja man kann diese Beobachtungen vielleicht über die epideiktische Beredsamkeit hinaus noch etwas erweitern, und z. B. in Annas zuredender

Rhetorik. 431

Antwort an Dido die T6stoi einer Snasoria wiederfinden, die Reden der latinischen Ratsyersammlung des 11. Buches durch Parallelen ans römischen SenatsverhandlungeD illustrieren (ob. S. 418), Sinons große Rede (II 77 144) als Musterbeispiel einer purgaiio und dqprecaüo analysieren: sehr weit wird man mit diesen technischen Oesichtspunkten bei Virgil nicht kommen, wenn man nicht, wie die späteren lateinischen Rhetoren, darauf ausgeht, rhetorische Kunstgriffe mit virgilischen Beispielen zu belegen, sondern vielmehr darauf, Virgil aus der rhetorischen Doktrin zu erklären. Wich- tiger als diese Einzelheiten und beweisender für den Einfluß, den der Jugendunterricht und das mit Rhetorik getränkte Leben seiner Zeit auf Virgil ausgeübt haben, scheint mir der allgemeine Typus seiner Reden: fast alles, was ich an ihnen in den früheren Para- graphen dieses Abschnitts als charakteristisch insbesondere gegen- über der homerischen Rede hervorhob, nähert sie der kunst- mäßigen oratio au; die Vermeidung des in kurzer Rede und Gegenrede sich entwickelnden Dialogs, der Verzicht auf willkür- liche Abschweifungen, das Erschöpfende der Argumentation, die Berechnung auf den Charakter des Hörers, die überlegte und klare Disposition. Alles dies sind Eigenschaften, die zum (ranzen der virgilischen Technik durchaus harmonisch stimmen und zu deren Pflege er die wesentliche Anregung wohl durch dichterische oder historische Vorbilder empfangen haben mag, deren Voll- endung aber doch zu einem guten Teil gewiß jenen rhetorischen Einflüssen verdankt wird.

Dabei ist sich Virgil der Grenzen zwischen Poesie und Prosa wohl bewußt geblieben; er dachte nicht wie Ovid, der sich gar nicht scheute, vielmehr stolz darauf war, als Dichter seine rhetorische Bildung, wo es irgend an^ngig schien, zur Schau zu tragen. Virgil sucht nicht nach Gelegenheit zu rhetorischen Paradestücken, und die poetische Hülle, die er seinen epideiktischen k6yoi über- geworfen hat, läßt das Schema der Invention nur dem geschärften Blick sichtbar werden; auch die Disposition seiner Reden verbirgt er, wie wir sahen, eher als daß er sie hervorhebt. Während der junge Ovid zu der Zeit, da Virgil an seiner Aeneis arbeitete, den Sirenentönen der modernen dedamatio mit Inbrunst lauschte und in seinen Heroinenbriefen die Gattung der poetischen dedamatio inaugurierte, ist Virgil von dieser neuesten Richtung der Bered- samkeit ganz unberührt geblieben: der inanes rhetorum ampuüae

432 Drittes EapiteL Darstellung.

was er schon als Jüngling überdrüssig geworden. Gegenüber der hysterischen Pathetik jener Deklamatoren, ja auch gegenüber Ovids immerhin geschmackvolleren Tiraden erscheint uns selbst VirgiU Pathos maßvoll, soweit es auch über das hinausgeht, was wir heutzutage zu Schillers Zeit empfand man noch anders unseren Dichtem gern verstatten, und so gewifi auch hierin Virgil seine rhetorische Schule nicht verleugnet: dort hat er die Fähigkeit ausgebildet, auf dem Pathos seiner römischen Hörer wie auf einem vertrauten Instrumente zu spielen, so daß ihm jeden Augenblick die Formen, in die er sein Gefühl zu gießen hatte, um das anderer zu erregen, mühelos zu Gebote standen: war doch die Erregung des jcdd-og, ein Hauptziel seiner epischen Poesie, zugleich eines der Hauptziele kunstvoller Prosarede. Nur müssen wir uns auch hier hüten, das 'Rhetorische' zu überschätzen: ich zweifle nicht daran, daß Virgil in der Behandlung des Pathos, so wenig er auch reaU- stische Naturtreue anstrebt, der Lebenswahrheit ein gutes Teil näher steht, als der moderne, namentlich nordische Leser zunächst anzunehmen geneigt ist. Virgils Helden sind antike Italiener, dem Affekt in jeder Gestalt aufs leichteste zugänglich, aber auch gewohnt, ihn nicht stumm im Busen zu bergen, sondern in leicht strömender Rede zu äußern. Wo das der Brauch ist^ bilden sich notwendig bestimmte Formen des Vortrags aus, die auch dem leidenschaftlich Erregten jederzeit zu Gebote stehen und es ihm ermöglichen, seinen Affekt in einer Fülle und Kraft, Ordnung und Klarheit der Rede zu entladen, die einem Hörer unnatürlich erscheinen kann, der selbst sich kaum je zu einer lauten Äußerung seines Affekts hinreißen läßt. Man kann sicher sein, daß Virgils Publikum an vielen Stellen natürlichen, wenn auch veredelten Ausdruck wahren Gefühls zu hören meinte, wo moderne Kritiker mißbilligend über die dem Leben imd der Wahr- heit entfremdete 'Rhetorik' das Haupt zu chütteln pflegen.

Viertes Kapitel. Komposition.

Aristoteles hatte gelehrt^ daß wie in der Tragödie so auch im Epos Einheit der Handlung erforderlich sei; er hatte das Miß- verständnis beseitigt, als könne diese Einheit durch die der Person oder des Zeitabschnitts ersetzt werden, hatte weiter die einheitliche Handlung als eine ganze und in sich abgeschlossene Handlung, mit Anfang, Mitte und Ende, definiert, die zwar aus Teilen be- stehe, aber nur aus integrierenden Teilen, von denen man keinen beseitigen oder verrücken könne, ohne das Ganze zu beeintrarch- tigen. Wie ein Epos scheinbar diesen Bedingungen entsprechen und dennoch der künstlerischen Einheit ermangeln kann, zeigt das Epos des Apollonios (wobei wir vom Episodischen zunächst absehen): er hat sich als einheitliche Handlung die Fahrt der Argonauten gewählt, beginnt ganz ordnungsgemäß mit dem Anlaß und endet mit der Rückkehr an den Ausgangspunkt: das war doch wohl, meinte er, eine okrj xal xaksla 7CQäii,g. Es entging ihm, daß nicht die Fahrt als solche, sondern ihr Zweck, die Ge- winnung und Sicherung des Vließes, die nQäiig ist, auf die sich das Interesse des Lesers richtet: daß also die ausführliche Schilderung der Rückfahrt, die nach der Rettung aus Kolchis noch viele hundert Verse in Anspruch nimmt, als unorganisches Anhängsel erscheint und der Einheit des Ganzen, statt sie zu er- füllen, Abbruch tut. Virgil hat die Regeln des Aristoteles zu befolgen gesucht und aus dem Mißgriff des Apollonios gelernt. Im Mittelpunkt seines Gedichts steht der Held, von dem es den Namen trägt, aber nicht er bildet die Einheit, sondern eine Hand- lung: die Übersiedelung der Troer oder die Überführung der Penaten von Troja nach Latium. Die Ankündigung des Stoffes im Prooemium geht aus von Aeneas, arma virumque cano; was von ihm gesagt wird, führt zur Angabe des Ziels, das der Handlung

Heins«, Virgllfl epische Technik. 2. Aufl. 28

434 Viertes Kapitel. Komposition.

gesteckt ist^ dum inferret deos Lotio; die Schlußworte heben die Bedeutung dieser Handlung hervor: genus unde Latinum Albanique- patres atque aUae moenia Bomae. Den Ausgangspunkt der Hand- lung bildet die Eroberung Trojas*); den Endpunkt aber nicht, wie man vielleicht nach den Worten des Prooemiums erwarten könnte, die Gründung der Stadt Lavinium, sondern die Beseiti- gung des letzten Hindernisses, das der definitiven Ansiedelung im Wege stand: der Tod des Turnus; damit ist das poetische Interesse des Stoffes erschöpft. Man kann zweifeln, ob Aristoteles, der seine Regeln aus Ilias und Odyssee abstrahierte, diesen Schluß als berechtigt angesehen und der Handlung der Aeneis das Pradikat reXeCa zuerkannt haben würde ^); in der Tat muß man sich kkr machen, daß hier mit großer Kühnheit dramatische Technik auf das Epos übertragen ist. Ilias und Odyssee enthalten zwar Hin- weise auf künftige Erlebnisse der handelnden Personen, aber die Handlungen der Gedichte selbst werden mit allen ihren nächsten und unmittelbaren Eonsequenzen zu Ende geführt. Das Drama begnügt sich damit, den Knoten gelöst, den Ausgang gezeigt zu haben: ihn selbst vorzufahren ist in zahlreichen Fällen aus tech- nischen oder poetischen Rücksichten unmöglich: genug wenn wir wissen, daß Philoktet nach Troja ziehen, daß Herakles den Feuer- tod sterben wird; ja Sophokles darf sich im König Oedipus erlauben die nächste Zukunft seines Helden im Ungewissen zu lassen, nachdem er ihn innerlich vernichtet gezeigt und damit der Tragödie Stoff erschöpft hat. Deutlicher wird das ja noch bei der Komödie: die ist zu Ende, wenn der Vater in die Verlobung gewilligt hat oder sonst die Hindemisse beseitigt sind, die der Erreichung des eigentlichen Zieles im Wege standen. In diesem Sinne also hat auch Virgil das tiXog seiner Handlung angesetzt: wir wissen, was Latinus nach Turnus' Tode tun wird (XH 38), wir wissen, daß Lavinia sich der von ihrem Vater nach G^tter- ratschluß befohlenen Ehe so wenig weigern wird, wie irgendeine römische Jungfrau dazu imstande wäre; wir haben endlich aus Juppiters Munde vernommen, wie die Vereinigung der beiden Völker sich gestalten wird (XH 834 ff.): der Vorhang kann fallen.*)

1) S. oben S. 3.

2) tslsvtTj . . o wbtb ftfT* üXXo ni(pv%Bv slvai . . ftera Sh roOro oifdsv &XXo a. p. 7, 1450 b 29.

3) Man erinnere sich des Urteils antiker Kritiker über den zweiten

Einheit. Die Teile und das Ganze. 435

2.

Die zweite Forderung ist, daß die einzelnen Teile des Epos notwendige Bestandteile des Ganzen sein sollen. Damit will Aristoteles nicht verboten haben, die Handlung durch gelegent- liche Episoden zu unterbrechen lobt er doch selbst (a. p. 23, 1459a 35) die zahlreichen Episoden Homers, wozu er z. 6. den Schiffskatalog rechnet ; er scheint nur genauer spricht er darüber sich nicht aus verlangt zu haben, daß auch die Episode sich mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aus der Hand- lung ergebe und zum Ganzen derselben etwas beitrage. Tadelns- wert erscheint ihm jedenfalls eine 'episodenhafte* Fabel (9, 1451b 34), d. h. eine solche, deren einzelne Abschnitte weder mit Wahr- scheinlichkeit noch mit Notwendigkeit aufeinanderfolgen, also, wie wir positiv ergänzen dürfen, rein zufällig oder willkürlich an- einandergereiht erscheinen. Das berührt sich also mit der Forde- rung einer sorgfältigen Motivierung, ist aber damit nicht identisch; ein Stück Handlung kann an sich trefflich motiviert sein und doch als störende Episode aus dem Ganzen herausfallen, wenn es neben der Haupthandlung steht, statt aus ihr sich zu ergeben und in sie zurückzuführen. Prüfen wir daraufhin die Kompo- sition der Aeneis, so tritt die Absicht Virgils, der aristotelischen Regel zu folgen, klar zutage.

Die Haupthandlung der ersten Hälfte der Aeneis ist die Fahrt des Aeneas von Troja nach Latium. Buch H behandelt ihren Anlaß, HI ihren ersten, zwar längeren aber inhaltsarmeren Abschnitt, IV, V und VI ihre drei letzten Stationen. Die wesent- lichen Teile dieser drei Bücher, Didos Leid und Tod, Wettspiele, Nekyia, sind als Episoden konzipiert; das hat alle vom Dichter nachträglich aufgewandte Kunst nicht verbergen können; den Ver- such aber, die Episoden zu notwendigen Bestandteilen des Ganzen zu machen, hat er unternommen. Die Liebe zu Dido ist die stärkste 'Versuchung', die an den Helden herantritt; er ist in Gefahr, ihr zu erliegen und sein Ziel für immer zu vergessen; aber er ermannt sich und überwindet. So weit würde die strengste Kritik nichts einzuwenden haben; der Kern aber von IV trägt

Teil von Sophokles' Aias, schol. 1123 fista Tr}v icvaigsatv inButstvai dgä^ Jd'eXijaag iijyvxQevöoito %ocl iXvös tb tgayinöv ndd^og.

436 Viertes Kapitel, Kompositioii.

nur in seinem ersten Teile^ solange Dido noch Versuche macht, den Scheidenden zu halten, zur Haupthandlung etwas bei, alles weitere lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers Ton ihr und der Hauptperson ab. Virgil wird sich dabei beruhigt haben, daß auch die Haupthfodlung während jener pathetischen Szenen nicht stockt, wir sie auch nicht aus dem Auge verlieren; unerlaubt episodisch wäre ihm wohl nur erschienen, nach Aeneas' Abfis^irt das Leiden der Verlassenen und ihren Weg zum Tode zu schildern.

Die Wettspiele sind, wie wir sahen, zur Voraussetzung des SchifiFsbrandes geworden, der einerseits die letzte schwere Prüfung des Aeneas bildet, andererseits zur Gründung Ton Segesta führt, dem wichtigsten dauernden Ergebnis von Aeneas' L-r&hrten. So- mit sind sie an sich als notwendiger Bestandteil zu betrachten, freilich mit einer über diese Bedeutung hinausgehenden Ausführ- lichkeit behandelt und zur selbständigen Episode geworden.

Die.Nekyia mit der Haupthandlung organisch zu verbinden, ist Virgil sichtlich am schwersten gefallen. Er hatte den Plan, Aeneas in die Unterwelt zu führen, offenbar ganz unabhängig von einer Motivierung gefaßt: hier bot sich eine mivergleichliche Ge- legenheit, mit Homer zu wetteifern, nicht nur in der Form, son- dern vor allem im Gehalt: an Stelle des Mythos der Odyssee sollte eine Dichtung voll ernster und erhabener Weisheit und voll begeisterten nationalen Gefühles treten; Odysseus hatte der Oberwelt allerhand merkwürdige Kunde mitgebracht, Aeneas durfte die Bösen bestraft, die Guten belohnt sehen, durfte sich in die Geheimnisse des Lebens nach dem Tode einweihen lassen und die Herrlichkeit Roms und seines größten Sohnes, des Augustus, schauen. Dafür also war gesorgt, daß dieser Gesang den sack- liehen Tendenzen der ganzen Dichtung in hervorragendem Maße diente; aber wie war es einzurichten, daß er auch der Handlung des Gedichts diente? Virgil stand zunächst im Banne Homers: Odysseus wird von Kirke in die Unterwelt geschickt, um die Seele des Teiresias zu befragen, die ihm Aufschluß geben werde über die Mittel und Wege der Heimkehr. Wirklich belehrt ihn Teiresias über diese Dinge, aber die ganze Prophezeiung bleibt folgenlos: was Odysseus über die Zustände in der Heimat hörte, hat er gleich darauf im Gespräch mit Antikleia* schon wieder vergessen; über den Heimweg weiß Kirke sehr viel genauere Auskunft zu geben; die spätere Versöhnung des Poseidon wird

Die Teile und das Ganze. 437

in der Odyssee nicht vollzogen. Das Motiv erschien alier Virgil zunächst brauchbar; den vorläufigen Versuch, es zu verwenden, haben wir VI 890 892: Anchises belehrt den Sohn über die ihm bevorstehenden Kriege, über die V<>lker und die Stadt des Latinus, über die Mittel, aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Das hat aber in Virgils Plan keinen Bestand gehabt; er mochte einsehen, daß das Motiv für die folgende Entwicklung ebenso- wenig brauchbar sei wie in der Odyssee, denn wenn Aeneas alles Kommende genau weiß, gibt es für ihn später keinen Zweifel, keine Enttäuschungen, keine Sorgen mehr. So hat er denn die entsprechende Prophezeiung der Sibylle übertragen^); ihre dunklen Rätselworte greifen der späteren Entwickelung nicht vor. Für den Abstieg des Aeneas bedurfke er danach eines neuen Motivs, das wohl bei der Ausführung des ersten Entwurfs schon auf- getaucht war, jetzt aber in den Vordergrund trat. Für Aeneas ist nun die treibende Macht, die ihn selbst die Schrecken der Unterwelt bestehen heißt, seine pietas, der Wunsch, den geliebten Vater, der selbst nach ihm verlangt, noch einmal zu begrüßen, nicht, wie es wohl auf Erden möglich ist, in rasch verfließender Vision, sondern in wirklichem Beisammensein und liebevollem Zwiegespräch. Diese Tat des Aeneas würde nun zwar zu seiner Charakterisierung, aber nicht zur Entwickelung der Handlung etwas beitragen: das geschieht, wie ich oben S. 273 zu zeigen suchte, durch die protreptische Bedeutung der Nekyia: Aeneas soll für den schwereren Teil seiner Aufgabe, der ihm in Latium bevorsteht, endgültig gestärkt und gefestigt werden. Alle escha- tologische Mythologie dient ja nach des Dichters Meinung dazu, die Menschheit im Streben nach dem Guten zu stützen und zu stärken; es ist nicht anders hier, wo Aeneas, statt zu hören, selbst schauen darf. Wie weit es Virgil gelungen ist, diese Intention klar herauszuarbeiten, steht hier nicht in Frage; es kommt nur

1) Dadurch waren v. 890—892 ersetzt und hatten bei der Überarbeitung wegfallen müssen: s. o. S. 368, 1. Daß Virgil jemals die Prophezeiung der Sibylle neben der des Aeneas konzipiert hätte, kann ich nicht glauben; man wird schwerlich bei ihm einen zweiten so brutalen Totschlag eines Motivs durch ein anderes, wohlgemerkt in einer Konzeption, entdecken. Es ist mir das wahrscheinlichste, daß Virgil zuerst das Hauptstück des ganzen Buches, die große Rede des Anchises ausgearbeitet, die Anfangsszenen erst später, nach dem Wechsel des Plans, geschrieben hat.

438 Viertes Kapitel. Komposition.

darauf an^ ob die Intention und damit Yirgils Streben nach oi^ nischer Einfügung auch der Nekyia richtig erkannt ist.

Die Handlung der zweiten Hälfte des Gedichts föhrt Tom Eintreffen des Aeneas in« Latium bis zur endgültigen Sicherung der troischen Ansiedelung. Von größeren Bestandteilen kann man als episodisch konzipiert die Aristie der Gamilla bezeichnen; um sie zu ermöglichen^ müssen Aeneas und Turnus vom Schau- platz entfernt werden, und der Dichter lenkt in die Haupthand- lung dadurch wieder ein, daß die Niederlage der Gamilla den Turnus nach Laurentum zurückruft und somit der Hinterhalt, der Aeneas gefährlich geworden wäre^ vereitelt wird. Aber das Motiv von Aeneas' Sonderexpedition ist nicht einwandfrei durch- geführt und der Eindruck des Episodischen nicht völlig beseitigt Im übrigen enthält die zweite Hälfte an Episoden im Sinne des Aristoteles die Kataloge in YU und X, die zu Beginn des Krieges durchaus an ihrem Platze sind; die Euanderszenen in YUL, vor- trefflich mit dem Gang der Haupthandlung verbunden; die Nisus- geschichte in IX; die nur Bedeutung innerhalb des einen Buches hat und unten zur Sprache kommen wird; wie auch die Schild- beschreibung in YUI: auch bei dieser ist die nachtragUdie Motivierung unverkennbar.

Was bisher von der Einheit des Gedichts gesagt wurde, bezog sich auf den ungestörten Gang der Handlung, den logischen Zusammenhang des Ganzen. Wir sahen, daß Yirgil diesen zwar angestrebt, aber nicht die Spuren davon bat verwischen können, daß die Einzelteile des Gedichts nicht sämtlich aus einer einheit- lichen Konzeption organisch erwachsen sind. Die recht eigentlich künstlerische Einheit, die zugleich Einheit der Konzeption und der Wirkung bedeutet, zeigt sich bei Yirgil in den Einzelteilen; wo immer ein Bestandteil des Gedichts durch den Inhalt als ab- geschlossen kenntlich wird, hat ihn Yirgil auch als künstlerische Einheit gegeben.

Solche Einheiten bilden, um mit dem Unwichtigsten zu be- ginnen, Namenreihen und sonstige Aufzählungen, die an sich künstlerischer Form zu widerstreben scheinen; ist die Zahl noch dazu groß, so tritt leicht Einförmigkeit und Unübersichtlichkeit hinzu und vollendet den Eindruck einer formlos zufälligen An-

Aufzählnngen. 439

häufung. Das einfachste Mittel, dem zu begegnen, ist die sym- metrische Gruppierung der Einzelheiten, wodurch ein gegliedertes und übersichtliches Ganzes entsteht; femer wird, wo es angeht, sachlich Verwandtes zusammengefaßt und damit dem Hörer die einheitliche Apperzeption des Granzen erleichtert Im kleinen zeigt sich jene Gruppierung z. B. bei der Liste der dem hölzernen Roß Entstiegenen (ob. S. 23, 3), bei den Namenhaufen der Aristien (ob. S. 218 ff), bei der Aufzählung der latinischen Kolonien VI 773 (2x4); im großen ist das Prinzip am besten aus der Helden- schau in VI ersichtlich.^) An die dreißig Namen aus der Ge- schichte Roms werden da genannt und ihre Träger zumeist, kürzer oder ausführlicher, charakterisiert; ungegliedert wäre diese Liste ein Monstrum. Virgil bildet drei Gruppen*) die albanische Deszendenz des Aeneas bis auf Romulus, die Helden der älteren, sagen wir stadtrömischen Zeit, die Helden des werdenden Welt- reichs^) — ohne sich im einzelnen an die Chronologie zu binden; die zweite Gruppe ist von der ersten und dritten geschieden, nicht durch unpoetische Abschluß- und Übergangsformeln, sondern durch zwei Bilder aus der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit: an Romulus anschließend der alter Bomtdus Augustus, an die Gallierbesieger Torquatus und CamiUus Galliens Eroberer Caesar mit seinem Gegner Pompeius. Diese Einschiebsel sind durch ihre Stellung aus der Menge der übrigen herausgehoben und dienen zugleich dazu, die pedantische chronologische Reihenfolge zu unterbrechen und den Schein des Zurälligen gerade so weit hervorzurufen, daß er die Übersichtlichkeit des Ganzen nicht be- einträchtigt. Der jugendliche Marcellus als dritte zeitgenössische Erscheinung schließt das Ghinze ab, angeknüpft an die dritte Gruppe durch seinen Ahn, den Eroberer von Syrakus, der das

1) Ein anderes treffliches Beispiel ist die Aufzählung der Büßer im Tartarus VI 662 fg., analysiert von Norden p. 271 fg.

2) Die Gruppierung a b a b a gibt Deuticke richtig an; über die Aus- wahl und Anordnung der Personen hübsche Bemerkungen bei Belling, Studien über die Eompositionskunst Yirg^s i. d. Aen. (Lpz. 189d) 17 ff. Der Einfall Cimas (Analecta Latina, Mail. 1901, 6), daß die republikanischen Helden der zweiten Gruppe 824 ff. alle dem Vaterland ein ahnliches Opfer gebracht hätten wie Brutus, ist sehr gesucht und z. B. für die Drusi nur gewaltsam durchzuführen.

a) Nur Cossus gehört eigentlich in die zweite Gruppe; vgl. Belling 21. Die Zeit des Serranus ist unbestimmbar: Klebs in Wissowas R. £. U 2096.

440 Viertes Kapitel. Komposition.

notwendige Pendant zu dem an letzter Stelle der dritten Gruppe genannten Fabius Mazimus bildet.^) Eine Aufzahlung im eigentlichsten Sinne sind die beiden Kataloge in VII und X; ein- fache Aneinanderreihung wie die Boiotie sollten auch diese nicht sein. Virgil stellt in VII an die Spitze Mezentius und Lfausus, an den Schluß Turnus und Gamilla, so die minder Hervorragenden einrahmend durch die wenigen^ denen Hauptrollen im E^mpf zu- gedacht waren. Von diesen Anfangs- und Schlußpunkten aus- gehend hat er sich das übrige zurechtgelegt, so daß nun im ganzen folgendes Bild entsteht: zuerst das nächstliegende Caere und Aventin, Tibur und Praeneste , dann wird mit drei Paaren zusammengehöriger der weitere Umkreis erschöpft Falisker und Sabiner, Auruncer und Süd-Campaner*), Aequiculer und Marser und zum Schluß kehren wir wieder in die nächste Umgebung zurück: Aricia und Ardea, dazu als letzte die Yolskerin

1) Bei dem Seitenstück der Heldenschau, der Schildbeschreibung in Vlll, konnte die Gliederung einfacher sein: hier handelt es sich tun eine geringe Anzahl von Bildern, die jedes für sich betrachtet sein wollen and fOr sich wirken. So zerfällt das Ganze in zwei durch den annähernd gleichen Um- fang als Pendants bezeichnete Massen: Bilder aus der grauen Vorzeit und Bilder aus der leuchtenden Gegenwart; jene Reihe abgeschlossen durch die Erwähnung der Salti und Luperci, also der altertümlichsten Reste alt- römischen Gottesdienstes, diese durch ein Bild gegenwärtiger Götterver- ehrung, das Sieges- und Friedensfest des Augustus. Homer hatte ein ab- geschlossenes Weltbild gegeben, das will Virgil in anderer Weise tun: auf Erden spielt die erste Reihe der Bilder, in den arva Neptunia (695), die deshalb zunächst an sich verhältnismäßig eingehend (in 4 Versen) geschildert werden, die Hauptszenen der zweiten; zwischen beiden werden ergänzend die Tartarecte sedes, alta ostia Ditis eingeschoben, begreiflicherweise aber hier ganz kurz und mit ausschließlicher Rücksicht auf Römisches (Catilina, Cato) berührt. Volkmanns Hypothese (oben S. 399, 1), daß wir zwei Schild- beschreibungen vor uns hätten (626 674 und 626 629 + 676 728), von denen die zweite nach der Absicht des Dichters die erste habe ersetzen sollen, scheitert schon daran, daß Virgil unmöglich je daran gedacht haben kann, auf seinem Schilde das Meer an sich, ohne irgendwelche Staffage, darzustellen; und wer Virgils Eompositionsgepflogenheiten kennt, wird es gleichfalls für unmöglich halten , daß er je die Schildbeschreibung mit dbm Tartarus (der selbstverständlich nicht, wie Volkmann meint, als ^Luft' dargestellt zu denken ist) und den leeren Versen 671 674 habe abschließen wollen.

2) Warum stehen diese zwischen den eng benachbarten Sabinem und Aequem? Doch wohl nur, weil Virgil so die Gliederung nach Paaren deut- licher zum Ausdruck zu bringen meinte.

Aufzählungen. Szenenfolgen. 441

GamiUa. Man soll den Eindruck einer Linie erhalten ^ die an ihren Ausgangspunkt zurücklaufend ein geschlossenes Ganzes um- schreibt.^)

Diesen Aufzählungen am nächsten stehen Handlungen, die sich aus einer Reihe gleichartiger aufeinander folgender Szenen zusammensetzen. Zur künstlerischen Einheit werden solche Hand- lungen, wenn es gelingt, sie zu einer notwendigen Folge zu ver- knüpfen; wo das nicht angeht, wie z. B. bei den Wettspielen, yermag doch symmetrische Gruppierung in Verbindung mit Ab- wechselung und Steigerung den Eindruck der lockeren Anhäufung abzuschwächen (ob. S. 146). Im übrigen hat Virgil mehrfach das Episodische, das solchen Handlungen anhaftet, glücklich über- wunden. In Episoden aufgelöst ist z. B. die Iliupersis bei Quintus und Tryphiodor: wir haben eine Fülle von Einzelereignissen vor uns, die beliebig verringert oder vermehrt oder umgestellt werden könnten, ohne daß dies Einfluß auf die Komposition hätte. Virgil setzt an Stelle dessen eine streng geschlossene, auf ein bestimmtes Ziel zustrebende Erzählung, in der die einzelnen Ereignisse Panthus, Androgeos, Goroebus' List, Kassandras Raub, Bestür- mung der Burg, Priamus' Tod notwendige Glieder sind, deren keines seine Stelle mit einem anderen tauschen könnte. Episodisch ist die Erzählung von Aeneas' Irrfahrten bei Dionys: der einzige Faden, an dem wir geführt werden, ist der geographische, aber wenn der Stationen halb so viel oder doppelt so viel wären, würde die Komposition nicht alteriert werden. Bei Virgil sind bis zur ersten Landung in Italien alle einzelnen Stationen, von der kurzen Erwähnung Actiums abgesehen, notwendige Etappen auf dem Weg zu dem von Anfang an vorgezeiclineten Ziel. Episodisch ist ein großer Teil der Kampfschilderungen bei Homer; bei Virgil hat in jedem der vier Bücher jedes Einzelglied seine feste Stelle im Ganzen: eine Reihe von Einzelerfolgen, die in siclr wieder wohl gegliedert sind, bilden immer eine Phase des

1) Anders gegliedert ist der Etmskerkatalog in X: acht Führer, die ersten vier aus dem eigentlichen Etrurien (auch hier sind die geographisch entferntesten in die Mitte genommen), die zweiten vier (schon die Symmetrie fordert, daß Cinyrus oder Cunarus 186 der Name eines Führers sei) von außerhalb, zwei Ligurer und zwei Mantuaner.

442 Viertes Kapitel. Komposition.

Gesamtkampfs, der nach einer bestimmten Richtung dadurch ge- fördert wird; am Schlüsse jedes Akts ist ein festes Ziel erreicht Episodisch endlich ist die Nekyia der Odyssee angelegt: die Folge der Gruppen Heroinen, Heroen des troischen Kreises, andere Verstorbene erscheint zufällig; aus der großen Zahl der 6e- spi^he, die Odysseus geführt hat, greift er die wichtigsten her- aus, könnte aber noch viel mehr berichten; aus der großen Zahl der längst Verstorbenen sieht er sechs er würde noch viel mehr gesehen haben, hätte ihn nicht die blasse Furcht veitrieben. Aeneas sieht nicht zufällig dies und jenes; sein Weg führt zu Anchises, und auf diesem Wege berührt er notwendig die samt- lichen Abteilungen der Unterwelt und sämtliche Blassen Yon Verstorbenen sieht er oder hört von ihnen, von den noch nicht Begrabenen an bis zu denen, die schon wieder aufisteigen wollen zu neuem Leben. Er unterhält sich auch nicht mit beliebig vielen: von jenen ersten spricht er Palinurus an, von den Opfern unglücklicher Liebe Dido, von den Eriegsgefalleuen Deiphobus: überall ist das Bedürfnis zur Anrede so einzig motiviert, daß wir das Gefühl haben, es seien dies auch die einzigen, zu denen er reden mußte. ^) Und so spricht im Elysium nur dei eine Musaeus, im Lethetal der eine Anchises: man mache sich klar, wie groß der Unterschied wäre, wenn an Stelle dieser einzelnen einmal zwei träten sofort würde man die Empfindung haben, es könnten auch mehr sein oder weniger: man würde den Eindruck des Notwendigen verlieren.

5. Damit eine Handlung, die ein Ganzes in sich bildet^ auch als Einheit empfunden werde, muß sie einen deutlich hervor- tretenden Mittelpunkt haben, auf den sich das Literesse konzen- triert. In der Mehrzahl der bisher besprochenen Fälle hatte der Dichter den Vorteil, daß die gesamte Handlung sich um eine Person, Aeneas, gruppiert und diesen zu einem bestimmten Ziele führt. Virgil hat sich aber auch sonst dieses Mittels mit Bewußt- sein bedient, um eine Einheit herzustellen. Man prüfe nach, wie

1) Man vergleiche den Anlaß der Fragen: Odysseus fragt aus bloßer Wißbegier einer besseren Motivierung bedarf auch der Dichter nicht, tun seine Geschichten an den Mann zu bringen; bei Aeneas ist überall ein starkes Gefühlsinteresse das Wesentliche.

Einheit der Person. Parallele Handlungen. 443

kunstvoll in der Szene von Priamus' Tod (die aus den oben S. 41 angeführten Oründen zur abgeschlosseneu Handlung gemacht wird) Priamus selbst in den Mittelpunkt gestellt wird dadurch, daß die Erzählung von den übrigen Neoptolemustaten isoliert ist, von Priamus ausgeht und am Schluß bei seinem Schicksal betrachtend yerweilt, während Aeneas selbst hier gänzlich ausgeschaltet wird. Wir haben weiter gesehen, wie die Schlachtschilderungen ganz überwiegend als Aristien angelegt sind: das Interesse des Lesers wird so lange wie möglich bei einer Person oder doch bei einem hervorrageuden Paar von Kämpfern festgehalten: in IX ist es Turnus, in X nacheinander Aeneas, Pallas, Turnus, dann Aeneas und Mezentius, der nur auf kurze Zeit durch Lausus ersetzt wird; in XI herrscht GamUla, in XII werden Aeneas und Turnus fort- während im Gesichtskreis des Zuschauers gehalten. In «diesem Falle mußte das Interesse aus sachlichen Gründen gleichmäßig auf beide verteilt werden; wo das nicht erforderlich ist, läßt Virgil lieber den Aeneas zurücktreten, als daß er das Interesse zersplitterte: in VIII ist Euander, solange er auf der Bühne ist, durchaus die Hauptperson, die die Handlung führt, deren Reden berichtet werden; Aeneas selbst spricht nur zweimal, bei der Be- grüßung und nach dem Eintreten des von Venus verheißenen Himmelszeichens.^)

Dieser Gesichtspunkt muß vor allem dann im Auge behalten werden, wenn die Handlung sich auf zwei räumlich getrennte Parteien verteilt Eine gleichmäßige Berücksichtigung beider nötigt den Hörer dazu, fortwährend den Standpunkt zu wechseln, and stört so die Einheit des Bildes. Virgil stellt in solchen Fällen die eine Partei resolut in den Vordergrund; die andere wird nur in perspektivischer Verkürzung sichtbar. Für IX wurde das schon oben (375) bei der Betrachtimg der Erzählungsform

1) Anders liegen die seltenen Fälle, wo Ensembleszenen von gleich- mäßig berechtigten Personen gefordert sind ; dann wahrt Virgil die Einheit- lichkeit des Bildes dadurch, daß er uns die Gruppen auch wirklich dauernd im Auge behalten läßt. Man prüfe daraufhin die Szene des Aufbruchs von Troja, wo neben den beiden Männern auch Creusa und Julus zu berück- sichtigen waren (vorbereitet 597 fg., dann 661. 666. 673 ff. 681 ff. 710f 728 ff. 747; nur 636 könnte man die Gegenwart der beiden ausdrücklicher erwähnt wünschen), oder die Regatta in Y, die unter diesem Gesichtspunkt ob. S. 168 betrachtet wurde.

444 Viertes Kapitel. Kompoeition.

klar: im ersten Teil stehen wir auf Seiten der Latiner and die troische Seite sehen wir nur auf Augenblicke; im zweiten Teil, der Nisusepisode^ gehen wir vom troischen Lager aus und kehren dahin zurück; erst im dritten vereinigen sich die beiden Parteien. In den einleitenden Szenen von IV tritt Aeneas überhaupt nicht auf; in den Szenen nach Mercurs erster Sendung ist Dido durch- aus Protagonist, wir folgen der Entwickelung ihres Leidens, und die Handlung auf Seiten des Aeneas, die daneben weiterlauft, dient scheinbar nur dazu, die einzelnen Stadien jenes Leidens zu motivieren. In XI werden wir zuerst auf kurze Zeit ins Lager des Aeneas geführt, dann aber geht die Handlung auf die latinische Seite über und bleibt dort bis zum Schluß; den Kampf und seine Folgen erleben wir auf Seiten Gamillas und (ier Ihren. Vor allem aber ist die Komposition von YH durch diesen Gesichtspimkt beherrscht. Sobald wir mit dem neuen Prooemimn zu den Latinem geführt sind, ist der Standort des Zuschauers für alles weitere gegeben. Es wird uns nicht eigentlich erzählt, wie Aeneas zunächst auf herzliches Entgegenkommen traf, dann aber durch plötzlichen Wechsel der Lage in seinen Hofihungen enttäuscht wurde, sich wider Willen in ein Gefecht verwickelt sah und trotz aller Bemühungen den Krieg allmählich unvermeidlich werden fühlte. Sondern es wird uns erzählt, wie Latinus, über die Zu- kunft seiner Tochter durch Prodigien beunruhigt, ein Orakel des Faunus erhielt, dieses sich mit der Ankunft der Troer erfüllen sah; wie dann durch den Widerstand erst seiner Ghittin, dann des Turnus, dann aller seiner Untertanen der geplante Ehebund zu Schanden wurde und er sich, unfähig dem Ansturm die Spitze zu bieten, zurückzog, so daß nun in dem so lange friedlichen Latium der Krieg entbrannte; rex arva Latinus et urhes iam senior longa placidas in pace regebat beginnt die Erzählung; mit der Rüstung der Latiner zum Kriege schließt sie. Zu Aeneas werden wir nur im Anfang einmal zurückgeführt, wo es gilt, die Vorgeschichte der Gesandtschaft, die Latinus empfängt, zu er- zählen; wir hören nachher, daß die Gesandten reich beschenkt wieder abziehen, hören aber nicht, welchen Eindruck ihre Bot- schaft auf Aeneas machte: zu diesem kehren wir erst zu Beginn des nächsten Buches wieder zurück. In diesem Falle leidet sogar die Vollständigkeit der Erzählung unter dem künstlerischen Prinzip; denn wir möchten doch wissen, warum Aeneas der Einladung

Einheit der Bücher. 445

des Latinus nicht folgt, warum er den ersten blutigen Zusammen- stoß nicht hindert u. dgL m.^)

6.

Von den Szenen und Szenenfolgen steigen wir zur nächst- höheren Einheit auf, dem Buche; warum gerade dies durchaus als Einheit behandelt wird, habe ich oben S. 261 besprochen.

Zunächst gilt für die Bücher das Gesetz der Einheit der Handlung, das wir oben als ideelle Forderung für das Ganze an- gestrebt sahen; aber bei der großen Mehrzahl der Bücher war schon die Konzeption einheitlich, und das ist für die Einheitlichkeit der Wirkung entscheidend. Jedes Buch soll ein in sich abgeschlossenes Stück der Handlung enthalten und zu einem rdXog im aristotelischen Sinne führen. Freilich vermag selbst die größte Kunst eine zu- sammenhängende epische Handlung nicht so restlos in zwölf ge- schlossene Teile zu zerl^en, daß nicht Überleitungen gelegentlich nötig würden; die werden dann an den Beginn der Bücher gestellt, gewissermaßen als Prooemium, das der wirklichen äQX'>i d^r Hand- lung vorausgeht. Von mehreren Büchern ist ohne weiteres klar, daß sie die gestellte Bedingung erfüllen: U Qiupersis, HI Irrfahrten, IV Dido, V Aufenthalt in SiciUen, VI Nekyia, VE (mit Einleitung) der Ausbruch des Krieges in Latium und seine Anlässe, VIH Aeneas* Ausfahrt (mit Einleitung), IX Turnus' Taten in Aeneas' Abwesenheit, X erste Hauptschlacht nebst vor- bereitender Götterversammlung, XII der Zweikampf: seine Vor- bereitung, vorübergehende Vereitelung und Ausführung. Man beachte, wie z. B. in X der Schluß ganz in derselben Weise an- gesetzt ist, wie wir ihn bei XII, also für das ganze Werk, an- gesetzt fanden: mit dem Tode des Mezentius schließt X ab; um das zu ermöglichen, ist der Entsatz des Lagers vorweggenommen (ob. S. 358), die Folgen aber, die dieser Sieg hat, auf das nächste Buch verschoben: die Ansprache, die Aeneas am folgenden Tage hält (XI 14 ff.), würde aUer Wahrscheinlichkeit nach noch auf den Tag der Schlacht fallen. Wie im übrigen das Episodische mit bewußter Kunst gemieden ist, mögen einige Beispiele zeigen.

1) Diese Un Vollständigkeit ist freilich Yirgil hier sehr gelegen; hätte er Aeneas in die Handlung an Latinus* Hofe mit eingreifen lassen, so wäre die ohnehin schon nicht einfache Handlung noch erheblich komplizierter geworden.

446 Yiertes Kapitel. Komposition.

In VI war außer der Nekyia Tod und Bestattung des Misenus zu erzählen y die an sich mit der Unterweltsfahrt in keinem inneren Zusammenhang standen. Nun läßt aber Yirgii den Aeneas sofort nach der Landung sich zur Sibylle begeben; während seiner Abwesenheit tritt der Tod des Misenus ein; die Forderung, daß der Leichnam bestattet und die Mannschaft entsühnt werde, wir-d außer dem goldenen Zweig zur Bedingung der Hadesfahrt gemacht. Bei ihrer Rückkehr finden Aeneas und Achates wirklich den Leichnam: das dient nicht nur als handgreiflicher Beweis für die untrügliche Seherweisheit der Sibylle (189), sondern führt indirekt auch zur Auffindung des goldenen Zweiges; während Aeneas diesen in den Tempel bringt, errichten die Genossen den Scheiterhaufen und die Bestattung wird vollzogen, ehe die Hekate- beschwörung und damit die Nekyia beginnt: in ihre Vorbereitung ist also die Misenusgeschichte aufs engste yerfiochten.

Die Schildbeschreibung hatte in der Handlung keine gegebene Stelle; ein episodisch komponierender Dichter hätte sich yielleicht damit begnügt, am Schluß von VEI oder während der Seefahrt in X die Waffen durch Venus überbringen zu lassen; Virgil be- reitet das durch das verkündende Himmelszeichen vor und macht dies zum notwendigen Bestandteil der Handlung: Aeneas, durch Euanders Antwort enttäuscht und entmutigt, wird so der göttlichen Hilfe versichert und setzt unverzüglich das neue Unternehmen, die etruskische Expedition ins Werk.

Inmitten von IX steht die Nisusgeschichte, an sich eine Episode wie die Dolonie, mit dieser nicht nur inhaltlich, sondern auch darin verwandt, daß ihr Ausgang für die Entwickelung der Haupthandlung keine sichtbaren Folgen hat. Aber doch hat Virgil eine engere Verbindung erstrebt und erreicht als der home- rische Dichter. Zunächst hält die Episode den ersten und den letzten Teil von IX zusammen, die sonst auseinanderfallen würden: so ist die Nacht zwischen den beiden Tagen ausgefüllt, die Kon- tinuität der Handlung hergestellt. Sodann ist die Expedition der beiden weit einfacher und besser motiviert als bei dem alten Epiker. Dem macht es große Mühe, seine Helden auf den Weg zu bringen. Erst will Agamemnon die Seinen versammeln, um ein Mittel zu finden, die Achäer und die Schiffe zu retten (ÜC 19. 44); dann will er Rat halten, ob man fliehen oder weiter kämpfen solle; schließlich, nachdem man sich gemeinsam über-

Einheit der Bücher. 447

zeugt hat, daß die Wachen auf ihrem Posten sind, kommt Nestor auf den Gedanken, ein Späher solle auskundschaften, ob die Troer auf freiem Felde zu bleiben oder nach der Stadt zurückzukehren gedenken welche Kunde zur Rettung der Achäer nun nicht eben viel beitragen kann. Odysseus und Diomedes fragen denn auch den Dolon gar nicht erst danach (oder dringen wenigstens nicht auf Antwort), und als sie mit den erbeuteten Rossen zurück- kehren, ist erst recht weder von ihrem Auftrag noch von der RettuDg der Achäer mehr die Rede. Aeneas hat das Lager verlassen, ehe sich noch der Feind hatte sehen lassen; jetzt aber ist das Lager umzingelt, der kommende Tag wird einen schweren Sturm bringen: nichts natürlicher, als daß die Troerführer den dringenden Wunsch hegen, den abwesenden König vom Stand der Dinge zu unterrichten, damit er seine Maßnahmen danach treffe, seine Rückkehr beschleunige usw.; auch ersehnt man zu wissen, ob sein Hilfsgesuch Erfolg gehabt hat. Nisus kennt diesen Wunsch aller; in stiller Nacht, da er von der Mauer die Wachtfeuer der Feinde an einer Stelle erlöschen sieht, blitzt in ihm der Gedanke auf, selbst der Bote zu sein. Er findet mit Euryalus die Führer bei der Beratung eben über das, was er vor hat; sogleich wird sein Anerbieten angenommen und der Auf- bruch erfolgt. Die Tat des Diomedes und Odysseus geht spurlos vorüber: weder Freund noch Feind weiß nachher mehr davon. Wir erfahren zwar, wie die Troer über die Getöteten klagen (523), nachdem Apollon, leider zu spät, den Hippokoon geweckt hat; aber nachdem die beiden Helden ins Lager zurück- gekehrt, gebadet und gespeist sind, ist alles vorbei, und es erhebt sich Eos von ihrem L^er beim herrlichen Tithonos, als wäre in der Nachjj gar nichts Merkwürdiges geschehen. Virgil schildert, wie die Rutuler den gefallenen Volcens und die erbeuteten Spolien ins Lager bringen; dort wird zur allgemeinen Bestürzung das imter den Schlafenden angerichtete Blutbad entdeckt. Aber die Täter sind doch bestraft, und als man mit Tagesanbruch gegen das Lager vorrückt, ziehen die Köpfe des Nisus und Euryalus, auf hoch erhobene Lanzen gesteckt, den Triumphierenden voraus. Die Verteidiger, die sich schon trüben Herzens zur Abwehr rüsteten, werden durch den Anblick lebhaft ergriffen; die Mutter des Euryalus erfüllt das Lager mit herzzerreißenden Klagen, die den Mut der Männer lähmen; um Schlimmeres zu verhüten, läßt

448 Viertes Kapitel. Komposition.

Julus die unglückliche Frau ins Zelt tragen. Man sieht^ wie nicht nur äußerlich die Kontinuität der Handlung gewahrt ist^ sondern auch der unglückliche Ausgang des Abenteuers dazu beiträgt, uns lebhaft die Stimmung zu vergegenwärtigen, in der Angreifer wie Verteidiger den Kampf des neuen Tages be- ginnen.

Mit der Einheit der Handlung verbindet sich auch beim Buch gern die Einheit der Person; nicht immer ist das Aeneas. IV setzt mit Dido ein und schließt an ihrem Leichnam; IX hebt mit Turnus an und hört bei ihm auf; desgleichen eröffiiet Turnus XII, das mit seinem Tode endet. In Y hat Yirgil zum ideellen Mittelpunkt Anchises gemacht; an ihn denkt Aeneas, sobald der Sturm nötigt, den sicilischen Hafen anzulaufen (31); ihm wird nach Aeneas' Gedächtnisrede das Totenopfer gebracht; ihm gelten die Leichenspiele (vgl. auch 550), im Gedanken an ihn klagen die troischen Frauen (614 vgl. 652), seine Erscheinung endlich leitet die letzte Phase des sicilischen Aufenthalts ein, die Gründung von Segesta und dem Heiligtum des Anchises.

Wie in IV, IX und XII Anfang und Ende sich dadurch zu- sammenschließen, daß dieselbe Person beides beherrscht, so hat Virgil auch sonst durch kontrastierende oder parallele Anfangs- und Schlußbilder die Einheit der Bücher hervorgehoben. Am Eingang wie am Schluß von V finden wir Aeneas auf dem Meere, dort Sturm und Wetter, hier glücklichster Fahrwind und ruhigste See; dort das Gespräch des Aeneas mit Palinurus, hier Palinurus' Sturz und Aeneas' Klage. ^) Kontrastierend eröffnet (nach der

1) Die Vorhersage des Neptun 813 tuUis quos optas portus aceedei Ävemi, unus erit tantum, amissum quem gurgite quaerety unum pro malUs dabitur caput scheint mir der Keim der Szene zu sein. Palinurus' Tod sollte nicht zufällig eintreten das hätte Virgils künstlerischen Prinzipien widersprochen ; wenn sein Tod, in Anlehnung an bekannte religiöse Vorstellungen, als Vertretungsopfer aufgefaßt werden sollte, so konnte das nur durch den Mund eines Gottes ausgesprochen werden, und so erfand Virgil die Szene zwischen Venus und Neptun (ganz so urteilt auch Drach- mann [ob. 294, 2] 133) und führte sie gleichsam als Parallelszene zu der der Juno mit Aeolus in I reich aus. £ine Unzuträglichkeit, die sich dabei ergab, wird Virgil selbst empfunden haben, ohne sie doch beseitigen zu können: die Gewährung des Gottes mußte sichtbaren Ausdruck finden, was durch die Beruhigung des Meeres geschieht; andererseits wäre Aeneas bei stürmischer See gar nicht abgefahren; so kommt es, daß von 768 fg. zu

Einheit der Bücher. Ansnahme : XI. 449

Einleitung) und schließt Aeneas die Handlung in VIII: zu Beginn sorgenvoll und zweifelnd^ am Schluß im begeisterten Anschauen des Götterschildes versunken ^ sicherer Hilfe und des Sieges ge- wärtig. In lY folgt auf die Exposition unmittelbar die Szene^ in der Anna der Schwester zu dem neuen Ehebunde rät; un- mittelbar vor dem Abschluß sehen wir die Beraterin in Verzweif- lung über die verderbliche Folge ihres Rats. Danach verstehen wir auch besser die Komposition von I, in der man Einheit ver- missen könnte: es beginnt mit der Todesgefahr des Seesturms^ es schließt mit dem Festmahl^ bei dem die dort Gefährdeten alle in sorgenloser Sicherheit versammelt sind: ein anschaulicher Aus- druck der Rettung aus der Gefahr. Es verstand sich aber^ daß dies Festmahl^ das zugleich den Anlaß zu Aeneas' Erzählung gibt, an die Ankunft des Aeneas sich anschließen mußte^ nicht wie in der Odyssee durch andere Ereignisse davon getrennt sein durfte: dann würde es nicht mehr als notwendiger Ausdruck der wieder erlangten Sicherheit, also auch nicht als Schlußstein des einheitlichen Baues von I erscheinen.

Noch bleibt XI zu besprechen, das einzig geschlossene Ein- heit nicht aufweist Die Kontinuität der Handlung ist zwar ge- wahrt, aber die Teile fallen auseinander: zuerst die Folgen des ersten Schlachttages Szenen im Lager des Aeneas, Pallas' Leichenzug, Klage des Euander , dann, nach dem Wafifenstill-

820 fg. kein rechter Fortschritt ersichtlich ist. Wenn übrigens immer wieder behauptet wird, es liege ein deutlicher Widerspruch darin, daß Neptun nur von einem Opfer spreche, nachher aber außer Palinnrus auch Misenus im Meere umkomme, so verstehe ich schlechterdings nicht, wie man die schon von Heyne kurz und klar festgestellte Tatsache ignorieren kann, daß Neptun nur von der Überfahrt nach Italien spricht (s. o.), daß damit also der Tod des Misenus, der nach der Landung erfolgt, nicht das Ge- ringste zu schaffen hat. Heyne hat dann seinerseits wieder Anstoß daran genommen, und andere haben daraus weitere Folgerungen gezogen, daß Aeneas und Achates zweifeln, auf wen sich die Worte der Sibylle 149 icuxt exanimum tü>i corpus amici (heu neacis) totumque incestat corpore dassem beziehen, statt sofort an Palinurus zu denken: aber der war ja doch weit, weit von Cumä irgendwo im Meer umgekommen, und es lag gewiß der Ge- danke nicht nahe, daß sein Leichnam jetzt am Strande liege und ein piaculwn für die Schar des Aeneas wie für ihn selbst sei. Denn es kommt ja doch offenbar auf eben diese leibliche Verunreinigung an, nicht darauf, daß irgendein Freund des Aeneas noch unbeerdigt ist: womit auch der von Norden 177 gerügte Widerspruch wegfällt.

Heime, TirgilB epische Technik. S. Aufl. 29

450 Viertes Kapitel. Eompositioii.

stand, der zweite Schlachttag, eingeleitet dnrch die RatsYersamm lung in Laorentum. Die eigentliche Heldin dieses zweiten Tages^ Camilla, tritt erst nach der Mitte des Buches auf (498). Wie hätte Yirgil das vermeiden können? Entweder mußte er das ganze Buch GamiUa zuweisen und die Folgen der ersten Schlacht noch zu Buch X schlagen; das hätte vielleicht trotzdem die Ein- heitlichkeit bewahren können, aber die Steigerung bis zum Schlüsse Tod des Mezentius wäre verloren gewesen. Oder Virgil mußte auf CamiUa verzichten und den Zweikampfsvorschlag in XII die unmittelbare Folge der Ratsversammlung sein lassen; dann hätte XI an pathetischem Gehalt stark verloren und wäre zum bloßen FüUstück geworden. Endlich konnte er daran denken,, den ersten Teil ganz fallen zu lassen: aber damit wären nicht nur wichtige Züge im Bilde des Aeneas und Turnus, sondern auch die ganze XQOTcagaöxsvij des Zweikampfs beseitigt worden. So- mit wählte der Dichter das kleinste Übel und durchbrach in diesem einen Falle sein Kompositionsprinzip, wie er in anderen sich zu geringerer Eonzession gedrängt sah; das Prinzip ala solches wird durch diese Ausnahme nicht verdunkelt

7. Wir kehren von der Komposition einzelner Glieder zu der des Ganzen zurück und fragen, wie weit diese durch die geschil- derte Yerselbständigung der Bücher affiziert worden ist. Es liegt ja auf der Hand, daß die Tendenz zur abgeschlossenen Rundung der Teile bis zu einem gewissen Grade entgegenarbeiten mußte der Tendenz auf Einheit des Ganzen.^) Statt jeden Teil aus dem vorhergehenden herauswachsen und die notwendige Yoraussetzimg des folgenden bilden zu lassen, mußte die Neigung entstehen, die Voraussetzungen, soweit sie nicht ganz allgemeiner Art waren,, auf das zu beschränken, was sich innerhalb des einzelnen Buches geben ließ, und die Wirkungen nicht über die Grenze der Bücher zu erstrecken. Das mußte vornehmlich dann eintreten, wenn der Dichter ein Buch ausführte, ohne noch das frühere geschrieben zu haben, das die Voraussetzungen für jenes zu geben hatte. Die tatsächlichen Widersprüche, die sich bei dieser Arbeitsweise einschlichen, sind nicht das Schlimmste; sie hätten sich beseitigen

1) S. ob. 8. 261 ff.

Einheit der Bücher und des Ganzen. 451

lassen und wären im wesentlichen auch wohl beseitigt worden. Wichtiger war es^ daß der Dichter unwillkürlich dazu geführt wurde^ Motive des einen Buches in späteren fallen zu lassen oder in früheren nicht so vorzubereiten^ wie man es in einer streng einheitlichen Erzählung wohl erwarten könnte; femer wichtigere Personen verschwinden zu lassen oder verspätet einzuführen.^) In diesen Fällen ist außerordentlich schwer zu entscheiden^ ob unfreiwillige und unbewußte Eonsequenz der Entstehungsweise, oder bewußte und gewollte Lizenz vorliegt. Ich gebe zunächst Beispiele für die erwähnte Behandlung der Personen. Drances steht in XI im Vordergrund; man kann sich wundem, daß er in XTT ganz verschwindet und keinen Versuch macht, den Vertrags- bruch zu verhindern. Amor ist in I an die Stelle des Ascanius getreten; in IV ist davon nicht mehr die Rede.*) Andererseits tritt in IV Anna stark hervor: man hätte erwarten können, schon in I von ihr zu hören. Gamilla ist freilich im Katalog von VII schon eingeführt; aber sie verschwindet in IX und X, um dann in XI die Bühne zu beherrschen.") Jutuma ist in XII um ihren Bruder Tumus aufs Zärtlichste besorgt; darauf scheint die kärg- liche Erwähnung, die ihr der Dichter X 439 gönnt, kaum ge- nügend vorzubereiten. In allen diesen Fällen hätte frühere Ein- führung oder spätere Durchführung der Personen den betreffenden einzelnen Bücher künstlerisch betrachtet kaum zum Vorteil ge- dient, sondern nur die Handlung unnötig kompliziert, und es ist wohl möglich, daß Virgil deshalb mit vollem Bewußtsein davon absah; zweifellos aber wird der Eindruck des Episodischen in der Gesamtkomposition dadurch verstärkt. Mit der Behandlung der Motive steht es nicht anders. Die Enthüllungen, die in VI dem Aeneas von der Sibylle wie von Anchises zuteil wurden, sind in den folgenden Büchern völlig ausgeschaltet; weder im Guten noch im Bösen scheinen sie auf Aeneas' Stimmungen ein- zuwirken. Das trägt gewiß dazu bei, die Nekyia im Rahmen des Ganzen zu isolieren; aber man frage sich, wie eine Durch-

1) Zu den wichtigeren Personen rechne ich z. B. nicht Achaemenides, dessen späteres Verschwinden antiken Virgilkritikem incongruum erschien (Serv. m 667, Tgl. Georgii), oder Caieta, des Aeneas Amme, die erst da er- wähnt wird, wo sie stirbt, VII 1.

2) Ob. S. 392.

3) Vgl. ob. S. 326.

29

452 Drittes Kapitel. KompoBition.

fühnmg jenes Motivs möglich gewesen wäre, ohne das Interesse der Handlung abzuschwächen. Als Aeneas von Enander auf- bricht, wählt er die tüchtigsten seiner Genossen aus und sendet die beiden Schiffe mit den übrigen zum La^r zurück, daß sie dem AscaniuB Botschaft vom Vater bringen (648). Wir hören nichts wieder von ihnen ^); aber man frage sich, wann und wie diese Botschaft in IX hätte eingeführt werden sollen: ganz ab- gesehen von den beiden Schiffen, die bei ihrer Ankunft mit Be- dauern gewahr werden mußten , daß sie den rechten Zeitpunkt verpaßt hatten, um zu Nymphen verwandelt in die Unsterblich- keit einzugehen. Hält man sich vor Augen, daß YHI sowohl wie IX für die Einzelrezitation komponiert war, so begreift man das Verfahren des Dichters auch bei der Annahme, daß es be- wußt war, vollkommen. Auffälliger noch kann häufig die mangelnde Prooeconomie sein. Ich wies früher darauf hin, daß Virgil ims Dinge, die er selbst wohl hätte erzählen können, aus den Reden seiner Personen als geschehen entnehmen läßt (S. 391); dieser Freiheit bedient er sich besonders gern, wenn das Ereignis selbst dem betreffenden Buche vorauf liegt. Juppiter fragt in der Götterversammlung zu Beginn von X entrüstet abnueram beUo Jtaliam concurrere Teturis^ quae contra vetitwm discordia? Das würde völlig genügen, wenn X allein stünde; wer das Gedicht im Zusammenhang liest, fragt sich unvermeidlich, wann das Verbot wohl erfolgt sei. In VIU beruft sich Aeneas auf ein Versprechen seiner göttlichen Mutter, ihm beim Ausbruch des Krieges Waffen, von Vulcan geschmiedet, zu bringen: wir vermögen nicht zu sagen, wann etwa dies Versprechen gegeben sein könnte. Wir sehen nur in diesen und ähnlichen PäUen, warum Virgil für die Komposition des einzelnen Buches das betreffende Motiv brauchte, und sehen andererseits, daß eine Vorbereitung in früheren Büchern schwierig, wo nicht unmöglich gewesen wäre, ohne der dortigen Handlung zu schaden. Ein Dichter, dem lückenlose Prooeconomie oberstes Gesetz gewesen wäre, hätte etwa das Orakel betreffs des Palinurus, auf das sich Aeneas VI 343 beruft (ob. S. 392), in in erwähnt; damit hätte er dem Hörer von HI ein Rätsel auf- gegeben, das zunächst ungelöst blieb; der Hörer von VI, der auf jene SteUe nicht verwiesen werden konnte, verstand entweder

1) Heyne z. St. und zu X 238.

Verbindung der Bücher. 453

nicht^ woYon die Rede war, oder mußte Yon neuem erschöpfend belehrt werden.^)

Auch auf die Verbindung der Bücher untereinander ist ihre Yerselbstandigung von Einfluß gewesen. Zumeist ist die Über- leitung Yon einem Buch zum andern dem Dichter yollkommen gelungen, in einem Falle V, VI*) ist das neue Buch so eng mit dem vorigen verknüpft, daß der Anfang bei der Einzel- rezitation entweder geändert oder ein Stück des vorhergehenden hätte dazu genommen werden müssen. In anderen Fällen wird zu Beginn des neuen Buches kurz rekapituliert (VIII. XII), ohne daß dies auch in zusammenhängender Erzählung stören würde-, in anderen aber ist der Anschluß, obwohl vorhanden, doch so locker, daß die Kontinuität der Erzählung, auf die Virgil im Zu- sammenhang der Bücher so viel hält, darunter leidet: das interea (s. ob. S. 386), mit dem X und XI an das Vorhergehende an- knüpfen, überbrückt den Zwischenraum einer Nacht, die auf den zuletzt beschriebenen Tag gefolgt ist, ohne daß ihres Anbruches gedacht worden wäre: es war in beiden Fällen nicht möglich, ohne die Wirkung des Buchschlusses zu beeinträchtigen. Endlich hebt Buch III mit einer förmlichen Einleitung an (1 12)'), die eine Art Exposition der neuen Handlung gibt, den Hauptinhalt von II, die Zerstörung Trojas, rekapitulierend, dann aber die Er- zählung auch schon weiterführend. Daß der Anschluß an U in- haltlich nicht völlig einwandfrei ist, erklärt sich daraus, daß Virgil schon mit den in den Schlußpartien von H erforderlichen Ände- rungen rechnete; die formale Verselbständigung des Buchs durch ein pathetisches (oben S. 361) Prooemium ist ein Auskunftsmittel, zu dem Virgil gegriffen hat, weil es sachlich gefordert war, zu Beginn des Buchs die Vor^nge zwischen Iliupersis und Abfahrt zu erzählen, und es gerade zu Beginn des Buchs nicht möglich

1) Die Möglichkeit, daß Virgil sich homerischer Analogieen erinnert hahe, ist auch in diesen Fällen vorhanden: ^ 277 hezieht sich Achill auf eine Prophezeiung seiner Mutter, daß er vor Troja durch Apollos Geschosse fallen werde; früher ist davon nicht die Rede gewesen, so reichlich Gelegen- heit dazu vorhanden war.

2) VI 1 sie fatur lacrimans classique inmittti habencts; Imitation, wie man längst bemerkt hat, von H 1 S>s elnmv und v l &g ^<pato.

8) Daß diese Einleitung mit den Rekapitulationen in VH und IX nicht auf einer Linie steht, hat Karsten, Hermes 89, 271 richtig gegen meine frühere Behauptung eingewendet.

454 Drittes Kapitel. Komposition.

war, über diese handlungsarme Zwischenzeit mit trockenem Be- richt oder bloßer Andeutung hinwegzugehen, ohne die Stirn mmig des Lesers von vornherein ungünstig zu beeinflussen.

8.

Damit eine Dichtung starke einheitliche Wirkung habe, muB sie übersichtlich sein.^) Der Hörer darf niemals den Faden der Erzählung verlieren-, er muß in jedem Augenblicke die Situation klar überschauen; seitab führende Nebenwege müssen vermieden werden; der Blick darf nicht durch verwirrende Mannigfaltigkeit des Sto£fes ermüdet, nicht durch Komplikationen der Handlung gehemmt, nicht durch störende Fülle des Beiwerkes von der Haupt- sache abgelenkt werden. Klare Gliederung einerseits, Vereinfachung und Beschränkung andererseits sind die Mittel, die zu jenem Ziele führen.

Wie in kleineren Abschnitten, die durch ihren Inhalt (Auf- zählung u. dgl.) leicht unübersichtlich werden, durch Gruppierung der Einzelheiten eine übersichtliche Gliederung hergestellt wird, sahen wir bereits oben. Die Bücher dagegen weisen jedes in sich nur diejenige Gliederung auf, die der Stoff mit sich brachte: daß n in drei Teüe zerfallen mußte, ergab sich von selbst (ob. S. 6), imd der annähernd gleiche Umfang dieser Teile folgte aus ihrer gleichen sachlichen Bedeutung, gemäß dem Gesetz der övnfierQiOj das gleichwichtige Dinge gleich ausführlich zu behandeln gebot (ob. S. 357). Im übrigen aber hat Virgil darauf verzichtet, die einzelnen sachlich gegebenen Teile eines Buches auf Kosten der övfifiexQta 'symmetrisch' zu gestalten oder mit künstlichen Mitteln eine nicht sachlich gegebene Gliederung herzustellen; es ist ihm also nicht eingefallen, etwa Anfangs- und Schlußszene von V, die einander inhaltlich parallel sind, auch äußerlich durch gleichen Umfang gleichzusetzen oder in dem langen Weg von UI Ab- schnitte zu markieren, nach denen das Buch in bestimmte und deutlich sichtbare Akte zerfiele: wo durch den klar fortschreiten- den Gang der Handlung die Übersichtlichkeit garantiert ist, be-

1) Das svavvonxov sIvocl hat Aristoteles als Kriterium für die Länge der Tragödie (1450 b 60) wie ded Epos (1450 a 33) aufgestellt; daß es anch für die Komposition von größter Wichtigkeit ist, leuchtet ein und war gewiß auch von der späteren Poetik hervorgehoben worden.

Gliedenmg. Vereinfachuiig. 455

"darf es keiner äußeren Hilfsmittel. Man kann im Gegenteil sagen, daß Virgil, dem Prinzip der Kontinuiiat gemäß, die Übergänge zwischen den inhaltlich sich ergebenden Teilen möglichst unauf- fällig zu gestalten sucht, ganz wie das der Dramatiker innerhalb der einzelnen Akte tun wird.^)

Anders steht es mit dem in zwölf Bücher zerfallenden Ganzen. Daß die Handlung in zwei große, inhaltlich einander gleich- stehende Teile zerfällt das Prooemium kündigt sie als solche an , mußte auch äußerlich zum Ausdruck kommen; das ge- schieht durch die Verteilung des Sto£fes auf zweimal sechs Bücher, Ton denen man wieder je zwei zusammenzunehmen mag.^ Der Beginn des zweiten Teiles wird durch das neue Prooemium als solches heryorgehoben; die parallelen Monologe der Juno in I und Vn und ihre darauf folgenden gleichfalls parallelen Hand- langen heben die Besponsion noch deutlicher herror. Ahnlich hatte auch ApoUonios seinen beiden ersten Büchern die Hinfahrt der Argo, den beiden letzten die Abenteuer in Eolchis und die Rückfahrt zugewiesen-, und schon in der Odyssee läßt sich mit -einigem guten Willen die symmetrische Gliederung des Ganzen nach Büchern finden.*)

9. Sehr viel wichtiger als die Gliederung ist das zweite der oben genannten Mittel, die Vereinfachung. Einfachheit und Be- schränkung dient nicht nur der Übersichtlichkeit, sondern vor

1) Den Versuch, den Belling in dem oben S. 439, 2 genannten Buch und in der Festschrift für Vahlen 267 nntemommen hat, symmetrische Gliederung ■einzelner Bücher nachzuweisen, kann ich daher schon aus prinzipiellen Gründen nur sehr mit Einschr&nkxmg billigen, auch abgesehen von dem ^oßen Gewicht, das Belling mit Unrecht auf genaue zahlenmäßige Ent- sprechung der Versgruppen legt. S. darüber z. B. Helm in Burs. Jahresber. OXin 1902 44 ff.

2) Über vn— Xn s. ob. S. 178; im ersten Teil umrahmen I und IV die beiden Bücher der Apologe, V und VI gehören wieder enger zusanunen.

3) 1—12 bis zur Heimkehr, 13—24 Ithaka; im ersten TeU 1—4 Tele- machie, 6—8 von Kalypao bis zu den Phäaken, 9—12 Apologe; im zweiten 13—16 bis zum Plan des Freiermordes, 17-20 Odysseus bei den Freiem, 21—24 Ausführung des Planes von der tö|ov »itsig an. - Hexadische Gliederung der Annalen des Ennius suchte Vahlen nachzuweisen, Abh. d. Berl. Ak. 1886, 1.

456 Viertes Kapitel. KompoBition.

allem der Größe und Erhabenheit des Gedichts-, die Eigenart von Virgils epischem Stil ruht ganz wesentlich auf jenen Grundlagen. Daß läßt sich freilich leichter empfinden als beweisen; aber es muß doch versucht werden, den Eindruck in seine Komponenten zu zerlegen.

Fangen wir mit dem Elementarsten an: die !Zahl der Szenen^ aus denen sich ein längerer Abschnitt der Handlung zusammen- setzt^ wird beschränkt; ich erinnere an die Ilinpersis (im Vergleich etwa mit Quintus), an die Irrfahrten (im Vergleich etwa mit ApoUonios), an die Wettspiele und Kämpfe (im Vergleich mit Homer). Die Zahl der Reden, in denen sich ein Gesprach ab- spielt, wird beschränkt, wie oben gezeigt: einmalige Bede imd Antwort ergänzen sich zu einem Bilde, das sich fester einprägt als ein häufig wechselndes Hin und Wider. Die Zahl der Ge- spräche wird beschränkt: statt des vielfachen Auf und Ab der Götterszenen der Ilias, in denen das Schicksal der streitenden Parteien erörtert wird, haben wir bei Virgil zu Beginn die Ver- heißung des Juppiter an Venus, zum Schluß den Verzicht der Juno gegenüber Juppiter, dazwischen die große Szene, ' in der Venus und Juno sich vor Juppiter gegenüber treten: in diesen drei Szenen ist das Prinzipielle sozusagen erschöpft, in den übrigen Szenen der Götter imtereinander wird nur für Einzelfälle ihr Ein- greifen vorbereitet.

Die Zahl der Personen wird beschränkt, oder es werden, wenn eine große Zahl nicht zu entbehren ist, wie bei den Kämpfen^ ganz wenige ostentativ herausgehoben, alle übrigen auf Statisten- oder episodische Nebenrollen beschränkt: es sollen nicht nur jene wenigen Personen deutlich als übergeordnet erscheinen, sondern auch die klaren Linien ihrer Handlungen rein hervortreten. Man hat oft über die Schemen der fortis Gryas fortisque Cloanihus gespottet, die es nicht zu individuellem Leben bringen. Die scharf- gezeichneten Silhouetten der Teilnehmer an den Wettkämpfen, Sergestus und Cloanthus, EnteUus und Dares u. s. f. beweisen, daß es Virgil nicht an Gestaltungskraft mangelte, wo es ihm gefiel, ihr Spielraum zu lassen. Wenn er also in den ersten Büchern neben Aeneas keinen seiner Genossen hervortreten ließ und selbst den fulus Äch<jUes nur selten mit einem charakteristi- schen Zuge ausstattete, so muß das besondere Gründe gehabt haben. Um Nebenfiguren zu charakterisieren, bedarf es einer

Beschiänknng nnd Yereinfachimg. 457

Nebenhandlung oder wenigstens einer Verästelung und Verbreite- rung der Haupthandlung: hätte VirgU etwa bei dem Seesturm die Führer der SchiflFe charakterisieren oder nach der Landung ihr Verhalten im Unglück differenzieren wollen, so hätte dies die klare Linie der Haupthandlung, die jetzt durch das erste Buch führt, getrübt, die einfache Exposition beschwert. Wer sich das klar gemacht hat, wird es nur in der Ordnung finden, daß z. B. der Amme Gaieta nur bei Gelegenheit des Ortes gedacht wird, an dem sie starb und der von ihr den Namen trägt (VI IflF.): dies, und daß sie des Aeneas Amme war, ist wirklich alles, was der Leser von ihr zu wissen braucht. Er wird es verstehen, wenn kein Versuch gemacht wird, Lavinia aus dem Hintergrunde her- vorzuziehen und zu einer handelnden Figur zu machen; die Er- eignisse am Hofe des Latinus sind so gerade kompliziert genug, und der Dichter bedient sich gern des Vorwandes, daß die alt- römische filia famüias keinen Eigenwillen hat, also auch nicht selbst handelt, sondern von ihren Eltern über sich verfügen läßt. Lavinia soU den Leser gar nicht als Individuum, sondern ledig- lich als Tochter des Latinus interessieren, mit deren Hand das Königreich vergeben wird.

Das Detail wird beschränkt und &st ausschließlich da heran- gezogen, wo es die Gefühlsmomente der Handlung vertieft. Wenn ein leidvoUes Schauspiel uns rühren soU, muß es uns in anschau- licher Lebensfülle vor Augen geführt werden: in solchen Fällen vermeidet Virgil die Ausmalung bis ins Kleinste nicht. Aber ob der Bogen, mit dem ein verhängnisvoller Schuß getan wird, so oder so aussieht, ob das Szepter, das ein König trägt, diesem oder jenem vorher gehört hat, ob das Wild, das Aeneas für die hungern- den Seinen schießt, so oder so zum Ufer hinabgebracht wird, das sind alles Nebendinge, für die Handlung ohne Belang, also nach Virgils Gefühl störend. Wären die Euanderszenen, wie man gelegentlich sagen hört, ein Epyllion hellenistischen Stils: wie vieler sauber nebeneinander gesetzter Strichelchen hätte es da bedurft, um den schlichten Haushalt des Alten zu beschreiben; mit wenigen großen Zügen hat das Virgil gemacht und so ein Stück epischer Handlung gedichtet. Freilich je sparsamer das Detail gegeben wird, um so mehr wirkt jedes einzelne: wenn morgendliches Vogelgezwitscher den alten König weckt, wenn zwei Hunde ihm zur Seite gehen, so wäre das in einem Werke

458 Viertes Kapitel. Komposition.

epischer Kleinkunst fast bedeutungslos: hier birgt es einen ganzen Schatz von Stimmung. TJud wie mit diesen Äußerlichkeiten, steht es mit der Schilderung der Gedanken und Gefühle. Natür- lich hat Virgil^ so gut wie andere auch^ nach dem Master der großen Alexandriner Miniatorbilder von A£fekten malen, einen komplizierten Seelenzustand bis in feine Verästelungen klarlegen können; das bezeugen schon die Eclogen. Im Epos hat er das verschmäht: so oft er Menschen und Götter im Affekt reden läßt, stets sind es einfache ungebrochene Gefühle, die da ans Licht treten. Ich habe früher zu zeigen versucht, wie im komplizier- testen Falle, dem der Dido, wir doch nicht ein kompliziertes, in allen Farben schillerndes und mit zärtlicher Liebe bis ins kleinste nuanciertes Bild erhalten, sondern eine wohl angeordnete Folge schlichter und großer Gemälde: das Fresko des Epikers, der in diesen Gemälden zugleich seine Handlung vorwärts führt. Die Medea des ApoUonios, so geistreich und reizvoll ihr mädchen- haftes Zagen vor dem entscheidenden Schritt, ihr Bangen beim ersten Stelldichein mit Jason beschrieben ist, läßt doch eben durch die Fülle der Einzelzüge epische Größe vermissen; wenn Dido in ähnlicher Lage uns vorgeführt wird, so verzichtet der Dichter auf zierliches Detail und entgeht freilich nicht der Gefahr, ins Konventionelle zu verfallen, aber er wahrt die Einfachheit.

Der Verlockung, Seelenkämpfe zu schildern, geht Virgil, wie im Falle der Dido, so auch anderwärts aus dem Wege. Das kann verwundem; nicht nur das Drama und die hellenistische Erzählung mußten, so sollte man meinen, den Dichter auf dieses Gebiet weisen; auch die Elegie seiner Zeit machte es sich ja wesentlich zur Aufgabe, den Widerstreit sich bekämpfender Ge- fühle auszudrücken. Hätte es nicht nahe gelegen, etwa in Aeneas' Brust die Liebe und das Pflichtgefühl eine Schlacht schlagen zu lassen und den Sieg des Pflichtgefühls psychologisch zu motivieren? Oder die Gewissensskrupel des Königs Latinus ausführlich darzustellen, oder zu zeigen, wie Liebe und verletztes Ehrgefühl bei Turnus Rechtlichkeit und Besonnenheit in heißem Bingen übermannen? Virgil läßt uns ahnen, daß solche innere Kämpfe stattfinden; aber er versteckt sie entweder hinter dem Symbol einer übernatürlichen Einwirkung, oder zeigt sie uns, wie bei Latinus, nur in einem andeutenden Helldunkel. Daß Virgils Anlage zu solchen seelischen Problemen nicht hinneigte, ist sicher, aber das gleiche gilt gewiß

Abwechslung. 459

von den Eampfszenen^ und doch ist er diesen nicht ausgewichen^ weil sie ihm sachlich gefordert schienen; man wird annehmen müssen, daß ihm ein grübelndes Verweilen auf seelischen Kon- flikten dem epischen Stil zuwider zu laufen schien.

10. Zur Beschrankung mußte außer den bisher genannten Gründen noch ein anderer führen: die Scheu vor der Wiederholung oder, positiv ausgedrückt, das Streben nach Abwechslung, variaiio}) Wie Virgil im Ausdruck die Einförmigkeit der stereotypen Wen- dungen meidet^), wie er es vermeidet, einen Auftrag mit den- selben Worten ausrichten zu lassen, mit denen er gegeben wurde*), so geht er der Wiederholung von Motiven nach Möglichkeit aus dem Wege. Anius, der Prophet von Delos, darf nicht prophe- zeien, weil das Helenus tun soll; die Begrüßung des Aeneas und des Helenus wird mit einem Worte erledigt, weil die Begrüßung des Aeneas u^nd der Andromache soeben berichtet war; das Opfer vor der Befragung der Sibylle in VI wird nur in aller Kürze erwähnt, weil die Beschreibung eines wichtigeren Opfers folgen soll^); und so läßt sich noch in vielen Fällen der Anlaß feststellen, warum etwas nicht erzählt ist. Die alten epischen Motive der Handlung müssen freilich wiederholt verwendet werden: Träume und Göttererscheinungen, olympische Szenen und Prophezeiungen, Seesturm und gastlicher Empfang; auch in den Kampfschilde- rungen kehren Typen und typische Vorgänge mehrfach wieder. Virgil hat es in diesen Fällen nur vermieden, die Wiederholungen zu nahe aneinander zu rücken, sie vielmehr annähernd gleich- mäßig auf das ganze Werk verteilt^), auch, wo es anging, die

1) tb yuQ oyioiov xa%h nXriQOvv innsaslv jtot^Bl rag rgaytodiag Aristo t. a. p. 24, 1469 b 31.

2) Ob. S. 364, 2. 8) S. 404 f. 4) S. 868, 1.

5) Dabei ist ohne pedantische Regelmäßigkeit eine fast schematiscbe Ebenmäßigkeit erzielt. Träume: 11 Hektor, m Penaten, IV Mercur, V An- ohises, VII AUekto, VIII Tiberinns. Göttererscheinungen : I Venus, II Venus, m Mercur, V Iris, VE Allekto, Vm Venus, IX Apollo, X Nymphen, XII Jutuma. Olympische Szenen: I Juno-Aeolus; Venus- Juppiter; Venus- Amor, IV Juno -Venus, V Venus-Neptun, VII Juno-Allekto, VIII Venus -Vulcan, IX Mater- Juppiter, X Götterrat; Juppiter-Hercules; Juppiter- Juno , XI Diana- Opis, Xn Juno- Jutuma; Juppiter-Juno. Prophezeiungen auf Aeneas^ Reich

460 Viertes Kapitel. Komposition.

einzelnen Fälle durch eigenartige Ausführung über das Typische erhoben^) und so für Abwechslung gesorgt Die Variation ist vor allem da erforderlich ^ wo die Handlung eine Reihe gleich- artiger Vorgänge fordert. Die Handlung von IH beruht auf wiederholter Prophezeiung: jedesmal vollzieht sich der Vorgang unter völlig neuen äußeren Umständen.*) Die Wettkämpfe in V sind in Zahl und Art der Person wie in Verlauf und Ausgang nach Möglichkeit variiert.') In den Kämpfen der vier letzten Bücher werden die Aristien durch Massenkämpfe unterbrochen und gipfeln in ausgeführten Zweikämpfen; Situation und Ziel des Kampfes sind in aUen vier Büchern deutlich verschieden. Auch bei den Verwundungen ist Variation erstrebt: die oben S. 205 besprochene Gruppe kann als Beispiel dienen.

Die Variation hat Virgil bereits beim ersten Entwurf des Gesamtwerks mit ins Auge gefEkßt. Die Bücher H, IV und VI stellen jedes in seiner Art einen Höhepunkt der pathetischen oder erhabenen Wirkung dar; sie sind durch die ruhigeren Bücher IH und V getrennt, und man bemerkt wohl, wie wichtig es auch von diesem Gesichtspunkt ist, daß V nicht unmittelbar auf IH und VI auf IV folgt. Die pathetischen AUektoszenen und die Vor- bereitung des Krieges sind von seinem Ausbruch durch die ruhigen Euanderszenen geschieden Die Eampfschilderungen in IX bis XII werden in regelmäßigen Intervallen, zu Beginn von X, XI und Xn, durch Beratungsszenen unterbrochen. Wie in Einzelbüchem, z. B. in, zuversichtliche Hoflftiung und trübe Unsicherheit ab- wechseln*), so löst das ganze Werk hindurch Erregung und Be- ruhigung einander ab: die Erregung soll nicht durch zu lange Dauer abgestumpft werden.

und seine Zukunft: I Juppiter, U Creusa, lU 158 Penaten, IX 229 Juppiter, V Schuß des Acestes, VI Heldenschau, VU 98 Faunua, Vm Schild des Aeneas, IX 642 Apollo, X 11 Juppiter, XII 886 Juppiter. Madsengefechte in jedem Buche einmal, ob. S. 193 f. Ausgeführte Zweikämpfe: IX Turnus- Pandarus, X Turnus -Pallas; Aeneas -Lausus und Mezentius, XI Camilla- Ligurer, XII Aentas-Tumus. Adlokutionen der Führer: IX Turnus; Mnestheus, X Tarchon; Turnus; Pallas, XI Aeneas; Turnus, XII Tolumnios; Aeneas; dagegen z. B. in Ilias O siebenmal.

1) Man vergleiche etwa untereinander die Träume des Aeneas II 270. m 147. IV 664. Vni 26.

2) Ob. S. 100. 8) S. 147 f. 4) S. 98 f.

Bereicherang. 461

11.

Durchf ührang der VariatioD wird nnr durch Mannigfaltigkeit ermöglicht; die Beschrankung bedarf als notwendigen Korrelats der Bereicherung, soll sie nicht Dürftigkeit zur Folge haben. Jedes Motiv soll nach Möglichkeit nur einmal in der gleichen Form auftreten; aber die FüUe der vorhandenen Motive soll er- schöpft und die Wirkung jedes einzelnen vertieft werden.

Aristoteles unterschied vier Hauptarten von Dramen, den Gattungen der Fabel entsprechend (a. p. 18): das 'verflochtene*, wesentlich auf Peripetie und Wiedererkennung aufgebaut, das pathetische, das ethische und das mirakulöse: am besten sei es, lehrte er, das alles zu vereinigen. Virgil meinte das wohl in seinem Epos erreicht zu haben : wenn es auch überwiegend pathe- tisch ist, so fehlen doch Peripetien ebensowenig wie die 'Wieder- erkennung'^), Ethisches ebensowenig wie Mirakulöses*): es ver- bindet die Eigenschaften von Ilias und Odyssee.') Es vereinigt ja aber auch in sich wesentliche Bestandteile von der Fabel beider Gedichte und ergänzt das Fehlende durch neue Motive des Dramas oder späterer erzählender Poesie: es ist reicher und mannigfaltiger als irgendein früheres Gedicht, und es beschränkt sich nicht darauf, durch Erzählung zu ergötzen: es belehrt zugleich und er- baut^ verbindet das utüe mit dem dulce. Eine gewisse Totalität ist unverkennbar angestrebt; man wird denselben Eindruck haben, wenn man sich z. B. die verschiedenen Erscheinungsformen des Übernatürlichen in der Aeneis vergegenwärtigt: der Kreis der Möglichkeiten ist erschöpft. Aber auch das einzelne ist ganz analog behandelt. Was gegeben wird, ist einfach, aber der enge Kreis, der gezogen ist, wird auch nach allen Richtungen durch- messen. Die Reden gehen gerade auf ein Ziel los; aber der eine

1) Ich meine vor allem die allmählich nnd langsam vorbereitete ScvayvmQiaig des vom Schicksal bestimmten Landes, die VU 107 ff. erzählt wird; vgl. Aristot. 16, 1465 a 10 %al ij iv rolg ^Otvelduig {&vaYvmQi6ig). iSoütsai yocQ rbv t&xov övvhXoyLöavzo xr\v üytaQiUvi\v ^ St* iv rovrm siiucgro dTCO^avslv airalg^ xal yotg i^stid^iöav ivta^&a,

2) 06a iv "Aidov Aristot. 1456 a 4: dazu die Haipyien, Allekto, die Verwandlung der Schiffe, die Dira etc.

3) Aristot. 24, 1469 b 13 %al yccg xai t&v Tcoirnidtoav kxdtegov avvi- cxr^TiBv i] yiv 'lUag änXovv xai '3tOL^rixi%6v ^ ii 61 'Odvöösicc nsnXsyfLdvov . . aal ifiixi^, natürlich auch tsgarmSrig.

462 Viertes Kapitel. EompositioD.

Gedanke, den sie ausdrücken, wird nach allen Seiten gewendet, bis nichts mehr zu sagen bleibt. Die Seelenzustände sind ein- fach und ungebrochen ; aber jede einzelne Stimmung, jeder einzelne Affekt wird in seinem vollen Gehalt erschöpft. Man erinnere sich, wie die gewiß nicht künstlich komplizierte Seelenstimmung der Troer bei der Abfahrt von ihrer Heimat in Kürze sich all- seitig vor uns entfaltet*); oder wie die einzelnen Stadien, die der Kummer Didos durchläuft, jedes für sich ausgebeutet sind. Die Handlungen der Götter und Menschen sind einfach, und die Motive ungesucht und klar; aber wir sollen sie auch in jedem Falle möglichst vollständig übersehen.') Komplizierte Situationen werden nach Möglichkeit gemieden; aber wir betrachten eine Situation von allen Seiten und beherrschen sie dann vollständig.') Virgil bleibt nicht an der Außenseite der Ereignisse; er vertieft den Eindruck, indem er uns die Stimmung der Handelnden enthüllt; er bereichert die Handlung äußerlich, indem er Peripetie und Überraschung einführt; innerlich, indem er seelische Vorgänge sich abspielen läßt Ein Beispiel mag hier genügen; andere sind uns zur Genüge im Laufe der Untersuchungen begegnet. Man halte die Palinurusszene der Nekyia neben die entsprechende Elpenorszene der Odyssee: hier einerseits der Schmerz des Odysseus, andererseits der schlichte Bericht und die flehentliche Bitte des Elpenor um Bestattung; bei Virgil erstens die überraschende Auf- hellung des zweideutigen Orakels, dann in Palinurus' Rede das Ethos des treuen Dieners (351), die pathetische, mitleiderregende Erzählung imd Schilderung seines jetzigen Leids, die Bitte, ihn mit über die Styx zu führen; diese Bitte wird von der Sibylle zurückgewiesen, aber dafür die tröstliche Aussicht auf Bestattung und dauerndes Gedächtnis eröffnet; dadurch tritt der Wandel in Palinurus' Stimmung ein: his dictis curae emotae u. s. f. Man hat den Eindruck, daß die Situation in allem, was sie bieten konnte, erschöpft ist: den Eindruck der Totalität.

1) Ob. S. 861. 2) S. 881.

3) In seltenen Fällen, was nicht geleugnet werden soll, hat das Streben nach Bereicherung der Einfachheit und Klarheit Abbruch getan: indem z. B. die ßaxxelcc der Amata möglichst ausgenutzt werden sollte, ist das Motiv getrübt worden, ob. S. 182 ff.

Fünftes Kapitel Die Ziele.

Das Ziel der Poesie im Gegensatz zu anderen Künsten der Rede ist, den Hörer zu ergötzen und zu 'erschüttern', wie wir mit anderem Bilde das 'außer sich versetzen' der griechischen Ästhetik wiedergeben würden: i^dovi} auch tlfvxayoyia und exjtkri^Lg sind die immer wiederkehrenden Schlagworte der nacharistotelischen Theorie.^) Bei der Tragödie fällt das Hauptgewicht durchaus auf

1) Bei Aristoteles selbst in dieser Form bekanntlich nicht; seine tief geschöpfte Lehre von der xdd'uQöig x&v nadruucxcov ist aber offenbar bald nachher anch in seiner Schule trivialisiert worden. Gelegentlich braucht auch er schon das spätere Schlagwort: a. p. 25 &ävvava nsnolritar ^fux^?}- rat, icU' ö^d; l^ijcfc, et xvfiavu (seil. i\ noirittxri ri%vr\) xov xiXovg xov aiycf^g' xb yccg xiXog xriQelxcct, el ovx(og ixTtXrixxixmxeQOV ^ a^rö ^ &Xlo %oul itigos (vgl. auch 14, 1454 a 4; 16, 1466 a 17). Das berührt sich ja auch wirklich aufs engste mit seiner Pathostheorie: das ixnlifjftxBtv führt zur hiisxccöig. Stellen Späterer, die gewiß leicht vermehrt werden können: Polyb. II 66 ixkl (d. h. in der Tragödie) 8hl duc x&v ni^avmxaxfav Xoytov ixTcXfj^ai xal tjjvxaYmyfjtfoiL xaxoc x6 nagbv xo^g ixovovxag. dera. bei Strabo I p. 26 {slvai x6 xiXog) ijdoviiv xal ixnXri^iv. Anon. nsgl ^'ipovg XY 2 x'^g iv noLiJ6£i {(pavxocölag) xiXog iaxlv ix-jtXri^Lg^ xfjg &' iv Xoyotg ivd^yBia. Flut, quom. adol. 17 a xo^o dl itavxl dfiXov^ iki iw^-anoiripLa xal nXdc\ux. ngbg rj8ovi}v 1} fxnXriiiv &xQoaxov yiyovs. Ebd. 26 d 1:6 yaQ ifinad'hg xal nagd- Xoyov xal &7CQoc96xTitov , it nXsiöxri (ihv hinXri^ig iitBxai nXelüxri Sh %a^»?t al fisxaßoXal naQi%iyvci xolg {w&oig. Ps.-Plut. de vita Hom. 6 nsnolrixe &k xal xovg d'sovg xotg äv^gdtnoig öiuXo^vxag 0^ (i6vov i^v;|rayo>y/a^ xal ixnXi^ ^sag %a^iy, &IX' tva . . . ebd. 6 xal xb iJLkv BXov nag' ainm Sii^yrictg x&v ngayiLormv nagdSo^og xal iiv^6Srig xaxsöxsvacxai ^hg xov nXrigoüv d^ymviag xal d'aviiaxog xo^g ivxvy%dvovxag xal ixnXrixxixr\v xrir dxgöaaip xa^'i'Cxdvai. Eustath. Od. pr. p. 1879 &idotai xaxcc xohg xexvoygdtpovg xjj noir^SBi xal xsga- XBvsad'ai, mg ctv ix xovxov ijSovi/iv xb afuc xolg äxgoaxalg xal ^xnXri^iv ifi^otri'' 6SUV. In gewissen alexandrinischen Kreisen scheint man die ixnXriiig haben zurücktreten zu lassen; Eratosthenes bezeichnete als einzige Absicht der Dichter das 'ipvxaymyfjaai , und wirklich kann man sich schwer vor-

464 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

die STtTckri^igj und da das Epos ebenfalls seit Aristoteles, ja schon vor ihm in der ästhetischen Betrachtung Ton der Tra- gödie nicht unterschieden wird, so gilt von ihm das gleiche. An sich brauchte ja das ixTtkrjttBtv vielleicht nicht notwendig mit dem Begriffe heftiger Erregung verbunden zu sein; auch die ruhigste Schönheit kann das Gemüt aufs tiefste bewegen. Aber an diese Möglichkeit wird bei dem Worte im allgemeinen nicht gedacht: man begreift darunter, was seit Euripides als die spezifisch tragische Wirkung feststand: das * Affektvolle, Unerwartete, Über- raschende', wie es Plutarch einmal umschreibt^), das ^Beunruhigende, Staimenerregende'^, oder, um den Freund Virgils reden zu lassen, die Kunst dessen, qui pedus inanüer angü, inrücU, mtdcei, falsis terroribus inplet: bei welcher Bestimmung nur in dem mvicere den zur Abwechslung und Erholung erforderlichen sanfteren Wir- kungen eine bescheidene Stelle eingeräumt wird. Wie entschieden gewisse fundamentale Züge der virgilischen Tecbnik auf das ge- nannte Ziel hinweisen, liegt auf der Hand. Fast alles, was wir in den vorstehenden Untersuchungen als dramatischen Einschlag der epischen Technik in Anspruch zu nehmen hatten, dient der ixnkri^ig: der Epiker versucht, es an packender Wirkung dem Dramatiker gleich zu tun, und lauscht ihm dazu die Geheimnisse seiner Kunst ab. Am greifbarsten tritt das in der Struktur der Handlung hervor: das Streben nach energischem Fortschritt, das starke Betonen der entscheidenden Momente, der szenenmäßige Aufbau der Teilhandlungen, die Bevorzugung der Peripetie vor dem gleichmäßig ruhigen Verlauf, das Hinarbeiten auf über- raschende Wirkungen, die grelle Beleuchtung des einzelnen durch Kontraste und Steigerungen aU diese für die virgilische Hand- lung bezeichnenden Züge sind ebensoviel Entlehnungen aus der

stellen, daß ihm oder Eallimachos die i%nXri^ig als Ziel ihrer Poesie vor- geschwebt hätte. Nach alexandrinischer grammatischer Quelle wohl anch Sextus adv. math. I 297 ^x nccvxbg t^%ay(oyTi6aL i&iXovötv (oi noiritai); Horaz spricht im Pisonenbrief zwar auch bei der Tragödie pflichtgemäß vom nd&og (wenngleich in sehr viel ruhigeren Ausdrücken als in der oben zitierten Stelle epp. IE 1, 211), bei der allgemeinen Zielbestimmung aber nur vom delectare (383); diese Übereinstimmung ist wohl kein Zufall , denn auch bezüglich des Nutzens der Poesie steht er im Pisonenbrief den soeben Genannten näher, worüber unten S. 478, 1.

1) quom. adol. 25 d, zitiert in vor. Anm.

2) vita Homeri 6, zitiert in vor. Anm.

''ExnXrjiis. JTa^Off. 465

Rüstkammer des Dramatikers. Ich brauche auf diese und ver- wandte Punkte hier nicht abermals einzugehen; nur ein größeres Gebiet erfordert noch gesonderte Betrachtung.

In den Mittelpunkt seiner Lehre von der Wirkung der Tra- gödie hatte Aristoteles das ;radog gestellt, Mitleid undFurcht, die der Dichter im Hörer erwecken soll. Das xdd'og ist denn auch weiterhin der Kern der STockrj^ig geblieben: der A£fekt dominiert in der Poesie je länger je mehr, er ist ein höchstes Ziel auch des virgilischen Epos. Es gibt zwei Wege, die zu diesem Ziele führen: entweder spielen sich Vorgänge ab, die Mitleid, Empö- rung, Grausen usw. im Hörer erwecken; oder die handelnden Personen werden uns im Zustande des A£fekts vorgeführt: je leb- hafter und anschaulicher dies geschieht, um so mehr wird sich der Hörer in die Seele des Handelnden versetzen und so, wenn- gleich in starker Abschwächung, auch seinerseits an dem darge- stellten AflFekt teilnehmen, 6iioio7ta^€tv. In vielen Fällen wird beides zusammentre£fen, indem nicht nur der ergreifende Vor- gang, sondern auch seine Wirkung auf die Beteiligten dar- gestellt wird: diesen letzten sichersten Weg hat Virgil mit Vor- liebe beschritten.

Der vornehmste tragische Affekt, das Mitleid, bewahrt seinen Vorrang auch bei Virgil. Es genügt ihm z. B. im ersten Buche nicht, die mitleiderregenden Momente in Aeneas' und der Troer Schicksal stai'k hervortreten zu lassen: Episodisches, wie die Er- zählung über Dido (ob. 118, 2), die Bilder im Tempel zu Kar- thago (ob. 398 f.), das Gespräch der Venus mit Amor, wird zur selbständigen Quelle des Mitleids. In der Iliupersis werden bei der TraumerscheinuDg Hektors, dem Raub der Kassandra, dem Tod des Priamns die mitleiderr^enden Züge betont; bei dem Prodigium an Polydoros* Grabmal wie bei der^ Begegnung mit Andromache, bei dem Abenteuer mit den Kyklopen, wo es überall nahegelegen hätte, andere Gefühle in den Vordergrund zu rücken, appelliert der Dichter in erster Linie an unser Mitleid. Der An- blick jedes Leidens schlechthin, etwa der eines gequälten Tiers oder eines schmerzhaft Erkrankten, vermag im Zuschauer analoge Leidgefühle zu erwecken; verstörkt werden sie, wenn sich die Empörung über den Verursacher des Leidens damit verbindet. Dieser Zusammenhang des iksawov mit dem Sbivov ist auch von der Ästhetik hervorgehoben und namentlich für die Rhetorik

Heime, Virgils epiaohe Teohziik. 8. AafL 80

466 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

fruchtbar gemacht worden.^) So tritt denn die deCvmöig Ton NeoptolemuB* roher Grausamkeit und Herrenwillkür hinzu, um unser Mitleid mit Priamus und Andromache zu erhöhen*, die Perfidie des Sinon, die frevelhafte Tyrannei des Pygmalion werden in schwärzesten Farben gemalt , damit wir das Los ihrer Opfer ' bitterer empfinden; selbst der unversöhnliche Haß der Juno gehört in diesen Zusammenhang. Damit kann es immer noch beim ge- meinen Mitleid des weichen Herzens bleiben; der ganze Mensch wird ergriffen y wenn er nicht nur sein Bedauern, sondern auch seine Liebe imd Bewunderuug dem Leidenden zuwendet; erst dann gelangt er recht eigentlich dazu, sich mit ihm zu identifizieren. Virgil ist zu solcher Erhöhung seiner leidenden Personen wohl zunächst durch das Bedürfnis geführt worden, selbst vöUig mit ihnen zu sympathisieren; aber es fällt in die Augen, wie nahe er damit der von Aristoteles aus der attischen Tragödie abstrahierten Forderung für den Charakter des tragischen Helden kommt. Das ist es vor allem, was Dido von den leidenden Heldinnen der jüngsten pathetischen Erzählung unterscheidet, daß sie nicht nur als Mensch dem Menschen nahesteht, sondern als hochherzige, kraftvolle und doch weiblich milde Fürstin des Hörers Bewunderung gewonnen hat, noch ehe sie sein Mitleid gewinnen soll. Und ganz ebenso verfährt VirgU, wo es irgend angeht, auch mit episodischen Figuren: wenn wir Priamus fallen sehen, so rührt uns nicht nur der schmähliche Tod eines Greises: wir haben ihn dem Feinde Sinon hochherzig begegnen sehen, haben den Helden- mut des Alten bewundert, werden schließlich daran erinnert, daß dieser jämmerlich Endende, dessen Leichnam nicht einmal eine Ruhestatt vergönnt wird, einst Asiens gewaltiger Beherrscher war. Andromaches Treue gegen ihren ersten Gemahl, Palinurus' treue Sorge um den Herrn, Euryalus' edler Ehrgeiz und Nisus' treue Liebe für den Freund, Lausus' Aufopferung für den Vater das alles sind Züge, die dem Dichter seine eigenen leidenden G^-

1) Sehr ausschließlich stellt die beiden Ziele nebeneinander Macrob. Sat. lY 2 in. : oportet ut oratio pathetica aut cid indiffnationem aut (u2 misericor- diam dirigatur, quae a Graecis olxtog %al dsLvaung appdlantur. Vgl. Quint. VI 2, 24. Polybios über Phylarch 11 56 cnov&dicav slg Usov ix%aX€lc9^ai Tovg &vot'/ivm(Sxovxag . . . Ttsigmfisvog iv ixdötotg &8l Ttgb ötpd'alnätv ri^ivai xcc dsivd. Dionys. de Thncyd. 16 &fuc xo;l Setvä xcel olxxfav S{ta tpai- vBCd'ai noiBl xa nddri. Und so sehr häufig nebeneinander.

Erhöhung des Mitleides. 467

schöpfe erst des Mitleids recht würdig machen: es sind, darf man hinzufügen, Züge, die für die Wirkung jener pathetischen Szenen durch die Jahrhunderte hindurch die eigentlich entscheidenden gewesen sind. Und in naher Beziehung zu dem Gesagten steht Virgils Behandlung der Schuld, die den Menschen ins Verderben führt. Die hellenistische Poesie hatte in immer steigendem Mafie geschwelgt in der Darstellung des Verbrechens aus Leidenschafk und hatte dabei das Widernatürliche eher gesucht als gemieden, in der Meinung, so die pathetische Wirkung zu steigern. Virgil läßt zwar yon geschehenen Verbrechen erzählen, aber er selbst stellt dergleichen nicht dar; wie fem ab liegt etwa Didos a^agria von den Greueln, von denen die Sammlung des Parthenios strotzt. In anderen Fällen wiegt die Verfehlung noch leichter: CamiUa, Nisus und Euryalus werden die Opfer ihrer unvorsichtigen Be- gierden; die allzugroße Kühnheit des Pallas kann als Verfehlung kaum mehr gelten; und vollends kann von tragischer Schuld bei der Betörung der Troer, die ihr eigenes Verderben in die Stadt führen, nicht die Rede sein. Hier steht der Mensch vor dem unerforschlichen Ratschluß des Fatums, das auch den Unschuldigen leiden läßt; der Dichter weiß, welchen Endzwecken Trojas Fall und Aeneas' Irrfahrten dienten: tantae mölis erat Romanam con- dere gentem; und eben dieser Ausblick auf die Zukunft verhütet es, daß imser gerechtfertigtes Mitleid zur quälenden Empfindung dessen herabsinkt, der gnmd- und zwecklose Leiden seiner Mit- menschen mit anzuschauen verurteilt ist

Die Aeneis ist für den dramatischen Stil der poetischen Erzählung Jahrhunderte hindurch das Muster gewesen. Auf die Frage, ob Virgil als der eigentliche Schöpfer dieses Stils zu be- trachten ist, läßt sich eine zuverlässige Antwort kaum geben. So viel ist sicher, daß unter den erhaltenen Denkmälern der helle- nistischen Poesie kein einziges den Anspruch erheben darf, in allen oder auch nur allen wesentlichen Punkten als Vorbild Virgils zu gelten. Gewiß haben wir für manche Einzelheiten auf Ana- logieen im älteren wie jüngeren Hellenismus hinweisen können; aber wenn Virgil in einer Richtung mit ApoUonios, in einer anderen etwa mit den Originalen der Hochzeit des Peleus oder der Ciris geht, so ist der Abstand der letzten Ziele doch um so

30

468 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

größer: bei Apollonios vermissen wir gerade das Wesentliche, den

^dramatischen Charakter der Erzahliing, durchaus; dem jüngeren durch und durch manierierten, vor allem in der Komposition ge- radezu perversen Epyllion ist das virgilische Epos in seiner Rich- tung auf einheitlich harmonische Wirkung diametral entgegen- gesetzt und in bezug auf Führung der Handlung überhaupt nicht vergleichbar, da in jenen Epyllien bei ihrer fragmentarisch will- kürlichen Art von einer wirklichen Handlung ja gar nicht die Rede sein kann, und was die ältere erzählende Kleindichtung des Hellenismus anlangt, so erkennen wir zwar noch, daß Yirgil vor allem in der durchgefeilten Form der Darstellung, im ffi-og der Erzählung, auch wohl im Streben nach einheitlicher Wirkung bei ihr in die Schule gegangen ist; im übrigen sind die Ziele auch hier so verschieden wie möglich: dort vor allem geistreiche Belebung des Details, vornehme Zurückhaltung in Linie und Farbe,

« hier Streben nach einfacher Größe, starke A£fekte, Spannung, Er- regung, kurz das ixTtkrjxnxöv.

Näher als aUes bisher Genannte mag eine andere Gattung kunstvoller Erzählung der virgilischen Technik gestanden haben: die hellenistische, genauer die peripatetische Geschichtsschreibung. Es ist ja im letzten Grunde ein und dieselbe Theorie, auf welche das virgilische Epos wie die Historiographie des Duris und Phylarch

- zurückgehen: die aristotelische Theorie der Tragödie.*) Deutlicher noch als die erhaltenen Fragmente dieser Historiker spricht ihren Charakter Polybius in seiner berühmten Kritik des Phylarch aus (n 56 ff.); dessen vornehmste Absicht sei es, die Lesenden zu

^ rühren, Mitleid und Empörung zu erwecken; zu welchem Zwecke denn jede erschütternde Peripetie mit vollster Anschaulichkeit vor Augen geführt werde: ivdgyaia und nd%'og sind die Kennworte dieser ästhetischen Tendenz. Nur ist es schwerlich, wie man nach Polybius' Anklage meinen könnte, bei dem groben ix7tkr^xix6v geblieben: wir dürfen annehmen, daß die kunstvolle dramatische Technik in weitem Umfange dazu benutzt wurde, die Wirkungen zu verfeinern wie zu steigern.*) Aus der Schule dieser Geschicbts-

1) Vgl. Schwartz, Fünf Vortr. über d. griech. Roman 114 ff. Hermes XXXII 560 fF.

2) Man sehe z. B. wie Phylarch die Folterung des AriBtomachos dar- gestellt hat, nicht unmittelbar, was fiia^dy gewesen wäre, sondern durch Schilderung des Eindrucks, den das zur Nacht aus der Folterkammer tflnende

Historiker und Epiker. 469

Schreibung sind ja doch auch die in ihrer Art bewundernswerten Künstler der Erzählung hervorgegangen; denen wir die Geschichte von der Eroberung Vejis, von CamiUus, von Coriolanus, um nur dies wenige zu nennen, verdanken: ich glaube nicht , daß irgend etwas von antiker Erzählung dem virgilischen Epos technisch näher steht. Da haben wir die Konzentration des Interesses, die Komposition wirkungsvoller dramatischer Szenen, die kräftigen Peripetieen, die sorgfältige psychologische Motivierung, ja auch die Technik der Imitation, die den äußeren Umriß der Handlung der alten Dichtung oder Geschichte entlehnt: ich brauche nur etwa an den gefangenen Haruspex zu erinnern, der bei Veji, wie Helenos bei Troja, die vom Fatum bestimmte Bedingung des Sieges verrät.^) Von der Theorie, deren Ausbildung doch wohl von Theophrast herrührt, haben wir nur sehr dürftige Reste; aber überraschend nahe kommt dem, was wir als Yirgils künstlerische liinzipien erschlossen, die Theorie, die Dionys seiner Beurteilung des Thukydides zugrunde legt: da haben wir die Forderung der Einheit und Übersichtlichkeit der Handlung (de Thuc. 5. 6.), der Kontinuität*) und Symmetrie (13, ob. S. 357, 1) der Erzählung, der richtigen Wahl von Anfang und Schluß'), der pathetischen Wirkung*), der zweckmäßigen Verwendung direkter Rede bei den Höhepunkten der Erzählung (17 ff.).

Ob und wieweit das historische Epos hellenistischer Zeit,

t Wehegeschrei auf die Umwohnenden macht: Siv xohg fihv iytnXrixropLivovs jtriv &ai(iuocv^ xohg d' itmaxovvxttg^ rovg d' &yavatitoi)vxag inl totg yivo^iivoig ' 7tQ06tQixHv fcgbg rriv oUlav (II 69).

1) Vgl. die lehrreichen Zusammenstellungen Ed. Zamckes, Der Ein- fluß der griech. Lit. auf die Entwicklung der röm. Prosa, in: Commentat Bibheckianae 267. Das Verdienst des Ennius um die poetische Formung /der älteren römischen Geschichte ist hier m. E. zu hoch angeschlagen.

2) 9 p. 837, 22 üs. X9V ^4^ löroQi%f}v nQayyiaxBLctv bIqo{Uv71v tlvoci xccl imsglanaötov.

3) 10 p. 388, 6: man hat Thukydides in diesem Punkt getadelt, o^x iXd%unov fiigog slvai Xiyovrsg olxovoniag äya&^g &QX^v ts Xaßstv^ rig o^h aw eft] Ti TtQdtSQOVt xctl r^Xft nsQiXaßBlv xi]v ngayiuetslav a> döget iiridhv iv&Btv ganz die aristotelischen Forderungen für das Epos.

4) 14 p. 347, 5 n6Xe(lav ts ocXmßeig xoc) xataaxatpag xal &vdQanodi<Sfiovg ntxl &XXag toiocörag av(iq)OQocg noXXdxig &vay'Kaad'elg yqdtfuv nwcl \ikv ovrag &iUl xttl 9nvct xal otuttüv ä^ia (paivsa^ai nöisl nddri, mors firidsulocv {ntBQßoXiiv fiifre latOQioyqdtfOig iiijts noiriroclg xaraXinslv noth dh ovtmg tuxHvii %ocl (iLXQd xrX. »

470 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

Yon dessen künstlerischer Form wir so gut wie nichts wissen^ die von der Geschichtsschreibung ausgebildete Technik sich zunutze gemacht hat^ so daß Virgil hier noch nähere Vorbilder gehabt hätte^ muß ich dahin gestellt sein lassen. Das wenige, was wir über das immerhin noch kenntlichste dieser Epen, des Rhianos Messeniaka erschließen können, macht es wahrscheinlich, daß es an Spannung und Aufregung, an dramatischer Bewegung hier nicht gefehlt hat; aber das genügt nicht, um uns über Darstellung und Komposition irgendwelchen Aufschluß zu geben. Und eben- sowenig berechtigt uns das, was wir durch Nachrichten und Frag- mente über des Ennius Annalen wissen, zu der Vermutung, daß Virgil, wie auf dem Gebiet poetischer Rede, so auch in der epischen Technik sein Schüler war. Negativ laßt sich wenigstens so viel sagen, daß die Wahl des Stoffes wie die annalistische An- lage des Werks darauf schließen lassen, daß Ennius von der ästhetischen Theorie, die Virgils Technik der Komposition ^p- grunde liegt, gänzlich unberührt geblieben ist.

2.

Im vorigen Abschnitt streiften wir bereits Ziele, die nicht mehr dem ästhetischen, sondern dem Gebiet des Sittlich-Religiösen angehören, das für Virgil mit dem politisch -nationalen eng zu- sammenhängt. Auf den genannten Gebieten belehrend, erhebend, y erbauend zu wirken, ist für Virgil nicht ein der Dichtung ur- sprünglich fremdes Ziel, das akzessorisch zu dem rein künstle- rischen hinzukäme, sondern es liegt in seiner Auffassung vom Dichterberufe begründet, daß der vates zugleich der Lehrer und Erzieher seines Volkes sein soll. Was ich früher über Charaktere und Handlimgen, über die Götter und das Verhältnis des Menschen zum Fatum ausführte, kann genügen, um zu zeigen, wie die Aeneis fest im Boden einer geschlossenen Weltanschauung wurzelt; jedes Gedicht, bei dem dies der Fall ist, macht zugleich Propa- ganda für die Anschauungen des Dichters, mag er das selbst be- absichtigt haben oder nicht. Ein Unterschied besteht nur darin, ob es dem Dichter in erster Linie um die Erkenntnis der Lebens- wahrheiten oder um ihre praktischen Konsequenzen zu tun ist. Virgil müßte kein Römer sein, wenn ihm nicht höher als jede theoretische Eiusicht die praktische Wirkung stünde; nicht als

Belehnmg. Moralische Wirkung. 471

eine dem ErkenntniBbedür&iis genügende Erklärung des WeltlaafS; sondern als Richtschnur für das Handeln ist ihm die stoische Sitten- und Religionslehre von Wert. Man braucht nur die vir- gilische Nekyia nach der homerischen zu lesen^ um den Abstand der tendenziösen von der naiven Poesie zu empfinden*); wie würde sich im homerischen Tartarus der Ruf jenes virgilischen Büßers ausnehmen: discite iustüiam moniÜ et non temnere divos. Kaum irgendwo sonst spricht Virgil so unumwunden aus^ was er seinen Hörern ans Herz legen will; er predigt nicht selbst , sondern überläßt dies der Geschichte, die er erzählt , und nur die plan- mäßige und absichtsvolle Führung der Geschichte zeigt uns, wie bewußt er jenes Ziel verfolgte.

Virgil bricht in diesem Punkte völlig mit den Gepflogen- heiten der letztverflossenen Zeiten. Nichts hatte der hellenisti- schen Poesie, soweit wir sie kennen, ferner gelegen, als sich in den Dienst einer Weltanschauung zu stellen, um Einfluß auf die Lebensführung ihres Publikums zu gewinnen. Tendenzpoesie gab es genug; aber ihre Tendenz hatte durchweg die politisch-persön- liche Spitze: der Panegyricus in seinen mannigfachen Formen dient der Verherrlichung eines Mannes, eines Geschlechts, einer Stadt, vielleicht auch eines politischen Systems; das hat mit dem, was wir hier an Virgil hervorheben, nichts zu tun. Die erzählende Poesie vollends, die ernsthaften künstlerischen Ansprüchen ge- nügen wollte, stand dem allen so fem wie möglich; hier machte nur das gelehrte Interesse dem rein künstlerischen Konkurrenz. In Rom stand es nicht anders: ein Catull bediente sich zwar der Verse als einer Waffe im Parteikampf, aber der Gedanke, daß es die höchste Aufgabe der Poesie sei, volkserzieherisch zu wirken, wäre ihm und seinen gleichstrebenden Genossen wohl als Absurdität, wenn nicht als Profanation erschienen. Sucht man in Rom einen

1) Daß speziell der eschatologische Mythus moralisch wirken soll, steht jener Zeit fest; bezeichnend z. B. Diodor I 2, 2 i^ t&v iv ZüSov nv^oloyloc TTjw i>n6&eötv nsnXacuivriv ix^vöa nolXä övinpoXlstat totg &v^Qmnoig ngbg tMßsiav xal di%atoavvriv. Freilich scheint ihm für diesen Zweck des ngotQiipao^ai tohg ävd'Qdmovg inl xbv ügiatov ßiov die ägyptische Escha- tologie geeigneter als die hellenische, die sich durch ihre unglaubwürdigen Fabeleien um allen Kredit gebracht habe, 1 98, 8. Wie auch der Epikn- reismus in seiner Weise ra iv Zii4ov protreptiBeh verwertete, zeigt Lucrez III 97S ff.

472 Fanfbes Kapitel. Die Ziele.

Vorgänger Virgils^ so trifft man nur einen, der selbst jenem ^ Literaten- und Poetengetriebe gänzlich fremd war: Lucrez, den

* großen Einsamen. Virgil ist der Erbe nicht nur seiner Kunst- mittel, sondern auch seiner Auffassung vom Wesen des Dichter- berufs; die Aeneis ist ein positiver Antilucrez, der freilich dem

* Hörer die Wahrheit seiner Behauptungen nicht wissenschaftlich beweist^ sondern sie ihn im Bilde der Urgeschichte Roms erleben läßt. Virgil stand mit solchem Streben nicht mehr allein; er wurde getragen von dem auf sittliche Besserung gerichteten Zuge der augusteischen Epoche. Allzu isoliert pflegt man die cwra morum des Augustus als persönliche Velleitat des Herrschers auf- zufassen; man übersieht, daß diesem Wirken von oben eine starke Bewegung von unten offenbar entgegengekommen ist, die ihren ersten Anstoß in den letzten Jahren der Bepublik empfangen haben muß^- Die Neubelebung der kynisch- stoischen Popular-

^ Philosophie muß in diese Zeit fallen, wenn sie ihre höchste Blüte auch erst später erreichte; aber die Crispinus und Stertinius lebten und lehrten doch in Rom leibhaftig und hatten ihr Publikum, das sie ernst nahm, weil sie es ernst meinten. Wir kennen diese offenbar sehr zahlreiche Menschenklasse nur durch die Karikaturen des Horaz, der seinerseits auch hier auf die Klassiker, Bion in erster Linie, zurückging; aber seine Diatriben sind doch nur zu verstehen als der verfeinerte Reflex einer starken moralisierenden Strömung, die sich des Volkes, des niederen vielleicht noch mehr als des gebildeten, bemächtigt hatte. Auch die Verbindung der sittlichen mit der nationalen Tendenz, das Bestreben, die sittlichen Vorbilder nicht in den Idealen der Philosophenschulen, sondern in der heldenhaften, tapferen und frommen Vorzeit Roms zu suchen, ist zwar durch Augustus voll Eifer ergriffen und mächtig gefordert, aber nicht durch ihn aufgebracht worden: das bezeugen die Altersschriften Varros. Und so wird es nicht ausschließlich als Konnivenz gegen den Herrscher zu erklären sein, wenn die Geschichtsschreibung der Zeit einmütig, und, soviel ich sehe, im Gegensatz zu aller früheren Geschichtsschreibung, den moralischen Zweck in den Vordergrund stellt.^) Bisher hatte der Historiker

1) Am aasdrücklichsten Livius prooem.: hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugifei^m, omnis te exempii documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei püblicae quod imitere eapias, inde foedutn inceptu foedum exüu^ quod vites. Ganz ebenso Diodor

Moralische Wirkung. 473

wohl außer der Befriedigung des Wissendranges und auch etwa künstlerischer Bedürfnisse politische Ziele verfolgt, dem Staats- mann praktische Belehrung, oder auch dem Menschen einen festen Halt in den Stürmen der Zeit geben wollen; jetzt mit einem Male will die Fistorie den Menschen bessern, indem sie ihm lockende und abschreckende Beispiele vorhält. Man weiß, wie großes Ge- wicht Augustus gerade auf die exetnpla maiorum legte; es ist kein Wimder, wenn neben der Historie auch die Poesie zur Lehrmeisterin wird und damit von neuem eine Würde anstrebt, auf die sie jahr- hundertelang verzichtet hatte. ^) Nun liest Horaz den Vater Homer,

1 2, 8; Dionys 1 6 will die Alten nach Gebühr preisen und damit den Kachkommen ans Herz legen, sich ihrer Vorfahren würdig zn erweisen; Strabo I p. 13 hält seine {j7tonvi/Jnata lötoQi%d für xQ^^^'f'^ ^^S "^^ ^^ix^v xal noUxixriv (piXoöoq>iav; die Exempla des Cornelius Nepos hat Norden, Neue Jahrbb. YU (1901) 266 mit Becht in diesen Zusammenhang gestellt. Peter, Die geschichtl. Lit. üb. d. röm. Kaiserzeit (Lpz. 1897) handelt 11 218 über den Nutzen als Ziel des Geschichtsschreibers, scheidet aber weder die Zeiten genügend noch die moralische Besserung vom praktischen Nutzen für den Politiker, wie die Lebensführung überhaupt; in diesem, nicht im moralischen Sinne heißt die Geschichte magistra viUie auch bei Cicero de erat. II 9, 36.

1) Aristoteles, der die moralische Wirkung der Poesie stillschweigend beiseite schob, mag schon für seine Zeit richtig beobachtet haben; far die Folge jedenfalls hat er Becht behalten. Die ältere Stoa freilich^ auch hierin das Erbe des Eynismus bewahrend, hat auf die Verwertung der Poesie im Dienste der philosophischen Erbauung nicht verzichtet, und Kleanthes' Hymnus ist ein praktischer Versuch seiner ästhetischen Theorie (t« {UxQa %a\ xa {UXri %al xohg (vG-fiovs a>g (laXiaxa ngoöixvsla^ai, XQbg xr^ iiXiffiBiav xfig xmv ^slatv d-Boaglag Phil, de mus. IV 28, 10). Die stoische Auf- fassung der Poesie gibt (in seiner Polemik gegen Eratosthenes , der als ihr Ziel nur das ipvxccytoyfjcai anerkennt) Strabo I p. 15 : ol naXaiol q>iXoaoq>lav xufit Xiyovat nqixxriv xrjv noirjxixrjv, sladyovaav slg xbv ßlov iniäg i% vitav Tud did(ia%ovaav ij^ xal ndd'ri *^^ ngd^stg fu^' iidovfjg: auf die praktische Übung der Poesie hat diese Lehre m. W. keinen Einfluß weiter ausgeübt (wohl aber sehr stark auf die Homerexegese: Diogenes v. Babylon, Philod. xhet. n p. 111; suppl. XXXH, Krates Wachsmuth p. 21 u. s. f.). Selbst Horaz, der im Brief an Augustus so beredt die moralische Wirkung der Poesie ▼ertritt, scheint im Pisonenbrief nach seiner grammatischen Quelle unter dem prodesse und dem utile der Dichtung mehr die Wirkung einzelner Gnomen oder der gnomischen Poesie überhaupt ins Auge zu fassen als eine Wirkung durch exetnpla; so wendet sich auch später Sextus, der selbst die Dichter für &v(0€psXeTg tj 6Xiyci)q)sXBlg hält (^x navxbg ilwyocytoyfjöai i^4Xovaiv adv. math. I 297), zwar gegen die Lehre der Grammatiker ong ii noirixixri

474 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

wie es die Kyniker einst aus dem Yolksbewußtsein ihrer Zeit heraus getan hatten^ als eindringlichsten Lehrer der Moral, und rühmt von der Poesie, daß sie rede facta refert, orientia te\npora notis instruit exemplis (epp. II 1, 130), sicher, damit des Augustus eigene Überzeugung auszusprechen*, die Aeneis kann ihm dabei als leuchtendstes Beispiel vorgeschwebt haben: als exemplum damit das Stichwort selbst nicht fehle stellt sich Aeneas dem Ascanius hin (XII 439), und das ganze Gedicht ist die reichste ^ Fundgrube von exempla maiorum, die sich Augustus wünschen konnte: als erhabenstes Vorbild stand er selbst im Mittelpunkt der langen Reihe römischer Helden, die dem Aeneas in der Unter- welt gezeigt wurden, wie sie Augustus auf seinem Forum dem römischen Volke zeigte.

3. Über die nationale, zugleich augusteische Tendenz, die der soeben besprochenen sittlich-religiösen verschwistert ist, habe ich hier nicht eigens mehr zu reden; das Materielle dieser Tendenzen liegt meiner Aufgabe fern, und ich kann hierfür auf Nordens öfters von mir zitierten Aufsatz verweisen. Ich erinnere hier nur daran, wie nahe auch in diesem Punkte das nationalrömische < Epos der nationalrömischen Geschichte steht: wir haben gesehen, wie ungemein wichtig es z. B. für die Gestaltung der Iliupersis bei Virgil ist, daß sie ihm ein Stück altrömischer Geschichte war; wir konnten durch Parallelen aus römischen Historikern manchen Zug der virgilischen Auswahl oder Erfindung in helleres Licht setzen: Virgil wandelt in den Bahnen, die von jeher die prosai- schen wie die poetischen Annalisten Roms gegangen waren. Für den vorliegenden Zweck ist es von Wichtigkeit, daß durch diese Tendenz ein sehr wesentlicher Bestandteil der hellenistischen Poesie bei Virgil ein ganz neues Gesicht erhält: die historische Gelehrsamkeit. Die Aeneis enthält deren eine Fülle; aus dem, was die römischen Antiquare bis auf Varro über italische, ins- besondere römische Urgeschichte ermittelt hatten, über Geschichte der Stämme und Städte, über Verfassung, Erieg und Gottesdienst,

noXXocg Sidto6iv &(poQiiag Jtgbg öoq)Lav xal s{>9altiova ßiov ^ebd. 270), versteht aber darunter nicht die moralische Gesamtwirkung, sondern yvmiunä %al naQaLVBtLxd (278).

Moralische und politische Tendenz. 475

hat Virgil mit Yollen Händen geschöpft. Äußerlich betrachtet, kann das als das völlig entsprechende Gegenstück zu der Gelehrsamkeit erscheinen, wie sie etwa im Epos des Apollonios einen so breiten « Kaum einnimmt: auch hier eine reiche Fülle yon Resultaten ätiologischer, geographischer, mythographischer Forschung. Bei näherem Zusehen tritt der fundamentale Unterschied zwischen beiden Dichtem und ihrer Gelehrsamkeit zutage. Apollonios verfolgt wirklich gelehrte Interessen und schreibt für ein Publikum, dem die Sage zum guten Teil eben dadurch wert und anziehend war, daß sie Aufschluß gab über historische Ereignisse und Zu- stände der Vorzeit, über die Geographie ferner, wenig bekannter Weltgegenden, über die Vorfahren berühmter Geschlechter; so reich der Anteil ist, den an dem allen arge Pseudogelehrsamkeit hat, zugrunde liegt doch in letzter Linie das echt wissenschaft- liche Verlangen, die Gegenwart historisch zu begreifen. Der Bund freilich, den hier die Wissenschaft mit der Poesie schließt, ist eine höchst unglückliche Ehe, bei der beide Teile zu kurz kommen. Fremd und unvermittelt stehen sie nebeneinander; ein Versuch, die Gelehrsamkeit in Poesie umzusetzen, d. h. ihr eine Gefühlswirkung abzugewinnen, ist nicht gemacht, und auf Schritt und Tritt hemmt der historische Ballast den Flug der Phantasie, während andererseits die poetische Form, so übel ihr dabei mit- gespielt wird, doch so weit sich durchsetzt, daß sie es unmöglich macht, das Material erschöpfend vorzulegen und zu diskutieren, also wissenschaftlich zu verwerten. Virgil hat ganz andere Ziele im Auge: mit dem historischen Einschlag seines Gedichts wendet er sich nicht an das gelehrte Interesse, sondern an das nationale Gefühl seiner Hörer, und so wenig auch die so erstrebte Wirkung als eine rein poetische gelten kann, so steht sie dem doch, eben weil sie Gefühlswirkung ist, erheblich näher. Virgil hat seinen Blick nicht nur auf die Stadt Rom, sondern auf ganz Italien ge- richtet^), und jede Erwähnung einer Stadt oder eines Geschlechts, dessen Anspruch auf unvordenkliches Alter so bestätigt wurde, muß ihm den begeisterten Dank der Nachkommen eingetragen haben; man stelle sich etwa vor, welches Echo die Verse, mit denen der Dichter seine eigene Vaterstadt Mantua ehrt (X 198), dort geweckt haben. Virgil bleibt bei der Urgeschichte nicht

1) Wilamowitz, Reden u. Vorträge 267.

476 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

steheu: die Heldenschaa und die Schildbeschreibung führen den Hörer darch die Eönigszeit und die Ruhmestaten der Bepublik bis auf die Höhe der Gegenwart: Erbauung und Erhebung; nicht eigentlich Belehrung ist hier ganz offensichtlich das Ziel. Wichtiger vielleicht noch als die historischen Einzelfacta ist für Virgil ein anderes: die mores maiarum und unter diesen vor allem

die gottesdienstlichen Gebräuche darzustellen. Die Gelehrsamkeit^ die dabei aufgeboten ist, verdient die Anerkennung^ die ihr schon die antike Kritik reichlich gespendet hat; aber wenn die Aeneis für spätere Zeit dadurch zur Fundgrube antiquarischer Weisheit geworden ist, so bedeutete sie nach dieser Seite für Virgils eigene Zeit weit mehr: damals knüpfte sich an diese Dinge nicht nur ein wissenschaftlich retrospektives, sondern ein eminent praktisches und aktuelles Interesse: man wollte ja jene mores maiorum nicht nur kennen, sondern sie in ihrer Reinheit wiederherstellen, das Abgestorbene ins Leben zurückrufen; man sah in den urältesten Zuständen ein sittlich-religiöses Ideal, und die Restaurationsver- suche, so äußerlich und hohl sie oberflächlicher Betrachtung scheinen mögen und so wenig sie in Wirklichkeit Erfolg haben

« konnten, entsprangen doch derselben Wurzel wie jener Drang nach moralischer Entsühnung und Reinigung, von dem ich oben sprach. Was also Virgil von altitalischen Riten und Formeln des -.Kultus bot, waren nicht gelehrte Kuriositäten, sondern ehrfurcht- erweckende, altgeheiligte Zeugnisse einer glücklicheren Vorzeit; an das Gefühl des Hörers, nicht an seinen Wissensdrang wendet sich der Dichter auch hier.

Als Fremdkörper steht bei Apollonios die Gelehrsamkeit im Epos auch der Form nach; wie sie zu dem poetischen Gehalt des Gedichts, der Gewinnung des goldenen Vließes und der Entführung der Medea, zu allermeist nur äußerlich Beziehung hat, so wird sie dem Gang der Erzählung auch äußerlich genug eingefügt, in- dem der Dichter immer wieder selbst das Wort ergreift, um ge- lehrte Erläuterungen anzufügen oder das Bestehen eines Namens, eines Denkmals, eines Brauchs u. s. f. bis auf die Gegenwart her- vorzuheben. Wie selten Virgil so in eigenem Namen spricht, haben wir oben gesehen (S. 371); er hält darauf, das, was er an gelehrtem Material beibringt, für die Handlung notwendig er- scheinen zu lassen. Für wesentliche Teile der italischen Urge- schichte boten die beiden Kataloge in VII und X erwünschte

GelehxBamkeit. ErhabeDheit. 477

Gelegenheit; Im übrigen läßt der Dichter Vergangenes durch seine Personen yortragen (oben S. 388 f.) und sorgt dafür, daß der Anlaß dazu sich aus der Handlung ungezwungen ergibt, indem eine der Personen über die betreflfenden Verhaltnisse unterrichtet werden muß. Nur ganz selten läßt er sich durch das gelehrte Interesse über das sachlich Erforderliche hinausführen^), am ehe- sten in Namensetymologieen; auch die Periegesen der unteritali- schen und sicilischen Küste, die Aeneas gibt (III 551 ff. 692 ff.), mögen durch die Situation nicht in allen Details hinlänglich motiviert sein: verglichen mit den geographischen Partieen des Apollonios muß vielmehr nur ihre Knappheit und die Beschrän- kung der rein gelehrten Angaben bemerkenswert erscheinen. Vollends geographische Angaben über Gegenden, die dem ge- bildeten Römer nicht geläufig waren, vermeidet Virgil durchaus: wir sahen, wie der Mangel an rein gelehrtem Interesse sogar zu Unklarheit z. B. über den Ort der thrakischen Stadtgründung ge- führt hat (oben S. 105, 2). Aber man weiß ja, daß das geogra- phische Interesse und demgemäß auch die geographischen Kennt- nisse selbst der gebildeten Römer gering waren; erheblich größere Kenntnisse setzt Virgil bei seinen Hörern auf mythographischem Gebiete voraus, ohne doch mit der eigenen Gelehrsamkeit zu prunken oder entlegene Notizen zum Zwecke der Belehrung zu- sammenzutragen.

4.

Wir kehren zu den rein ästhetischen Zielen der Dichtung zurück. Mit dem, was wir unter dem Stichwort ixTtXrjxtiTcöv zu- sammenfaßten, ist nur eine Seite der von Virgil erstrebten Wir-

1) So in Venus' Worten über Antenor das Verweilen auf den mirahüia des Timavus ; Ableitung von Namen: in Andromaches Erzählung Cbaonia (XU 334); Pallanteum in Tiberinus' Weisung VIII 64; Argyripe im Bericht des Venulus XI 246; Samothrace in Latinus' Begrüßung VE 20S; Italia in Ilioneus^ Ansprache I 582; vgl. m 702 über Gela. Auch Juppiters Be- merkung über den Namen Julus I 26S gehört hierher. Nach alledem wird man auch in Venus' Belehrung des Aeneas I 367 die Andeutung über die xrUig Karthagos und die Herkunft des Namens Byrsa als virgilisch an- erkennen müssen; Virgil hat nicht darauf verzichten wollen, die Geschichte Didos zu vervollständigen, aber er empfindet, daß das der Situation nicht ganz angemessen ist, und läßt Venus, als ob diese das selbst empfände, abbrechen, nachdem an die Sage von Didos List beim Landkauf nur eben

478 Füoftes Kapitel. Die Ziele.

kung beschrieben-, daneben oder darüber noch steht das Streben s nach dem vilnjlöv, dem Erhabenen. Es handelt sich dabei keines- wegs nnr um eine gewisse feierlich -ernste Färbung des Sprach- stilS; wie sie von der Rhetorik und Poetik seit langem für gewisse erhabene Gegenstände gefordert wurde; auch nicht etwa nur um den Begriff des 'Geziemenden' (jtQsnov, decorum), der in der helle- nistischen Poetik eine große Rolle gespielt hat; der aber doch für das Epos wesentlich auf die negative Forderung hinausläuft, das zu meiden, was der heroischen Würde widerstreitet. Die Erhaben- ' heit ist vielmehr eine durchaus positive, Inhalt wie Form durch- dringende ästhetische Potenz, eine Eigenschaft des ^ Stils', das Wort im umfassendsten Sinne genommen. Wir dürfen uns nicht scheuen, ihrer bei der Beschreibung der poetischen Technik zu gedenken, denn sie ist von Virgil zweifellos mit Bewußtsein an- gestrebt worden, ist nicht, wie etwa beiAeschylus oder, in anderer Form, bei Schiller, ein integrierender Bestandteil der dichterischen Persönlichkeit: die Eciogen allein, die Virgil doch schon im reifen Alter verfaßte, genügen zum Beweis dafür, daß ihm das ^yaXotpvig nicht eignete; daran konnte auch der freilich sehr erhebliche Wandel, den in der Zwischenzeit seine Weltanschauung in wesent- lichen Punkten durchgemacht hatte, nichts ändern. Man virird trotzdem nicht die Empfindung haben, als wäre die Erhabenheit der Aeneis 'gemacht', um dem Hörer Empfindungen vorzuspiegeln, von denen des Dichters Herz und Geist nichts wußte; auch würde man zweifellos fehlgehen, wollte man in jedem Einzelfalle Be- rechnung suchen; vielmehr hat Virgil durch den Stoff, den er zu behandeln unternahm, sich selbst in eine höhere Sphäre versetzt gefühlt und aus dieser Stimmung heraus ein Ideal von Erhaben- heit, wie er es sich, von den Strömungen seiner Zeit getragen, gebildet hatte, in seiner Dichtung zu verwirklichen gesucht. So ist ein Kunstwerk von durchaus einheitlicher Färbimg entstanden, das eben durch diese sich von früheren und späteren Gedichten, die im übrigen ähnliche künstlerische Ziele verfolgten, deutlich unterscheidet. Weniger noch als für andere Gebiete der Technik

erinnert worden ist. Übrigens ist die Vorliebe für Namensetymologieen in der römischen Poesie alt: Naevius erklärte die Namen Palatiom und Aventin, fr. 27, 28 B.; Ennius kann sich nicht enthalten, im Prolog der Medea die beiläufige Erwähnung der Argo durch die Etymologie «u be- schweren (20SR.) usw.

Erhabenheit: Götter. 479

Termag hier der Nachweis yon Einzelheiten den Gesamteindrack zu ersetzen, den nnr eigene zusammenhangende Lektüre geben kann; aber ein Versuch zu einer Art Topik des Erhabenen muß doch unternommen werden.

Homers Hephaistos ist ein rußiger Schmied von übermensch- licher Kunstfertigkeit, der selbst am Blasebalg schwitzt und, wenn er hohen Besuch bekommt, das Werkzeug ordentlich in den Kasten legt, sich wäscht und ein reines Hemd anzieht*, Yirgils Vulcan ist der feuerbeherrschende Gott, dem die gewaltigen Ky- klopen dienen, und wenn es die Rüstung des Aeneas zu schmieden gilt, so legt er nicht selbst Hand an, sondern heißt seine Diener ans Werk gehen. Der Fall ist typisch für das Verhältnis der yirgilischen zur homerischen Götterwelt. Homers Götter sind Menschen, bei denen nur die Grenzen der physischen Endlichkeit hinausgeschoben sind oder ganz fortfallen; Yirgils Götter sind die erhabensten im Weltall wirkenden Mächte, die menschliche Gestalt angenommen haben, nur weil sie in anderem Bilde nicht sichtbar zu machen sind. In dieser Gestalt, als handelnde Per- sonen eines Gedichts, sind sie freilich auch menschlicher Schwäche bis zu einem gewissen Grade Untertan: aber nur genau so yiel, wie für die Handlung unentbehrlich ist, und niemals so, daß die Schwäche kleinlich erscheint. So hat ihr olympisches Leben wenig mehr vom irdischen an sich: sie sitzen nicht bei Schmaus und Trank und Saitenspiel und lachen nicht unbändig; sie zanken sich nicht, sondern bekämpfen sich höchstens in leidenschaftlicher aber wohlgesetzter Rede; sie drohen sich nicht gegenseitig Schimpf und Schande, sie schlagen und verwunden sich nicht und brauchen daher auch nicht vor Arger zu weinen oder vor Schmerz zu brüllen. Dem entspricht die Art, wie sie in die irdischen Dinge eingreifen. Kein virgilischer Gott tritt Sterblichen im Kampf gegenüber; selbst bei der Zerstörung Ilions, an der sie teilnehmen, sind sie nicht imter den Streitenden, um Geringfügiges kümmern sie sich nicht: bei den Wettkämpfen einzugreifen, ist unter ihrer Würde, und das Schiflf des Cloanthus führt nicht Neptun, sondern eine Schar untergeordneter Meerdämonen ans Ziel. Wo es zu helfen gilt, nahen sie wohl ihren Lieblingen in eigner Person: so zeigt sich Venus ihrem Sohn, Apollo tritt warnend zu Ascanius,

480 Fünftes Kapitel Die Ziele.

Merkur malmend zu Aeneas. Wo sie schaden wollen, legen sie nicht selbst Hand an: Jnno läßt den Seesturm durch AeoluS; den Krieg durch AUekto erregen, den Vertrag durch Jutuma stören; Diana gibt ihrer Nymphe Bogen und Pfeil, um das urteil an Camillas Mörder zu vollstrecken, Neptun läßt Palinurus durch den Schlafgott ins Meer stoßen, während er doch selbst höchst eigenhändig die Syrten mit dem Dreizack öffnet, um Aeneas zu retten. Minerva würde sicher nicht handeln wie Homers Athens, die durch schmählichen Betrug Hektor dem Verderben überliefert*): wenn Juno den Turnus durch ein Trugbild täuscht, so geschieht das, um ihn zu retten. Wie das Unedle, so wird auch das Tändelnde, Scherzende ihnen femgehalten. Die olympischen Kinderstuben- und Wohnstubenszenen der hellenistischen Dichtung waren das gerade Widerspiel des Erhabenen: wenn bei ApoUonios Aphrodite die beiden besuchenden Göttinnen empfängt wie eine gute Bürgersfrau zwei etwas vomehmere Freundinnen, wenn sie über ihren schlimmen Schelm von Sohn klagt und ihn nachher dabei betrifft, wie er den armen Ganymed im Knöcheln über- tölpelt hat, so wird Virgil nicht begriffen haben, wie man im Epos göttliche Dinge so parodieren kann. Aber freilich zeigt auch seine Venus nicht die volle göttliche Erhabenheit: die Liebe ist selbst in ihrer höchsten Erscheinungsform nicht in stetem feierlichem Ernst zu denken. Venus verkehrt mit ihrem Sohne anders, als sonst Götter mit Sterblichen, freier, man möchte fast sagen, etwas neckisch. Sie freut sich lachend der gelungenen List, als sie das Scheitern von Junos argem Plan voraussieht (IV 128), sie weint auch, und der Götterkönig lächelt über ihre grund- losen Ängste (I 228). Bei ihr, der Liebe in Person, darf auch der Liebe Sinnlichkeit zu ihrem Rechte kommen: sie bestrickt durch ihren Liebreiz den Gatten, wie das Homer von der hehren Götterkönigin erzählte, die doch nicht sinnliche Liebe entflammt^ sondern der Ehe Hüterin ist (I 73. IV 126).

Soweit würde die virgilische Götterwelt etwa den höchst- gesteigerten Anforderungen der Vermeidung des ixQExis genügen: positiv spricht sich das Erhabene des Göttlichen vor allem in seiner Wirkung aus: wo es sich kundtut*), erschauert die Natur;

1) Schol. BT zu X227 &tonov d-ibv ohöav nXav&v rbv "Etuoqci.

2) III 90 ßpricht Apollo: tremere omnia visa repente, Umin<ique lawrus-

Erhabenheit: Götter und Heroen. 481

aber nicht im wilden Aufruhr der Elemente ^ sondern in ihrer höchsten Ruhe empfindet der Dichter die Gottheit am feierlichsten: Neptun wühlt nicht das Meer mit dem Dreizack auf, sondern glättet die Wogen und verjagt die Wolken, daß der reine Äther über der regungslosen Flut ergUmzt (I 142. V 820); als Juppiter zu reden beginnt, 'verstummt der Götter hohes Haus, die Erde bebt und schweigt, es schweigt der Äther, der Wind erstirbt und seine Fluten ebnet zur Ruh das Meer' (X 100). Gleich erhaben ist die Wirkung des Göttliclien auf der Menschen Gemüt: wo immer der Mensch die Anwesenheit des Göttlichen ahnt (VIII 349), die göttliche Stimme hört (III 93. IX 112) oder gar die Gottheit ihm leibhaftig gegenübertritt (ob. S. 325), ergreift ihn der Schauer des überirdisch Gewaltigen und erschüttert ihn bis auf den Grund seines Wesens.

Auch das Unheimlich-Grausige überirdischer Mächte steigert Virgil ins Furchtbar -Erhabene: dem Ekelhaften der Harpyien- erscheinung beugt er durch zwei Verse vor, die diese Göttergeißel in den Bereich der höllischen Ungeheuer versetzen (ob. S. 112)-, die Schreckgestalten der Unterwelt steigert und erhebt er zugleich: Cerberus immania terga resolvit fusus humi totoque ingens extendi- tur antro (VI 422); die feuersprühenden Augen des greisen Charon (300) sind ein Zug, der jeden Gedanken an einen lukianischen Lumpenfährmann verbannt; die Unterwelt selbst ist in Virgils Vorstellung das Veithin schweigende Gefilde der Nacht', das *hohle Haus und leere Reich des Dis': Schiller hat empfunden, wie hier die Steigerung des Grausens Erhabenheit anstrebt.*)

Der göttlichen Erhabenheit Abglanz ist die heroische. In der virgilischen Heroenwelt ist für Niedriges, Gemeines kein Raum. Daß um den Besitz von Sklavinnen große Könige sich entzweien, daß ein Eönigssohn wie Paris die Schlacht verlassen kann, um der Liebe zu pflegen, das und vieles dergleichen traut Virgil seinen Helden nicht zu. Der bucklige, boshafte, keifende Thersites wandelt sich zu Drances dem Volksredner, den freilich auch der Neid auf Turnus' Ruhm treibt, der aber doch die berechtigten Interessen der Allgemeinheit gegenüber des Turnus verderblichen

que dei totusque moveri mons circum. VI 256 naht Hekate: sub pedibus mugire solum et iuga coepta moveri süvarum.

1) 'Vom Erhabenen', Werke VII 276 (Kurz). Heinse, VirgUi epUohe Technik, i. Aufl. 81

482 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

Sonderwünschen yerficht und der, wie sein Verhalten g^enüber Aeneas beweist, für wahre Größe Empfindung und Verehrung sich bewahrt hat. Wie edel sind die Beweggründe, die die Rutuler zum Bruch des Vertrages treiben, gegenüber dem Egoismus der Pandaros! Selbst der Frevler Mezentius hat etwas vom ^erhabenen Verbrecher', und erhaben ist sein Sterben. Dido wird durch alle Irr- wege der Leidenschaft getrieben, aber im Tode, der den Menschen in seiner wahren Oestalt zeigt, findet sie die erhabenen Worte:

vixi et quem dederat cursum fortuna peregi, et nunc magna mei sub terras ibü imago.

Aeneas vollends prägt diesen Typus des Erhabenen, je mehr er in seiner Läuterung zum vollkommenen Helden vorschreitet, um so reiner aus; selbstverständlich hält Virgil sein Bild von jedem niedrigen und kleinlichen Zug durchaus frei. Der konventionell verfälschten Auffassimg von römischer Seelengröße und Charakter- stärke schlägt es freilich ins Gesicht, wenn Virgil von seinem Helden beim ersten Auftreten also erzählt (I 92):

extemplo Aeneae solvontur frigore memhra; ingemü et duplicis tendens ad sidera palmas talia voce ref'ert.

Gerade dies hat Virgil zweifellos mit größtem Bedacht geschrieben, ebenso wie die Worte, die Aeneas hier spricht Er sieht den Tod unmittelbar vor Augen, er weiß, daß keine menschliche Kraft mehr helfen kann: aber er darf nicht, wie Achill (O 273) und Odysseus {s 299) in gleicher Lage Furcht vor dem Tode äußern oder den Wunsch, am Leben zu bleiben das wäre, wie auch der Schriftsteller vom Erhabenen (IX 10) empfand, des Heros unwürdig , sondern nur den Wunsch aussprechen, daß er wie Hektor xmd Sarpedon und so viele andere Tapfere unter Trojas Mauern vor den Augen der Seinigen gefallen wäre.^j Wie Aeneas

1) Dafür gaben Achill und Odysseus das Vorbild, aber das Ethos ist hier noch ein anderes: Achill wünscht statt des schmählichen Todes im Wasser den von der Hand des tapfersten Mannes ; der Imitator der Odyssee sagt vergröbernd reo x' ^Xaxov xtsgitov xal (isv xXiog fjyov jl%aioL Aus Aeneas' Worten quis ante ora patrum Troiae sub moenibua aitis eantigit oppetere hört jeder das dulce et decorum eat pro patria mori heraus, das in dem ol rot' öXovto Tgoii^ iv sifgeirj der Odyssee nicht liegen kann.

Erhabenheit: Heroen. 483

hier über sein Unglück seu&t; ohne zu jammern conqueri fortunam ctäversam, non lammtcm decet hatte Pacny gesagt und damit den stoisch gestimmten Cicero erjfreut (Tusc. 11 48) , so darf er auch weinen beim Anblick des geschändeten Hektor (II 279) und des getöteten Pallas (XI 29. 41), bei der Erinnerung an den Tod edler Freunde und Helden (I 459, cf. 465. 470. 485) oder bei dem ergreifenden Abschied yon Andromache (lU 492): Tranen des MiÜeids ziemen auch dem Helden^); aber er soll, auch wo er selbst verzweifeln möchte, Heiterkeit zur Schau tragen können, wenn es die Pflicht heischt (I 208), soll sich vom eigenen Herze- leid nicht hinreißen lassen, seiner großen Aufgabe zuwider zu handeln (IV 448), soll, nachdem er der berechtigten Trauer ihren Zoll entrichtet, ungebrochen zu seiner Tätigkeit zurückkehren (XI 96): nicht in der Unterdrückung menschlicher Regungen, in ihrer Beherrschung zeigt sich der erhabene Sinn. Aeneas als Liebender: unmöglich, ihn sich kosend und tändelnd zu denken; die verleumderische Fama spricht von üppigem tatenlosem Leben: Aeneas baut die Burg, die einst die Todfeinde seines Volkes schützen soll (TV 260). In den äußeren Lebensformen wieder- holt sich bei ihm wie bei den übrigen Heroen, was wir bei den Göttern fanden. Aeneas darf am libyschen Strand die Hirsche erlegen, aber nicht wie Odysseus auswaiden und selbst zu den Schiffen tragen. Er geht auch nicht allein, wie ein beliebiger Wanderer, sondern hat zum mindesten den treuen Achates zur Seite, der ihm das Gewaffen trägt oder ihn anmelden kann (VI 34). Es ist aber überhaupt der Würde des heroischen Gedichts nicht angemessen, ohne Not die kleinen Alltäglichkeiten des Da- seins zu erwähnen, essen und trinken, schlafen und sich ankleiden; wo es geschieht, hat es irgendwelche besondere Bedeutung: der Schlafende sieht ein Traumbild, die Mahlzeit veranschaulicht, wie nach überstandener Todesgefahr die Lebensgeister zurückkehren (I 174. 210), oder sie bringt die Erfüllung des Schicksalsspruches: und wenn in diesen und ähnlichen Fällen eine Kleinigkeit wie

1) Tränen als Kennzeichen edler Menschlichkeit: I 462 ^unt lacrimae rerum et meniem mortcUia tangunt Wer sich darüber wundert, daß bei Yirgil so viel geweint wird, und daraus auf besondere Weicbmütigkeit des Dichters schließen möchte, mag einige Reden Ciceros oder einige Bdcher Livius lesen: man darf in jenem Punkt den einzelnen Römer nicht nach unseren Anschauungen beurteilen.

484 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

das Verzehren der Brottische erwähnt werden muß, so wird wenigstens aller Prunk der Sprache aufgeboten, um mit Worten zu schmücken, was an sich der Größe entbehrt^) Ein anderes ist's mit festlichen Gelagen (I 637, 723. HI. 353; vgl. auch V 100); da wird in den weiten Hallen königliche Pracht ent&ltet, man lagert auf Purpurteppichen, speist von silbernem und goldenem Geschirr und trinkt aus edelsteingeschmücktem Becher. Aber auch in solchen Stunden der Muße ist der Sinn dieses Geschlechts auf Erhabenes gerichtet: Demodokos durfte den Phäaken als Dessert einen leichtfertigen Schwank aus dem olympischen Eheleben auf- tischen; Jopas singt an Königin Didos Hofe vod den Wundem des Weltalls und deutet ihre Ratsei: für Yirgil und seine Zeit- genossen der erhabenste StofiF des Liedes. Wie bewußt Virgil in diesen Dingen das Niedrige vermeidet, zeigt am besten die Aus- nahme^ die er macht: der Aufenthalt bei Euander ist in geflissent- lich schlichten Zügen geschildert. Da wird wiederholt gegessen und getrunken, die Mannen sitzen auf dem Rasenpfühl, Aeneas auf dem Ehrenplatz, dem fellbedeckten Ahornstuhl; da brüllt auf der Weide die Rinderheerde des Euander; Aeneas tritt in die niedrige Hütte, die als Gastgemach dient, ein Bärenfell deckt sein blättergeschichtetes Lager; als Morgensonne und Yogelstimmen den König erwecken, legt er Tunica und Sohlen an, gürtet das Schwert, nimmt als Mantel ein Psintherfell um und geht zum Gastfreund; zwei Hunde, die Wächter seiner Schwelle, ihm zur Seite. AU diese schlichten Züge sind das gerade Gegenteil des Erhabenen: aber doch dienen sie ihm indirekt, denn das gemütlich ärmliche Stillleben des Romanae condiior arcis soU ja im Leser, den die Pracht und das brausende Leben der Weltstadt Rom um- gibt, durch den Kontrast das Gefühl für die gegenwärtige Größe heben und verstärken.

Schon in dem bisher von den virgilischen Menschen Ange- führten ging manches über den negativen BegriflF der Vermeidung des d7tQ€7tas hinaus zum positiv Erhabenen. Wie sehr dies vor allem in Virgils moralischer Welt dominiert, brauche ich nur an- zudeuten: virtuSy mannhaftes Verhalten gegenüber irdischen Feinden wie gegenüber den Schlägen des Schicksals ist das Ideal, neben

1) Schol. B zu 2^ 346 xo xa \Li%Qa xccl ädo^ct iisyaXojtQsn&g iievBy*^* xal 6siiv&g kTtayf^tkoLi Jd'avfiaalag xal y,eyLarrig iözl dvvd^ums. Weiteres bei I Römer, D. exeget. Schol. d. 11. im cod. Ven. B (Mönch. 1879) XII.

Erhabenheit: Heroen. 485

der pietaSy die am erhabensten in der Aufopferung des eigenen Selbst sieh ofiFenbart. Wie bei den Göttern sucht Virgil auch durch Darstellung der Wirkung, die ideales Menschentum aus- übt, den Hörer mitzureißen: ich erinnere an die Haltung des Aeneas beim Empfang durch Dido, des Drances gegenüber Aeneas, des Ascanius gegenüber dem wagemutigen Freundespaar, des Aeneas bei Lausus' Aufopferung das alles weist dem bewundern- den Gefühl der Hörer gleichsam den Weg.

Symbol der inneren ist die äußere Größe; Virgil sieht seine Helden als gewaltige Gestalten und gewaltig ist ihre Kraft; ingens, auch sonst ein Lieblingswort Virgils^), wird von den Helden und ihrem Tun immer wieder gebraucht. In diesen Vorstellungen von Größe verfällt Virgil, was ihm sonst so selten begegnet, wohl auch ins Maßloße. Es läßt sich vielleicht noch durch den gewollt mythischen Charakter des Faustkampfs bei den Leichenspielen entschuldigen, wenn die Caestus, mit denen EnteUus kämpfen wiU, aus sieben ungeheuren Rindshäuten gefertigt sind (V 401); aber wenn der Feldstein, den Turnus aufhebt, nicht wie bei Homer für zwei Männer heutigen Geschlechts zu schwer wäre, sondern kaum von zwölf Auserlesenen getragen werden könnte (XTI 899), so verfehlt hier die Steigerung durch Übertreibung ihr Ziel. Als Aeneas und Turnus sich zum Zweikampf anschicken, empfindet Latinus die erhabene Gewalt des Schicksals, das die beiden un- geheuren Männer aus verschiedenen Erdteilen zum Kampf zu- sammenführte (XII 707): diesem Gefühl kann man folgen*); aber Aeneas selbst dabei mit dem Athos, dem Eryx, schließlich noch mit dem schneebedeckten Apennin zu vergleichen, mutet der Phantasie zu viel zu.*)

1) Vgl. Simcox, Lat. litt. I 278.

2) Eine ähnliche Empfindung sucht Livius vor dem Bericht über die Schlacht von Zama zu erwecken (XXX 82): ad hoc discrimm procedunt postero die duorum apulentisstmorum popidonim duo longe clarissimi dtices, duo fortissimi exercitus, mtUta ante parta decora aut cumulaturi eo die aut eversuri u. s. f.

3) Dahin gehört es, wenn Virgil durch große Zahlen die Vorstellung von einer gewaltigon Menschenmenge zu erwecken sucht, um die Feierlich- keit eines Aufzugs u. dgl. zu steigern: multis cum milibus begibt sich Aeneas zur Grabspende an den Tumulus des Anchises V 76. Aber wenn dann 764 die Troer, die sich zur Abfahrt rüsten, exigui numero heißen, so steht das nicht, wie Kroll 1. c. [ob. 64,1] 141, 1 meint, mit jener früheren Angabe in Wider-

486 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

Die Neigung zum Großartigen, Erhabenen bestimmt auch die Naturschilderangen der Aeneis. Der libysche Landungsplatz der Troer entspricht dem Phorkyshafen auf Ithaka, an dem die Phäaken landen: aus den beiden schroff abfallenden Yorsprüngen der Küste, die den Hafen schützen, sind bei Virgil mächtige Felsen mit himmelan ragenden Spitzen geworden; statt des einen weithinschattenden Ölbaums steigt hier im Hintergrund ein hoher Hain schaurig düster empor. Kein Ort der Wirklichkeit wird annähernd so ausführlich beschrieben wie der Aetna, der donnernde, flammenspeiende, gewaltige (UI 570 582): er dient auch in der Schrift ucsqI iii/ovg als Beispiel für das Erhabene in der Natur (XXXV 4).

Von einer Quelle des Erhabenen ist noch nicht gesprochen, die in Virgils Gedicht freilich nicht oft, aber dann um so starker sprudelt, und deren unterirdisches Bauschen den Gesang von An- fang bis zum Ende begleitet: die Gh'öße Roms, des romischen Volks und seines Beherrschers, der römischen Geschichte und des römischen Weltreichs, der tnaiestas poptdi Romani. Die Gedanken, in deren Betrachtung der Römer vielleicht die Schauer des Er- habenen am stärksten empfand, knüpften sich ja an diese Begriffe: der Gredanke an das gewaltige Schicksal xmd der Götter Willen, der das römische Volk so wunderbar geführt; der Gedanke, den auch Virgils Zeitgenossen gern anklingen lassen, wie aus kleinsten Anfängen sich so Riesengroßes entfalten konnte; aber auch der Gedanke, wie unendliche Mühen und Opfer dies Große gekostet hatte: wie das Livius empfindet, als er an die großen Kriege, gegen die Samniter, Pyrrhus, Karthago herantritt: qtMfUa rerum moles! *Wie oft mußten die höchsten Gefahren bestanden werden, damit das Reich zu der jetzigen kaum mehr zu umspannenden

Spruch: erstens können eacigui numero auch mehrere Tausend heißen, wenn sie sich anschicken, ein Reich zu erobern, und zweitens sind an jener ersten Stelle die gesamten Festgenossen (dabei auch Siculer), an jener zweiten die lecti iuvenes fortissima corda gemeint, die Aeneas auf Anchises' Rat (7Sd) allein mit sich fahrt. Ich erwähne dies Mißvetständnis Krolls, weil es (neben der ebenso falschen Behauptung 'daß Virgil bald Julus, bald Silvius zum Gründer von Alba Longa machte') das einzige Detail aus der Aeneis ist, das in einer neuerdings gegebenen populären Würdigung dieses Gedichts (Seeck, Kaiser Augustus, 1902, 128 ff.) dem Leser als charakteristische Probe mitgeteilt wird. Das Verständnis des Ganzen steht' in dieser Würdigung . durchaus auf gleicher Höhe mit dem des Details.

Erhabenheit: Nator. Rom. 487

OröUe gelangte!' (VII 29). Und eben diesen Gedanken gibt Yirgil im Eingang, gewissermaßen als den Grundton, der bei allen Leiden und Gefabren des Aeneas mitklingen soU: ta/ntae mclis erat Bomanam condere geniem. Zu diesen allgemein erhabenen Empfindungen treten konkretere Vorstellungen: die großen G^ stalten der römischen Geschichte, die Aeneas in der Heldenschau erblickt, die ruhmvollen Taten seiner Nachkommen, die er auf seinem Schild bewundert, ohne noch ihre Bedeutung verstehen zu können: solch erhabener Gegenstand, meinte Virgil, eignet sich besser zum Schmuck für eines römischen Helden Wa£fe als die bunten Szenen allgemein menschlichen Lebens und Treibens, die Achills Schild zierten. Wie in der Heldenschau Augustus' Person, 80 sind auf dem Schild Augustus' Taten von allen der Gipfel; Augustus als sieggekrönter Friedensfürst, als Gott auf Erden ist der Höhepunkt in Juppiters Prophezeiung, die als unentbehr- liches Glanzstück des ersten Buchs in leuchtenden Farben die Tendenz des Gedichts malt, die der Dichter selbst in den Ein- gangsversen mit schlichten Worten ausgesprochen hatte. Wie Augustus der Geweihte unter den Menschen, so ist das Eapitol die Heilige unter allen Statten der Erde: noch ahnt davon Aeneas nichts, als er den waldbedeckten Berg erblickt, aber schon kündigt sich die erhabene Zukunft an in dem frommen Schauer, den die Arkader vor der Statte empfinden, wo Juppiter in Gewitterwolken erscheint. Die erhabene Vorstellung des Unendlichen wird in diesen Bildern zu Hilfe gerufen: begrenzt war die Herrschaft von Lavinium und Alba, ohne Grenze der Zeit wird Rom herrschen, ohne Grenze des Orts (I 278); induta Roma irnperium terris, animos aequdbit Olympo: diese Prophezeiung des Anchises sah Virgils Zeit erfüllt.

Das Gefühl der Erhabenheit im Hörer zu erwecken, ist Virgils oberstes Ziel; alles andere wird dadurch bestimmt und begrenzt. Auch das ixnktixrixöv wird nur dann zugelassen, wenn es zugleich {nl^rjköv ist: das ist seine spezifisch virgilische Färbung. Insbesondere steht das virgilische Pathos unter dieser Herrschaft und empfängt von ihr seine Direktive. Wir sahen, daß Virgil nicht schlechthin Mitleid zu erwecken strebt, mit allen verfüg- baren Mitteln; er verschmäht das Niederdrückende, bloß Quälende oder wehmütig Stimmende und beschränkt sich fast ausschließlich auf die Darstellung heroischen Leidens, das dem Zuschauer zur

488 Fünftes Kapitel. Die Ziele.

Quelle nicht des lustvollen Schmerzes allein, sondern der Erhebung zugleich wird. Er yerschmäht auch das Abstoßende gemeiner Scheußlichkeit, das ^lagov] das Grausige erscheint bei ihm ins Erhaben-Furchtbare gesteigert. Und zuletzt bietet auch für Yirgils Darstellung und Komposition das Streben nach Erhaben- heit den Schlüssel vollen Verständnisses. Einfache große Linien, Übersichtlichkeit und Klarheit im Kleinen wie im Großen, strenge Geschlossenheit des Aufbaus, Verzicht auf alles überschüssige Detail, das den Blick zerstreuen und die einheitliche Wirkung trüben könnte das waren ja die Prinzipien, die wir in Dar- stellung wie Komposition gleichmäßig herrschen fanden; sie er- zeugen die Form, die der Erhabenheit des Stoffes einzig gemäß ist. Die Römer sind wie kein anderes Volk für das Erhabene, in dem Sinne Virgils, empfänglich gewesen. Sie besaßen ein stark ausgeprägtes Empfinden für die unterste Stufe des Erhabenen, die Würde der äußeren Erscheinung; die nationale Toga ist ihr sprechendstes Symbol und wurde als solches empfunden, wie Virgil selbst mit seinem Wort von der gms togata (I 282) beweist. Sie besaßen femer in hohem Grade den Sinn für das Feierliche: ihre Art, Feste zu begehen, ihre Leichenfeiern und Triumphzüge sind des Zeuge: wenn Virgil die Bestattung des Misenus, den Leichen- zug des Pallas, den feierlichen Aufzug zum Vertragschluß schildert, so liefert er damit nicht nur poetisch anziehende Bilder, sondern die anschaulichste Darstellung römischer Denk- und Empfindungs- weise. Es wäre aber durchaus ungerecht, diese Denkweise als nur auf äußere Würde und äußeren Prunk gerichtet hinzustellen. Mag sein, daß das sittliche und religiöse Ideal der Römer ein eng begrenztes und nüchternes war: einen Zug von Erhabenheit wird ihm niemand absprechen können; mögen in Wahrheit noch so wenige im ganzen Lauf der römischen Geschichte dies Ideal ver- wirklicht haben: daß es überhaupt geschaffen wurde, zeugt für die Anlage des Volkes. Und weiter: wenn die augusteische Zeit und ihre Größe für Virgil eine starke Quelle der erhabenen Ge- fühle war, so war sie das zweifellos für seine Zeitgenossen in gleich hohem Grade. Es weht durch diese Zeit, freilich nur zu bald wieder ersterbend, ein großer Zug, man lebt in einem ge- wissen Rausch von Erhabenheit, der selbst auf eine so wenig sublime Natur wie Horaz ansteckend wirkt; es kann kein Zufall ein, daß im augusteischen Rom der Begriff des Erhabenen in die

Römisches Ideal. 489

wissenschafUiclie Ästhetik eingeführt worden ist. Keiner hat diese Bewegung mehr gewünscht und befördert als Augastus selbst: unzahlige kleine Züge erzählen uns noch davon, wie er dem Stil des römischen Lebens die Größe wiederzugeben be- strebt war, die es nach einem frommen Glauben in der besseren Vorzeit besessen hatte: Augustus' eignes Standbild ist der voll- kommenste Ausdruck, ein Vorbild dieses Stils. Römische Vorzeit schilderte Virgil, und in ihr das Ideal der römischen Gegenwart; er hat dies Ideal nicht erträumt oder konstruiert oder nachgeahmt, sondern selbst erlebt und erkämpft; darum lebt es auch für uns noch in seinem Gedicht.

Berichtigungen.

S. 107 Z. 7 V. u. lies 848.

224 16 V. u.

»»

310.

239 22 V. 0.

11

IX.

267 17 V. 0.

782.

275 2 V. 0.

11

xniio.

275 2 V. u.

11

'ist' statt 'hat'

805 7 V. 0.

11

als Beroe.

812 5 V. u.

iy

vn.

Register.

1. Namen- und Saohregister.

Acestes 162 ff. 876.

Achaemenides 111. 451, 1.

Actium 100 f.

Adiocutionen 416 f. 469, 6.

Aeneas 29 ff. 122,1. 166 f. 208 f. 269 ff. 288. 299 f. 410. 424, 2. 480.

Aineia und Ainos 106.

Aeneis: Entstehungszeit 268. wirk- liche und angebliche Widersprüche 12,2. 18. 64,1. 89ff. 141,8. 148,1

164.1. 166,1. 164,1. 178,1. 174,8 198. 214, 1. 224,1. 4. 294,2. 341 f. 388, 1. 442, 1. 448, 1. 486, 3. Un- klarheiten 2?4,4. 264,1. 883. 836 f. 842. 848 ff. 387. 462,8. Spurender Überarbeitung 13 ff. 22. 64,1. 96,1 127, 1. 181, 1. 186, 3. 189, 1. 143 341. 896, 1. 414, 6. der Unfertig- keit 68. 94. 107, 2. 368, 1. 414. Interpolationen 46 f. 92, 2. 187, 1 400. 477, 1.

Aeneiskritik, antike 5,2. 119,1. 161,1 178, 1. 182. 185, 2. 190. 244, 1. 2.

262.2. 366,1. 864,1.2. 405,1.451,1 Aeolus 73 ff.

AeschyluB 28. 187, 2.

attiov 66. 102. 871.

älae 196, 3.

Alba Longa 91 f.

Allegorie 302 f.

AUekto 108 ff. 803. 420.

Amata 182 ff. 266 f. 420. 462, 3.

Amazonen 197. 214, 1.

Amor 124, 1. 803 f. 810.' 892. 406, 2.

Scvayvagtaig 461. 1.

Anchises 67. 72. 107,2. 142 ff. 266.

448. Andromache 106 f. 267. Anna 114, 1. 126 ff. 184, 1. 268. Apollo 84, 1. 84 f. 99. 290,2. 300.

302, 1. ApoUodor (bibl.) 66. 70. ApoUonios von Rhodos imitiert 75, 1.

109,1. 111,8. 112. 130. 132ff. 248.

266. Technik 117. 121. 160. 211, 8.

238. 240, 1. 863. 359, 1. 364, 2.

867, 1. 368. 871. 374. 389. 401. 411.

428. 438. 466. 458. 476 f. Ariadne 182 ff. Aristoteles 263. 266, 3. 4. 287, 1. 332.

488 ff. 464, 1. 469, 1. 461. 463, 1.

473, 1. Ascanius s. Julus. Asconius 262, 2. Asinius Follio 864. Asklepiades 240, 1. Astjanaz 48. 348. Ateius Fhilologus 114, 1. Aufträge 404 f.

Auftreten der Personen 18. 325 f. 875. Aufzählungen 28, 8. 101 f. 438 f. AugustuB 86. 126. 146, 1. 162 f. 162.

258. 301. 871. 472 ff. 486 ff. Auspicien 56 ff. 818. Bakchen 182 ff. halteus 20.^. Berichte 388 f. * Bitten 416. Bogenschützen 201. Boten 863 f.

Register.

491

Brand Trojas 27 f.

Buchanfänge 458 f.

Caere 861.

Oaieta 451, 1. 457.

Oamilla 196 ff. 218 f. 267. 826. 414.

Oassandra 88 f. 94. 812. 421.

Cassius Hemina 66, 8.

Catilina 149.

Cäto 170 ff. 222, 1.

Catall 182ff. 286 f. 869. 898,1. 411f.

429, 1. Celaeno 90. 112. Charaktere 186 f. 166. 268 ff. 409.

418. 466 f. Charakterentwicklung 276. Charon 322 f. cinffulum 208, 2. Circe 110. Ciris 121, 2. 126, 1. 262, 2. 284, 1.

286. 369. 412. comites 15. Comutns 244, 1. Coroebus 87 ff. Creusa 56 ff. 87 f. 267. 409. Cyparis8U8 189. Dares 151 ff. SsLvov 466 f. Detail 457 f. Diana 296. 414. Siaanhv^ 244 ff. Std&eaig 246, 1. Dido 114 ff. 136 f. 888, 1. 409. Dio Chrysost. 9, 1. Diodor 867, 1. 471, 1. 472, 1. Diomedes 39, 1. 102 f. 246, 6. Dionys v. Halikam. 82 ff. 91. 101.

170f. 173. 238,1. 367,1. 469. 472,1. Dira 304. 314. Discordia 181. Dramatisches 18. 17. 88. 46 f. 68.

118 ff. 139. 318 ff. 888. 434. 456.

463 ff. Drances 375 f. 420. 451. Einheit 432 ff. der Bücher 261. 446 f. innlri^ig 463 ff. itKpgaais 77. 394 f. iXiog 465 ff.; iX^ov i%ßoX^ 480.

ivdQysut 169. 860, 1. 468.

Ennius 27. 182. 191. 201. 469, 1. 470.

477, 1. Entellns 162 ff. Entrückong 59, 1. Epideiktik 480. Episoden 436. 445 f. Epitheta 278. Eratosthenes 463, 1. Erinys 181 f. Erotik 117 ff. Eryx 145.

Eschatologie 290, 1. 471, 1. Etmsker 177. 268 f. 418. Etymologrien 477. Euander 176. 266. 267, 1. 285f. 413.

467. Enphorion 18. 87. Euripides 275. Andromache 106. Bak-

chen 188 f. Hekabe 103. Helena

86, 4. Herakles 182. Medea 181 ff.

Orestes 49, 1. 69, 1. Philoktet 9.

Protesilaos 184. Troades 61. 185, 1. Enryalns s. Nisus. Exkurse 418. t(>avv(netov 464, 1. Exposition 118 ff. 878 ff. Fabius Pictor 91 f. falarica 201. ' fama 239 f. Fama 802. 878. Fatum 290 ff. 421, 8. Faunus 174, 2. Feldzeichen 194. Flotte im Tiber 228, 2. Frauen 266 ff. 286 f. fi*rta 252, 1. QalaesuB 189, 1. Gebete 293. 418 f. Genealogien 240, 1. 871. gentes 10, 2. 268 f. Geographie 104. 842. 861. 477. Gleichnisse 204, 1. 248. 266, 1. 855. Gliederung der Bücher 466. Götter 16. 166 f. 288 ff. 828 ff. 882 ff.

480 f. Greise 285.

492

Register.

Griechen 9 ff. 418.

Gründungsgeschichten 86 f. 889. 898, 2.

Harpyien 112 ff. 314. 481.

Haruspicin 318.

hcista und Synonyme 200.

Helena 46 ff. 78 f.

Helenus 96, 1. 99. 813, 2.

HellanikoB 24, 8. 80 f. 58, 1. 2. 68.

Himmel 316.

historia 244 f.

Historiker 31,1. 87,1. 831 f. 338. 468 f. 472 f. 474 ff.

Homer von Virgil imitiert 76. 96 ff. 108 ff. 146 ff. 248 ff. 266 f. n. pass. Boiotie 401. Zweikampf des Paris und Menelaos 228 ff. 318 f. Aphrodite und Helena in F: 187. %6log fidxTi 388. Dolonie 216 ff. 388, 1. 446 f. Teichomachie 222 f. SchUdbeschxeibung 399,1. Rüstung des Achill in T: 228, 1. Theoma- chie 68. Zweikampf des Hektor und Achill 233. Leichenspiele 146 ff. Traum der Fenelope in 6: 186. Kalypsolied 379. 426. Nekyia486f. 442. H. und die Überlieferung 246 f. 874. Schlachtschilderung 191 ff. Verwundungen 204 f. Ero- tik 117. Götter 297 ff. 479 f. Hand- lung 278 ff. 816 ff. Motivierung 338. Einführung der Personen 375. Erzählung 354 ff. Objektivität 368 f. Icherzählung 22 f. 356. Gespräche 402 ff. Rede 412. Bitten 416 f. Monolog 47. 425 ff. Komposition 218, 1. 456.

Homerscholien 161, 1. 228, 1. 268,2. 306,1. 386,1. 374,2. 393,1. 405,1. 419, 2. 422, 1. 480, 1.

Horaz 239. 244, 1. 263. 287, 1. 377. 393, 1. 404, 1. 463, 1. 472 ff. 473, 1.

Hygin 244, 2.

Icherzähhmg 8 f. 14. 21. 22 ff. 42. 45, 1. 47. 54. 305 f.

Jahreszeiten 106, 1. 344 f

Jarbas 876. 878. 419.

Idas 211, 8.

Imitation, mißlungene 254, 1.

interea 386, 2. 463.

Iris 296. 806. 310. 419, 2.

Julus 164 ff. 216,2. 222,1. 264. 348.

Juno 96 ff. 292. 296 f. 406. 421.

Juppiter 290 ff.

Justinus 118, 2.

Jutuma 281, 1. 243. 266. 268. 309, 2.

876. Ealchas 9. 66 f. Kallimachos 78,1. 132 ff. 187. 261.

262, 1. 286, 1. 360, 1. 368. 370

398, 1. Eleanthes 473, 1. mXonaL 262, 2.

Kontraste 101, 1. 826 f. 448 f. xo)9>a nQ6aanta 405 f. Kreta 100. Kriegslist 87 f. Kunstwerke 396 ff. Lager der Troer 228, 2. 360. Landschaftsschilderang 248. 396 f.

486. Landvolk 188, 1. Laodameia 184. Laokoon 13 ff. 68 ff. Latinus 172 ff. 277. Lausus 211 ff. Lavinia 170. 375. 467. Ligurer 269. Livius 4f. 10. 31,1. 171. 184,2. 222,.

1. 223,1. 266,1. 299,3. 831 f 472,

1. 486, 2. 486. Xoyog 306. Lucrez 472. Lutatius 104, 2. Lykophron 89. 111, 1. Lyssa 182. 183 f. Machaon 23, 3. Macrobius 114, 1. 364, 2. 429, 2.

466, 1. Magie 140 f.

Mater Magna 59 ff. 308, 1. Menschenopfer 209, 1. Mercur 806 f.

Begiflter.

493

MessapuB 196.

Metamorphosen 104.

MezentiuB 170 f. 177. 179. 206. 208.

211 ff. 277 f. luagov 46. 213. 488. Misenus 195 f. 367, 1. 376. 446.

448, 1. Mondschein 24 f. 216, 1. Monolog 47. 136. 425 ff. Musen 239. Mythos 237. 239 f. 246, 1. 290.

471, 1. Nacht 343. 388 f.

Naevius 114 f. 116, 1. 2. 383. 477, 1. Namensnennung 374 f. Naturbeseelung 368. Nantes 265. Nautii 102.

NeoptolemuB 39 f. 42 f. Neptim 18. 296. Nisus und Euryalus 151. 208. 2 15 ff.

264 f. 267, 1. 304. 446 ff. Numanus 222, 1. Odysseuö 9. 108 ff. Oinone 132 ff. omina 163 f. 314. Orakel 84 ff. 174 f. 300. Orion 344, 6.

Ortsbeschreibung 248. 382, 1. 395 f. Ovid 55, 3. 60, 1. 87, 1. 104. 114, 1.

116, 2. 132 ff. 155, 1. 189 f. 386 f.

431. Pacuvius 45, 1. 245, 5. Falamedes 9.

Palinurus 148, 1. 448, 1. 462. Palladium 102 f. 245. Pallas 176. 208. 214 f. 265. Panthus 16. 34 ff. Panzer 202 f. Pathus 44 f. 106. 111,3. 118 f. 287 f.

398 f. 410. 421 f. 427. 432. 465 ff.

487 f. pax deum 127.

Penaten 5,1. 34 ff. 41,1. 100. 809,1. Peneleos 39, 1. Peuthesilea 197 f. Pergamos auf Kreta 100.

nBqiTcixBia 321 f.

Personen, Einführung und Durch- fahrung 874 ff. 448 f.; Zahl 456. Petrou 24, 3. 302. Phantasie 250 f. Philetas 78, 1. 116, 2. Phryges 269. 419. Phylarch 466, 1. 468. PhylHs 182 ff. pietas 29 f. 38. 55. 299 f. Polites 43 f. Polybios 463, 1. Polydorus 103 f.

Polygnot 40. 43. 58, 2. #

Polyphem 110. praeiudicia 892. praesens historicum 872. Ttginov 478 ff. Priamus 89 ff. 45, 1. 277. Probus 119, 1. 178, 1. Prodigien 86. 89 ff. 106. 818 f. Properz 117, 1. 803, 1. Prophezeiung 68 f. 99 f. 393 f. 452 f.

469, 5. 'tpBvdri 12. 290, 2. 419 ff. ilfvxocyoDyi^cc 468 f. pttdor 124 f. Punier 10, 2. 268. Quintus von Smyma 8. 20. 28, 2. 40.

42f. 55. 64—68. 182ff. 198,1. 898,1.

395. ratio physica 296 f. Reiterei 195 f.

Rezitation 258, 4. 261. 424, 1. Rhetorik 11. 421. 422,8. 428 ff. 466 f. Rom, Gründung des Aeneas 72. Schiffe in Nymphen verwandelt 289,8.

244, 1. 302. 309. 390. Schilde 201 f. Schild des Aeneas 394. 396 ff. 440, 1.

446. Schleuderer 201. Seesturm 7 6 ff. Segesta 145. 165 f. 342, 2. Selbstmord 137 f. Seneca 45, 1. 77. 278. 276. 293. 299.

806.

494

Begister.

ServiuB») 46. 170, 1. 178, 1. 244, 1.

246. 268, 4. 866, 1. 421. Seztus EmpiriciiB 468. 478, 1. Siebenzahl 847, 2. Silvia 189 f. Silvius 166, 1. Sinon 7 ff. 66 ff. 79 ff. 268. öuoTt^iuva 87, 1. 891 f. Sonmus 804.

Sonnenaufgänge 848 f. 864. Sophokles 7. 29. 66. 182 ff. 484. 3. Spolien 207 ff. Steigerung 327 f. •tesichoros 69, 1. Stimmung 166 ff. 861 ff. Stoa 278. 276. 293. 299. 306 f. 829.

478, 1. Streitwagen 198 f. Suaaoria 481. Sychaeus 118, 2. 124, 2. av^iSTgicc 867 f. 464. axriiiatufiiög 420. tabula niaca 24, 1. 48. 69, 1. Tageszeiten 348 f. Tarchon 227, 1. ttXsvTri 484. Theodicee 298 f. Theokrit 160. 286, 1. 868. 393, 2. 411.

429, 1. Theophanie 52 f. 808 ff. 826. 469, 6. Theophrast 288. Thukydides 227, 1. Thymoetes 18, 2. Tiber 362 f. Tibull 219, 1.

Timaeus 29. 116, 1.

Tod übergangen 207, 1.

Tolumnius 229, 1. 818.

Totenklage 428.

Träume 310 ff. 469, 6. 460, 1.

Traumorakel 174, 2. 812.

Treulosigkeit der Feinde Roms 10, 2.

Trompete 196.

%Qoq>6g 126, 1.

Tryphiodor 40. 48. 68. 66. 64. 67.

78—81. 848, 2. Turnus 170f. 172ff. 178f. 186f. 199f.

207 f. 209 f. 228, 1. 277. 284. 411.

421, 8. Tyrrhus 248. Tzetzes 18. univira 126. (ftpriXdv 477 ff.

Yalerius Maximus 10. 87, 2. Variation des Ausdrucks 364, 1. 407.

der Motive 469 f. Varro 86, 1. 84. 91, 2. 102. 114, 1.

296, 1. vates 128 f. velitea 203.

Venus 47 ff. 64f. 84. 97. 122, 1. 267. 420. Vertraute 126. Verwimdungen 204 ff. Viergespann 197. Wagenrennen 168. Winde 73 ff. 879. Wunder 307 f. Zauberopfer 140. Zufall 887 f. 448, 1. Zuschauer 169.

1} unter diesem Namen habe ich, wo auf die Unterscheidung nicht« ankam, sowohl den mit Unrecht so genannten 'interpolierten' wie den kaum mit besserem Rechte so genannten 'echten' Servius zitiert.

Register.

495

2. Stellenregister.

Aeneis

474—478

360,1

870—488

86 ff.

I

449

498—604

119,1

874

418

1—36

878

680 ff.

89,1

408

88,1

1—7

488 f.

686

844,6

418—428

38,8

11

241, 1. 296.

661

187, 1

429

36,3

12—49

96 ff.

679—587

387, 1

434—606

39 ff.

15

289

580 f.

120, 1

467

348

18

292

688—593

121, 1

483 ff.

42,2

34—166

817. 379

697—610

287 f.

506—666

42 ff. 442 f.

89 f.

292. 422

667 ff.

804

514

41, 1

50—83

73 ff.

661

268

526—632

207, 1

60 ff.

298

688 f.

892

654 ff.

45

78 tf.

296

689

406 f.

667 f.

46,1

84—128 76 ff. 328 f. 896

740—746

484

667-688

46 ff.

92

87r

^ 766 f.

344. 847

576

46,1

92 ff.

482

581 f.

49,1

94—101

427

n

2ff.

601 ff.

60 f.

106 f.

76

18—20

22

604—618

52 ff.

126 f.

296

25 ff.

66, 1

619 f.

64 f.

148—156

204, 1

84

18,2

682 f.

72

159—169

896

40—66

18 ff.

684—678

408

188

386

67—198

8 ff. 65 ff.

634—704

56 ff.

195 f.

876

77—144

481

717

34

208 f.

272

148 ff.

79

721—795

68 ff.

223—804

384 f.

158

12,1

776—789

409

227

298

167

86

781 f.

87

229—296

291

199—238

16ff.

796—804

63 f.

263 294, 2. 268, 2.

201

18

808

64, 1

265

847

202

18,1

0

267—274

166 f.

226

207,1

m 82ff. 256,1. 845 f. 366

297—804

829, 1

226 ff.

20

1—12

861. 453 f.

302 ff.

306

284—249

21

12

36,1

305 f.

366

285

67

13—18

106,2

327 ff.

810

242 ff.

314

19—68 108 ff. 826. 345 f.

843—368

118,2

260—267

21 ff.

69 ff.

106, 1

867 f.

477,1

255

24 f.

89

99

872

810

256 f.

28,2

98

308, 1

382

87. 97

261 ff.

23, 8

141

345

893—400

313

262

24,1

147—178

100. 311

407 f.

97 f.

265

21,1

148

36, 1

426

400

268—297

26 ff.

163 ff.

6, 1. 89, 1

441—632

320

314 ff.

82

172 ff.

809, 1

464

383

318—369

34 ff.

173 f.

311

466-493

396 ff.

354

88, 1

188

812

496

B^^iBter.

209 f.

882, 1

279 f.

309

400 ff.

826

210—269

112 f. 827.

300 ff.

284,1

401

486

266 fF.

90 f.

806—880

182

. 423 f.

486—644

161 f.

261 ff.

814

807

182,2

491—499

162

274 f.

100, 2

822

116

621

161, 1

278—288

100 f.

828—826

424,1

622—684

162 ff.

294—366

106 f.

332 f.

411

647

891

812

107, 2

838—861

122, 1

668—608

164

829

107, 1

387

424,2

696 ff.

871

348

107, 2

846

87

604—746

321 f.

861

813, 2

861 ff.

392

604-658

806

374—462

96, 1

866—887

138

607

297

375 f.

291, 1

876

422

626 148

, 1. 844. 847

879 f.

96, 1.

109,1

890

408

646—662

810

388—896

92 f.

416—486

184

666

887

406 ff.

102 f.

416

886

691 f.

272

486—440

96

421 ff.

184,

1. 892

704

102. 246

468 f.

368, 1

427

246, 6

726

276,2

472—481

107, 2

462—473

814

727

278

491

348

478—621

139 f.

730 f.

268, 2

498—606

430

483—491

140, 2

764

486,3

600

87,1

684—662

181,1.184.426

767

164

670—664

110 f.

664—681

818

779—826

448, 1

670-682

486

690—629

136. 426

813 ff.

448, 1

626

400

697

422

836 ff.

804

712 f.

96, 1

620

136, 1

848—861

416

638 f.

189 f.

870 f.

428,1

IV 114 ff. 878. 486 f. 444

646f.

141, 8

1—89

341

661—662

185

VI 396.

403, 1. 436f.

6—66

127, 1

696

298, 1

[486 f. 446

81—49

417

. 480 f.

698

244, 1

1

468

60

127

6-11

864. 862

63 f.

313

V 142 ff. 349. 448

14—41

818

64

128, 1

8-81

144, 1

20—83

396 ff

65 ff.

129, 1

86—41

867

34

836

68 ff.

129 f.

284, 1

87—41

164,2

86

376

90—128

384

46

346

40 f.

368,1

llOf.

292

56

144.

829, 2

69

419

120

297

76

485, 8

108 ff.

278

160—168

180

82 f.

87

116—128

422,8

165 ff.

369

104 f.

866

149 f.

448,1

178-222

802 f

. 878 f.

114—286

149 ff

. 168 f.

162—178

867,1

198—218

318

260—257

896 ff.

173

241, 1. 296

204

240, 2

291—861

161

. 169 f.

187 ff.

427

206—218

419

363 ff

161, 1

212-236

868 f.

222—237

406

362—484

151 ff

160 f.

266

240,1

222—268

306 f.

389—400

332

337-888

462

JRegfister.

497

888

143, 1

406—474

186 ff. 311

67—76

228,2

843 ff.

892. 462

421—426

420

77 ff.

890

861

207, 1

427

186, 2

79

289, 1

863—871

422,8

428

290, 2. 421, 8

80—106

866,1

386—410

322 f.

444

187,1

82

240,2

609—680

422, 8

476—689

188 ff.

94 ff.

292 f.

618

28, 2. 78

668—670

248

110 ff.

308, 1

662 ff.

489

691—600

172

186 ff.

421, 8

617

246,4

601 ff.

371

140

480

620

471

620 ff.

182. 191

172 f.

391

703

386, 2

623-640

364

176—692

216 ff. 446 f.

710

406

646 f.

239, 3

184 f.

804

718

278

647—817

364, 2. 401.

217

887

766—886

439

[440 f. 446

224

881

766

166,1

786—792

896,2

268-280

164

778 ff.

439

276—280

264, 8

806 f.

274

vin-x

386 ff.

811

164, 1

886

372

Vlil

443. 484.

867 ff. 178,1. 886. 881

883 ff.

372

1

194, 1

878 ff.

26,2

890 ff.

368, 1. 487

18 f.

421, 3

387 f.

371

22

248

407

419

YU

822. 444

29

274, 1

446 ff.

870

1

848, 2

31—66

811

468 f.

860

1—4

467

42—49

91 f.

476—497

286. 287

10—24

110

46

91, 2

481—497

426

10—20

400

56

267, 1

600 ff.

266, 1

37-106

889 f.

86—101

362 f.

603—818

220 ff.

37—44

890

181 ff.

274

644—789

219 f.

37—41

239,3

188.

299,2

644—666

207

48

240,1

298—822

427, 1

648

208

68—67

814

387—861

896

676—680

204

81—101

174, 2. 812

466 f.

866 f.

682

208

96—101

174,3

486 ff.

212. 269

691

240, 1

107—129

89 f.

620—640

828

698—620

422

116

264

624—629

818

603—613

222, 1. 269

141 ff.

313

647 ff.

462

621—668

222

170—194

396 f.

660—667

413 f.

680 f.

313

196 f.

386

626—728

864,2. 396 ff.

672—690

266

240 f.

90, 1

[440, 1

706

201

287

296

781

201 f.

816 ff.

863

293—322

180 f.

298 f.

291, 1

IX-XII

384 f.

X

827 f.

182, 1

IX

380

1—117

294

341—406

182 ff. 406f.

1-24

318. 419, 2

1

886

346

266

Iff.

886

28 f.

420

367

267

18

296

42—62

420

359—372

420

40 ff.

891

68—96

421

Heime,

YirgUi epiiohe

leohnik. 9. Aufl.

32

498

Register.

67 f.

78

118—908

146 f.

148—166

169—218

166—212

238

288 ff.

266

272 ff.

290—298

810

862—868

869—378

423

439

460

482

496 ff.

601 ff.

606

607 f.

618 ff.

624—529

687—641

589 f.

671

604 f.

632

634

646—652

668—679

689

700 f.

722

736 ff.

742 ff.

778 ff.

791

817

827 f.

208

94

246

223 ff.

886 f.

369. 387

388, 1

441, 1

843, 1

223 f. 891

419

266, 1

227, 1

224, 2

196. 224, 2

417

208

376

419

202

208. 896

208. 869 f.

202

372

209, 1

416

203 f.

208

199, 2

368

292

297

199, 1

284. 427

834

208

203

218

212, 1

211 f. 246,6

870

203

198. 208

XI

1

14—28

85

42—68

81 f.

122 f.

149—182

182

243 ff.

802—886 I 816—823 I 386 f. ; 348—876 j 378—444 , 410—444 ; 429

; 446—611 1 447 ff. ; 498 ff. ; 611

522—915

537—584

639—684

586

698 f.

697—876

644 f.

661 f.

677—689

716 f.

782—740

741—768

768—777

778 f.

779

781 f.

790

809

827

836—867

|xn

I 2

488. 449 f. 886 445 337 428

209, 1

876 f.

286 f. 366 364 172. 420, 1 246 278 420 426

424 f.

229, 1

884, 1

324 f.

326 f. 391

226 ff. 414

214. 1

60, 8

392

197 ff.

204

197

204

269

268 f. 418

207. 227

204

881

206

214. 267

290, 2

256, 1 198 383

228 ff. 228, 3

19—46 81

38

47

81—106

110 f.

113—327

ll4f

184—160

184 f.

162

189—194

216—327

220

228

269

806

319—828

824—382

388—429

891

486—440

489

500—653

600 ff.

503 f.

631 ff.

697

697—962

707 ff.

726 ff.

736

777

791-842

792

819

884 ff.

850

872-884

896—907

899 f.

981—938

938

960

174, 8. 417 173 434 411

228, 1 276

819 ff

276. 366

383

871

199,2

165, 1

228 ff. 210

281, 1 313

200 f. 806 281 231 f. 308 f. 404 276. 409 474 220

370, 2 294

309, 2 14,1

288 ff. 486

298, 2

289, 4 419 884 297 293 434 804 428 211 485 211 418 206

Verlag von B, G, Teubner in Leipzig und Berlin,

Die griechisclie und lateinisehe Literatur und Sprache. Bearbeitet von: ü. V. Wilamowitz-Moellendorff. K. Erumbacher. J. Wackernagel. Fr. Leo. K.Norden. F. Skutsch. (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Herausgegeben von Prof. P. Hinneberg Teil I, Abt. 8.) 2., verb u. verm. Aufl. [VH! u. 494 S.] Lex.-8. 1907. geh. JL 10. , in Leinwand geb. J^ 12.—

„In groAdu Zflgen wird um die griechiioh-rOmlsohe Kultur als eine kontinuierliche Entwicklung vorgeftlhrt, die uns su den Grundlagen der modernen Kultur fOhrt Hellenistische und christliche, mittelgrieohisohe und mlttellateinisohe Literatur erscheinen aU Glieder dieser großen Entwicklung, und die Sprachgeschichte erOfbiet uns einen Blick in die ungeheuren Weiten, die rfiokwärts durch die yorgleichende Sprachwissenschaft, Yorwftrts durch die Betrachtung des Fortlebens der antiken Sprachen im Mittel- und Neugriechischen und in den romanischen Sprachen erschlossen sind.**

(F. Wendland-Kiel in der Deutschen Literatars eitung. 1906. Nr. 45.)

„Wilamowits' selbständige und selbstbewußte Anschauung wüfk die alte absolute Wertun i. der klassisohen Originale sourerln fiber den Haufen und setst an ihre Stelle das evolutionistische Prinsip, daß gesohichUiches Verständnis und geschichtliche WtUrdigung jedes Werk und jeden Schriftsteller sunftohst in seiner Zeit und seinem Wollen erfassen und die Entwicklung der kflnstlerischen und sprachlichen Elemente in Betracht sieben muß.

Die anderen Beiträge des Bandes, die naturgemäß weit knapper gehalten sind, teilen mit dem ron Wilamowitz-Moellendorff die scharfe Knappheit und Klarheit der Disposition, die HOhe und Kultur der Sprache, die auf umfassendem Wissen aufgebaute Beherrschung des vielgliedrigen Themas. Auch hier fehlt niraends der innere Zusammen- hang mit der Geistes weit der Gegenwart, auf die manche Ausblicke direkt hindeuten, wie etwa Wackemagels Bemerkungen fiber das Fortleben des Griechischen in anderen Sprachen oder Leos Darstellung des Augusteischen Zeitalters oder Skutschs und Nordens Worte Ober die Schicksale des Lateins seit dem Ausgang seiner Herrschaft im Altertum und Mittelalter." (Nattonalseitung.)

Yortrilge und Aufsätze. Von H. Üb euer. Mit einem Bilde Useners. [V u. 259 S.] gr. 8. 1907. geh. JL 6.—, in Leinwand geb. *^ 6.— Aus den noch nicht TerOffentlichten kleineren Sohrifken Useners ist hier eine Aus- wahl von Vorträgen und Aufsätsen susammengesetst , die ffir einen weiten Leserkreis bestimmt sind. Sie sollen „denen, die ffir geschichtliche Wissenschaft Verständnis und Teilnahme haben, insbesondere aber jungen Philologen Anregung und Erhebung bringen und ihnen ein Bild geben yon der Höhe und Weite der wtesensohaftlichen Ziele dieses großen dahingegangenen Meisters und dieser Philologie". Den Lihalt bilden die Abhand- lungen : Philologie und Geschichtswissenschaft, Mythologie, Organisation der wissenschaft- lichen Arbeit, über vergleichende Sitten- und Beohtsgesohichte, Geburt und Kindheit Christi ; Pelagia, die Perle (aus der Geschichte eines Bildes). Als Anhang beigefügt ist die Novelle „Die Flucht vor dem Weibe", die als Bearbeitung einer altchristllohen Legende sich un- gezwungen anschließt.

Ausgewählte kleine Sehriften. Von Heinrich Geizer. Mit einem Bilde Geizers. [Tu. 429 S.] gr. 8. 1907. geh. .ä: 5 , in Leinw. geb. .ä: 6 .

Die hier gesammelten Aufsätze wenden sich an die weiteren Kreise der Gebildeten. Die ersten drei führen in die bysantinisohe Zeit ein, die dem Verf. besonders nahe lag. Sie beschäftigen sich mit einem griechischen Volkssohriftoteller des 7. Jahrhunderts (Leontios von Neapolis), dem Verhältnis von Staat und Kirche in Byzanz, sowie den Konzilien als Beichsparlamenten. Die folgenden Schilderungen des armenischen Klosters San Lazzaro in Venedig und des ältesten Gotteshauses diesseits der Alpen, St. Maurice, sowie der Aufsatz pro monaohls zeigen als einen ganz spesieUen Oharakterzug Geizers seine Vorliebe ffir KlOster und Mönchtum. Daß er aber trotzdem kein Mann war, der sich in seine Studierstube surfickzog, sondern dessen Beobachtung und Urteil ganz dem staatlichen und kirchlichen Leben seiner Zeit gehörte, beweisen Aufsätze über Bischof von Hefele und seine Rede auf den Großhersog Oiurl Alezander. Gans besonderes Interesse dürfen aber seine „Wanderungen und Gespräche mit Ernst Curtius", sowie sein Aufsatz über Jacob Burkhardt erregen, da sie eine Fülle unmittelbarer Äußerungen dieser beiden enthalten. So ist diese Auswahl wohl geeignet, eine Vorstellung von Geizers vielseitigen Interessen und von seiner scharfumrissenen Persönlichkeit zu geben.

CharakterkSpfe aus der antiken Literatur. Von Prof. Dr. Ed. Schwartz. Fünf Vorträge: 1. Hesiod und Pindar; 2. Thukydides und Euripides; 3. Sokrates und Pläto; 4. Polybios und Poseidonios; 6. Cicero. 2. Aufl. [VI u. 125 S.] gr. 8. 1906. geh. JK 2.— , in Leinwand geb. c/ä: 2.60.

„Die Vorträge enthalten vermöge einer ganz ungewöhnlichen Einsicht in das Staats- und Geistesleben der Griechen, vermöge einer seeUsohen Feinffihligkeit in der Interpretation, wie sie etwa Burkhardt besessen hat, historisch-psychologis^e Analysen von großem Reiz und stellenweise geradesu erhabener Wirkung. . . . Die Verinnerlichung, die Schwartz auf diese Weise seinen Gestalten zu geben versteht, ist m. W. bisher nicht erreicht, und die gedankenschwere Kraft seiner Sprache tritt dabei so fk«i, ungesucht und einfach daher, daß man oft kaum weiß, ob die ernste Schönheit des Ausdrucks oder die Tiefe des Gedankens höhere Bewunderung verdient. . . .**

(Jahresbericht aber das höhere Schulwesen. 1903.)

Verlag von B> G. Teubner in Leipzig und Berlin^

Gegchichte der Autobiographie, Von Qeorg Misch. Enter Band: Dag Altertum. [VTH u. 472 S.] gr. 8. 1907. geh. «^ 8.— , in Halb- franz geb. JC 10.

Die aatobiographisohe Literaturgattang ist bisher weder in Vorarbeiten noch in zuiammenfasiender Behandlung bis auf vereinselte Darstellungen wie das bertUunte Kapitel in Burckhardts Kultur der Benaissanoe sum Gegenstand der Forsohung ge- nommen worden. Die Geschichte, deren erster Band Jetst erscheint, ist auf Grund einer Ton der Berliner Akademie der Wissenschaften gestellten Aufgabe entstanden, fOr deren Bearbeitung dieses Buch den Hauptpreis erhielt Die Behandlungsweise des Themas wurde in dem Urteil der Akademie dahin gekennseiohnet , daß der Autor „Tomehmlich ▼on kulturhistorisch-philosophischen Gesichtspunkten beherrscht, aus der GhBistesrerfassiing der Zeiten, Nationen und einseinen Schriftsteller die innere Form und den StU der Selbst- biographien yerstftndlich macht luxd so auch den Zusammenhang erleichtert, der swisohen ihnen und den yerwandten Werken anderer Gattungen besteht. Er bringt die breite Mannigfaltigkeit selbstbiographisoher Arbeiten in den Zusammenhang der fortschreitenden Besinnung über die Natur des Menschen und sein Verh&ltnis sur Well Und er maoht unter diesem Gesichtspunkt die Besiehungen der verschiedenen Gattungen der Literatur sur Selbstbiographie deutlich. Er gewinnt ihnen fOr jede der groBen Epochen des geistigen Lebens neue Gesichtspunkte ab.*' Der rorliegende erste Band sucht nach einer Yorgeschichte, die die typischen Bildungen der Selbstbiographie bei den alten VOUcem des Ostens behandelt, die ausammenhingende Entwicklung au begreifen, die yon der Entdeckung der IndiTidualit&t in der nachhomerischen Epoche bis su der Blflteseit der Autobiographie im rierten nachchristlichen Jahrhundert reicht und noch die Überginge ins Mittelalter mit umfaßt

Gmudriß der Gesehichte der ItlaBsischen Philologie. Von Prof. Dr. A. Gndeman. [VI u. 224 S.] gr. 8. 1907. geh. JC 4.80, in Leinwand geb. JC 5.20.

Der Hauptsweok dieses Kompendiums, das eine vOUlg xungearbeüate und bedeu- tend erweiterte Ausgabe von des Verfassers Outlines of the History of Philology (5. Aufl. 1909) darstellt, ist, als Vademecum fdr UnirersitAtsrorlesungen su dienen; dooh dürfte ea sich nicht minder sum Selbststudium empfehlen. Li engem Bahmen und liberaiohtllcher Form gibt es nach den einleitenden Abschnitten über Begriff und Einteilung der Philologie, sowie der yerschiedenen Behandlungsmethoden einen Überblick Aber die bedeutendsten Vertreter der Altertumswissenschaft und ihrer Werke nebst reichhaltigen, aber sorgfftltig gesichteten Literaturangaben. Das Buch hilft einem wirklichen BedOrteis ab, d* eine das ganse Gebiet umfassende Darstellung der Geschichte der klaisiBchen Philologie über- haupt noch nicht vorhanden ist.

Die Bnchrolle in der Kaust« ArchäologiBch-antiquariscbeUntersuchnni^n zum antiken Buchwesen. Mit 190 Abbildungen. Von Th. Birt. [X u. 862 S.] gr. 8. 1907. geh. JC12.—, in Halbfr. geb. JC 16.— Das Torliegende Werk sucht eine doppelte Aufgabe au lOsen, eine philologisch- antiquarische und eine kunsthistorisohe oder archäologisch-exegetiMhe. Nach einem ein- leitenden Abschnitt über die für das historische Verständnis unentbehrlichen Bollendar- stellungen der ägyptischen Kunst und über die Art und Verwendung der Bolle und Membrane bei den Griechen und BOmem im allgemeinen wird Tersudht, die Tersohiedenen Darstellungsweisen oder Motive, die die Kunst für die Art der Bollenhaltung heraus- gebildet hat, möglichst vollstAndig festsuhalten und deutlich unter sich su sondern, wobei sich ergibt, dafl etwa neun Motire immer wiederkehren, von denen jedes seine bestiaimte Bedeutung hat, wie die des Gelesenhabens, des Lesenwollens, der Unterbrechung der Lektüre usw. Durch diese bisher wenig beachteten Feststellungen erfahren aber eine Fülle antiker und altchristlicher Kunstwerke, die das Buch aeigt, erst eine Auslegung oder genaueres Verständnis. Weitere Kapitel befassen sich mit der antiken Kunst des Schreibens und mit dem Bollenbuch selbst, seiner Entstehung, Beschaffenheit, Aufbewahrung usw., was wieder su Darlegungen über Lesepulte, Skrinien, Bücherschränke u. a. fOhrl Lx einem Abschnitt über die Trajans- und Markussäule in Born wird dann nachgewiesen, wie der Beliefsohmuck dieser Säulen eine Nachahmung des antiken gerollten Bilderbuches ist, woraus nun über dieses selbst, sowie über die Miniaturen des Mittelalters und die grie- chischen Friese neue wertvolle AufMshlüsse gewonnen werden. Bin SohluAkapitel handelt noch über die feine phantastische Verwendung des Bollenbuches in den Bildwerken des Mittelalters. Beigegeben sind 191 zum Teil noch nicht oder nicht angemessen rerOffentlichte Abbildungen aus allen Gebieten der bildenden Kunst.

CharaltteristilL der lateinischen Sprache. Von Prof. Dr. 0. Weise. 3. Aufl. [VIu. 190S.] gr.8. 1906. Geh. Jt 2 . 80, in Leinw. geb. 3 . 40. „Weises gedankeoTolles und inhaltreiches Buch über die lateinische Sprache er- schien suerst 1891. Aus einer liebevollen Vertiefung in den interessanten Gegenstand geboren, überraschte es durch eine Fülle treffender Urteile des sprachkundigen Verfassers; der gewandte, gefällige Stil machte es su einer angenehmen LekttUre . . . Als erste su- sammenfassende Darstellung des Charakters der lateinischen Sprache war es in seiner Art neu. All die tausendfältigen Beobachtungen, die erfahrene Sprachkenner über lateinische Redeweise gelegentlich gemacht hatten, stellte es mit eigenem Urteil über- sichtlich susammen ; Andeutungen der Grammatiker wurden weiter verfolgt immer unter dem Gesichtspunkte, den Gründen der sprachlichen Erscheinungen nachsuforsohen und von der höheren Warte der psychologischen Betrachtung aus ein richtiges Urteil su gewinnen.*' (Wochenschrift für klassische Philologie. 1900. Nr. 16.)

Verlag von B. Q, Teubner in Leipzig und Berlin,

Ans YergUs Fiühieit. Von Franz Skutech. [XH u. 170 S.] gr. 8. 1901. geh. .€ 4.—, in Leinwand geb. JC 4.60.

GallasundYergil. (Aub Vergils Friihzeit. U. Teil.) Von Franz Skutsch. [VI u. 202 S.] gr. 8. 1906. geh. JCb.—, in Leinwand geb. «^ 6.60.

„. . . das ausgeseiohnete Booh . . ., in dem Skatsoh in einer Untermohong, die das Maater einer literargetchlohtliohen, doroh eindringende prodaktiTe Kritik und soharf- linnige Kombination gleich herrorragenden Studie genannt werden moA, au ganx neuen wenigstens in ihrer Zusammenfassung gans neuen Besultaten über Cornelius Oallus gelangt ist; des Gallus dichterische IndiTidualitftt und Bedeutung haben wir erst durch Skutsch kennen gelernt** (Jahresber. ttb. d. Fortachr. d. klass. Altertumiw. 109. Band.)

Der IL Teil bringt die Erwiderung auf die gegen den I. geAuflerten Widersprüche, nachdem Drachmann auch au dem Ergebnis gekommen war, dal die Beweisführung des Verfassers, soweit sie die Zeitbestimmung der Ciris betrifft (vor VergUs Eklogen), un- erschütterUoh ist

Dag Fortleben der Horazischen Lyrik seit der Benaissanee, Von

Eduard Stemplinger. Mit 9 Abbüdongen im Text. [XIX u. 476 S.] gr. 8. 1906. geh. JC 8.—, in Leinwand geb. JK 9.—

Schildert das Fortleben der Horasischen Lyrik seit der Benabsance in England, Frankreich, Italien und yomehmllch in Deutschland. Wie Horas als Lyriker die Welt- literatur, die Musik und bildende Kunst beeinflußt hat, wird sunAchst in einer knappen Übersicht dargelegt. Im sweiten Teil werden die Oden und Epoden einsein behandelt, insofern sie entweder im ganxen in ernsten luxd schenhaften Um- und Nachdichtungen fortleben oder sich in eiiuelnen Stellen lebens- und keimf&hig erwiesen. Beproduaierte Illustrationen (von der ältesten vom Jahre 1498 bis cur Jüngsten 1905) und musikalische Vertonungen beleuchten den Einflufi des Horas auf die Künste. Die Zusammenstellung gibt eine überwältigende, bisher nur bruchstückweise gekannte Anschauung von der weit- versweigten Einwirkung des römischen Dichters auf das Geistesleben der Kulturvölker. Ein ausführliches Begister erleichtert die Benütsung des Werkes. Eine wertvolle Zugabe ist die hier aum ersten Male gebotene Zusammenstellung der überall serstreuten Übersetsungen der Lyrika.

Abriß der griechisclieii Metrik« Von Prof. Dr. P. Mas quer ay. Ins Deutsche übersetzt von Dr. Br. Presler. [Xu u. 248 S.] gr. 8. 1907. geh. JC 4.40, in Leinwand geb. JC 6.

Der vorliegende Abrlfi führt sofort in medias res und erklftrt praktisch an der Hand geschickt ausgewählter Stellen das Versmafl und den Vera- und Strophenbau, vom Leichteren aum Schweren fortsdhtreitend, damit auch der AnflLnger sich leichter in das schwierige Gebiet einarbeiten kann. Die notwendigen theoretischen Ausführungen sind klar und verständlich, wobei der Verfasser geschickt abwägend auf die Theorien der Alten surückgeht. Die das Werk ansaeichnende sachliche Kurse und Klarheit lieAen es vor allem wünschenswert erscheinen, den AbriA in deutscher Sprache weiteren Kreisen xugängllch SU machen.

Vorarbeiten zur grieeliisclieii Yersgescliiclite« Von Otto Schröder. [Vn u. 166 S.] gr. 8. 1908. geh. JC 6.^, in Leinwand geb. JC6,—

„Die bisher in lauter kleinen Bissen bald hier bald dort hingeworfenen Vor- arbeiten zur griechischen Versgesohiohte, soweit sie nicht bereits in Buchform augänglich sind, sollen hier einmal susammen und in ausgeglichener Gestalt vorgelegt werden. Zwischen den schematischen Analysen und einer Wiederbelebung der Strophen, wie zwischen den hier vereinigten Skizsen und einer nur einigermafien erschöpfenden Kenntnis der Lebensvorgänge innerhalb des Werdens und Vergehens griechischer Bhythmen dehnen sich noch weite unbefahme Strecken. Für jetzt war ich froh, wenn über ganz elementare Begriffe, als Katalexe, Fermate, Synaphie, Hebongsvers, Silbenzählung, Silbenmessung und die Gezeiten sozusagen lyrischer Perioden, lauter Dinge, über die bei der Mehrzahl der Philologen, teilweise auch bei ihren Führern, Unklarheit herrscht, sich einiges Licht verbreitete.** (Aus der Voranzeige.)

Homer. Bearbeitet von Dr. Georg Finsler. [XVIU u. 618 S.] gr. 8. 1908. geh. JK 6.— , in Leinwand geb. .iC 1 ,—

Das Buch wendet sich zunächst an die Lehrer aller der höheren Schulen, an denen Homer nicht im Original gelesen wird, dann an den groBen Kreis der Gebildeten aller Stände. Manchem von ihnen wird es Homer näher bringen, sowohl durch die zu- sammenhängenden Erklärungen einzelner Stücke als durch die systematische Darstellung der homerischen Welt und Technik. Das Buch ist vor allem zum Lesen bestimmt xmA soll ein Gesamtbild geben. Vollständigkeit in den Angaben konnte nicht erstrebt werden, da bei dem gewaltigen Stoff eine solche beinahe unmöglich und der Durchsichtigkeit der Darstellung nicht förderlich gewesen wäre. DaA diese möglichst gedrängt sein mufite, liegt bei der Fülle des Materials auf der Hand. Es sind deshalb auch die angeführten homerischen Stellen selten im vollen Wortlaut gegeben, weil der Umfang des Baches doch nicht zu sehr anschwellen durfte. In der Skizze über die Homerkritik konnte, dem Plan und Umfang des Baches gemäfi, keine irgendwie erschöpfende Geschichte der Homer- frage gegeben werden. Nicht nur mußten die sprachlichen und metrischen Gesichtspunkte und die Erwägungen über das Detail wegfallen, sondern es durfte anch ans der Masse der Schriften nur eine Auswahl geboten werden.

Verlag von B. G, Teubner in Leipzig imd Berlin.

Das irrieeliisehe Drama. Aisehjloi^ Sophokles, Enripides. Bearbeitet Yon Prof. Dr. Johannes Geffcien. Mit einem Flan des Theaters des Dionysos zu Athen. [lY u. 113 S.J gr. 8. 1904. geh. .¥. 1.60, in Leinwand geb. JC 2.20. Dm Buch bietet ein lebendiges Bild dee dramiitlsohen Lebenf in Athen. Verfaaaer behandelt die einxelnen hervorragenden Werke naoh geaehiohtlioher Folge and Bediehong sneinmnder. Die Kunetmittel der alten Tragödie üi ihrer Entwicklung und Fortwlrkong werden in das rechte Licht gesetxt und die Persönlichkeiten der Dichter klar heraus- gearbeitet. Historische Kritik und ästhetische Behandlung sind su einem harmonischen Gänsen vereint. Das Buch wird bei allen Freunden der Antike, Laien und Fachleuten, lebhaftes Interesse finden.

Gesehiehte des hellenlstiseheii Zeitalters« Von Julius Eaerst I. fiand: Die Grondleflning des Hellenismus. [X u. 488 S.] gr. 8. 1901. geh. JL 12.—, in HiQbfranz geb. «>*; 14.—

„Kaerst geht nirgends einer Schwierigkeit aus dem Wege, umsichtig hat er vor seiner Bntscheidung stets die Möglichkeiten erwogen. DaS sein Werk gans ausgeretfl ist, seigt mit am deutliehsten sein MaShalten. Es ist ein gefihrliohes Gebiet, die Ge- schichte Alexanders, wo jeder leicht seigen kann, was er nicht kann; mit dem Mute der Jugend ist Kaerst an diese Auf^be gegangen, um in der Kraft der Mannesjahze sie su lösen. Das Urteil Aber ein Werk, das völlig hat ausreifen können, darf einen hohen MaSstab anlegen, aber diese Geschiohte Alezanders enttSuscht auch die Leser nicht, die viel erwarten: in Forschung und Darstellung, nach Form und Lohalt ist sie die be- deutendste, die duzohdaohteste seit J. G. Droysen.«' (Liter. ZentralbUtt 1908. Nr. 81.)

Hellenistisolie WiinderenUilimgen von B. Beitzenstein. [Tu. 172 S. | gr. 8. 1906. geh. JLh.—, geb. JK 7.—

Das Buch soll nicht eine erschöpfende Aufsihlung der heUenistisohen Wunder- ersihlnngen bieten, sondern sunftohst ihren literarischen Charakter, ihre Technik und die sugrunde liegenden Ssthetlschen Theorien an ausgewihlten Beispielen erllutem und die phantastische ErsShlung durch die verschiedenen Literatunweige (Satire, philosophische Memorabüien usw.) verfolgen. Das Ziel war dabei eine möglichst scharfe Scheidung der verschiedenen Arten hellenistischer Ersählung und besonders die Sonderung der Wunder^ ersfthlung von dem Boman. Doch muSte schon dabei die ftrOhchristliche Literatur (bes. Apostelakten und Mönchsers&hlungen) in breiterem Umfang herangesogen werden, da sie fOr die volkstflmlichen Urtjpen fast einxig die Belege bietet Dir Charakter als im wesentlichen fireie Dichtung, nicht als ^^^mäL»*^ soll durch diese Zusammenstellung nfther erUutert werden.

Der kflrsere, aweite Teil ist dieser Literatur allein gewidmet und sucht an swei den Thomas- Akten entlehnten Beispielen die St&rke der literarischen Abhängigkeit der frOh- chrlstlichen von den gleiobaeitlgen heidnischen Ersihlungen su erweisen und xugleich aus dieser volkstümlichen Literatur Schltlsse auf die Anschauungen breiter heidenchristlicher Kreise su sieben.

Piatons philosophische Entwicklnng« Von Hans Raeder. Von der zl. Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften gekrönte Preisschrift u. 486 S.] gr. 8. 1906. geh. Ui^ 8. , in Halbfr. geb. JC \Q,—

In dem vorliegenden Buche hat der Verfasser sich die Aufgabe gestellt, aus den aahlreichen Untersuchungen ftber die platonischen Dialoge, die in den letsten Jahrsehnten erschienen sind, die Summe su sieben, wobei er namentlich sich bemflht hat naohsuweisen, dafi sowohl die sprachlichen als die philosophischen Untersuchungen wesentlich dieselbe Zeit- folge der Dialoge wahrscheinlich gemacht haben. AuSerdem wiä durch Analyse sämtlicher Diiüoge, deren Echtheit festsustehen scheint, der Versuch gemacht, su einer neuen Gesamt- auffassung der platonischen Philosophie den Weg ansubahnen. Dabei ist swar nicht ein susammenh&ngendes System platonischer Philosophie gemeint, aber der Verfasser meint doch einen kontinuierlichen philosophischen Entwlckelungsgang Piatons nachweisen su können.

Das Mittelmeergebiet« Seine geographische und kulturelle Eigenart.

Von Dr. A. Philippson, Professor an der Universität Bonn. 2. Aufl. Mit 9 Figuren im Text, 18 Ansichten und 10 Karten auf 16 Tafeln. [X u. 261 S.] gr. 8. 1907. In Leinwand geb. JL 1 ,—

Das Mittelmeergebiet, in dem sich die Reise einer unvergloichlichen Natur mit den höchsten historischen Interessen vereinigen, der Schauplats, auf dem unsere abend- ländische Kultur erwuchs, der Studienbereioh ungesfthlter Forscher, das Ziel der Sehnsucht ffix die Gebildeten aller nordischen Völker es ist eine Region von ausgeprägter geo- graphischer Eigenart Diese Eigenart nach der Methode der heutigen Geographie darsu- stellen, die verschiedenen Faktoren, die sum Charakterbild dieser bevorzugten Erdstelle sasammenwirken, die Einflüsse, die sie auf den Menschen und seine materielle und geistige Entwicklung ausgeübt haben, su schildern: das unternimmt dieses Buch. Es entrollt in durchaus wissenschaftlicher, aber doch allgemein verständlich er Weise ein Gesamtbild des Mittelmeergebietes, wie es bisher in dieser Art nicht vorhanden war; es berührt dabei auch die einseinen Länder und hervorragenden Städte in ihrer Stellung innerhalb des Gebietes, ohne sich in Spezialbeschrelbungen zu vurliori.n. a^

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