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Völkerpsychologie

Erster Band

Die Sprache

Vierte Auflage

Erster Teil

Völkerpsychologie

Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze

von

Sprache, Mythus und Sitte

von

Wilhelm Wundt

Erster Band

Die Sprache

Vierte unveränderte Auflage

Erster Teil

Mit 40 Abbildungen im Text

Alfred Kröner Verlag in Stuttgart

1921

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, werden vorbehalten.

Vorwort zur ersten Auflage.

Über Plan und Absicht des vorliegenden Werkes gibt die Ein- leitung Rechenschaft. Ich kann mich daher an dieser Stelle auf einige kurze Bemerkungen über mein wenn ich mich des Aus- drucks bedienen darf persönliches Verhältnis zu dem Gegenstande beschränken. Sprache, Mythus, Sitte bilden in ihren tatsächUchen Zusammenhängen zunächst den Inhalt bestimmter philologisch- historischer Arbeitsgebiete; sie nehmen aber zugleich mehr als an- dere, dem weiteren Umkreis der Geschichte angehörige Stoffe ein direktes psychologisches Interesse in Anspruch. Dieses Verhältnis gibt den genannten Gebieten das Vorrecht, zugleich Grundlagen der ,, Völkerpsychologie" zu sein. Nun könnte es scheinen, als wenn auch der Psychologie dann am besten gedient wäre, wenn derjenige, der sich an die völkerpsychologischen Probleme heranwagt, die Eigen- schaften des Philologen und des Historikers mit denen des Psycho- logen verbände. Aus zwei Gründen glaube ich jedoch, daß dieser Wunsch, vorläufig wenigstens, kaum Aussicht hat, verwirklicht zu werden. Erstens wird man bei der gegenwärtigen Teilung der wissen- schaftlichen Arbeit schwerlich erwarten dürfen, daß der Philologe oder Historiker die Sache in einer den heutigen Forderungen der psy- chologischen Wissenschaft genügenden Weise in Angriff nehmen werde ; und vielleicht wird man ihm dies nicht einmal verdenken können, da die Aufgaben und, was damit unvermeidlich verbunden ist, die Gesichtspunkte, mit denen er an die Probleme herantritt, wesentlich abweichende sind. Sodann aber kann ich nicht umhin zu glauben, jene Arbeitsteilung, die hier die psychologische Analyse der Er- scheinungen der Psychologie und nicht der Philologie und Geschichte zuweist, werde in einem gewissen Maß immer fortdauern, wenn auch, wie zu hoffen ist, beide Gebiete in Zukunft dadurch einander näher

VI Vorwort.

treten mögen, daß sicli die Philologen und die Historiker mit den Betrachtungsweisen der wissenschaftlichen Psychologie mehr be- freunden, und daß sich die Psychologen der Bedeutung der Völker- psychologie als einer unentbehrlichen Erkenntnisquelle mehr bewußt werden, als dies gegenwärtig der Fall ist. Gleichwohl wird die Völker- psychologie als solche ein Teil der Psychologie bleiben. Denn wenn der Philologe gewiß mit Recht geltend macht, daß nur der mit Er- folg in die Kulturwelt des Altertums einzudringen vermag, der die Elemente der philologischen Methode beherrscht, so wird doch wohl auch der Psychologe daran festhalten müssen, daß man, um die ver- wickelten Erscheinungen der Völkerpsychologie zu entwirren, zuerst durch die exakte Analyse der elementaren Bewußtseinsvorgänge, wie sie die Methoden der experimentellen Psychologie vermitteln, den Blick geschärft und die Fähigkeit psychologisch zu denken geübt haben muß.

Wohl gibt es heute selbst noch Psychologen, die das Gebiet ihrer Betrachtungen grundsätzlich auf diese einfacheren Aufgaben ein- schränken möchten ; und in der öffentlichen Meinimg findet die gleiche Anschauung gelegentlich in der bedauernden Bemerkung ihren Aus- druck, die heutige Psychologie sei ganz und gar zur Psychophysik, also zu einem Anhangsgebiet der Physiologie geworden, und sie sei damit in den Kreis jener Disziplinen hinübergewandert, die nur für diejenigen ein Interesse besitzen, die sie zu ihrer Spezialität machen. Dies ist nach meiner tiefsten Überzeugung ein Irrtum, einer jener Irrtümer, die daraus entstehen, daß man einen vorübergehenden Zustand für das bleibende Wesen eines Dinges ansieht. Daß die ein- facheren Fragen der physiologischen Psychologie bis zu einem gewissen Grade geklärt sein mußten, ehe sich die wissenschaftliche Arbeit den komphzierteren völkerpsychologischen Problemen zuwenden konnte, ist wohl begreiflich. In dieser Bedingung liegt aber, wie ich meine, ebensowenig wie in der teilweise veränderten Beschaffenheit der Hilfsmittel eine Rechtfertigung dafür, der Psychologie dauernd ein Gebiet fern zu halten, das seiner eigensten Natur nach zu ihr gehört, und das, wie man vielleicht behaupten darf, den wichtigeren und fruchtbareren Teil ihrer Aufgaben in sich schHeßt.

Im Hinblick auf die in den obigen Bemerkungen angedeutete Scheidung der Standpunkte des Fsj^^chologen und des Historikers

Vorwort. VII

versteht es sich übrigens von selbst, daß ich mich in dem folgenden Werk eines eigenen Urteils über streitige Fragen der Sprach-, Mythen- und Sittengeschichte, soweit solche rein geschichtlicher Art sind, enthalte. Nur da, wo sich die historischen Folgerungen mit psycho- logischen Hypothesen verbinden oder gar, wie es wohl zuweilen ge- schieht, ausschließlich in solchen bestehen, glaube ich aus dieser Kolle eines unbeteiligten Zuschauers heraustreten zu dürfen. Ich betrachte demgemäß die geschichtlichen und ethnologischen Ergebnisse auf allen hierher gehörigen Gebieten als einen Stoff, den ich, ebenso wie das Resultat eines Experiments, als einen gegebenen anerkennen muß, über dessen psychologische Natur ich mir aber wohl mit dem- selben Rechte, mit dem es die Philologen und Historiker selbst tun, ein Urteil gestatten darf. Dabei unterscheidet sich meine psycho- logische Betrachtung dieser Dinge von derjenigen der Spezialforscher auf den gleichen Gebieten natürlich dadurch, daß diesen ohne Zweifel die Tatsachen leichter und reichlicher zu Gebote stehen, daß dagegen meine Betrachtungsweise nach den anderwärts, namentlich nach den innerhalb der physiologischen Psychologie gewonnenen Ergebnissen orientiert ist, und daß sie von dem Streben geleitet wird, auf diesem Wege so weit als möglich die allgemeinen psychologischen Erkennt- nisse zu ergänzen und zu erweitern. Ich habe geglaubt, diesem Stand- punkte vor allem insofern Rechnung tragen zu müssen, als ich meinen Betrachtungen nur solche Tatsachen oder soweit die letzteren hypothetische Ergänzungen nie ganz entbehrlich machen nur solche Voraussetzungen geschichtlicher Art zugrunde legte, die als gesichert oder durch die übereinstimmende Überzeugung der Sachverständigen als zureichend beglaubigt angesehen werden können. Ich meinte im Zweifelsfalle lieber auf ein glücklich gewähltes Beispiel für irgend- eine psychologische Gesetzmäßigkeit verzichten, als mich der Gefahr ungewisser linguistischer, mythologischer oder kulturhistorischer Hypo- thesen aussetzen zu dürfen. Sollte ich trotzdem im einzelnen einmal fehlgegriffen haben, so wird das der sachkundige Leser, wie ich hoffe, mit der Schwierigkeit des Gegenstandes entschuldigen.

Ich kann dieses Vorwort nicht schließen, ohne dankbar der Hilfe zu gedenken, die mir zunächst für den die Sprache behandelnden ersten Band die sprachwissenschaftliche Literatur, in der wieder die

indogermanistische und germanistische in erster Linie steht, geleistet

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105

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VIII Vorwort.

hat. Innerhalb der Jahre, in denen ich mich mit den Vorarbeiten zu diesem Werke beschäftigte, hat sich mir immer mehr die Überzeugung aufgedrängt, daß die Sprachwissenschaft von sich aus in wachsendem Maß einer gründlicheren Vertiefung in die psychologische Seite der Sprachprobleme zugeführt werde. Dieser Umstand hat es gefügt, daß vielfach innerhalb der Sprachwissenschaft selbst schon die ein- zelnen Tatsachengebiete einer psychologischen Behandlung um vieles zugängHcher geworden sind, als sie es zu der Zeit waren, da ich selbst es zum ersten Male unternahm, mir die Aufgaben der Völkerpsycho- logie zurechtzulegen. Es würde zu weit führen, hier auch nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen, denen ich in dieser Beziehung ver- pflichtet bin. Ich will mich auf die drei hauptsächlichsten beschränken. Zunächst verdanke ich Hermann Pauls ,, Prinzipien der Sprach- geschichte" mannigfache Anregungen. Sein Streben, überall die Analyse der sprachlichen Vorgänge an die Erscheinungen der lebenden Sprache, und hier wieder das Studium der generellen an das der in- dividuellen Erscheinungen anzuknüpfen, kam durchaus einer von mir selbst gehegten und auf andern Gebieten betätigten Überzeugung entgegen. Diese Anregungen möchte ich um so rückhaltloser an- erkennen, je mehr ich sowohl in der allgemeinen psychologischen Auf- fassung, wie infolgedessen zumeist auch in der Interpretation des einzelnen andere Wege einschlagen mußte. Unter den spezielleren sprachwissenschaftlichen Werken gewährte mir sodann für das weite Gebiet allgemeiner Sprachvergleichung vor allem Friedrich Müllers ,, Grundriß der Sprachwissenschaft" vielfache Förderung. Gerade die Zurückhaltung, die sich Müller auferlegt hat, indem er sich über- all auf die Zusammenstellung der für die Beurteilung einer Sprache wesentlichen Tatsachen, der Lautsysteme, Paradigmen, Sprach- proben usw., beschränkte, macht dieses Werk vor andern, die von vornherein die Erscheinungen nach bestimmten linguistischen oder psychologischen Hypothesen gruppieren, für den Psychologen wert- voll. Für das Indogermanische bin ich endlich hauptsächlich dem ,, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen" von K. Brugmann und B. Delbrück für zahlreiche Be- lehrungen verpflichtet.

Leipzig, im März 1900.

Vorwort. IX

Vorwort zur zweiten und dritten Auflage.

Die zweite und die dritte Auflage dieses Werkes haben weder in der Gesamtauffassung nocli in der Anordnung des Stoffes wesent- liche Änderungen gegenüber der ersten aufzuweisen. Dagegen ist alles noch einmal sorgfältig durchgearbeitet worden. Manches hoffe ich durch ergänzende Ausführungen in helleres Licht gesetzt, anderes durch Berichtigungen und Zusätze verbessert zu haben. Zweifel- hafte oder als irrig erkannte Beispiele wurden beseitigt und womög- lich durch zuverlässigere ersetzt. Im ganzen aber habe ich geglaubt, mich jeweils auf wenige erläuternde Beispiele beschränken zu dürfen, da es sich ja hier nicht sowohl um die Mitteilung sprachwissenschaft- lichen Materials, das den Sprachforschern besser und reicher zu Ge- bote steht als mir, und das den Psychologen vielleicht als eine über- flüssige Belastung erscheinen würde, als vielmehr lediglich um die notwendige Exemplifikation der an der Sprache nachgewiesenen oder wahrscheinlich gemachten psychischen und psychophysischen Vorgänge handelt. Tiefer greifende Umarbeitungen hat im ersten Teil namentlich das Kapitel über den Lautwandel, im zweiten die Darstellung der Wortformen und teilweise die des Satzes erfahren. Für viele kritische Bemerkungen und Berichtigungen im einzelnen bin ich den zahlreichen Besprechungen, ' die dieses Werk von linguistischer Seite erfahren hat, verpflichtet. Besonders habe ich den Schriften von B. Delbrück über ,, Grundfragen der Sprachforschung'' und von L. Sütterlin über ,,das Wesen der sprachlichen Gebilde", die beide aus Anlaß dieses Werkes erschienen sind, manche Anregungen zu Verbesserungen und Umarbeitungen entnehmen können, wofür ich diesen Forschern aufrichtig dankbar bin. Freilich sind diese Ver- besserungen, wenn sie als solche anerkannt werden sollten, nur zu einem kleinen Teil Zugeständnisse, die ich dem, wie mir scheint, etwas allzu einseitig historischen Standpunkt der genannten Autoren machen durfte. In der Mehrzahl der Fälle habe ich mich vielmehr genötigt gesehen, eben einem solchen einseitigen Historismus gegenüber das Recht der psychologischen Betrachtung zu wahren und wenn mög- lich eingehender, als es vielleicht da und dort in der ersten Auflage geschehen war, zu begründen. Hoffentlich wird aber der billig denkende

X Vorwort.

Leser nicht verkennen, daß ich den Wert der Sprachgeschichte darum wahrlich nicht gering achte, sondern daß ich, wo sie uns zugänglich ist, hier wie überall im Grebiet der geistigen Vorgänge das geschicht- liche Werden der Erscheinungen als die Grundlage ansehe, auf der sich erst die psychologische Untersuchung erheben kann. Doch mit der bloßen Geschichte läßt sich, wie ich glaube, ebensowenig wie mit reiner Psychologie ein tieferes Verständnis der sprachlichen Entwick- lungen gewinnen, sondern beide müssen zusammenwirken. Für das Gebiet der indogermanischen Sprachgeschichte bin ich in dieser Be- ziehung meinem verehrten Kollegen K. Brugmann für viele berich- tigende und ergänzende Bemerkungen zu besonderem Dank ver- pflichtet.

Leipzig, März 1904 und Juni 191L

W. Wundt.

Inhalt.

Seite

Einleitung 1

I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie 1

IL Grundbegriffe der Völkerpsychologie 7

1. Volksgeist und Volksseele 7

2. Vorgeschichte und Geschichte 11

3. Der Einzelne und die Gemeinschaft 18

III. Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie . . 25

IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie 36

Erstes Buch.

Die Sprache.

Erstes Kapitel. Die Ausdrucksbewegungen 43

I. Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen ... 43 IL Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu den Gefühlen

und Affekten 50

1. Einfache Gefühlsformen 50

2. Gefühlsverlauf der Affekte 57

3. Innervation der Ausdrucksbewegungen , 66

4. Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. ... 77

III. Prinzipien der Ausdrucksbewegungen 81

1. Herbert Spencers physiologische Theorie 81

2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten 85

3. Versuche einer psychologischen Theorie 92

4. Allgemeines psychophysisches Prinzip der Ausdrucksbewegungen 97

IV. Intensitätsäußerungen der Affekte 98

1. Ausdrucksbewegungen starker Affekte 98

2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssym- ptomen 101

3. Vasomotorische Intensitätssymptome 103

V. Qualitätsäußerungen der Affekte 107

1. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome ...... 107

2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen 108

3. Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle 111

4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle . . 117

5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen 123

XII Inhalt.

Seite

VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte 131

1. Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern Affekt- symptomen 131

2. Haupt formen pantomimischer Bewegungen 133

3. Theorie der pantomimischen Bewegungen 136

4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen Aus- drucksformen 140

Zweites Kapitel. Die Gebärdensprache 143

I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache 143

1. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache . 143

2. Gebärdensprache der Taubstummen 145

3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern 152

4. Überlieferte Gebärdezeichen bei den europäischen Kultur- völkern 154

5. Gebärdezeichen der Zisterziensermönche 159

II. Grundformen der Gebärden 162

1. Psychologische Klassifikation der Gebärden 162

2. Hinweisende Gebärden 165

3. Nachbildende Gebäi'den , 170

4. Mitbezeichnende Gebärden 178

5. Symbolische Gebärden 182

III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der Gebärden 200

1. Unbestimmtheit der Begriffskategorien 200

2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden 208

IV. Syntax der Gebärdensprache 216

1. Gebärdenfolge der Taubstummen 216

2. Gebärdenfolge der Indianer 223

3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax 226

V. Psychologische Entwicklung der Gebärdensprache. . . 231

1. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen 231

2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst .... 238

3. Gebärdensprache und Bilderschrift 240

4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache 252

Drittes Kapitel. Die Sprachlaute 258

I. Stimmlaute im Tierreich 258

1. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen 258

2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute 262

3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren 265

4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen .... 272

II. Sprachlaute des Kindes 283

1. Stadien der Lautbildung beim Kinde 283

2. Angebliche Worterfindung des Kindes 290

3. Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwick- lung 304

Inhalt. XIII

Seite

4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache 310

5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kinder- sprache 314

III. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen .... 319

1. Primäre und sekundäre Interjektionen 319

2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ . . 322

3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen .... 325

IV. Lautnachahmungen in der Sprache 329

1. Schallnachahmungen und Lautbilder 329

2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung 337

3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane . . . 345

4. NatiMiche Lautmetapheni 348

a. Lautmetaphem in den Wörtern für Vater und Mutter . 351

b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominalformen 354

c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen bei Tätigkeitsbegriffen 359

5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmeta- phern 367

Viertes Kapitel. Der Lautwandel 373

I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft 373

1. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze .... 373

2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautände- rungen 376

3. Annahme physischer und psychischer Momente der Lautent- wicklung 380

4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels 382

IL Individuelle und generelle Formen der Lautänderung 385

1. Lautwandel und Lautwechsel 385

2. Spielraum der normalen Artikulationen 388

3. Störungen der Lautbildung 390

a. Lauterschwerungen 391

b. Lautvermengungen 393

c. Wortvermengungen 398

4. Sprachmischungen und Mischsprachen 404

5. Grundformen des generellen Lautwandels 411

III. Assoziative Kontaktwirkungen der Laute 419

1. Regressive und progressive Lautinduktion 419

2. Theorie der Kontaktwirkungen 424

a. Ästhetische, teleologische und psychologische Deutungen . 424

b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion 431

IV. Assoziative Fernewirkungen der Laute 441

1. Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung 441

2. Grammatische Angleichungen 443

« a. Innere grammatische Angleichungen 443

b. Äußere grammatische Angleichungen 445

XIV Inhalt.

Seite

3. Begriffliche Angleichungen 448

a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft 448

b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe 449

c. Komplikationen der Angleichungs Vorgänge 451

4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen . , . 453

a. Entstehung der Fernewirkungen aus elementaren Asso- ziationen 453

b. Psychologische Analyse der vier Hauptformen der Laut- angleichung 462

6. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen 467

V. Laut- und Begriffsassoziationen bei Wortentlehnungen 469

1. Haupt formen der Wortentlehnung 469

2. Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation ........ 471

3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen 474

a. Wortassimilationen mit begrifflichen Nebenwirkungen . , . 476

b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen 479

4. Beziehungen der Wortentlehnungen zu den andern assoziativen Femewirkungen 481

VI. Regulärer Lautwandel 484

1. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels . . . . , 484

2. Einfluß der Naturumgebung 488

3. Einflüsse der Kultur 490

4. Sprachmischungen 494

5. Tempo der Rede und Wortbetonung 497

a. Allgemeine Wirkungen der Artikulationsgeschwindigkeit . . 497

b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen 500

c. Lautänderungen der Verschlußlaute 502

d. Lautänderungen unter Einfluß des Akzentwechsels .... 517

6. Zur Theorie des regulären Lautwandels 522

a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen . . 522

b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung der singu- lären Lautänderungen 528

VII. Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Laut- wandels 537

Fünftes Kapitel. Die Wortbildung 641

I. Psychophysische Bedingungen der Wortbildung .... 541

1. Zentrale Störungen der Wortbildung 641

2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung 546

3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen 549

4. Physiologische und pathologische Amnesie 551

5. Erscheinungen der Paraphasie 555

6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung 558

7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen . . . 561

Inhalt. XV

belle

II. Psychologie der Wortvorstellungen 568

1. Psychische Struktur der Wortvorstellungen 568

2. Tachistoskopische Methode 575

3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wort- bildem 580

4. Das Wort als simultane Vorstellung 584

5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen 589

6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung 593

III. Stellung des Wortes in der Sprache 594

1. Grund- und Beziehungselemente des Wortes 594

2. Wurzeln der Sprache 596

3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie 598

4. Reale Bedeutung der Sprachwurzeln 603

5. Wort und Satz 609

6. Ursachen der Wort sonderung 612

IV. Neubildung von Wörtern 615

1. Volkstümliche Neubildungen 615

2. Gelehrte Neubildungen 622

V. Wortbildung durch Lautverdoppelung 627

1. Allgemeine Formen der Lautverdoppelung 627

2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung 632

a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender Vor- gänge 632

b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen . . . 635

c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigenschaftsbegriffen . . 637

d. Verdoppelung als Steigerungsform der Verbalbegriffe . . , 638

3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformeri 642

4. Psychologische Theorie der Verdoppelungsformen 643

VI. Wortbildung durch Zusammensetzung 652

1. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung .... 652

2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung 658

3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita 664

4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung 667

VII. Ursprüngliche Wortbildung 671

1. Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbil- dungen 671

2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus voran- gegangenen 674

Register 678

Einleitung.

I. Aufgaben und Nachbargebiete der Völker- psychologie.

Die Psychologie in der gewölinlichen und allgemeinen Bedeutung dieses Wortes sucht die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung, wie sie das subjektive Bewußtsein uns bietet, in ihrer Entstehung und in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erforschen. In diesem Sinne ist sie Individualpsychologie. Sie verzichtet durchgängig auf eine Analyse jener Erscheinungen, die aus der geistigen Wechselwirkung einer Vielheit von Einzelnen entspringen. Eben deshalb bedarf sie aber einer ergänzenden Betrachtung, die wir der Völkerpsychologie zuweisen. Demnach besteht die Aufgabe dieses Teilgebiets der Psychologie in der Untersuchung derjenigen psychischen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung ge- meinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte zugrunde liegen.

Indem die Völkerpsychologie den Menschen in allen den Be- ziehungen, die über die Grenzen des Einzeldaseins hinausreichen und auf die geistige Wechselwirkung als ihre allgemeine Bedingung zurück- führen, zu ihrem Gegenstande nimmt, bezeichnet nun aber freilich jener Name nur unvollständig ihren Inhalt. Der Einzelne ist nicht bloß Mitglied einer Volksgemeinschaft. Als nächster Kreis umschließt ihn die Familie; durch den Ort, den Geburt und Lebensschicksale ihm anweisen, steht er inmitten noch anderer, mannigfach sich durch- wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 1

2 Einleitung.

kreuzender Verbände, deren jeder wieder von der erreichten beson- deren Kulturstufe mit ihren Jahrtausende alten Errungenschaften und Erbschaften abhängt. Alles das wird durch den Ausdruck „Völker- psychologie" natürlich nur unvollkommen angedeutet, und es könnte darum vielleicht sinngemäßer scheinen, der individuellen eine ,, so- ziale" Psychologie gegenüberzustellen. Doch würde diese Bezeichnung wiederum wegen der Bedeutung, die man dem Begriff der „Sozio- logie" bereits angewiesen hat, Mißverständnissen begegnen können. Auch ist auf den höheren Kulturstufen das Volk jedenfalls der wich- tigste der Lebenskreise, aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen geistigen Lebens hervorgehen. Wir werden daher den Namen ,, Völker- psychologie" hier um so mehr beibehalten, als er in einem dem hier angewandten annähernd entsprechenden Sinne nun einmal eingeführt ist. Allerdings pflegt man dabei, von der unmittelbaren Bedeutung des Wortes ausgehend, mit diesem Namen noch einen spezielleren Begriff zu verbinden, indem darunter eine Charakteristik der geistigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker verstanden wird. In der Tat ist eine nach diesem Plan ausgeführte psychische Ethnologie neben Sprachwissenschaft, Mythen- und Sittengeschichte eine unent- behrliche Grundlage der Völkerpsychologie. Zugleich teilt sie aber mit diesen historischen Hilfsgebieten die Eigenschaft, daß sie sich selbst hinwiederum überall auf die allgemeinen Gesetze des geistigen Zusammenlebens, also auf das Forschungsgebiet, das wir hier der Völkerpsychologie vorbehalten, angewiesen sieht. Diesem Verhält- nis läßt sich zweckmäßig wohl dadurch Ausdruck geben, daß man jenen psychischen Teil der Ethnologie als eine spezielle Völker- psychologie der allgemeinen gegenüberstellt, mit der sich die folgen- den Betrachtungen beschäftigen.

Ein wesentlich anderer Gesichtspunkt ist dagegen für die Ab- grenzung der historischen Disziplinen gegenüber der Völkerpsycho- logie maßgebend. Natürlich gehören die völkerpsychologischen Er- scheinungen, insofern sie an der allgemeinen geschichtlichen Ent- wicklung der Menschheit teilnehmen, sämtlich auch zum Inhalt der Geschichte. Aber während die letztere den ganzen Umfang der phy- sischen und geistigen Bedingungen ins Auge faßt, aus denen diese Entwicklung entspringt, um sie danach in ihrem tatsächlichen Ver-

Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. 3

laufe zu schildern, zergliedert die Völkerpsychologie die Erschei- nungen nur mit Rücksicht auf die in ihnen hervortretenden psycho- logischen Zusammenhänge und Gesetze. Sie verhält sich also annähernd ähnlich zur Völkergeschichte, wie die Individualpsychologie zur historischen Biographie. Insbesondere auf jenen Gebieten, die sich, wie Sprach-, Mythen- und Sittengeschichte, mit dem Inhalt der Völker- psychologie am nächsten berühren, scheiden sich deshalb die Auf- gaben ziemlich scharf schon nach dem äußeren Merkmal, daß die Erscheinungen von dem Augenblick an der Geschichte zufallen, wo sie zu einem wesentlichen Teile durch das persönliche Eingreifen Einzelner zustande kommen. Darum gehört die Geschichte der individuellen geistigen Schöpfungen in Literatur, Kunst und Wissenschaft nicht zur Völkerpsychologie. Denn es ist die Haupt- aufgabe der Geschichte auf allen diesen Gebieten, das Zusammen- wirken der Natur- und Kulturbedingungen sowie der psychischen Anlagen der Völker mit der persönlichen Begabung und Betätigung Einzelner in ihrem inneren Zusammenhange verständlich zu machen. Insoweit bei der Lösung dieser Aufgabe psychologische Momente von allgemeiner Natur zur Geltung kommen, sind es mehr solche, die der psychischen Ethnologie als der allgemeinen Völkerpsycho- logie angehören. Von den Gebieten der Kulturgeschichte ist es be- sonders die Urgeschichte, mit der sich jene berührt. Auch von ihr wird sie jedoch durch die abweichende Eichtung ihrer Interessen geschieden. Die Urgeschichte hat ihren Blick der Geschichte zu- gewandt: die Zeugnisse, die Sprache, Mythen und sonstige Volks- überlieferungen an die Hand geben, sucht sie, ebenso wie physische und geographische Merkmale, zu verwerten, um die Geschichte über die durch die historischen Überlieferungen gesteckten Grenzen hinaus zu ergänzen. Die Völkerpsychologie hat dagegen ihr Augenmerk auf die psychologische Gesetzmäßigkeit des Zusammenlebens selber ge- richtet. Die lokalen und nationalen Unterschiede seiner Gestaltung sind ihr gleichgültig, insoweit sie nicht in irgendeiner Weise auf jene Gesetzmäßigkeit Licht werfen. So kann für sie eine konkrete Sprach- form von Interesse sein, weil sich in ihr gewisse allgemein mensch- liche Gesetze der Sprachentwicklung in charakteristischer Weise äußern. Doch dies Interesse hört auf, sobald etwa eine solche Form

1*

4 Einleitung.

als Merkmal einstigen Zusammenhangs verschiedener Völker benutzt wird, ein Punkt, wo nun umgekehrt die Erscheinung für den Geschichts- forscher ihren Hauptwert gewinnt. Dieses Verhältnis ergibt sich eben mit Notwendigkeit daraus, daß die Völkerpsychologie nichts anderes sein will als eine Erweiterung und Fortsetzung der Psychologie auf die Phänomene gemeinsamen Lebens.

In dieser Aufgabe liegt nun zugleich ein Grund dafür, daß ihre Abgrenzung gegen die historischen Nachbargebiete niemals eine ab- solute sein kann. Denn der Punkt, wo die Einflüsse individueller Willensbetätigung beginnen oder aufhören, bleibt nicht selten un- bestimmbar; vor allem aber bilden die Wechselwirkungen zwischen den Individuen und der Gemeinschaft selbst wesentliche Faktoren der völkerpsychologischen Entwicklimgen. Dies erhellt schon daraus, daß das geistige Leben einer Gemeinschaft mit dem Leben der Ein- zelnen, die ihr angehören, unauflöslich zusammenhängt, und daß daher alle die geistigen Erzeugnisse, die wir auf die Gemeinschaft als solche zurückführen, wenn sie auch ohne das Zusammenleben und seine Wechselwirkungen nicht möglich sein würden, doch in den indi- viduellen Eigenschaften ihre letzte Quelle haben. Gleichwohl gibt es zwei Merkmale, an denen das, was wir im Leben eines Volkes ein ,, gemeinsames" Erzeugnis nennen, von einer individuellen Schöpfung prinzipiell stets zu unterscheiden ist. Das erste besteht darin, daß an jenem unbestimmt viele Glieder einer Gemeinschaft in einer Weise mitgewirkt haben, welche die Zurückführung auf bestimmte Indivi- duen ausschließt. Das zweite ist dies, daß die gemeinsamen Erzeug- nisse in ihrer Entwicklung zwar mannigfache, zumeist geschichtlich bedingte Unterschiede darbieten, trotz dieser Mannigfaltigkeit aber gewisse allgemeingültige Entwicklungsgesetze erkennen lassen; und diese sind es dann, in deren Auffindung die Völkerpsychologie ihre letzte und wichtigste Aufgabe sieht.

Neben Ethnologie und Geschichte gibt es endlich noch ein drittes Gebiet, das sich mit der Völkerpsychologie berührt: die Soziologie. Die Frage, was die Soziologie sei, welche Stellung sie innerhalb der sonstigen, die gesellschaftliche Existenz des Menschen voraussetzen- den Arbeitsgebiete zu übernehmen habe, ist freilich noch eine um- strittene. Ihre Aufgabe läßt sich daher vorläufig aus ihr selbst nicht.

Aufgaben und Nachbargebiete der Völkerpsychologie. 5

entnehmen, da sie noch nicht in einer allgemein anerkannten Form existiert. So bleibt denn nichts übrig, als umgekehrt nach den Be- dürfnissen zu fragen, die sich von bestimmten, bereits vorhandenen Wissensgebieten aus im Sinn einer allgemeineren, deren eigene Grenzen überschreitenden Gesellschaftswissenschaft erheben. Unter diesem Gesichtspunkt ist nun wohl vor allen Dingen festzuhalten, daß die Soziologie, wenn man sie nach dieser Bedürfnisfrage bemißt, keine philosophische Wissenschaft ist, so oft auch der Versuch gemacht wurde, sie als eine solche aufzufassen. In Wahrheit ist die philo- sophische Soziologie von Auguste Comte und Herbert Spencer an bis auf die neuesten ähnlichen Versuche durchaus nichts anderes als eine Geschichtsphilosophie unter neuem Namen. Denn es ist ja selbstverständlich, daß die Geschichtsphilosophie immer zugleich eine Philosophie der menschlichen Gesellschaft sein muß, daß sich aber diese eben wegen des allgemeinen Gedankeninhalts, dem die philosophische Betrachtung die gesellschaftlichen Erscheinungen ein- ordnet, stets zu einer philosophischen Beleuchtung der geschicht- lichen Entwicklung der Menschheit erweitert. Ganz abseits von einer solchen philosophischen liegt jedoch die empirische Aufgabe, die ge- sellschaftHchen Erscheinungen in ihrem gesamten Zusammenhang und mit Rücksicht auf die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, zu beschreiben und auf ihre Bedingungen zurückzuführen. Die Soziologie in diesem Sinn ist eine Zustandsschilderung der Gesellschaft innerhalb bestimmter zeitlicher und räumlicher Grenzen. Sie steht einerseits mit der Geschichte, anderseits mit den einzelnen sozialen Wissenschaften, Rechts-, Wirtschafts-, Staatslehre, in enger Verbindung. Ihre Aufgaben greifen teils in alle diese Einzelgebiete ein, teils bringt sie in der Untersuchung der Verhältnisse der verschie- denen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens zueinander eine neue und eigenartige Aufgabe hinzu. Für diese bietet vornehmlich die Statistik der Bevölkerungserscheinungen das erforderliche Material. Von der Geschichte scheidet sich aber eine solche empirische So- ziologie dadurch, daß jene die ganze Aufeinanderfolge der Zustände samt den Ereignissen, die den Wechsel der Zustände herbeiführten, zu ihrem Objekt hat, während diese gewissermaßen Querschnitte durch einzelne Stellen dieses fortan sich verändernden organischen Ganzen

6 Einleitung.

ZU legen sucht. Dabei konzentriert sich wiederum naturgemäß das vorwaltende soziologische Interesse auf bestimmte Epochen, unter denen die Zustände der Gegenwart um so mehr im Vordergrund stehen, als für sie allein die Hilfsmittel der Untersuchung ausgebildet genug sind, um die Ergebnisse einer gewissen Exaktheit nahe zu bringen^). Nun ist es klar, daß eine empirische Soziologie in diesem Sinne in dem Maße, als sie von den ihr zunächst obliegenden deskrip- tiven Aufgaben zu einer Interpretation der Erscheinungen fortschreiten will, nach manchen, die physische Seite des Zusammenlebens betreffen- den Eichtungen mit gewissen Teilen der Naturwissenschaft, nach andern mit der Individual- und Völkerpsychologie in Beziehung tritt. Aber diese psychologischen wie jene naturwissenschaftlichen Gebiete können dabei nur als Hilfsdisziplinen einer solchen die gesellschaft- lichen Verhältnisse interpretierenden Soziologie gedacht werden. Dagegen ist es völlig unfaßbar, wie etwa umgekehrt die Soziologie eine Grundlage der Völkerpsychologie werden sollte. Wenn daher behauptet worden ist, die dieser zugewiesene Aufgabe sei eigentlich das rechtmäßige Eigentum einer zukünftigen Soziologie, oder die letz- tere müsse mindestens erst gefestigt sein, ehe sich daran denken lasse, nun von ihr aus zu einer ihr untergeordneten sozialen Psychologie, zu gelangen, so zeigen diese Äußerungen, daß man weder von dem, was allenfalls eine Soziologie, noch von dem, was die Völkerpsycho- logie zu leisten hat, eine klare Vorstellung besitzt. Hinsichtlich der Soziologie mag das angesichts der noch bestehenden Unsicherheit ihres Programms entschuldbar sein. Nicht so für die Völkerpsycho- logie, wo in den allgemein menschlichen Erzeugnissen, besonders

^) Vgl. über diese Aufgaben der Soziologie neben und über den einzelnen Gesellschaftswissenschaften, wie Ethnologie, Bevölkerungslehre, Staatswissen- schaft, die Ausführungen in meiner Logik * Bd. 3, S. 455 ff. Mit der Beschränkung, daß die philosophische Soziologie gemeint sei, stimme ich ganz der These Paul Barths zu, daß Soziologie und Geschichtsphilosophie eins und dasselbe sind (Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. I, 1897, S. 10 ff.). Aber die These verliert, wie ich meine, ihr Recht, wenn man den Be- griff der Soziologie im Sinne einer empirischen Gesellschaftswissenschaft auf- faßt: dann gehört diese ebensowenig wie die Geschichte zur Philosophie, son- dern ist höchstens neben der Geschichte als Grundlage der Geschichtsphilo- sophie anzuerkennen.

Volksgeist und Volksseele.

in Sprache, Mythus und Religion, Sitte und Kultur, die Probleme überall bereit liegen und schon auf Grund der allgemeinen Ergeb- nisse, die uns die experimentelle Psychologie an die Hand gibt, zu einer psychologischen Analyse und Interpretation herausfordern.

II. Grundbegriffe der Völkerpsychologie.

1. Volksgeist und Volksseele.

Geist und Seele sind Wechselbegriffe, deren Bedeutungsentwick- lung, wenn sie auch erst einer späteren Zeit angehört, dennoch bis in das mythologische Denken zurückreicht. Geister, nicht Seelen, nennt der Aberglaube noch heute die körperlos, aber gleichwohl materiell gedachten Schatten der Verstorbenen oder jene höheren Wesen, von denen er annimmt, sie seien nie an einen Körper gebunden gewesen. Die Seele gilt ihm zwar auch als ein besonderes Wesen, das beim Tode den Körper verlasse; doch sobald dies geschehe, ent- schwinde sie zugleich der sinnlichen Anschauimg. Wo sie in dieser bleibt, da wird sie eben zum Geiste. Darum ist die Seele für den Volks- glauben nur in ihrer Gebundenheit an den Leib der Erfahrung zu- gänglich. Getrennt von ihm existiert sie nur in einer über- irdischen Welt. Die Geister dagegen sind Wesen, die ebensowohl in der Umgebung der Lebenden wie jenseits derselben ein selbstän- diges Dasein führen.

Diese Unterscheidungen des mythologischen Denkens wirken deutlich noch in dem uns geläufigen wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe nach. Vom Geist und von geistigen Vorgängen reden wir überall da, wo an irgendwelche Beziehungen zur körperlichen Natur nicht gedacht, oder wo geflissentlich von ihnen abgesehen wird. Bei der Seele und den seelischen Vorgängen sind uns dagegen stets zugleich die Beziehungen zum physischen Leben gegenwärtig. Darum übersetzen wir mit gutem Recht das Wort Psychologie durch ,, Seelen- lehre", während wir den Naturwissenschaften die ,, Geisteswissen- schaften" gegenüberstellen. Die Psychologie kann nun unmöglich an den Beziehungen des Seelenlebens zum körperlichen Sein vorüber- gehen. Denn empirisch ist uns die Seele überhaupt in einem Zusammen-

8 Einleitung.

hang von Erfahrungen gegeben, die zu ihrem Zustandekommen einen physischen Organismus von gewissen Eigenschaften fordern. Diese Beziehung zur Naturseite der Erscheinungen gilt zwar auch für die sämtlichen sogenannten Geisteswissenschaften. Aber da bei ihnen doch bald mehr, bald weniger diese Naturseite außer Betracht bleibt, so scheint es berechtigt, eine solche Rücksichtnahme auf physische Bedingungen und Wirkungen hier nur stillschweigend hinzuzudenken, um die Beziehungen zu dem geistigen Leben als das allen diesen Ge- bieten gemeinsame und sie von der Naturforschung scheidende Merk- mal zu betonen. Wie die Psychologie überhaupt, so hat es daher auch die Völkerpsychologie, insofern die für jene maßgebenden Bedingungen notwendig für sie gleichfalls gelten, mit der Seele, nicht mit dem Geiste in der diesen unterscheidenden Bedeutung des Wortes zu tun. Nur greift sie die besonderen Erscheinungen heraus, die an die Be- dingungen des menschlichen Zusammenlebens gebunden sind. Sie wird daher sinngemäß eine ,, Lehre von der Volksseele" zu nennen sein. Vom ,, Volksgeiste" werden wir dagegen, wie es auch der Sprach- gebrauch bestätigt, dann reden können, wenn es sich um eine Charakte- ristik der geistigen Eigentümlichkeiten eines bestimmten Volkes oder verschiedener Völker handelt. Eine solche Untersuchung würde demnach nicht der eigentlichen Völkerpsychologie, sondern einer Charakterologie der Völker oder dem psychologischen Teil der Ethno- logie zufallen.

Nicht selten hat man freilich gegen die Berechtigung einer Völker- psychologie Bedenken erhoben, die eben an jene Vorstellungen an- knüpfen, von denen die Unterscheidung der Begriffe Seele und Geist ursprünglich ausgegangen ist. „Wenn wir eine Seele als Substrat der geistigen Lebensäußerungen eines Individuums voraussetzen", sagt man, „so entspricht das ebenso dem Gebundensein dieser Lebens- äußerungen an einen bestimmten physischen Körper, wie der Un- möglichkeit, aus den Eigenschaften des letzteren die seelischen Vor- gänge abzuleiten. Wo aber soll eine Volksseele ihren Sitz haben? So wenig es einen einzigen einheitlichen Volkskörper gibt, ebenso undenkbar erscheint ein einheitliches Substrat des gemeinsamen geistigen Lebens. Wie vielmehr der Volkskörper aus nichts anderem als aus den Körpern aller einzelnen Volksgenossen besteht, gerade

Volksgeist und Volksseele. 9

so löst sich die sogenannte Volksseele ohne Rest in die Summe "der Einzelseelen auf, die diesen Volksgenossen angehören. Sie ist ein Geschöpf der mythologischen Phantasie, keine Wirk- lichkeit."

Es ist jedoch augenfällig, daß diejenigen, die diese Einwände erheben, selbst in jener mythologischen Vorstellungsweise befangen sind, die sie hinter dem Ausdruck Volksseele verborgen wähnen. Der Begriff ,, Seele" ist für sie so untrennbar an den eines substan- tiellen, mit einem eigenen Körper ausgestatteten Wesens geknüpft, daß ihnen jeder Wortgebrauch, der ihm diese Bedeutung raubt, für unerlaubt gilt. Da die Völkerpsychologie nicht der geeignete Ort ist, um an metaphysischen Hypothesen Kritik zu üben, so können wir Tins hier mit dem Hinweis begnügen, daß, wie wichtig auch im meta- physischen Interesse die Frage nach der Bedeutung des Begriffs einer substantiellen Seele sein mag, die empirische Psychologie als solche an dieser Frage gänzlich unbeteiligt bleibt. Denn wie man auch über <iie Notwendigkeit denkt, zu dem Gesamtinhalt dessen, was wir das seelische Leben nennen, eine transzendente Substanz als Trägerin vorauszusetzen, gewiß ist, daß wir es in der Erfahrung niemals mit einer solchen zu tun haben, und daß, wo man etwa über diesen Punkt anders dachte, die Voraussetzungen über die Seelensubstanz ent- weder sich als unnütze metaphysische Ornamente erwiesen oder zu zweifelhaften, wenn nicht direkt der Erfahrung widerstreitenden Folgerungen führten. Für die empirische Psychologie kann die Seele nie etwas anderes sein als der tatsächlich gegebene Zusammenhang der psychischen Erlebnisse, nichts, was zu diesen von außen oder von innen hinzukommt^).

Aus allem dem folgt, daß der Begriff ,, Seele" keine andere em- pirische Bedeutung hat als die, den Zusammenhang der unmittel- baren Tatsachen unseres Bewußtseins oder, wie wir diese der Kürze wegen nennen wollen, der ,, psychischen Vorgänge" selbst zu bezeichnen. Natürlich kann auch die Völkerpsychologie den Seelenbegriff nur in <iiesem empirischen Sinne gebrauchen; und es ist einleuchtend, daß in ihm die ,, Volksseele" genau mit demselben Recht eine reale Bedeutung

1) Vgl. meine Kleinen Schriften, Bd. 2, S. 145 ff.

10 Einleitung.

besitzt, wie die individuelle Seele eine solche für sich in Anspruch nimmt. Die geistigen Entwicklungen, die durch das Zusammenleben der Glieder einer Volksgemeinschaft entstehen, sind nicht minder tatsächliche Bestandteile der Wirklichkeit wie die psychischen Vor- gänge innerhalb des Einzelbewußtseins. Sie sind allerdings nichts, was jemals außerhalb individueller Seelen vor sich gehen könnte. Aber wie nicht die psychischen Elemente im isolierten Zustande, sondern ihre Verbindungen und die hieraus entspringenden Produkte das bilden, was wir eine Einzelseele nennen, so besteht die Volks- seele im empirischen Sinne nicht aus einer bloßen Summe indivi- dueller Bewußtseinseinheiten, deren Kreise sich mit einem Teil ihres Umfangs decken; sondern auch bei ihr resultieren aus dieser Ver- bindung eigentümliche psychische und psychophysische Vorgänge, die in dem Einzelbewußtsein allein entweder gar nicht oder min- destens nicht in der Ausbildung entstehen könnten, in der sie sich infolge der "Wechselwirkung der Einzelnen entwickeln. So ist die Volksseele ein Erzeugnis der Einzelseelen, aus denen sie besteht; aber diese sind nicht minder Erzeugnisse der Volksseele, an der sie teilnehmen. Es wiederholt sich hier, was bei solchen Begriffsbildungen, die nicht bestimmte Objekte, sondern verwickelte Verbindungen und Beziehungen von Tatsachen ausdrücken, zumeist geschieht: die Begriffe erfahren je nach den Gebieten ihrer Anwendung not- wendige Modifikationen. Ähnlich wie wir kein Bedenken tragen, den Staat einen ,, Organismus" zu nennen, ohne zu übersehen, daß dem Begriff in dieser neuen Bedeutung nicht alle Merkmale zukommen, die seiner ursprünglichen Anwendung auf lebende organische Einzel- wesen eigen sind, und daß er dagegen dort Merkmale annimmt, die ihm hier fehlen, ähnlich verhält es sich mit der ,, Volksseele''. Der individuellen Seele gegenüber bezeichnet sie sowohl eine Erweiterung wie eine Verengerung des Begriffs: eine Erweiterung, da bei dieser Übertragung gewisse Begriffselemente, namentlich die der Einzel- seele anhaftende Beziehung auf einen physischen Einzelorganismus, verloren gehen; eine Verengerung, indem sich aus dem Zusammen- leben vieler Individuen besondere Bedingungen und Eigenschaften ergeben. Hierher gehört namentlich die Beschränkung der völker- psychologisch bedeutsamen psychischen Leistungen auf bestimmte

Vorgeschichte und Geschichte. 11

Seiten des geistigen Lebens, sowie die Tatsache, daß die völkerpsycho- logischen Entwicklungen das individuelle Leben überdauern, dabei aber doch, da sie von den psychischen Eigenschaften der Einzelnen getragen sind, mit dem "Wechsel der Generationen eigenartige Ver- änderungen erfahren. Besonders diese Kontinuität psychischer Ent- wicklungen bei fortwährendem Untergang ihrer individuellen Träger ist es, die als ein der Volksseele spezifisch zugehörendes Merkmal angesehen werden kann.

2. Vorgeschichte und Geschichte.

Indem sich die Völkerpsychologie vorzugsweise mit denjenigen Erscheinungen im Völkerleben beschäftigt, die mehr oder minder allgemeingültiger Natur sind, und in denen ein Einfluß einzelner Persönlichkeiten nicht äußerlich sichtbar hervortritt, liegt es nahe, hierin den wesentlichen Unterschied ihrer Aufgaben im Verhältnis zu denen der Geschichte zu sehen. Darnach würde die historische Betrachtung da beginnen, wo individuelle Einflüsse, sei es, daß sie direkt durch die Überlieferung bezeugt oder indirekt durch den singulären Charakter des Geschehens wahrscheinlich werden, in die Entwicklung der Völker bestimmend eingreifen; der Völkerpsycho- logie würde aber das vor dieser entscheidenden Wendung zur Ge- schichte liegende Stadium eines der Gesamtheit als solcher zukommen- den Werdens zufallen. Eine solche Anschauung ließe sich dann wohl auch im Sinne vieler Historiker mit dem Begriff der Volksseele in Beziehung bringen, indem man der Völkerpsychologie die allgemeinen, einem noch naturgeschichtlich bestimmten Dasein des Menschen zugehörenden Entwicklungen der Volksseele, der Geschichte aber diejenigen Erscheinungen zuwiese, die wesentlich von dem Eingreifen einzelner führender Individuen in diese Entwicklung getragen seien. Doch einer tiefer eindringenden Betrachtung hält die Grenze, die man hier zwischen den geschichtlichen und geschichtslosen Völkern ziehen möchte, nirgends stand. Denn die Meinung, daß das Verhält- nis der Individuen zur Gemeinschaft vom Beginn der Geschichte an ein neues, eigenartiges sei, das den Naturvölkern fehle, beruht auf einer oberflächlichen Abstraktion, die über der Außenseite der Er-

12 Einleitung.

scheinimgen ihren Zusammenliang vernachlässigt. Geschichtslos im wörtlichen Sinne ist kein noch so kulturlos gebliebener Teil der Menschheit. Vor allem Sprache, Mythus und Sitte bezeugen überall eine zumeist weit in die Vergangenheit zurückreichende Entwicklung, die durch Tradition von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzt, und in der es auch bei den primitivsten Naturvölkern an Wandlungen nicht fehlt. Mag dieses geschichtliche Werden von dem unserer Kul- turvölker darin abweichen, daß es nicht oder doch nicht äußerlich sichtbar in die allgemeine Geschichte der Menschheit eingegriffen, und daß die Stadien derselben durch keine direkte Überlieferung fixiert worden sind, alles das bleibt schließlich doch nur ein äußerer Unterschied, der noch dazu in den mannigfaltigsten Gradabstufungen zu den im engeren Sinne geschichtlichen Völkern hinüberführt. Je mehr die Völkerkunde in die Verhältnisse der primitiven Völker ein- dringt, um so klarer erweist sich daher die alte Vorstellung, als sei bei ihnen Vergangenheit und Gegenwart und, falls sie sich nur selbst überlassen blieben, auch die Zukunft ein einziger, unabänderlich gleich bleibender Zustand, als eine Täuschung. Völkerverkehr und Völker- mischungen haben im Leben der Menschheit niemals und nirgends gefehlt, wenn auch der Umkreis, in dem sie sich bewegen, von sehr verschiedener Ausdehnung sein kann. Wie diese Vorgänge in der vorhistorischen Entwicklung unserer heutigen Kulturvölker die Grund- lagen eben dessen gelegt haben, was ihren Eintritt in die Geschichte möglich machte, so sind sie aber bei den Naturvölkern, die die Schwelle der eigentlichen Geschichte nie überschritten haben, Etappen einer Entwicklung, über die freilich keine literarische Tradition berichtet, die wir aber aus den Zeugnissen der Sprache, aus der Verbreitung von Werkzeugen und Waffen und, soweit der Grad der Übereinstimmung die unabhängige Entstehung ausschließt, von Mythen und Kulten erschließen können. So ist es im letzten Grunde allein die absicht- liche, über weitere Zeiträume sich erstreckende Überlieferung und ihre Bewahrung durch literarische und andere Denkmale, die die eigentliche Geschichte und jene Vorgeschichte voneinander scheiden, der unsere eigene Vergangenheit und die Gegenwart der sogenannten Naturvölker angehören. Und auch hier sind diese Unterschiede fließende. Nicht bloß bildet das Denkmal, das die Erinnerung an wichtige Er-

Vorgeschichte und Geschichte. 13

eignisse im Bilde bewahrt, lange vor der literarischen Tradition ein zwischen Vorgeschichte und Geschichte vermittelndes Stadium: vor allem die mündliche Überlieferung pflegt die einander nächsten Generationen gerade da, wo die Bewahrung durch die Schrift und durch bleibende Denkmäler fehlt, fester zu verbinden, als da, wo diese Mittel zugleich Bedingungen mit sich führen, die abändernd in die Überlieferung eingreifen. Das augenfälligste Zeugnis bietet hier das allgemeinste Mittel historischer Tradition selbst, die Sprache. Nur die literarische Überlieferung vermag es, die Sprachformen einer weit entfernten Vergangenheit verhältnismäßig treu zu bewahren. Kaum gibt es aber zugleich einen Einfluß, der, von Sprachmischungen abgesehen, in höherem Grade verändernd einwirkt als die Literatur, die die Dialekte mischt, neue Wortbildungen verbreitet und, indem sie dem internationalen Verkehr dient, der in vorhistorischer Zeit an die Wanderungen der Völker gebundenen Sprachmischung durch den geistigen Verkehr neue Wege eröffnet. So ist denn in der Tat der Naturmensch, wo die Einflüsse der Wanderungen und Mischungen der Völker fehlen, wie die Beobachtung im Gegensatze zu früher verbreiteten Meinungen gezeigt hat, in seiner Sprache konservativer als der Kulturmensch; und was von ihr, das gilt nicht minder von den Traditionen der Mythen, Märchen und Fabeln und von den all- gemeinen Formen des Lebens. Ist die Tradition durch die Literatur die weitaus umfassendere, so ist die Mitteilung von Mund zu Mund die treueste. Was sie bewahrt, das bildet bei Natur- wie Kultur- völkern ein Erbgut, das dem Wandel der Zeiten am dauerndsten widersteht.

Tiefer greifend ist ein anderer Unterschied der primitiven von den höheren, durch den gesteigerten Völkerverkehr vermittelten Kulturen. Mögen Sagen und Sitten der Naturvölker noch so treu von Generation zu Generation sich fortpflanzen, das Gedächtnis der individuellen Träger dieser Überlieferungen schwindet schon dem nächsten oder, wenn es hoch kommt, dem übernächsten Geschlecht. Auch dieser Unterschied erweitert sich freilich erst dadurch zu einer jscheinbar unüberbrückbaren Kluft, daß sich für die Betrachtung aus der Ferne dieses Verschwinden der Erinnerung in ein Verschwin- den der Einzelpersönlichkeit selbst umwandelt. Bei den Naturvölkern

14 Einleitung.

soll das Individuum überhaupt ohne Einfluß sein und die Masse alles bedeuten; bei den Kulturvölkern wird der Einzelne als der in erster Linie bestimmende Faktor der Entwicklung betrachtet. Damit ist dann das Kriterium gegeben, das nach der im allgemeinen auch von der Wissenschaft rezipierten Ansicht die Geschichte von den vor- geschichtlichen Zuständen scheiden soll. Die Geschichte beginnt, wie man annimmt, in dem Augenblick, wo führende Einzelpersön- lichkeiten den Verlauf der Ereignisse bestimmen. Nun kann aber selbstverständlich die Erinnerung an den Einzelnen seine Bedeutung für die Gesamtheit zwar insofern mitbestimmen, als sie eine weitere Wirkung auf künftige Generationen vermittelt; ein direktes Maß ihres Einflusses vermag sie nicht abzugeben. Das Verhältnis selbst ist daher in der Naturgesellschaft im wesentlichen kein anderes als in der Kulturgesellschaft. Latent lebt auch in jener der Einzelne in allem dem fort, was auf sein persönliches Wirken zurückgeht. Wenn schon in primitiven Zuständen die Sage von Heilbringern und Helden erzählt, denen die Völker ihre am höchsten geschätzten Lebensgüter verdanken, so wirkt dabei freilich in erster Linie die mythologische Personifikation mit; bis zu einem gewissen Grade ist aber doch sicher- lich auch die aus der täglichen Erfahrung geschöpfte Vorstellung beteiligt, daß einzelne durch Tatkraft und Einsicht hervorragende Menschen einen entscheidenden Einfluß ausüben. In den Sagen vom Heilbringer wird diese Erfahrung des Augenblicks nur ins Große und in eine mythische Vorzeit projiziert, was die spätere, bis an die Schwelle der Gegenwart herabreichende Sage und die in diesem Stück zum Teil noch ihrem Vorbilde folgende Geschichte auf einen Einzelnen zu vereinigen pflegt, und was doch in Wirklichkeit die Schöpfung vieler oder im Grunde genommen der Gesamtheit selbst ist. So läßt sich denn im Lichte dieser Betrachtung das Verhältnis der Kultur- stufen wohl auch dahin feststellen, daß bei dem primitiven Volk das Werk des Einzelnen nach kurzer Zeit in den Schoß der Gesamtheit, aus dem es hervorgegangen, zurückkehrt, indes überall, wo eine geschichtliche Tradition entstanden ist, neben den zahllosen Ein- zelnen, die nicht anders wie dort nur in den unmittelbaren Einflüssen auf ihre nächste Umgebung und deren unbestimmter Ausbreitung fortwirken. Einzelne kürzere oder längere Zeit in der geschichtlichen

Vorgeschichte und Geschichte. 15

Erinnerung an ilire Persönlichkeit fortleben. Im Grunde leben aber doch auch sie nur in allem dem wirklich fort, was von der Gemein- schaft aufgenommen und weiterentwickelt wird, so daß jener Unter- schied zwischen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Völkern schließlich mehr ein durch die Entwicklung der geschichtlichen Erinnerung und ihrer Hilfsmittel bedingter Grad- als ein Wesens- unterschied ist. Was dagegen auf allen Stufen der Kultur gültig bleibt, ist das Prinzip, daß in der Entwicklung dieser Kultur nur das Be- stand hat, was den in der Gesamtheit liegenden Anlagen entgegen- kommt, und daß ebenso das Wirken des Einzelnen in diesen Anlagen vorgebildet sein muß, wenn es Einfluß gewinnen soll. Darum ruhen im letzten Grunde hier wie dort in der Gesamtheit die schaffenden Kräfte, aus denen das gemeinsame Leben und mit diesem das von ihm getragene Leben des Einzelnen hervorgeht. Die Geschichte aber vermehrt diese Kräfte in steigendem Maße, indem sie neben der unmittelbaren Ausbreitung durch die im Kontakt der Generationen eintretende Kumulation der Wirkungen fernewirkende Kräfte schafft, die jeden Zeitpunkt der späteren Geschichte zu einem Brennpunkt machen können, in dem sich die Strahlen sammeln, die zeitlich wie räumlich ins Unabsehbare reichen. Diese extensive und intensive Steigerung, die die materiellen wie geistigen Werte des Lebens durch die erhaltende und fortan neue Kräfte auslösende Macht der Über- lieferung erfahren, begründet jedoch in dem Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft keinen qualitativen Unterschied zwischem dem geschichtlichen und dem vorgeschichtlichen Menschen. Vielmehr ist es hier wie dort die Gemeinschaft, die in dem Einzelnen die geistigen Kräfte auslöst, durch die er selbst wieder auf jene zurückwirkt; und von allem dem, was er zu dem gemeinsamen Besitzstande hinzu- bringen mag, bleibt nur das wirksam, was in der Gemeinschaft bereits vorgebildet war. Der Einzelne konzentriert nur in seinem Streben und Wirken die allverbreiteten Motive und wird so zum lebendigen Ausdruck der Gesamtentwicklung, bis schließlich sein Werk zu einem Allgemeinbesitz geworden ist, der als ein selbstverständliches und unpersönliches Gut gilt. Die Dauer, während deren die führenden Geister, die das gemeinsame Streben in ihrem Tun verwirklichen, über den Strom des allgemeinen Lebens gehoben werden, um dann

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wieder in ihm zu versinken, kann sich bald auf kurze Momente ihres eigenen Lebens oder auf die nächste Generation beschränken, bald kann sie weite historische Zeiträume umfassen, die Natur des Pro- zesses bleibt schließlich die gleiche. Wohl aber kann es nun aus der Ferne gesehen so scheinen, als handle es sich hier nicht um einen im letzten Grunde doch bloß gradweisen Unterschied in den Bedingungen des Entstehens und des Untergangs der Persönlichkeiten, sondern um einen Wesensunterschied dieser selbst und der Wirkungen, die sie zurücklassen. Der oberflächlichen Betrachtung erscheint dann das Naturvolk als eine undifferenzierte und, abgesehen von spärlichen Bruchstücken, die ihm aus fremden Kulturen zugeführt werden, ent- wicklungslos dahinlebende Masse. Eine etwas tiefer eindringende, die allzu einseitig die erhaltende Kraft der Tradition zum Maßstab der Werte nimmt, glaubt dann sicherer zu scheiden, wenn sie in der vorgeschichtlichen Zeit den Einzelnen ganz durch seine Umgebung, die Geschichte aber ganz oder doch der Hauptsache nach durch das Wirken Einzelner bestimmt sein läßt. Beides ist falsch. Vielmehr ist und bleibt die Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft in ihrer Form die gleiche. Nur das Tempo der Erschei- nungen, der Grad der Konzentration der aus der Gesamtheit her- vorgehenden Kräfte, endlich die Dauer ihrer Nachwirkung und der Erinnerung an ihren Ursprung sind verschieden.

Wie sich der Gang der geistigen Entwicklung der Natur- und Kulturvölker unmöglich auf ein solches Verhältnis der Masse zu den Individuen zurückführen läßt, ebenso wenig können aber hier for- male Unterschiede des seelischen Lebens der Individuen selbst als Kriterien gelten. Wenn man bei dem Naturvolk das triebartige und instinktive Leben, bei dem Kulturvolk das planmäßige will- kürliche Handeln vorherrschend findet, so ist das wieder nur eine Interpretation, die den allgemeinen Eindruck der verschiedenen Kulturstufen auf die Einzelnen überträgt, die deren Vertreter sind. Der Buschmann, der Andamanese, der Zentralaustralier, die den Typus des geschichtslosen Menschen wohl in den ausgeprägtesten uns bekannten Formen repräsentieren, sind als Individuen in den Hilfsmitteln, die der Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse dienen, bis zu einem gewissen Grade erfinderisch, und die Strenge, mit der

Vorgeschichte und Geschichte. 17

diese Stämme meist an der altüberlieferten Sitte festhalten, spricht dafür, daß sie kaum mehr als die Mehrzahl der Kulturmenschen von momentan wirkenden Trieben beherrscht werden.

Gleichwohl ist es nicht minder zulässig, aus dieser Gleichartig- keit der geistigen Anlagen auf eine wesentliche Übereinstimmung in der Geistesverfassung selbst zu schließen und demnach etwa die ungeheuren Unterschiede der Kulturstufen nur auf den Unterschied der äußeren Lebensbedingungen zurückführen zu wollen, wie dies zuweilen in dem Streben hervortritt, in primitiven Zuständen des- halb, weil sie in ihrer einfachen Ursprünglichkeit von manchen un- erfreulichen Zügen einer entwickelteren Kultur frei sind, eine voll- kommenere Form des religiösen und sittlichen Lebens zu sehen. Hier- her darf man wohl die Bemühungen mancher Anthropologen zählen, da, wo die Frage einer Existenz der Religion bei der unbestimmten Abgrenzung dieses Begriffs gegen Zauberglauben und Mythus über- haupt noch zweifelhaft ist, einen primitiven Monotheismus nach- zuweisen, oder die aus den natürlichen Gemeinschaftstrieben ent- springenden Handlungen als Wirkungen einer reineren Sittlichkeit zu deuten, Bemühungen, in denen sich das alte, aus dem Mythus überkommene Streben erneuert, die geistige Einheit der Mensch- heit, die bestenfalls ein Ideal der Zukunft ist, in die Vorgeschichte des Menschen zu verlegen. Die Psychologie als empirische Wissen- schaft hat nun weder mit der Philosophie künftige Ideale zu ent- werfen, noch mit der mythologischen Dichtung diese in die Vergangen- heit oder in primitive Kulturen zu projizieren, in denen sich jene Ver- gangenheit widerspiegelt, sondern das Feld ihrer Betrachtungen ist die Wirklichkeit des Lebens in allem dem Niedrigen wie Großen, dem Abschreckenden und Erhebenden, das sie mit sich führt. Und will sie ein Verständnis der geistigen Entwicklung gewinnen, so muß nach den allgemeinen Regeln wissenschaftlicher Untersuchung ihre Auf- merksamkeit mehr den Unterschieden als den Übereinstimmungen zugewandt sein. So betrachtet erscheint das geistige Leben des primi- tiven Menschen von dem des Kulturmenschen, abgesehen von dem Einschlag, den dort von außen zugeführte Kulturgüter, hier Rudi- mente früherer Stufen bilden, nicht weniger verschieden wie der Bumerang des Australiers oder der primitive Pfeil des Buschmanns

Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 2

18 Einleitung.

von der Schnellfeuerwaffe der heutigen Gewehrtechnik. Doch jene geistigen Unterschiede sind nicht sowohl formaler als realer Art. Sie beziehen sich nicht auf die Formen der Vorstellungen, Gefühle, Triebe und Willenshandlungen, sondern auf den Inhalt des geistigen Lebens, von dem aus nur noch schwache, eben durch die überein- stimmenden Grundeigenschaften der Seele gesponnene Fäden die höheren Stufen der Kultur mit ihren Anfängen verbinden. Diese Fäden aufzusuchen und an ihnen den bei allen Gegenwirkungen und Kontrasten doch stetigen und gesetzmäßigen Wandel der Motive zu verfolgen, das ist eben die Aufgabe des Völkerpsychologen und das Schwerste, was er bei ihrer Lösung zu leisten hat, besteht darin, sich selbst in die Anschauungen des Menschen entlegener Kulturen und vor allem in die Anschauungs- und Gefühlswelt des Primitiven zu versetzen. Hier gerade wirkt die alte rationalistische Geschichts- philosophie immer noch nach, und sie findet in der Reflexionspsycho- logie des populären Denkens und der von diesem beeinflußten In- dividualpsychologie ihre vornehmste Stütze. Indem dieser Ratio- nalismus hier wie dort die realen Unterschiede des geistigen Lebens der Völker geflissentlich ausgleicht, um das Fremde überall auf das Niveau der gleichen verstandesmäßigen Überlegung zu erheben, begibt er sich von vornherein der Fähigkeit, in die Motive der diesem rationalistischen Denken fremd gegenüberstehenden, Religion und Sitte aus sich hervorbringenden mythologischen Anschauungswelt einzudringen. Aber auch bei der Sprache verdunkelt diese einseitig rationahstische Behandlimg der Probleme ihre wirkHche psycholo- gische Lösung um so mehr, da hier in der neueren Sprachwissenschaft immer noch die Traditionen des gewaltsam uniformierenden Logi- zismus der alten Grammatik fortleben.

3. Der Einzelne und die Gemeinschaft.

Völkerpsychologie und Geschichte setzen beide die Gemein^ Schaft als eine dem Individuum übergeordnete geistige Einheit voraus. Darauf, daß die Gemeinschaft selbständige geistige Werte schafft, die in den seelischen Eigenschaften der Einzelnen wurzeln, selbst

Der Einzelne und die Gemeinschaft. 19

aber spezifischer Art sind und dem individuellen Seelenleben selbst wieder seine wichtigsten Inhalte zuführen, gründet sich die Völker- psychologie. Sie würde unmöglich sein, wenn nicht die Gemeinschaft fortan neue Werte erzeugte, zu deren psychologischer Erkenntnis die Hilfsmittel der Individualpsychologie unzureichend sind. Nicht minder findet die Geschichte in der Volksgemeinschaft ihr nächstes Substrat, auf das sie sich ebenso in ihrer Erweiterung zur Universal- geschichte wie in ihren Beschränkungen auf einzelne Gebiete bis herab zur Geschichte eines einzelnen Erzeugnisses oder einer individuellen Persönlichkeit von historischer Bedeutung immer wieder zurück- bezieht. Hierbei greift nun aber überall zugleich in die Behandlung der Geschichte das Verhältnis der Individuen zur Gemeinschaft bestimmend ein. Indem der Historiker geneigt ist, einzelne hervor- ragende Persönlichkeiten zu Trägern der Geschichte zu machen, wird sein Standpunkt bei der Betrachtung des menschlichen Lebens und seiner Schöpfungen, auch solcher, die, wie Sprache, Mythus und Sitte, unmittelbar nur an die Gemeinschaft gebunden sind, leicht ein einseitig individualistischer; und da alle jene gemeinsamen Schöpfungen, wenn sie in individuelle Erzeugnisse umgedeutet werden, mit Notwendigkeit den Charakter einer erfinderischen Tätigkeit an- nehmen, so bildet den natürlichen Verbündeten dieses Individualis- mus ein ebenso einseitiger Intellektualismus. Beide Kichtungen vereinigt in schärfster Ausprägung die rationaUstische Geschichts- auffassung der Aufklärungszeit. Im Lichte dieser Anschauung ver- schwinden aber die Aufgaben der Völkerpsychologie von selbst: sie verwandeln sich in historische Aufgaben. Denn nachzuweisen, wer der erste Entdecker oder Erfinder der großen Gemeinschaftserzeug- nisse gewesen sei, oder aus welchen individuellen Motiven sie her- vorgehen konnten, dies würde eine eminent geschichtliche Aufgabe sein, wenn sie als solche überhaupt zu lösen wäre. Sollte aber die Geschichte dabei einer psychologischen Unterstützung bedürfen, so könnte sie eine solche nur in der Individualpsychologie finden. Innerhalb des weiteren Gebiets allgemeiner Geschichtsbetrachtungen hat dieser IndividuaHsmus und Intellektualismus der Aufklärungs- philosophie gegenwärtig wohl seine Rolle ausgespielt. Doch gerade in den Gebieten, wo die Geschichte mit der Völkerpsychologie zu-

2*

20 Einleitung.

sammentrifft, behaupten sich beide mit besonderer Hartnäckigkeit. Daß jede sprachliche Form, jede religiöse Vorstellung und jede sitt- liche Norm ursprünglich von einem Einzelnen ausgegangen sei, und daß sie überall auf ein intellektuelles Bedürfnis, sei es nun eine Natur- erklärung oder einen praktischen Zweck zurückgehe, ist namentlich in den Kreisen der Sprachforscher und Mythologen noch immer eine verbreitete, manchmal für selbstverständlich geltende Überzeugung. Daran mag die vorwaltend literarhistorisch gerichtete Forschung auf diesen Gebieten teilweise die Schuld tragen. Das Kunstwerk und vor allem das Literaturwerk pflegt ja die Frage nach seinem Schöpfer wachzurufen, und von der wirklichen Kunstschöpfung wird diese Frage dann auf die gemeinsamen geistigen Schöpfungen übertragen, die jener ähnlich sind. Aber mehr noch wirkt hier der alte metaphy- sische Seelenbegriff nach, in welchem die rationalistische Aufklärung, nachdem sie in ihren Anschauungen über Kecht, Staat und Gesell- schaft als überwunden gelten kann, gerade in der Psychologie immer noch lebendig geblieben ist. Nach diesem metaphysischen Seelen- begriff kann es nur Einzelseelen, keine Volksseele geben. Auf die Einzelseele muß daher alle geistige Entwicklung zurückgehen. Wie die metaphysische Seele in keiner Erfahrung gegeben ist, so kann sie aber auch nicht zur Interpretation der Tatsachen des seelischen Lebens verwendet werden. Hier ist nur jener aktuelle Seelenbegriff brauchbar, nach welchem die Seele nichts anderes als die Einheit der seelischen Vorgänge selbst ist. Nach diesem Gesichtspunkte allein bestimmt sich daher das Verhältnis der Begriffe Einzelseele und Volksseele und mit ihm das des Einzelnen zur Gemeinschaft. So wenig diese ohne die Einzelnen bestehen könnte, so ist sie darum noch nicht eine bloße Addition und Verstärkung der Eigenschaften und Tätig- keiten der Einzelnen. Vielmehr ist es die Verbindung und Wechsel- wirkung der Individuen, welche die Gemeinschaft als solche hinzu- bringt, und durch die sie auch in dem Einzelnen neue, dem gemein- samen Leben spezifisch angehörige Leistungen weckt. Dieses Medium der Verbindung und Wechselwirkung ist es, in welchem die Völker- psychologie ihre Aufgaben vorfindet. Wie die Annahme einer sub- stantiellen Volksseele eine von psychologischer Auffassung weit ab- liegende Vorstellung, so ist auch der Versuch, die Erzeugnisse der

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Oemeinschaft und ihre Veränderungen ausschließlicli auf individuelle Einflüsse zurückzuführen, also die Völkerpsychologie zugunsten der Individualpsychologie auszuschalten, nicht minder undurchführ- "bar. In der Tat kommt man auf diesem Wege, abgesehen von gewissen singulären Grenzfällen, durchweg zu willkürlichen Interpretationen, hinter denen schHeßlich als letzte Zuflucht der absolute Zufall steht. Dahin gehört z. B. die noch heute in der Sprachwissenschaft ver- breitete Annahme, jeder generelle Laut- oder Bedeutungswandel eines Wortes sei aus irgendeiner individuellen und okkasionellen Ab- weichung entstanden. Während zahlreiche andere Abweichungen ähnlicher Art wieder verloren gingen, sei irgendeine, zufällig oder weil sie einer bestehenden Neigung entgegenkam, usuell geworden i). Diese mitwirkende Neigung selbst gilt dabei im allgemeinen als eine von dem individuellen Ausgangspunkt der Veränderung unabhängige Anlage: sie wird zuweilen in dem Wohlgefallen am Neuen, besonders aber in dem der menschlichen Gattung eigenen Nachahmungstrieb gesehen. Da sich nun die ursprünglichen individuellen Unterschiede wegen ihrer absolut unberechenbaren Entstehungsweise jeder Er- forschung ihrer Bedingungen entziehen, so geht diese Theorie der Frage nach den Ursachen der Erscheinungen überhaupt aus dem Wege, oder sie weist statt der Antwort auf das ,, soziologische Gesetz" der Nachahmung hin, nach welchem kein einer Gesellschaft angehören- des Individuum irgend etwas Auffallendes oder vom Gewohnten Abweichendes tun könne, ohne daß seine Genossen dem suggestiven Einfluß unterliegen, den eine solche Handlung ausübt. In dieser Nachahmungstheorie ist dann im eigentlichsten Sinne der Zufall zum Schöpfer der sozialen Erscheinungen, also schließlich der Ge- sellschaft selber geworden, die sich doch nur aus allen jenen Erschei- nungen zusammensetzt. „Die Gesellschaft" so resümiert daher folgerichtig G. Tarde seine der gleichen Richtung angehörende so-

^) H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte *, S. 69 ff. Ähnlich Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung 1901, S. 98 ff. Vgl. dazu meine Schrift : Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 59 ff. und Probleme der Völker- psychologie, 1911, S. 61 ff. 2. Aufl. 1921, S. 64 ff.

22 Einleitung.

ziologische Theorie „ist die Nachalimung, und die Nachahmung ist eine Art somnambuHscher Wirkung" i).

Nun spielt zwar die Nachahmung im gesellschaftlichen Leben überall eine mitwirkende Kolle von nicht zu unterschätzender Be- deutung, aber bei den tiefer greifenden und allgemeineren Veränderungen kommt ihr niemals die Hauptrolle zu. Vielmehr erweisen sich diese Veränderungen, wo wir imstande sind ihren Bedingungen nachzu- gehen, regelmäßig als solche, die nicht von einem Individuum und nicht einmal von einer bestimmt begrenzten Zahl von Individuen ausgehen, sondern auf Einflüssen beruhen, die entweder die sämt- lichen Mitglieder einer Gemeinschaft oder mindestens deren über- wiegende Masse treffen. Dabei mögen immerhin die einen mehr, die andern weniger diesen Einflüssen unterliegen, und es mag, nachdem erst die allgemeine Richtung eingeschlagen ist, die aus dem Zusammen- leben entspringende und zum Teil auf dem Trieb zur Nachahmung beruhende Ausgleichung individueller Unterschiede nachträglich mit- wirken. Überall steht aber dieses Motiv hinter den primären Ein- flüssen von genereller Natur zurück. Nirgends zeigt sich dies deut- licher als gerade bei der Sprache. Wenn lateinisch octo in italienisch Otto oder im Deutschen hrumben in brummen überging und diese Bei- spiele in eine fast unübersehbare Menge analoger Erscheinungen sich einreihen, so spricht keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür, daß zufällig einmal einem Einzelnen oder mehreren Einzelnen diese Abweichung begegnet und dann von andern nachgeahmt und usuell geworden sei. Da sich vielmehr beobachten läßt, daß ein solcher an den Kon- takt der Laute gebundener Wandel leicht von selbst eintritt, wenn man von einer langsameren zu einer schnelleren Sprechweise übergeht, und da dieser Übergang offenbar bei zahllosen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft stetig und gleichzeitig erfolgen kann, so liegt nicht der geringste Grund zu der Annahme vor, eine solche Änderung sei von einem einzelnen Individuum ausgegangen. Natürlich können Zwischenstadien existieren, wo sich die neue Sprechweise erst un-

^) „La sociale c'est l'imitation, et l'imitation e'est une esp^ce de somnam- bulisme" (Tarde, Les lois de Fimitation^ 1895, pag. 95).

Der Einzelne und die Gemeinschaft. 23

vollkommen durchgesetzt hatte. Aber auch da wird die Abweichung von der älteren weder eine individuelle noch eine okkasionelle genannt werden können : das erstere nicht, weil alle Individuen den gleichen abändernden Kräften unterworfen sind; das letztere nicht, weil ein solches Zwischenstadium entweder darin besteht, daß die geläufige durchschnittliche Lautform zwischen der alten und der neu sich bilden- den ungefähr die Mitte hält, oder darin, daß der stets vorhandene Spiel- raum der individuellen Artikulationen größer als zuvor ist. In beiden Fällen ist aber der Zustand ein genereller. Nicht anders verhält es sich mit den in der Geschichte und wahrscheinlich noch mehr in der Vorgeschichte der Sprache eingetretenen Sprachmischungen. Sie gehen nicht von einem Einzelnen oder einigen Einzelnen, sondern von allen denen aus, die durch den Verkehr bis zu einem gewissen Grade beider Sprachen mächtig geworden sind, und die nun unwill- kürlich Wörter oder grammatische Formen aus der fremden Sprache in ihre Muttersprache herübemehmen. Offenbar müssen wir aber die nämlichen Gesichtspunkte auch da anwenden, wo nicht, wie in jenen leicht zu durchschauenden Fällen die generelle Natur der wirken- den Ursachen ohne weiteres erkennbar ist, wo jedoch die Erschei- nungen selbst genereller Art sind. Dann weist eben die Beschaffen- heit der Wirkungen auch auf eine entsprechende der Ursachen hin. Wenn z. B. in den germanischen Sprachen allgemein der im Vor- germanischen als sogenannte Tenuis vorhandene Geräuschlaut in eine Spirans übergegangen ist (p in /), t in engl, th, h in cJi oder Ji, so muß dieser Wandel irgend einmal in urgermanischer Zeit eingetreten sein. Es würde aber allen Eegeln der Wahrscheinlichkeit ins Gesicht schlagen, wollte man annehmen, diese Veränderungen seien zuerst nur okkasionell, oder sie seien gar nur individuell entstanden, um sich dann durch eine ,, somnambulische" Wirkung nach dem Ausdruck Tardes weiter zu verbreiten. Ein solcher Ursprung könnte doch höchstens für eine einzelne Lautänderung angenommen werden. Die Gesamtheit der Lautverschiebungen würde also durch eine Fülle solcher alleinstehender okkasioneller Abweichungen zustande ge- kommen sein, die schließlich sämtlich durch den merkwürdigsten aller Zufälle in vollkommener Harmonie miteinander entstanden wären.

24 Einleitung.

Was von der Sprache, das gilt nun genau ebenso von allen an- dern Formen gemeinsamen Lebens. Mag es sein, daß in Mythus und primitiver Kunst, in Keligion und Sitte da und dort verhältnismäßig frühe schon einzelne Persönlichkeiten hervortreten, die Überein- stimmungen, die alle diese Entwicklungen darbieten, weisen nicht minder auf generelle Bedingungen hin, die erst in ihren letzten Aus- läufern teilweise in individuelle Einflüsse ausmünden. Die Quelle, aus der hier, ebenso wie bei der Sprache, der Fehler jener individuali- sierenden und daher jede allgemeine Gesetzmäßigkeit schließlich auf einen ursprünglichen Zufall zurückführenden Betrachtungsweise entspringt, kann nicht zweifelhaft sein. Sie geht auf jenen in der heutigen Wissenschaft immer noch fortwirkenden Individualismus der Aufklärungszeit zurück, dem das Individuum als der Schöpfer aller Erzeugnisse des menschlichen Geistes galt. Wohl hatte schon die Romantik diese in der Idee eines ersten Erfinders kulminierende Anschauung zu Fall gebracht. Aber sie selbst hatte den Ursprung der gemeinsamen geistigen Erzeugnisse geflissentlich in ein meta- physisch-mythologisches Dunkel gehüllt. Als dann in den aus der romantischen Bewegung entsprungenen historischen Wissenschaften allmählich eine positivistische Strömung die Oberhand gewann, stellte sich von selbst eine Art Kompromiß zwischen Aufklärung und Ro- mantik ein. Wo jene eine planmäßige Erfindung, diese ein ursprüng- liches Wunder gesehen hatte, da machte man nun den Zufall zum Schöpfer und den Mechanismus der Gewöhnung und Nachahnmug zum Vollender der Dinge. Zufällig soll hier einmal jemand ein Wort falsch ausgesprochen, dort ein anderer eine irrtümliche Vorstellung mit einem Wort verbunden haben, die Genossen ahmen das nach, und ein neues Lautgesetz oder ein wichtiger Begriffswandel ist in die Wege geleitet. In griechischer Vorzeit geschah es, wie Max Müller er- zählt, daß jemand die ähnlich klingenden Wörter für die Morgen- röte und den Lorbeer (Daphne) verwechselte. Damit habe er der Vorstellung den Ursprung gegeben, dem Apollo, dem einstigen Sonnen- gott, sei der Lorbeer heiligt). Nun glaube ich zwar nicht, daß diese Ansicht über die individuelle und zufällige Entstehung neuer geistiger

1) Max Müller, Essays, Bd. II \ 1881, S. 83 ff.

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 25

Werte von der Mehrzahl der Sprachforscher, Mythologen und Kultur- historiker gerade in solch extremer Form geteilt wird. Doch die Grund- anschauung, aus der jene Theorien erwachsen sind, ist heute noch weit verbreitet. Und wäre sie richtig, so würde die Völkerpsychologie als eine irgendwie selbständig abzugrenzende Wissenschaft in der Tat kaum ein Existenzrecht besitzen. Da sie aber falsch ist, vielmehr jede Gemeinschaft, obgleich sie keine neuen psychischen Elemente zu den Bewußtseinsinhalten ihrer Mitglieder hinzufügt, doch durch die Verbindung und Wechselwirkung dieser neue geistige Schöpfungen erzeugt, so hat in ihnen sowie in der Nachweisung ihrer Beziehungen zu den im Einzelbewußtsein wirksamen psychischen Kräften die Völkerpsychologie ihre selbständige Aufgabe.

III. Zur Entwicklungsgeschichte der Völker- psychologie.

Schon die allgemeine Psychologie kann nicht ganz an der Tat- :sache vorübergehen, daß das Bewußtsein des Einzelnen unter dem Einflüsse seiner geistigen Umgebung steht. Überlieferte Vorstellungen, die Sprache imd die in ihr enthaltenen Formen des Denkens, endlich die tief greifenden Wirkungen der Erziehung und Bildung sind Vor- bedingungen jeder subjektiven Erfahrung. In mancher Beziehung kann darum der Inhalt der Individualpsychologie erst von der Völker- psychologie aus unserem vollen Verständnisse zugänglich werden. Gleichwohl bleibt diese im ganzen das speziellere, von jener abhängige Oebiet. Denn die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt, müssen schließlich aus den allgemeinen Gesetzen des geistigen Lebens, die schon in dem Einzelbewußtsein auf jeder Stufe seiner Entwick- lung wirksam sind, erklärt werden; und unmöglich kann durch eine Vereinigung von Menschen ein geistiges Erzeugnis entstehen, zu dem nicht in den Einzelnen die Anlagen vorhanden wären. Läßt sich demnach die Völkerpsychologie mit einem gewissen Recht eine an- gewandte Psychologie nennen, so ist übrigens der Ausdruck ,, an- gewandt" hier in einem andern Sinne zu verstehen, als in dem man etwa von einer angewandten Physik und Chemie oder auch von der

26 Einleitung.

Pädagogik als einer angewandten Psychologie redet. Dies liegt schon darin ausgesprochen, daß die Völkerpsychologie von den allgemeinen psychologischen Erfahrungen zu keinerlei praktischen Zwecken Ge- brauch macht, sondern daß sie, ebensogut wie die Individualpsycho- logie, eine rein theoreti^he Wissenschaft ist. Der Ursprung und die Entwicklung der Sprache, die Bildung mythologischer und religiöser Vorstellungen, die Entstehung von Sitten und sittlichen Gefühlen die Behandlung dieser und verwandter Probleme dient unmittel- bar nur den Interessen der Psychologie selbst und der mit ihr zu- sammenhängenden theoretischen Geisteswissenschaften. Von solchem Gesichtspunkte aus besteht daher die Völkerpsychologie nicht so- wohl in einer Anwendung als in einer Ausdehnung der psycho- logischen Untersuchung auf die soziale Gemeinschaft. Diese Aus- dehnung auf Erscheinungen, bei deren Entstehung neben den sub- jektiven Eigenschaften des menschlichen Bewußtseins noch die be- sonderen Bedingungen des gemeinsamen Lebens in Betracht kommen, bringt es zugleich mit sich, daß die Völkerpsychologie bestimmte, ihr ausschließlich angehörende Gebiete psychischer Tatsachen zu erforschen hat, Gebiete, die von der allgemeinen Psychologie bei ihrer gewöhnlichen Begrenzung ausgeschlossen bleiben.

Von zwei verschiedenen Richtungen her hat daher auch der Ge- danke der Völkerpsychologie in der neueren Wissenschaft Wurzel gefaßt. Zuerst wurde innerhalb einzelner Geisteswissenschaften das Bedürfnis nach einer psychologischen Grundlage, die den eigen- tümlichen Erscheinungen geistiger Wechselwirkung in Gesellschaft und Geschichte gerecht werde, immer mehr fühlbar. Dazu gesellte sich dann in der Psychologie selbst das Streben, objektive Hilfs- mittel zu schaffen, mittels deren man der Unsicherheit und Viel- deutigkeit der reinen Selbstbeobachtung zu entgehen suchte.

Unter den einzelnen Disziplinen, in denen sich jenes psycho- logische Bedürfnis regte, standen Sprachwissenschaft und Mytho- logie in erster Linie. Beide hatten sich aus dem allgemeineren Um- kreis philologischer Studien abgesondert. Indem sie aber dabei den Charakter vergleichender Wissenschaften annahmen, mußte sich ihnen von selbst die Erkenntnis aufdrängen, daß in Sprachen- und Mythenentwicklung neben den besonderen geschichtlichen Bedingungen,

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 27

die überall die konkrete Gestaltung der Erscheinungen bestimmen, allgemeine psychiscbe Kräfte wirksam seien.

Hat unter diesen Gebieten wohl am meisten die Sprachwissen- schaft eine Anlehnung an die Psychologie gesucht, so fand freilich gerade die Psychologie der Sprache ein gewisses Hindernis darin, daß ihre Aufgaben vielfach mit den Zielen verwechselt wurden, die seit langer Zeit die Sprachphilosophie sich gestellt hatte. Mögen aber auch in dieser, vom platonischen Kratylos an bis auf Wilhelm von Humboldts berühmte Einleitung ,,über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues" und andere neuere Werke ähnlicher Richtung, gelegentlich psychologische Überlegungen enthalten sein, so ist doch die vorherrschende Tendenz solcher Arbeiten eine meta- physische, und demgemäß steht ihnen das eine Problem des Ur- sprungs der Sprache überall im Vordergrund. Das Verhältnis zur Sprachpsychologie wird hier genugsam schon durch den Umstand gekennzeichnet, daß die psychologische Untersuchung eine Menge von Aufgaben auch dann noch vorfände, wenn sie auf jenes Ursprungs- problem gänzlich verzichten wollte, daß aber dieses vom Standpunkte psychologischer Betrachtung aus jedenfalls erst nach der Erledigung jener konkreten Aufgaben die Aussicht auf eine erfolgreiche Lösung bietet.

Da nun die Sprachwissenschaft an der metaphysischen Sprach- philosophie ebensowenig wie an den herrschenden Richtungen der Psychologie eine nennenswerte Hilfe fand, so war es begreiflich, daß sie zumeist sich auf jene Kunst psychologischer Interpretation ver- ließ, die man nirgends zu lernen braucht, weil sie von jedermann bei der Beurteilung praktischer Lebensverhältnisse fortwährend geübt wird: auf die Kunst der Vulgärpsychologie. Mit diesem Namen darf man wohl jene Mischung von wirklichen Beobachtungen, Über- lebnissen älterer Theorien und populären Vorurteilen bezeichnen, mit der sich die Vertreter einzelner Wissenschaften da zu behelfen pflegen, wo sie einer psychologischen Interpretation nicht entgehen können. Wenn diese Aushilfe vornehmlich in den „Geisteswissen- schaften" tiefe Wurzeln gefaßt hat, so liegt das wohl vor allem in dem eigentümlichen Charakter der Vulgärpsychologie begründet. Denn dieser besteht im wesentlichen darin, daß irgendwelche Erscheinungen

28 Einleitung.

des individuellen, gesellschaftlichen oder geschichtlichen Lebens auf solche intellektuelle Überlegungen und Zweckmäßigkeitserwägungen zurückgeführt werden, die den Beobachter, falls er die Erscheinungen mit Plan und Absicht herbeigeführt hätte, möglicherweise bestimmt haben könnten. Alle Vulgärpsychologie besteht also kurz gesagt in der Hinübertragung einer subjektiven Reflexion über die Dinge in die Dinge selbst. Hat sich z. B. in einer Sprache ein Wort in zwei verschiedene Wörter gespalten, so deutet man dies als ein Streben nach Erzeugung bedeutsamer Unterschiede. Sind dagegen wichtige Unterschiede durch Laut Verluste geschwunden, so erklärt man das umgekehrt aus der Tendenz, sich das Sprechen so bequem wie möglich zu machen. Nach den meisten Ausführungen über Bedeutungswandel müßte man annehmen, eine redende Ge- meinschaft sei fortwährend bemüht, die logischen Kategorien der Über-, Unter-, Nebenordnung usw. auf die Worte der Sprache an- zuwenden; denn man scheint der Meinung zu sein, mit der Zurück- führung auf derartige Begriffsverhältnisse seien die psychologischen Vorgänge als solche erklärt, oder es bedürfe doch, wenn ein Begriffs- verhältnis gefunden sei, einer weiteren Erklärung nicht mehr. Nicht anders steht es in der Mythologie. Bald soll die ursprüngliche Mythen- bildung eine aus dem Streben nach Naturerklärung hervorgegangene phantastische Naturphilosophie, also eine Art primitiver Natur- wissenschaft sein; bald soll sie auf zufälligen Mißverständnissen und Begriffsverwechslungen beruhen. Für die Deutung gewisser frühester Formen der Eheschließung zieht man gelegentlich Motive herbei, die dem Naturmenschen einen Grad der Fürsorge für die Zukunft seines Geschlechts zutrauen, von dem sich die ungeheuere Mehr- zahl der Kulturmenschen nichts träumen läßt. Im Prinzip stimmt diese psychologische Interpretation mit der teleologischen Natur- erklärung des 18. Jahrhunderts vollkommen überein. Nur pflegte die letztere die Motive des Geschehens einem vernünftigen Urheber der Dinge zuzuschreiben, während die Vulgärpsychologie dieselben den jeweils handelnden Menschen selbst aufbürdet. Ob aber solche Motive nachweisbar, ja ob sie unter den gegebenen Bedingungen mög- lich sind, danach wird nicht gefragt. Wenn also das Bestreben aller wahren Psychologie dahin gerichtet sein muß, die Tatsachen so zu

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 29

erfassen, wie sie unabhängig von unserer subjektiven Beurteilung beschaffen sind, so geht umgekehrt die Vulgärpsychologie darauf aus, über die Wirklichkeit ein Netz subjektiver und willkürlicher logischer Reflexionen zu breiten. In dieser allgemeinen Tendenz befindet sie sich zugleich in Übereinstimmung mit einer aus der Scholastik über- kommenen, bis auf unsere Tage herabreichenden intellektuahstischen Strömung der Philosophie und der aus ihr hervorgegangenen Re- flexionspsychologie. Denn auch diese scheint es nicht als ihre Auf- gabe anzusehen, festzustellen, was die psychischen Vorgänge wirk- lich sind, und wie sie tatsächlich zusammenhängen, sondern aus- einanderzusetzen, was nach Maßgabe irgendwelcher logischer oder philosophischer Voraussetzungen der reflektierende Psychologe von ihnen denkt.

Dies führt uns auf das zweite Motiv für die Entstehung der Völkerpsychologie, dessen oben gedacht wurde. Die Psychologie selbst bedarf nicht minder dringend des völkerpsychologischen Ma- terials, das gewisse Geisteswissenschaften ihr bieten, wie diese der psychologischen Grundlagen; und in dem Augenblick, wo die Psycho- logie den Quellen nachgeht, die ihr aus den einzelnen Bereichen des geistigen Lebens zufließen, wird auch das, was sie selbst wiederum aus der allgemeinen Betrachtung dieses Lebens der Würdigung der einzelnen Tatsachen entgegenbringt, nicht mehr unbeachtet bleiben. Denn in Einem kann es doch der feinste praktische Takt und die reichste psychologische Lebenserfahrung mit der wissenschaftlichen Psychologie nicht aufnehmen: in der Fähigkeit, die bei der Analyse der einfacheren Bewußtseinsvorgänge gewonnenen Gesichtspunkte für das Verständnis der verwickelten Erscheinungen des gemein- samen Lebens zu verwerten. Der Historiker, der Sprachforscher, der Mythologe, sie operieren, solange sie jener Analyse fremd gegen- überstehen, bestenfalls mit komplexen Begriffen. Erst wenn es ge- lungen ist, die Brücke zu schlagen, die von dem Einzelbewußtsein zu den Erzeugnissen der Gemeinschaft hinüberführt, besteht aber auch die Aussicht, den Weg wieder rückwärts zu finden und die völker- psychologischen Ergebnisse fruchtbar zu machen für die Untersuchung jener Gebilde des Einzelbewußtseins, die aus diesem allein nicht be- griffen werden können. Und letzteres trifft überall da zu, wo solche

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Gebilde in zureichend vollständigen Entwicklungsformen überhaupt nur als Produkte des Völkerbewußtseins vorkommen, wie viele Er- zeugnisse der Phantasietätigkeit, oder wo das Einzelbewußtsein selbst schon mit fertig überlieferten, aus der geistigen Wechselwirkung her- vorgegangenen Formen arbeitet, wie bei dem in seiner spezifischen Gestaltung an die Sprache gebundenen logischen Denken.

Von den verdienten Forschern, die der Völkerpsychologie ihren Namen gegeben und zum erstenmal ein bestimmtes Programm für sie entworfen haben, von Steinthal und Lazarus, ist, so umfassend, ja vielleicht allzu umfassend auch dieses Programm war, gerade jener Gesichtspunkt, daß gewisse Geisteswissenschaften nicht bloß selbst der psychologischen Analyse und Interpretation bedürfen, sondern ihrerseits unentbehrliche, bisher vernachlässigte Hilfsgebiete der Psychologie sind, kaum zureichend gewürdigt worden^). Dieser bei einem ersten Versuch gewiß entschuldbare Mangel ist aber sichtlich durch die psychologischen Grundanschauungen bedingt, von denen diese Forscher ausgingen; und deshalb ist er zugleich bezeichnend für die eigentümlichen Hemmnisse, die sich dem neuen Gebiet von Seiten der herrschenden Kichtungen der Psychologie entgegenstellten. Jene Grundanschauungen waren die der Psychologie Herbarts mit ihrem an den metaphysischen Begriff der einfachen Seele und an die Hypothese der Vorstellungsmechanik gebundenen einseitigen Indivi- dualismus und Intellektualismus. Daß eine so geartete Psychologie von Haus aus den Fragen der Völkerpsychologie hilflos gegenüber- steht, ja zu ihnen eigentlich gar kein Verhältnis hat, dafür liefern Herbarts eigene gelegentliche Aussprüche über diese Fragen die deut- lichsten Belege^). Mochten nun auch die Völkerpsychologen der

^) Lazarus und Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach- wissenschaft, I, 1860: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, S. 1 73. Vgl. dazu meinen Aufsatz über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, PhU. Stud. IV, S. 1 ff., sowie Steinthals Gegenbemerkungen, Zeitschr. für Völker- psych. XVII, S. 233 ff.

2) Belehrend ist hier F. Misteiis Zusammenstellung der Aussprüche Her- barts über die Sprache, unter denen als der merkwürdigste der hervor- gehoben werden mag, daß die Befähigung des Menschen zur Sprache nur in den besonderen Eigenschaften seines Kehlkopfes begründet sei, wie denn

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 31

Herbartschen Schule in dieser Beziehung den von dem Meister ver- tretenen Ansichten im einzehien nicht überall beipflichten, im Prin- zip blieb doch das Verhältnis der Individual- zur Völkerpsychologie das der begründenden Wissenschaft zu ihren Anwendungen. Die sub- jektive Beobachtung und als Ergänzung allenfalls noch die Psycho- logie des Kindes sollten das Erfahrungsmaterial liefern, aus dem durch Abstraktion die Grundgesetze einer allgemeinen „psychischen Me- chanik" zu gewinnen seien, und diese sollte dann von der Völker- psychologie zur Deutung der verschiedenen Erscheinungen geschicht- lichen Lebens verwendet werden i). Gegen eine solche Auffassung mochte der von hervorragenden Sprachforschern erhobene Einwand vielleicht nicht ganz unzutreffend sein, das neue Gebiet sei überhaupt nicht Psychologie, sondern eben nur Anwendung der Psychologie auf die verschiedenen Bestandteile der Geistesgeschichte, also allen- falls eine historische „Prinzipienlehre" auf psychologischer Grund- lage 2). Je mehr man die Psychologie als eine fertig gegebene „Norm- wissenschaft" betrachtet, deren Gesetze in irgendwelchen allgemein- gültigen Formeln einer Vorstellungsmechanik enthalten seien, um so weniger bleibt natürlich außerhalb dieser Individualpsychologie Raum für eine auch nur relativ selbständige psychologische Forschung. Mochten die Völkerpsychologen immerhin die eigenartige Natur der „Volksgeister" betonen und darauf hinweisen, die in den geschicht- lichen Entwicklungen hervortretenden Volkscharaktere könnten

überhaupt der Unterschied zwischen Mensch und Tier nach Herbart nicht auf der an sich überall gleich beschaffenen absolut einfachen Seele, sondern auf den Unterschieden der physischen Organisation beruht! (Misteli, Zeitschr. f. Völkerpsychologie, XII, S. 407 ff.) Mit Recht hebt übrigens schon Misteli hervor, daß sich Steinthals Ansichten überall, wo es sich um konkrete völkerpsychologische Probleme handelt, weit von denen Herbarts entfernen.

^) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, I, 1871 bes. S. 91ff., 290 ff.

2) Herrn. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, ^ 1883, * 1909, S. 6 ff. Zu dessen Auffassung der Sprachwissenschaft als einer rein geschicht- lichen Disziplin vgl> Ottmar Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. 1, 1903, S. 3 ff., und Zeitschr. f. roman. Phüologie, Bd. 23, 1899, S. 538 ff. sowie meme Probleme der Völkerpsychol, 1911, S. 8ff., 69f. 2. Aufl. 1921, S. 9ff., 72f,

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keineswegs bloß als Summen individueller Eigenschaften betrachtet werden, so wurden dadurch doch die prinzipiellen Einwände nicht beseitigt. Denn jener Begriff des Volksgeistes, auf den man sich hier berief, verblieb ganz innerhalb der allgemeinen Sphäre historischer Betrachtungen, in der er längst zu einem Bestand geschichtsphilo- sophischer Spekulationen geworden war ^). Auch dies lag aber im Grunde schon in der individualistischen Kichtung der Herbartschen Psycho- logie. Denn blieb gleich für diese der Begriff einer Volksseele seiner substantiellen Bedeutung nach unvollziehbar, so legte doch die „Me- chanik der Vorstellungen", die für die wirkliche Interpretation der seelischen Erfahrung an die Stelle jenes transzendenten Begriffs trat, den Gedanken einer Übertragung auf die Wechselbeziehungen der Individuen innerhalb einer Gemeinschaft nahe genug. Hier hatte die Analogie um so mehr freies Feld, da die Herbartsche Vorstellungs- mechanik selbst eigentlich nur eine abstrakte Theorie der Wirkungen und Gegenwirkungen irgendwelcher einander anziehender oder ab- stoßender intensiver Größen überhaupt war. Ob man unter diesen Größen Vorstellungen des individuellen Bewußtseins oder auf einer höheren Stufe die mit solchem Bewußtsein ausgestatteten Individuen verstand, blieb für die Theorie an sich gleichgültig. In diesem Sinne hatte Herbart selbst schon in seinen ,, Bruchstücken zur Statik und Mechanik des Staates" das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte er- örtert^). Demnach wurden hier die „Volksgeister" vollständig zu Ebenbildern der Einzelgeister, mit dem einzigen Unterschied, daß sie sich aus komplexeren Einheiten zusammensetzten. Dadurch mußte aber gerade der eigenartige Charakter der Erscheinungen des gemein- samen Lebens, der aus einer bloßen Analogie mit dem individuellen Seelenleben niemals begriffen werden kann, völlig verschwinden. Um so mehr forderte der durch die Projektion des individuellen Geistes ins Große entstandene Volksgeist dazu heraus, vor allem den Wandel der politischen Geschichte, wie es in der Tat bei Herbart geschah, als die dem individuellen Leben analogen Schicksale des

1) Vgl. Lazarus, Leben der Seele, « l, S. 335 ff.

2) Herbart, Psychologie als Wissenschaft, 2. Teil, Einleitung. Werke, herausgegeben von Hartenstein, VI, S. 31 ff.

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 33

Volksgeistes zu betrachten. Damit bewegte man sich aber wieder ganz in den Bahnen der alten Geschichtsphilosophie.

Sichtlich ist nun das Programm der Völkerpsychologie, das Steinthal und Lazarus entwarfen, zunächst unter dem Eindruck dieser Herbartsch en Analogien entstanden. Immerhin machte sich das Bedürfnis nach psychologischem Verständnis der Tatsachen, be- sonders bei den von der Sprachwissenschaft herüberkommenden Vertretern jenes Programms, geltend. Das neue Gebiet zerfiel dadurch im Wesen thchen in zwei Gebiete: in eine Anwendung individual- psychologischer Gesetze auf die Erzeugnisse des gesellschaftlichen Lebens, und in eine geschichtsphilosophische Beleuchtung der ver- schiedenen Volksgeister und ihrer Betätigungen in der Geschichte. Nach beiden Richtungen blieb die Stellung der Völkerpsychologie eine fragwürdige. War es dort zweifelhaft, ob die Anwendung der Psychologie auf bestimmte Probleme der geschichtlichen Entwick- lung nicht den historischen Einzelwissenschaften selbst zuzuweisen sei, so war hier die Geltendmachung des psychologischen Gesichts- punkts zwar berechtigt, aber man hielt dabei gleichwohl an der näm- lichen Aufgabe fest, die sich auch bisher die Geschichtsphilosophie gestellt hatte. Um so mehr muß anerkannt werden, daß der Versuch der Durchführung dieser allgemeinen Aufgabe, wie er durch die ein- zelnen Arbeiten Steinthals mid der sich ihm anschließenden Forscher über sprachliche und mythologische Probleme gemacht wurde, ganz von selbst den Gesichtskreis veränderte, den jenes unter dem Ein- flüsse Herbartscher Begriffe entstandene Programm eröffnet hatte. Erwiesen sich auf der einen Seite fast überall, wo die Erbschaft der bisherigen Geschichtsphilosophie übernommen wurde, die Probleme für eine völkerpsychologische Betrachtung wegen der Ungeheuern Bedeutung individueller und äußerer Einflüsse wenig ergiebig, so schieden sich auf der andern aus dem Umfang der Geisteswissen- schaften gewisse Probleme aus, auf die sich das psychologische In- teresse konzentrierte. Dabei mußte aber mehr und mehr offenbar werden, daß die allgemeine Psychologie hier mit der Anwendung von Gesichtspunkten, die der Analyse des individuellen Bewußtseins entnommen sind, nicht ausreicht, während sie ihrerseits aus der Fülle völkerpsychologischer Erscheinungen neue Aufschlüsse gewinnt.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. °

34 Einleitung.

Hier wurde nun aber die psychologische Forschung noch von einer zweiten Richtung her auf völkerpsychologische Hilfsquellen hingewiesen. Denn wie weit auch die Meinungen in der heutigen Psy- chologie auseinandergehen, in methodologischer Hinsicht ist es ihr vorherrschender Charakterzug, daß sie Hilfsmittel zu gewinnen strebt, welche die planlose, von zufälligen Einflüssen und philosophischen Vorurteilen abhängige Selbstbeobachtung durch Anwendung exakter Methoden und objektiver Kriterien beseitigen sollen. Das erste dieser Hilfsmittel besteht in der Ersetzung der sogenannten ,, reinen" durch die experimentelle Selbstbeobachtung, So wenig wir die Vorgänge der äußeren Natur in ihrer Zusammensetzung und ihren wechsel- seitigen Beziehungen exakt analysieren können, ohne sie im Experi- ment genau bestimmbaren Bedingungen und Veränderungen zu unter- werfen oder ohne mindestens Beobachtungshilfsmittel anzuwenden, die der experimentellen Technik entnommen sind, gerade so wenig, ja im Grunde wegen der viel geringeren Stabilität der Bewußtseins- vorgänge noch viel weniger ist es möglich, auf dem "Wege der bloßen, durch keinerlei planmäßige Einwirkungen unterstützten Beobachtung des eigenen Bewußtseins andere als oberflächliche und trügerische Aufschlüsse über Verlauf und Zusammenhang der psychischen Vor- gänge zu gewinnen.

Die experimentelle oder, wie sie wegen der notwendigen An- wendung physiologischer Hilfsmittel zuweilen auch genannt wird, die physiologische Psychologie ist aber der Natur der Sache nach Individualpsychologie. Das einzige dem Experiment zugäng- liche psychologische Objekt bleibt das Einzelbewußtsein. Zugleich ist die experimentelle Methode durch die Notwendigkeit, die typischen Verlaufsformen des psychischen Geschehens unter verhältnismäßig einfachen Bedingungen zu beobachten, im wesentlichen auf die Ana- lyse relativ einfacher Bewußtseinsvorgänge angewiesen. Da die geistigen Gemeinschaften die Individuen, und da die zusammen- gesetzten psychischen Vorgänge die einfachen als ihre Bedingungen voraussetzen, so hat demnach die experimentelle Psychologie einen allgemeineren und grundlegenden Charakter. Sie ist aber zugleich an die Bedingungen gebunden, die ihr jenes hoch entwickelte Einzel- bewußtsein entgegenbringt, auf das die psychologischen Experimental-

Zur Entwicklungsgeschichte der Völkerpsychologie. 35

metlioden schon wegen der Schwierigkeiten der bei ihnen gefor- derten Selbstbeobachtung angewiesen sind. Ihr Objekt ist also ein- fach und verwickelt zugleich: einfach gemäß dem nicht zu beseitigen- den Charakter der Methoden; verwickelt wegen der ungeheuer zu- sammengesetzten Eigenschaften des Gegenstandes der Beobachtung. In beiden Beziehungen bedarf die experimentelle Methode der Er- gänzung. Die zusammengesetzten psychischen Bildungen, die nicht oder nur in gewissen äußeren und nebensächlichen Eigenschaften dem Experiment zugänglich sind, fordern analytische Hilfsmittel von ähnlicher objektiver Sicherheit; und das unter den verwickeltsten Kulturbedingungen stehende individuelle Bewußtsein verlangt nach Objekten die als die einfacheren Vorstufen jenes letzten Entwick- lungszustandes betrachtet werden können. Beidemal bestehen die uns verfügbaren Hilfsmittel in den Geisteserzeugnissen von allgemeingültigem Werte, die durch die naturgesetzliche Art ihrer Entstehung dem wechselvollen, unberechenbaren Spiel indivi- dueller persönlicher Eingriffe entzogen sind. Es ist das Verdienst der englischen Psychologie des letzten Jahrhunderts, daß sie, nachdem die vorangegangene englische Erfahrungspsychologie die Forderung einer streng empirischen, von philosophischen Voraus- setzungen unabhängigen Analyse des Einzelbewußtseins siegreich zur Geltung gebracht hatte, zum ersten Male das weite Feld ethno- logischer Tatsachen im psychologischen Interesse verwertete. Sie ergänzte so die in Deutschland von der Sprachwissenschaft ausgehende Bewegimg in dem Sinne, daß sie sich vorwiegend den Gebieten des Mythus und der Sitte und der mit beiden zusammenhängen- den Anfänge der Kultur zuwandte. Es sei hier vor allem an die zusammenfassenden Arbeiten E. B. Tylors und J. G. Frazers erinnert^).

^) E. B. Tylor, Researches into the Early History of Mankind, 1865. (Deutsch von H. Müller, o. J.) Primitive Culture, 1871. (Deutsch u. d. T. Die Anfänge der Kultur, übers, von Sprengel und Poske, 2 Bde., 1873.) J. G. Frazer, The golden Bough 2, vol. I III. Totemism and Exogamy, vol. I IV, 1910. Herbert Spencers Soziologie gibt ebenfalls ein reiches hierhergehöriges Material, das jedoch, da die Soziologie einen Teil seines ,, Synthetischen Systems der Philosophie" bildet, allzu sehr unter dem Einfluß der Voraussetzungen dieses Systems steht.

3*

36 Einleitung.

Experimentelle Psychologie und Völkerpsychologie stehen dem- nach gleichzeitig in dem Verhältnis zweier einander ergänzender Teile und zweier nebeneinander wie nacheinander zur Anwendung kommender Hilfsmittel der Psychologie. Geschichte, Literatur, Kirnst, Biographien, Selbstbekenntnisse, die immer noch zuweilen als Quellen psychologischen Wissens gerühmt werden, sind weder Teile noch Hilfsmittel, sondern Anwendungsgebiete, die zwar infolge der überall bestehenden Wechselbeziehungen zwischen Theorie und Anwendimg gelegentlich der allgemeinen psychologischen Er- kenntnis förderlich sein mögen, aber zu einer methodischen Ver- wertung, wie sie zum Charakter eines Hilfsmittels erfordert wird, unfähig sind.

IV. Hauptgebiete der Völkerpsychologie.

In den obigen Erörterungen sind im wesentlichen die Aufgaben bezeichnet, die der Völkerpsychologie zufallen. Es bleiben ihr hier- nach drei selbständige Probleme, die, sofern sie als rein psycho- logische behandelt werden, in keiner andern Wissenschaft ihre Stelle finden, während sie doch ihrem Wesen nach eine psychologische Unter- suchung erheischen. Sie bestehen in den Problemen der Sprache, des Mythus und der Sitte. Dem Mythus schließen sich die An- fänge der Religion und der Kunst, der Sitte die Ursprünge und allgemeinen Entwicklungsformen des Rechtes und der Kul- tur an.

Diese drei Gebiete stimmen darin überein, daß sie durchaus an das gesellschaftHche Leben gebunden sind. Nicht nur geht ihre Ent- stehung jedem nachweisbaren Eingreifen Einzelner und jeder ge- schichtlichen Überlieferung voraus, sondern auch nach dem Beginn des geschichtlichen Lebens erfahren sie fortan, neben den allmählich einen breiteren Raum einnehmenden individuellen Einflüssen, ge- setzmäßige Veränderungen, die aus den Veränderungen der geistigen Verbände selbst entspringen. So bleiben, nachdem Sprache, Mythus und Sitte Objekte historischer Betrachtung geworden sind, dennoch

Hauptgebiete der Völkerpsychologie. 37

innerhalb jeder dieser Erscheinungen psychologische Probleme zurück, deren Lösung zwar nur auf Grund der Tatsachen des individuellen Bewußtseins möglich, aber ihrerseits wieder dem Verständnis vieler dieser Tatsachen förderlich ist. Zugleich geht hier die völkerpsycho- logische Entwicklung in eine Reihe geschichtlicher Entwicklungen über, in denen sie als allgemeine Grundströmung fortwirkt. Darum berührt sie sich mit einer Anzahl historischer Gebiete. So der Mythus mit der Geschichte der Kulturreligionen ^ der Wissenschaft und der Kunst; so die Sitte mit der Geschichte der Rechtsordnungen und der in den philosophischen Moralsystemen niedergelegten sittlichen Weltanschauungen .

Bilden nach allen diesen Richtungen Sprache, Mythus und Sitte die natürhchen Grundlagen der geschichtlichen Entwicklungen, so zeigen sie sich aber selbst eng aneinander gebunden. Wie sehr auch der Sprache als dem notwendigen Hilfsmittel des gemeinsamen Denkens der Vorrang gebührt, so trägt sie doch von Anfang an die Spuren des Mythus an sich; und die Sitte als Norm des Handelns ist so sehr Aus- drucksform der die Gemeinschaft beseelenden Vorstellungen und Gefühle, daß sie im Verhältnis zu den andern Gebieten die Bedeutung eines Symptoms gewinnt, ohne das jene so wenig sich denken lassen, wie etwa im individuellen Seelenleben Gefühle und Triebe ohne äußere Willenshandlungen .

Der engen Verbindung dieser drei Hauptteile der Völkerpsycho- logie entspricht ihr Verhältnis zu gewissen Erscheinungen des Einzel- bewußtseins. Inder Sp räche spiegelt sich zunächst die Vor st ellungs- welt des Menschen. In dem Wandel der Wortbedeutungen äußern sich die Gesetze der Veränderungen der Vorstellungen, wie sie unter dem Einflüsse wechselnder Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen stattfinden. In dem organischen Aufbau der Sprache, in der Bildung der Wortformen und in der syntaktischen Fügung der Redeteile gibt sich die Gesetzmäßigkeit kund, von der die Verbindung der Vor- stellungen unter den besonderen Natur- und Kulturbedingungen der Sprachgemeinschaft beherrscht ist. Der Mythus gibt sodann den in der Sprache niedergelegten Vorstellungen vornehmlich ihren Inhalt, da er in dem ursprünghchen Völkerbewußtsein die gesamte, aus Wahrnehmungen und Phantasieschöpfungen sich aufbauende

38 Eineitung.

Weltanschauung noch in ungesonderter Einheit umschließt. Dabei zeigt sich die in ihm wirksame Phantasietätigkeit außerdem so sehr von Gefühlsrichtungen bestimmt, daß die Wahrnehmungsein- flüsse zumeist nur die äußeren Gelegenheitsursachen bilden, die, in- dem sie Furcht und Hoffen, Bewunderung und Staunen, Demut und Verehrung erwecken, ebenso die Richtung der mythologischen Vor- stellungen wie die Auffassung der Objekte überhaupt bedingen. Die Sitte endlich umfaßt alle die gemeinsamen Willensrichtungen, die über die Abweichungen individueller Gewohnheiten die Herr- schaft erringen und sich zu Normen verdichtet haben, denen von der Gemeinschaft Allgemeingültigkeit beigelegt wird. Aber wie in dem individuellen Bewußtsein Vorstellen, Fühlen und Wollen keine getrennt vorkommenden seelischen Vorgänge, sondern nur verschiedene, an sich unlösbar verbundene Faktoren eines und desselben Geschehens sind, so haben auch jene Beziehungen der drei völkerpsychologischen Gebiete zu diesen seelischen Richtungen nur die Bedeutung, daß sie diejenigen Elemente des Seelenlebens bezeichnen, die vorzugsweise für die einzelnen Erscheinungen maßgebend sind. Die Sprache ist, wie schon ihr Verhältnis zum Mythus lehrt, überall von Gefühls- motiven abhängig, und nach ihrem eigensten Charakter ist sie eine Willensfunktion. Nicht minder ist der Mythus von Vorstellungen imd Willensmotiven erfüllt, und in die Sitte greifen, eben weil sie in allgemeinen Willensnormen besteht, fortwährend jene Vorstellungs- und Gefühlsprozesse ein, die den Willens Vorgang zusammensetzen. So gilt hier womöglich noch in höherem Grade als von dem Einzel- bewußtsein, daß die unmittelbare seelische Erfahrung alle Elemente zumal in sich schließt. Ähnlich bezeichnen aber die drei Begriffe Sprache, Mythus und Sitte selbst nur die Haupterscheinimgen, mit deren Betrachtung sich die Völkerpsychologie beschäftigt, und um die sich andere gruppieren. So sind an die Sprache die Anfänge der Poesie, so an den Mythus die ursprüngUchen Formen künstlerischer Betätigung überhaupt gebunden. Dabei besitzt die Kunst außer- dem insofern ein selbständiges Interesse, als in ihr am unmittelbarsten die Entwicklung der Phantasie mit ihren alle seelischen Funktionen mächtig erregenden Wirkungen ihren Ausdruck findet. Ebenso ist die Religion zunächst mit dem Mythus und dann durch diesen mit

Hauptgebiete der Völkerpsychologie. 39

der Sitte verwoben. Die Sitte endlicli führt neben den Beziehungen zu Mythus und Sprache solche zu den anfänglich mit ihr zusammen- fließenden Erscheinungen des Rechtes mit sich, indes sich ihre weiteren Verzweigungen über die gesamte Kultur und Geschichte erstrecken. Hiernach sondern wir den Inhalt der folgenden Untersuchungen in vier Bücher: in die Psychologie der Sprache, der Kunst, des Mythus und der Religion, der Sitte und Kultur.

Erstes Buch.

Die Sprache.

Erstes Kapitel.

Die Ausdrucksbewegungen.

L Allgemeine Bedeutung der Ausdrucks- bewegungen.

Die psychopliysisclien Lebensäußerungen, denen die Sprache als eine besondere, eigenartig entwickelte Form zugezählt werden kann, bezeichnen wir ihrem allgemeinen Begriffe nach als Ausdrucks- bewegungen. Jede Sprache besteht in Lautäußerungen oder in andern sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die, durch Muskelwirkungen hervorgebracht, innere Zustände, Vorstellungen, Gefühle^ Affekte, nach außen kundgeben. Ist das die Definition, die dem Begriff der Ausdrucksbewegung überhaupt entspricht, so pflegt man nun als das besondere Merkmal, durch das sich die Sprache von andern Be- wegungen ähnlicher Art unterscheidet, dies zu betrachten, daß sie durch den Ausdruck von Vorstellungen der Gedankenmitteilung diene. Dieses Merkmal vermag jedoch der Sprache schon deshalb keine absolute Sonderstellung anzuweisen, weil auch andere Aus- drucksbewegungen nicht selten von Vorstellungssymptomen begleitet sind, und weil umgekehrt die Sprache selbst neben den Vorstellungen auch Gefühle zum Ausdruck bringen kann. Die Gedankenmitteilung ist also immer nur ein möglicher Zweck, der nicht bei jeder einzelnen Sprachäußerung notwendig bestehen muß. Überdies pflegt das ein- same Denken die sprachliche Form auch unter Verhältnissen anzu- nehmen, unter denen die Absicht wie die MögHchkeit der Mitteilung ausgeschlossen ist. Noch weniger ist endUch die lautliche Form des Ausdrucks ein Kriterium der Sprache als solcher, da unter den reinen.

44 Die Ausdrucksbewegungen.

Ausdrucksformen der Gefühle, die wir niclit zur Sprache rechnen, auch Ausdruckslaute vorkommen, während anderseits die Gebärden- sprache aus unhörbaren Bewegungen besteht und trotzdem alle wesent- lichen Eigenschaften einer wirklichen Sprache besitzt.

Diese Schwierigkeiten, denen die Definition der Sprache be- gegnet, stehen offenbar in engem Zusammenhang damit, daß der Begriff der ,, Ausdrucksbewegungen" selbst nur einen symptoma- tischen Wert hat, da durch ihn in keiner Weise die allgemeinere physiologische oder psychologische Natur dieser Bewegungen be- stimmt wird. Mit Rücksicht auf diese ihre allgemeinere Natur können alle durch Muskelaktionen bewirkten Bewegungen, mögen sie nun Ausdrucksbewegungen sein oder nicht, in die drei Klassen der auto- matischen, der Trieb- und der Willkürbewegungen unter- schieden werden. Hierbei verstehen wir unter den automatischen Bewegungen rein physiologische Erscheinungen, die, nur in der Ver- bindung der zentralen Nervenelemente begründet, bewußtlos und willenlos vor sich gehen; unter den Triebbewegungen einfache, in- folge eines einzigen, das Gefühl erregenden Motivs entstehende Willens- handlungen; endlich unter den Willkürbewegungen solche, bei denen in irgendeinem Maße ein Wettstreit mehrerer Gefühlsmotive die äußere Handlung vorbereitet. Die automatischen Bewegungen zerfallen dann wieder nach den besonderen Bedingungen der zentralen Reiz- übertragung in die Reflexbewegungen und die Mitbewegungen. Bei den ersteren wird ein sensibler Reiz auf motorische Nerven über- tragen und durch eine ihm im allgemeinen zweckmäßig zugeordnete Muskelbewegung beantwortet. Bei den letzteren breitet sich eine motorische Erregung, die selbst entweder eine Reflex- oder eine Willens- bewegung hervorrufen kann, auf weitere motorische Nerven aus, deren Erregung in der Regel der zunächst ausgelösten Reizung zweck- mäßig koordiniert ist. Nun ist leicht ersichtHch, daß die Ausdrucks- bewegungen jeder dieser Klassen angehören können, daß sie sich aber auch nicht selten aus verschiedenen Bewegungsformen zusammen- setzen, oder daß sie, entsprechend den allgemeinen Gesetzen des Übergangs dieser Bewegungen ineinander, je nach Zeitbedingungen ihre Bedeutung wechseln. So müssen wir die beim Neugeborenen auf Geschmacksreize eintretenden mimischen Bewegungen jeden-

Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 45

falls zu den Ausdrucksbewegungen zählen: sie sind aber höchstwahr- scheinlich reine Reflexe, oder sie können doch als solche vorkommen, wie der Umstand beweist, daß man sie auch bei hirnlosen Mißgeburten beobachtet hat. Die charakteristischen Bewegungen des Erschreckten sind dagegen teils Reflex-, teils Triebbewegungen: als Reflex ist das plötzliche Zusammenfahren, das beim heftigsten Schreck zu einem^ lähmimgsartigen Zusammenstürzen werden kann, zu deuten; trieb- artig sind die unwillkürlich eintretenden Abwehr- und Fluchtbewegun- gen. Ebenso gehören die Ausdrucksbewegungen des Zornes, der aus- gelassenen Freude, des tiefen Kummers und anderer Affekte zumeist zu den Triebhandlungen. Sie können sich aber teils mit gänzlich willen- losen und unbewußten, also reflexähnlichen Mitbewegungen, teils auch mit einzelnen Willkürhandlungen verbinden, wobei im allgemeinen diese letzteren am wenigsten für einen einzelnen Affekt typisch sind, sondern durch mehr zufällig dazwischentretende Gelegenheitsursachen bestimmt werden. Die Willkürbewegungen endlich können als pri- märe Bestandteile einer komplexen Ausdrucksform höchstens dann auftreten, wenn die Bewegung überhaupt zu einer bloßen Schein- bewegung wird, also bei geheuchelten Affekten. Doch treten auch hier durch die Rückwirkung der begleitenden Empfindungen auf den Seelenzustand in der Regel Triebbewegungen hinzu, mit denen sich meistens noch automatische Mitbewegungen verbinden. So können z. B. gewisse Ausdrucksbewegungen eines Schauspielers willkürHch und sogar auf Grund vorangegangener Überlegung erfolgen: sie sind aber mit andern Bewegungen von der gleichen Bedeutung so fest assoziiert, daß die Wahl der Ausdrucksform bloß den Anfang und die Richtung der Erscheinungen zu bestimmen pflegt.

Die generelle Entwicklung der Ausdrucksbewegungen erfolgt aller Wahrscheinlichkeit nach gemäß den allgemeinen Entwicklungs- gesetzen tierischer Bewegungen. Nach diesen sind es aber nicht, wie -SO oft auf Grund dogmatischer Vorurteile angenommen wird, die Reflexe, aus denen allmählich oder plötzlich, infolge einer zuvor im- geahnten Entdeckung der Seele, Willenshandlimgen entspringen. Vielmehr sind die einfachen Willens- oder Triebhandlungen als die primären tierischen Bewegungen anzusehen. Aus ihnen können einer- seits durch die allmählich eintretende Vervielfältigung der Motive

46 Die Ausdrucksbewegungen.

Willkür- oder Wahlhandlungen, auf der andern Seite, durch die in- folge der Einübung geschehende Mechanisierung, Reflexe und auto- matische Mitbewegungen hervorgehen. Es können sich aber auch die bereits entwickelten Willkürhandlungen wieder zuerst in Trieb- und dann in automatische Bewegungen zurückverwandeln. Hiernach läßt sich dieser ganze Zusammenhang progressiver wie regressiver Entwicklungen durch das folgende Schema veranschaulichen:

Triebbewegungen

Automatische Bewegungen Willkürbewegungen

Die äußeren größeren Pfeile deuten die primären Entwicklungen an, die nach zwei Richtungen erfolgen: regressiv von den ursprünglichen Triebbewegungen durch deren Mechanisierung zu den Reflexen und Mitbewegungen, und progressiv von den nämlichen Triebbewegungen zu den zusammengesetzten Willens- oder Willkürhandlungen. Die inneren kleineren Pfeile bezeichnen die sekundäre Entwicklung, die nur in der einen Richtung der Mechanisierimg ursprünglich psychisch bedingter Bewegungen stattfindet. Für den Teil des Verlaufs, der von den triebartigen zu den automatischen Bewegungen geht, fällt daher diese sekundäre vollständig mit der regressiven Form der pri- mären Entwicklung zusammen. Für den andern Teil, der die beiden Formen der Willenshandlungen miteinander verbindet, ist der sekun- däre dem primären Verlauf entgegengesetzt, jener progressiv, dieser regressiv gerichtet. Damit zusammenhängend bildet der primäre Verlauf überhaupt zwei ganz verschiedene, divergierende Entwick- lungen, während der sekundäre in kontinuierlicher Folge von der höchsten Form, den komplexen Willenshandlungen, zu der niedersten, den automatischen Bewegungen führt, wie dies in unserem Schema durch den oberen, die beiden Seiten verbindenden Pfeil angedeutet wird. Zugleich ist aber zu beachten, daß die hier gegebene Inter-

Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 47

pretation dieses Schemas, nach der alle Entwicklungen von den Trieb- bewegungen als der ursprünglichen tierischen Bewegungsform aus- gehen, in ihrer Allgemeinheit nur für die generelle Entwicklung gilt. Bei den individuellen Organismen, die mit den mannigfaltigsten vererbten Anlagen in das Leben eintreten, sind von Anfang an Trieb- und Reflexbewegungen gleichzeitig anzutreffen. So reagieren, wie bereits bemerkt wurde, die mimischen Muskeln des Kindes sofort nach der Geburt reflektorisch auf Geschmacksreize ; andere Bewegungen desselben sind wahrscheinlich als Reflexe des Tastsinns zu deuten. Auch bei den meisten Tieren sind zwar die ursprünglichen Bewegungen unverkennbare Triebhandlungen; doch sind viele, wie z. B. die Be- wegungen des eben aus dem Ei geschlüpften Hühnchens, zugleich deutlich von einem System komplizierter Mitbewegungen begleitet, die wohl automatisch an die einfachsten Triebäußerungen gebunden sind.

Diese unverkennbare, nur aus den allgemeinen Vererbungs- gesetzen begreifliche Tatsache, daß die Tiere mit einer Menge in der physiologischen Organisation ihres Nervensystems begründeter An- lagen ins Leben treten, hat nun offenbar auch die Hypothese, nach der die Reflexe allgemein den Willenshandlimgen vorausgehen sollen, veranlaßt. Denn diese Hypothese besteht eben in der Verallgemeinerung einer bei der individuellen Entwicklung vorkommenden Gruppe von Erscheinungen und in ihrer Übertragung auf die generelle Entwick- lung. Hierbei ist aber erstens jene Verallgemeinerung in den Tat- sachen selbst nicht begründet: automatische Reflexe treten im Gegen- teil, gegenüber den als ursprüngliche Triebhandlungen zu erkennen- den Bewegungen, bei den frühesten Lebensäußerungen um so mehr zurück, eine je tiefere Stufe in der Reihe der psychophysischen Organi- sation die Tiere einnehmen. Zweitens entzieht man sich durch diesen Versuch, den Reflexen die erste Stelle anzuweisen, jede Möglichkeit, die zweckmäßige, den Endeffekten angepaßte Beschaffenheit der Bewegungen überhaupt zu deuten. Dagegen ergibt sich diese von selbst aus der Natur der Willenshandlungen, die stets nach bestimmten Zweckmotiven erfolgen. Drittens endlich treten uns Erscheinungen einer Mechanisierung triebartiger und sogar willkürlicher Hand- lungen fortwährend im individuellen Leben in den Erfolgen der Übung

48 Die Ausdrucksbewegungen.

entgegen. Die verwickeltsten, ursprünglich nur unter steter Kon- trolle der Aufmerksamkeit ausführbaren Bewegungen können be- kanntlich durch Einübung derartig automatisch werden, daß der Anfang der Handlung die weitere Folge derselben mit mechanischer Sicherheit nach sich zieht, oder daß sogar die ganze Bewegung auf irgendeinen passenden Sinnesreiz hin von Anfang an automatisch ausgeführt wird. Wir haben also nur nötig, diese in der individuellen Entwicklung uns fortwährend begegnende Erfahrung auf die generelle Entwicklung auszudehnen, um die Zweckmäßigkeit der Reflexe be- greif Hch zu finden, während sie für den entgegengesetzten Stand- punkt entweder ein ursprüngliches Wunder bleibt oder auf eine An- sammlung zufälliger Einflüsse, die schließlich doch einen zweckmäßigen Erfolg haben sollen, bezogen werden muß. Dabei schließt aber die letztere Deutung eigentlich wieder die Voraussetzung des Wunders, nur in einer andern Form, ein. Zu erklären freilich, wie die ursprüng- lichen Triebe, das heißt, wie die Empfindungen und Gefühle tierischer Wesen überhaupt entstanden seien, das liegt, wie überall die Nach- weisung der ursprünglichen Elemente der Erfahrung, außerhalb der Grenzen unserer Untersuchung. Denn die fundamentalen psychischen Tatsachen müssen wir ebenso wie die Existenz jener letzten Bestand- teile der Körperwelt, zu denen die Analyse der Naturerscheinungen vorzudringen vermag, als gegeben voraussetzen.

Diese Anerkennung des Gegebenseins der nicht weiter analysier- baren psychischen Elemente schheßt nun aber weiterhin die Not- wendigkeit ein, auch die Zuordnung der Triebe zu bestimmten körper- lichen Bewegungen als eine ursprünglich gegebene zu betrachten. Sie läßt schon deshalb keine Zurückführung auf entferntere Bedingungen zu, weil die primitiven Willensvorgänge überhaupt psychische und körperliche Vorgänge zugleich sind. Jeder Versuch, den einen dieser Faktoren aus dem andern abzuleiten, setzt sich mit dieser Tatsache in Widerspruch: mag das nun in der Weise geschehen, daß man die Seele zuerst wollen und dann gewisse körperliche Aktionen ihres Leibes entdecken läßt, die sie ihrem Wollen dienstbar mache: oder mag es so gedacht werden, daß aus einem Zusammenhang mechanischer Bewegungen, der zufällig zweckmäßig geworden ist, plötzlich ein zwecksetzender Wille entstanden sei. Das erste anzunehmen istun-

Allgemeine Bedeutung der Ausdrucksbewegungen. 49

zulässig, weil die Seele kein den Körper von außen betrachtendes und sich unterwerfendes Wesen ist, sondern mit dem leiblichen Or- ganismus zusammen ein einziges unlösbar verbundenes Ganzes bildet, das nur durch unsere Abstraktion in seine Bestandteile gesondert werden kann. Die zweite Annahme ist unerlaubt, weil hier die Willens- handlungen, die überall in der Welt erst objektive Zwecke zustande bringen, selbst als die Ergebnisse einer ihnen angeblich vorausgehen- den, völlig motivlosen Zwecktätigkeit aufgefaßt werden. Dagegen nimmt die hier vertretene genetische Auffassung allerdings ebenfalls eine den psychischen Zuständen entsprechende, in diesem Sinn also zweckmäßige Bewegungsreaktion als Ausgangspunkt aller tierischen Handlungen an. Doch diese Reaktion kann und muß dabei als eine solche einfachster Art gedacht werden. Gebunden an die niederste, der späteren Differenzierungen noch entbehrende Organisationsform, bedeutet sie die ursprüngliche und darum einfachste psychophysische Zuordnung. Aus ihr sind dann alle verwickeiteren Formen als Er- zeugnisse der in dem obigen Schema (S. 46) veranschaulichten vor- und rückwärts schreitenden Differenzierungen hervorgegangen. Diese selbst aber müssen zugleich als psychophysische Begleiterscheinungen der fortschreitenden organischen Entwicklung betrachtet werden. Damit erfüllt diese Annahme ebenso die Forderung möglichster Ein- fachheit der letzten Voraussetzungen, wie die der Übereinstimmung dieser Voraussetzungen und der aus ihnen abgeleiteten Folgerungen mit der Erfahrung.

Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl.

50

Die Ausdrucksbewegungen.

II. Verhältnis der Ausdrucksbewegungen zu den Gefühlen und Affekten.

1. Einfache Gefühlsformen.

Sind die Triebhandlungen als die ursprünglichen tierischen und menschlichen Handlungen überhaupt und demnach auch als die ur- sprüngHche Art der Ausdrucksbewegungen aufzufassen, so werden nun die wesentlichen Eigenschaften dieser, ebenso wie die Unter- schiede, die sie in ihren verschiedenen Formen darbieten, auf die psychologische Natur der Triebe zurückzuführen sein. Jede Trieb- handlung schließt aber neben mannigfachen Vorstellungselementen einen Gefühlsver- lauf ein, dessen Eigen- schaften für den all- gemeinen Charakter der Handlung bestim- mend sind. Das näch- ste Ergebnis der Ana- lyse eines solchen Ver- laufs ist nun dieses, daß jedes einfache, nicht weiter in ver- schiedene Qualitäten zerlegbare Gefühl einer der drei Hauptdim- ensionen der Lust- und Unlust-, der erregenden und beruhi- genden, der spannenden und lösenden Gefühle angehört. Geo- metrisch können wir uns daher die Gesamtheit dieser Gefühlsformen durch eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit versinnlichen (Fig. 1), deren drei Hauptachsen LU, ED, SR jenen drei Hauptdimensionen entsprechen, während der Durchschnittspunkt / den Indifferenz- oder Nullpunkt andeutet, bei dem das Bewußtsein als gefühlsfrei anzusehen

Fig. 1. Symboliche Darstellung der Hauptrichtungen der Gefühle.

Einfache Gefühlsformen. 51

ist. Von diesem Nullpunkte gehen dann die Hauptrichtungen der Gefühle aus, so daß die von I in der Richtung 1 L gemessene lineare Strecke der Größe eines gegebenen Lustgefühls, die in der Richtung / JJ der eines Unlustgefühls entspricht usw. Im allgemeinen kann aber ein konkretes Gefühl entweder nur einer der sechs Hauptrichtungen, oder es kann gleichzeitig mehreren angehören. Sind die Gefühle von relativ einfacher Beschaffenheit, so pflegen sich Komponenten, die vom Indifferenzpunkte / nach entgegengesetzten Richtungen liegen, z. B Lust und Unlust, auszuschließen. In diesem Fall kann daher die Quali- tät des Gefühls durch einen einzigen Punkt in dem durch die drei Dimensionen LU, SR, ED bestimmten Kontinuum repräsentiert werden. Ist etwa das Gefühl ein reines Lustgefühl, so liegt dieser Punkt auf der Linie IL; besteht es aus einer Lust- und Erregungs- komponente, so liegt er in der Ebene I L E; enthält er eine Lust-, Erregungs- und Lösungskomponente, so wird der Ort des Punktes in dem durch I L E und IRE begrenzten Raum durch die relative Stärke der drei Komponenten bestimmt, usw. Gefühle von komplexer Beschaffenheit, namentlich solche, die in Affekte eingehen, können jedoch wahrscheinlich auch Komponenten von entgegengesetzter Richtung, z. B. gleichzeitig Lust und Unlust, enthalten. Ein kom- plexes Gefühl dieser Art würde dann durch zwei und eventuell durch drei Punkte zu symboHsieren sein, die verschiedenen Orten des Ge- fühlskontinuums entsprechen.

Dieses durch Fig. 1 dargestellte Verhältnis der Hauptrichtungen der Gefühle bezieht sich zunächst nur auf Momentangefühle oder auf Gefühle, die während der betrachteten Zeit hinreichend unverändert bleiben, so daß von ihrem Zeitverlauf abstrahiert werden kann. Solche momentane oder relativ stabile Gefühle haben zugleich die Eigenschaft, daß sie sich nicht oder nur in verschwindendem Grade durch eigent- liche Ausdrucksbewegungen verraten. Um letztere hervorzubringen, dazu gehört stets ein bestimmter Gefühlsverlauf, der dann immer auch mit einem Wechsel der Gefühle, sei es bloß ihrer Intensität, sei es außerdem ihrer Richtung, verbunden ist. In diesen Verhält- nissen liegen die Schwierigkeiten begründet, denen die Untersuchung der reinen Gefühle begegnet. Auch ist ein momentanes Gefühl sub- jektiv schwer in gleichbleibender Beschaffenheit festzuhalten, weil

4*

52 Die Ausdrucksbewegungen.

es entweder zu rasch verschwindet oder in einen Gefühlsverlauf, einen Affekt, übergeht. Die Analyse der Gefühle gehört deshalb zu den meistumstrittenen Aufgaben der Psychologie. Für ihre experimen- telle Untersuchung ergibt sich aber aus den angedeuteten Bedingungen die Regel, daß man zu ihrer Erzeugung nur mäßige Reize anwende. Stärkere Reize erwecken unvermeidlich auch stärkere Gefühle, und diese gehen stets in Affekte über. Ein bei der Verbindung mit auf- merksamer Selbstbeobachtung durch seine wegweisende ' Bedeutung wertvolles Hilfsmittel besteht außerdem in der Untersuchung der physischen Begleiterscheinungen. Sie bestehen bei den reinen Gefühlen nur zum allergeringsten Teil in äußerHch sichtbaren Aus- drucksbewegungen. Bei sehr schwachen und rasch vergänglichen Gefühlen können solche sogar ganz fehlen. Was auch hier niemals zu fehlen scheint, das sind aber Innervationsänderungen des Herzens, der Blutgefäße und der Atmungsmuskeln. Sie bilden daher die empfindlichsten objektiven Erkennungsmittel reiner Gefühlserregungen .

Den einfachsten Bedingungen begegnet nun naturgemäß sowohl die subjektive Beobachtung wie die Analyse der objektiven Begleit- erscheinungen, wenn die durch irgendwelche Sinnesreize erregten Gefühle nur einer der oben unterschiedenen sechs Komponenten angehören, nicht aus irgendwelchen Verbindungen derselben bestehen, wenn sie also in unserer symbolischen Darstellung (Fig. 1) in eine der sechs Hauptrichtungen selbst fallen. Am leichtesten läßt sich dieser Forderung bei den reinen Lust- oder Unlustgefühlen nach- kommen; und besonders eignen sich zu ihrer Erzeugung einfache Geschmacks- oder Geruchsreize. Ein mäßig süßer Eindruck auf die Zungenspitze erweckt ein schwaches, aber unverkennbares und, in der Regel, wie es scheint, unvermischtes Lustgefühl. Ebenso ent- steht durch einen mäßig bitteren, auf den hinteren Teil der Zunge einwirkenden Reiz ein reines Unlustgefühl, das sich nur, wenn der Reiz stärker wird, mit einem erregenden Gefühl zu verbinden pflegt. Bei diesen einfachen Lust- und Unlustformen beobachtet man als regelmäßige Puls Wirkungen, daß der lusterregende Eindruck die Puls- welle verstärkt und verlangsamt, der unlusterregende sie schwächt und beschleunigt, so daß sich also diese physischen Wirkungen ahn-

Einfache Gefühlsformen.

53

lieh gegensätzlich zueinander verhalten wie die Gefühle selbst (Fig. 2 und 3). Viel schwieriger ist es, mit Hilfe äußerer Sinnesreize reine Er- regungs- oder Beruhigungsgefühle von einigermaßen dauernder Be- schaffenheit zu erzeugen. Am ehesten leisten dies Farbeneindrücke. Namentlich Kot und Blau bilden in dieser Beziehung scharf aus- geprägte Gegensätze, Rot als erregender, Blau als beruhigender Ein- druck. Mit beiden kann sich auch ein Lustgefühl oder bei starken Lichtreizen ein Unlustgefühl verbinden. Weniger ungemischt sind wohl die analogen Wirkungen der Tonqualitäten, wo zwar hohe Töne

Fig. 2. Lust. (Bei a h Einwirkung eines sehr angenehmen Geruchs, Menthol,

Lehmann Taf. XLIV B.)

Fig. 3. Unlust. (Schwefels. Chinin, Einwirkung bei 1, Anfang der Geschmacks- empfindung bei 2, Lehmann Taf. XXXI C.)

den erregenden, tiefe den beruhigenden Charakter zeigen, außerdem jedoch teils Assoziationseinflüsse, teils die sonstigen Eigentümlich- keiten der Klangfarbe Nebenwirkungen ausüben. Ferner lassen sich solche Erregungs- und Hemmungswirkungen ziemlich rein bei mäßigen Affektzuständen (Aufregung, Niedergeschlagenheit) wahrnehmen, wo- bei sie sich dann nur durch ihre längere Dauer etwas intensiver ge- stalten. Darum ist wohl auch bei diesen Gefühlsgegensätzen bis jetzt erst in den erwähnten Affektzuständen ein regelmäßiges Zusammen- gehen mit Pulsänderungen beobachtet: die erregende Gefühlswirkung

54

Die Ausdrucksbewegungen.

ist hier mit Verstärkung, die hemmende mit Abnahme der Pulswelle verbunden, ein ähnlicher Gegensatz also, wie er zwischen den Symptomen von Lust und Unlust besteht, jedoch ohne die für diese kennzeichnende gleichzeitige Verlangsamung und Beschleunigung des Pulses (Fig. 4 und 5). Erst bei gesteigerten Erregungs- und Hem- mungszuständen, wie sie bei dem Gefühlsverlauf starker Affekte vor-

Fig. 4. Erregung, nach vorausgehender Unlust und Depression. (Erschreckender Reiz bei 1, Unlust und Depression von a bis b, Erregungskurve von b bis c,

Lehmann Taf. XIX C.)

W

Fig. 5. Depression. (Stark deprimierte Stimmung infolge eines unangenehmen Ereignisses, darunter einige normale Kurven des gleichen Beobachters von einem

andern Tage, Lehmann Taf. X A.)

kommen, pflegt sich die Erregung zugleich in Beschleunigung, die Hemmung in Verlangsamung des Pulses zu äußern. Um schließhch auch das dritte Gegensatzpaar einfacher Gefühle, das der Spannung und Lösung, in möglichster Isolierung zu erwecken, muß man zur zeitlichen Aufeinanderfolge von Eindrücken greifen. Kein Gemüts- zustand enthält so ausgeprägt und unter geeigneten Bedingungen

Einfache Gefühlsformen. 55

SO frei von andern Elementen das Gefühl der Spannung wie die Er- wartung; und ebenso prägt sicli das entgegengesetzte Gefühl der Lösung nirgends so rein aus wie in dem Moment der erfüllten Er- wartung. Wenn man daher Gehörseindrücke nimmt, die hinreichend indifferent sind, etwa die einfachen Taktschläge eines Pendels, und wenn man diese außerdem noch derart regelmäßig einander folgen läßt, daß der gewählte Rhythmus den Spannungs- und Lösungs-

Fig. 6. Spannung. (Nachwirkung eines schwachen Tones, dessen Wiederholung erwartet wird, Spannungskurve von a bis h, Lehmann Taf. XXIX A.)

A

Fig. 7. Lösung. (Unmittelbare Fortsetzung des Versuchs von Fig. 6, von 1 bis 2 Einwirkung des erwarteten Tones, von c bis d Lösungskurve, Lehmann

Taf. XXIX B.)

gefühlen Zeit genug gibt sich zu entwickehi, welche Bedingungen beide bei ziemlich langsam, in 1,5 2 Sek. einander folgenden Ein- drücken am besten erfüllt sind, so kann man diese dritte Gefühls- form in ausgezeichneter Weise und so gut wie ganz losgelöst von an- dern Gefühlsqualitäten beobachten. Der Puls scheint dann bei be- stehendem Spannungsgefühl Verlangsamung und Stärkeabnahme, bei eintretender Lösung der Spannung allmähliche Verstärkung und

56 3)ie Ausdrucksbewegungen.

Beschleunigung der Pulswelle zu zeigen. Die gleichen Erscheinungen lassen sich auch bei unbestimmten, nicht an rhythmische Eindrücke gebundenen Erwartungszuständen beobachten (Fig. 6 und 7). Die Figuren 2 7 enthalten einige den sorgfältigen Untersuchungen Alfr. Lehmanns entnommene Kurvenabschnitte, die das Gesagte verdeut- lichen. Diese Kurven geben die Volumenschwankungen einer Flüssig- keitsmasse wieder, die in einem die Hand wasserdicht umschließenden Beutel enthalten war (sogenannte ,, plethysmographische" Kurven.) Es sind daher bei ihnen neben den Pulskurven auch noch die lang- sameren, von dem wechselnden Kontraktionszustand der Blutgefäße abhängigen Volum- oder vasomotorischen Kurven zu bemerken^). Alle diese Pulssymptome, sowie die sie begleitenden Verände- rungen der Gefäß- und Atmungsinnervation sind, solange es sich um reine Gefühle handelt, unbedeutend und vorübergehend. Sie nehmen dagegen zu beim Übergang in den Affekt; zugleich kommen dann auch Vermischungen der verschiedenen Symptome vor, v/elche die Erscheinungen komplizieren. Unter diesen Komplikationen stehen die Wechselwirkmigen zwischen Atmung und Herzbewegung innerster Linie. Sie machen sich vornehmlich darin geltend, daß die Beschleu- nigung der Atmung auch eine solche des Pulsschlags mit sich führt. Die entsprechende Wirkung in entgegengesetzter Richtung fehlt zwar nicht, aber sie tritt doch seltener hervor. Eine Quelle bedeut- samer Affektsymptome ist ferner die Korrelation, in der in sich kreuzen-

^) Alfred Lehmann, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens, 1892. Die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, I, 1899 (mit einem Atlas plethysmographischer, pneumo- und sphygmographischer Kurven). Zoneff und Meumann, Philos. Studien, Bd. 18, 1903, S. 1 ff. Werner Gent, ebd. S. 715 ff. Da Lehmann noch unter der Voraussetzung arbeitete, daß die einfachen Ge- fühle in die eine Dimension der Lust-Unlust einzureihen seien, so hat er selbst den von ihm gewonnenen Resultaten eine von der obigen abweichende Deutung gegeben. Wichtige Ergänzungen hinsichtlich der Symptomatik der Gefühle im Gebiet der Atmungsbewegungen bieten die Untersuchungen von Zoneff und Meumann, sorgfältige Analysen pneumo- und plethysmographischer Kurven bei Gefühlen und Affekten die Arbeiten von W. Gent. Philos. Stud. Bd. 18, S. 715 ff. Alechsieff, Salow, Drozynski, Rehwoldt, Psychol. Stud. Bd. 3 7. Vgl. zu dem Ganzen meine Physiol. Psychologie ^, II, S. 301 ff., III, S. 191 ff.

Gefühls verlauf der Affekte. 57

den Richtungen die Innervationen des Herzens und der Blutgefäße zueinander stehen. Verstärkte Herzaktion pflegt nämlich mit einer Hemmung des Gefäßtonus, und umgekehrt Hemmung des Herzschlags mit einer Erregung der Konstriktoren der kleinen Arterien verbunden zu sein: dort schafft die durch den Nachlaß des Tonus entstehende Dilatation der Gefäße Platz für die durch die gesteigerte Herzaktion erhöhte Blutwelle; hier folgt die durch die krampfhafte vasomotorische Erregung eintretende Verengerung des Gefäß lumens der Abnahme des Blutdrucks, die durch die Hemmung des Herzens bewirkt wird. Das Erröten im Zorn bei gleichzeitiger heftiger Herzaktion, das Erblassen beim Schreck, bei der Furcht, überhaupt allen übermächtigen Affekten, sind deutliche Symptome dieser kompensatorischen Korrelation, die jedenfalls auf zentrale Innervationsverbindungen zurückzu- führen ist.

2. Gefühlsverlauf der Affekte.

Da jeder Affekt einen bestimmten Gefühlsverlauf darstellt, kein einziges Gefühl aber als ein streng momentaner oder auch als ein konstant in der Zeit andauernder Zustand festgehalten werden kann, so sind ,, reine Gefühle" eigentlich nur Erzeugnisse einer psycho- logischen Abstraktion. Alle wirkHchen Gefühle bilden vielmehr Be- standteile eines niemals ganz zur Euhe kommenden Affektverlaufs, und es läßt sich bei diesem immer nur von einzelnen relativen Ruhe- punkten reden. Verfolgt man nun von solchen Punkten aus die Ge- fühle in die bewegteren Affekte, so kann man nicht zweifeln, daß zwar das so entstehende Zusammenwirken der Gefühle und ihr zeitlicher Ablauf die Intensität und die Verbindung der einzelnen in hohem Grade beeinflussen kann, daß aber niemals aus dem Affekt selbst eigentlich neue Gefühlselemente entspringen. Hieran scheitert denn auch von vornherein die Annahme, alle in dem Verlauf eines Affekts vorkommenden Gefühle seien aus bloßen Lust- und Unlustgefühlen zusammengesetzt, oder alle in Affekten vorkommenden Gefühle, die nicht der Lust und Unlust unterzuordnen sind, entstünden erst infolge der Affekte. Weder auf die eine noch auf die andere Weise läßt sich begreifen, wie solche Gefühle überhaupt entstehen können.

58 Die Ausdrucksbewegungen.

Sollten sie aus den Lust- und Unlustgefühlen hervorgehen, so müßte sich doch nachweisen lassen, daß Erregung und Beruhigung, Spannung und Lösung wirklich mit Lust und Unlust verwandt seien oder min- destens konstante Beziehungen zu diesen angeblich einfacheren Ge- fühlen darbieten. Dem widerspricht aber direkt die Ta'tsache, daß jede jener andern Gefühlsrichtungen sowohl mit einem Lust- wie mit einem Unlustgefühl sich verbinden wie endlich ohne eines dieser Gefühle bestehen kann. Es gibt einen Zustand der Erwartung, bei dem man nichts als ein deutliches Gefühl der Spannung wahrnimmt. Dieses auf bloße Spannungsempfindungen der Haut und der Muskeln zurückzuführen, die allerdings infolge begleitender Muskelerregungen entstehen, geht deshalb nicht an, weil sich solche Spannungsempfin- dungen auch ohne jede Spur eines Erwartungsgefühls hervorbringen lassen, z. B. durch einen Induktionsstrom oder durch eine willkür- liche Innervation der Muskeln. Nicht minder lehrt die Beobachtung, daß sich die Spannungsgefühle bald mit Lust-, bald mit Unlust- stimmungen verbinden können. So ist die lange fortgesetzte un- geduldige Erwartung ein oft bis zur Unerträglichkeit unlustvolles Spannungsgefühl. Die mäßig ansteigende Erwartung dagegen kann, besonders bei rhythmischen Eindrücken, ein lustvolles Spannungs- gefühl sein. Ebenso gibt es Affekte, bei denen das Gefühl der Erregimg mit Unlustgefühlen verbunden ist, wie der Zorn, und andere, bei denen es Lustgefühle begleitet, wie die Freude.

Mißlingt demnach der Versuch, die genannten Gefühlsbestand- teile der Affekte auf einzelne unter ihnen zu reduzieren oder sie in anderweitige Elemente aufzulösen, so läßt sich aber umgekehrt auch die Frage erheben, ob nicht außer ihnen noch weitere Grundformen vorkommen. Ist die Erregung des Zornigen wirklich dasselbe Gefühl wie die des Erfreuten ? Oder sind nicht etwa die bei der Tätigkeit der Aufmerksamkeit, bei den Willenshandlungen, bei den Erinnerungs- und Wiedererkennungsakten, beim gelingenden oder mißlingenden Vollzug eines intellektuellen Prozesses vorkommenden Gefühle sind sie nicht alle wieder ebenso spezifisch verschiedene Qualitäten wie Lust, Unlust, Erregung, Beruhigung usw. ? Nun enthält diese Frage eigentlich zwei Fragen. Erstens: sind die angegebenen sechs die einzigen Hauptrichtungen der Gefühle? Und zweitens: be-

Gefühls verlauf der Affekte. 59

zeichnet jede dieser Richtungen zugleich eine einzige einfache Gefühls- qualität, oder deutet sie nur eine Gefühlsart an, unter der eine Mannigfaltigkeit konkreter Gefühle enthalten sein kann, ähnlich wie unter der Farbe Blau eine Menge einzelner Farbennuancen ver- standen wird? Die große Vergänglichkeit der Gefühle, ihre Verbin- dungen und Verschmelzungen, endhch ihre mangelhafte Unterscheidung in den Benennungen der Sprache machen es nicht leicht, diese Fragen zu entscheiden. Bei unbefangener Prüfung müssen sie aber doch, wie mir scheint, dahin beantwortet werden, daß wirklich diese Haupt- richtungen nicht Individual-, sondern Artbegriffe andeuten, daß sie dann aber auch die einzigen Arten sind, welche vorkommen. Zunächst lassen sich nämlich die verschiedensten konkreten Gefühle, denen man auf den ersten Blick geneigt sein möchte, eine selbständige Stelle anzuweisen, bei näherer Betrachtung auf Modifikationen oder Ver- bindungen jener zurückführen. So dürften die eigentümlichen Er- kennungs- und Wiedererkennungsgefühle bei der Begegnung mit früher wahrgenommenen Gegenständen sowie die oft sehr intensiven Gefühle bei den Vorgängen des Besinnens und Erinnerns aus auf- einander folgenden Spannungs- und Lösungsgefühlen bestehen, mit denen sich in etwas wechselnder Weise Erregungs- und unter Um- ständen, aber keineswegs immer, Lust- und Unlustgefühle verbinden. Die eigentümlichen Gefühle, die dunkel im Bewußtsein vorhandene Vorstellungen begleiten, und durch die sich diese deutlich verraten, während sie selbst doch durchaus unbestimmt bleiben, sind wohl ihrem Hauptcharakter nach Spannungsgefühle, zunächst der Er- wartung verwandt; es ist ihnen aber außerdem der sonstige Gefühls- ton der dunkel perzipierten Vorstellung eigen, durch den jene oft wahrzunehmende Stimmung entsteht, es gebe irgend etwas Angenehmes oder Unangenehmes, das uns widerfahren werde, ohne daß wir doch zu sagen wissen, was dies Angenehme oder Unangenehme sei. Aus einer eigenartigen Verbindung von Spannungs- und Lösungs- mit Erregungsgefühlen erscheint endlich der Willensvorgang zusammen- gesetzt, und zugleich sind hier die verschiedenen Entwicklungsformen der Willenshandlungen durch die verschiedene Intensität und Dauer der Gefühlskomponenten gekennzeichnet. Bei dem einfachen Willens- vorgang oder der Triebhandlung wachsen im allgemeinen das Spannungs-

60 Die Ausdrucksbewegungen.

und das Erregungsgefühl, die der Handlung vorausgehen, rasch an, um dann plötzlich mit dem Vollzug des Willensakts dem meist zu- gleich mit Lust verbundenen Lösungsgefühl Platz zu machen. Bei der Willkürhandlung und besonders bei der Wahl zwischen einander bekämpfenden Motiven befinden sich außerdem jene einleitenden Gefühle in einem oszillierenden Zustand, der wie immer das Schwanken zwischen entgegengesetzten Phasen, die Intensität der Gefühle zu verstärken pflegt. Übrigens zeigt sowohl der Gefühls verlauf der Willenshandlungen wie die Beschaffenheit sonstiger komplexer Ge- fühle und Stimmungen, daß die Erregungs- und Hemmungsgefühle, so oft sie auch mit denen der Spannung und Lösung vereinigt sind, doch von diesen der Art nach abweichen. Denn auch hier können beide Gefühlsformen wieder in wechselnden Verbindungen vorkommen. So ist das Spannungsgefühl bei hochgradiger Er- wartung von Erregung begleitet; aber dieses Erregungsgefühl kann nun bei eintretender Erfüllung, wo das Lösungsgefühl bereits intensiv hervorbricht, noch andauern, ja stärker werden als vorher.

Die drei Grundformen der Gefühle, auf die wir so bei der Ana- lyse der einzelnen Gemütszustände immer wieder geführt werden,, scheinen nun außerdem zu den wichtigsten Eigenschaften des Ver- laufs der Affekte in einer nahen Beziehung zu stehen. Erinnern wir uns nämlich, daß das einzelne Momentangefühl strenggenommen stets eine Abstraktion ist, weil jedes Gefühl Teil eines Gefühlsverlaufs, jeder Gefühlsverlauf aber seinem allgemeinen Wesen nach ein Affekt ist, so ergibt sich, daß in diesem kontinuierlichen Strom der Gefühle jedes Element in dreifacher Weise bestimmt sein kann. Erstens hat der Gefühlsverlauf in jedem AugenbHck einen bestimmten quali- tativen Inhalt. Diese Gefühlsqualität des gegenwärtigen Eindrucks gibt dem Gefühl jene Eigenschaften, die wir den allgemeinen Be- griffen der Lust mid Unlust unterordnen können. Zweitens übt der momentane Bewußtseinszustand immer eine Wirkung auf den nach- folgenden aus, die sich als intensive Erregung oder Hemmung äußern kann: das erstere, wenn die Gefühlskurve vom gegenwärtigen Moment zum folgenden ansteigt, das letztere, wenn sie sinkt. Da sich dieser Unterschied der Schwankungen des Verlaufs dem Vorstellungsinhalte

Gefühlsverlauf der Affekte. 61

des Bewußtseins mitteilt, so pflegt das Gefühl der Erregung zugleich von einem rascheren, dasjenige der Hemmung von einem retardierten Vorstellungswechsel begleitet zu sein. Drittens ist die gegebene Ge- fühlslage durch den unmittelbar vorangehenden Zustand des Bewußt- seins zeitlich bestimmt. Danach kann sich entweder ein voran- gegangener Gefühlsverlauf seinem Abschlüsse zudrängen: dann ent- steht ein Lösungsgefühl; oder es kann sich die Vorbereitung zu einem solchen Abschlüsse vom vorangegangenen Moment auf den gegen-' wärtigen fortsetzen: dann ist ein Spannungsgefühl von verschiedener Stärke vorhanden. So sind es die drei allen psychischen Inhalten gemeinsamen Eigenschaften der Qualität, der relativen Intensität und des Zeitverlaufs, zu denen sich die drei Bestimmungsstücke eines jeden in einen Affekt eingehenden Momentangefühls in Beziehung bringen lassen. Dadurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die nähere qualitative Färbung in jeder dieser Dimensionen noch eine wechselnde sein kann, da sie jeweils von den unendlich variierenden Inhalten des Bewußtseins abhängig ist. Nicht minder kann die Be- stimmtheit in irgendeiner Richtung oder in mehreren gleichzeitig zu Null werden, was der partiellen oder eventuell totalen Indifferenz- lage der Gefühle und damit dem Zustand der Affektlosigkeit ent- spricht. Doch wird dieser Zustand wahrscheinlich nur zuweilen ge- streift.

Wird so jedes Gefühl eigen thch erst in seiner Zugehörigkeit zu einem Gefühlsverlauf oder Affekt in allen seinen Eigenschaften ver- ständlich, so ergibt sich mm hieraus zugleich, daß jene graphische Versinnlichung der Grundformen der Gefühle, wie sie die Fig. 1 (S. 50} zeigt, eine unvollständige ist, weil sie eben nur die momentanen Be- stimmungselemente eines gegebenen Gefühls, nicht dieses in seiner ganzen Zugehörigkeit zu einem konkreten Affekt zum Ausdruck bringt. Wollen wir die letztere Aufgabe irgendwie lösen, also die Veränderungen der Gefühlslage in einer Reihe aufeinander folgender Momente oder gar während der Dauer eines Affekts symbolisch darstellen, so ist dies innerhalb einer einzigen ebenen Konstruktion natürlich nicht mehr möglich, da bereits die Bestimmung der momentanen Gefühlslage ein dreidimensionales Gebilde fordert. Dagegen läßt es sich schon mit Hilfe der Ebene ausführen, wenn wir, wie in Fig. 8, den Affekt-

62

Die Ausdrucksbewegungen.

verlauf in bezug auf die drei Gefülilsdimensionen in drei gesonderten Kurven darstellen, deren Abszissen die Zeiten bedeuten. Hier ordnet sich der einem gegebenen Moment entsprechende Gefühlszustand den ihm vorausgehenden und nachfolgenden Momenten unmittelbar ein, wenn wir die senkrecht übereinander liegenden Punkte der drei Ab- szissenachsen den gleichen Zeitpunkten entsprechen lassen. Es wird dann bei einer solchen Darstellung, gegenüber dem einfachen, von der Zeit abstrahierenden Schema der Fig. 1, zweckmäßig noch die weitere Veränderung vorgenommen, daß man die innerhalb einer und derselben Dimension liegenden Gegensätze, wie Lust und Unlust, durch die Lage des betreffenden Punktes der Gefühlskurve über oder unter der Abszissenlinie der Zeiten ausdrückt. Die positiven Ordi- naten der auf der Linie L L' gezeichneten Kurve bedeuten demnach Lustgefühle, die negativen Unlustgefühle, während die Höhe der Ordinate jedesmal die Intensität des Gefühls mißt, womit dann von

selbst der Punkt, wo die Kurve die Ab- szissenachse schneidet, die Indifferenzlage an- zeigt. Ahnlich können wir durch die Kurve EE' den Verlauf der Erregungs- und Be- ruhigungsgefühle, durch ß 8' den der Spannungs- und Lö- sungsgefühle darstel- len. Der momentane Gefühlszustand in ir- gendeinem Zeitpunkte t wird dann in seiner 21erlegung nach den drei Gefühlsdimensionen durch die drei dem Abszissenwert entsprechenden positiven oder negativen Ordinaten ausgedrückt. Alle drei Kurven zusammen schildern aber einen Affektverlauf in bezug auf seine sämtlichen Gefühlskomponenten und ihre Veränderungen in der Zeit. Die in Fig. 8 gezeichneten

Fig. 8. Beispiel eines Gefühlsverlaufs im Afiekt.

Gefühlsverlauf der Affekte. 63

Kurven würden so beispielsweise dem Vorgang entsprechen, der bei der Erwartung und dem Eintritt eines lusterregenden Eindrucks sich abspielt. Der Prozeß beginnt bei S mit einem allmählich an- steigenden Spannungsgefühl, dem sich nach kurzer Zeit ein Unlust- und ein Erregungsgefühl, beide ebenfalls allmählich wachsend, zu- gesellen. Wirkt in einem Moment f der erwartete Reiz ein, so folgt nun sofort ein Übergang des Spannungs- in das Lösungs-, des Unlust- in das Lustgefühl, während die Erregung noch einige Zeit anhält, um dann auf Null zu sinken und eventuell ebenfalls in ihren Gegensatz, die Beruhigung, überzugehen.

Sucht man in dieser Weise, die subjektive Beobachtung durch experimentelle Versuchsbedingungen unterstützend, Affekte zu ana- lysieren, so ergibt sich, daß für die allgemeinen Typen des Ver- laufs der Affekte nicht, wie für ihre momentanen Gefühlsinhalte, die Lust- und Unlustrichtung, sondern die beiden andern Dimen- sionen, die Erregung und Hemmung, die Spannung und Lösung, von vorwiegender Bedeutung sind. Dies wird verständlich, wenn wir uns an die oben bemerkte Abhängigkeit von den zeitlichen Bedingungen der Gefühle erinnern. So sehr hier für deren unmittelbare Qualität das Lust- oder Unlustmoment von entscheidendem Wert ist, weshalb eben die andern Hauptrichtungen meist ganz übersehen wurden, so sehr müssen, sobald man vom Gefühl zum Affekt übergeht, die- jenigen Momente in den Vordergrund treten, bei denen diese Be- ziehung zum Zeitverlauf die Hauptrolle spielt, während der Lust- und Unlustwert bloß die Bedeutung eines konkreten qualitativen Inhalts hat, der auf die Verlaufsform als solche nur indirekt von Ein- fluß ist. Dabei sind dann weiterhin die Erregungs- und Hemmungs- gefühle hauptsächlich für die eigentlichen Affekte maßgebend, die, ohne daß sie Wirkungen von unmittelbar affekt lösendem Charakter hervorbringen, durch allmähliche Beruhigung des Gefühlsverlaufs endigen. Die alten Einteilungen in exzitierende und deprimierende, sthenische und asthenische Affekte weisen schon deutHch auf dieses Übergewicht der Erregungs- und Beruhigungsgefühle hin. Es würde ja unbegreiflich sein, wie man dazu kam, einerseits Zorn und aus- gelassene Freude, anderseits Schreck und überwältigende Freude jedesmal als Affektformen von übereinstimmendem, beide Arten

64 Die Ausdrucksbewegmigen.

der Freude daher als solche von entgegengesetztem Typus zu betrachten, hätte sich hier nicht dieses für die Affekte und die sie begleitenden Ausdrucksbewegungen überwiegende, den Lust- und Unlustcharakter zurückdrängende Moment der Erregung und Hemmung geltend ge- macht. Übrigens ist es charakteristisch, daß erst der Versuch einer wissenschaftlichen Einteilung der Affekte zu diesen die Verlaufsform in den Vordergrund rückenden Abstraktionen geführt hat, während die Unterscheidungen des gewöhnlichen Bewußtseins, wie sie in den sprachlichen Bezeichnungen niedergelegt sind, auch hier bei den momentanen Gefühlswerten mit ihrer Einordnung in die Lust- und Unlustreihe stehen blieben. Solche Ausdrücke wie exzitierend, de- primierend, sthenisch, asthenisch gehören ausschließlich der psycho- logischen Theorie an. Die Sprache unterscheidet nur Freude, Leid, Kummer, Sorge, Hoffnung, Furcht usw. Der Reichtum, über den die Sprache bei diesen Lust- und Unlustbezeichnungen der Affekte verfügt, indes sie den übrigen Gefühlsrichtungen gegenüber versagt, begünstigte aber auch hier wieder das intellektualistische Vorurteil, das sich der psychologischen Analyse der Gemütsbewegungen so oft bemächtigt hat: man hielt jene Gegensätze der Erregung und Hemmung meist für bloße Unterschiede des Vorstellungsverlaufs und erkannte nicht, daß die letzteren selbst Begleiterscheinungen bestimmter, wohl ausgeprägter Gefühlsqualitäten sind.

Neben den Gefühlen der Erregung und Beruhigung treten so- dann in vielen Affekten auch die Spannungs- und Lösungsgefühle als bedeutsame Elemente hervor. So bei Erwartung, Angst, Furcht, Kummer, Sorge, Hoffnung, Zweifel, Erfüllung, Befriedigung usw. Auch hier hat in der Sprache wieder vorwiegend das Lust- und Un- lustmoment seinen Ausdruck gefunden. Nur in der eigentümlichen Nebenbedeutung, die man schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch diesen Benennungen gegenüber den einfachen Begriffen der Freude und des Leides beilegt, kommen jene Momente der Spannung und Lösung unwillkürUch zur Geltung. Einen entscheidenden Wert be- sitzen sie aber in ihrer eigentümlichen Verbindung mit Gefühlen der Erregung und Beruhigung bei den Willensvorgängen, ein Ver- hältnis, das diese in die unmittelbare Nachbarschaft der Affekte, namentlich der sogenannten Zukunftsaffekte, rückt. Näher betrachtet

Gefühlsverlauf der Affekte. 65

sind sie in der Tat nur eine besondere Klasse der letzteren, die sich von den übrigen durch die den Verlauf abschließende plötzliche Lösung des Affekts unterscheidet. Diese Lösung wird aber bei den ursprüngHchen Willens Vorgängen stets durch eine äußere Körper- bewegung vermittelt.

Durch alle diese Beziehungen gewinnen nun die physischen Begleiterscheinungen der Affekte, die Ausdrucksbewegungen, ihre psychologische Bedeutung. Jeder Affekt ist vermöge jener natür- lichen Einheit der psychophysischen Organisation, die als die nicht weiter empirisch abzuleitende Voraussetzung der physischen wie psy- chischen Lebensvorgänge angenommen werden muß, von Bewegungen begleitet, die seinem Charakter entsprechen. Nennen wir diese be- gleitenden Bewegungen allgemein Ausdrucksbewegungen, so ist es daher nur eine besondere, diesen in gewissen Fällen zukommende Nebenbestimmung, daß sie einen die endgültige Lösung des Affekts bewirkenden Verlauf nehmen; und zugleich ist dies eine Eigentüm- lichkeit, in der sich die Willensbewegungen nur durch ihre besondere Anpassung an den vorhandenen Gemütszustand unterscheiden. Denn alle Ausdrucksbewegungen sind schheßlich auf Wirkungen gerichtet, die zur Lösung des Affekts beitragen. So die Bewegungen des Er- freuten, des Zornigen, des Erschreckten usw. Wenn wir diese Be- wegungen zwecklose nennen, so geschieht dies nur, weil sie den Zweck, den sie sichtlich verraten, und ohne den wir den Charakter des ein- zelnen Affekts gar nicht erkennen würden, nicht in einer die Lösung desselben verwirklichenden Weise erreichen. Nicht einmal dies läßt sich jedoch behaupten, daß sie in diesem Fall für die Lösung ganz ergebnislos seien. Die Bewegungen des Zornigen, des Erfreuten, des Bekümmerten, ja selbst des Erschreckten können immerhin zur Er- mäßigung des Affekts beitragen. Auch können diese Bewegungen, falls nur der Gegenstand des Affekts gegenwärtig ist, unmittelbar in wirkliche Willenshandlungen übergehen. In solchen Fällen pflegen wir dann den ganzen Vorgang bis zu einem bestimmten Punkt als Affekt, und von da an erst als Willensakt zu betrachten. Aber es ist klar, daß diese Scheidung im Grunde willkürHch bleibt. Der Affekt selbst ist eben ein die Willenshandlung vorbereitender Prozeß; und deshalb ist es schließhch nur ein Unterschied der meist durch äußere

Wtindt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^

ßß Die Ausdrucksbewegungen.

Bedingungen bestimmten größeren oder geringeren Vollständigkeit dieses Prozesses, der die eigentlichen Affekte von den Willensvor- gängen scheidet. So steht der Affekt in der Mitte zwischen Gefühl und Willenshandlung, und die Begrenzung gegenüber jenem elemen- taren und diesem komplexeren Vorgang ist, weil sie alle ein einziges, zusammenhängendes Geschehen bilden, niemals streng durchzu- führen. Von dem Gefühl ist der Affekt nicht sicher abzugrenzen, weil jedes Gefühl eigentlich schon Bestandteil eines Affektverlaufs ist. Von der Willenshandlung scheidet sich dieser nur durch die be- sondere physische und psychische Endwirkung der begleitenden Aus- drucksbewegungen. Nehmen wir aber die physiologischen Sym- ptome zu Maßstäben, so lassen sich die einzelnen Gefühle als solche Gemütserregungen definieren, deren physiologische Begleiterscheinungen hauptsächlich auf Veränderungen der Herz-, Gefäß- und Atmungs- innervation beschränkt sind. Bei den Affekten treten dann außerdem Innervationsänderungen der allgemeinen motorischen Nerven hinzu. Bei den in äußeren Handlungen endigenden Willen s- vorgängen führen endlich diese allgemeinen Muskelinnervationen zweckbewußte Bewegungen herbei, welche entweder unmittelbar durch ihre Erfolge die Lösung des Affekts erreichen oder auf diese Lösung abzielen. Die ohne einen solchen äußeren Enderfoig ver- laufenden Willensvorgänge aber, die sogenannten ,, reinen inneren Willenshandlungen", sind nicht primäre Formen, sondern sekundäre Entwicklungsprodukte .

3. Innervation der Ausdrucksbewegungen.

Wie jene Innervationsänderungen des Herzens und der Blut- gefäße, welche die einfachen Gefühlsregungen begleiten, lediglich als Symptome der psychologischen Natur dieser Vorgänge anzu- sehen sind, so ist das nicht anders bei den eigentlichen Ausdrucks- bewegungen, die als Teilerscheinungen der Affekte auftreten. Auch hier läßt sich daher streng genommen nur von einer regelmäßigen Beziehung gewisser psychischer Vorgänge zu ihrer physischen Äußerung,

Innervation der Ausdrucksbewegungen. 67

nicht von einem im eigentlichen Sinne kausalen Verhältnis reden. Der Affekt und die Ausdrucksbewegung samt den ihr vorausgehen- den Innervationen sind eben in Wahrheit nur Bestandteile eines und desselben Vorgangs, die verschiedenen Formen oder, wenn man will, Standpunkten unserer Erfahrung angehören. Sie lassen deshalb nur Beziehungen regelmäßiger Koordination, aber kein wirkliches Ver- hältnis von Grund und Folge erkennen. Immerhin wird man gemäß dieser Koordination erwarten dürfen, daß den allgemeinsten for- malen Eigenschaften der Affekte analoge, wenn auch nach ihrem realen Inhalt unvergleichbare Eigenschaften ihrer physischen Be- gleiterscheinungen entsprechen. Namenthch in zwei Beziehungen ist eine solche formale Analogie nach dem Prinzip des psychophysischen Parallelismus vorauszusetzen. Erstens weist der enge Zusammen- hang der subjektiven Affekte mit ihren äußeren Erscheinungsformen darauf hin, daß die physischen Symptome des gesamten Gefühls- lebens von einem einheitlichen Zentrum aus reguliert werden, welches den zum Teil weit auseinander liegenden direkten Innervationsherden übergeordnet ist. Zweitens legt der Umstand, daß sich die Inner- vationsprozesse der Gefühls- und Affektsymptome, ebenso wie die Gefühle und Affekte selbst, zwischen Gegensätzen bewegen, die An- nahme nahe, daß sich in diesem Fall ein psychophysischer Parallelis- mus irgendwelcher Art auch auf diese Gegensätze erstrecken werde.

Die erste dieser Folgerungen führt auf ein physiologisches „Zentral- organ der Gefühle". Natürlich kann jedoch in diesem Zusammen- hang von einem ,, Organ" nur in demselben Sinne geredet werden, wie dies bei dem Gehirn überhaupt den psychischen Funktionen gegen- über möglich ist: nicht in dem gleichen Sinne nämlich, in dem wir irgendeinen Körperteil als Organ bestimmter physischer Funktionen betrachten, den Muskel z. B. als Organ der mechanischen Arbeits- leistung, sondern in der Bedeutung jener oben berührten Koordi- nation, wonach ein bestimmter Gehirn teil nur Organ der physischen Teilvorgänge ist, die in einen psychophysischen Vorgang eingehen. Demnach schheßt die Bezeichnung ., Organ", auf die psychischen Prozesse angewandt, eine Ergänzung des wirklichen Kausalglieds durch ein anderes ein, welches der an sich abweichenden physiolo-

68 Die Ausdrucksbewegungen

gischen Betrachtungsweise angehört. Wenn wir uns zu dieser Sub- stitution gerade bei der Physiologie des Gehirns beinahe regelmäßig genötigt sehen, so erklärt sich dies hinreichend daraus, daß die phy- siologische Seite der Erscheinungen hier vorläufig noch so gut wie unbekannt ist, während wir die psychologische aus der unmittel- baren Erfahrung kennen. Freilich ersieht man hieraus zugleich, auf einem wie gänzlich verkehrten Wege sich jene immer wieder auf- tauchenden Versuche befinden, die aus den physiologischen oder gar den anatomischen Verhältnissen des Gehirns eine Theorie der psychischen Funktionen gewinnen möchten. Gerade der umgekehrte Weg ist der einzig mögliche : nur die Analyse der psychischen Funk- tionen selbst kann hier der physiologischen Untersuchung als Führerin durch das allmählich zu lichtende Dunkel der Nervenprozesse und durch das Labyrinth der Leitungswege zwischen den verschiedenen Zentren dienen. In vielen Fällen sind wir aber leider noch ganz darauf angewiesen, überhaupt nur auf Grund der psychischen und psycho - physischen Funktionsbeziehungen Zentren und Leitungswege zu postulieren, für die uns das anatomisch-physiologische Bild des Gehirns vorläufig keine oder nur zweifelhafte Anhaltspunkte bietet. Wenn man nun die engen Beziehungen ins Auge faßt, die zwischen den ver- schiedensten Gefühlen und Affekten bestehen, und die in der oben erörterten Einordnung in eine und dieselbe Mannigfaltgkeit allgemeiner Gefühlsrichtungen ausgedrückt sind (S. 62), so kann man sagen: hier machen die psychologischen Tatsachen ebensosehr ein einheit- liches physiologisches Substrat wahrscheinHch, wenn sich umgekehrt bei den Sinnesempfindungen, schon bevor man die abweichenden Leitungswege der Sinnesnerven kannte, gesonderte Sinneszentren der Vermutung aufdrängten. Aber wo liegt ein solches ,, Gefühls- zentrum" ? Und wie führen die Wege, die von ihm aus den Zusammen- hang der Gefühle und Affekte mit den verschiedenen Formen der Ausdrucksbewegungen vermitteln? Beide Fragen sind nicht mit Sicherheit zu beantworten. Wir wissen nur, daß es solche Wege geben muß; und wir entnehmen hauptsächlich daraus, daß es bei den ver» schiedensten Gemütsbewegungen die nämlichen Leitungswege sind, die in Anspruch genommen werden, die Vermutung, das ,, Gefühls- zentrum" selbst sei ein einheitliches Organ. Fragen wir aber nach den

Innervation der Ausdrucks bewegungen. 69

Beziehungen dieses Organs zu andern Zentralteilen, so sind es wiederum nur psychologische Zusammenhänge, aus denen auf die physiologischen zurückzuschließen ist. Das Gefühl ist, im Unterschiede von den ob- jektiven Vorstellungen, ein einheitHcher Zustand, in welchem das Verhalten des Subjekts zu den Objekten seinen Ausdruck findet» Diese unmittelbare Beziehung auf das Subjekt legt die Annahme nahe, das ,,Gefühlszentrum" sei mit dem allgemeinen Substrat der Verbindung aller Bewußtseinsvorgänge oder, wie wir dies für die letzte Zentralisierung der psychophysischen Prozesse zu postulierende Ge- biet nennen, mit dem „Apperzeptionszentrum" identisch. Nun liegen die nächsten Innervationsherde des Herzens, der Blutgefäße, der Atmung, der mimischen und der pantomimischen Bewegungen un- weit voneinander im verlängerten Mark, und sie sind durch mannig- fache sekundäre Leitungsbahnen zu koordinierten Wirkungen ver- bunden. Als ein Zentrum, das den verschiedenen Sinnes- und Be- wegungszentren übergeordnet ist, da es mehr als irgendein anderer Teil der Hirnrinde von diesen direkten Zentren her Fasern aufnimmt, ist aber vermutlich der Teil der Hirnrinde anzusehen, der bei dem Menschen der Stirnregion entspricht^ Läßt man diese Annahme zu, so würde dann eine, sei es direkte, sei es irgendwie durch Zwischen - Zentren imterbrochene Bahn zwischen diesem Apperzeptionszentrum und den unmittelbaren Zentren bestimmter Bewegungsorgane die hypothetische Grundlage der physiologischen Gefühls- und Affekt- äußerungen sein. Diese Voraussetzungen müssen aber noch durch weitere physiologische Annahmen ergänzt werden, sobald man auch dem speziellen Parallelismus zwischen dem Gegensatz der Gefühls- richtungen und den gegensätzlichen Erscheinungsformen der Inner- vation gerecht werden will. Freilich wird man hier bei den physischen Symptomen von vornherein nicht dieselbe qualitative Mannigfaltig- keit erwarten, wie sie uns in den psychischen Inhalten der Affekte entgegentritt. Der Begriff eines gleichartigen, bloß in den Bewegungs- formen seiner Elemente unterschiedenen Substrats, den wir für die physische Seite der Lebenserscheinungen festhalten müssen, führt vielmehr auch hier die Forderung mit sich, daß den qualitativen Eigen- schaften quantitative physische Relationen entsprechen. In der Tat gilt ja schon auf Grund der physikalischen Analyse der

70 Die AuBdrucksbewegungen.

Satz, daß den Unterschieden der Form und Geschwindigkeit objek- tiver Schwingungsvorgänge, wenn sie einen bestimmten, von der besonderen Organisation der Sinneswerkzeuge abhängigen Grad er- reichen, Modifikationen qualitativer Art innerhalb der reinen Emp- findungen zugeordnet sind. Wenden wir diesen Gesichtspunkt auf die Gefühlsvorgänge an, so kann demnach nicht erwartet werden, daß man die Grundqualitäten der Gefühle in den begleitenden phy- siologischen Vorgängen unmittelbar wiederfinde; sondern es kann sich nur um eine Korrespondenz in jenem weiteren Sinne handeln, in dem einem einfachen qualitativen Gefühlsunterschied sehr kom- plexe, aber nicht minder charakteristische Unterschiede der Inner- vation entsprechen mögen. Einen deutlichen Maßstab für dieses Ver- hältnis geben uns hier gerade die äußerlich sichtbaren Wirkungen der an die Gefühle und Affekte gebundenen Innervationen. Lust, Unlust usw. sind, als Gefühle betrachtet, für uns unanalysierbare Qualitäten. Aber ihre an den mimischen Muskeln des Mundes her- vortretenden Ausdrucksformen sind im allgemeinen von höchst zu- sammengesetzter Beschaffenheit. Dennoch treten sie insofern in ein den Gefühlen analoges Verhältnis, als einzelne Bewegungen bei Lust und Unlust, bei Erregung und Hemmung, bei Spannung und Lösung entgegengesetzte Richtungen zeigen. So wird der Mundwinkel bei Lustgefühlen aufwärts, bei der Unlust abwärts gezogen. So sind bei der Erregung die mimischen und pantomimischen Bewegungen leb- hafter, bei deprimierter Stimmung sind die mimischen Muskeln er- schlafft. Die Spannmig als Gefühl ist auch physisch mit verstärkten Spannungen der Antlitzmuskeln, die Lösung mit einem plötzlichen Nachlaß dieser Spannungen verbunden usw. Dabei lassen sich die Erscheinungen keineswegs dem einfachen Schema eines überall gleich- förmig wiederkehrenden Gegensatzes räumlicher Richtungen, Ge- schwindigkeiten und Energien unterordnen, sondern infolge der ver- wickelten Zusammensetzung der psychophysischen Zustände können Bewegung und Ruhe, Spannung und Erschlaffung sowie verschie- dene Richtungen der Bewegung bei einer und derselben Ausdrucks- form nebeneinander und über verschiedene Muskelgruppen verteilt vorkommen. Allgemein gilt daher nur, daß die Ausdrucksbewegungen hinreichend verschieden sind, um in unserer Gesamtauffassung als

Innervation der Ausdrucksbewegiingen. 71

gegensätzliclie Symptome zu gelten und sich so mit Gegensätzen der Gefühle selbst fest zu assoziieren. Diesem Verhältnis der äußeren Bewegungen muß aber notwendig das der zentralen Innervationen entsprechen.

Innerhalb dieser Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gibt es einen Punkt, bei dem sich jene allgemeine Korrespondenz begleiten- der Unterschiede zu einer bestimmteren Analogie verdichtet, einen Unterschied der Innervationen nämlich, der zugleich die Bedeutung eines vollkommenen Gegensatzes hat. Dies ist der physiologische Gegensatz der Erregung und Hemmung. Er ist wahrscheinlich in gewissen allgemeinen funktionellen Eigenschaften der nervösen Substanz vorgebildet. In den für die zusammengesetzten Inner- vationswirkungen maßgebenden Formen scheint er jedoch überall erst infolge der Dazwischenkunft zentraler Elemente zustande zu kommen, wo er vielleicht mit der verschiedenen Verbindungsweise leitender Fasern und zentraler Gebilde zusammenhängt^). Die über- sichtlichsten Verhältnisse bietet in dieser Beziehung die Herzinner- vation. Denn es sind im Herzen selbst liegende zentrale Elemente, die je nach der Art, wie ihnen von den höheren Zentralorganen aus die Reize zufließen, entweder erregend oder hemmend auf die Herz- bewegungen wirken. Da, soviel wir wissen, der Reizungsvorgang in den leitenden Nerven selbst überall ein gleichartiger ist, so kann die erregende oder hemmende Wirkung in diesem Fall nur in der Art begründet sein, wie die Reizung auf jene Elemente einwirkt, die sich im Herzen selber befinden. Hierbei sondert sich aber diese doppelte Art der Innervation deshalb deuthch für unsere Beobachtung, weil die Nervenbahnen, die erregende und hemmende Wirkungen auf das Herz übertragen, zumeist in getrennten Nervenstämmen verlaufen: die erregenden in den mit dem Sympathikus zum Herzen tretenden Fasern, die jenem in den Rückenmarksnerven des sympathischen Geflechts zufließen; die hemmenden in den dem zehnten Himnerven.

^) Vgl. die Erörterung der hier möglichen Vorstellungsweisen in meinen Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren, II, 1876, S. 113 f., und Grundzüge der physiol. Psychologie «, I, S. 127 ff., dazu das von O. Dittrich entworfene allgemeine Schema, Grundzüge der Sprachpsychologie, I, 1903, S. 444 Anm., und Atlas Fig. 77.

72 Die Ausdrucksbewegungen.

(Nervus vagus) angehörenden Herznerven. Zugleich ist bemerkens- wert, daß sich die Hemmungsnerven in einem Zustand dauernder, sogenannter ,, tonischer" Reizung befinden, wie wir aus der infolge der Durchschneidung beider Vagusnerven bei Tieren eintretenden Beschleunigung des Herzschlags schließen müssen. An den Erregungs- nerven des Sympathikus läßt sich dagegen auf ähnlichem Wege keiner- lei tonische Reizung nachweisen. Daß nun die Zentren oder Nerven- kerne dieser beschleunigenden und hemmenden Herznerven ihrer- seits wieder mit noch höher gelegenen Zentralteilen in Verbindung stehen, ist schon im Hinblick auf die bald beschleunigenden, bald hemmenden Wirkungen, welche die Gefühle und Affekte auf den Herzschlag ausüben, jedenfalls im höchsten Grade wahrscheinlich. Im Sinne der oben über die Zentren der Gefühlsinnervation gemachten Voraussetzungen wird dabei vor allem wieder an das ,, Apperzeptions- zentrum" zu denken sein. Abgesehen von dieser Verbindung zusammen- gehöriger Innervationen zeigt es sich aber auch hier, daß schon bei einfachen psychischen Vorgängen die korrespondierenden physischen Erscheinungen von sehr verwickelter Natur sind. Gibt es doch schlech- terdings keine einfache Affektform, der nicht eine höchst zusammen- gesetzte, eventuell aus verschiedenen Erregungen und Hemmungen bestehende Innervationswirkung entspräche. Außerdem zwingen uns die physischen Symptome anzunehmen, daß Innervationen ver- schiedener Zentralgebiete interferieren und infolgedessen, je nach den Bedingungen der Leitung, bald gleichzeitige Vorgänge sich ver- stärken, bald aber auch Erregungs- in Hemmungs- und Hemmungs- in Erregungswirkungen übergehen können. So läßt der Herzstillstand des Schrecks auf eine in dem Vaguszentrum ausgelöste starke Er- regung schließen, die dann in den Zentren des Herzens selbst in eine Hemmungsinnervation übergeht. Die Wirkung, die wir bei einfachen Lustgefühlen beobachten, Verlangsamung und gleichzeitige Ver- stärkung der Herzschläge, läßt sich durch eine mäßige Vagusreizung hervorbringen; umgekehrt können wir die als Unlustsymptom ein- tretende Beschleunigung und Verminderung der Pulse durch eine Herabsetzung der normalen Dauererregung deö nämlichen Nerven erzielen usw. Bedenkt man nun, daß bei den Gefühls- und Affekt- wirkungen die entsprechenden Einflüsse mutmaßlich direkt dem

Innervation der Ausdrucksbewegungen. 73

Yaguszentrum im verlängerten Mark zugeleitet werden, so führt dies zu der Annahme, ähnlich wie im Herzen selbst hemmende und er- regende Verbindungen mit dessen Muskelfasern vorhanden sind, so könne der Vaguskern im verlängerten Mark ebenfalls von den ihm aus den höheren Hirnteilen zugeleiteten Fasern erregende und hemmende Keizwirkungen empfangen^).

Wie das Herz vom Vagus aus unter einer dauernden zentralen Innervation steht, so sind nun im allgemeinen auch die äußeren Muskeln unseres Körpers dauernd in einem geringen, nach den besonderen Bedingungen der Raumlage der Körperteile variierenden Grad inner- viert. Im Unterschied von den Verhältnissen der Herzerregung führt ^ber hier die Dauerinnervation nicht zu einer Beeinflussung rhyth- mischer Bewegungs Vorgänge, sondern sie äußert sich als ein stetig andauernder Einfluß auf die Muskeln: diese befinden sich in einer geringgradigen dauernden Spannung, einer tonischen Erregung. Hierbei ist die letztere in ihrer Größe, abgesehen von sonstigen zen- tralen Bedingungen, von den stattfindenden dauernden Sinnes- erregungen abhängig, wie sich daraus ergibt daß der Tonus der Muskeln einer Körperprovinz nachläßt, wenn man die von dem zugehörigen Hautgebiet kommenden sensibeln Nerven durchschneidet. Außer- dem scheint es, daß die relative Stärke der tonischen Erregungen verschiedener Körperteile nach der Raumlage der Organe reflek- torisch reguliert wird. Ihre Verteilung über die Flexoren und Exten-

^) Die nach dem Zusammenhang der physischen Symptome mit psy- ■chischen Zuständen zu postulierenden Verbindungen mit höheren Zentren müssen übrigens, wie hier nebenbei bemerkt sei, noch durch ein weiteres System von Leitungsbahnen ergänzt werden, das, nach seinen Wirkungen jenem analog, in psychophysischer Beziehung insofern eine wesentlich an- dere Bedeutung hat, als es mit den Gefühls- und Apperzeptionszentren nicht in Beziehung steht. Zu der Annahme eines solchen Systems zentraler Verbindungen von rein physiologischer Bedeutung, also, nach dem oben (S. 44) aufgestellten Begriffe des Reflexes, von bloßen Reflexbahnen, nötigt nämlich die Tatsache, daß irgendwelche Reize auf zentripetal verlaufende Nerven auch dann bald erregende, bald hemmende Wirkungen auf die Herzbewegungen ausüben können, wenn jene Reize gar nicht als Empfin- dungen und Gefühle zum Bewußtsein kommen. Wahrscheinlich sind es ebenfalls die Nervenkerne des verlängerten Markes, in denen diese Reflexbahn sich schließt.

74 Die Ausdrucfesbewegungen.

soren der Glieder z. B. hängt wesentlich davon ab, ob wir sitzen, stehen oder liegen, und welche besondere Lage wir in jedem dieser Fälle annehmen. Besteht in dieser genauen Regulierung der relativen tonischen Erregungen nach den Sinneseindrücken, die offenbar sehr vollkommene zentrale Anpassungsvorrichtungen verlangt, schon eine erhebliche Verwicklung der äußeren Muskelwirkungen, so liegt noch eine weitere in der Verteilung der Innervationen über eine große An- zahl von Muskeln. Hier sind wieder vorzugsweise die antagonistisch wirkenden durch besondere zentrale Verknüpfungen einander an- gepaßt, derart daß der Zunahme des Tonus einer gegebenen Muskel- gruppe regelmäßig eine Abnahme bei ihren Antagonisten zu ent- sprechen pflegt^). Diese Verhältnisse führen zu dem Schluß, daß jener doppelten Regulierung des Tonus auch hier eine doppelte Inner- vation entspricht, die den beiden Bestandteilen der Herzinnervation gleicht, indem die eine eine Zunahme, die andere eine Abnahme des Tonus herbeiführt, daher jene wieder als die erregende, diese als die hemmende bezeichnet werden kann. Der Unterschied vom System des Herzens liegt nur darin, daß in den Muskeln selbst keinerlei Um- wandlung der zugeführten Nervenreize in Erregungs- oder in Hem- mungswirkungen möglich ist, sondern daß diese schon im Zentral- organ stattfindet. In den peripheren Nervenleitungen sind daher überhaupt nur solche Fasern anzutreffen, deren Reizung Muskel- erregung bewirkt. Dagegen scheinen in den Nervenzentren getrennte Leitungen zu verlaufen, die in den im Gehirn und Rückenmark ge- legenen Muskelzentren je nach den besonderen Bedingungen bald Steigerimg, bald Herabsetzung des Tonus auslösen. Wie die Nerven- keme des Vagus und Akzelerans, so müssen aber auch diese Tonus- zentren schon in Anbetracht der Gefühls- und Affektsymptome noch mit höheren Zentralgebieten, vor allem mit dem ,, Apperzeptions- zentrum", in Verbindung stehen, von wo ihnen bald erregende bald

^) H. E. Hering und C. S. Sherrington, Über Hemmungen der Kontrak- tion willkürlicher Muskeln bei elektrischer Reizung der Großhirnrinde, Pflüger» Archiv für Physiologie, Bd. 68, 1897, S. 222 ff. Sherrington, Über das Zusammen- wirken der Rückenmarksreflexe usw. Ergebnisse der Physiologie, Bd. 4, 1905, S. 797 ff.

Innervation der Ausdrucksbewegungen. 75

hemmende Wirkungen zuströmen. Betrachten wir einen gewissen mittleren Tonusgrad als neutralen Ausgangspunkt, der zugleich der Indifferenzlage der Gefühle entspricht, so kann daher von diesem Punkte aus in vierfacher Weise eine Innervationsänderung ein- treten: erstens als dauernde Erhöhung des Tonus, zweitens als Ab- nahme desselben, drittens als vorübergehender Kontraktionsvor- gang, viertens als plötzliche Hemmung tonischer Erregungen. Bedenkt man, daß diese vier Innervationen in der verschiedensten Weise kom- biniert und über eine große Zahl von Muskelgruppen verbreitet neben- und nacheinander vorkommen, so gibt dies eine schwache Vorstellung von der unabsehbaren Komplikation der zentralen Vorgänge, die einer einzelnen Ausdrucksbewegung zugrunde liegen. Auch wird diese KompHkation nur wenig dadurch vereinfacht, daß die genannten vier allgemeinen Erregungsformen wieder auf zwei zu reduzieren sind: auf Erregung und Hemmung, die nur je nach Umständen dauernd, tonisch oder in der Form eines plötzlichen, rasch vorübergehenden Impulses, als Kontraktion oder Lähmung^ zur Erscheinung kommen.

Am größten ist diese Komplikation sichtlich bei den mimischen Ausdrucksbewegungen. Sie ergibt sich hier schon aus Beobachtungen, die man bei der peripheren elektrischen Reizung einzelner Bündel der beim Mienenspiel wirksamen Muskeln machen kann. Solche Ver- suche wurden zuerst von Duchenne de Boulogne ausgeführt^). Er variierte und kombinierte die Angriffspunkte der Eeize so lange, bis es ihm geglückt war, diejenige Ausdrucksform zu erzeugen, die einer bestimmten seelischen Stimmung, wie der Freude, dem Mißbehagen, dem Kummer, der Sorge usw., entsprach. Die so gewonnenen Er- gebnisse zeigen deutlich, daß es kaum eine Ausdrucksform gibt, an der irgendein einzelner Antlitzmuskel mit allen seinen Fasern gleich- mäßig beteiligt wäre; daß es dagegen in vielen Fällen nur ein eng begrenzter Faserzug innerhalb eines größeren Muskelganzen ist, der durch seine Zusammenziehung einem bestimmten Gesichtsausdruck sein charakteristisches Gepräge verleiht. Gleichwohl ist es der eine

^) Duchenne de Boulogne, M^canisme de la Physiognomie humaine, 1862.

76 Die Ausdrucksbewegungen.

Nervenstamm des Fazialis, von dem aus die sämtlichen Antlitzmuskeln innerviert werden. Die von den direkten Nervenkernen des Fazialis sowie von den höheren Zentren ausgehenden Innervationen können also in der feinsten Nuancierung auf einzelne Fasern des Nerven be- schränkt sein; sie können aber nicht minder auch räumlich getrennte Fasern zu gemeinsamer Aktion verbinden. Insbesondere müssen für die Nerven beider Seiten solche Einrichtungen gemeinsamer Aktion existieren, die gleichwohl in bestimmten Fällen außer Wirksamkeit treten können, um eigenartige mimische Ausdrucksformen, wie z. B. die der Verachtung, des Argwohns und ähnlicher Gemütsstimmungen von zwiespältigem Charakter, hervorzubringen. Dächte man sich, diese ganze Fülle teils tonischer, teils vorübergehender Erregungen samt den namentlich bei gewissen Affekten noch hinzutretenden Hemmungserscheinungen sollte willkürlich in dieser Weise verteilt und abgestuft werden, so würde schon der einfachste Affektausdruck ein Zusammenspiel zahlreicher, alle wieder einem herrschenden Willen gehorchender Einzelkräfte fordern, dem höchstens die Ausführung eines symphonischen Kunstwerks von verwickeltstem kontrapunk- tischem Aufbau durch ein wohlgeschultes Orchester verglichen wer- den könnte. Nur werden jene natürlichen Ausdrucksformen der Ge- fühle meistens überhaupt nicht willkürlich hervorgebracht, oder, wo dies der Fall sein sollte, da sind sie bloß in gewissen Endwirkungen, niemals in den einzelnen Bestandteilen und Hilfsmitteln dieser Wir- kungen gewollt. Bei den sonstigen Ausdrucksformen, so namentlich bei dem Gebärdenspiel der Arme und Hände, ist zwar, der verhält- nismäßig roheren Muskelanordnung gemäß, die isolierte Beweglich- keit einzelner Faserbündel nicht zu gleich hoher Vollendung aus- gebildet; die Kombination der Bewegungen bleibt aber auch hier von gleichem unübersehbarem Reichtum, und die größere Unab- hängigkeit der symmetrischen Organe beider Körperhälften von- einander erhöht in diesem Falle noch die Mannigfaltigkeit der Er- scheinungen. Zu welch unendlicher Verwicklung gestaltet sich vollends dieses Spiel der Innervationen, wenn man der Verbindungen gedenkt, in die mimische und pantomimische Bewegungen untereinander treten können! Besonders, wenn man erwägt, daß beinahe jede Ausdrucks- form nach ihren psychophysischen Bedingungen wieder eine drei-

Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. 77

fache Bedeutung haben kann: die des automatischen, ohne jede Be- teihgung des Bewußtseins auftretenden Reflexes, die der einfachen Triebbewegung, endlich die der willkürlichen Handlung Formen, die sich dann noch mannigfach miteinander verbinden, weil Willens- handlungen stets zugleich von eingeübten automatischen Mitbewegungen begleitet werden. Immerhin zeigt diese verschiedene psychophysische Bedeutung, die eine und dieselbe Ausdrucksform haben kann, daß mannigfaltiger noch als das Spiel der äußeren Erscheinungen die innere Mechanik der Innervationen selbst ist. Kann doch jede ein- zelne Bewegung aus verschiedenen Formen des Zusammenwirkens hervorgehen, indem bald nur die nächsten Nervenzentren, bald kom- plizierte Reflexzentren, bald endlich die höheren Zentralgebiete daran beteiligt sind. So bilden überhaupt die spezifischen mimischen und pantomimischen Symptome eines einzelnen Affekts eigentlich über- all nur einen besonders charakteristischen und deutlich sichtbaren Ausschnitt aus der Fülle der Ausdrucksbewegungen, die den Affekt begleiten, und an denen sich in der wechselnden Erhöhung oder Ver- minderung der tonischen Muskelspannungen nahezu alle Muskel- gebiete beteiligen können. Wie der Affekt selbst das ganze Gemüt ergreift, so ist schließlich der ganze Körper der Träger seiner Aus- drucksbewegungen ^).

4. Sensorisehe Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen.

Die, sobald wir an eine elementare Analyse der Funktionen denken, unabsehbar werdende Verwicklung der Innervationen erfährt noch eine letzte Steigerung durch eine meist vernachlässigte, aber nichts- destoweniger auch für die psychologische Seite der Erscheinimgen überaus wichtige Wechselbeziehung sensorischer und motorischer Vorgänge. Sie hat darin ihre Grundlage, daß der gesamte Bewegungs-

^) Sehr bezeichnend für den Zusammenhang der Stellungen und Be- wegungen der Körperteile mit dem Charakter der Affekte und insbesondere auch der dauernden Affektrichtungen sind in dieser Beziehimg die Beobach- tungen des Gesangslehrers Josef Rutz, herausgegeben von Dr. Ottmar Rutz, Neue Entdeckungen von der menschlichen Stimme, 1908.

78 Die Ausdrucksbewegungen.

apparat des Körpers zugleich dem allgemeinen Tastsinne zu- gehört, indem die bewegten Organe der Sitz jener „inneren Tast- empfindungen" sind, die, in ihrer Qualität den äußeren Druckemp- findungen verwandt, durch ihre Intensitätsänderungen, sowie durch ihre mannigfach nuancierte Verteilung über verschiedene Muskel- gruppen ein System wechselvoller und fein abgestufter Empfindungen abgeben. Dieses entspricht nun auf das genaueste dem System der Ausdrucksbewegungen, so daß jeder noch so leisen Veränderung der letzteren eine entsprechende Veränderung jener Spannungs- und Tastempfindungen parallel geht. Wie daher eine Ausdruck:sbewegung primär einem bestimmten psychischen Affekte zugeordnet ist, so sind sekundär die Spannungs- und Tastempfindungen fest mit be- stimmten Ausdrucksbewegungen assoziiert. Nach dem allgemeinen Prinzip der Assoziation gleichzeitig geübter Funktionen verbinden sich aber mit den inneren Tastempfindungen wieder die primären psychischen Zustände, deren physische Symptome ursprünglich die Ausdrucksbewegungen waren. So ist z. B. ein unangenehmer bitterer Geschmacksreiz, sowie jeder in seiner allgemeinen Gefühlsqualität mit einem solchen Geschmackseindruck übereinstimmende Unlust- affekt durch einen Komplex mimischer Bewegimgen gekennzeichnet. Wenn wir nun die nämliche Bewegung des ,,bitteren" mimischen Ausdrucks ohne den begleitenden Gefühlszustand, etwa willkürlich oder durch elektrische Reizung der entsprechenden mimischen Muskeln, hervorbringen, so entsteht die gleiche zusammengesetzte Spannungs- empfindung, die bei der Affekterregung des Ausdrucks beobachtet wird. Aber nicht bloß dies: es entsteht auch eine Gefühlsstimmung, die der Affektgrundlage der Ausdrucksbewegungen verwandt ist. Sie ist zunächst schwach, jedoch, wenn die Bewegung des öfteren wiederholt wird, kann sie sich beträchtUch steigern. Auch wird sie besonders dadurch verstärkt, daß die konkrete Richtung der ein- geleiteten Assoziation bestimmte unlustbetonte Vorstellungen wieder- erweckt. Natürlich kommen nun solche sekundäre Assoziationen auch dann zustande, wenn der Ausgangspunkt der Erscheinungen ein wirklicher Affekt ist; nur daß in diesem Fälle die Disposition zu bestimmten Gefühlserregungen noch günstiger liegt und daher ener- gischer in Wirksamkeit tritt. So erklärt sich die bekannte Erschei-

Sensorische Rückwirkungen der Ausdrucksbewegungen. 79

nung, daß nichts mehr geeignet ist, Affekte und Leidenschaften zu steigern, als der ungehemmte Erguß derselben in äußeren Hand- lungen.

Diese assoziative Steigerung der Affekte durch ihre Ausdrucks- bewegungen ist gelegentlich bestritten worden. Nicht als ob man eine solche Beziehung überhaupt leugnete, wohl aber, indem man eine umgekehrte Richtung der Assoziation annahm. Nicht durch die Ausdrucksbewegungen werde die zugehörige Stimmung erweckt, sondern durch reine Vorstellungsassoziationen werde ein Affekt er- zeugt oder ein vorhandener verstärkt und dann erst die entsprechende Ausdrucksform hervorgerufen^). Diese Auffassung entspricht jedoch weder den in diesem Falle zu machenden Beobachtungen noch den sonst nachzuweisenden Bedingungen der Assoziation. Das früher so verschwenderisch angenommene Auftreten ,, reiner Erinnerungs- bilder" reduziert sich, wenn man den Phänomenen des Wiedererkennens imd der Erinnerung genauer nachgeht, auf außerordentlich seltene Fälle, bei denen überdies meist der Verdacht, daß irgendwelche direkte Empfindungselemente übersehen worden seien, nicht ausgeschlossen bleibt. Als allgemeine Regel darf es daher gelten, daß von unmittel- bar gegebenen Eindrücken ausgehende Assoziationswirkungen über- all das bilden, was wir einen Erinnerungsvorgang nennen. Nun ist in dem vorHegenden Falle das tatsächlich gegebene Verhältnis dies, daß wir eine Affektsteigerung an lebhafte Ausdrucksbewegungen gebunden sehen, und daß wir diese Steigerung selbst dann noch beobachten, wenn die Ausdrucksbewegung in ihrer ersten Entstehung nicht einmal die Begleiterscheinung eines bestimmten Affekts war. Alle diese Tatsachen fügen sich ohne Schwierigkeit dem durch die mannigfachsten Erfahrungen bestätigten Satze, daß jeder Sinnes* eindruck Erregimgen wachruft, die früher mit ihm verbunden gewesen sind. Dagegen wird hier ganz ohne Not eine willkürlich und ursachlos schaltende Phantasietätigkeit zu Hilfe gerufen, wenn man die Er- scheinimgen aus bloßen Assoziationen zwischen den psychischen Affekt- inhalten selbst ableiten will. Auf Grund jener wohlbekannten Ver- bindungen zwischen direkten und reproduktiven Elementen läßt

^) Piderit, Mimik und Physiognomik, 2 I886, S. 20.

80 I^ie Ausdrucksbewegungen.

sich aber diese Wechselbeziehung zwischen Ausdrucksbewegung und Affekt in zwei eng verbundene Vorgänge zerlegen. Zuerst erzeugen die Ausdrucksbewegungen bestimmte Tast- und Spannungsempfin- dungen; und dann assoziieren sich diese Empfindungen wieder mit den Seelenzuständen, deren Symptome jene Bewegungen sind. Ist das Bewußtsein ursprünglich affektfrei, wird also z. B. die Ausdrucks- bewegung rein willkürlich erzeugt, so sind dann freilich auch die asso- ziierten Gefühle und Affekte von sehr unbestimmtem Inhalt. Dies ändert sich jedoch, sobald eine Assoziation mit gewissen bereit liegenden Affektinhalten erfolgt, oder wenn der ganze Vorgang schon mit in- haltsvollen Affekten beginnt. In diesem Falle wirkt die Ausdrucks- bewegung sofort verstärkend auf den primären Affekt, und indem sich der so gesteigerte wiederum in verstärkten Bewegungssymptomen äußert, ist damit auch die Bedingung zu einer Wiederholung dieser Wechselwirkungen gegeben.

Für das physiologische Innervationsproblem der Ausdrucks- bewegungen entsteht nun aus diesen Verhältnissen eine weitere, nicht unerhebliche Verwicklung. Denn physiologisch wird der verstärkende Einfluß der äußeren Symptome auf die psychischen Vorgänge und dieser auf jene wiederum nur durch ein System von Miterregungen und Eeflexerregungen verständlich, die zu allen den vorhin erwähnten Hemmungs- und Erregungsinn ervationen hinzutreten, während sie zugleich von diesem ersten System derart abhängen, daß sie erst durch die in ihm ablaufenden Innervations Vorgänge erweckt werden können. Aus allem dem ergibt sich, daß, so groß auch die qualitative Mannig- faltigkeit der Gefühlsinhalte und der psychischen Verlaufsformen der Affekte sein mag, wenn man sie dem relativ einfachen Schema erregender und hemmender Innervationen gegenüberstellt, doch an- derseits die ungeheure Komplikation dieser Einflüsse vorläufig für uns noch in viel höherem Grad ein unabsehbares Problem ist. Darin findet die allgemeine Tatsache ihren Ausdruck, daß überall, wo uns zusammengehörige psychische und physische Vorgänge gegeben sind, der unendlichen qualitativen Mannigfaltigkeit der psychischen Ele- mente eine große Gleichförmigkeit der physischen gegenübersteht, daß dafür aber die extensive Ausdehnung und Komplikation der Erscheinungen hier um so größer wird. Eben durch diese Übertragung

Herbert Spencers physiologische Theorie. 81

der intensiven in eine extensive Mannigfaltigkeit von Vorgängen kommt dann jene durchgängige Beziehung der Variationen der Gemütsstimmung zu dem wechselnden Spiel ihrer Ausdrucksformen zustande, vermöge deren wir jede Ausdrucksbewegung als ein adäquates Symptom der entsprechenden seelischen Kegung be- trachten lernen.

III. Prinzipien der Ausdrucksbewegungen.

1. Herbert Spencers physiologische Theorie.

Da die Ausdrucksbewegungen physische Erscheinungen sind und von uns als Symptome psychischer Zustände gedeutet werden, so kann man die Prinzipien zu ihrer Erklärung auf jeder dieser Seiten, der physischen wie der psychischen, zu gewinnen suchen. Als Haupt- vertreter einer physiologischen Erklärung darf Herbert Spencer gelten^). Indem er als die objektiven Tatsachen, auf die alle sub- jektiven Phänomene unseres Bewußtseins zurückzuführen seien, die Funktionen des Nervensystems betrachtet, ist damit auch sein allgemeiner Standpunkt in der vorliegenden Frage gegeben^). Jeder psychische Zustand, ob er dem Gebiet der Empfindungen und Vor- stellungen oder dem der Gefühle und Affekte angehört, ist nach Spencer die Begleiterscheinung irgendeiner Molekularbewegung innerhalb des Nervensystems, die eine auf den übrigen Körper ausstrahlende ner- vöse Entladung bewirkt, so daß dadurch verschiedene Symptome im Gebiete der Herz- und Gefäßinnervation sowie des gesamten Muskel- systems entstehen können. Von dieser Entladung wird angenommen, sie sei ursprünglich eine völlig diffuse, in ihrer Ausbreitung nur nach der Stärke der Erregung verschieden. Erstes Prinzip der Ausdrucks- bewegungen ist demnach das Gesetz der wachsenden Ausbreitung der Entladung bei zunehmender Erregung. Dazu gesellt sich als zweites die Voraussetzung, daß bei jeder diffusen Entladung kleine

*) H. Spencer, Prinzipien der Psychologie, deutsche Ausg. II, S. 610 ff. *) Ebenda, I, S. 99 ff.

Wundt, Völkerpsychologie. 1. 4. Aufl. 6

82 I^iö Ausdrucksbewegungen.

und an leicht beweglichen Organen befestigte Muskeln leichter als große und schwer bewegliche ergriffen werden. Dies soll die vor- wiegende Beteiligung der Antlitzmuskeln an allen Affektäußerungen und ihre ausschließliche bei schwachen Affekten erklären. Dazu kommt endlich als drittes Prinzip die Annahme eines allmählichen Übergangs beliebiger zweckloser Körperbewegungen in zweckmäßige im Laufe der generellen Entwicklung. Hierdurch soll allmählich eine engere Beziehung zwischen den Nerven, in denen bestimmte Emp- findungen imd Gefühle lokalisiert sind, und den Muskelgruppen ent- stehen, deren Zusammenspiel in der Regel die Befriedigung jener Gefühle herbeiführt. Auf diese Weise erklärt es sich, daß die Aus- drucksbewegungen zahlreicher Affekte gemilderte Formen von Hand- lungen sind, die ursprünglich bestimmten, die Befriedigung des Affekts erzielenden Zwecken dienten: so das Ballen der Faust und das Zähne- knirschen des Zornigen^).

Der ganz und gar hypothetische Charakter dieser drei Prinzipien springt in die Augen. Das dritte namentlich ist offenbar nichts als eine Anwendung der allgemeinen Annahme, daß die Willenshand- lungen aus automatischen Bewegungen von ursprünglich zufälliger und zweckloser Beschaffenheit durch eine Auslese des Nützlichen entstanden seien. Es bedarf kaum noch der Bemerkung, daß gerade das, was diese Hypothese als den Ausgangspunkt von Willenshand- lungen wie Ausdrucksbewegungen annimmt, nämlich die Entstehung zweckmäßig koordinierter Reflexe aus zufälligen Nervenentladungen, nirgends nachzuweisen ist. Zu dieser imaginären Natur des voraus- gesetzten Anfangs kommt dann aber noch eine andere Schwierig- keit. Die Theorie setzt zwar ein ursprüngliches ,, Bewußtsein'^ voraus, das eine an die Nervenentladungen unmittelbar gebundene „ästho-

^) Einige weitere diesen Prinzipien von Spencer beigefügte Hilfsannahmen können hier übergangen werden, weil sie für die Beurteilung des Ganzen un- wesentlich sind, während ihre Unwahrscheinlichkeit und der Widerspruch, in den sie sich mit den Voraussetzungen der Theorie verwickeln, auf der Hand liegen. Dahin gehört z. B. die Annahme, daß das Streben des Bewußtseins, gewisse Affekte zu verbergen, bei der Verlegenheit, Scham usw. dazu geführt habe, die primären Wirkungen durch sekundäre von entgegengesetzter Beschaffenheit zu verdecken.

Herbert Spencers physiologische Theorie. 83

physiologische" Erscheinung sein solP). Doch sie stattet dieses Be- wußtsein mit einer Eigenschaft aus, die keinem wirklichen Bewußt- sein zukommt, nämlich mit der sozusagen bloß theoretischen Fähig- keit der Empfindung und Wahrnehmung. Aus dieser soll sich dann erst allmählich, nachdem zufällig einige jener Bewegungen zu nütz- lichen Wirkungen geführt haben, deren willkürliche Beherrschung herausbilden.

Aber auch dem ersten und zweiten Prinzip fehlt die zureichende empirische Begründung. Indem das erste die Zunahme der äußeren Symptome mit der Zunahme der inneren Vorgänge hervorhebt, bietet es an sich keine Erklärung irgendwelcher Ausdrucksbewegungen; sondern, da nun einmal bei allen von nachweisbaren physischen Pro- zessen begleiteten Affektionen des Bewußtseins ein solches Verhält- nis beziehungsweisen Wachstums zu bestehen pflegt, so konstatiert es im Grunde nur diese allgemeine Tatsache auch für diesen einzelnen Fall. Daneben ist das Prinzip zugleich insofern mangelhaft formu- liert, als es in der ,, diffusen Erregung" einen an sich eigentlich gleich- artigen, nur nach Ausbreitimg und Stärke verschiedenen Vorgang voraussetzt. Um den Hemmungswirkungen gewisser Affekte gerecht zu werden, verweist darum Spencer auf den bei starken Affekten vorkommenden Stillstand des Herzens, der wegen der Störung des Blutzuflusses zu den Muskeln eine allgemeine Erschlaffung zur Folge habe. Nun ist es richtig, daß der Herzstillstand in hohem Grade de- primierend auf die willkürlichen Muskeln wirkt. Aber jene plötzlichen Affektlähmungen, wie man sie z. B. beim Schreck beobachtet, wo die äußeren Wirkungen vollkommen gleichzeitig mit den Herzsymptomen, wenn nicht schneller eintreten, können unmöglich auf diese Weise gedeutet werden. Überdies kommen solche Hemmungsinnervationen nicht bloß als Wirkungen stärkster Affekte vor. Namentlich zeigt das wechselnde Spiel der Antlitzmuskeln eine oft äußerst fein ab- gestufte, meist auf verschiedene Muskeln verteilte Kombination er- regender und hemmender Wirkungen. So pflegt sich z. B. die Mimik der Überraschung in einer plötzlichen Erschlaffung der zuvor ge-

^) Prinzipien der Psychologie, I, S. 99.

6*

84 Die Ausdnicksbewegungeii.

spannten Wangenmuskeln und daneben in einer Kontraktion der bei gespannter Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand in Aktion tretenden Augen- und Stirnmuskeln zu äußern. Die Gefühlskomponenten des Vorgangs verteilen sich also hier in ihren äußeren Symptomen über verschiedene Muskelgebiete: die Erschlaffung der Wangenmuskeln spiegelt die plötzliche, dem Schreck verwandte deprimierende Wirkung des unerwarteten Eindrucks; in der Kontraktion der Augen- und Stirnmuskeln kommt die gleichzeitige, die gesteigerte Aufmerksam- keit begleitende Erregung und Spannung zur Geltung. Man darf daher wohl sagen: wenn die Existenz einer der des Herzens analogen doppelten Innervation für das äußere Muskelsystem nicht durch andere physiologische Erscheinungen nahegelegt wäre, schon die Beobachtung der Ausdrucksbewegungen würde sie unzweifelhaft machen.

Noch weniger als das erste läßt sich das zweite Prinzip, das die besondere Bedeutung der mimischen Bewegungen aus der Kleinheit und leichten Beweglichkeit der Antlitzmuskeln ableiten will, als ein glücklicher Ausdruck der Tatsachen anerkennen. Gibt es doch eine große Zahl kleinerer Muskeln am menschlichen Körper, z. B. die kleinen Wirbel- und Zwischenrippen-, die Finger- und Zehenmuskeln, von denen manche überdies an leicht beweglichen Teilen befestigt sind, ohne daß sie darum zu den Affektäußerungen in einer näheren Be- ziehung stehen. Es ist also klar, daß die Antlitzmuskeln die be- sondere Wichtigkeit, die sie für den Ausdruck der Gemütsbewegungen erlangt haben, nicht ihrer Kleinheit verdanken können. Auch weisen, wie Spencer selbst zugibt, manche Erscheinungen auf andere Be- dingungen hin. Wenn z. B. der Zornige mit den Zähnen knirscht, so geschieht das zunächst nicht deshalb, weil die Mundmuskeln klein und leicht beweglich, sondern weil sie eben die Muskeln sind, die schon im tierischen Zustand bei dem Beißen und Zerreißen des Feindes wirksam werden mußten. Oder wenn Spencer das Stirnrunzeln als erstes Anzeichen eines unangenehmen Gefühls daraus ableitet, daß der Urmensch, um seine aus der Ferne herannahende Beute zu er- spähen, die Augen beschattet habe^), so würde es, selbst wenn man

^) Prinzipien der Psychologie, II, S. 618.

Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 85

diese immerhin zweifelhafte Hypothese annehmen will, wiederum nicht die Kleinheit des ,,Corrugator superciliorum", sondern seine Be- ziehung zum Auge sein, die diese mimische Bewegung erzeugt hat. Alle diese einzelnen Interpretationen bewegen sich übrigens, wenn man von der fragwürdigen Annahme des ersten Ursprungs zweck- mäßiger Willenshandlungen absieht, eigentlich auf psychologischem Gebiet. Man kann daher das Urteil über diese ganze Theorie dahin zusammenfassen: wo sie sich auf die Erklärung der einzelnen Erschei- nungen einläßt, da fällt sie aus der Rolle und wird psychologisch; insoweit sie dagegen wirklich eine physiologische Theorie ist, besteht sie aus teils unkontrollierbaren, teils der Erfahrung widerstreitenden Hypothesen 1).

2. Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten.

Bei dem Punkte, wo Spencers Prinzipien auf die generelle Ent- wicklung gewisser Ausdrucksbewegungen hinweisen, hat Darwin das Problem aufgenommen 2). Die Frage der Vererbung steht im Vordergrund seiner Untersuchungen. Die Ausdrucksbewegungen sind ihm nicht sowohl um ihrer selbst willen von Wert, als deshalb, weil sie ein Gebiet bilden, auf dem sich die Vererbung funktioneller Anlagen in der verschiedensten Weise nachweisen läßt : im allgemeinsten Umfang an der Analogie tierischer und menschlicher Ausdrucks-

1) Schon die Theorie Spencers steht der Annahme nahe, daß nicht die Ausdrucksbewegung die Wirkung des Affekts, sondern umgekehrt der Affekt selbst erst eine Wirkung der Ausdrucksbewegungen sei. C. Lange (Über Ge- mütsbewegungen, aus dem Dänischen von H. Kurella, 1887) und W. James (Principles of Psychology, 1890, II, pag. 442 ff.) haben dann den Versuch ge- macht, diese Annahme näher durchzuführen. Das Mittelglied sollen dabei die ,, Gemeinempfindungen" bilden. Ich enthalte mich hier einer näheren Erörterung dieser Theorie und verweise auf die Abhandlung Zur Theorie der Gemüts- bewegungen, Kleine Schriften, Bd. 2, S. 379. Dazu Physiol. Psychol. «, II, S. 376 f., III, S. 261 ff.

2) Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Deutsche Ausg. 1872.

86 Die Ausdrucksbewegungen.

formen, in etwas engeren Grenzen an der Übereinstimmung der Ge- bärden bei verschiedenen Menschenstämmen, im engsten Bezirk end- lich an der Vererbung individueller Bewegungen in einzelnen Familien. Die in dieser Absicht von Darwin gesammelten Beobachtungen sind überaus wertvoll, und es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß der erstrebte Zweck durch sie erreicht ist: die von Spencer nur an wenigen, zum Teil in ihrer Deutung zweifelhaften Fällen erläuterte Vererbung ist auf diesem Gebiete von Darwin durch eine Fülle von Tatsachen erwiesen worden. Viele dieser Tatsachen bestätigen zu- gleich den Satz, daß sich zahlreiche Ausdrucksformen als abgeschwächte Überlebnisse einstiger, in tierischen Zuständen noch jetzt zu beobach- tender Willenshandlungen betrachten lassen. Für uns steht natür- lich nicht diese speziell auf die Vererbungslehre gerichtete Tendenz der Darwinschen Untersuchung, die ihre eigentliche Bedeutung aus- macht, sondern der sonstige, namentlich der psychologische Ertrag derselben im Vordergrund des Interesses. Hier aber hat Darwin, abgesehen von der sorgfältigen Analyse einzelner Ausdrucksbewegungen bei Tieren und Menschen, den durch Spencer vertretenen allgemei- neren Anschauungen nichts Wesentliches hinzugefügt. Immerhin darf man vom empirischen Standpunkt aus auch das als ein Ver- dienst seiner Arbeit ansehen, daß er sich auf physiologische Hypo- thesen über den Ursprung der Willenshandlungen nicht einläßt. In- folgedessen stellen sich seine Prinzipien der Ausdrucksbewegungen teilweise schon auf den Boden einer psychologischen Deutung. Das wichtigste dieser Prinzipien ist das der ,, zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten". Gewisse Handlungen seien dadurch, das sie die Gefühle und Triebe, die an bestimmte Seelenzustände gebunden sind, befriedigen, von direktem oder indirektem Nutzen. Es entstehe da- her eine gewohnheitsmäßige Assoziation zwischen diesen Seelen- zuständen und jenen Bewegungen, so daß beide einander stets und auch in solchen Fällen begleiten, wo die Bewegungen infolge der ob- waltenden Bedingungen von gar keinem Nutzen mehr sein können. Hierher gehören das Zähneknirschen in der Wut, die Angriffsbewegungen im Zorn, das Zusammenfahren im Schreck, welches letztere ursprüng- lich durch die Gewohnheit entstanden sein soll, einer Gefahr so schnell als möglich durch einen Sprung zu entgehen. Auf diese Weise nimmt

Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 87

auch Darwin einen allmähliclien Übergang gewohnheitsmäßig asso" ziierter, also ursprünglich willkürlicher Bewegungen in Keflexe an, obgleich er bezweifelt, daß alle Eeflexbewegungen auf solche Weise zu erklären seien. Besonders aber betont er gerade bei den zweck- mäßig assoziierten Bewegungen das Gesetz der Vererbung, nach welchem eine von den Vorfahren erworbene Assoziation in den späteren Generationen als eine angeborene Anlage auftreten könne ^).

Die Umschau über das ganze Gebiet ,, zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten" lehrt nun aber, daß die so entstandenen Ausdrucks- bewegungen entweder ausschließlich oder doch vorzugsweise zu Un- lustaffekten in Beziehung stehen. Zorn, Wut, Verachtung, Schmerz äußern sich in Bewegungen, die sich auf ursprünglich nützliche Willens- handlungen zurückführen lassen. Bei Freude, Hoffnung, Zuneigung ist das gleiche nicht ohne weiteres ersichtlich. Dennoch äußern sie sich in Bewegungen, die wir als bezeichnende Symptome für die Quali- tät der Affekte ansehen. Zu ihrer Interpretation glaubt daher Dar- win nur den allgemeinen Gesichtspunkt verwerten zu können, daß sie ihrer Erscheinungsweise nach zu bestimmten andern Symptomen im Gegensatz stehen. So sind z. B. die Bewegungen, die ein Hund oder eine Katze ausführen, wenn sie sich einem andern Tier oder dem Menschen in feindseliger Absicht nahen, unmittelbar Vorbereitungs- akte zu Angriffsbewegungen. Die Bewegungen der gleichen Tiere in demütigen und zuneigungsvollen Stimmungen dagegen sind an sich zwecklos, bilden aber einen durchgängigen Gegensatz zu jenen. Sie werden also aus dem Prinzip des Kontrastes erklärt. Eine direkte, von dem Kontrast unabhängige Beziehung der Bewegungen zur Seelen- stimmung läßt sich nach Darwins Meinung in diesen Fällen im all- gemeinen nicht auffinden 2).

Mögen nun immerhin unter diesen Prinzipien zahlreiche, für die Entwicklung der Willenshandlungen wie der Ausdrucksbewegungen bedeutsame Tatsachen unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammen- gefaßt sein, so bleibt es doch ein Übelstand, daß hier allgemeine Be--

1) A. a. O. S. 28 ff.

2) A. a. 0. S. 28, 51 ff.

88 Die Ausdrucksbewegungen.

griffe, wie Gewohnheit und Gegensatz, die selbst erst der Erklärung bedürfen, als erklärende Ursachen eingeführt werden. Bei der Ge- wohnheit kann man sich wohl am ehesten noch diese Lücke ergänzt denken, und mit dem Vorbehalt dieser Ergänzung wird in der Tab hier so wenig wie anderwärts das ,, Gesetz der Gewohnheit" zu missen sein. Nach den Erscheinungen individueller Einübung und des durch sie vermittelten Übergangs willkürlicher in automatische Bewegungen, auf die oben (S. 46 f.) schon hingewiesen wurde, ist es aber doch er- forderlich, daß man diesen Begriff der ,, Gewohnheit'' in seine psycho- physischen Elemente zerlegt. Auf psychischer Seite besteht nun jeder Vorgang der Übung darin, daß von einer ursprünglich in allen ihren Bestandteilen mit Bewußtsein ausgeführten Bewegung zuerst gewisse Zwischenglieder und dann allmählich der ganze Verlauf aus dem Bewußtsein verschwinden. Nach seiner physischen Seite be- steht der gleiche Vorgang in einer immer vollkommener werdenden Anpassung des Umfangs und Verlaufs der Bewegung an eine bestimmte Einwirkung, demnach in einer Ausschaltung von Nebeneffekten, die ursprünglich in wechselnder Weise die Bewegung begleiten. Dieser Prozeß setzt als Bedingung eine Eigenschaft des Nervensystems voraus, die sich uns in der Tat schon in gewissen elementaren Erscheinungen der Nervenerregung zu erkennen gibt. Es ist die, daß mäßige Rei- zungen irgendeiner Nervenfaser eine Steigerung der Erregbarkeit erzeugen. Diese Nachwirkung in ihrer auf bestimmte, oft wieder- holte Erregungen eingeschränkten Ausbreitung ist offenbar mit dem, was wir ,,Übung'^ oder ,, Gewöhnung" nennen, identisch. Denn so- bald irgendeine komplexe Bewegung wiederholt in der Weise aus- geführt wird, daß gewisse ihrer Bestandteile variieren, während an- dere gleichmäßig wiederkehren, so müssen notwendig infolge jener Steigerung der Erregbarkeit durch die Erregung diese regelmäßigen Bestandteile des Vorgangs immer mehr erleichtert werden^). Die

^) Vgl. meine Untersuchungen zu Mechanik der Nerven, TI, 1876, S. 65, 132 ff. Phys. Psych. * I, S. 111 ff. Ähnliche Anschauungen sind in neuerer Zeit noch von verschiedenen Physiologen ausgesprochen worden. So namentlich von S. Exner (Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Er- scheinungen, I, 1894, S. 76), der hierbei für die Übungserfolge der Erregungs- leitung den Ausdruck „Bahnung" vorgeschlagen hat.

Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 89

hierbei zugleich sich einstellende Mechanisierung der Bewegungen weist außerdem darauf hin, daß zu diesen allgemeinen Erregbarkeits- änderungen noch die allmähliche Ausschaltung höherer Nerven- zentren als eine komplizierende Erscheinung hinzutritt. Der wachsen- den Reizbarkeit der zunächst erregten zentralen Elemente geht also eine Beschränkung in der Ausbreitung der Reizungs Vorgänge parallel^) . Aus diesen Betrachtungen erhellt übrigens, daß eine rein physiolo- gische ebensogut wie eine rein psychologische Erklärung des Begriffs ,, zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten" unmöglich ist. Denn phy- siologisch können wir zwar, wenn erst gewisse, auf bestimmte Zwecke gerichtete Willenshandlungen gegeben sind, deren allmähliche Ver- vollkommnung und Mechanisierung an der Hand der Gesetze der Nervenerregung und der Nachwirkungen der Erregbarkeit begreifen. Was wir jedoch auf diesem physiologischen Wege nicht verständlich machen können, das ist der Anfang, die Willenshandlung selbst und ihre unmittelbare Verbindung mit bestimmten, bereits dem Inhalt des Wollens, d. h. den dasselbe konstituierendön Gefühlen und Vor- stellungen, irgendwie adäquaten Körperbewegungen. Wenn wir da- her alle empirisch nicht gerechtfertigten metaphysischen Hilfskon- struktionen beiseite lassen, so führt das Darwinsche Prinzip der Ge- wöhnung auf vielleicht unvollkommene, aber doch von Anfang an unmittelbar mit den psychischen Willensregungen verbundene zweck- mäßige Bewegungen zurück. Der Vorgang, durch den solche Willens- handlungen in bloße Ausdrucksbewegungen übergehen, muß dann wiederum als ein doppelter, als ein psychischer und ein physischer, gedacht werden. Auf beiden Seiten ist hier ein zwiefacher Prozeß vorauszusetzen. Erstens hat sich infolge der Kultur allmählich der psychische Inhalt der Affekte ermäßigt, und ist demgemäß physisch die Intensität der Ausdrucksbewegungen vermindert worden; und

^) Auch diese Tatsache ist wahrscheinlich zu gewissen allgemeinen Er- gebnissen der Nervenphysiologie in Beziehung zu bringen, und zwar wird man hier vor allem an die im Gebiete der zentralen Nervenerregung nachzuweisen- den Interferenz- und Hemmungserscheinungen denken können. Vgl. Unter- suchungen zur Mechanik der Nerven, II, S. 84 ff., 106 ff., Phys. Psych. » I, S. 129 ff.

90 I^ie Ausdrucksbewegungen.

z\Yeitens hat sich der Willensvorgang zuerst in einzelnen seiner Glieder und dann in seinem ganzen Ablauf verdunkelt, während in gleichem Maße die mechanische Sicherheit der Bewegungen zunahm. Dem entspricht, daß diese physiologisch dezentralisiert wurden, indem sich die Arbeit der Übertragung des Eeizes in motorische Erregungen mehr und mehr auf niedrigere Zentren einschränkte. Zugleich muß freilich hinzugefügt werden, daß es sich gerade bei den Ausdrucks- bewegungen, solange sie wirkliche Symptome bestimmter Gemüts- bewegungen sind, nicht um eine Ausschaltung der höheren Zentren überhaupt handelt, sondern nur jener, die zu den Vorstellungen der äußeren Bewegungen in Beziehung stehen. Die Gefühls- und Vorstellungsprozesse, die in die Gemütsbewegungen selbst eingehen,, bleiben ja im allgemeinen bewußt und weisen also auf die Funktionen der entsprechenden Sinnes- und Apperzeptionszentren hin. Solche- Ausdrucksbewegungen aber, die zu reinen Reflexen geworden sind, bei denen also Gefühls- und Vorstellungsinhalte überhaupt hin weg- fallen, bilden offenbar nur einen Grenzfall. Die meisten bleiben fortan auf der Stufe triebartiger Handlungen: bestimmte Motive sind im Bewußtsein, nicht minder der Ausdruck dieser Motive in Bewegungen ; doch die letzteren folgen ohne vorausgehenden Streit der Motive und darum auch ohne besondere Anpassung an einen äußeren Erfolg den herrschenden Eindrücken und Gefühlen. Mit dieser näheren Bestimmung seines Inhalts kann man das Darwinsche Gesetz ,, zweckmäßig asso- ziierter Gewohnheiten" als ein für zahlreiche, wenn auch keineswegs^ für alle Ausdrucksbewegungen zutreffendes psychophysisches Prin- zip anerkennen.

Anders verhält es sich mit dem Prinzip des Kontrastes. Es ist einem doppelten Einwurf ausgesetzt. Zunächst ist es überhaupt mizulässig, Erscheinungen nicht aus sich selbst und aus ihren eigenen Bedingungen zu erklären, sondern aus andern, die von verschiedener, ja entgegengesetzter Art sind. Dies Verfahren ersetzt die wirkliche Interpretation durch eine bloße Einteilung nach dem unbestimmtesten aller Einteilungsgründe, nach dem des kontradiktorischen Gegen- satzes, wo das den Gegensatz bildende Glied bloß negativ bestimmt ist. Sodann läßt sich bei vielen der hierher bezogenen Erscheinungen mit Grund bestreiten, daß bei ihnen ein ursprünglicher oder ein noch

Darwins Prinzip der zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten. 91

fortdauernder positiver Zweck der Bewegung überhaupt nicht nach- zuweisen sei. Wenn sich die Demut in kriechenden Bewegungen, die Liebe im innigen Anschmiegen an den Gegenstand der Zuneigung äußert, so scheint dort die Unterwerfung unter den fremden Willen, hier die Vereinigung mit dem geliebten Gegenstand ebensogut ein unschwer erkennbarer Zweck noch jetzt zu sein oder in den gesteigerten Formen der gleichen Ausdrucksbewegungen einer früheren Stufe ge- wesen zu sein, wie der drohende Blick, der aufgerichtete Nacken und die geballte Faust des Erzürnten. Darwin selbst hat diese Möglich- keit direkter Gründe bei einzelnen der hierher gehörigen Beispiele anerkannt^). Wenn er trotzdem sein Prinzip des Kontrastes stehen ließ, so dürfte ihm wohl der Umstand Bedenken erregt haben, daß, falls er die Ausdrucksbewegungen der Freude, Zuneigung usw. dem Prinzip der ,, assoziierten Gewohnheiten" zurechnete, der Begriff des Nutzens für die ursprüngliche Entstehung vieler dieser Gewohn- heiten kaum mehr passend erschien. Was für einen Nutzen sollte es haben, wenn der Hund durch Schweifwedeln und durch Drehungen und Windungen seines Körpers seine Freude oder Zuneigung aus- drückt ? Das spricht aber doch nur dafür, daß der Nutzen überhaupt hier ein bedenklicher Begriff ist. Das Lachen und Weinen und die große Mehrzahl der andern mimischen Bewegungen lassen sich kaum oder höchstens mittels einer gewaltsamen und fragwürdigen Inter- pretation als nützliche oder einmal nützlich gewesene Erscheinungen deuten. Offenbar haben die von ihm eingehend analysierten Gebärden des Zornes, bei denen allerdings die Beziehung zu Kampf und Angriff unverkennbar ist, den ausgezeichneten Naturforscher zu einer Ver- allgemeinerung verleitet, die sich der Gesamtheit der Ausdrucks- bewegungen gegenüber nicht aufrechterhalten läßt. Ist gerade bei dem Zorn diese in gewissem Sinn ,, nützliche" Natur der Affektäußerung augenfällig, so hat dies seinen nächsten Grund darin, daß bei ihm die Beziehung zu bestimmten Vorstellungen, etwa zu solchen von wirk- lichen oder imaginären Feinden, imgleich mehr als bei sonstigen Affekten in den Vordergrund tritt. Darum ist es aber selbst hier zweifelhaft,

^) Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 217, und anderwärts.

92 Die Ausdrucksbewegungen.

ob alle Symptome eine derartige Deutung zulassen. In der Tat wird man das namentlich von jenen Symptomen sagen müssen, die, wie die an den Winkeln herabgezogene Unterlippe, die gerunzelte Stirn, eigentlich nur allgemein den Zorn als einen Unlustaffekt charakte- risieren; daher sie sich auch bei andern Unlustaffekten, wie Kummer, Sorge, bei denen von einer Beziehung auf einen äußeren Feind nicht die Rede sein kann, in ähnlicher Weise vorfinden. Damit kommen wir auf einen Punkt, bei dem der einseitige und unzulängliche Stand- punkt dieser Theorie deutlich zu erkennen ist. Darwin analysiert in einzelnen Fällen vortrefflich solche Bestandteile der Ausdrucks- bewegungen, die dem Vorstellungsinhalt der Affekte angehören. Er würdigt aber die Symptome, in denen sich die Gefühle spiegeln, nicht zureichend. Nun sind gerade die Gefühle die wesentlichen Ele- mente der Affekte, während die Vorstellungen im allgemeinen varia- blere Bestandteile bilden. So begreiflich also nach jener intellektua- listischen Auffassung des Seelenlebens, wie sie nun einmal in der von Darwin angewandten Vulgärpsychologie herrscht, diese einseitige Bevorzugung sein mag, so unmöglich kann sie doch der Gesamtheit der Erscheinungen gerecht werden.

3. Versuche einer psychologischen Theorie.

Zwischen den physiologischen Deutungen und den rein psycho- logischen Theorien über Ausdrucksbew^egungen stehen solche An- sichten mitteninne, die zwar von gewissen Eigenschaften der phy- sischen Organisation ausgehen, dabei aber doch auf die psychische Seite das Hauptgewicht legen. Natürlich bleibt hierbei ein ziemlich weiter Spielraum. So brachte E. Harless die Affektäußerungen über- haupt, namentlich die mimischen, mit den an die Hautempfindungen gebundenen angenehmen und unangenehmen Gefühlen in Verbindung. Durch die mimischen Muskeln entstehe ,,ein verschiedenes Haut- gefühl, die Natur dieses Gefühls sei aber unserer geistigen Erregung verwandt, und sie sei daher das entscheidende Moment für die Bedeutung einer Miene" ^). Es ist, wie wir es heute ausdrücken würden, das Prin-

^) E. Harless, Lehrbuch der plastischen Anatomie 1856, S. 125.

Versuche einer psychologischen Theorie. 93

zip der Assoziation der durch die Ausdrucksbewegungen entstehenden sinnlichen Gefühle mit den Gefühlsinhalten der Affekte, auf das dem- nach Harless den mimischen Ausdruck zurückführt. Noch allgemeiner macht A. Bain die Gegensätze der Steigerung und der Herabsetzung der Lebensfunktionen, die sich in den Gefühlen kundgeben sollen, auch für die Verschiedenheit der Ausdrucksbewegungen geltend^). Daß solche Hypothesen zu allgemein und unbestimmt sind, um über die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Rechenschaft zu geben, ist einleuchtend, wenn auch namentlich dem von Harless ausgesprochenen Gedanken etwas Richtiges zugrunde liegt.

Eingehendere Versuche einer psychologischen Deutung gingen zumeist von ästhetischen Interessen aus. Daraus erklärt es sich, daß man stillschweigend oder ausdrücklich einen Begriff in den Vorder- grund stellte, der von Haus aus ein ästhetischer, kein psychologischer ist: den Begriff des Symbols. Von den ,, Conferences" des Malers Le Brun^) und J. J. Engels „Ideen zu einer Mimik" ^) bis zu den Arbeiten von Th. Piderit^) und Pierre Gratiolet^) ist es dieser Be- griff des Symbols, der, zum Teil in abweichender Form, zuweilen

1) A. Bain, The Senses and the Intellect. ^ 1864, p. 285. Die Annahme Bains nähert sich übrigens zugleich durch die starke Betonung der physischen Grundlagen der Gefühle der physiologischen Theorie Herbert Spencers.

2) Le Brun, Conferences sur l'expression des differents characteres des passions, 1667.

3) J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Bde. 1785—86.

*) Mimik und Physiognomik, 1866. Als ersten Entwurf dieses späteren Werkes veröffentlichte Piderit 1858 ,, Grundsätze der Mimik und Physiognomik", in denen er sein allgemeines Prinzip der Ausdrucksbewegungen bereits bestimmt formuliert. In diesem Punkte gebührt ihm daher Gratiolet gegenüber, der das seinige beinahe in dieselben Worte faßt, die Priorität. Übrigens hat Gratiolet, gerade so wie früher Engel, vorwiegend die pantomimischen, Piderit die mimischen Bewegungen berücksichtigt. Darwin, der Gratiolet und Piderit einigemal mit Anerkennung erwähnt, urteilt über das von diesen Autoren aufgestellte Prinzip, daß darin überhaupt keine Erklärung der Ausdrucksbewegungen enthalten sei (Über den Ausdruck der Gemüts- bewegungen, S. 6), ein für die Verschiedenheit der Standpunkte bezeichnender Ausspruch.

^) De la Physiognomie et des mouvements d'expression, 1865. (Das Werk ist nach dem Tode des Verfs. herausgegeben.)

94 Die Ausdrucksbewegungen.

auch nur, wie bei Engel, als nicht ausgesprochene Voraussetzung, die Deutung der Erscheinungen beherrscht. Piderit hat das Prinzip in dem Satz ausgesprochen: ,,Alle Ausdrucksbewegungen beziehen sich entweder auf imaginäre Gegenstände oder auf imaginäre ange- nehme oder unangenehme (harmonische oder disharmonische) Sinnes- eindrücke." Als psychologische Begründung des ersten Teiles dieses Satzes gilt ihm die Tatsache, daß ,,jede Vorstellung dem Geiste gegen- ständlich erscheint", daher eine mimische oder sonstige Ausdrucks- bewegimg, die durch Vorstellungen erregt werde, sich eben damit zugleich auf imaginäre Gegenstände beziehen müsse. Für den zweiten Teil führt er an, daß ,, abstrakte" Vorstellungen, weil sie gegenständ- lich gedacht werden, ähnlich den unmittelbaren Sinneseindrücken angenehm oder unangenehm auf uns wirken, wie dies auch die Meta- phern der Sprache, ,, bittere Kränkung", „süße Liebe" und ähnliche, bestätigen. Demnach sind ihm die Ausdrucksbewegungen, ebenso wie diese Metaphern, Übertragungen des Nicht- Sinnlichen in das Sinnliche, die aber nicht direkt, sondern erst durch das Zwischen- glied der ,, Vorstellungen" unter denen er hier nur Erinnerungs- oder Phantasiebilder versteht zustande kommen.

Daß diese Tatsache insofern eine psychologische ist, als sie aus- schließlich den psychischen Wert der Bewegungen hervorhebt, ist augenfällig. Schon darin zeigt sich jedoch ihr mehr ästhetischer als psychologischer Charakter, daß sie nur auf die geistige Bedeutung dieser Erscheinungen hinweist, ihre Motive, den Zusammenhang ihrer psychischen Bedingungen im Dunkeln läßt. Sagt man z. B., der Zornige drücke den tätlichen Angriff auf einen Feind symbolisch aus, so entspricht das wohl dem objektiven ästhetischen Eindruck auf den Zuschauer, schwerlich aber dem wirklichen Vorgang, wie er sich in der Seele des Erzürnten abspielt. Ähnlich verhält es sich mit den zur Erklärung der mimischen Bewegungen herbeigezogenen Beziehungen auf imaginäre Gegenstände. Hier hat namentlich Piderit durch seine verständnisvolle Analyse dieser Bewegungen unleugbar auch die psychologische Deutung gefördert. Daß sie in engster Beziehung zu den Funktionen der am Kopfe vereinigten Organe der vier Spe- zialsinne stehen, und daß Lustgefühle jeder Art mit Bewegungen verbunden sind, die angenehmen, Unlustgefühle mit solchen, die

Versuche einer psychologischen Theorie. 95

unangenelimen Sinneseindrücken entsprechen, dies erkannt zu haben, bleibt ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der symbolistischen Theorie. Freilich muß auch hier wieder gesagt werden, daß die Be- ziehung auf ,, imaginäre Sinneseindrücke'' noch keine psychologische Deutung ist. Die Erinnerung an die Metaphern der Sprache kann um so weniger als eine solche gelten, weil diese Metaphern selbst ver- mutlich erst aus der Wahrnehmung der Ausdrucksbewegungen her- vorgegangen sind (vgl. unten V, 5). Das Wort ,, symbolisch" bringt also nur die beobachteten Tatsachen unter einen allgemeinen und selbst erst der psychologischen Erklärung bedürftigen ästhetischen Begriff.

Hiernach könnte man vermuten, es sei nur erforderlich, den in diesem Prinzip ausgesprochenen ästhetischen Gedanken psychologisch umzuformen oder in seinen psychologischen Wurzeln bloßzulegen, um zu einer haltbaren Deutung der Erscheinungen zu gelangen. In der Tat mag das für die meisten mimischen Bewegungen bis zu einem gewissen Grade richtig sein. Aber es gilt keineswegs für alle Ausdrucks- bewegungen, da es eben solche gibt man erinnere sich nur an die Äußerungen des Schrecks oder an das Erröten bei der Scham , wo die Unterordnung unter den Begriff des Symbols auch im ästhetischen Sinne gezwungen oder gänzlich unzureichend sein würde. Dazu kommt noch ein anderer, allgemeinerer Gesichtspunkt. Jede psychologische Theorie der Ausdrucksbewegungen nimmt, da diese körperliche, also an physiologische Bedingungen geknüpfte Bewegungen sind, not- wendig einen ihrem Gegenstand nicht adäquaten Standpunkt ein. Mag sie darum in die psychischen Vorgänge, die jene physischen Symptome begleiten, noch so tief eindringen, über die Symptome selbst kann sie keine zureichende Rechenschaft geben. Denn es ist an und für sich ebenso unmöglich, diese ausschließlich aus dem psy- chischen Inhalt der Affekte abzuleiten, wie es für die physiologische Theorie unmöglich ist, aus den Innervationszuständen, welche die Ausdrucksbewegungen begleiten, deren psychische Bedeutung zu begreifen.

Diese Erwägungen führen bei dem engen Zusammenhang, in dem hier die körperlichen und die seelischen Bestandteile der Vor- gänge zueinander stehen, unvermeidlich zu dem Schlüsse, daß über-

96 Die Ausdrucksbewegungen.

haupt weder eine rein physiologische noch eine rein psychologische Theorie Aussicht auf Erfolg haben wird. Eine physiologische nicht, weil der Affekt als unmittelbares seelisches Erlebnis durch keine körperliche Begleiterscheinung, wäre uns diese selbst noch so bekannt, ersetzbar ist. Eine psychologische nicht, weil die Ausdrucksbewegungen physische Funktionen sind und daher auch in ihrer Bedeutung für die psychische Seite der Vorgänge nur in ihrem physischen Zusammen- hang richtig gewürdigt werden können. In der Tat finden sich bei unbefangener Betrachtung der Erscheinungen keinerlei Gründe, die es rechtfertigen könnten, in dem Gesamtbilde seelischer und körper- licher Vorgänge, das uns ein Affekt bietet, einem dieser Bestand- teile die zeitliche Priorität vor dem andern einzuräumen. Wenn die gewöhnliche Auffassung die Gemütsbewegung als das Vorangehende, ihre körperlichen Symptome als das Nachfolgende ansieht, so hat sie darin natürlich recht, insoweit es sich nur um die äußeren, sicht- baren Symptome handelt. Damit ist aber nicht gesagt, daß auch die zentralen Innervationsvorgänge, deren Wirkungen erst jene Sym- ptome, später als die Affekte selbst sind. Vielmehr spricht alle Wahr- scheinlichkeit dafür, daß, sobald wir auf diese zentralen Prozesse zurückgehen, der Affekt und seine physischen Korrelaterscheinungen gleichzeitig beginnen, imd daß sie ebenso in ihrem weiteren Verlauf einander begleiten. Damit ist schon gesagt, daß auch die entgegen- gesetzte Auffassung, wonach der physische Vorgang der Zeit nach das Erste, der Affekt aber das Nachfolgende sein soll, keinerlei Stütze in der Erfahrung findet. In Wahrheit sind Affekt und Ausdrucks- bewegung zusammen ein einziger psychophysischer Vorgang, den wir erst auf Grund einer Analyse und Abstraktion in jene zwei Bestandteile sondern, Die Motive, aus denen diese Zerlegung ent- springt, bringen es dann freilich mit sich, daß bei der Betrachtung der Affekte selbst wie ihrer Äußerungen das Hauptgewicht unseres Interesses auf die psychologische Seite fällt. Denn die Bedeutung der Ausdrucksbewegungen wird für uns allezeit wesentlich darin be- stehen, daß sie Symptome seelischer Vorgänge sind^).

^) In der Voranstellung des psychologischen Gesichtspunktes stimmt mit den folgenden Ausführungen ein gleichzeitig mit der 1. Auflage dieses Bandes

Allgemeinstes psychophysischee Prinzip der Ausdrucksbewegungen. 97

4. Allgemeinstes psychophysisches Prinzip der Ausdrucks- bewegungen.

Sucht man in dem angegebenen Sinne die Ausdrucksbewegungen in erster Linie als psychophysische Funktionen, in zweiter, in An- betracht ihrer allgemeinen Bedeutung, als Merkmale psychischer Vor- gänge zu verstehen, so wird man nun von vornherein darauf ver- zichten müssen, sie irgendwelchen spezifischen Prinzipien imter- zuordnen. Vielmehr wird hier lediglich das allgemeinste Prinzip psy- chophysischen Inhalts, nach dem mit jeder Veränderung psy- chischer Zustände zugleich Veränderungen physischer Korrelat Vorgänge verbunden sind, auch für die Ausdrucks- bewegungen und die Seelenzustände gelten, als deren Symptome wir jene auffassen.

Nun bilden, wie mehrfach hervorgehoben wurde, in dem ge- samten Tatbestand unserer subjektiven Erfahrung die Gefühle und Affekte oder, da die Gefühle nur als Bestandteile von mehr oder minder ausgebildeten Affekten vorkommen, die Affekte diejenige Seite des Seelenlebens, als deren physische Begleiterscheinungen wir die Aus- drucksbewegungen und die sie erzeugenden Innervationsvorgänge betrachten müssen. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß eine nähere Analyse dieser Bewegungen nur in steter Beziehung zur Analyse der entsprechenden Affekte selbst vorgenommen werden kann. Die letzten leitenden Gesichtspunkte werden aber den Elementen des Affekts,

erschienenes Werk von Henry Hughes überein (Die Mimik des Menschen auf Grund voluntarischer Psychologie, mit 119 Abb. 1900). Dasselbe enthält im einzelnen bemerkenswerte Ergänzungen, namentlich zu den Beobachtungen Piderits. Seine Theorie der mimischen Bewegungen gründet der Verf. auf eine eigentümliche psychophysische Theorie des Willens und der Gefühle, die ge- wissermaßen eine Umkehrung der oben (S. 37 ff.) entwickelten Auffassung dar- stellt, da ihm der Willens Vorgang nicht ein Gefühls verlauf, sondern jedes Ge- fühl ein aus Willenselementen zusammengesetzter komplexer Vorgang ist (S. 210 ff.). Es scheint mir aber nicht, daß diese Theorie mit den Beobachtungen über den Verlauf der Willens Vorgänge, wie sie vornehmlich bei den ,,Reaktions versuchen" auszuführen sind, in Einklang gebracht werden kann. (Vgl. Grundzüge der phy- siol. Psychol. « Bd. 3, S. 228 ff.)

Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. '

98 I^ie Ausdrucksljewegungen.

den ihn zusammensetzenden einfachen Gefühlen, zu entnehmen sein. Damit sind wir wiederum auf jene fundamentalen Eigenschaften hingewiesen, die jedem noch so einfachen Gefühl als seine näheren Bestimmungen zukommen, und die sich daher auch in jedem Affekt in irgendeiner Weise finden. Dieser Eigenschaften gibt es im ganzen drei. Zwei von ihnen sind dem Gefühl als solchem eigen, unabhängig von seinem Zusammenhange mit andern Bewußtseinsvorgängen; die dritte entsteht durch seine Beziehung zu den objektiven Inhalten unserer unmittelbaren Erfahrmig. Die beiden ersten nennen wir die Intensität und die Qualität des Gefühls; die dritte können wir als seine Vorstellungsverbindung oder, da solche Verbindungen regelmäßige Inhalte der Affekte bilden, als seinen Vorstellungs- inhalt bezeichnen. Auf diese Weise gewinnen wir drei Klassen von Ausdrucksbewegungen oder vielmehr, da im allgemeinen diese Klassen nicht getrennt voneinander vorkommen, drei Richtungen von Ausdrucksbewegungen. Wir wollen sie kurz die Intensitäts-, die Qualitäts- und die Vorstellungsäußerungen der Affekte nennen. Innerhalb jeder dieser Richtungen findet sich eine Fülle einzelner Formen, die durch mannigfaches Übereinandergreifen der Symptome und durch die Koexistenz von Erscheinungen verschiedener, ja entgegengesetzter Art noch beträchtlich vermehrt wird. Eine ein- gehende Betrachtung auch nur der hauptsächlichsten würde von dem nächsten Zwecke dieses Werkes allzuweit abliegen. Es kann sich daher im folgenden nur darum handeln, bei jeder der genannten Klassen die Gesichtspunkte hervorzuheben, die für das allgemeine Problem der Ausdrucksbewegungen und damit zugleich für das Problem der Sprache von Bedeutung sind.

IV, Intensitätsäußerungen der Affekte. 1. Ausdrucksbewegung starker Affekte.

Die erste und allgemeinste Eigenschaft, die uns die Intensitäts- äußerungen der Affekte bieten, ist die, daß sie sich zwischen den Gegensätzen der Erregungs- und Hemmungssymptome be- wegen, wobei die letzteren keineswegs in einer bloßen Abnahme oder

Ausdrucksbewegungen starker Affekte. * 99

Aufhebung der Erregung, sondern, ebenso wie diese, in einem posi- tiven, nur in entgegengesetztem Sinn auf die Muskeln einwirkenden Innervationsvorgange bestehen. Die Bedingung zu diesem gegen- sätzlichen Charakter liegt aber darin, daß, wie das Herz, so auch die äußeren Körpermuskeln im Zustande der Affektlosigkeit oder un- merklicher Affektwirkungen immer noch eine dauernde tonische Erregung zeigen, von welchem Indifferenzpunkt aus nun Innervationen nach entgegengesetzten Richtungen stattfinden können.

Am reinsten, verhältnismäßig unvermischt mit Qualitäts- und Vorstellungssymptomen, lassen sich diese Intensitätsäußerungen bei sehr starken Affekten beobachten, weil hier durch die gesteigerten Erregungs- oder Hemmungswirkungen alle sonstigen Erscheinungen verwischt oder verdeckt werden. Solche reine Intensitätssymptome können wir daher als „Ausdrucksbewegungen starker Affekte" be- zeichnen. Der Gegensatz der Erregung und Hemmung ist bei ihnen stets an Gradunterschiede der Affekte gebunden, so daß wir sie wieder in Intensitätsäußerungen starker und in solche stärkster Affekte unterscheiden können. Bei jenen wird die Erregungsinner vation in die Nähe ihres Maximums gehoben; bei diesen besteht eine mehr oder minder ausgebreitete Hemmungsinnervation. Die Grenze, wo die erste in die zweite Form übergeht, wechselt beträchtlich nach den besonderen Bedingungen; in jedem einzelnen Falle scheint sie aber eine ziemlich scharfe zu sein, so daß plötzlich die höchste Erregung in eine fast momentane und oft über zahlreiche Körpermuskeln aus- gebreitete Hemmung überspringt. Am deutlichsten ist das beim Herzen zu verfolgen, dessen Pulsationen bei starken Affekten, wie Schreck, Angst, Wut, zunächst in ihrer Frequenz enorm gesteigert werden können, worauf dann sehr bald ein plötzlicher Abfall der Höhe der Pulskurve oder selbst Herzstillstand eintritt. Dieser Er- scheinungsfolge entsprechen vollkommen die eigentHchen Ausdrucks- bewegungen, jedoch mit der besonderen Eigentümlichkeit, daß die Erregung vorwiegend eine ,, klonische", die Hemmung eine „tonische" Innervation ist. Starke Affekte der Freude, des Zornes, der Angst, der Sorge äußetn sich in raschen und wechselnden Bewegungen, denen offenbar ähnliche explosive Erregungsvorgänge der höheren Nerven- zentren entsprechen. Auch der Verlauf der Gefühle und Vorstellungen

7*

100 I^ie Ausdrucksbewegungen.

wird nämlich ein beschleunigter, oft ein so stürmisch beschleunigter, daß darin schon für das unmittelbare Erleben der Affekte eine Nötigung zu plötzlichem Stillstande mit der Wirkung eines der Be- wußtlosigkeit sich nähernden Zustandes oder wirkliche: Bewußt- losigkeit liegt. Nach dem formalen Charakter der Symptome bietet sich also hier auf psychischer Seite genau dasselbe Bild, das die Puls- kurve in den obenerwähnten verschiedenen Phasen ihres Verlaufs zeigt. Nur in dem einen Punkt unterscheidet sich jener psychische Verlauf, daß er in außerordenthch mannigfaltiger Weise qualitativ gefärbt sein kann, indem ein konkreter Affekt aus seinen besonderen Gefühlen und Vorstellungen besteht, die ihn von jedem andern, formal noch so ähnlichen unterscheiden, während die Herzsymptome, eben weil sie bloße Intensitätserscheinungen ohne qualitative Neben- bestimmungen sind, nur diesen formalen Verlauf widerspiegeln. Da- gegen zeigen die äußeren Körperbewegungen ein mittleres Verhalten : sie sind, wie die Herzbewegungen, in Energie und Geschwindigkeit nach der Stärke des Affekts intensiv abgestuft; und sie lassen zugleich zwar nicht die konkrete Besonderheit des Affekts, aber doch seine allgemeine Gefühlsrichtung und einzelne besonders hervortretende Vorstellungsbestandteile deutlich erkennen. Diese Erscheinungen gehören jedoch schon zu den nachher zu erörternden Qualitäts- und Vorstellungsäußerungen, die auf dieser ersten Stufe, derjenigen der ,, starken Affekte", noch die reinen Intensitätssymptome begleiten. Solche qualitative Nebenbestimmungen treten nun in dem Maße zurück, als sich die ,, starke" der ,, stärksten" Affektsäußerung nähert. Ist sie in diese übergegangen, so tritt plötzlich statt der bisher vor- handenen Erregung die Hemmung hervor, in deren Folge die an der Affektäußerung beteiligten Muskehi nicht nur momentan erschlaffen, sondern für eine längere, je nach der Stärke des Affekts wechselnde Zeit im erschlafften Zustande verharren, um dann nicht plötzlich, sondern allmählich wieder den normalen Erregungstonus zu gewinnen. Alle diese Hemmungserscheinungen werden um so mehr, je inten- siver und ausgebreiteter sie sind, zu bloßen, gegenüber dem quali- tativen Inhalt der Affekte indifferenten Intensitätssymptomen. Bei jenen seltenen äußersten Graden der Gemütsbewegung, wo der Körper jäh und blitzartig von einem Hemmungsstoß getroffen zusammen-

Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssymptomen. 101

sinkt, sind so die Äußerungen der verscliiedensten Affekte, der über- mächtigen Freude, der Wut, der höchsten Angst, des Schrecks, über- einstimmend. Kann man auch das Bild des Schrecks als diejenige Form betrachten, der sich die andern Gemütsbewegungen zuerst nähern, um dann ganz in sie überzugehen, so ist dies doch offenbar nur darin begründet, daß der Schreck vermöge seiner Entstehungs- bedingungen schon bei relativ unbedeutenden Ursachen ein Affekt von stark hemmendem Charakter ist. Übrigens ist auch diese Gleich- förmigkeit der Hemmungserscheinungen nicht auf die Ausdrucks- bewegungen beschränkt, sondern sie erstreckt sich nicht minder auf die psychische Symptomenreihe, und die plötzliche Hemmung des Vorstellungs- und Gefühlsverlaufs, die hier eintritt, läßt der Natur der Sache nach ebenfalls keine qualitativen Unterschiede zu. Man kann daher diese Tatsache mit ihren sämtlichen Teilerscheinungen in den Satz zusammenfassen: alle Affekte gehen beim äußersten Grad in einen einzigen intensivsten Affekt von schreckhaftem Charakter über, imd ihr innerer Verlauf wie ihre äußeren Symptome werden von diesem Punkt an gleichförmig.

2. Beteiligung einzelner Muskelgebiete an den Intensitätssymptomen.

An den geschilderten Erregungs- und Hemmungssymptomen pflegen keineswegs alle Körpermuskeln gleichmäßig teilzunehmen. Abgesehen von dem Herzen und den kontraktilen Wandungen der Blutgefäße, die hier als innere muskulöse Organe eine eigenartige Stellung einnehmen (vgl. unten 3), sind es in erster Linie die Atmungs- sowie überhaupt solche Muskeln, die gleich ihnen in wechselnder Tätigkeit geübt sind, welche die Intensitätssymptome der Affekte erzeugen. Aus der Gesamtheit der äußeren Körpermuskeln treten dann aber wieder drei Gruppen durch die besondere symptomatische Bedeutung ihrer Wirkungen hervor; die mimischen des Angesichts, die pantomimischen, die der Bewegung der Arme und Hände dienen, und endlich die der Gehwerkzeuge. Diese drei Gruppen bilden zu- gleich eine Intensitätsskala, indem die Bewegungen um so mehr, einer

102 Diö Ausdrucks bewegungen.

je weiter voranstehenden Gruppe sie angehören, nicht mehr reine Intensitäts- sondern zugleich Quahtäts- und Vor Stellungsäußerungen sind. So spiegelt sich in den mimischen Bewegungen in der Regel nur neben den vor allem hervortretenden qualitativen Gefühlsmerk- malen auch der Grad des Affekts. Mehr sind schon die Gebärden der Arme und Hände, wenn nicht ein aus bestimmten Ursachen ent- stehender Trieb nach Mitteilung hinzukommt, Zeichen gesteigerten Affekts. Die Muskeln der Gehwerkzeuge aber werden im allgemeinen erst bei den stärksten Affekten in Anspruch genommen, und sie sind dann fast reine Intensitätssymptome. Gerade bei den stärksten Affek- ten ist die hemmende Wirkung auf diese Muskeln, mag sie sich nun als bloße Empfindung der Ermattung oder als lähmungsartige Schwäche oder endlich bei den äußersten Graden als wirkliche, das momentane Zusammenbrechen des Körpers verursachende Lähmung äußern, die subjektiv wie objektiv am meisten hervortretende Affekterschei- nimg. Übrigens steigern sich bei diesem Hinzutreten der sonst an der Affektäußerung unbeteiligten Muskelgebiete immer auch die bei minder ausgebreiteten Wirkungen vorhandenen Symptome, und diese gewinnen die nämliche, mit der Stärke des Affekts zunehmende Unabhängigkeit von der besonderen Qualität der seelischen Zustände. So können schon bei starken, aber noch nicht übermäßigen Affekten die heftigeren mimischen und noch mehr die pantomimischen Be- wegungen die besonderen Färbungen der Gemütsvorgänge zurück- treten lassen; und bei den stärksten Affekten ist namentlich die lähmungsartige Erschlaffung der Gesichtsmuskeln eine charakteristische Teilerscheinung der allgemeinen Hemmung.

Im Gegensatze zu diesen intensivsten Affektäußerungen, bei denen alle besonderen Nuancen des Ausdrucks verschwinden, bietet nun bei schwächeren Gemütsbewegungen speziell das Gebiet der mimischen Gebärden nicht selten das Schauspiel einer mannig- faltigen Verbindung verschiedener und selbst entgegengesetzter Symptome eine Folge jener weitgehenden Sonderung der einzelnen Inner vationsgebiete, die vor allem dem Nervus facialis eigen ist (S. 76). Dem entspricht es ganz, daß die um die einzelnen Sinnesorgane ge- lagerten Muskeln, insbesondere die um Auge und Mund, in hohem Grad unabhängig voneinander innerviert werden können, und daß

Vasomotorische Intensitätssymptome. 103

niciit selten selbst die symmetrisclien Muskelregionen beider Gesichts- bälften verschiedene, ja entgegengesetzte Erscheinungen zeigen. In den Bereich der Intensitätsäußerimgen fallen jedoch diese Wir- kungen nur insofern, als sie in Kombinationen von Erregungs- und Hemmungssymptomen bestehen, die immer zugleich qualitative Merkmale gewisser gemischter Affekte sind. So ist die plötzliche Hemmung der Innervation der Wangen- imd Mundmuskeln ein sehr ausgeprägter Zug, der bei manchen Personen jede auch nur leiseste Regung eines deprimierenden oder erregenden Affekts begleitet, also bei Sorge, Kummer ebensowohl wie bei Erstaunen, Verwunderung, Neugierde vorkommt, und der mit lebhaften und je nach den beson- deren Bedingungen wieder qualitativ nuancierten Erregimgssym- ptomen der das Auge und seine Umgebung bewegenden Muskeln ver- bunden zu sein pflegt. Auf solche Weise reichen diese kombinierten Erscheinungen, in denen sich der gemischte oder kontrastierende Charakter gewisser Affekte spiegelt, bereits in das Gebiet der Quali- tätsäußerungen hinüber.

3. Vasomotorische Intensitätssymptome.

Zu den an den äußeren Körpermuskeln hervortretenden Sym- ptomen bilden die oben (S. 52 ff.) erörterten Innervationsänderungen des Herzens und der kleineren arteriellen Gefäße Begleiterscheinungen, die auch insofern eine eigentümliche Stellung einnehmen, als sie, gegenüber der in der Regel gemischten Natur namentlich der mi- mischen und der pantomimischen Bewegungen, durch alle Stufen der Affektäußerimg hindurch den Charakter reiner Intensitäts- symptome bewahren. Dabei ist allerdings dieser Ausdruck nicht so zu verstehen, als ob nicht auch hier aus der eigentümlichen Kombis nation der Erscheinungen irgendwie auf die Qualität des Affekts zurückgeschlossen werden könnte Vielmehr haben wir ja speziell für die Herzbewegimgen solche Beziehungen kennen gelernt. Eben- so ist das vasomotorische Symptom des Errötens in der eigentüm* liehen Beschränkung, in der es bei der Scham mid der Verlegenheit vorkommt, für diese Affekte kennzeichnend. Trotzdem ist es äugen-

104 Die Ausdrucksbewegungen.

fällig, daß diese Innervationsänderungen nicht in ähnlicher Weise eindeutige Merkmale der Qualität bestimmter Gefühle und Affekte sind wie die Mimik des Mundes imd des Auges, oder wie in anderem Sinn, in der Beziehung auf irgendwelche Vorstellungen, die Gebärden der Arme und Hände. Der Grund dieses Unterschieds liegt offenbar darin, daß es immer nur eine eigentümliche Verbindung an sich rein intensiver Symptome ist, die den vasomotorischen Erscheinungen den Wert von qualitativen Merkmalen verleihen kann. Wir werden daher zu dem Schluß gedrängt, daß die vasomotorischen Erregungen eine qualitative Bedeutung immer erst sekundär, durch die beson- deren Intensitätsmerkmale, die bestimmte Gefühle und Affekte in ihrem zeitlichen Verlauf darbieten, gewinnen können. Mit andern Worten: die Herz- und Gefäßinnervation bleiben reine Intensitäts- symptome, aber die Verteilung der Intensitätsschwankungen der Gefühle in der Zeit ist zugleich für jede qualitative Klasse von Gefühlen eine besondere, im wesentlichen ihr allein eigentüm- liche, und die aus dieser Verteilung entspringenden Merkmale be- sitzen so neben ihrem intensiven einen qualitativen Wert.

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die vasomotorischen Erscheinungen, so springt in die Augen, daß sie sich sämtlich zu- nächst auf die zwei gegensätzlichen Reizwirkungen zurückführen lassen, die überhaupt alle Intensitätsäußerungen beherrschen: auf Erregung und Hemmung. Beide in ihrem einfachen Gegensatz treten bei der Innervation der Gefäße in der Verengerung und Er- weiterung des Gefäßlumens hervor, jene ein Erregungs-, diese ein Hemmungssymptom. Verwickelter verhält es sich bei der Herz- innervation, wo infolge der besonderen Einrichtungen des regu- latorischen Nervensystems Erregung wie Hemmmig in zwei Formen in die Erscheinung treten können: erstens als Zu- und Abnahme der Höhe der Pulswelle; zweitens als Beschleunigmig und Verlangsamung (Verkürzung und Verlängerung) derselben. Hiernach werden wir speziell für die Herzerscheinungen voraussetzen dürfen, daß sie, als reine Intensitätssymptome aufgefaßt, in doppelter Weise für die quantitativen Eigenschaften der Affekte charakteristisch sind: erstens in der Beschaffenheit der einzelnen Herzkontraktionen oder der ihnen entsprechenden Pulswellen für die Intensität des Gefühlsinhalts;

Vasomotorische Intensitätssymptome. 105

und zweitens in dem zeitlichen Verlauf der Pulsbewegungen für die extensiven zeitlichen Eigenschaften der Gemütsbewegung. In beiden Beziehungen oszilliert dann wieder die Veränderung zwischen den Gegensätzen der Erregung und Hemmung; und es können nicht bloß diese intensiv und extensiv zusammentreffen, sondern es kann sich auch eine intensive Erregung mit einer extensiven Hemmung ver- binden, und ebenso umgekehrt. Nun ist es augenfällig, daß unter den drei allgemeinen Gefühlsdimensionen, die uns die psychologische Analyse der Affekte unterscheiden ließ, die der Erregung und Be- ruhigung (/ E und / D Fig. 1 S. 50) dem Gegensatz der physiolo- gischen Erregungs- und Hemmungsinnervation am unmittelbarsten entspricht. Scheinen doch in diesem Fall die letzteren nur die auf das physische Gebiet übertragenen Kontraste der psychischen Zu- stände selbst zu sein. So ist denn auch in intensiver Beziehung un- zweifelhaft die gesteigerte psychische Erregung durch Erhöhung, die herabgesetzte durch Erniedrigung der Pulswelle gekennzeichnet, wogegen analoge extensive Innervationsänderungen, Beschleunigung und Verlangsamung der Herzbewegungen, erst bei den höheren Graden gehobener und deprimierter Stimmung hinzuzutreten scheinen. Diese zu den physiologischen Symptomen in nächster Beziehung stehen- den Gefühlsrichtungen der Erregung und Beruhigung sind aber zu- gleich diejenigen, die in der Verbindung der Gefühle zu einem Affekt- verlauf die wesentlichsten Intensitäts- und Verlaufsunterschiede der Affekte konstituieren. Hierdurch wird es begreiflich, daß die ver- gleichende Betrachtung der Affekte immer wieder zu Einteilungen geführt worden ist, die, wie die Ausdrücke sthenisch und asthenisch, exzitierend und deprimierend, auf solche von der sonstigen Beschaffen- heit der Gefühlsinhalte unabhängige Gegensätze hinweisen, und die infolgedessen ebensowohl auf die physischen wie auf die psychischen Symptome bezogen werden können ein sprechendes Zeugnis da- für, daß in dieser Hinsicht beide eine zusammengehörige Einheit bilden. Die physische Erregung oder Hemmung ist daher ein unmittel- bares Maß für die in der Richtung der erregenden und hemmen- den Gefühle liegenden Komponenten der Affekte. Bei den andern Gefühlsrichtungen verhält sich dies insofern abweichend, als sich hier die intensiven und die extensiven Wirkungen in verschiedener

106 Die Ausdrucksbewogungen.

Weise verbinden können. Mit jeder solchen Kombination stellt aber die besondere Qualität des Gefühls derart in Beziehung, daß der formale Charakter, den die Gefühle dem Affekt mitteilen, zum Aus- druck kommt. Zugleich zeigt es sich hierbei, daß eben dieser formale Charakter es ist, der den erregenden und hemmenden Gefühlen in ihrer Bedeutung für den Affektverlauf eine Art Suprematie über die andern Richtungen verleiht, so daß auch diese nach ihrer formalen Natur in verschiedener Weise in Erregungs- und Hemmungskompo- nenten zerlegt werden können. Insofern bei einer solchen formalen Analyse der qualitative Inhalt der Gefühle unberührt bleibt, ent- spricht dieses Ergebnis der allgemeinen Beziehung, die sich überall zwischen den psychischen Vorgängen und ihren physischen Parallel- erscheinungen findet. Demnach wird man die gesteigerte, aber ver- langsamte Pulswelle bei Lustgefühlen daraus ableiten können, daß die formale Affektwirkung dieser Gefühle in einer Steigerung und zu- gleich in einem Festhalten der Stimmung an dem lusterregenden Ein- druck besteht: daher die Verbindung intensiver Steigerung mit ex- tensiver Verzögerung des Verlaufs. Von entgegengesetztem Einfluß ist der Unlust Charakter der Gefühle. Intensiv entsteht hier Hem- mung der Erregung, extensiv beschleunigter Verlauf, der sich in der konkreten Aufeinanderfolge der Vorstellungen imd Affekte als ein Fliehen vor den unerfreulichen Eindrücken darstellt. Endlich bei den Spannungsgefühlen sind intensiv wie extensiv nur Hemmungen wirksam, wie wir das bei der gespannten Erwartung an der vermin- derten Reizbarkeit für äußere Eindrücke und dem verlangsamten Vorstellungsverlauf beobachten. Bei der Lösung der Spannung bricht dagegen in beiden Formen die Umkehrung zu gesteigerter Erregung durch, die an verstärkter und beschleunigter Herzaktion und auf der psychischen Seite an den rasch zuströmenden und stark erregenden neuen Bewußtseinsinhalten zu erkennen ist (vgl. Fig. 2 7, S. 53).

Wesentlich einfacher gestaltet sich die Innervation der Blut- gefäße, da sie bloß zwischen den Zuständen der Kontraktion und der Dilatation durch Hemmung der dauernden Tonuserregung wechselt, wobei jedoch die verschiedene Ausbreitung der Symptome eine diesem Gebiet eigentümliche extensive Mannigfaltigkeit der Erscheinungen

Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome. 107

bewirken kann. Zugleich sind es, vielleicht im Zusammenhang mit der überwiegenden Bedeutung der mimischen Muskeln für den Aus- druck der Affekte, die Blutgefäße des Angesichts, die am empfind- lichsten auf Reize jeder Art reagieren. Erröten und Erblassen bilden so die zwei den entgegengesetzten Formen der erregenden und hemmenden Affekte entsprechenden Symptome. Ihre Ausbreitung folgt im allgemeinen dem Gesetze, daß sich schwächere Reize er- regender wie hemmender Art zunächst nur auf die vasomotorischen Nerven der Wangen erstrecken, worauf dann erst bei stärkeren Rei- zmigen dieselben Wirkungen auf die nähere Umgebung dieses Ge- biets, wie Stirn, Nacken, Hals, endlich in seltenen Fällen und nur bei den stärksten Hemmungswirkungen auch auf andere Teile sich aus- dehnen: so auf die Kopfhaut, wo nun infolge der Kontraktion der kleinen Gefäßmuskeln die Haare sich sträuben.

V. Qualitätsäußerungen der Affekte.

1. Gefühle als Grundlagen der Qualitätssymptome.

Mit den Bewegungs- imd Hemmungserscheinungen, welche die Stärke des Affekts messen, verbinden sich in der Regel untrennbar charakteristische Ausdrucksbewegungen von beschränkterem Um- fang, in denen sich die Qualität des Affekts spiegelt. Da diese Quali- tät ganz und gar auf dem Gefühlsinhalte beruht, so sind es die Grund- formen der Gefühle, nach denen sich hier die hauptsächlichsten Ausdruckserscheinungen scheiden. Von den früher hervorgehobenen sechs Hauptqualitäten nehmen aber nicht alle in gleicher Weise an dieser qualitativen Charakteristik der Affekte teil. Dies hängt damit zusammen, daß der Affekt gegenüber dem einfachen Gefühl ein Prozeß zusammengesetzter Art ist, auf dessen Eigenschaften daher auch die einzelnen Elemente, die in ihn eingehen, einen verschiedenen Ein- fluß ausüben. In der Tat haben uns auf einen solchen Unterschied die obigen Betrachtungen über die Intensitätsäußerungen bereits geführt. Die Gefühlsgegensätze der Erregung und Beruhigung be- sitzen nämlich, wie sich dort zeigte, für den ganzen Verlauf des Affekts

108 Die Ausdrucksbewegungen.

und für die an diesen Verlauf zunächst gebundenen Intensitätssym- ptome eine so vorwiegende Bedeutung, daß diese für uns zugleich Merk- male sind, nach denen wir die Gefühle der Erregung und Hemmung selbst, die an einem Affektverlauf teilnehmen, bemessen. Diese Ge- fühle nehmen daher mit Rücksicht auf den Affektverlauf und seine körperlichen Begleiterscheinungen eine eigentümliche Sonderstellung ein. Sie sind qualitative wie die andern, aber als Bestandteile eines Affekts sind sie außerdem diejenigen Gefühlselemente, die dessen formale Eigenschaften, seine Energie und Geschwindigkeit, und da- mit die Energie und den Verlauf seiner physischen Symptome un- mittelbar bestimmen, während die übrigen Gefühlsrichtungen nur indirekt, durch den Einfluß, den sie auf den exzitierenden oder de- primierenden Charakter des Affekts äußern, auch für seine formalen Eigenschaften in Betracht kommen. Demnach sind aber umgekehrt hauptsächlich die beiden andern Gefühlsdimensionen, der Lust und Unlust, der Spannung undLösung, für die spezifischen Quali- tätssymptome bestimmend. Sie geben sich durch Ausdrucks- bewegungen kund, die an sich freilich gleichfalls keine qualitativen Merkmale sind, solches ist durch die Natur aller Affektäußerungen als Bewegungserscheinungen ausgeschlossen. Wohl aber gewinnen diese Bewegungen durch ihre eigentümliche lokale Beschränkung und Verteilung für unsere Auffassung der Affektäußerungen durch- aus den Wert qualitativer Symptome. Hierbei lassen nun natürlich auch diese Erscheinungen mannigfache intensive Abstufungen zu. Doch solange sie eine vorwiegend qualitative Bedeutung bewahren, beschränken sie sich auf bestimmte, ihnen zugeordnete Muskelgebiete. Soweit sie das nicht tun, werden sie zugleich Symptome einer Er- regung oder Hemmung, und sie verbinden sich dann mit ausgebreite- teren und unbestimmteren Intensitätsäußerungen.

2. Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen.

Die in solcher Weise den genannten Richtungen der Gefühle zugehörigen spezifischen Qualitätsäußerungen der Affekte sind in ihrer ursprünglichen und reinen Form ganz und gar beschränkt auf

Mechanismus der mimischen Ausdrucksbewegungen. 109

die Antlitzmuskeln. Der allgemeine Grund dieser Bevorzugung ist augenfällig: jene Bewegungen stehen in engster Beziehung zu den am Angesicht vereinigten Organen der vier sogenannten Spezial- sinne. Unter diesen Organen sind aber wieder Auge und Mund die- jenigen, die durch die Ausbildung der ihre Funktionen unterstützen- den Muskulatur die größte Mannigfaltigkeit charakteristisch ver- schiedener Bewegungen zulassen. Die Muskeln des äußeren Gehör- organs sind beim Menschen verkümmert, so daß ihre Beteiligung an den mimischen Bewegungen ganz hinwegfällt. Wo die Richtung auf Schalleindrücke Bewegungen herausfordert, da gehen diese von der Gesamtmuskulatur des Kopfes aus: solche gehören dann aber wesentlich schon in das Gebiet der Vorstellungsäußerungen der Affekte. Eine stärker hervortretende Rolle spielt die Nase bei den mimischen Gefühlsäußerungen. Im ganzen ist aber doch auch diese Rolle nur eine sekundäre, indem sich mit den Ausdrucksbewegungen des Mundes entsprechende Wirkungen der Nasenmuskeln, namentlich Erweiterung und Verengerung der Nasenöffnung, Hebung und Senkung der Nasen- flügel, verbinden.

Bei Mund und Auge ist nun die typische Anordnung der um- gebenden Muskeln eine wesentlich übereinstimmende (Fig. 9). Nur ist die äußere Muskulatur des Mundes reicher und feiner gegliedert. Analog verhalten sich bei beiden Organen zunächst die in dichten und fest mit der Haut verwachsenen Bündeln verlaufenden Schließ- muskeln der Mund- und der Augenspalte (Orbicularis oris und oculi). Indem diese Muskeln in beiden Fällen der festen Anheftungspunkte ermangeln, und indem ganz besonders bei ihnen die früher (S. 75 f.) für die Gesichtsmuskeln im allgemeinen hervorgehobene Eigenschaft lokal beschränkter und mannigfach kombinierbarer Reizbarkeit der einzelnen Faserbündel hervortritt, ist jeder von ihnen für sich allein schon verschiedener Nuancen des Ausdrucks fähig. Daneben besitzt dann der Mund noch ein vollkommen symmetrisch ausgebildetes System geradlinig ziehender Muskeln, die teils die Oberlippe heben, die Unterlippe senken (Levator und Quadratus labii superioris, Qua- dratus labii inf erioris), teils im selben Sinn auf die Mimdwinkel und die an sie angrenzenden Gebiete beider Lippen einwirken (Zygomaticus, Risorius Santorini, Triangularis). Demgegenüber bieten die das

110

Die Ausdiiicksbewegungen.

Auge umgebenden Antlitzmuskeln eine wesentlich einfachere und in- sofern eine minder symmetrische Anordnung, als nur den Hebemuskeln der Oberlippe hier in den breiten Faserzügen des Stirnmuskels (Fron- talis) imd in dem in der Tiefe der Ringmuskelschichten liegenden (darum in der Fig. nicht sichtbaren) Heber des oberen Augenlids sowie in dem dem Mundwinkelheber entsprechenden „Stimrunzler"

Auricularis

Buccinator-

Fronialis

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Orhicular. oculi

Mi

■'mm Borsalis narium

j>-4ii... Levfitor alae nasi

Triangwlaris nasi

^.^J-'""-"""f Levaior lab, sup.

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Orhicular. oris

filt^Ti"'^ ' Z^ffontatictis

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, ///l ■-'■•■— Bisorius Santorini

'[/[ß— Quadratus lab. inf.

Triangiüaris

Fig. 9. Übersicht der mimischen Muskulatur,

{Corrugator superciliorum) ähnliche Muskeln gegenüberstehen, während am äußeren Augenwinkel solche fehlen. Dafür bilden hier die Be- wegungen des Augapfels selber, die unter der Wirkung der in der Augenhöhle liegenden, das Auge um seinen Mittelpunkt drehenden Muskeln erfolgen, einen um so wichtigeren Bestandteil des mimischen Ausdrucks. An der Nase treten als oberflächliche mimische Muskeln ein die Nasenöffnung verengender (Compressor oder Triangularis),

Mimische Symptome der Lust- und ünlustgefühle. 111

sodann der den unteren Teil der Nase emporhebende Nasenrücken- muskel (Dorsalis narium), und endlich ein Heber des Nasenflügels (Levator alae nasi) hervor, welchem letzteren in der Tiefe ein Nieder- zieher des Nasenflügels und ein solcher der Nasenscheidewand gegen- überstehen. «

3. Mimische Symptome der Lust- und ünlustgefühle.

Unter den durch dieses System der Antlitzmuskeln erzeugten Bewegungen sind es in erster Linie die Mundbewegungen, die teils für sich allein, teils mit unterstützender Wirkung der das Auge und die Nase umgebenden Muskeln die Gefühle der Lust und Un- lust in ihren mannigfachen Färbungen, Verbindungen und Inten- sitätsabstufimgen ausdrücken. Die leighte Verständlichkeit dieses Mienenspiels beruht vor allem darauf, daß der von der Mimik des Mundes angegebene Grundton des Ausdrucks in nichts anderem als in einer Wiedergabe jener Bewegungen besteht, die bei lust- oder unlusterregenden Geschmackseindrücken reflektorisch erfolgen. Schon beim neugeborenen Kinde sind sie auf die Einwirkung süßer, saurer und bitterer Geschmacksreize zu beobachten, unter Bedingungen also, unter denen es noch zweifelhaft ist, ob die Eindrücke bereits Lust- oder Ünlustgefühle erregen können, wo aber jedenfalls die Be- wegungsreaktionen selbst als reflektorische, in der vererbten Anlage der zugehörigen niederen Zentren begründete, angesehen werden müssen^). Auch wenn wir an uns selbst die mimischen Wirkungen der Geschmacksreize prüfen, beobachten wir übrigens, daß diese Ausdrucksbewegungen ohne unser Wissen und Wollen erfolgen, und daß es außerordentlich schwer wird, sie willkürlich zu unterdrücken. Ebenso verbinden sich die durch diese Bewegungen hervorgerufenen Tastempfindungen so innig mit den zugehörigen Geschmackserregungen, daß beide bei jeder Reizqualität eine jener festen Assoziationen bilden, von denen das eine Glied das andere in das Bewußtsein ruft. Mag

^) A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugeborenen Menschen, 1859, S. 16 ff. Genzmer, Die Sinneswahmehmungen des neugeborenen Menschen, 1892. Vgl. oben S. 44 f.

112 Die Ausdrucksbewegungen.

aber auch diese Assoziation noch so sehr in den Reflex Verbindungen, die im Laufe der generellen Entwicklung entstanden sind, mechanisch vorgebildet sein, so läßt sich doch kaum zweifeln, daß ursprünglich alle diese mimischen Bewegungen Triebbewegungen waren, die, durch die Sinnesreize hervorgerufen; der lust- oder unlusterregenden Be- schaffenheit derselben entsprachen. Für diese Beurteilung ist be- sonders die Tatsache maßgebend, daß die Papillen der Zunge, die auf die verschiedenen Geschmacksstoffe mit verschiedener Empfindlich- keit reagieren, derart über die Oberfläche dieses Organs verteilt sind, daß an der Zungenspitze vorzugsweise dicht die für süße Eindrücke reizbaren Elemente liegen, die durch saure Reize erregbaren in größerer Menge längs der beiden Zungenränder, und die für bittere Stoffe emp- findlichen an der oberen Fläche der Zungenbasis. Die letztere Pa- pillenregion scheint auch das Salzige am stärksten zu empfinden^). Nun stehen die mimischen Reflexe, die bei der Einwirkung süßer, saurer und bitterer oder stark salziger Geschmacksreize beobachtet werden, zu den genannten drei Regionen des Geschmacksorgans in deutlicher Beziehung. Dies spricht sich schon darin aus, daß die Be- wegungen jedesmal solche Teile der Mundmuskulatur ergreifen, die den genannten Regionen benachbart sind. Daneben ist aber auch eine teleologische Beziehung dieser Bewegungen zu den Geschmacks- reizen nicht zu verkennen. Sie beruht darauf, daß das Süße durch- weg ein angenehmer, das Bittere ebenso allgemein ein unangenehmer Reiz ist, während salzige und saure Eindrücke mehr indifferent in der Mitte stehen, jedenfalls aber bei erheblicher Intensität ebenfalls unangenehm sind. Dem entspricht es nun, daß die Reflexe auf Süß und Bitter den ausgesprochensten Gegensatz bilden. Der süße Ein- druck erzeugt eine Bewegung der Zunge und der Lippen, welche die vollkommenste Berührung der reizbaren Stellen des Geschmacks- organs mit dem Reiz vermittelt. Äußerlich tritt dabei die gleich- mäßige Zusammenziehung des den Mund umgebenden Ringmuskels deutlich hervor (Fig. 10). Umgekehrt bewirkt der bittere Reiz re- flektorisch eine Senkung der Zungenwurzel und gleichzeitig eine

1) D. P. Hänig, Phil. Stud., Bd. 17, 1901, S. 576 ff., Physiol. Psych. « II, S. 62 f., III, S. 264 f.

Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühle.

113

Hebung de 5 weichen Gaumens, Lageänderungen, bei denen der bittere Stoff möglicbst wenig mit der empfindlichen Geschmacksregion in Berührung kommt. Hierbei erzeugt die erste jener inneren Bewegungen als Folgewirkung ein Herabziehen des Mundwinkels, die zweite ein Emporziehen des Nasenflügels und des mittleren Teiles der Ober- lippe durch gleichzeitige Aktion der nach entgegengesetzter Richtung wirkenden Muskeln (Fig. 11). Der mimische Eeflex des Sauern steht zwischen diesen beiden Fällen in der Mitte. Er besteht in einer Er- weiterung der Mundspalte, die geringer bei mäßigen, sehr stark bei

Fig. 10. Mimik des Süßen.

Fig. 11. Mimik des Bittern.

intensiven Reizen ist und demnach im ersten Fall eine vollkommene Berührung des Reizes mit den empfindlichen Zungenrändern mög- lich macht, im zweiten dagegen einer beschleimigten Vorüberbewegung an diesen Teilen zureichenden Raum läßt. Bei mäßigen Reizen bleibt dabei die Mundspalte geschlossen; bei intensiveren wird sie durch die Aktion der Heber der Oberlippe geöffnet, während sich zugleich die Mundwinkel etwas, jedoch bedeutend weniger als bei der Einwirkung bitterer Geschmacksreize, senken (Fig. 12).

Natürlich läßt sich nicht annehmen, daß alle diese Bewegungen ursprünglich oder überhaupt jemals auf Grund willkürhcher Über- legung ausgeführt worden seien. Aber sobald man zugibt, daß ihre zweckmäßige Beziehung zur Empfindlichkeit der verschiedenen Re-

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. "

114 Die Ausdrucksbewegungen.

gionen der Zunge irgendeinmal entstanden sein muß, so ist es im höclisten Maß unwahrscheinlicli, daß eine solche Anpassung aus einer bloßen Häufung von Zufälligkeiten hervorgegangen sein sollte. Viel- mehr wird die nächstliegende Annahme auch hier die bleiben, daß aus den ursprünglich unbestimmter begrenzten, durch Sinnesreize hervorgerufenen Triebbewegungen diejenigen sich begrenzt und be- festigt haben, die im einen Fall, bei lusterregenden Eindrücken, der Aufnahme des Reizes günstig sind, im andern Fall, bei un- lusterregenden, die leichteste Beseitigung desselben bewirken.

Ihre Bedeutung als mimische Ausdrucksbewegungen empfangen nun diese sämtlichen Geschmacksreflexe dadurch, daß sie bei allen

möglichen lust- oder unlusterregenden Ein- drücken, die mit dem Geschmackssinn gar nichts zu tun haben, sowie nicht minder bei bloß innerlich vorgestellten Erlebnissen von ähnlichem Gefühlscharakter auftreten. So deutet der „süße'' Ausdruck des Mundes Fig. 12. Mimik (pig ^q) j^^j^ beliebige angenehme oder er-

freuliche seelische Stimmung an; der „bittere" Ausdruck begleitet alle möglichen unangenehmen Gefühle (Fig. 11). Nicht in gleicher Weise unzweideutig ist der ,, saure" Ausdruck. Dies ergibt sich schon daraus, daß die beiden gegensätz- lichen, im allgemeinen gesteigerte Lust- und Unlustgefühle begleiten- den Bewegungen des Lachens und Weinens dieselbe Verbreiterung der Mundspalte erkennen lassen, wie sie durch saure Geschmacks- reize hervorgerufen wird (Fig. 13 und 14). Das lachende und das weinende Gesicht unterscheiden sich nicht oder in kaum nennens- wertem Grade durch die Mimik des Mundes selbst. Sie erhalten ihr eigentümliches Gepräge hauptsächlich durch die begleitende Mimik von Nase und Auge. Beim Lachen ist die Nasenöffnung erweitert, die Nasenflügel sind gehoben, das Auge geöffnet und bei mäßigem Affekt fixierend einem Gegenstand zugewandt (Fig. 13). Das weinende Gesicht zeigt herabgezogene Nasenflügel, verengerte Nasenöffnungen, halb geschlossene, besonders am inneren Winkel etwas zusammen- gedrückte und nach einwärts gezogene Augen, womit sich infolge der Kontraktion des diese Bewegung bewirkenden Corrugator super-

Mimische Symptome der Lust- und Unlustgefühie.

115

ciliorum kurze senkrechte, unmittelbar über dem Augenlid gegen die horizontale Richtung sich neigende Stirnfalten verbinden (Fig. 14), Durchgängig bilden so, wie diese beiden Beispiele andeuten, die mi- mischen Ausdrucksformen der Umgebung von Nase und Auge er- gänzende Bestandteile zur Mimik des Mundes. Wir erweitern die Nase> heben die Nasenflügel und öffnen das Auge, um Geruchs- oder Licht- reize aufzunehmen. Durch die entgegengesetzten Bewegungen schützen wir uns vor den Eindrücken auf diese Sinne. Auch diese Bewegungen sind aber, ebenso wie die mimischen des Mundes, angeborene Reflexe,

Fig. 13. Lachen.

Fig. 14. Weinen.

wenngleich sie im allgemeinen erst in einer etwas späteren Zeit deut- lich hervortreten^). Indem sich ferner diese mimischen Bewegungen der Sinnesorgane des Angesichts in verschiedener Weise kombinieren, kann der Gesamtausdruck alle möglichen Schattierungen zwischen Lachen und Weinen durchlaufen. So unterscheidet sich das heftige Lachen vom Weinen eigentlich nur durch wenige, aber charakteristische Züge (Fig. 14 und 15). Die Züge um den Mund sind fast genau dieselben, nur ist beim Weinen die Lippe leicht gebogen, den Übergang in den

^) Übrigens hat Kußmaul (a. a. 0. S. 25) schon bei Neugeborenen Reak- tionen auf Gerüche beobachtet«

8*

116

Die Ausdrucksbewegungen.

bitteren Ausdruck andeutend. Nocli ähnliclier ist der Ausdruck um die Augen, da die mit dem heftigen Lachanfall verbundene Anstrengung hier dieselbe Verengerung der Lidspalte mit hinzukommender Tätig- keit des Stirnrunzlers hervorbringt. Den Hauptunterschied des Aus- drucks erzeugen daher in diesem Fall die sonst zurücktretenden mimischen Züge der Nase, wo das heftig lachende Gesicht (Fig. 15) die starke, die Öffnung der Nase unterstützende Hebung der Nasenflügel und die hilfsweise eingreifende, den grinsenden Aus- druck erzeugende Wirkung des Rückenmuskels der Nase höchst augenfällig zeigt, während beim weinenden umgekehrt die Nasen -

Öffnungen gesenkt, die Nasenflügel gegen den Mund herabgezogen sind. Diese Züge sind es, mittels deren ein in der Wieder- gabe des mimischen Ausdrucks geübter Zeichner mit wenigen Strichen ein lachen- des in ein weinendes Gesicht überführen kann.

Ahnliche Kombinationen teils überein- stimmender, teils kontrastierender Aus- drucksformen können noch in mannig- faltiger Weise vorkommen. Es mag hier die Erwähnung zweier besonders häufiger Beispiele genügen. Das eine besteht in der kombinierten Bewegung von Mund, Nase und Auge, die ein stark bitterer, Ekel erregender Geschmacksreiz hervorruft, und die uns dann allgemein als Symptom sehr heftiger Unlustaffekte begegnet, wie Zorn, Wut, Verachtung, nur jedesmal nach der besonderen Beschaffenheit des Affekts in etwas veränderter Form (Fig. 16). Der mimische Ausdruck in allen seinen Bestandteilen ist hier lediglich eine Steigerung der einfach bitteren Miene, wie sie die Fig. 11 wiedergibt. Ein Gegenstück zu dieser Steigerung bietet die in Fig. 17 dargestellte Verbindung der süßen mit der bitteren Miene (Fig. 10 und 11), wie sie als Ausdruck zwiespältiger Stimmungen sehr oft vorkommt. Sie ist, ähnlich den Übergängen des Lachens in das Weinen, für die außerordentlich kleinen, der oberflächHchen Be- obachtung leicht entgehenden mimischen Unterschiede bezeichnend,

Fig. 15. Heftiges Lachen.

Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.

117

die dem Ausdruck dennoch einen sofort in die Augen fallenden Gesamtcharakter verleihen können. Der einzige Unterschied zwischen Fig. 10 und 17 besteht in der Tat darin, daß im letzteren Fall Mundwinkel und Nasenflügel um eine kaum merkliche Größe gesenkt sind. Dieser kleine Zug gibt aber der süßen Miene jenen leichten Anflug von Bitterkeit, den man als Symptom einer resi- gnierten, halb selbstzufriedenen, halb weltschmerzlichen Stimmung findet.

Fig. 16. Ekel.

Fig. 17. Kombination von Süß und Bitter.

4. Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.

Mit den mimischen Bewegungen, die, unmittelbar an die Sinnes- organe des Angesichts gebunden, den Lust- oder Unlustinhalt der Affekte andeuten, verbinden sich nun weitere, ebenfalls dem mi- mischen Gebiet angehörende Erscheinungen, die charakteristische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle bilden. Sie sind physiologisch durch die Eigenschaft gekennzeichnet, daß sie nicht oder doch nur in nebensächlicher Weise von den Muskeln der speziellen Sinnesapparate ausgehen, vielmehr vorzugsweise an den die Mund- bewegungen unterstützenden Wangenmuskeln, dem Buccinator (Fig. 9) und dem unter dem Platysma zum Unterkiefer herabsteigen- den Masseter, zum Ausdruck kommen, während in geringerem Grade die übrigen mimischen Muskeln beteiligt sein können. Insoweit

118

Die Ausdrucksbewegungen.

hierbei aucli die Muskeln der Sinnesorgane in Aktion treten, lassen diese eine direkte Beziehung zu lust- oder unlusterregenden Eindrücken nicht erkennen, es sei denn, daß Komplikationen mit den mimischen Bewegungen der vorigen Art vorliegen. Ein weiteres physiologisches Merkmal, das minder allgemeingültig ist, besteht darin, daß diese Bewegungen nicht rasch wechselnde, sogenannte klonische, sondern mehr oder minder dauernde Steige- rungen oder Hemmungen des g:^^^^'^^T>^-^^ Tonus der mimischen Mus-

keln sind. Doch ist dieses Merkmal nicht immer zu- treffend, da die mimischen Ausdrucksformen , die ur- sprünglich von Sinnesein- drücken ausgehen, wie der süße, bittere, saure Aus- druck usw., durch Gewohn- heit und Übung ebenfalls zu tonischen Zuständen füh- ren können, wo sie dann in physiognomische Züge übergehen. Psychophysisch kann man schließlich als das hauptsächlichste Unter- schiedsmerkmal beider Arten wohl dies ansehen, daß die Symptome der Lust und Unlust in Bewegungen von abweichender Form bestehen, die erst indirekt, durch die Beziehung zu Sinnes- eindrücken, auf die qualitativen Gegensätze der Gefühle hinweisen, wogegen die mimischen Symptome der Spannung und Lösung durch die verschiedenen Grade der Erhöhung und der Herabsetzung des Tonus unmittelbar einen Gegensatz andeuten. In dieser Be- ziehung sind die Gefühle der Spannung und Lösung in ihren phy- sischen Äußerungen offenbar den Symptomen der Erregung imd Be- ruhigung näher verwandt. Doch es bleibt, abgesehen von der Be- schränkung der ersteren auf die mimischen Muskeln, der wichtige

Fig. 18. Ausdruck dauernder Befriedigung.

I

Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.

119

Unterschied, daß sicli die exzitierenden und deprimierenden Gemüts- bewegungen in dem wechselnden Spiel gesteigerter und herabgesetzter Muskeltätigkeit zu erkennen geben, während Spannung und Lösung in dauernden Zuständen gradweise verschiedener tonischer Erregung bestehen. Dabei können übrigens auch diese Zustände bald allmählich, bald plötzlich sich einstellen.

Diese Momente allmählicher oder plötzlicher Entstehung sind

Fig. 19. Hochmut.

Fig. 20. Verachtung.

es zugleich, die neben dem Grad der Erhöhung und der Erniedrigung des Tonus die eigentümlichen Unterschiede bestimmen, durch die diese Innervationsverhältnisse der mimischen Muskeln charakteristische Symptome für bestimmte qualitative Gefühlszustände werden. Als solche kommen aber hier, nach der psychologischen Natur der Span- nungs- und Lösungsgefühle wie nach dem tonischen Charakter der entsprechenden physischen Erscheinungen, nicht sowohl vorüber- gehende Affekte als dauernde Stimmungen in Betracht. So ist eine mäßige tonische Spannung der Wangenmuskeln das deutliche

120

Die Ausdrucksbewegungen.

Merkmal dauernder Befriedigung, besonders wenn sich damit auch noch ein schwacher Tonus der Mund- und Augenmuskeln ver- bindet, der bei den ersteren eine nur eben erkennbare leichte Schließung der Mundspalte, bei den letzteren einen die starre Fixation vermeiden- den Blick herbeiführt (Fig. 18). Der Ausdruck ändert sich sofort in seiner Bedeutung, wenn die tonische Spannung aller der genannten Muskelgruppen um eine kleine Größe zunimmt, wo nun der stärkere Druck der Wangen, der fester geschlossene Mund, der strenger fixie- rende Blick jene intensiveren Spannungsgefühle andeuten, die dem

erhöhten Selbstgefühl eigen sind, und die sich bei weiterer Verstärkung zum Hochmut steigern kön - nen, in dessen Symptome denn auch der mimische Ausdruck ohne scharfe Grenze übergeht (Fig. 19). Verbindet sich dieser noch mit der bittere Geschmacks- eindrücke und unange- nehme Stimmungen an- deutenden Senkung des Mundwinkels, so wird er, namentlich wenn der letz- tere Zug auf eine Seite beschränkt bleibt, zum Ausdruck der Verach- tung (Fig. 20). Dabei ist der Blick nach der nämhchen Seite gerichtet, auf der auch der Gegenstand der Verachtung vorauszusetzen ist; doch pflegt die Blickrichtung an dem Gegenstand selbst vorbeizu- gehen. Es ist ganz besonders diese einseitige Richtung des mimischen Ausdrucks, die ihm jenes besondere Gepräge verleiht, in dem sich das erhöhte eigene Selbstgefühl mit dem unangenehmen Eindruck, den ein anderer ausübt, verbindet. Eine davon wesentlich abweichende Bedeutung gewinnt der äußerste, auf alle mimischen Muskeln sich ausdehnende Grad tonischer Spannung, wie er im Zustand angst-

Fig. 21. Heftiger Schmerz.

Mimische Symptome der Spannungs- und Lösungsgefühle.

121

voller Erwartung oder bei intensivstem, in hohem Maße zugleich Furcht wie Hoffnung erregendem Schmerz vorkommt. Neben den Wangenmuskeln sind in diesem Fall besonders die Kiefermuskeln, die Stirn- und die Augenmuskeln in tonischem Krampf kontrahiert; daher die Zähne fest zusammengepreßt, die Stirn gerunzelt, das Auge starr fixierend erscheint (Fig. 21). Zugleich pflegt das Symptomen - bild insofern ein kompliziertes zu sein, als die Spannungs- nicht nur

Fig. 22. Passiver Gesichtsausdruck eines Imbezillen.

Fig. 23. Schreck.

mit Unlust-, sondern auch mit Erregungssymptomen verbunden sein können, wobei sich, wie oben erörtert, die Unlust hauptsächlich in der Mimik des Mundes, die Erregung in wiederholten klonischen Be- wegungen der übrigen Körperorgane sowie in solchen des Angesichts äußert, welche die tonische Spannung unterbrechen.

Die diesen Ausdrucksweisen gesteigerter Spannung entgegen- gesetzten Symptome der Lösung bieten sich wieder in verschiedenen Formen, je nachdem sie dauernde Stimmungen begleiten oder bei plötzlichen Affekten auftreten, wobei sie in letzterem Falle meist

122

Die Ausdrucksbewegungen.

auf eine unmittelbar vorangegangene Erwartung, Furcht und der- gleichen folgen. Die Lösung als dauernder Ausdruck erscheint als eine einfache Umkehrung der in Fig. 18 und 19 dargestellten Formen der Spannung. Die schlaff herabhängenden Wangen, der unbestimmt fixierende Blick, wie sie die wesentlichen Bestandteile dieses Sym- ptomenbildes ausmachen, können ebensogut als Zeichen stumpfer Teilnahmlosigkeit wie träumerischer Versunkenheit und ähnlicher passiv hingegebener Seelenzustände vorkommen (Fig. 22). Ganz anders, wenn der Zustand plötzlich hereinbricht und sich durch die

Fig. 24. Kummer.

Fig. 25. Angst.

größere Intensität der Erscheinungen sowie durch den Kontrast zu vorangegangenen Spannungen sogleich als heftiger Affektanfall zu erkennen gibt, wie in ausgesprochenem Maße beim Schreck und in geringerem bei der Überraschung, wo beinahe alle zuvor tonisch erregten Muskeln des Angesichts ihre Dienste versagen, die Wange schlaff herabsinkt, der Mund sich öffnet, das Auge ins Weite starrt und zugleich durch seine krampfhafte Öffnung eine begleitende starke Erregung verrät (Fig. 23). Die ähnliche Komplikation der Sym-

Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 123

ptome, bei der das übrige Angesicht völlige Hingebung, nach den Ge- fühlselementen betrachtet Lösung und Depression, das Auge und seine Umgebung eine bald unbestimmtere, bald bestimmter gerichtete Spannung andeutet, findet sich nicht selten auch bei dauernden Stimmungen. So ist diese Komplikation von Ausdrucksformen ver- schiedener Gefühlsrichtungen das überaus charakteristische Sym- ptomenbild des Kummers (Fig. 24) und, wenn sich die Unlust mid Erregung steigern, der Angst (Fig. 25). Bei dem letzteren Affekt bilden zugleich die Hemmung des Herzschlags und die diese kom- pensatorisch begleitende Kontraktion der kleinen Arterien Neben- symptome, die sich äußerlich in der tiefen Blässe des Angesichts und zuweilen, infolge der Beteiligung der Kopfhaut an dem Krampf der Arterien, in dem sich emporsträubenden Kopfhaar kundgeben^).

5. Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen.

Die hier an einigen Beispielen vorgeführten, in unzähligen Ab- stufimgen, Variationen imd Kombinationen vorkommenden Grund- formen mimischer Ausdrucksbewegungen bieten uns überall in der praktischen Lebenserfahrung die Merkmale, nach denen wir vorüber- gehende Affekte oder bleibende Stimmungen und die Qualität der in sie eingehenden Gefühle beurteilen. Aber so sehr wir auch in der Beobachtung dieser Merkmale geübt sein mögen, so erstreckt sich doch diese Übung in der Regel nur auf den Totaleindruck, den sie hervorbringen, nicht auf den objektiven Tatbestand selbst in den einzelnen ihn konstituierenden Bestandteilen. Unter diesen bieten wohl die mimischen Bewegungen der Mundmuskeln nebst den sie in übereinstimmendem Sinn begleitenden Bewegungen der übrigen,

^) Zu den obigen die Haupt formen des mimischen Ausdrucks erläutern- den Abbildungen haben, insoweit sie sich auf die Mimik der Lust- und Unlust- affekte beziehen (Fig 10 17), die von Piderit mitgeteilten Skizzen (Mimik und Physiognomik 2) als Vorlagen gedient. Die Ausdrucksformen der Spannungs- und Lösungsgefühle sind teils nach Abbildungen von Harless (Plastische Ana- tomie, S. 127 ff.) teils nach solchen Morisons (Physiognomik der Geisteskrank- heiten, 1853) ausgeführt. Parallelen zu den obigen Figuren bieten einige von Kraepelin (Psychiatrie®, II) mitgeteilte Gruppenbilder, sowie eine Reihe phy- siognomischer Abbildungen Geisteskranker bei Th. Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie, 1892 (10 Gesichtstafeln).

;[24 I^i® Ausdrucksbewegungen.

Nase und Auge umgebenden Muskeln der psychologisclien Deutung die geringsten Schwierigkeiten. Die einfachen Gefühle, die sich mit den Geschmacksreizen des Süßen, Sauern, Bittern, sowie mit ent- sprechenden Geruchs- und Gesichtsreizen verbinden, sind allen mög- lichen zusammengesetzten Gefühlen und Affekten insofern verwandt, als diese den nämlichen allgemeinen Gefühlsrichtungen angehören. Dabei bewährt sich überall das Gesetz, daß die seelischen Zustände, die an unmittelbare sinnliche Eindrücke gebunden sind, in ihrer Ent- stehung den verwickeiteren, auf früheren Erlebnissen und erworbenen Anlagen beruhenden vorausgehen. Wie Sinneswahrnehmungen früher sind als Phantasievorstellungen, äußere Willenshandlungen früher als innere Entschlüsse und Vorsätze zu künftigen Handlungen, so sind auch die einfachen Tast-, Geschmacks- und sonstigen Sinnes- empfindungen früher als die inneren seelischen Stimmungen der Freude, des Kummers, des Ärgers usw. Nun ist aber die sogenannte innere Seelenstimmung gleichfalls eine seelisch-körperliche Erregung, wie die Veränderungen von Herzschlag, Blutgefäßreizung und Atmung, und die gesamten, die erregende oder deprimierende Richtung des Affekts anzeigenden Einflüsse auf die äußeren Körpermuskeln zeigen. Daß unter diesen motorischen Erregungen diejenigen in bevorzugter Weise auftreten, deren ursprüngliche Entstehung der allgemeinen Richtung des Affekts entspricht, ist wiederum eine notwendige Folge jener Assoziation analoger Gefühle, die ihrerseits nur ein Spezialfall des durch zahllose Erfahrungen bestätigten allgemeinen Assoziations- prinzips ist. Sobald sich eine neue, zusammengesetztere seelische Stimmimg entwickelt, die z. B. in ihrer Lust- oder Unlustqualität einer früheren, einfacheren verwandt ist, wird daher diese durch Asso- ziation wachgerufen, und mit ihr entstehen naturgemäß auch die an sie gebundenen physischen Ausdrucksbewegungen. Hierdurch gewinnen zugleich die bekannten Metaphern der Sprache ihre psy- chologische Beleuchtung. Wenn wir Freude und Hoffnung ,,süß", das Leid ,, bitter", den entsagenden Entschluß ,, sauer" nennen, so können diese Ausdrücke ursprünglich unmöglich absichtliche Über- tragungen des sinnHchen Eindrucks auf eine sogenannte ,, nicht sinn- liche Vorstellung" sein. Ist doch hier die Metapher selbst erst auf Grund jener natürlichen Assoziationen verständlich, bei denen die

Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 125

Verbindung zunächst gar nicht als eine Übertragung, sondern als eine unmittelbare Übereinstimmung empfunden wird^). Nachdem sich einmal solche Assoziationen gebildet haben, kann dann allerdings auch eine willkürliche Metapher einsetzen, die nach dem Vorbild jener natürlichen Verbindungen neue, künstliche schafft. Aber diese Über- tragungen folgen dabei doch den natürlichen Vorbildern der primären Assoziationen, durch welche neu sich entwickelnde seelische Stimmungen ihnen verwandte sinnliche Gefühle, die in der psychischen Entwick- lung vorausgingen, erweckten. An die sinnlichen Gefühle und die sie leise begleitenden Empfindungen sind dann wieder mit mecha- nischer Sicherheit die durch die letzteren ausgelösten Bewegimgen gebunden. Vermutlich ist daher die Entstehung jener sprachlichen Metaphern selbst ein sekundärer Vorgang, der sich nicht an die Emp- findung, sondern an den mimischen Ausdruck derselben angeschlossen hat. Mußte doch dieser erst dem sinnlichen Gefühl die bestimmte Beziehung verleihen, die den objektiven Beobachter wie den Fühlen- den selbst veranlassen konnte, sich der Assoziation eines rein inneren Seelenzustandes mit gewissen Sinneseindrücken deutlich bewußt zu werden. Vorher war diese Assoziation eine jener dunkel bewußten, die, so wichtige Erfolge sie auch für die elementaren psychischen und psychophysischen Vorgänge haben mögen, doch nicht in die Sphäre des sprachlichen Denkens hineinreichen.

Innerhalb der individuellen Entwicklung wird man nun die Asso- ziation der zusammengesetzten Gefühle und Affekte mit den ein- fachen sinnlichen Gefühlen durchaus als eine solche ansehen müssen, die sich an die angeborenen und vererbten Reflexe der den Sinnes- organen beigegebenen mimischen Muskeln anschließt, und zu der deshalb ebenfalls in ähnlichen angeborenen und vererbten Anlagen der Grund gelegt sein mag. In der Tat stehen ja die Leitungsbahnen der Geschmacksnervenfasern mit den Fazialis- und Hypoglossus- zentren offenbar in einer durch die generelle Entwicklung eingeübten Verbindung, so daß sofort nach der Geburt durch bestimmte Ge- schmacksreize die ihnen adäquaten Bewegungen ausgelöst werden (S. 111). Dies vorausgesetzt, ist aber natürlich auch die allmähliche

^) Vgl. hierzu die in Kap. VIII (Bedeutungswandel) folgende eingehen- dere Erörterung der ,, Metaphern der Sprache".

126 I^ie Ausdrucksbewegungen.

Entwicklung anderer, uns noch unbekannter Nervenverbindungen nicht ausgeschlossen, durch die eine Übertragung der inneren Seelen- zustände in äußere sinnliche Formen vermittelt werden kann, bevor die Assoziationseinflüsse des individuellen Lebens in merklicher Weise wirksam geworden sind. Hier werden sich eben niemals individuelle und generelle Entwicklung ganz voneinander sondern lassen. Doch für das psychophysische Verständnis der Vorgänge ist dies deshalb nicht von erhebhcher Bedeutung, weil die in bestimmten organischen Anlagen niedergelegten Erwerbungen der generellen Entwicklung doch nur auf dem Weg einer zahllosen Menge individueller Vorgänge entstanden sein können. Im vorliegenden Falle wird man nun mit großer Wahrscheinlichkeit die Stufen des Prozesses so zwischen bei- den Gebieten verteilen dürfen, daß man die Entstehung der zweck- mäßigen Sinnesreflexe ganz und gar der generellen, die Assozia- tionen zwischen sinnlichen Empfindungen und Gefühlen und inneren Seelenzuständen aber der Hauptsache nach der individuellen Ent- wicklung zuweist; wenn auch immerhin diese Asso/iiationen durch gewisse generell erworbene zentrale Anlagen begünstigt sein werden. Für die erste Annahme bildet das Vorkommen der Geschmacks- und Geruchsreflexe beim Neugeborenen ein unzweifelhaftes Zeugnis. Die zweite erscheint aus dem Grunde wahrscheinlich, weil die zu- sammengesetzteren Gefühle und Affekte überhaupt erst während des individuellen Lebens sich ausbilden.

Ist die Assoziation zwischen dem physischen Zustand und der einem Sinneseindruck von verwandtem Gefühlston entsprechenden mimischen Bewegung eingetreten, so schließt sich aber an sie not- wendig eine zweite, sekundäre, die zugleich verstärkend auf die erste zurückwirkt. Die mimische Bewegung selbst wird nämlich von einer Tast- und Muskelerapfindung begleitet, die auf das engste mit den entsprechenden Sinneseindrücken assoziiert ist. Die so erweckten psychischen Inhalte sind allerdings in ihren Empfindungsbestand-, teilen sehr schwach und unbestimmt, was sich teils aus der außer- ordentlich geringen Intensität der Erinnerungsbilder von Geschmacks- und Geruchsempfindungen, teils aus der Mannigfaltigkeit lust- und unlusterregender Empfindungen imd Vorstellungen des Gesichts- sinns erklärt. So kommt es, daß diese reproduktiven Elemente hier

Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 127

großenteils durch die an die mimischen Bewegungen gebundenen Tastempfindungen ergänzt werden, mit denen nun die entsprechen- den sinnlichen Gefühle fest assoziiert sind. Darum ist bei dem Ge- schmacksaus druck des Süßen, Bittern, Sauern wirklich etwas vom gleichen Geschmackseindruck in unserem Bewußtsein. Aber zu- gleich tritt die eigentliche Geschmacksempfindung sehr hinter der ihr assoziierten Tastempfindung zurück. Mit dieser Beschränkung haben dann die Ausdrücke ,,süße Freude", ,, bitteres Leid" und der- gleichen keine metaphorische, sondern eine wirkliche, sinnliche Be- deutung.

Die ähnlichen Verhältnisse wie beim Geschmackssinn kehren bei den mimischen Bewegungen wieder, die lust- und unlusterregende Licht- und Geruchseindrücke andeuten. Nur kann es schon wegen der sehr viel größeren Anzahl der Geruchs- und Gesichtsqualitäten hier nicht zu ähnlichen scharf charakterisierten Ausdrucksformen kommen. Damit hängt wohl zusammen, daß überhaupt die mimischen Hilfsmittel dieser beiden Sinne beschränkter, die Ausdrucksbewegungen gleichförmiger sind, indem sie nur die Gegensätze solcher Eindrücke, die vom Sinnesorgan aufgesucht, und solcher, die von ihm gemieden werden, angeben. Erst als Begleiterscheinungen der feiner nuan- cierten mimischen Mundbewegungen gewinnen diese unbestimmteren Lust- und Unlustsymptome ihre konkretere Bedeutung. Gerade die Armut des Geschmackssinns an spezifisch verschiedenen Empfin- dungen scheint hier mit dem größeren Eeichtum der von ihm aus- gehenden mimischen Bewegungen zusammenzuhängen. Auch die an die mimischen Tastempfindungen jener andern Sinne gebundenen Assoziationen sind daher von unbestimmterem Charakter: die Sinnes- qualitäten selbst verschwinden in den entstehenden Komplikationen. Um so mehr ist wieder an die jede Bewegung begleitende innere Tast- empfindung ein deutliches Lust- oder Unlustgefühl geknüpft, das die Rückwirkung des mimischen Ausdrucks auf den Affektverlauf verstärkt. Dies ist vor allem bei den Ausdrucksbewegungen des Lachens imd Weinens zu beobachten, an denen sich diese Geruchs- und Gesichtsreflexe der Affekte hauptsächlich beteiUgen. So wird man kaum sagen können, daß durch die energische Tätigkeit des Stirnrunzlers, wie wir sie bei verdrießlichen und traurigen Stimmimgen

128 Die Ausdrucksbewegungen.

wahrnehmen, jemals irgendeine Assoziation an ein bestimmtes Ge- sicbtsbild erweckt werde. Aber gewiß ist, daß diese Bewegmig was man sogar durch ihre willkürKche Herbeiführmig erproben kami eine Unluststimmung mit sich führt, der wir mit aller Gewalt nicht widerstehen können. Man versuche es einmal, mit dem Ausdruck des Grames heitere, fröhliche Vorstellungen zu verbinden, und man wird bald wahrnehmen, daß dies entweder nicht gelingt, oder daß der Ausdruck mit einer Art mechanischen Zwanges der ihm wider- streitenden Stimmung weicht.

Die nämlichen hin- und herwandernden Assoziationswirkungen fehlen nun auch bei den Ausdrucksformen der andern, die qualitativen Symptome der Affekte mitbestimmenden Gefühle der Spannung und Lösung nicht. Bei ihnen verschwinden aber im allgemeinen noch mehr als bei den mimischen Gesichts- und Geruchsreaktionen die Assoziationen mit den äußeren Eindrücken, die als ursprüngliche Gelegenheitsursachen der psychischen Stimmungen wirksam gewesen sein mögen. Um so größer ist die Mannigfaltigkeit dieser Ursachen und um so unbestimmter der einzelne zu assoziierende Eindruck, weil nicht nur Reize aller möglichen Sinnesorgane an der Entstehung der Ausdrucksformen beteiligt sein können, sondern weil gerade die Gefühle der Spannung und Lösung, ebenso wie die oft mit ihnen ver- bundenen der Erregung und Herabstimmung, von frühe an aus An- laß psychischer Vorgänge entstehen, die nur noch indirekt äußere Sinneserregungen als ihre entfernteren Vorbedingungen voraussetzen. Besonders gilt das von jenen dauernden mimischen Ausdrucksformen, die in dem tonischen Spannungsgrade der Antlitzmuskeln zutage treten, und die auf gleichmäßig andauernde psychische Ursachen zurückweisen. Reproduktionen früherer Eindrücke kommen als dauernde seelische Zustände kaum vor. So mögen sie denn auch hier höchstens bei den niemals ganz fehlenden momentanen Schwan- kungen der Gemütslage bis zu einem gewissen Grade mitwirken. Um so mehr drängen sich in diesem Fall die unmittelbar gegebenen Spannnungsempfindungen selbst und ihr Einfluß auf die Gemütslage in den Vordergrund. Jener wechselnde Tonus der Wangenmuskeln, der bald aufmerksame Erwartung, bald ruhige Festigkeit des Ent- schlusses, bald plötzliche Lösung einer psychischen Spannung oder

Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen. 129

fortwährende apathische Ruhe ausdrücken kann er ist jedesmal von Empfindungen begleitet, die der Seelenstimmung einen ihr ad- äquaten, eben darum aber auch sie wiederum steigernden Gefühlston hinzufügen. Dies tritt wegen der Summation der Wirkungen in der Zeit ganz besonders bei den dauernden Stimmungen hervor. Hier kann man geradezu sagen: der mimische Ausdruck des Selbstzufriedenen, des Hochmütigen, des Kummervollen (Fig. 18, 19, 24) ist ein wich- tiges Moment der Erhaltung seiner Gemütslage. Aus dieser können die einzelnen psychischen Bestandteile auf längere Zeit ganz ver- schwinden: bleibt der mimische Ausdruck, so bleibt mit den an ihn gebundenen Empfindungen und Gefühlen auch der Grundcharakter der seelischen Stimmung bestehen.

Vergleicht man die so in ihren wesentlichsten Elementen in der Mimik des Angesichts vereinigten Qualitätsäußerungen der Affekte mit den Intensitätssymptomen, so fällt ohne weiteres die reichere und feinere Ausbildung der ersteren in die Augen. Dies hat im all- gemeinen seinen verständlichen Grund darin, daß die Intensitäts- äußerungen in ihren ursprünglichen Formen Trieb- und Reflex- bewegungen sind, die auf Tastreize erfolgen, die Qualitätsäußerungen dagegen Reaktionen, die Eindrücken auf die Sinnesorgane des An- gesichts entsprechen. Mit diesem Verhältnis läßt es sich auch in Be- ziehung bringen, daß nicht nur beide Formen stets miteinander ver- bunden vorkommen, sondern daß in einem gewissen Sinne die mimischen Bewegungen als eine höhere Entwicklungsform oder, wenn man will, als eine nähere qualitative Nuancierung der unbe- stimmteren, die Intensität der Erregung spiegelnden Ausdrucks- bewegungen betrachtet werden können. Damit hängt zusammen, daß unter den drei allgemeinen Gefühlsdimensionen die der Erregung und Beruhigung nicht an den Qualitätssymptomen im engeren Sinne teilnimmt. Ihnen stehen am nächsten die mimischen Äußerungen der Spannung und Lösung, die bereits in nähere Beziehung zu den höheren Sinnesorganen treten, da an ihnen die mimischen Muskeln hervorragend beteiligt sind. Gleichwohl sind es auch hier nicht so- wohl die spezifischen Sinnesorgane als die besonderen Eigenschaften der entsprechenden Teile des Tastorgans, die bei der Entstehung der Ausdrucksformen eine Rolle spielen. Denn die Bedeckung der

W u n d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 9

j[30 I^iö Ausdrucksbewegungen.

mimisclien Muskulatur ist zugleich das empfindlichste Gebiet des Tastsinns. Dadurch wird es zu einem besonders feinen Maße für jene Spannungsverhältnisse der Gemütszustände, wie sie eben in den Spannungs- und Lösungsgefühlen enthalten sind. Daß es das Gebiet der Wangenmuskeln ist, das vorzugsweise dem Ausdruck dieser Ge- fühle dient, dafür darf man aber wohl die entferntere Ursache in der engen Beziehung erblicken, in der jene Muskeln zur Aufnahme und ersten Bewältigung der Nahrung stehen. Indem die Kaumuskeln diesem physischen Bedürfnis die nächste Befriedigung schaffen, reflektieren sich in ihren Spannungszuständen auch die damit assoziierten sinnlichen Gefühle. Hunger und Sättigung geben sich zu allererst in der Ab- und Zunahme des Tonus dieser Muskeln kund. Diese ursprünglichen sinnlichen Grundlagen läßt auch hier die Kultur nicht verschwinden. Wir übertragen, von dem mimischen Eindruck ausgehend, die Bezeichnungen des „Hungrigen" und des ,, Satten ' gelegentlich ebenso wie die des ,, Süßen", ,, Bittern" und ,, Sauern" auf moralische Eigenschaften. Ein physiognomischer Aus- druck, wie der in Fig. 18 (S. 118) dargestellte, kann nicht minder den physisch Gesättigten wie den Selbstzufriedenen verraten. Die durch den Gefühlston der Tastempfindungen dieser Muskelgebiete vermittelte Verbindung erscheint daher vollkommen analog den bei den andern mimischen Muskeln durch die Sinneseindrücke auf Geschmack, Geruch und Gesicht erregten Assoziationen. Zugleich bringt es aber diese Entstehung mit sich, daß die Mimik der Wangen- muskeln immer auch an den Lust- und Unlust- sowie an den Erregungs- und Hemmungssymptomen teilnimmt. Sättigung und Hunger sind ja nicht bloß Spannungs- und Lösungs-, sondern stets auch Lust- und Unlust-, und mehr oder minder erregende und deprimierende Gefühle. Erst im Gefolge des Übergangs der gleichen mimischen Bewegungen auf andere Seelenzustände dürfte hier, unterstützt durch die mit der ursprünglichen Funktion zusammenhängende Tast- empfindlichkeit der Wangen, der Ausdruck der Lösungs- und der Spannimgsgefühle mehr in den Vordergrund getreten sein.

Verhältnis d. Vorstellungsäußerungen zu d. and. Affektsymptomen. 131

VI. Vorstellungsäußerungen der Affekte.

1. Verhältnis der Vorstellungsäußerungen zu den andern

Affektsymptomen.

Jeder Affekt enthält Vorstellungen, die ebenso wie die den Affekt zusammensetzenden Gefühle untereinander verbunden sind und auf diese Weise einen Vorstellungs verlauf bilden. Nirgends zeigt es sich daher so augenfällig wie bei der Beobachtung der Affekte, daß die Vorstellungen und die Gefühle des seelischen Lebens nur verschiedene Seiten der nämlichen unmittelbaren Erlebnisse sind, von denen sich je nach den besonderen Bedingungen bald mehr die eine, bald mehr die andere unserer Wahrnehmung aufdrängt. Wenn wir uns an einem Gegenstand erfreuen oder über ihn erzürnen, so erscheint uns wohl die Vorstellung des Gegenstandes als die Ursache, der die Gefühls- erregung als ihre Wirkung folgt. Wenn wir aber, wie es bei den dauern- den Gemütsrichtungen die Regel ist, in gehobener oder gedrückter Stimmung sind, und wenn dann dort heitere, hier trübe Bilder der Zukunft vor uns auftauchen, so sind wir geneigt, das umgekehrte Verhältnis anzunehmen. Genau genommen ist jedoch weder hier noch dort von irgendeiner regelmäßigen zeitlichen Sonderung dieser Erfahrungsinhalte zu reden. In dem Moment, wo uns ein Objekt als Vorstellung gegeben wird, ist auch schon ein Gefühlszustand vor- handen, der dieser Vorstellung irgendwie entspricht; und der Ver- lauf, den Vorstellung wie Gefühl darbieten, kann ebenso dieses wie jene zuerst in den Vordergrund des Bewußtseins heben. So ist bei neuen Sinneseindrücken meist die Vorstellung, bei Erinnerungs- bildern sehr oft das Gefühl der anscheinend zunächst sich aufdrängende Bestandteil. Ebenso gibt es aber keine Art seelischer Stimmung, die nicht an irgendwelche gegenständliche Inhalte gebunden wäre, mögen diese häufig auch dauernd im dunkeln Hintergrunde des Be- wußtseins bleiben^).

Dieses Verhältnis bringt es mit sich, daß die Affekte ebenso in Vorstellungs- wie in Gefühlssymptomen sich äußern können. Dabei «ind beide Formen der Ausdrucksbewegungen so eng aneinander

1) Physiol. Psych. III e S. 99 ff.

9*

132 I^iö Ausdrucksbewegungen.

gebunden, daß sie erst durch eine ähnliche Abstraktion, wie sie zur Scheidung der Vorstellungen von den Gefühlen selbst dient, zu son- dern sind. Hierfür ist in diesem Falle schon der Umstand bezeichnend, daß alle jene Gefühlsäußerungen, in denen sich bestimmte Sinnes- eindrücke von einem dem vorhandenen Affekt entsprechenden Ge- fühlscharakter spiegeln, nicht bloß auf die Gefühle, sondern stets auch auf die mit diesen assoziierten äußeren Eindrücke hinweisen. Aber in der Festigkeit dieser Assoziationen ist es zugleich begründet, daß hier die ursprünglichen Vorstellungsgrundlagen der Ausdrucks- bewegungen zurücktreten und wir daher den Symptomen einen be- stimmten Vorstellungswert überhaupt nicht mehr beilegen. Dem- nach können als spezifische ,, Vor Stellungsäußerungen" nur solche Erscheinungen gelten, in denen sich unmittelbar die Gegenstände, auf die sich der Affekt bezieht, die Erinnerungen, die er wachruft, zu erkennen geben. Dabei ist aber von vornherein zu erwarten, daß sich diese Erscheinungen hinwiederum untrennbar mit Gefühlsäuße- rungen verbinden, mögen sich nun solche durch besondere mimische Bewegungen oder durch die Energie und Geschwindigkeit der Vor- stellungssymptome selbst verraten. In dieser letzteren Form sind vorzugsweise mit den Merkmalen der für den Verlauf der Affekte ent- scheidenden Gefühle der Erregung und Depression Vorstellungs- gebärden verknüpft. Indem so auch bei dieser Klasse eine Bewegung, in der sich überhaupt kein Affekt verriete, nicht oder annähernd höchstens in gewissen Grenzfällen vorkommt, gehören die Vorstellungs- äußerungen im vollen Sinne des Wortes zu den Affektsymptomen. Zugleich ist hier durchaus die für die Ausdrucksbewegungen im all- gemeinen gültige Voraussetzung maßgebend, daß sie in keinem ihrer Bestandteile aus Überlegung und Wahl entstehen, sondern daß sie natürliche und notwendige Erzeugnisse der bei den ursprünglichen Trieben und deren allmählicher Entwicklung wirksamen psycho- physischen Bedingungen sind. Wo bei einer Bewegung Plan und Ab- sicht wirklich bestehen, da ist dies selbst bei den Vorstellungsäuße- rungen stets Resultat späterer Entwicklung. Doch diese Lösung von der einstigen Affektgrundlage vollzieht sich nicht anders als bei den Intensitäts- und Qualitätssymptomen: sie ist dort wie hier ein Be- standteil jener allgemeinen Entwicklung der Willenshandlungen ^

Hauptformen pantomimischer Bewegungen. 133

in deren Gefolge sich die ursprünglichen psychischen Motive bestimmter Bewegungen ermäßigen und allmählich mit andern Motiven ihre Stellen tauschen können. Und wieder fehlt auch hier nicht ganz das Moment der Kückwirkung der Bewegungen auf den psychischen In- halt der Affekte. Wo irgendeinmal eine Ausdrucksbewegung affekt- los entstehen sollte, da müßte sie doch, weil sie selbst ein Bestandteil des ganzen psychophysischen Komplexes aller Affekterscheinungen ist, die übrigen Elemente, mit denen sie fest assoziiert ist, hervor- rufen. Das gilt um so mehr auch für die Vorstellungsäußerungen, weil diese eben in der Energie und Geschwindigkeit, mit denen sie ausgeführt werden, stets zugleich Intensitätssymptome sind, denen als solchen ganz besonders die affektverstärkende Wirkung zu- kommt.

Mit der in diesem Verhältnis abermals zutage tretenden all- gemeineren Stellung der Intensitätsmerkmale hängt die weitere Tat- sache zusammen, daß, wie die Qualitäts-, so auch die Vorstellungs- symptome im wesentlichen auf bestimmte Muskelgebiete be- schränkt sind. Wie für jene das Gebiet der mimischen, so tritt näm- lich für diese vorzugsweise das der pantomimischen Muskeln in der engeren Bedeutung des Wortes ein. Dieser engere Begriff umfaßt das Bewegungssystem der Arme und Hände. Nur aushilfsweise können dazu auch noch andere Körperteile, wie der Kopf, der Rumpf, die Gehwerkzeuge, treten.

2. Hauptformen pantomimischer Bewegungen.

Wie die mimischen, so haben die pantomimischen Bewegungen frühe schon ein wissenschaftliches Interesse erregt, das freilich mehr von praktisch-ästhetischen als von psychologischen Gesichtspunkten geleitet war; daher es denn auch weniger in dem Versuch einer ge- netischen Erklärung als in der sorgfältigen Beschreibung einzelner Pantomimen bestand, die man auf Grund irgendeiner durch die Be- obachtung nahegelegten Einteilung unternahm. Dabei wurde jedoch schon diese Einteilung durch die im Vordergrund stehenden prak- tischen Interessen beeinträchtigt. Denn da man bei der Beurteilung

134 Die Ausdrucksbewegungen.

der Bewegungen des Schauspielers und des Redners auf eine mög- lichst adäquate Darstellung wirklich erlebter Affekte den Haupt- wert legte, so ergab sich zunächst, daß mimische und pantomimische Bewegungen überhaupt nicht gesondert wurden. Sodann erschien es als das Natürlichste, daß man vor allem die von dem Gefühl ge- tragenen eigentlichen Affektäußerungen und diejenigen Bewegungen, die Gedanken andeuten, unterschied. In diesem Sinne stellt bereits Cicero der ,,significatio", unter der er den Ausdruck der ,,affectiones animi" versteht, und auf die er den rednerischen Vortrag beschränken möchte, die ,, demonstratio" gegenüber, durch die das Wort verdeut- licht oder ersetzt werde, und die er, weil sie vom Schauspieler ver- wendet wird, auch den ,,genius scenicus" nennt ^). Ähnlich unter- scheidet noch J. J. Engel ,, ausdrückende" und ,, malende Gebärden", wobei er den letzteren auch die hinweisenden zuzählt^). Meist ging man jedoch nicht einmal so weit, sondern verzichtete nach dem Vor- bilde, das schon der gründlichste Erörterer der Lehre vom ,,gestus" im Altertum, Quintilian, gegeben, überhaupt auf eine Subumstion der Erscheinungen unter bestimmte Allgemeinbegriffe, um statt dessen einzelne Beispiele in loser Aufeinanderfolge zu schildern^). Gegenüber dieser im einzelnen verdienstlichen, an allgemeinen Gesichtspunkten aber ergebnislosen praktisch-ästhetischen Betrach- tungsweise, war es eine für die psychologische Behandlung förder- liche Wendung, daß in neuerer Zeit mehr und mehr ein anderes Inter- esse die Beschäftigung mit den Gebärden in den Vordergrund rückte. Es waren die praktischen Fragen der Taubstummenbildung, die notwendig auch auf die natürliche Gebärdensprache dieser Un- glücklichen die Aufmerksamkeit lenkten. Hier wurde nun von selbst eine Unterscheidung nahegelegt, die bei den ästhetischen Erörterungen immer wieder verwischt worden war: die Unterscheidung derjenigen Gebärden, die dem reinen Ausdruck von Vorstellungen dienen, von den Gefühlsäußerungen der Affekte. Waren einmal so die Gebärden der ,, Gedankenmitteilung" als eine selbständige Klasse gewonnen.

^) Cicero, De oratore, Lib. III, cap. 9.

2) J. J. Engel, Ideen zu einer Mimik, I, 1785, S. 59 ff.

3) Quintilianus, Institutiones oratoriae, XI, 3, 65 136.

Hauptformen pantomimischer Bewegungen. 135

SO mußte sich unter dem hier betonten Gesichtspunkt der Analogie mit der Lautsprache auch die Forderung einer gewissen ,, Etymo- logie" der als Vorstellungszeichen verwendeten Gebärden, also einer Untersuchung ihres Ursprungs und ihrer näheren Beziehungen er- heben. "Wie sehr man dabei meist noch geneigt blieb, einfach die der Lautsprache entnommenen Kategorien auf die Gebärden zu über- tragen, dafür bildet freilich die noch heute vollständigste Sammlung von Zeichen dieser Art einen Beleg. Sie unterscheidet die Gebärden lediglich in Symbole für Hauptwörter, Eigenschaftswörter und Zeit- wörter, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß diese grammatischen Kategorien in der Form, in der sie die Lautsprache besitzt, für die Gebärde überhaupt nicht existieren^). Den ersten, auf die Natur der Gebärden selbst gegründeten und mindestens die Hauptgruppen mit sicherem Takt herausgreifenden Versuch einer Einteilung hat wohl E. B. Tylor gemacht, indem er ,, Bilder in der Luft" und das wirkliche Hinweisen auf die Gegenstände als die zwei Hauptklassen pantomimischer Bewegungen unterschied 2). Wenn wir uns statt der ,, Bilder in der Luft" des etwas allgemeineren Ausdrucks ,, Nach- ahmung" bedienen, so dürften in den beiden Klassen der hinweisen- den und der nachahmenden Bewegungen in der Tat die Grund- formen der Vorstellungsäußerungen zutreffend bezeichnet sein. Für die allgemeine Bedeutung dieser beiden Gebärdeformen ist aber maß- gebend, daß sie keineswegs bloß in solchen Fällen vorkommen, wo durch sie ein Ersatz der Lautsprache erstrebt wird, sondern daß sie, gerade so gut wie die mimischen Bewegungen, allgemeine Bestand- teile der Ausdrucksbewegungen sind.

^) Dieses im übrigen wertvolle Verzeichnis findet sich in dem Werke von Ed. Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, ^ 1838, ^ 1842. S. 314-339.

2) E. B. Tylor, Forschungen über die Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl. Kap. II, S. 20. ,,Descriptive or imitative signs** unterscheidet auch W. R. Scott (The Deaf and Dumb, 1870, ^ p. 124). Er stellt ihnen aber unzweckmäßiger- weise als zweite Klasse ,, natural signs" gegenüber, unter denen alle möglichen andern, insbesondere auch die mimischen Ausdrucksbewegungen, zusammen-, gefaßt werden.

2^36 ^^^ Ausdrucksbewegungen.

3. Theorie der pantomimischen Bewegungen.

Für die richtige Würdigung der Bedeutung der pantomimischen Ausdrucksformen ist, wie für die mimischen Bewegungen, das schon oben im allgemeinen berührte Verhältnis zu den Intensitätsäuße- rungen der Affekte in erster Linie maßgebend. Indem unter allen diesen Symptomen die Intensitätsäußerungen die verbreitetsten sind, geben sich dadurch die beiden andern von vornherein als deren be- sondere Entwicklungsformen zu erkennen, die in den spezifischen Eigenschaften der mimischen und der pantomimischen Muskeln be- gründet sind Eigenschaften, die sich infolge der Lage und allgemeinen Funktion der Organe ausgebildet haben. Diese Auffassung, wonach Qualitäts- wie Vorstellungsäußerungen gewissermaßen nach ver- schiedenen Richtungen hin entwickelte Intensitätssymptome dar- stellen, bestätigt sich auch darin, daß sich ganz besonders in den mi- mischen und pantomimischen Bewegungen, abgesehen von ihrer spezifischen Bedeutung, jedesmal zugleich die Stärke des Affekts spiegelt. Heftigere Mimik und rasche pantomimische Gestikulationen verraten meist zu allererst erregende Affekte; und nicht minder gibt sich der deprimierende Charakter anderer im Nachlaß der tonischen Spannungen der nämlichen Muskelgebiete zu erkennen.

Ist es auf diese Weise eine Art Auslese, die den Vorstellungs- äußerungen wie den Gefühlssymptomen ihr besonderes Substrat in bestimmten Muskelgruppen angewiesen hat, so ist aber von vorn- herein zu erwarten, daß, analog wie die mimischen Bewegungen in ihrer Beziehung zu der Funktion der spezifischen Sinnesorgane und in der hervorragenden Sensibilität der Hautbedeckung des Angesichts (S. 127 f.) die Bedingungen dieser Auslese erkennen lassen, so nicht minder bei den pantomimischen Bewegungen ganz bestimmte Gründe der Bevorzugung obgewaltet haben. In der Tat springt ja die Be- ziehung dieser Bewegungen zu den Gegenständen der uns um- gebenden Außenwelt unmittelbar in die Augen. Die Arme und Hände sind von der frühesten Entwicklung des Menschen an als die Organe tätig, mit denen er die Gegenstände ergreift und bewältigt. Aus dieser offenbar ursprünglicheren Verwendung als Greiforgane, in welcher der Mensch den analogen Tätigkeiten der ihm nahestehen-

Theorie der pantomimischen Bewegungen. 137

den Tiere nur dem Grade, nicht dem Wesen nach überlegen ist, führt eine jener stufenweisen Veränderungen, die zunächst eigentlich re- gressiver Art sind, in ihren Wirkungen jedoch wichtige Bestandteile -einer fortschreitenden Entwicklung bilden, zur ersten, primitivsten Porm pantomimischer Bewegungen: zur hinweisenden Gebärde. Sie ist genetisch betrachtet nichts anderes als die bis zur Andeutung a,bgeschwächte Greifbewegung. In allen möglichen Übergängen von der ursprünglichen zur späteren Form begegnet sie uns noch fortwährend beim Kinde. Dieses greift auch nach solchen Gegen- ständen, die es nicht erreichen kann. Damit geht aber die Greif - bewegung unmittelbar in die Deutebewegung über. Nach oft wieder- holten vergeblichen Versuchen, die Gegenstände zu ergreifen, ver- selbständigt sich erst die Deutebewegung als solche. Das Kind weist auf einen Gegenstand hin, den es zu besitzen wünscht, und dann bald ^uch auf einen solchen, der seine Neugierde erregt, oder auf den es -die Aufmerksamkeit seiner Umgebung lenken möchte. Hiermit ist •der Weg von der Greif- zur Deutebewegung vollständig zurückgelegt, und diese gewinnt nun neben jener in dem Maß eine selbständige Bedeutung, als die anfänglichen Bewegungstriebe vor ihrem Über- gang in äußere Willenshandlungen gehemmt und zu bloßen Affekten ermäßigt werden. Daneben wird aber als positives Moment das Streben ^rksam, die eigenen Gemütszustände nach außen kundzugeben. Beide Bedingungen gehören mindestens in diesem Grade der Aus- bildung nur der menschlichen Entwicklung an. Darum ist kein Tier, nicht einmal der in der Organisation der Arme und Hände dem Menschen so nahestehende Affe, zu der Entwicklung hinweisender Gebärden aus Greifbewegungen vorgeschritten. Höchstens sind hier jene Über- gangsformen zu finden, bei denen eine bestimmte Bewegung erst durch die Unmöglichkeit, den Gegenstand zu erreichen, die Bedeu- tung einer Gebärde empfängt.

Zu dieser ersten tritt viel später die zweite Form von Vorstel- lungsäußerungen, die der nachahmenden Gebärden. Auch sie haben ihre Vorstufe in Erscheinungen, die im Tierreich weitverbreitet sind, und als deren höhere Entwicklungsformen sie betrachtet werden können. Imitative Bewegungen finden sich als Wirkungen des Zusammenlebens bei höheren wie niederen Tieren. Sie bestehen aber

j^38 I^i® Ausdrucksbewegungen.

hier ausschließlicli darin, daß die Handlungen gleicher oder ähnlicherlebenderWesen nachgeahmt werden . Solche Bewegungen spielen bei den Instinktäußerungen aller gesellig lebenden Tiere offen- bar eine wichtige Rolle. Wenn die Ameisen und Bienen bei der An- legung ihrer Bauten, der Herbeischaffung der Nahrung usw. unver- kennbar in Übereinstimmung handeln, so beruht dies sicherlich nicht auf absichtlicher Verständigung; und noch weniger kann es ein rein mechanischer Ablauf von Nervenerregungen sein, der in jedem In- dividuum durch äußere Reize ausgelöst wird. Mögen daher auch ver~ erbte Anlagen der Organisation mithelfende Bedingungen sein, in alle jene scheinbar nach gemeinsamem Plan ausgeführten Instinkt- handlungen greifen Nachahmungsbewegungen bestimmend ein. Sie machen es verständlich, wie, sobald nur einmal gewisse übereinstim-^ mende Triebrichtungen gegeben sind, ein Zusammenwirken der In-^ dividuen möglich wird, das zweckmäßige Enderfolge herbeiführt,, die keineswegs von den einzelnen selbst als zu erreichende Zwecke vorgestellt worden sind^). Dies führt aber zu dem Schluß, daß bei solchen Kollektiverscheinungen die Wirkung der Nachahmung auf ähnlichen Bedingungen beruht wie die Erregung mimischer oder pantomimischer Mitbewegungen beim Menschen. Ein mimischer Ausdruck, z. B. der des Lachens oder Weinens, bringt bei dem, der ihn sieht, infolge der festen Assoziation von Ausdrucksbewegung und Affekt, eine ähnliche Gemütsbewegung und diese wiederum den näm- liehen mimischen Ausdruck hervor. Beim erwachsenen Kulturmenschen hat sich diese Wirkung, infolge der hemmenden Einflüsse des Willens« auf die Äußerung der Affekte, zu einer schwachen inneren Affekt- erregung ermäßigt. Beim Kinde dagegen pflegt sich noch ungehemmt das erweckte Mitgefühl in Ausdrucksbewegungen zu entladen, die nach dem gleichen Assoziationsgesetz wieder verstärkend auf die Gemütsstimmung zurückwirken. Von einem ,, Nachahmungstrieb" als einer sozusagen unzerlegbaren psychischen Kraft zu sprechen, haben wir daher nirgends Anlaß. Vielmehr werden wir annehmen dürfen, daß auch bei den Tieren die wahrgenommene Triebbewegung

^) Über die Frage der Entwicklung der Instinkte überhaupt verweise ich hier auf die Erörterung in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tier- seele, « 1919, S. 497 ff.

Theorie der pantomimischen Bewegungen. 139

zunächst den nämliclien Affekt und Trieb erzeugt, der sich durch die Bewegung Befriedigung schafft. Während aber bei den niederen Tieren vorzugsweise die zu irgendwelcher Arbeitsleistung geeigneten Körperbewegungen der Sitz von Affekt- und Triebäußerungen sind, treten schon bei dem menschenähnlichen Affen mid dann ebenso beim Menschen die mimischen Bewegungen besonders hervor. Der Grund liegt hier offenbar in der nur dem Menschen und den ihm ähn- lichsten Wesen eigenen Ausbildung der mimischen Bewegungen. Auch bei dem Affen bleibt jedoch die mimische oder pantomimische Nach- ahmungsbewegung eine Affektäußerung, die sich durchaus auf die Nachahmung der gleichen Ausdrucksbewegungen anderer ähnlicher Wesen beschränkt, z. B. eines andern Affen oder des Menschen, sel- tener schon solcher Tiere, die in ihrer Leibesgestalt mehr abweichen. Darum erscheinen diese Nachahmungen in der Kegel als ein absolut zweckloses Tun, ähnlich etwa dem sinnlosen Nachsprechen idiotischer Kinder. Auch ihre Quelle liegt sichtlich in der Miterregung von Affek- ten, deren Symptome die nachgeahmten Handlungen selbst sind. Der Übergang solcher rein sympathischer Bewegungen, bei denen die Handlungen gleichartiger Wesen die notwendigen Objekte der imitativen Affektäußerungen bleiben, auf beliebige in den Affekt- verlauf eingehende Vorstellungen ist nun eben deshalb, weil er eine spezifisch menschliche Erwerbung ist, jedenfalls ein spätes Produkt der Entwicklung. Darum ist es nicht wahrscheinlich, daß er vor der Sprache hervorgetreten sei. In der Tat wird dieser Über- gang am ehesten begreiflich, wenn wir annehmen, daß er unter der Mitwirkung des Strebens nach Verständigung zustande kam. Dieser zu dem ursprünglichen Affekt hinzukommende Trieb konnte erst der nachahmenden Bewegung jene Kichtung auf beliebige Objekte der Außenwelt geben, wodurch diese nun ebensolche affekterregende Vorstellungsinhalte wurden, wie es zuvor nur die wahrgenommenen Ausdrucksbewegungen gewesen waren. Vor allem dann lag dieser Übergang nahe, wenn der nachzubildende Gegenstand kein ruhendes Objekt, sondern wiederum eine Handlung war und so de Aus- gangspunkt der primären imitativen Bewegungen nahelag. Vollends nahe gerückt wurden sich beide Formen, wenn die durch die Aus- drucksbewegung mitgeteilte Vorstellung eine frühere oder bevor-

240 I^i® Ausdrucksbewegungen.

stehende Handlung des Redenden selbst oder des Angeredeten be- zeichnete. Denn hier ging ja nur das eine Assoziationsglied der imi- tativen Mitbewegung von der unmittelbar gesehenen Handlung auf ihr Erinnerungsbild über. In der Tat kommen noch heute nachahmende Bewegungen als einfache Affektäußerungen hauptsächlich da vor, wo sie die Vorstellung einer Handlung andeuten; und sie begleiten hier am häufigsten entweder die affektstarke Erzählung geschehener Ereignisse oder die affektbetonte Aufforderung zur Ausführung ge- wisser Handlungen, die Ermahnung, den Befehl, die Bitte. Bewegungen, die als Nachahmungen ruhender Gegenstände erschienen, sind inner- halb der gewöhnlichen Affektäußerungen sehr selten. Sie gewinnen erst ihre Bedeutung unter der Wirkung der Motive, die aus den Aus- drucksbewegungen die eigentliche Gebärdensprache hervorgehen lassen^).

4. Verbindungen und Übergänge zwischen verschiedenen

Ausdrucksformen.

Sind die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden zwei Formen der Vorstellungsäußerung, die, verschiedenen Quellen ent- sprungen, auch in ihrer Erscheinungsweise wesentlich abweichen, so bietet nun gleichwohl die Beobachtung eine Menge einzelner, auf Vorstellungen zu beziehender Affektsymptome, die zwischen diesen Formen in der Mitte stehen oder beiden gleichzeitig zuzurechnen sind. Diese Komplikation wird noch dadurch erhöht, daß sich der mimische Ausdruck von Gefühlen nicht nur mit den pantomimischen Bewegungen verbindet, sondern auch in dieser Verbindung eine Bedeutung ge- winnen kann, durch die er gleichzeitig oder sogar vorzugsweise zur Vorstellungsäußerung wird. So läßt sich schon bei der einfachen Ge- bärde des Winkens mit der Hand, mit der wir je nach ihrer Richtung jemandem zu verstehen geben, er möge näher kommen oder sich ent- fernen, wohl fragen, ob sie als hinweisende oder als nachahmende zu deuten sei. Wenn der Zornige gegen die wirkliche oder die bloß vorgestellte Person, die seinen Affekt erregt, die Fäuste ballt, mit

^) Vgl. das folgende Kapitel, V, 1.

Verbindungen u. Übergänge zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. 141

den Zähnen knirscht und mit dem ganzen Körper energische Angriffs- bewegungen ausführt, so wird man diesen ganzen Symptomenkomplex, insoweit er neben Gefühls- zugleich Vorstellungsäußerungen enthält, als eine Verbindung betrachten müssen, die in jeder Bewegung beide Gebärdeformen vereinigt. So ist das Ballen der Faust zunächst eine hinweisende Gebärde, denn es erhält erst durch die Richtung auf den Gegenstand seine Bedeutung. Zugleich ist es aber eine höchst aus- drucksvolle nachahmende Gebärde, nämlich die abgeschwächte Form des aus dem gleichen Affekt entspringenden tätlichen Angriffs auf einen Feind. Dazu kommt ein weiteres Moment, das die Grenzen noch mehr verwischt, weil es einer und derselben Ausdrucksform in verschiedenen Fällen wechselnde Bedeutungen zuweist. Es besteht in der zunehmenden psychischen Umwandlung der ursprüng- lich triebartigen Ausdrucksbewegungen in willkürliche. Infolgedessen können diese bald noch in ihrer triebartigen Form als ungesuchte Symptome wirklicher Affekte auftreten, bald infolge von Hemmungen>, die von widerstreitenden Motiven ausgehen, bloß rudimentäre Affekt- äußerungen sein, bald endlich infolge anderer Konstellationen der Motive als willkürliche Nachbildungen natürlicher Äußerungen er- scheinen. In diesem letzteren Fall verwandeln sich von selbst alle Ausdrucksbewegungen in nachahmende Gebärden. Auch die mi- mischen Bewegungen sind dann nicht mehr bloße Gefühlssymptome, sondern sie bilden Bestandteile des ganzen Symptomenbildes, das z. B. an die Vorstellung eines Erzürnten erinnern soll, indem es die Mienen und Gebärden desselben nachahmt. Hierin liegt schon aus- gesprochen, daß sich gerade in diesem, für die Psychologie der Sprache wichtigsten Fall die sämtlichen sonstigen Affektäußerungen den Vor- stellungssymptomen unterordnen. Dies entspringt aber wieder aus der mit solcher Mitteilung immer verbundenen Ermäßigung der Affekte und der entsprechenden Verstärkung der Vorstellungsbestand- teile der psychischen Inhalte. Gleichwohl darf diese Tatsache nicht zu dem oft begangenen Irrtum verführen, als wenn die Mitteilung von Vorstellungen allgemein auf einem affektlosen Verhalten der Seele beruhe oder auch nur in der Regel mit einem solchen verbunden sei. Da vielmehr die Entstehung von Ausdrucksbewegungen über- haupt gar nicht anders denkbar ist als auf Grund bestimmter Affekte

142 Die Ausdrucksbewegungen.

SO kann es sich überall nur um ein Zurücktreten der GefüMsinhalte derselben hinter ihre Vorstellungselemente, und insofern also um eine Ermäßigung der Affekte selbst handeln. Doch den allgemeinen Cha- rakter des Affekts behält der die Mitteilung begleitende Seelenzustand immer, imd auch die ursprüngliche Intensität und Gefühlsstärke ge- winnt er um so mehr zurück, je lebhafter die Ausdrucksbewegungen werden. Denn die begleitenden sinnlichen Empfindungen und die intensiver werdenden Gefühle nähern nun die nachahmenden Ge- bärden selbst mehr und mehr einem wirklichen Nacherleben der Hand- lungen, die sie andeuten.

Zweites Kapitel.

Die Gebärdensprache.

I. Die Entwicklungsformen der Gebärdensprache. 1. Begriff und allgemeine Eigenschaften der Gebärdensprache.

•Man pflegt die Gebärdenspraclie als eine ,, Äußerung der Gedanken durch, sichtbare, aber nicht hörbare Bewegungen" zu definieren und demnach der Gebärdenäußerung ihre Stellung mitteninne zwischen Schrift und Sprache anzuweisen. Gleich der ersteren stelle sie die Begriffe in sichtbaren Zeichen dar, während doch diese Zeichen, ähn- lich den Sprachlauten, rasch vorübergehende Vorgänge seien. Sie erscheint so als eine Bilder- oder Zeichenschrift, die ihre Symbole mittels der flüchtigen Gebärde in die Luft zeichnet, statt auf ein so- lides, sie dauernd festhaltendes MateriaP).

Da nun die Schrift der Sprache gegenüber ein verhältnismäßig spätes und in höherem Grade die erfinderische Tätigkeit heraus- forderndes Erzeugnis ist, so wird dadurch zugleich die weitverbreitete Meinung verständlich, die Gebärdensprache sei, wie in den meisten Fällen ihrem Erfolge nach ein Ersatzmittel für die Lautsprache, so auch nach ihren ursprünglichen Motiven aus der Absicht entsprungen, einen solchen Ersatz zu schaffen. Sie wird daher von diesem Stand- punkte aus ganz oder mindestens in höherem Maß als die Lautsprache für ein Produkt planmäßiger Erfindung gehalten.

Diese Auffassimg wird jedoch von einer andern durchkreuzt, die von einem nicht minder bezeichnenden Unterschiede der Ge- bärden- und Lautsprache ausgeht. Die Lautsprache tritt uns in einer

^) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. A. d. Engl, von H. Müller. S. 105 ff.

144 I^iß Gebärdensprache.

unabsehbaren Fülle einzelner Gestaltungen entgegen, deren nähere oder entferntere Beziehungen sich durchweg erst den Hilfsmitteln der sprachwissenschaftlichen Analyse erschließen, so daß für die prak- tischen Zwecke der Mitteilung jede Sprache wie ein konventionelles System von Zeichen erscheint, dessen Gebrauch besonders erlernt und eingeübt sein muß. Das ist wesentlich anders bei der Gebärden- sprache, die schon Quintilian ,,omnium hominum communis sermo" genannt hat^). Sie ist, wenn auch nicht in allen, so doch in ihren wich- tigsten und verbreitetsten Formen eine Art Universalsprache, die unter den verschiedensten Entstehungsbedingungen zahlreiche Be- standteile gemein hat, so daß zwischen ihren verschiedenen, allen- falls den ,, Dialekten" einer Lautsprache vergleichbaren Entwick- lungsformen oft ohne besondere Schwierigkeit eine Verständigung möglich ist. Dieser universelle Charakter ist aber sichtlich durch die unmittelbar in der Anschauung gegebene Beziehung bedingt, in der die Gebärde und ihre Bedeutung zueinander stehen. Durch diese Beziehung gewinnt die Gebärdensprache eine Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, wie solche die Lautsprache weder heute besitzt noch in irgendwelchen früheren sprachgeschichtlich zu erschließenden Formen jemals besessen hat. Nimmt man hinzu, daß schon gewisse Ausdrucksbewegungen der Tiere eine den Gebärden des Menschen ähnliche und darum für uns leicht verständliche Bedeutung haben, so kann man dadurch wohl zu der von manchen Anthropologen aus- gesprochenen Vermutung geführt werden, die Gebärdensprache sei die eigentliche Ursprache, und sie sei, als das natürlichere Hilfsmittel der Mitteilung, der Lautsprache vorausgegangen.

Die Antinomie, die in diesen verschiedenen Auffassungen zutage tritt, macht es bereits wahrscheinlich, daß die Gebärdensprache durchaus kein so einheitliches, nach ihrem Ursprünge zusammen- gehöriges Ganzes ist, wie man dies bei ihrer zuletzt erwähnten Cha- rakterisierung als einer Ur- und Universalsprache anzunehmen pflegt. In der Tat kann sie nach den mannigfachen Bedingungen ihrer Ent- stehung Abweichungen darbieten, die uns von vornherein nötigen, mehrere Entwicklungsformen zu unterscheiden.

^) Quintilian, Instit. orator. XT, 3, 87.

Gebärdensprache der Taubstummen. 145

2. Gebärdensprache der Taubstummen.

Unter allen Formen der Gebärdenspraclie hat in neuerer Zeit diejenige der Taubstummen wobl am meisten die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Das praktische Interesse des Taubstummenunter- richts ist hier der Beschäftigung mit dem Gegenstand besonders förder- lich gewesen. Freilich hat aber auch dieses Interesse durch die mannig- fachen einander zum Teil widerstreitenden pädagogischen Anschau- ungen und Maßregeln, die aus ihm hervorgegangen sind, auf die Art und den Umfang der Gebärdenmitteilung selbst nicht wenig hinüber- gewirkt. Unter den sonstigen Bedingungen steht natürlich der Ein- fluß der Umgebung obenan. Neben ihm kommt dann noch der Grad des Gehörmangels und die Zeit seines Eintritts in Betracht. Denn der Gehörmangel des Taubstummen fällt zwar stets unter die hoch- gradigen Sinnesdefekte, da geringere Gehörsschwäche nicht den Ver- lust der Sprache zur Folge hat. Aber darum ist jener doch keines- wegs in allen Fällen ein absoluter, und je nachdem Reste des Gehörs oder auch nur Erinnerungen an einstige Schallempfindungen vor- handen sind oder fehlen, gstalten sich die Bedingungen für die Ge- bärdenmitteilung verschieden. Nicht minder ist die Frage, ob der Taubstumme im Hause, in der ausschließlichen Umgebung Hören- der, oder ob er in Anstalten mit seinesgleichen aufwächst, und end- lich, unter welchem Unterrichtssystem er erzogen wird, von Be- deutung.

Am ungünstigsten für die spontane Entwicklung der Gebärden- sprache ist begreiflicherweise das Leben des einzelnen Taubstummen in einer hörenden Umgebung. Wie das hörende, so empfängt auch das gehörlose Kind die erste Anregung zur Mitteilung seiner Wünsche und Vorstellungen vom Erwachsenen. Die Unmöglichkeit, sich ihm durch Laute verständlich zu machen, läßt dann von selbst zu ein- fachsten, zunächst fast ausschließlich hinweisenden Gebärden greifen. Sobald sich aber die Intelligenz des Kindes zureichend entwickelt hat, pflegt allmählich die Umgebung das gesprochene Wort durch das geschriebene zu ergänzen, und da die wirkliche Schrift nicht über- all zur Hand ist, so wird sie dann durch die Nachbildung der Schrift- zeichen mit den Fingern ersetzt. So kann gewissermaßen auf natür-

Wundt, Völkejrpsychologie. I. 4. Aufl. 1"

]^46 I^i® Gebärdensprache.

lichem Weg eine völlig künstliche, erst auf Grundlage der Schrift mögliche Gebärdensprache entstehen.

Diese Verhältnisse machen es verständlich, daß der erste Ver- such einer systematischen Ausbildung der Gebärdensprache für die Zwecke des Taubstummenunterrichts das Fingeralphabet war. In Spanien, der Heimat dieses Unterrichtszweigs, erfunden, ist es in verschiedenen Formen, bald als einhändiges, bald als zweihändiges Zeichensystem, durch alle zivilisierten Länder gewandert, und es hat sich später namentlich in der Gunst solcher Taubstummenlehrer erhalten, die in der natürlichen Gebärde ein Hindernis für die Er- reichung des höchsten Zieles der Taubstummenbildung, der Erwerbung der artikulierten Lautsprache, erblickten.

Den vollen Gegensatz zu dieser ganz und gar künstlichen Finger- schrift bildet nun jene Gebärdensprache, die sich von selbst ausbildet, wenn entweder von früh an mehrere Taubstumme zusammenleben, oder wenn, was bis zu einem gewissen Grade diese zwingendste Be- dingung ersetzen kann, die hörende Umgebung sich selbst den Be- dürfnissen des Stummen anzupassen und in seine Vorstellungs- und Gefühlsweise einzuleben sucht. Mit Recht kann man das so sich bil- dende Zeichensystem eine natürliche Gebärdensprache nennen, weil es an sich gar keine schon existierenden Hilfsmittel der Mit- teilung, weder die Lautsprache noch die Schrift, fordert und darum auch nicht notwendig einer fortlaufenden längeren Tradition bedarf, sondern nötigenfalls in einem Kreise von Taubstummen oder von Taubstummen und Hörenden völlig selbständig entstehen kann. Freilich kommt das nur selten wirklich vor, da irgendeine Art Über- lieferung nicht leicht fehlt und namentlich in den Fällen, wo Taub- stumme dauernd zusammenbleiben, also in den Taubstummenanstalten, eine so überwiegende Rolle spielt, daß das in einer solchen Anstalt herrschende System von Gebärdezeichen beinahe ebensosehr als ein durch Überlieferung angeeignetes und konventionelles angesehen werden kann, wie ein beliebiger lokaler Dialekt einer Lautsprache. Immerhin tritt auch dann der natürliche Charakter eines solchen Systems in ^wei Erscheinungen hervor, die . der Lautsprache fehlen oder höchstens in entfernten Andeutungen in ihr vorkommen. Die eine besteht darin, daß innerhalb eines räumlich beschränkten Gebiets

Gebärdensprache der Taubstummen. 147

Neubildungen außerordentlich häufig auftreten: sie sind durch die Natur der Gebärdenmitteilung nahegelegt und verbinden sich daher fortwährend und oft ohne deutliches Bewußtsein der Neubildung mit dem Gebrauch der überkommenen Symbole. Die zweite, noch augen- fälligere Erscheinung ist die, daß räumlich weit voneinander ent- fernte und zweifellos ganz unabhängig entstandene Zeichensysteme in einem großen Teil ihrer Bestandteile einander gleichen oder doch nahe verwandt sind, eine Verständigung also zwischen denen, die sich solcher Gebärdeformen bedienen, meist ohne Schwierigkeit mög- lich ist. Hierin besteht eben die oft gerühmte Universalität der Ge- bärdensprache. Übrigens versteht es sich von selbst, daß diese Univer- salität nur für Vorstellungen gilt, die hinreichend allgemeingültiger Art sind. Demnach bilden das Ich und Du, das Dieser und Jener, das Hier und Dort, oder die Erde, der Himmel, die Wolken, die Sonne, das Haus, der Baum, die Blume, ferner das Gehen, Stehen, Liegen, Schlagen und viele andere Gegenstände und Tätigkeiten, die im wesent- lichen überall nach den nämlichen bevorzugten Merkmalen apper- zipiert werden, die Substrate eines mit wenigen Variationen überein- stimmend wiederkehrenden Vorrats von Gebärdezeichen. Die ein- zelnen Personen, die in der bestimmten Gemeinschaft leben, die be- sonderen, an den Wohnort und an die speziellen Zeitbedingungen gebundenen Gegenstände, Gewohnheiten und Erinnerungen aber, sie variieren natürlich auch in den Zeichen, die für sie gebraucht wer- den, von Ort zu Ort und in vielen ihrer Bestandteile sogar von einer Generation zur andern, ja von Jahr zu Jahr mit den wechselnden Erlebnissen. In dieser Beziehung gibt die Gebärdensprache sogar ein lebendigeres Bild von dem fortwährenden Fluß der Lebensinhalte einer jeden beschränkteren wie weiteren Gemeinschaft, als es die Lautsprache zu tun vermag, weil diese in viel höherem Maße an einen festen Bestand von Symbolen gebunden ist und daher zumeist auch das Neue enger an das Bekannte anschließt. Da auf diese Weise inner- halb der Gebärdensprache fortan weit radikalere Neubildungen vor- kommen als in der ungleich stabileren Lautsprache, so fordert jene aber auch in höherem Grade zu willkürlichen Neubildungen heraus, und diese, wenn sie nur irgendwie den auszudrückenden Begriffen adäquat sind, gehen dann ohne Schwierigkeit in den allgemeinen Be-

10*

248 I^® Gebärdensprache.

sitz über. Von der Scheu, die auf dem Gebiet der Lautsprache den überkommenen Wortschatz im ganzen getreu bewahrt und neue Eindringlinge nur selten zuläßt, ist in der Gebärdensprache nicht die Rede. Sie bemächtigt sich begierig neuer Bildungen, um damit ihrer stets empfundenen Armut abzuhelfen. Mehr noch als den Taub- stummen selbst macht sich dieses Bedürfnis oft ihrer hörenden Um- gebung fühlbar, die immer mit der Schwierigkeit kämpfen muß, das in der Lautsprache Gedachte durch Gebärden auszudrücken. So- bald dieser Einfluß der Umgebung überwiegend wird, so streben in die Gebärdensprache auch solche Elemente überzugehen, die eigent- lich nur in der Lautsprache möglich, also, wenn sie in Gebärden um- gesetzt werden, künstlich erfundene Symbole sind. Immerhin können diese im Sinne der Gebärdensprache erfunden werden, und dies ge- schieht um so mehr, wenn schon der ganze Bewußtseinszustand auf das Denken in Gebärden angelegt ist. Hierdurch unterscheiden sich immerhin auch diese künstlichen Bestandteile der Gebärdensprache sehr wesentlich von der Fingerschrift.

Die Frage, ob und in welchem Umfang eine solche Bereicherung der natürlichen Gebärden durch willkürliche, aber soviel als mög- lich in ihrem Geist erfundene Zeichen zulässig sei, hat von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis auf unsere Tage herab in dem Streite zwischen der französischen und der deutschen Methode des Taub- stummenunterrichts eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Streit selbst hat aber eine psychologische und eine ethische Seite. Die französische Schule fordert das psychologisch Angemessene, die deutsche das ethisch Erstrebenswerte. Nun ist die den Fähigkeiten des Taubstummen angemessene Sprache selbstverständlich die Gebärdensprache. Ver- möge seiner natürlichen Anlagen würde er nie zu einer andern Art der Mitteilung gelangen. Die französische Schule, nach den vom Abbe de l'Epee gemachten Anfängen hauptsächlich von Abbe Sicard begründet, suchte daher die natürliche Gebärdenmitteilung fort- zubilden, indem sie im Sinne derselben weitere Zeichen und solche logische und grammatische Hilfsmittel erfand, durch die ihr die Er- werbungen der Lautsprache möglichst zugänglich gemacht werden sollten^). „Nicht wir sind die Erfinder der Zeichen," sagt Sicard,

^) Sicard, Theorie des signes pour l'instruction des sourdsmuets, Paris

Gebärdensprache der Taubstummen. 149

„sondern die Taubstummen selbst, und wir haben nur ihren wahren Erfindern nachzuschreiben, wenn wir die Theorie dieser Zeichen zu geben suchen." Ist diese Methode zweifellos diejenige, die das zu er- reichende Ziel am meisten den psychischen Eigenschaften des Taub- stummen anpaßt, so ist aber dieses Ziel selbst ein ethisch unbefriedi- gendes: es verurteilt den Gehörlosen zu einer Sonderexistenz unter seinesgleichen oder in der Gesellschaft der Vollsinnigen, in der er nur in kümmerlichster Weise an den Gütern des gemeinsamen Lebens teilnimmt. Auch ist es, wenn maÄi, wie es die französische Methode prinzipiell tut, die natürliche Gebärdensprache des Taubstummen soviel als möglich der Stufe der Lautsprache zu nähern sucht, sehr schwer, die Grenze einzuhalten, bei der das erfundene Zeichen nicht dennoch zu einem gekünstelten wird, das den natürlichen Bedingungen der Gebärdensprache selbst widerspricht. Wenn z. B. in dem System Sicards die Auf- und Abwärtsbewegung der geschlossenen Hände auf der Brust bei auswärts gekehrten Daumen das Verbum substan- tivum sdin, das Vorwärtsstoßen der geballten Fäuste mit aufwärts gerichteten Daumen das Adverbium noch, die Bewegung der Finger von den Schläfen nach außen die Konjunktion wann bedeuten soll usw., so können diese Zeichen schon deshalb keine naturgemäßen Weiterbildungen der ursprünglichen Gebärdensprache sein, weil in dieser solche abstrakte Verba und Partikeln nicht existieren und ihrem ganzen Charakter nach nicht existieren können. Die Interpretation, die diese künstlichen mit den natürlichen Zeichen verknüpft, läuft darum, falls sie überhaupt versucht wird, auf irgendeine fernliegende Assoziation hinaus, die von dem Taubstummen mühselig erlernt wer- den muß, wenn er sie verstehen soll, und die er samt dem Zeichen, das durch sie begreiflich gemacht wird, in der Regel vergißt, sobald er sich von dem Zwang der Schule befreit weiß.

Die deutsche Schule stellt nun im Gegensatz zu der französischen den ethischen Zweck, die Taubstummen soviel als möglich zu voll-

1808, 2 vols. Über die Geschichte des Taubstummenunterrichts überhaupt vgJ. Ed. Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, 1838, ^ 1848, S. 120 ff. A. Hartmann, Taubstummheit und Taubstummenbildung, 1880, S. 125 ff. W. R. Scott, The Deaf and Dumb, ^ 1870, p. 95 ff.

J50 I^^® Gebärdensprache.

wertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, in den Vordergrund. Nach dem Vorbild ihres Begründers Samuel Heinicke benützt sie daher die Gebärden nur als vorübergehende Hilfsmittel, durch die jenen allmählich die Lautsprache selbst zugänglich werden solP). Bei dieser Aneignung der artikulierten Lautsprache fallen aber für den Gehörlosen naturgemäß die beiden Fähigkeiten, die Sprache zu verstehen und sie zu gebrauchen, ungleich mehr auseinander als für das hörende Kind, bei dem der Laut alsbald das Streben erweckt, ihn nachzuahmen, so daß sich hier Sprachlaute und Artikulations- empfindungen von frühe an fest assoziieren. Für den Gehörlosen sind, weil ihm gerade diejenige Sinnesempfindung fehlt, die das natür- liche Mittelglied dieser Assoziationen ist. Verstehen und Gebrauch der Lautsprache von Anfang an gesonderte Tätigkeiten, die allmäh- lich erst durch eine völlig neue, künstlich eingeübte Assoziation an- einander gekettet werden. Verstehen lernt er die Sprache dadurch, daß er sie vom Munde abliest, also in der Form einer Folge von Ge- sichtsbildern. Gebrauchen lernt er sie, indem er die Artikulations- bewegungen des Hörenden und Sprechenden nachbildet. Die fran- zösische Schule sucht also den Gehörlosen innerhalb der ihm gebliebenen Sinnessphären zu entwickeln, indem sie dabei jeden Sinn nur in den ihm auch beim Hörenden zukommenden Funktionen weiterzubilden bemüht ist. Die deutsche Schule will für den fehlenden Gehörssinn dadurch Ersatz schaffen, daß sie ihm andere Sinne substituiert. Diese Selbstvertretung übernimmt dann für das Verstehen der Sprache der Gesichtssinn, für den Gebrauch der Sprache der Tastsinn mit den die Artikulationsbewegungen begleitenden inneren und äußeren Tast- empfindungen. Hierdurch verliert aber jener Vorzug der Natürlich- keit, den man der einseitigen Pflege der Gebärdensprache zuschreibt, einigermaßen seine Bedeutung. Die artikuHerte Sprache des Taub- stummen beruht so gut wie die des Hörenden auf der Einübung be- stimmter Assoziationen zwischen Empfindungen verschiedener Sinnes- gebiete 2). Mögen nun auch die Assoziationen zwischen Sprachlauten

^) Samuel Heinicke, Beobachtungen über Stumme und über die mensch- liche Sprache, Hamburg 1878, S. 54 f f .

^) W. Gude, Die Gesetze der Physiologie und Psychologie über Ent- stehung der Bewegungen und der Artikulationsunterricht der Taubstum-

Gebärdensprache der Taubstummen. 151

und Artikulationsempfindungen, die bei der Lautsprache wirken, durch die generelle Entwicklung vorbereitet, also durch angeborene Anlagen begünstigt und durch die genauere Kontrolle, die der Gehörs- sinn zuläßt, erleichtert sein, so ist doch die Ausbildung der weit schwie- rigeren Assoziationen zwischen den Gesichtsbildern der Sprach- bewegungen und den Artikulationsempfindungen keineswegs eine unmögliche, und sie ist das Ersatzmittel, auf das die bei mangeln- dem Gehör von selbst sich einstellende regere Tätigkeit des Gesichts- sinns gewissermaßen als auf ein natürliches hinweist. Freilich bringt aber die größere Schwierigkeit der Bildung jener eigenartigen Asso- ziationen für die Lautsprache des Gehörlosen die Einschränkung^ mit sich, daß das Niveau geistiger Anlagen, das zur Aneignung der Sprache erfordert wird, hier ein höheres ist als beim vollsinnigen Menschen, daß also die Aneignung in eine spätere Lebenszeit fallen muß, und daß sie manchen Individuen ganz versagt bleibt, eine Ein- schränkung, die natürlich für die Gebärdensprache bei weitem nicht in ähnlichem Maß besteht. Dieser Umstand ist es denn auch haupt- sächlich, der heute noch dem französischen System in den Ländern romanischer Zunge den Vorzug verschafft hat. Insoweit es grund- sätzlich eine künstliche, von grammatischen Begriffen beherrschte Weiterbildung der natürlichen Gebärdensprache erstrebt, wird da- durch allerdings seine psychologische Bedeutung beeinträchtigt. Auf der andern Seite wird aber darüber geklagt, daß der deutsche Unter- richt allzusehr darauf ausgehe, den natürlichen Ausdruck der Gebärde zu unterdrücken, wodurch dann natürlich auch das Material für die psychologische Beobachtung eingeschränkt wird^). Am meisten scheint man in England auf die Konservierung der natürlichen

men, 1880, S. 40 ff. Als weiteres assoziatives Hilfsmittel wird in neuerer Zeit bei dem sogenannten ,, imitativen Sprachunterricht" auch noch die Assoziation der Schriftzeichen mit den entsprechenden Laut- und Schreib-, bewegungen verwendet. Demnach handelt es sich hierbei wesentlich nur- um eine Vermehrung der im Gebiet des Tast- und Gesichtssinns zu Gebote stehenden Assoziationshilfen. Vgl. G. Forchhammer, Der imitative Sprach-. Unterricht in der Taubstummenschule usw. Aus dem Dänischen von E.. Göpfert, 1899.

1) Heidsiek, Der Taubstumme und seine Sprache, 1889, S. 127 ff.

152 I^iö Gebärdeasprache.

Gebärdenzeichen Bedacht zu nehmen, ohne allerdings künst- liche Nachhilfen im Sinne des französischen Systems ganz zu verschmähen ^)

3. Gebärdensprache bei den Naturvölkern.

Ist infolge der Einflüsse, die Umgebung, Erziehung und Unter- richtsweise auf den Taubstummen ausüben, dessen Gebärdensprache durchaus kein einheitliches und nur noch teilweise ein ursprüngliches Erzeugnis seines Bewußtseins, so verhält sich das einigermaßen ähn- lich bei der Gebärdensprache der Naturvölker, wie sie namentlich bei den Stämmen der nordamerikanischen Indianer beobachtet worden ist^).

Zwei Bedingungen können im allgemeinen der Entstehung einer solchen Gebärdensprache zugrunde liegen, und es ist anzunehmen, daß sie meist ineinander eingreifen. Erstens pflegen schon bei den

1) W. R. Scott, The Deaf and Dumb, ^ 1870, p. 108. Vgl. übrigens zu dieser ganzen Frage den Bericht von H. Gutzmann, Archiv für die ges. Psychol. Bd. 1,

1903, S. 67 ff.

2) Der folgenden Analyse sind hauptsächlich die eingehenden Mitteilungen zugrunde gelegt, die wir über die Gebärden der nordamerikanischen Indianer von Garrick Mallery besitzen, in seiner von zahlreichen Abbildungen begleiteten Arbeit: Signe Language among North American Indians, First annual Report of the Bureau of Ethnology, Smithsonian Institution, 1879 80, p. 269 552. Ein anderes Verzeichnis indianischer Gebärdezeichen, das besonders bei den Indianern der Rocky mountains und der angrenzenden Territorien gesammelt ist, hat der Prinz von Wied mitgeteilt (Reise in das Innere von Nordamerika, 1832—1834, Coblenz 1841, II S. 645—653). Wied bemerkt, man versichere ihm, die Stämme der Rocky mountains wüßten sich sämtlich untereinander, nicht aber mit den Dakotas und anderen Nationen in der Gebärdensprache zu ver- ständigen. In der Tat finden sich zwischen den von ihm und den von Mallery gesammelten Zeichen viele Unterschiede, jedoch auch manche Übereinstimmungen. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Indianern und den Rassen anderer Erd- teile, wie Australiern, Afrikanern, asiatischen Völkern (Arabern, Japanern), von denen wir freilich meist nur unvollständigere Nachrichten besitzen. Über die Gebärdensprache der Australier, bei denen sie übrigens, wahrscheinlich unter dem wechselnden Einfluß des Verkehrs, in sehr verschiedener Aus- bildung vorkommt, vgl. Howitt, The native Tribes of South-East Australia,

1904, p. 723 ff.

Gebärdensprache bei den Naturvölkern. 153

Genossen einer und derselben Horde Wort und Affektäußerung bei lebhafter Mitteilung zusammenzuwirken. So kommt es, daß in vielen Pällen auf das begleitende Wort verzichtet wird, sei es weil die Ge- bärde zur Verständigung genügt, sei es, weil man die lautlose Mit- teilung aus irgendwelchen Gründen vorzieht. Zweitens tritt bei dem Verkehr verschiedener Stämme oder dialektisch gesonderter Zweige des gleichen Stammes die Gebärde ins Mittel, sobald die Verständigung durch die Lautsprache erschwert ist. Die so gepflegte Gewohnheit, mit Mitgliedern fremder Herkunft durch Gebärden zu verkehren, muß dann aber wieder auf deren Gebrauch zwischen den näheren Genossen fördernd zurückwirken. So erklärt es sich wohl, daß nament- lich bei manchen Indianerstämmen Nordamerikas, wo alle jene Be- dingungen durch ein unstetes Jäger- und Kriegerleben gefördert wur- den, die Gebärdensprache einen hohen Grad der Ausbildung erreicht hat. Sichtlich haben an ihr viele Generationen gearbeitet, und wenn sie auch weit mehr als die Lautsprache eine fortwährende Neubildung von Symbolen gestattet, so hat sich doch in ihr eine vielleicht schon Jahrhunderte bestehende Tradition ausgebildet, durch die sie in ge- wissem Grad dem Einzelnen als ein fertiges System von Zeichen über- liefert wird. Zeugnis hierfür ist die Tatsache, daß der Indianer manche Gebärden konventionell anwendet, bei denen er über die Beziehung zwischen Symbol und Bedeutung keine Rechenschaft mehr geben kann^). Teils diese lange dauernde Tradition, teils andere damit zu- sammenhängende Bedingungen unterscheiden diese Zeichensprache sehr wesentlich von derjenigen der Taubstummen. Wenn man von den willkürlich erfundenen Symbolen des französichen Systems oder des Fingeralphabets, die hier nicht in Vergleich gezogen werden können, absieht, so ist daher diese Gebärdensprache nicht nur überhaupt reicher an Symbolen, sondern namentlich auch reicher an solchen, die nur dem Eingeweihten verständlich, und die in einzelnen Fällen auch für diesen zu bloß konventionellen -Zeichen geworden sind.

1) Mallery a. a. O. pag. 409 ff .

154 T)i6 Gebärdensprache.

4. Überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern.

In dieser Beziehung schließt sich eine dritte Entwicklungsform der Gebärdensprache auf das engste an die Zeichensysteme der Wilden an, wenn sie auch infolge der sehr verschiedenen Kulturbedingungen in der Beschaffenheit der gebrauchten Symbole erheblich abweicht. Das ist die bei den südlichen Völkern Europas, namentlich bei den Süditalienern, übliche Form der Gebärdenmitteilung. Sie ist vor- zugsweise in den niederen Volkskreisen verbreitet, wird aber auck vom Gebildeten zum Teil verstanden und im Verkehr mit dem Volk angewandt. Am eingehendsten ist unter ihnen die neapolitanische studiert worden^). Sie ist durch ihren Eeichtum und durch die Be- harrlichkeit ausgezeichnet, mit der sie sich seit Jahrhunderten erhalten hat. Denn zahlreiche der noch heute beim süditalienischen Volk ge- brauchten Zeichen finden sich in analoger Bedeutung auf antiken Kunstdenkmälern oder werden von älteren Schriftstellern erwähnt^). Dadurch erweist sich auch diese Form als das Produkt einer langen, viele Jahrhunderte dauernden Tradition. Wie die Formen uralten heidnischen Aberglaubens noch heute, zum Teil in christlichen Ver- kleidungen, im süditalienischen Volke fortleben, so sind die Gebärde- zeichen, die uns gegenwärtig auf den Straßen Neapels begegnen, mit wenig Ausnahmen dieselben, wie sie in den Tagen des August us und

^) Andrea de Jorio, La mimica deg]i antichi investigata nel gestire na- poletano, Napoli 1832. In seinem antiquarischen Teil gentigt dieses Werk natür- lich heutigen Ansprüchen nicht mehr. Die Sammlung der beim neapolitanischen Volk verbreiteten Gebärdezeichen bleibt aber wertvoll. Sie dürfte, obgleich mehr als ein halbes Jahrhundert alt, dem heutigen Zustande noch durchaus entsprechen, und auch in seiner Annahme, daß die meisten der heute gebrauchten Gebärden bis in das Altertum zurückreichen, hat der Verfasser ohne Zweifel das Richtige getroffen.

2) Viele hierher gehörige Züge hat schon Jorio beigebracht. Das archäo- logische und literarhistorische Material ist in neuerer Zeit von Sittl gesammelt worden in seinem Werk über die Gebärden der Griechen und Römer, 1890, in welchem jedoch die Beziehung zu den heute gebrauchten Zeichen nicht näher verfolgt wird. Unter den Berichten älterer Schriftsteller ist die schon oben er- wähnte Abhandlung Quintilians über den Gestus in Lib. XI seiner Institut, orator. das vollständigste und wertvollste Dokument.

überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern 155

wahrscheinlich in einer noch viel weiter zurückliegenden Zeit im Ge- brauch waren. Diese lange Überlieferung bedingt es, daß, ähnlich wie bei den Indianern Nordamerikas, viele jener Zeichen völlig konven- tionell geworden und in ihrer ursprünglichen Bedeutung verblaßt sind. Da jedoch in diesem Fall die Gebärde zwar nicht selten das ge- sprochene Wort verdrängt hat, aber es nicht, wie bei dem Verkehr zwischen stammesfremden Wilden, völlig ersetzt, so hat der Besitz der fortwährend ergänzend und erläuternd eingreifenden Lautsprache hier zugleich auf die Erhaltung und Entwicklung der Gebärden för- dernd eingewirkt. Die heute bei den südlichen Völkern Europas vor- kommende Zeichensprache erscheint so als ein Überlebnis der in der antiken Welt überhaupt lebendigeren Begleitung der Sprache durch die Gebärde, einer Erscheinung, die in der Pflege der Pantomime und in dem großen Wert sich ausspricht, den die Alten bei der Kede auf den Gestus legten. Darum ist es nun aber auch eine falsche Auffassung, wenn man dies allgemein als Zeichen eines niedrigen Standes der Kultur, und demnach das Vorkommen der Gebärdensprache bei Menschen, die zugleich der Lautsprache mächtig sind, als eine Eigen- tümlichkeit unzivilisierter Völker betrachtet hat. Der Südfranzose und der Italiener zeigen noch heute ein weit lebhafteres Gebärden- spiel als der Engländer und der Deutsche, und dieser Unterschied erstreckt sich auf alle Kreise der Gesellschaft ziemlich gleichförmig. Nicht die Bildung, sondern der Grad des Affekts oder die dauernde Affektanlage, das Temperament, ist vor allen Dingen für die Ent- stehung der Gebärde entscheidend. Besteht einmal vermöge dieser Anlage die Neigung zu einem lebhaften Mienenspiel, so begleitet dieses nicht bloß von selbst die gesprochene Rede, sondern es tritt auch leicht an deren Stelle, wenn die laute Gedankenäußerung unterdrückt wird ; und aus dieser freieren Übung entspringt naturgemäß eine ästhe- tische Freude ^an der bedeutsamen Gebärde als solcher. Die Alten haben diese Freude auch im gewöhnlichen Verkehr der Menschen offenbar mehr gekannt, als wir sie heute kennen, und die Eegeln der Sitte geboten bei ihnen zwar das Übermaß der Affektäußerung, nicht aber, wie bei uns, die Affektäußerung selbst zu unterdrücken. Die Alten besaßen also ein lebendigeres Gefühl für die Bedeutung der Ge- bärde, nicht weil ihre Kultur eine niedrigere, sondern weil sie eine

156 Die Gebärdensprache.

andere war als die luisere, un(| weil insbesondere der Sinn für die äußere Erscheinungsweise des Menschen feiner ausgebildet, in dieser Beziehung also die Kultur eine ästhetisch höhere war. Wenn sich diese lebendigere Ausdrucksweise bei den von ihnen abstammenden Völkern mehr in den niedrigeren als in den höheren Kreisen der Ge- sellschaft erhalten hat, so ist dieser besondere Zug dann allerdings ein Symptom der Kulturstufe. Denn diese Erscheinung fällt unter die allgemeine Regel, daß die Reste alter Anschauungen und Sitten am längsten in den Massen des Volkes zurückbleiben.

Ähnliche Überlieferungen eines hoch ausgebildeten Zeichen - Systems bestehen nun noch mannigfach sonst auf unserer Erde. Be- sonders der Orient bietet hier ein reiches Feld der Beobachtung. Bei den islamitischen Arabern scheint der Gebärdenausdruck ein viel gebrauchtes, von den arabischen Philosophen als eine eigene Art der Sprache anerkanntes Hilfsmittel nicht nur der Verständigung, son- dern auch der sinnlichen Interpretation des gesprochenen Wortes gewesen zu sein, dessen sich der Prophet selbst mit Vorliebe bediente^). Andere, wahrscheinlich ebenfalls auf sehr alter Tradition beruhende und zumeist wieder unabhängig entstandene Entwicklungen der Gebärdensprache sind bei den Chinesen, Japanern und andern orien- talischen Völkern zu finden^). Was wir von diesen Ausdrucksformen wissen, läßt im allgemeinen den Schluß zu, daß sie sich nicht wesent- lich anders zueinander verhalten als etwa die Gesten des Neapoli- taners zu denen des nordamerikanischen Indianers. Der verschiedene Zustand der Kultur, mag er au,ch auf gewisse spezifisch gebrauchte Zeichen von Einfluß sein, berührt also den Charakter der Gebärden- sprache nicht wesentlich. Nicht bloß gewisse Gebärden, die allgemein- gültige Vorstellungen bezeichnen, wie das Ich, Du und Er, das Hier und

^) Goldziher, Über Gebärden- und Zeichensprache bei den Arabern, Zeit- schr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, XVI, S. 369 ff.

2) Der Freundlichkeit des Herrn J. Jrie in Sendai, Japan, verdanke ich die Mitteilung einer Anzahl in Japan üblicher Gebärden, die in gewissen ali- gemeinen Symbolen der Höflichkeit, Ehrfurcht, der Liebe, der Verachtung, des Spottes usw. den im Abendland gebrauchten ähnlich oder ganz gleich sind, daneben aber auch vereinzelt Formen darbieten, die den abendländischen Sy- stemen fehlen.

überlieferte Gebärdezeichen bei Kulturvölkern. 157

Dort, Groß und Klein, den Himmel, die Erde, die Wolke, den Regen, das Gehen, Stehen, Sitzen, Schlagen, den Tod und den Schlaf und viele andere, sondern auch die Ausbildung des Zeichensystems, die Fähigkeit der Übertragung sinnlicher Zeichen auf nicht sinnliche Gegenstände, die Art, wie sich in der Zusammenfügung der Gebärden die Gedankenfolge spiegelt, alles das charakterisiert die verschiedenen Formen als Erscheinungen, die weder wesentliche Unterschiede der Vollkommenheit, noch solche der Qualität imd Struktur erkennen lassen. Dadurch nähern sie sich in einem gewissen Grad einer Uni- versalsprache, wenn auch nicht ganz in dem Sinne, in dem man dieses Wort in der Regel anwendet. Nicht so nämlich, als ob die in einem bestimmten Volkskreise gebrauchten Zeichen für jeden, oder auch nur für denjenigen, der eine auf anderer Grundlage erwachsene Art der Gebärdensprache gebraucht, ohne weiteres verständlich wären. Das ist in Wirklichkeit nur sehr teilweise der Fall. Der Dakotaindianer, den man in die Straßen Neapels versetzte, würde zunächst wahrscheinlich von den Gebärden seiner Umgebung nicht viel verstehen. Er würde aber freilich dieses Verständnis unvergleichlich schneller gewinnen, als es bei der Lautsprache möglich ist.

Mehr als der Unterschied der Kultur ist jedoch ein anderes Mo- ment auf diese zumeist konventionell gewordenen Formen der Ge- bärdensprache von Einfluß. In ihren ursprünglichen, dem Ersatz oder der Unterstützung der Lautsprache dienenden Formen will sie vor allem verständlich sein. Unter der Wirkung dieses Strebens bilden sich hinweisende und zeichnende Gebärden aus, die wegen ihrer engen Beziehung zu den sinnlichen Gegenständen, die sie andeuten, einer näheren Interpretation oder vorangegangenen Verständigung nicht bedürfen. Aber die Gebärdenmitteilung kann auch als eine Geheim- sprache benutzt werden. Eine solche ist zwar als Lautsprache eben- falls möglich, wie die wichtigste solcher Geheimsprachen, die Gauner- sprache, zeigt. Aber die Gebärde bleibt selbst für diesen ihrem Ur- sprungsmotiv entgegengesetzten Zweck gewissermaßen das natür- lichste Hilfsmittel. Denn sie bietet in ihren übertragenen, symbolischen Formen immerhin noch ein anschauliches Bild, dessen Verständnis für den, dem solche Art der Mitteilung vertraut ist, durch die Beziehung

158 Die Gebärdensprache.

zu andern Symbolen unterstützt wird. Auch hat sie den großen Vor- zug, daß sie eine stumme Sprache ist, die sich vor andern leichter ver- bergen läßt, so daß man in ihr nach Belieben das in der Lautsprache Geäußerte in einer nur dem Kundigen bemerkbaren Form ergänzen oder selbst widerrufen kann. Schon die Gebärden der Neapolitaner sind daher in sehr vielen Fällen plastische, durch Formung der Hand erzeugte Bilder, da ein flüchtiger Hinweis oder ein in die Luft ge- zeichnetes Bild leicht nicht bloß andern, denen es verborgen bleiben soll, sondern auch dem entgeht, für den es bestimmt ist, während eine plastische Handgebärde so lange festgehalten werden kann, bis sie ihren Zweck erreicht hat.

Hierin bildet nun der rituelle Gebrauch der Gebärde einen vollen Gegensatz zu dieser okkulten Pantomimik der Diebe und Vaga- bunden. Sie dient im allgemeinen der besonderen Akzentuierung bestimmter Bestandteile der gesprochenen Rede durch eine ausdrucks- volle Bewegung. Auch sie bezweckt daher keine zusammenhängende Gedankenmitteilung. Aber dadurch, daß jene Akzentuierung aus einer starken Gefühlsbetonung hervorgeht und zugleich in ein feier- liches Zeremoniell sich einfügt, nehmen diese rituellen Gebärden eine intensiv wie extensiv gesteigerte Form an: intensiv, indem die den gewöhnlichen Verlauf der affektbetonten Vorstellungen begleitende Ausdrucksbewegung verstärkt wird, extensiv, indem sie sich über eine längere Zeit ausdehnt. So bei den Gebärden des Gebets, der Demütigung, der Segenspendung usw. Eine besondere Abzweigung ritueller Handlungen, die ebenfalls religiösen Ursprungs ist, aber sich infolge der Konkurrenz mit Zwecken des bürgerlichen Lebens teil- weise verweltlicht hat, bilden die rituellen Rechtssymbole. In dem heutigen Rechtsleben bis auf dürftige Reste geschwunden, bilden sie in den Rechtssitten aller Völker, insbesondere auch im alten rö- mischen und im deutschen Recht des Mittelalters wichtige Bestand- teile der Rechtshandlungen. Das Rechtsbuch des ,, Sachsenspiegels'' hat uns in seinen Bilderhandschriften Darstellungen dieser Symbole bewahrt. Sie sind durchweg Handgebärden, teils, wie das Erheben der gegen den Himmel gerichteten Schwurfingier, hinweisender, teils, wie das die Besitznahme andeutende Ergreifen eines Gegenstandes, zeichnender oder endlich, wie die Handreichung bei der Vertrags-

Gebärdezeiöhen der Zisterzienser mönche. 159

Schließung und die meisten andern, symbolischer Art^). Dabei bildet es überall einen charakteristischen Unterschied dieser rituellen Ge- bärden von der gewöhnlichen Gebärdensprache, z. B. der Taubstummen, daß jene durch ihre längere Dauer stärker sich einprägen und einen feierlichen Charakter gewinnen. Gleichwohl fehlt hier die oben er- wähnte plastische Gebärde so gut wie ganz. Denn die rituelle Ge- bärde will so eindrucksvoll und deutlich wie möglich sein: das wird •erreicht, indem die an sich vergängliche, aber unmittelbar verständ- liche hinweisende und zeichnende Bewegung durch ihre langsame, feierliche Form selbst zu einem plastischen Bilde wird. Eine beson- dere Abzweigung dieser rituellen bilden schließlich die Zaubergebärden, die ihrerseits wieder eine wichtige Klasse der Zaubersymbole und Zaubermittel sind. Die Vorstellung, daß die Gebärde eine bindende oder lösende magische Kraft besitze, ist gerade in den noch im heu- tigen Aberglauben verbreiteten Zaubergebärden lebendig geblieben. Doch reichen diese bereits in das jenseits der Gebärdensprache als solcher liegende Gebiet der Zauberkulte, das uns später beschäftigen wird^).

5. Gebärdezeichen der Zisterziensermönche.

Eine letzte Entwicklungsform der Gebärdensprache, bei der man von vornherein mehr als bei irgendeiner der vorangegangenen einen willkürlichen und rein konventionellen Ursprung vermuten muß, entsteht in solchen Fällen, wo eine Gesellschaft Hörender ab-

^) K. von Amira, Die Handgebärden in den Biiderhandschriften des Sachsenspiegels. Abh. der Bayr. Akademie der Wiss. I. KL, Bd. 23, S. 163 ff.

2) Nur einer Gattung dieser Zaubergebärden sei hier gedacht, in denen der ursprüngliche magische Charakter der entsprechenden rituellen Gebär- den noch deutlich zu erkennen ist. Man könnte sie die „umkehrenden Gebärden" nennen, weil sie gewissen feierlich verpflichtenden Gebärdensymbolen entgegen- gesetzt sind, daher sie denn auch eine Aufhebung jener Verpflichtung bezwecken. Dahin gehören besonders die von A. Hellwig (Archiv für Religionswissenschaft, Bd. 12, 1909, S. 46 ff.) mitgeteilten Gebärden zur Aufhebung eines Eidschwurs. Der Schwörende richtet z. B., während er die Rechte zum Schwur erhebt, die Linke mit der gleichen Schwurgebärde zum Boden, oder er wendet die Schwur- hand selbst mit ihrer Hohlfläche gegen den Richter, Zeichen, deren Kontrast- und Abwehrbedeutung auf der Hand liegt.

160 I^i® Gebärdensprache.

sichtlicli auf den Gebrauch der Lautsprache verzichtet und sich so gewissermaßen künstlich in die Lage der Taubstummen versetzt. Seit alter Zeit aber bildet das Gelübde des Schweigens einen Bestand- teil religiöser Askese, ob es nun, wie im Altertum in der Sekte der jüngeren Pythagoreer, nur vorübergehend dem Novizen als Prüfung auferlegt wird oder ihn, wie in dem Mönchsorden der Zisterzienser, für immer bindet. Über die Gebärdensprache der Zisterzienser be- sitzen wir zwei interessante Verzeichnisse von Leibniz, ein latei- nisches ohne nähere Angabe seiner Herkunft und ein niederdeutsches aus dem vormaligen Kloster Lockum. Das eine zählt 143, das andere 145 Nummern^). Ein älteres (aus dem 11. Jahrhundert) aus einem englischen Kloster, in angelsächsischer Sprache, das die Beschreibung von 127 Zeichen enthält, hat F. Kluge mitgeteilt 2). Alle diese Ver- zeichnisse sind wenig umfangreich, vermutlich weil sich die Gebärden- mitteilung der Mönche auf das Nötigste beschränkte. Aber sie sind hinreichend, um eine Vergleichung mit andern Formen der Gebärden- sprache niöglich zu machen. Diese ergibt nun in vielen Punkten eine große Übereinstimmung. Doch ist das System der Zisterzienser ziem- lich reich an Zeichen, die offenbar willkürlich erfunden und verabredet sind. Auf der andern Seite zeigt es, wo Beziehungen zu den sonstigen Formen vorliegen, mehr Übereinstimmung mit den einfacheren und leichter verständlichen Gebärden der Taubstummen als mit den auf längerer Tradition beruhenden der Indianer und Neapolitaner. Das System macht so den Eindruck einer Mischung aus Fragmenten einer natürlichen Gebärdensprache einfachster Beschaffenheit und eines völlig künstlichen Zeichensystems. Da die Zeichen der letzteren Art die Entstehung dieser Form der Mitteilung aus einer willkürlichen Übereinkunft unzweifelhaft machen, so ist sie für die sprachpsycho- logischen Fragen von geringerer Bedeutung. Immerhin ist sie inso-

') Leibnitii opera omnia ed. Dutens, Tom. VI, Pars II, Collect, etymo- logica pag. 207.

2) F. Kluge, Zur Geschichte der Zeichensprache. (Angelsächsische indicia monasterialia. ) Techmers Zeitschr. f. allgem. Sprachwissenschaft. II, 1885, S. 116 ff. Im Eingang der Klugeschen Arbeit sind noch einige andere ähnliche Verzeichnisse erwähnt. Ebenso findet sich ein solches in Ducanges Glossarium nov. ad Script, med. aet. v. Signum n. 9.

Gebärdezeichen der Zisterziensermönche. 161

fern lehrreich, als sie zeigt, daß eine solche Ühereinkunft da, wo es sich um geläufige sinnliche Vorstellungen handelt, zu ähnlichen leicht verständlichen Zeichen greift wie der natürliche Gebärdenausdruck. Dies beweist aber, daß eben das, was man die ,, Natürlichkeit" der Gebärdensprache zu nennen pflegt, über die Frage der Entstehung derselben an und für sich noch nichts aussagt. Eine Gebärde, die weder unmittelbar noch in der Zurückverfolgung auf ihren Ursprung irgendeine anschauliche Beziehung zu ihrer Bedeutung erkennen läßt, ist ganz gewiß willkürlich erfunden. Eine Gebärde dagegen, bei der eine solche Beziehung nachweisbar ist, kann ebensowohl natür- lich entstanden wie erfunden sein. Die tatsächlichen Eigenschaften können also niemals die Kenntnis der wirklichen Entstehungsbedingun- gen ersetzen^).

Wenn wir uns nun bei den verschiedenen oben erörterten Ent- wicklungsformen der Gebärdensprache diese Entstehungsbedingungen vergegenwärtigen, so spricht alles dafür, daß sie überall von zusammen- gesetzter Art sind, daß also keine der vorhandenen Formen psycho- logisch auf einen einheitlichen Ursprung zurückgeführt werden kann. Alle diese Systeme sind, wenn wir die populären Begriffe des Natür- lichen und Künstlichen auf sie anwenden wollen, natürlich und künst- lich zugleich. Und zwar erscheinen nicht nur einzelne Zeichen als natürliche, ohne Wahl und Überlegung hervorgebrachte Reaktionen, andere als Produkte einer erfinderischen Tätigkeit; sondern diese verschiedenen psychischen Funktionen verbinden sich auch nicht selten bei der Entwicklung einer und derselben Gebärde. Dadurch werden sich aber die verschiedenen Formen der Gebärdensprache näher gerückt, als die äußeren Umstände, unter denen sie vorkommen, vermuten lassen. Als diejenige Bedingung,- die für die Differenzierung der Erscheinungen die wichtigste ist, erweist sich der Einfluß der Zeit. Denn mehr als die Kulturstufe, mehr als das vermutliche Maß

^) Zu den großenteils künstlich erfundenen, aber doch durch die überall wirksamen Assoziationen vielfach mit den natürlichen Gebärdeformen zusammen- hängenden Zeichen gehören auch die sogenannten „Kennzinken" der Gauner. (Zinken ist wahrscheinlich volksetymologische Umbildung von lat. signum.) Wir werden auf dieselben unten (V, 3) bei der Erörterung des Zusammenhangs von Gebärdensprachen und Bilderschrift zurückkommen.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl.

162 I^i® Gebärdensprache.

von Zwang oder Freiheit ist offenbar der Umstand maßgebend, ob eine bestimmte Form der Gebärdensprache eine lange Tradition hinter sich hat, wie die der nordamerikanischen Indianer oder der NeapoH- taner, oder ob sie im Vergleich damit eine Neubildung ist, die sich in der Kegel nur durch wenige Generationen hindurch verfolgen läßt, wie die Zeichen der Taubstummen.

Da es diese Unterschiede der Zeit und der Tradition sind, mit denen, wie wir sogleich sehen werden, auch bemerkenswerte Eigen- tümlichkeiten der einzelnen Gebärden zusammenhängen, so wollen wir diese beiden Fälle im folgenden kurz als die der neugebildeten und der überlieferten Gebärdensprache auseinanderhalten. Natür- lich sind diese Ausdrücke nur im relativen Sinne zu verstehen. Denn es gibt wohl keine neugebildete Gebärdensprache, die nicht in einem gewissen Maß unter dem Einflüsse von Überlieferungen steht, noch weniger aber eine überlieferte, in der nicht fortwährend sporadische Neubildungen vorkommen.

IL Grundformen der Gebärden.

1. Psychologische Klassifikation der Gebärden.

Wenn man die verschiedenen Entwicklungsformen der Gebärden- sprache mit einem der Lautsprache entnommenen Bild ihre Dia- lekte nennen kann, so läßt sich wohl eine Klassifikation der Gebärden, die von genetischen Gesichtspunkten aus unternommen wird, als eine Art Etymologie derselben bezeichnen. Freilich verschiebt sich aber die Bedeutung der Ausdrücke erheblich bei dieser Übertragung, und diese Verschiebung wirft wiederum ein gewisses Licht auf die Natur der Gebärdensprache selbst. Man kann nämlich bei ihr, wenn wir von den ganz und gar künstlichen Zeichensystemen absehen, zwar von verschiedenen Dialekten, aber niemals von verschiedenen Sprachstämmen reden; und außerdem sind die vorkommenden dia- lektischen Unterschiede mehr von den äußeren Lebensverhältnissen und von der Existenz einer längeren Überlieferung als von der ur-

Psychologische Klassifikation der Gebärden. 163

sprüngliclien Verwandtschaft oder der gemeinsamen Abstammung der Menschen abhängig. Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß eine Etymologie der Gebärden nur zum geringsten Teil darin bestehen kann, die Herkunft eines gegebenen Zeichens aus andern ursprüng- licheren Gebärden nachzuweisen. Eine derartige Nach Weisung ist nur in solchen Fällen möglich, wo eine Gebärde im Laufe der Tradi- tion entweder selbst Änderungen erfahren oder ihre Bedeutung ge- wechselt hat. Daß das letztere vorkommt, davon werden wir uns in der Tat bei der Betrachtung des Bedeutungswandels gewisser Sym- bole überzeugen. Aber das Maß dieser Entwicklung ist doch hier ein sehr beschränktes. Da selbst bei jenen Formen der Gebärden- sprache, die auf einer lange dauernden Überlieferung beruhen, die Zahl der in ihrer Beschaffenheit oder Bedeutung erheblich veränderten Symbole relativ klein ist, so kann demnach die Frage der Herkunft bei der Mehrzahl der Gebärden überhaupt nur im psychologischen Sinne verstanden werden. Muß sich die Etymologie der Lautsprache mit der Ermittelung der Anfangsbildungen begnügen, die sie als ge- schichtlich gegebene und nicht weiter abzuleitende, eben deshalb aber auch in der Regel als unerklärbare anzusehen hat, so ist das „Etymon" einer Gebärde dann nachgewiesen, wenn ihre psycho- logische Bedeutung und ihr Zusammenhang mit den allgemeinen Prinzipien der Ausdrucksbewegungen erkannt ist. Hier beginnt also das Problem gerade bei dem Punkte, wo es für die Etymologie der Lautsprache aufzuhören pflegt. Die Bedeutung der Gebärdensprache für die sprachpsychologischen Probleme überhaupt erhellt ohne weiteres aus diesem Verhältnis. In gewissem Grade bleibt eben die Gebärdensprache immer auf der Stufe eines Urzustandes, und was wir in ihr von Spuren historischer Veränderungen beobachten, reicht nur hin, ihren allgemeinen Charakter als Sprache auch in dieser Be- ziehung erkennbar zu machen. Man könnte sagen: der Begriff einer Ursprache, im Gebiet der Lautsprache ein hypothetischer Grenz- begriff, wird bei der Gebärdensprache zur unmittelbar beobachteten Wirklichkeit. Dieser Tatsache kann aber, wenn sie keinen andern Nutzen hätte, mindestens der nicht bestritten werden, daß sie die Notwendigkeit der Annahme einer Ursprache in diesem psycholo- gischen Sinne beweist: die Notwendigkeit nämlich, daß es für jede

11*

164 I^ie Gebärdensprache.

Art natürlich entstandener Sprache einmal eine Zeit gegeben haben muß, in der die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem, was es bezeichnet, eine unmittelbar anschauliche war. Daß freilich diese Zeit nicht für den ganzen Inhalt einer Sprache die gleiche zu sein braucht, dies lehrt wieder die Gebärdensprache, in der es neben den unver- ändert gebliebenen Bestandteilen und Neubildungen auch an Wand- lungen nicht fehlt, die das ursprünglich Bedeutsame in ein anscheinend konventionelles Symbol überführen.

Eine Etymologie der Gebärdensprache, die der psychologischen Herkunft der einzelnen Gebärden nachgeht, muß nun naturgemäß die Ausdrucksbewegungen zum Anfangspunkt ihrer Betrachtungen nehmen, da ja die Gebärdensprache selbst nichts anderes ist als ein System von Ausdrucksbewegungen, dem der Trieb der Mitteilung und Verständigung seine besonderen Eigenschaften verliehen hat. In der Tat sind es die beiden Grundformen der Vorstellungsäußerung der Affekte, die hinweisenden und die nachahmenden Gebärden, die uns überall als die ursprünglichen Bestandteile des Inhalts der Gebärdensprache wieder begegnen. Von diesen beiden Grundformen bewahren die hinweisenden bei der Entwicklung der natürlichen Affektäußerung zur Gebärdensprache im wesentlichen ihren ursprüng- lichen Charakter unverändert. Wie ihre äußere Erscheinungsweise keiner erheblichen Weiterbildung fähig ist, so bleibt nicht minder ihre Bedeutung eine beschränkte. Dies verhält sich anders bei den nachahmenden Gebärden. Sie hängen zwar sämtlich genetisch mit der nachahmenden Bewegung zusammen, wie denn auch psycho- logisch der Trieb zur Nachahmung des den Affekt erregenden Gegen- standes in gewissem Maße bei ihnen allen noch fortwirkt. Aber dabei haben sich doch diese aus der gleichen Wurzel entsprossenen Gebärde- formen derart differenziert, daß das Wort „Nachahmung" sie ebenso- wenig mehr zureichend bezeichnet, wie etwa für die Gesamtheit der bildenden Künste der Ausdruck „nachahmende Künste" zutreffend sein würde. Wir wollen deshalb die zweite Klasse mit einem alle ihre einzelnen Anwendungen umfassenden Ausdruck als die der dar- stellenden Gebärden bezeichnen, und sie dann in die beiden Unter- klassen der nachbildenden und der mitbezeichnenden ein- teilen. Unter ihnen stehen die nachbildenden, wie ihr Name schon

Hinweisende Gebärden. 165

andeutet, der bloßen Nachahmung am nächsten, und sie fallen in den einfachsten Fällen ohne weiteres mit ihr zusammen. Aber im ganzen treffen wir doch schon bei ihnen die Nachbildung gewisser- maßen auf einer höheren Stufe, da die Umbildungen, die der Gegen- stand in der Phantasie des Beschauers erfährt, ehe er nachgebildet wird, hierbei eine Rolle spielen. Die Nachbildung gestaltet also das Bild eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier, wie es die bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut. In diesem Verhältnis liegt denn auch der Grund, daß sich aus der nach- bildenden die mitbezeichnende Gebärde aussondert, bei der die Be- ziehung zwischen dem Zeichen und seinem Gegenstand erst durch die mithelfende und ergänzende Funktion der Phantasie zustande kommt. Als eine dritte Hauptklasse unterscheiden wir endlich die symbolischen Gebärden. Sie sind insofern sekundärer Art, als ihre Formen stets auf hinweisende oder darstellende Gebärden oder auf eine Vereinigung beider zurückgeführt werden können. Auch nimmt zweifellos ihre Anzahl mit der Entwicklung der Gebärdensprache zu. Doch reichen die einfachsten symbolischen Zeichen jedenfalls in eine sehr frühe Zeit, wenn nicht in die Anfänge der Gebärdensprache zurück. Der allgemeine Charakter der symbolischen Gebärde besteht aber darin, daß sie die auszudrückenden Vorstellungen aus einem An- schauungsgebiet in ein anderes überträgt, also z. B. zeitliche Vor- stellungen räumUch andeutet, oder daß sie abstrakte Begriffe sinnlich veranschaulicht^).

2. Hinweisende Gebärden.

Daß die hinweisende Gebärde unter den genannten Formen nicht bloß die einfachste, sondern auch die ursprünglichste ist, läßt sich aus verschiedenen Tatsachen erschließen. Unter den Ausdrucks-

^) Vgl. zu dieser Klassifikation und zu dem Folgenden, zugleich mit Rück- sicht auf die Bemerkungen Delbrücks (Grundfragen der Sprachforschung, S. 48 ff. ) und Sütterlins (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 14 ff.), meine Schrift: Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 35 ff.

166 Die Gebärdensprache.

bewegungen des Kindes kommt das Hindeuten auf die Gegenstände am frühesten und selbständigsten zum Zweck der Mitteilung, also in der allgemeinen Bedeutung der Sprachgebärde vor. Ebenso über- wiegen die einfach hinweisenden Bewegungen bei den neugebildeten Formen der Gebärdensprache, während bei den überlieferten die nach- bildenden die Mehrzahl bilden und die hinweisenden meist nur in Verbindung mit ihnen in zusammengesetztere Gebärdeformen eingehen. Diese größere Ursprünglichkeit erklärt sich ohne weiteres aus den psychologischen Bedingungen ihrer Entstehung. Wo der Gegenstand, auf den sich irgendeine Gebärdenmitteilung bezieht, im Sehbereich liegt, da ist die unmittelbare Richtung des Zeigefingers gegen ihn das einfachste, weil das sicherste und eindeutigste Mittel die Aufmerk- samkeit auf ihn zu lenken, ein Mittel, das in der Regel ohne Über- legung, aus dem unmittelbaren Trieb nach Mitteilung heraus an- gewandt wird. Wo eine individuelle Gebärdensprache vollkommen neu sich ausbildet, wo etwa ein Taubstummer isoliert in hörender Um- gebung aufwächst, da ist daher anfänglich die Hinweisung auf die Objekte fast die einzige überhaupt vorkommende Gebärde, und sie genügt für diesen Anfang um so mehr, weil sich bei dieser ersten Ent- wicklung das Interesse, das zur Mitteilung führt, nur solchen Gegen- ständen zuwendet, die der unmittelbaren Wahrnehmung zugänglich sind. Das wird anders, wo die Erinnerung eine größere Rolle zu spielen beginnt, und wo nun bei der Verwendung der Gebärde zur Erzählung vergangener Erlebnisse oder zum Ausdruck von Befehlen und Wünschen die Objekte der Vorstellungen nicht immer gegenwärtig sind. Dann führt der Trieb nach Mitteilung des Gedachten von selbst dazu, das vorgestellte Objekt durch Andeutung seiner Eigenschaften kennt- lich zu machen. Aber auch hier greift der Taubstumme noch gern, falls sich nur ähnliche Objekte im Sehbereich vorfinden, zur hinweisen- den Gebärde, oder er zieht sie wenigstens neben der nachbildenden zu Hilfe. Beide zusammen verraten nun durch den nachahmenden Bestandteil die Abwesenheit des Gegenstandes, durch die Hinweisung auf ein ähnliches Objekt beseitigen sie die Unsicherheit der bloß nach- ahmenden Bewegung. Dies ist einigermaßen anders bei den Formen der überlieferten Gebärdensprache, wo die verschiedenen Arten nach- bildender Zeichen durch eine lange eingelebte Gewöhnung festere

Hinweisende Gebärden. 167

Bedeutungen gewonnen haben. Zuweilen mag übrigens hier das Zu- rückdrängen jener einfachsten Gebärdeform auch dadurch bedingt sein, daß die Gebärdensprache den Charakter einer Geheimsprache annimmt, bei der die Hinweisung auf den Gegenstand gerade um ihrer leichten Verständlichkeit willen vermieden wird.

In ihrer ursprünglichen Bedeutung bezeichnet demnach die hin- weisende Gebärde schlechthin den anwesenden Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit lenkt. Da aber alle zur umgebenden Welt gehörenden Objekte gelegentlich auch abwesend sein können, so entstehen, namentlich nachdem sich eine gewisse Tradition aus- gebildet hat, bald für die meisten Außendinge selbständige, nach- bildende, sie unabhängig von ihrer Anwesenheit andeutende Zeichen. Hierdurch wird die hinweisende Gebärde aus ihrer ersten allgemeinen Anwendung allmählich verdrängt. Nur zwei Vorstellungsgebiete bleiben zurück, für die fortan der unmittelbare Hinweis die ange- messene Bezeichnung bleibt, weil ihre Objekte fortwährend an- wesend sind. Das erste dieser Gebiete ist das der Personen der Unterredung, das zweite das der räumlichen Verhältnisse. Das Ich und Du sind immer wiederkehrende Attribute der Gedanken- mitteilung. Mögen auch die Personen der Unterredung wechseln, dies ihr Verhältnis zueinander mit der Bedingung unmittelbarer Gegenwart bleibt bestehen. Bis zu einem gewissen Grade, wenn- gleich minder konstant, kann aber auch eine dritte Person oder eine Mehrzahl dritter Personen eine analoge Rolle spielen. Ähnlich können räumliche Richtungen, ein Oben und Unten, Rechts und Links, Vom und Hinten nicht anders ausgedrückt werden als durch hinweisende Gebärden, die von dem eigenen Körper, als dem Mittelpunkt aller Orientierungen im Raum, ausgehen.

An diese räumlichen Hinweisungen schließen sich dann weitere an, die in ihrer Form nicht wesentlich abweichen, nach ihrer Bedeu- tung jedoch nicht mehr als rein hinweisende Zeichen betrachtet wer- den können. Hierher gehören erstens diejenigen Gebärdeformen,, die Größe und Kleinheit, namentlich in der Höhendimension, zu- weilen aber auch in andern räumlichen Richtungen ausdrücken; so- dann solche hinweisende Bewegungen, die gegen Teile des eigenen Leibes gekehrt sind, um entweder diese Teile selbst oder gewisse ihrer;-

168 I^ie Gebärdensprache.

Eigenschaften oder ihre Funktion auszudrücken; endlich Gebärden, welche die drei räumlichen Beziehungen des unmittelbar gegenwärtigen Ortes, der zurückgelegten und der zurückzulegenden Strecke in die zeitlichen Bedeutungen der Gegenwart, Vergangenheit und Zu- kunft übertragen. Diese drei Entwicklungsformen gehören, ebenso wie der einfache Hinweis, zu den verbreitetsten Gebärden: sie sind übereinstimmender Weise unter den Zeichen der Taubstummen, der Zisterzienser und in den verschiedenen Formen üb^lieferter Ge- bärdensprache zu finden. Wir haben also allen Grund, diese demon- strativen Zeichen sämtlich für in hohem Grade natürliche Ausdrucks- mittel zu halten. Nach ihrer Bedeutung besitzen sie aber den Charakter von Übergangsstufen zwischen der primären Form des Hinweises und verschiedenen Arten nachbildender Gebärden. Obgleich den hinweisenden Zeichen gleichend und mit den nämlichen Hilfsmitteln ausgeführt, liegt in ihnen stets noch ein weiterer Vorstellungsinhalt, der über den durch die Bewegung selbst ausgedrückten hinausgeht. So ist bei den Gebärden der Größe und Kleinheit die hinweisende offenbar ganz in der nachbildenden Bedeutung aufgegangen. Näher scheint die Bezeichnung der Organe, ihrer Eigenschaften und Funk- tionen durch Hinweis auf Teile des eigenen Leibes der primären Be- deutung zu stehen. Läßt sie sich doch als eine besondere Gestaltung des einfachen Hinweises auf sich selbst ansehen. So werden Kopf, Brust, Bein, Auge, Ohr, Nase, Zunge usw. durch derartige Bewegungen angedeutet; und ähnliche bezeichnen die Funktion der Organe: das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken usw. In allen diesen Fällen ist demnach gegenüber dem einfachen Hinweis eine Erweiterung der Bedeutung eingetreten, die sich mit dem Übergange von der Person auf ihre Teile von selbst verbindet. Auch bezieht sich ein solcher Hinweis auf ein einzelnes Organ in der Regel nicht mehr bloß auf den Redenden selbst, sondern dieser benutzt jenes nur als das nächste Beispiel, um den Begriff überhaupt auszudrücken. Darum verbinden sich hiermit leicht noch andere Bedeutungsentwicklungen: so der Übergang vom Organ auf seine Funktion, wie bei den Sinnesorganen; oder es treten zu den hinweisenden andere, näher determinierende Bewegungen, die bereits direkt den Charakter darstellender Gebärden besitzen. So, wenn eine weitverbreitete Gebärde das Sehen zuerst

Hinweisende Gebärden. 169

durch den Hinweis auf das Auge und dann durch eine von diesem aus- gehende, in den Kaum gerichtete Bewegung des Zeigefingers anzeigt, wodurch die Funktion von dem Organ selbst unterschieden wird. Oder wenn ,, Fleisch" bei den Taubstummen und den Zisterzienser- mönchen übereinstimmend durch Emporheben einer Hautfalte am Arm angedeutet wird, eine Modifikation, die zur Unterscheidung von dem Arm als solchem dient, wo aber eben deshalb die Gebärde rschon in ihrer äußeren Erscheinungsweise den Charakter einer bloß Tiinweisenden verloren hat. Wie auf die Funktionen, so können end- lich auch auf die Eigenschaften der Organe oder, in einer sich weiter .anschließenden Übertragung, auf irgendwelche andere Vorstellungen, •die mit diesen Eigenschaften in Beziehung stehen, die nämlichen Ge- bärden übergehen. So, wenn die Farbe ,,rot" durch Hinweisung auf »den roten Lippenrand oder auf die Wange, oder wenn gar bei den .Zisterziensern der „Wein" durch eine Berührung der Nase, gleichsam ;als ,,der, der die Nase rötet", angedeutet wird eine Gebärde, die durch die Gleichförmigkeit, mit der sie sich in der Kloster spräche der verschiedenen Jahrhunderte wiederholt, ein merkwürdiges Licht auf die Verbreitung wirft, in der dieses Symptom bei den frommen Brüdern vorgekommen sein muß. Alles dies sind natürlich sekun- däre Übertragungen, die schon in das Gebiet des Bedeutungswandels der Gebärden hineinreichen.

Eine etwas andere Stellung nehmen nach ihrem psychologischen Inhalt die sekundären demonstrativen Gebärden ein, bei denen der ursprünglich räumlichen eine zeitliche Bedeutung untergeschoben ist. Die Regelmäßigkeit, mit der diese Darstellung der Zeit durch hinweisende Zeichen in den neugebildeten wie in den überlieferten Gebärdensprachen angewandt wird, bildet vielleicht einen der sprechend- sten Belege für die ürsprünglichkeit der Verbindung beider Anschau- nngsformen. Da aber bei dieser Substitution der Raum ein Symbol der Zeit, wenn auch ein noch so natürliches und ursprüngliches ist, so ist diese dritte Form zugleich zu den symbolischen Gebärden zu rechnen.

170 I^ie Gebärdensprache.

3. Nachbildende Gebärden.

Ungleich größer an Zalil und mannigfaltiger ist die Klasse der darstellenden Gebärden. Sie zerfallen, wie schon oben bemerkt, in mehrere Formen, die man am zweckmäßigsten wieder nach ihren genetischen Beziehungen ordnet. Während bei den hinweisenden die sekundären Formen immer zugleich in darstellende übergingen, worin sich die natürliche Armut der bloßen Demonstrativzeichen verriet, bleibt bei den verschiedenen Entwicklungsstufen der dar- stellenden Gebärden selbst der enge Zusammenhang mit der pri- mären Form, aus der sie sich differenziert haben, dauernd erhalten. Diese primäre Form ist aber die der nachbildenden Gebärden.

Sie sind unmittelbare Weiterentwicklungen der nachahmenden Ausdrucksbewegungen, mit denen sie in ihrer ursprünglichen Erschei- nungsweise vollständig zusammenfallen. Die ausgebildeten Gebärden dieser Klasse lassen sich dann in zwei verschiedene Arten unterscheiden.. Entweder nämlich werden die Umrißlinien des vorgestellten Gegen- standes mit dem bewegten Zeigefinder in die Luft gezeichnet; oder die Gestalt des Gegenstandes wird durch die Hände in einer bleibenden Form nachgebildet. Hiernach können wir jene die zeichnende,, diese die plastische Form der nachahmenden Gebärden nennen. Beide, die vergänglichere und die bleibendere Form, können sich üb- rigens miteinander verbinden, und wo sich die Gebärdenmitteilung weiter ausgebildet hat, da geschieht dies in der Tat fortwährend. Im allgemeinen läßt sich aber die vergängliche Form, das flüchtig vom Finger in die Luft gezeichnete Bild, als die primitivere betrachten. Sie herrscht in der natürlichen Gebärdensprache unserer Taubstum- men vor, während sich die entwickelteren, auf einer langen Tradition beruhenden Zeichensprachen mehr der in solchen Fällen mit großer Fertigkeit geübten Plastik der Hände, wenn nötig unter Hinzunahme bewegter Umrißzeichnungen und hinweisender Bewegungen, bedienen ^).

^) Deutlich erhellt dieses Übergewicht zeichnender Gebärden bei den Taubstummen, wenn man das von Ed. Schmalz (Über die Taubstummen und ihre Bildung, S. 314 ff.) gesammelte ausführliche Verzeichnis durchgeht und mit den Verzeichnissen von Mallery und A. de Jorio (a. a. 0.), die sich auf über-

Nachbildende Gebärden. 171

So bezeichnet der Taubstumme das ,,Ha^s", indem er Giebeldach und Seitenwände mit dem Zeigefinger in der Luft andeutet. Ebenso der Zisterzienser, der die „Kirche" vom gewöhnlichen Hause noch dadurch unterscheidet, daß er nachträglich über dem Dach ein Kreuz beschreibt. Ein ,, Zimmer" wird durch Beschreibung eines Vierecks, ein ,,Hof", ein ,, Platz", ein ,, Garten" entweder ebenso oder häufiger durch Beschreiben eines Kreises angedeutet. Der Zusammenhang der Rede oder hinzutretende demonstrative und mitbezeichnende Gebärden sondern wieder diese verschiedenen Begriffe: so den Garten vom Platze die der Umrißzeichnung des Kreises angehängte Gebärde des Riechens an einer Blume, der durch mehrmalige Bewegung des Daumens und Zeigefingers gegen die Nase angedeutet wird. Der* ,, Rauch" wird durch eine die Bewegung der Rauchwolken annähernd wiedergebende spiralige Drehung des Zeigefingers von unten nach oben ausgedrückt. Soll gesagt werden, daß der Rauch aus einem Ge- bäude aufsteigt, so wird diese Gebärde dem obenerwähnten Zeichen des Daches beigefügt. Ist ein von einer brennenden Flamme auf- steigender Rauch gemeint, so wird durch Blasen gegen den empor- gehaltenen Zeigefinger die Flamme angedeutet: diese beiden Gebärden der Flamme und des Rauches zusammen werden daher auch benutzt, um überhaupt ,, Feuer" auszudrücken. Ähnliche Verbindungen der zeichnenden mit mitbezeichnenden Bewegungen, die zur Erläute- rung jener dienen, kommen noch in der mannigfaltigsten Weise vor. Für „Brot" zeichnet der Taubstumme einen Kreis in die Luft, die Form des Brotlaibs wiedergebend, und macht dann die Gebärde des Brotschneidens. ,,Buch" drücken der Taubstumme und der Zister- zienser in gleicher Weise dadurch aus, daß sie die beiden Hände in der Form eines aufgeschlagenen Buches, in dem man liest, vor das Angesicht halten und mit dem Munde Bewegungen ausführen, die das Lesen nachahmen. Den ,,Hut" als männliche Kopfbedeckung drückt der Taubstumme aus, indem er die Umrisse eines Zylinder-

lieferte Gebärdensprachen beziehen, vergleicht. Schmalz ist übrigens der ein- zige unter diesen Autoren, der die Gebärden in gewisse Klassen geordnet hat freilich in solche, die der Grammatik der Lautsprache entlehnt sind und also, da deren Kategorien in der Gebärdensprache nicht existieren, für diese keine Be- deutung besitzen (vgl. oben S. 135 f.).

172 I^iö Gebärdensprache.

huts über dem Kopfe zeichnet. Dasselbe Zeicben teilt der Prinz von Wied von den Indianern der Kocky mountains mit; es war aber zu- gleich auf den weißen Mann selbst, als den buttragenden, im Unter- schiede vom Eingeborenen, übergegangen. Der Neger wurde, da er in Amerika meist in europäischer Kleidung geht, in derselben Weise angedeutet, aber als Unterscheidungsmerkmal eine Bewegung mit der flachen Hand über das Haar beigefügt, die auf das Wollhaar hin- wies. Die verschiedenen Tiere werden bei Taubstummen wie In- dianern in der Regel durch Umrißzeichnungen nicht des ganzen Tieres, sondern einzelner charakteristischer Teile ausgedrückt: so der ,, Hirsch" durch Zeichnung des Geweihes über der eigenen Stirne, der „Ochse" Äurch ähnliche Beschreibung der Hörner, die „Ziege" durch Zeich- nung ihres Bartes, der ,, Vogel" durch Nachbildung seines Schnabels mit Zeigefinger und Daumen, die gegeneinander bewegt werden. Ähn- liche flüchtige Umrißzeichnungen bieten sich endlich überall von selbst dar, wo es sich um den Ausdruck von Vorgängen und Tätig- keiten handelt, die in der Zeit verlaufende Erscheinungen sind, also für die meisten der in der Lautsprache durch Verbalformen aus- gedrückten Begriffe. So gibt der Taubstumme den Begriff „gehen" durch die Nachahmung von Gehbewegungen mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger auf dem emporgehaltenen linken Vorderarm wieder; ,, reiten", indem er mit den nämlichen Fingern die Beine eines Reiters und mit ihnen gleichfalls auf dem Vorderarm der andern Seite die Bewegungen des Reiters nachbildet; ,, sprechen" durch nachahmende Bewegungen der Lippen. Diese Bewegungen nehmen die Bedeutung ,, nennen" an, wenn zugleich der Zeigefinger vom Mund aus gegen die benannte Person oder Sache hingeführt wird; die Bedeutung ,, singen", wenn Arm und Zeigefinger die Bewegungen des Taktschiagens machen. ,, Schlagen" wird unmittelbar durch schlagende Bewegungen mit dem rechten Arm, „verbergen" durch Verstecken der rechten Hand unter dem Kleide der linken Seite, ,, Handel treiben", ,, kaufen" durch abwechselndes Hinlegen eines fingierten Gegenstandes und Auf- nehmen eines andern mit der Hand, also eigentlich durch abwechseln- des Geben und Nehmen ausgedrückt usw.

Neben diesen in der Ausführung von Umrißzeichnungen in der Luft bestehenden Zeichen haben sich nun namentlich in den über-

Nachbildende Gebärden.

173

lieferten, auf eine längere Tradition zurückgehenden Gebärdensprachen dauerndere, plastische Gebärden entwickelt. Sie kommen dadurch zustande, daß die Hände als plastische Organe die Nachbildung der verschiedenen Natur- oder Kunstformen gestatten und sich in dieser Fähigkeit noch in hohem Grade durch Übung vervollkommnen. Unter den Ausdrucksmitteln der Taubstummen fehlen diese plastischen Gebärden fast gänzlich, wogegen sie in der Sprache der Indianer und des neapolitanischen Volkes eine große Rolle spielen. Eine kleine Sammlung solcher Zeichen geben die Figuren 26 28. In Fig. 26 sind Gebärden neapolitanischen, in Fig. 27 und 28 solche amerikanischen Ursprungs dargestellt^).

^-W /

h c

Fig. 26. Neapolitanische Handgebärden.

So ist die Gebärde a (Fig. 26) das in Neapel viel und in mancher- lei Bedeutungen gebrauchte Zeichen eines „gehörnten Kopfes": Zeige- und kleiner Finger ausgestreckt bezeichnen die beiden Hörner, die übrige Hand den Kopf. Die Urbedeutung ist natürlich die eines gehörnten Tier köpf s oder Tieres. Ebenso ist h die Nachbildung eines „Eselskopfs": die nach oben gehaltenen Daumen beider Hände sind die Ohren, durch den Zwischenraum zwischen den kleinen Fingern und der übrigen Hand wird die Mundspalte angedeutet. Werden die beiden Hände in derselben Stellung zueinander mit den Finger- spitzen nach abwärts gerichtet, während die Daumen fester aneinan-

^) Die Zeichnungen in Fig. 26 sind dem Werke A. de Jorios (a. a. 0. Taf. 19 und 20), die in Fig. 27 und 28 der Arbeit G. Mallerys entnommen.

174

Die Gebärdensprache.

der gedrückt werden, wie in c, so stellt diese Form abermals den Kopf des Esels dar, aber nicht wie vorhin im Profil, sondern in der Vorder- ansicht. Eine oft gebrauchte Gebärde der Neapolitaner ist endlich das in d wiedergegebene Bild der „Flasche": der nach oben gekehrte Daumen bedeutet deren Hals, die übrige Hand mit den gebogenen Fingern den Bauch,

Noch mannigfaltiger sind die plastischen Handgebärden der Indianer, e (Fig. 27) ist das gewöhnliche Zeichen für „Geld". Es

Fig. 27. Nordamerikanische Handgebärden.

ist die Nachbildung der Form des Geldstücks und als solche auch an andern Orten der Erde verbreitet: so z. B. mit der gleichen Bedeu- tung in Japan. / ist das indianische Zeichen für „Sonne". Es besteht ebenfalls nur in der Nachbildung eines runden Gegenstandes, wie das vorige; aber der größere Umfang des mit beiden Händen gebildeten Kreises deutet die erhebliche Größe an. Zur näheren Begrenzung der Bedeutung werden zuweilen noch die so zusammengefügten Hände von Osten nach Westen bewegt: gleichsam ,,der große runde Gegen-

Nachbildende Gebärden.

175

stand, der von Osten nach Westen geht". Die Unbestimmtheit dieses Kreiszeichens macht es übrigens auch in anderem Sinne verwend- bar. So dient es nach Prinz Wied zur Bezeichnung eines indianischen ,, Dorf es", wo zur bestimmteren Hervorhebung dieser Vorstellung die Zeigefinger und Daumen etwas voneinander entfernt werden, um die beiden Eingänge, die durch die Umzäunung des Dorfes führen, anzudeuten. Ein Zelt kann, wie in g, durch eine einzige Hand nach-

Fig. 28. Nordamerikanische Handgebärden.

gebildet werden, deren Hohlfläche nach vorn sieht, und deren Finger- spitzen so nach oben gekehrt sind, daß sich einige Fingerglieder kreuzen, ähnlich den Zeltstangen. Wird die Hand ohne diese Kreuzung der Finger noch stärker gehöhlt, wie in h, und nach oben gekehrt, so bedeutet dies ein „Trinkgefäß" oder in übertragener Bedeutung auch den ,, Trank", das „Wasser". Eine etwas vollständigere Weise für die Bezeichnung des Zeltes ist die in i dargestellte zweihändige Gebärde, bei der durch die Kreuzung der Finger beider Hände die Kreuzung der Zeltpfähle

176 Die Gebärdensprache.

wiedergegeben ist. Werden die Finger der Hände gekreuzt und mit dem Rücken nach vorn gekehrt, wie in h, so bedeutet dies ein ,, Block- haus", wobei wiederum die Kreuzung der Finger die Anordnung der Blöcke nachbildet. Die mit der Hohlhand und den ausgestreckten Fingern nach oben gekehrte Hand in l bezeichnet endlich, wenn sie bei aufwärts gekehrtem Arm ausgeführt wird, einen ,,Baum", mit abwärts gegen den Boden gekehrtem einen ,, Strauch" oder das „Gras".

Eine weitere Reihe plastischer Handgebärden zeigt die Fig. 28. Wird die nämliche Handstellung gewählt wie in l der vorigen Figur, während die Finger mehr horizontal gelagert sind und sich die Hand gleichzeitig aufwärts bewegt (m), so bedeutet dies ,, Rauch". Beide Hände in umgekehrter, abwärts gerichteter Haltung und mit gleich- zeitiger Bewegung im selben Sinne (n) bezeichnen ,, Regen". Tiere drückt der Indianer wie der Neapolitaner durch die Umrißkonturen des Kopfes oder anderer charakteristischer Körperteile aus. So be- zeichnet die in f dargestellte Handform die Tatze des „Bären", die in q den Kopf des ,, Pferdes", die in r den der „Antilope". Diese an sich vieldeutigen Gestalten können aber natürlich erst durch den Zusammenhang der Rede oder durch hinzugefügte andere Zeichen verständlich gemacht werden: so das Pferd, indem man dem Zeichen desselben das in o wiedergegebene für ,, reiten" beifügt.

In vielen andern Fällen wird der Sinn einer bestimmten plasti- schen Gebärde dadurch näher bestimmt, daß mit ihr eine den Um- rißlinien des Gegenstandes folgende zeichnende Bewegung verbunden ist. So kann, wie schon erwähnt, das Zeichen für „Sonne" (Fig. 27 /) verdeutlicht werden, indem man gleichzeitig eine rasche Bewegung von Osten nach Westen ausführt. Die nämliche Gebärde nimmt aber die Bedeutung ,,Tag" an, wenn die zum Kreise verbundenen Hände, oder wenn bei einfacherer Ausführung die einzelne den Kreis dar- stellende Hand (e Fig. 27) von Osten nach Westen und dann wieder zurückbewegt wird. Das Zeichen für ,, Wolke" besteht gewöhnlich darin, daß beide Hände in der Höhe des Kopfes die Form eines herab- hängenden Wolkenbauchs nachbilden, ein Zeichen, welches dann, um den bewölkten Himmel auszudrücken, mit der Bewegung des Zeigefingers gegen den Himmel verbunden wird. Mallery hat schon

Nachbildende Gebärden. 177

darauf hingewiesen, daß diese und andere Gebärden auffallend an die Symbole erinnern, mit denen die gleiclien Gegenstände in der Bilder- schrift der Indianer bezeichnet werden, während zugleich zwischen den offenbar unabhängig entstandenen Formen der Bilderschrift verschiedener Völker eine ähnliche universelle Verwandtschaft be- steht wie zwischen den entsprechenden Gebärdezeichen ^).

Abgesehen von den Händen, die durch die Beweglichkeit der Finger zur Darstellung plastischer Formen in bevorzugter Weise ge- eignet sind, ist es noch die mimische Muskulatur des Angesichts, die bei der Erzeugung plastischer Gebärden mitwirkt. Aber während die Hand alle möglichen äußeren Gegenstände nachzubilden vermag, ist das Angesicht immer nur imstande, sich selbst in den verschiedenen Zuständen wiederzugeben, in die es durch den Ausdruck der Affekte versetzt wird. Wie die Hand die auf Objekte bezogenen Vorstellungen, so deutet daher die Plastik der mimischen Muskeln alle jene subjek- tiven Zustände an, die durch die Mimik des Angesichts ausgedrückt werden können: demnach in erster Linie die Gefühle und Affekte, dann aber auch andere Zustände des Bewußtseins, die, wie Schlaf und Tod oder gespannte Aufmerksamkeit, vorzugsweise an mimischen Merkmalen zu erkennen sind. Die Plastik des Angesichts besteht also in einer Verwertung des natürlichen Mienenspiels für die Gebärden- sprache, bei der aber eine bestimmte Gebärde nicht mehr direkt den ihr entsprechenden Seelenzustand selbst, sondern nur noch die Vor- stellung dieses Zustandes ausdrückt. Diese Übertragung ist eine so naheliegende, daß die hierher gehörenden Gebärden, im Unterschied von der nur in den entwickelteren Zeichensprachen ausgebildeten Plastik der Hände, ein sehr frühes und allgemein verbreitetes, zu- gleich aber auch ein überaus beharrliches Besitztum der Gebärden- sprache sind. So werden ganz allgemein ,, Freude", „Schmerz", ,, Trauer", „Kummer", „Zorn" und andere Affekte lediglich durch ihren natür- lichen mimischen Ausdruck angedeutet, während meist noch hin- weisende oder zeichnende Gebärden zu Hilfe kommen. Ähnlich wird der Begriff der ,, Aufmerksamkeit" bei Taubstummen und Wilden

1) Mallery a. a. 0. S. 349 ff. Vgl. auch Tylor a. a. 0. S. 105 ff., sowie unten V, 3.

Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 1^

;[78 I^^® Gebärdensprache.

durch den gespannten Gesiclitsausdruck, unterstützt durch die Er- hebung des Zeigefingers, ausgedrückt. Zur Bezeichnung von „Schlaf" und ,,Tod" wird der Kopf mit geschlossenen Augen auf die rechte Hand gelegt. Wird die hinweisende Bewegung des Zeigefingers auf den Boden beigefügt, so sagt dies, daß der Tod, gleichsam der „Schlaf dort unten", gemeint sei.

4. Mitbezeichnende Gebärden.

Als eine zweite Unterform darstellender Gebärden wurden oben (S. 164) die mitbezeichnenden unterschieden. Ihre charakteristische Eigenschaft besteht darin, daß sie nicht den Gegenstand selbst in seinen gesamten Umrissen oder in denen eines besonders in die Augen fallenden Teiles wiedergeben, sondern daß sie irgendein sekundäres, willkürlich herausgegriffenes Merkmal zu seiner Bezeichnung wählen. Natürlich ist zwischen dieser und der vorigen Form keine scharfe Grenze zu ziehen. So wird man z. B. die in der unteren Reihe der Fig. 28 mitgeteilten Beispiele (p, q, r) noch zur vorigen Gattung, die An- deutung der Ziege durch die in die Luft gezeichneten Konturen ihres Bartes, oder die des Esels durch die seiner Ohren schon zu den mit- bezeichnenden Gebärden stellen können. Die Allmählichkeit des Übergangs liegt hier, wie in andern ähnlichen Fällen dieses Gebiets, in der Natur der Sache. Alle Arten darstellender Gebärden sind eben auf gemeinsamem Stamm erwachsene Entwicklungsformen. Wo statt der Umrißzeichnung oder der plastischen Wiedergabe ein neben- sächliches Merkmal zureicht, da begnügt sich die Gebärde mit der Andeutung eines solchen, das dann durch Assoziation das Erinnerungs- bild wachruft.

Wie nun die nachbildenden Gebärden in doppelter Gestalt vor- kommen, als in die Luft geschriebene flüchtige Bilder oder Umriß - Zeichnungen, und als dauerndere plastische Nachbildungen, so sind auch bei den mitbezeichnenden eine solche vergängliche und eine blei- bendere Form zu unterscheiden; nur daß beide noch häufiger ineinan- der übergehen und sich verbinden können. Übrigens trifft es auch hier zu, daß die vergängliche, zeichnende Form mehr der ursprüng- lichen, neugebildeten Gebärdensprache, die dauerndere, plastische

Mitbezeichnende Gebärden. 179

der traditionell überlieferten eigen ist. So bezeichnet der Taubstumme den Begriff „Mann'*, indem er die Gebärde des Hutabnehmens aus- führt. Die Gebärde ist natürlich ein spezifisch abendländisches Zeichen, da es von der im Orient im allgemeinen unbekannten Sitte des Hut- abnehmens beim Gruße herrührt. Da aber diese Sitte bei uns nur für den Mann, nicht für die Frau gilt, so ist das in der Gebärde ausgedrückte Merkmal vollkommen zureichend. Eine „Frau" wird bei den Taub- stummen in der Regel durch die auf die Brust gelegte Hand ausgedrückt. Die Zisterzienser bedienten sich zum gleichen Zweck einer mit dem Zeigefinger horizontal über die Stirn ausgeführten Bewegung, um damit die geringere Körpergröße anzudeuten. Daß das Zeichen kein zufälliges und vereinzeltes ist, dafür spricht übrigens die Tatsache, daß Prinz Wied bei den nordamerikanischen Indianern das nämliche Zeichen beobachtete. Der ,,Mann" wurde bei ihnen im Gegensatz dazu durch Erheben des Zeigefingers über das Haupt bezeichnet. Doch könnte darin auch schon eine mitwirkende symbolische Be- deutung, die der beherrschenden Stellung des Mannes, gesehen werden. Das ,,Kind" bezeichnet der deutsche Taubstumme meist durch Schau- keln des rechten Ellbogens auf der linken Hand, gleichsam als das, was auf dem Arm getragen und geschaukelt wird. Die Zisterzienser drückten denselben Begriff durch den an den Mund geführten Zeige- finger aus, eine Gebärde, die nach Mallerys Nachweisungen auch bei den Indianern weitverbreitet ist, und die genau ebenso in der hiero- glyphischen Bilderschrift der Ägypter und in den Darstellungen des „Harpokrates", des „Gottes des Schweigens", wiederkehrt. In der Tat soll mit der Gebärde offenbar die Sprachlosigkeit des Kindes angedeutet werden. Eine verwandte Gebärde ist in Japan für ein „altes Weib" in Gebrauch; der Zeigefinger weist aber dabei auf die Zähne oder auf Zahnlücken hin, die Gebärde hat also wohl die Be- deutung der ,, Zahnlosen". Weitere mitbezeichnende Gebärden aus der Taubstummensprache, die den Charakter einer in die Luft ge- zeichneten Bilderschrift besitzen, sind die folgenden: ,, Feuer" Blasen gegen den aufgehobenen Zeigefinger, ,, Butter" Bewegung des Butter- streichens, ,,Salz" die des Salzstreuens, ,, Stein" die des Aufhebens vom Boden und Klopfen an die Zähne, um die Härte anzudeuten. Die letztere Gebärde allein kann auch für die Eigenschaft ,,hart"

12*

180

Die Gebärdensprache.

oder in anderem Zusammenhang für ,,weiß" gebraucht werden. Einige fernere Gebärden von ähnlicher Art sind als begleitende und die Be- deutung determinierende Bewegungen zu nachbildenden, nament- lich plastischen schon erwähnt worden: so die Bewegung von Osten nach Westen zum Ausdruck der Sonne oder des Tages, die Bewegung der das Bild eines Baumes wiedergebenden Hand nach oben, um das Wachstum anzudeuten, usw.

Gegenüber allen diesen in veränderlichen Bewegungen bestehen- den Zeichen, an denen meist ausschließlich die Hände beteiligt sind, verhalten sich die plastischen Gebärden von mitbezeichnendem

rv"*x-~

Fig. 29. Mimische Zeichea der Neapolitaner

Charakter insofern eigenartig, als sie in der Regel durch ein eigen-, tümliches Zusammenwirken der Hände und des Angesichts zustande kommen. Dabei gibt der Ausdruck des Angesichts gewissermaßen den Grundton der für das Verständnis der Gebärde unerläßlichen Gefühlsrichtung an, während die eigentliche Funktion der Mitbezeich- nung der mit dem Gesicht in irgendwelche Verbindung gebrachten Hand zufällt. Diese plastische Unterform läßt sich demnach auch als eine Modifikation jener Gebärden betrachten, bei denen die Vor- stellmig einer Gemütsbewegung durch ihren mimischen Gesichts- ausdruck wiedergegeben wird (S. 174 f.). Die Fig. 29 zeigt einige Bei- spiele, die der neapolitanischen Gebärdensprache entnommen sind^

Mitbezeichnende Gebärden. 181

aber in denselben oder ähnlichen Formen auch sonst vorkommen^). So ist die in a dargestellte Gebärde der ebenso alte wie allgemeine Ausdruck der „Stille", zunächst als Warnung oder Aufforderung gegenüber einem andern, dann aber auch als allgemeines Zeichen für den Begriff überhaupt. Die Gebärde zerfällt, wie man sieht, in einen mimischen und in einen pantomimischen Bestandteil. Jener deutet durch die fest geschlossenen Lippen das Schweigen, durch den fixierenden Blick die erhöhte Aufmerksamkeit und, wenn der Blick auf eine bestimmte Person gerichtet ist, die an diese gerichtete Auffordermig an. Der pantomimische Teil, der erhobene Zeigefinger, verleiht der letzteren den Charakter des Befehls. Beide Bestandteile unterstützen und interpretieren sich demnach wechselseitig. Nicht in gleicher Weise eindeutig ist die in h dargestellte Gebärde. Das Erfassen der beiden Wangen hat zunächst die Bedeutung des Hin- weises: es will den Blick auf das Angesicht, vor allem auf denjenigen Teil desselben lenken, der hauptsächlich für dessen Form bestimmend ist. Was mit der Hinweisung gemeint ist, darüber entscheidet aber, ähnlich wie bei der vorigen Figur, der mimische Ausdruck. Ist dieser, Avie in &, ein freundlich lächelnder, so bezeichnet die Gebärde ein an- genehmes, schönes Gesicht oder allgemein ,, Schönheit". Wird das Angesicht zur Fratze verzerrt, so nimmt sie im Gegenteil den Begriff der ,, Häßlichkeit" an. Wird es in die Länge gezogen, während der Druck der Finger den so entstehenden Eindruck der Hohlwangig- keit unterstützt, so gewinnt sie die Bedeutung der ,, Magerkeit", ,, Dürftigkeit". Werden umgekehrt die Wangen aufgeblasen, so wird dadurch ein Vollmondsgesicht oder allgemein ,, Wohlbeleibtheit" ausgedrückt. Bei der in c dargestellten Gebärde wirken der mimische und der pantomimische Teil zusammen, um „Hunger" oder, in etwas übertragenem Sinne, „Bedürftigkeit" wiederzugeben. Der Mund ist begehrlich geöffnet, während der übrige mimische Ausdruck die Unlust des Hungernden andeutet. Dazu macht die rechte Hand eine auf den Mund hinweisende Gebärde, die durch die eigentümliche, das Ergreifen eines Bissens andeutende Krümmung der Finger unter- stützt wird. Eine in Japan übliche Gebärde, der in den Mund und

1) A. de Jorio a. a. O. Taf. 21.

182 I^G Gebärdensprache.

zwischen die Zähne gesteckte Zeigefinger, verbunden mit dem begehr- lichen Ausdruck des Angesichts, drückt ursprünglich wohl das näm- liche aus; sie hat aber den allgemeinen Begriff des ,, Wunsches" an- genommen und ist damit in eine symbolische Gebärde übergegangen. Eine ähnliche Zwischenstufe zwischen Mitbezeichnung und Symbol hat die im Neapolitanischen gebrauchte Bewegung des Streichens mit der flachen Hand über die Stirn, während das Gesicht den Aus- druck der Anstrengung zeigt. Die Gebärde veranschaulicht das Ab- wischen des Schweißes bei anstrengender Arbeit. Sie bedeutet daher zunächst physische Anstrengung, dann aber ,,Mühe'' und „Ermüdung" überhaupt. Wie in diesen, so geht noch in vielen andern Fällen auch die mitbezeichnende Form in die dritte und für die innere Entwick- lung der Gebärdensprache wichtigste Gattung darstellender Gebärden, in die der symbolischen, über.

5. Symbolische Gebärden.

Wenn wir die Gebärdensprache dem Begriff der Sprache über- haupt unterordnen, so kann bei ihr von Symbolen zunächst in jenem allgemeinsten Sinne geredet werden, in welchem wir auch bei der Lautsprache das Wort ein Symbol des Begriffs nennen. Symbol bedeutet hier lediglich ein Zeichen irgendwelcher Art, das uns an den zu denkenden Begriff erinnert, gleichgültig, ob die zwischen beiden stehende Verbindung auf irgendeiner inneren Beziehung beruht, oder ob sie bloß eine äußere und konventionelle ist. Für unser heutiges Denken ist, von wenigen Fällen abgesehen, das Wort in der Tat nur solch ein äußeres Zeichen. Von der Vorstellung, die es ausdrückt, ist es an sich ebenso verschieden wie ein algebraisches Symbol von dem Größenbegriff, dem es substituiert wird. Höchstens hat es den Vorzug der konstanteren Assoziation mit seiner Bedeutung. Dies ist nun zugleich der Punkt, wo sich die Gebärdensprache von der Lautsprache scheidet. Die Gebärden erscheinen uns nicht als bloß äußere und zufällige, sondern als adäquate Symbole der Vorstellungen. Dadurch kommt es aber, daß sich hier aus dem allgemeinen Begriff der ,, Gebärdensymbole'*, der auf jede irgendeine Vorstellung aus-

Symbolische Gebärden. 183

drückende Gebärde anwendbar ist, der engere Begriff der symbo- lischen Gebärden aussondert. Ibn werden wir nämlich dann an- wenden können, wenn die Gebärde nicht, wie in den bisherigen Fällen, eine unmittelbare Andeutung der Vorslellung enthält, sondern wenn sie mittelbar, infolge irgendwelcher durch Assoziation be- wirkter Begriffsübertragungen, auf sie hinweist. Da man unter einem ., Symbol'' ein sinnliches Bild versteht, das einen von ihm selbst ver- schiedenen, aber zu ihm in assoziacivei Beziehung stehenden Begriff darstellen soll, so wird im Sinne dieser allgemeinen Bedeutung eine ,, symbolische Gebärde" eine solche sein, die zunächst eine bestimmte sinnliche Vorstellung erweckt, um mit dieser einen andern, von ihr abweichenden, jedoch irgendwie durch innere Eigenschaften asso- ziierten Gedankeninhalb zu verbinden. Demnach können wir die symbolischen Gebärden kurz als die mittelbar andeutenden von allen andern als den unmittelbar andeutenden unterscheiden. Wenn ich auf einen Gegenstand hinweise, so ist das eine unmittel- bare Andeutung desselben. Ebenso, wenn ich sein Bild in die Luft zeichne oder seine plastische Form mit der Hand nachbilde. Und auch dann noch, wenn ich irgendeine Eigenschaft oder eine äußere Beziehung des Gegenstandes hervorhebe, die ihm nur unter gewissen Bedingungen zukommt, wird dies dem Gebiet unmittelbar andeuten- der Zeichen zuzurechnen sein. Anders bei der mittelbaren Andeutung. Hier wird durch die Gebärde eine Vorstellung ausgedrückt, die nicht selbst der mitzuteilende Begriff ist, auch sich nicht als begleitendes Merkmal mit ihm verbindet, sondern die ihn erst durch entferntere psychologische Zwischenglieder im Bewußtsein wachruft. Der Unter- schied von der nächstverwandten mitbezeichnenden Gebärde besteht aber darin, daß die S5rmbolische nicht eine zum auszudrückenden Begriff selbst gehörende, sondern eine von ihm ganz verschiedene Vorstellung erweckt, die erst vermöge der ihr beigelegten Eigen- schaften jenen Begriff vertreten kann. Man darf somit hier bei dem Begriff des Symbols nicht an die Weiterbildungen denken, die er im Gebiet der symbolisierenden Kirnst findet. Weder braucht die symbolische Gebärde Gedankeninhalte, die der sinnlichen Anschau- ung fern liegen, noch überhaupt abstrakte Begriffe auszudrücken. Vielmehr besteht das Wesen des Symbols zunächst nur darin, daß.^

184 Die Gebärdensprache.

es irgendeinen geistigen Inhalt in einer Form darstellt, die durch irgend- welche Mittelglieder mit ihm verbunden ist.

Nun besteht bei jeder Gebärde die Beziehung zwischen ihr und der Vorstellung, die sie bedeutet, in einer Assoziation. Bei den bis- her behandelten Zeichen führt diese Assoziation unmittelbar von der Vorstellung zu der Gebärde und von dieser wieder direkt zu der Vor- stellung zurück. So assoziiert sich die hinweisende Bewegung ohne weiteres mit dem Gegenstand, gegen den sie gerichtet ist. Nicht min- der erwecken nachbildende und mitbezeichnende Gebärden unmittel- bar die entsprechenden Vorstellungen, weil ihre eigenen Merkmale oder diejenigen, auf die es ankommt, mit Merkmalen des Gegenstandes übereinstimmen. Dies ändert sich bei den symbolischen Gebärden, indem hier mindestens eine Zwischenvorstellung, die ebenso- wohl mit der Gebärde selbst wie mit der auszudrückenden Vorstellung assoziativ verbunden ist, zwischen beide tritt. Der Unterschied zwischen diesen Fällen entspricht demnach durchaus dem zwischen unmittel- barer und mittelbarer Assoziation. So ist die gleich einem Schöpfgefäß gehöhlte Hand eine auf unmittelbarer Assoziation be- ruhende Gebärde für ein ,, Trinkgefäß" (Fig. 27 h). Die nämliche braucht aber der Indianer, um „Wasser" auszudrücken; hier ist es dann offenbar eine mittelbare Assoziation, durch welche Gebärde und Gegenstand miteinander verbunden werden: die Gebärde erweckt die Vorstellung eines Trinkgefäßes, das Trinkgefäß die seines Inhalts. In dieser neuen Anwendung ist daher die Gebärde bereits im all- gemeinsten Sinn eine symbolische: sie benutzt eine Vorstellung, nicht um diese selbst, sondern um einen von ihr verschiedenen Begriff zu bezeichnen. Die Bedeutung bleibt dabei eine sinnliche, und es kann daher leicht in diesem Fall die symbolische durch eine direkt an- deutende Gebärde ersetzt werden, z. B. durch Hinweisung auf zu- fällig vorhandenes Wasser oder durch die mitbezeichnende Hand- lung des Trinkens. Gerade die symbolischen Gebärden sind nun in- sofern für die psychologische Entwicklung des Symbolischen überhaupt lehrreich, als sie uns alle möglichen Übergangsstufen von dieser primi- tiven Form zu der ausgebildeteren darbieten, wo das Symbol sinn- licher Ausdruck für einen an sich sinnlich nicht darzustellenden Be- griff wird. Doch schiebt sich dann in der Regel zugleich eine größere

Symbolische Gebärden. 185

Anzahl von Assoziationsgliedern zwischen die in der Gebärde direkt iiusgedrückte und die von ihr angedeutete Vorstellung. So wird die plastische Nachbildung des Eselskopfs mit der Hand (Fig. 26 b und c), ebenso wie das bekannte das Ohr des Esels am eigenen Ohr durch •die ausgestreckte Hand andeutende Zeichen, wohl selten in der ur- sprünglichen Bedeutung, sehr häufig aber als symbolischer Ausdruck der ,, Dummheit" gebraucht. Auch hier ist die Symbolik noch "eine einfache, weil nur eine einzige Vorstellung als assoziatives Zwischen- glied existiert, nämlich die dem Esel sprichwörtlich zugeschriebene X)ummheit. Schon tritt aber in diesem Fall das Symbol für einen Begriff ein, der anders als symbolisch überhaupt nicht ausgedrückt ^werden kann, weil er sich auf keine sinnliche Eigenschaft bezieht. Aus solchen einfachsten symbolischen Gebärden, bei denen eine einzige einfache Assoziation von der direkten zur symbolischen Bedeutung mberführt, können nun leicht durch die Dazwischenkunft weiterer Assoziationsglieder symbolische Gebärden von verwickelterem Ur- :sprung hervorgehen. Sie sind dann aber auch meist vieldeutiger Art und erst durch den Zusammenhang der Gedanken verständlich. So kann die plastische Nachbildung des gehörnten Stierkopfs (a Fig. 26) bei dem Neapolitaner, neben ihrer unmittelbaren Bedeutung, sym- bolisch die „Stärke", als die Haupteigenschaft des Stieres, dann die ,,, Gefahr", zunächst die vom Anstürmen eines wütenden Stieres drohende, hierauf die Gefahr überhaupt, und endlich infolge einer dritten Übertragung den ,, Wunsch vor Gefahr behütet zu werden" ausdrücken. Hier springt alsbald in die Augen, wie die fortschreitende Zunahme assoziativer Zwischenglieder die symbolische von der nach- bildenden Bedeutung immer weiter entfernt.

Geht man bei der Betrachtung der symbolischen Gebärden von dem in diesen Beispielen hervortretenden Verhältnis zu den nach- bildenden und mitbezeichnenden aus, so scheiden sich jene in zwei große Gruppen, je nachdem sie in einem leicht nachzuweisenden Über- gang aus andern Gebärdeformen, oder aber von Anfang an in sym- bolischer Bedeutung entstanden sind. Wir können demnach diese beiden Gruppen als die der sekundären und der primären sym- boUschen Gebärden unterscheiden. Von ihnen sind jedoch die sekun- dären die ursprünglicheren. Erst nachdem überhaupt auf dem Wege

186 Die Gebärdensprache.

jener allmähliclien assoziativen Verschiebung der Bedeutung, die oben geschildert wurde, andere Formen darstellender Gebärden sym- bolische Bedeutung angenommen haben, wird wahrscheinlich eine primäre Symbolik möglich, bei der ein bestimmtes Zeichen von An- fang an nur symbolisch gemeint ist. Natürlich schließt dies nicht aus, daß nicht auch dann der Gebärde irgendein nicht symbolischer Sinn untergeschoben werden kann; ja es liegt in der Natur der Sache, daß dies immer möglich ist, da eben das Symbol in der Übertragung irgend- eines geistigen Inhalts in eine sinnliche Form besteht. Diese sinnliche Form selbst kann darum stets als die unmittelbare Bedeutung des Symbols angesehen werden. Nur ist bei den primären Symbolen der sinnliche Ausdruck so weit von der geistigen Bedeutung entfernt, daß ohne die Kenntnis des wirklichen Zusammenhangs ein Schluß von jenem auf diese niemals möglich sein würde. Dies ist dadurch bedingt, daß hier der Begriff in seiner allgemeinen Gestaltung der in der Gebärde für ihn gewählten sinnlichen Verkörperung voraus- ging. Darum sind die primären symbolischen Gebärden durchweg solche, die abstrakten Begriffen entsprechen, woraus sich ohne weiteres ihre spätere Entstehung erklärt. Übrigens ist in vielen Fällen kaum festzustellen, ob ein gegebenes, seit langer Zeit ausschließlich in symbolischem Sinne gebrauchtes Zeichen von Anfang an diesen Charakter hatte. Nur in gewissen Grenzfällen kann man mit zu- reichender Wahrscheinlichkeit hierüber entscheiden. So ist es wohl als ein sekundäres Symbol anzusehen, wenn der Indianer, um den Be- griff ,, Häuptling" auszudrücken, Arm und Hand über sein Haupt erhebt: die einfach sinnliche Bedeutung der übertragenden Körper- größe liegt hier noch nahe genug. Wenn dagegen Indianer wie Taub- stumme die ,,Lüge" durch eine mit dem Zeigefinger der linken Hand vom Mund aus nach links und abwärts gerichtete Bewegung andeuten, gleichsam als eine „schiefe, links gerichtete Rede", so haben wir allen Grund, hierin ein primäres Symbol zu sehen. Denn es läßt sich denken, daß für den Begriff Lüge, nachdem er vorhanden war, dieses sinn^ liehe Zeichen gewählt wurde; aber dem Zeichen selbst läßt sich ab- gesehen von jenem Begriff keine der unmittelbaren Anschauung ent- sprechende Bedeutung zuschreiben. Anderseits ist es natürlich un- möglich, festzustellen, ob etwa die Gebärde des Eselskopfs früher

Symbolische Gebärden. 187

für das wirkliche Tier oder zur Verspottung eines Dummkopfs gebraucht wurde. In noch andern Fällen mag ein Teil der Gebärde eine sekun- däre, ein anderer eine primäre Symbolik enthalten: so z. B. die Ge- bärde der Indianer für ,, Frieden^', die in der Andeutung einer Pfeife und in der Hinzufügung irgendeiner Gruß- oder Freundschafts- gebärde, wie der ineinander verschlungenen Hände oder der umeinan- der geschlungenen Zeigefinger (Fig. 32 l), besteht. Hier ist die Pfeife ein der Sitte entstammendes sekundäres, das Freundschaftszeichen dagegen offenbar ein primäres Symbol. Wegen dieses mannigfachen Ineinandergreifens von Gebärden verschiedenen Ursprungs mid der oft zweifelhaften Stellung anderer würde eine Klassifikation der sym- bohschen Gebärden auf dieser Grundlage kaum durchzuführen sein. Die Unterscheidung bleibt aber deshalb wichtig, weil uns die Existenz der sekundären Symbole den Weg andeutet^ auf dem ursprünglich überhaupt ein Symbolik entstehen konnte, ob diese nun der Gebärden- oder der Lautsprache oder, wie in der Bilderschrift, den Anfängen bildender Kunst angehören mag.

Der genetische Zusammenhang der symbolischen mit den un- mittelbar nachbildenden Gebärden ist schließlich auch daraus zu erkennen, daß die hier unterschiedenen beiden Klassen zeichnender, rasch vorübergehender und plastischer, dauernder Zeichen bei den symbolischen Gebärden ebenfalls wiederkehren. So ist die oben er- wähnte Bewegung des Zeigefingers vom Mund aus in schräger Rich- tung für ,,Lüge", in geradliniger für ,, Wahrheit" eine zeichnende Gebärde; ebenso, wenn bei den Indianern die Erhebung der Hand über das Haupt den ,, Häuptling", die Umrißzeichnung der Pfeife den „Frieden" bedeutet. Nicht minder gehört hierher die weitere indianische Gebärde der Bewegung des Zeigefingers vom Auge des Redenden zu dem eines andern oder vom Herzen zum Herzen, um Übereinstimmung der Anschammgen und der Gesinnungen auszu- drücken, sowie die auch bei den Zisterziensern vorkommende Ge- bärde für „Zorn": die Bewegung beider Hände von der Herzgrube aus, das Überwallen oder Ausströmen des Herzens andeutend. Die weit verbreiteten Gebärden der Bejahung, der Verneinung, des Zweifels, der Zustimmung, der Unterwürfigkeit, der Zuneigung, die aus den die Rede begleitenden Ausdrucksbewegungen der Affekte in die selb-

Igg Die Gebärdensprache.

ständige Gebärdensprache übergegangen sind, können ebenfalls dabin gerechnet werden. Die Modifikationen, die bei ihnen beobachtet werden, bieten zugleich gute Beispiele für die Veränderungen, deren eine bestimmte Gebärde fähig ist. Gerade die symbolischen Gebärden bieten solchen Variationen einen weiten Spielraum. In Anbetracht dieses Spielraums ist sogar die vorhandene Übereinstimmung in vielen symbolischen Gebärden und so vor allem auch in diesen allgemeinen eine überraschend große. Bei der Bejahung und Verneinung ist das allerdings bestritten worden, und man hat es als einen Beweis für den Mangel jedes inneren Zusammenhangs zwischen dem Gestus und seiner Bedeutung bezeichnet, daß die bejahende und verneinende Gebärde im Orient fast im geraden Gegenteil derjenigen Kopf- bewegungen bestehe, die wir im Abendland anwenden^). Will der moderne Araber etwas bejahen, so schüttelt er den Kopf; zum Zeichen der Verneinung wirft er den Kopf nach rückwärts und schnalzt zu- gleich mit der Zunge. Schon dies ist nun freilich kein voller Gegen- satz. Was hier als Zeichen der Verneinung geschildert wird, ist eine Gebärde, die mit einer in Süditalien im Sinne der Abweisung oder Geringschätzung gebrauchten die größte Verwandtschaft hat. Diese besteht darin, daß zuerst die Hand unter das Kinn gelegt und dann gegen den Angeredeten bewegt wird, während der Kopf sich etwas rückwärts wendet^). Mit ihr ist dann wieder die weit verbreitete des ,, Schnippchenschiagens", bei der Mittelfinger und Daumen zu- erst gegeneinander gestemmt und hierauf gegen den Angeredeten losgeschnellt werden, nahe verwandt. In diesen drei Fällen ist die nämliche abweisende und durch die Art der Ausführung zugleich die Geringfügigkeit des Gegenstandes andeutende Bewegung nur verschiedenen Organen zugewiesen. Denn das Schlagen des ,, Schnipp- chens" besteht eigentlich in einer Übertragung der von dem Orien- talen geübten Bewegung der Zunge auf die beiden Finger; und noch unmittelbarer wiederholt sich weithin sichtbar die nämliche Bewegung in der neapolitanischen Gebärde, bei der auch die begleitende Rück- wärtsbewegung des Kopfes beibehalten ist. Befremdlicher ist aller-

1) Goldziher, Zeitschr. für Völkerpsych. Bd. 16, S. 377.

2) A. de Jorio a. a. 0. Taf. 21, Fig. 2.

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dings das Schütteln des Hauptes als Zeicben der Bejahung. Wie es scheint, ist dies aber eine moderne Gebärde, die aus irgendwelchen unbekannten Ursachen aus einer älteren, mit der unserigen über- einstimmenden hervorging, da die mohammedanische Tradition aus der Zeit des Propheten Vorwärts- und Kückwärtsbeugung des Kopfes als die allgemeingültigen Zeichen der Bejahung und Verneinung an- führt^). Daneben wird auch Schütteln des Gewandes mit der Hand oder eine andere ähnliche, das Abschütteln von Staub andeutende Gebärde als orientalisches Zeichen der Verneinung erwähnt; und ebenso sind noch sonst, z. B. bei den Eingeborenen Amerikas, ana- loge Zeichen der Zustimmung und der Ablehnung, wie sie der Euro- päer mit dem Kopf ausführt, der Hand zugeteilt. Die Bejahung wird dann durch eine Bewegung der rechten Hand von der Brust nach vorn angedeutet, bei der zuletzt die Hand mit der Volarseite nach oben geöffnet ist, die Verneinung durch eine in ihrem Anfang über- einstimmende Bewegung, die aber in eine rasche Seitwärts- und Ab- wärtswendung übergeht^). Alles dies bestätigt, daß es sich hier über- all um Symbole handelt, die unabhängig entstanden und darum ver- schiedener äußerer Gestaltungen fähig, jedoch in ihrem Grundcharakter verwandt sind.

Ähnlich verhält es sich mit den mannigfachen Gebärden des Grußes, der Freundschaft, der Zuneigung. Hier ist z. B. das Verhält- nis der orientalischen Grußgebärden zu den abendländischen ein solches, daß jene als gesteigerte, diese als abgeschwächte Gestaltungen einer und derselben Grundform betrachtet werden können. Dabei haben sich jedoch begleitende Gebärden hinzugesellt, die gelegentlich jene hauptsächlich in der Neigung des Körpers, besonders des Hauptes bestehende Grundform zum Teil verdrängen konnten: so die moham- medanische Kreuzung der Arme über der Brust, die mit den begleiten- den Gebetsworten zusammenhängt, oder die spezifisch abendländische Entblößung des Hauptes, die wohl darauf zurückzuführen ist, daß bei Römern wie Germanen der Helm oder Hut als Symbol der Frei-

1) Goldziher a. a. 0. S. 378.

2) Reise des Prinzen Wied II, S. 648, Nr. 34, 35. Mallery a. a. O. S. 454 ff.

J^90 I^iß Gebärdensprache.

heit galt, wodurch dann die Abnahme desselben zum Symbol der Unterwerfung wurde ^). Ähnlich ist der Kuß eine, wie es scheint, auf die Kulturvölker der Alten Welt beschränkte Sitte. Doch überall, wo er fehlt, finden sich andere ursprüngliche Ausdrucksformen von gleicher Bedeutung, wie das Reiben der Nasenspitzen aneinander, das Reiben oder Klopfen der Arme, der Brust oder anderer Körper- teile, in denen sich der Trieb nach engster Verbindung mit dem Gegen- stand der Liebe ausspricht^). Auch der Handschlag ist als Zeichen der freundschaftlichen Begrüßung außerhalb der Grenzen abend- ländischer Zivilisation unbekannt. Bei den nordamerikanischen In- dianern war er einst nur als Symbol des Friedens heimisch eine Bedeutung, die wohl überall die ursprüngliche ist. Als solches der Freundschaft wird er von ihnen noch jetzt fast nur im Verkehr mit Weißen gebraucht. Unter ihnen selbst ersetzen ihn in dieser Beziehung die sonstigen Symbole der Liebe und Zuneigung, die Umarmung oder das Reiben der Brust und der Arme aneinander^).

Die angeführten Beispiele bieten so in ihren verschiedenen Formen deutliche Belege für die abweichende psychologische Entstehung symbolischer Gebärden. Die Zeichen für Wahrheit und Lüge, oder die für Übereinstimmung der Ansichten und Gesinnungen durch Hin- weisung auf Auge und Herz sind nur im Zusammenhang der eigent- lichen Gebärdensprache möglich. Es ist nicht denkbar, daß sie anders als aus dem Trieb der Mitteilung heraus entstanden seien. Dagegen sind die einfache Bejahung und Verneinung sowie die verschiedenen Gebärden, die Zuneigung, Freundschaft, Hochachtung und ähnliche

^) Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, ^ S. 152.

2) Darwin, Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 218. R. Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, II, 1889, S. 223 ff. Der Nasen- gruß, für den Andree ganz bestimmte Verbreitungsbezirke nachweist, könnte, wie dieser Autor vermutet, aus dem Beriechen hervorgegangen sein, das, mit der feineren Ausbildung des Geruchssinns beim Natur- menschen zusammenhängend, in einem primitiven Zustand die Unter- scheidung von Stammesgenossen und Stammesfrqmden vermittelt haben mag. Dann würde er übrigens zugleich eine sekundäre symbolische Ge- bärde sein.

3) Mallery a. a. 0. S. 385.

Symbolische Gebärden. 191

Gefühle ausdrücken, zum Teil jedenfalls aus natürlichen Ausdrucks- bewegungen hervorgegangen, die ursprünglich nur dem subjektiven Zustand Befriedigung schafften und erst sekundär die Kundgebung der Affekte selbst und dann endlich auch die Mitteilung von Vor- stellungen bezweckten. Hierbei wurden sie allmählich zu bloßen An- deutungen der einstigen Ausdrucksbewegungen abgeschwächt. Außer- dem erfuhren sie in der Regel Bedeutungsänderungen: so z. B. beim Übergang des Handschlags als Friedens- in ein Freundschaftssymbol, oder der Entblößung des Hauptes als Zeichen der Unterwerfung in eine bloße Achtungsbezeigung. Wie die erste Entstehung solcher symbolischer Gebärden aus Ausdrucksbewegungen, so sind aber auch die Metamorphosen ihrer Bedeutung Prozesse, die sich aus dem stetigen Wandel der psychischen Zustände von selbst ergeben. Dagegen be- sitzen jene Symbole, die, wie die Zeichen für Wahrheit und Lüge, von Anfang an in der Absicht der Mitteilung entstanden sind, in höherem Grade den Charakter willkürlicher Schöpfungen und gelegentlich sogar absichtlicher Erfindungen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Bedingungen ihrer Entstehung trotzdem in allgemeingültigen psychischen Eigenschaften und Anlagen begründet sein können. In der Tat ist es nur aus solchen zu erklären, daß uns auch die Gebärden dieser Art trotz ihrer scheinbaren Willkürlichkeit vielfach in gleichen oder mindestens in analogen Gestaltungen unabhängig voneinander begegnen.

Trifft auf diese Weise für die der zeichnenden Gebärde sich an- schließenden Symbole das Merkmal einer gewissen Allgemeingültig- keit zu, die allerdings mannigfache Variationen nicht ausschließt, so nehmen auch hier wieder die plastischen Gebärden eine etwas abweichende Stellung ein. Sie finden sich abermals vorzugsweise in solchen Entwicklungsformen der Gebärdensprache, die eine längere Vergangenheit hinter sich haben. Viele von ihnen sind daher innerhalb bestimmter Gebiete konventionell geworden. Da sich zu diesen Be- dingungen lokaler Beschränkung auch noch die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit aller Symbolik hinzugesellt, so fehlt vor allem den plastischen Gebärden von symbolischer Bedeutung in vielen Fällen jene unmittelbare Verständlichkeit, die sonst der Gebärdensprache eigen ist. Nach den bei ihnen zur Verwendung kommenden äußeren

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Die Gebärdensprache.

Hilfsmitteln lassen sie sich übrigens in zwei Gruppen ordnen: in solche, bei denen Angesicht und Hand zusammenwirken, und in andere, bei denen die Hände ausschließlich die plastische Form darbieten. Die erste dieser Gruppen schließt sich jenen plastisch -mimischen Gebärden an, die durch den mimischen Ausdruck einer Gemütsbewegung die Vorstellung derselben erwecken, indes die Hand zur näheren Bestim- mung der Vorstellung mithilft (Fig. 29). Auch bei den symbolischen Gebärden, die hierher gehören, ist der mimische Ausdruck für das Verständnis der Gebärde entscheidend. Er gibt den allgemeinen Ge- fühlston an, unter dem die begleitende Handgebärde aufgefaßt wer-

Fig. 30. Mimische Zeichen der Neapolitaner.

den soll. Diese bringt dann die entsprechenden Vorstellungen hinzu. So ist in Fig. 30 das erste Bild (d) die in Neapel übliche Gebärde des Mißtrauens. Zunächst dient sie der Warnung, in welcher Bedeutung sie sofort leicht verständlich ist. Die linke Hand zieht das untere Augenlid herab, um der Person, auf die der Blick gerichtet ist, zu sagen, sie solle das Auge offen halten. Der Ausdruck aufmerksamer Spannung im Gesicht, der durch den emporgehobenen Zeigefinger

Symbolische Gebärden. 193

der rechten Hand unterstützt werden kann, verstärkt diesen Ein- druck, während ein leise lächelnder Zug den der Schlauheit hinzu- fügt. Eine sehr merkwürdige Gebärde zeigt das zweite Bild (e). Es ist der in Neapel geläufige Ausdruck für ,,Lüge" oder ,, Betrug", zu- nächst ebenfalls im Sinne der Warnung gebraucht. Der Blick ist mit einem ähnlichen, noch etwas gesteigerten Grade der Aufmerksam- keit und Schlauheit wie vorhin auf den Gewarnten gerichtet. Die linke Hand, zwischen Krawatte und Hals gesteckt, scheint einem allzu starken Bissen, der verschluckt werden muß, den erforderlichen Platz schaffen zu sollen. Ausdrücke wie ,,eine Lüge verschlucken" oder „ein starker Bissen" für die Zumutung, eine unwahrscheinliche Sache zu glauben, verdeutlichen die sinnliche Grundlage dieses Symbols. Die in / dargestellte Gebärde endlich wird für ,, Schlauheit", jjFalsch- heit" gebraucht. In Sprichwort wie Gebärde ist ja die Nase das Sinnes- organ, das als spezifische Verkörperung feiner Empfindlichkeit, scharfen Spürsinns, dann aber auch der Schlauheit, die sich nach außen betätigt, gebraucht wird. Das deuten hier Daumen und Zeigefinger an, indem sie die Nase umfassen, während die geöffneten Augen Wachsamkeit ausdrücken. Noch bei einer andern, als Verspottung sehr verbreiteten Gebärde, bei der die Hand mit dem Daumen an die Nase angesetzt und der kleine Finger gegen die verspottete Person ausgestreckt wird, spielt die Nase die Hauptrolle. Diese Gebärde ist aber sicherlich nur die Übersetzung der Redensart ,, einem eine Nase drehen" aus dem Bild in die Gebärde. Da dieser Redensart wahrscheinlich die wächserne Nase zugrunde liegt, die man sich bald als Maskenscherz selbst auf- setzte, bald als verunstaltende Verspottung von andern aufgesetzt bekam 1), so kann die gedrehte Nase als Gebärde ebensogut eine ur- sprünglich mimisch gemeinte Verunstaltung des Gesichts wie eine mimische Nachahmung des Gegenstandes sein. Dieser ähnlich nach Form und Bedeutung ist die Gebärde des ,, Eselbohrens", nur daß hier der Daumen an das Ohr angesetzt, und wieder der kleine Finger gegen den Verspotteten ausgestreckt wird. Beide Gebärden scheinen bloß bei den europäischen Völkern vorzukommen. In Japan findet sich als Ausdruck der Verspottung teils das Ausstrecken der Zunge,

^) Grimm, Deutsches Wörterbuch VII (Lexer), S. 407. Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^

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das, als natürliche Ausdrucksbewegung des Widerwillens, über alle Teile der Erde verbreitet zu sein scheint. Außerdem besitzen die Japaner als Zeichen verspottender Geringschätzung das auch im Abendlande gelegentlich vorkommende Klatschen mit der flachen Hand auf den etwas vorgeneigten Hinterteil des Körpers, eine Ge- bärde, die wohl mit der bekannten Aufforderung, diesen Teil mit dem Angesicht zu verwechseln, zusammenhängt. Der Spott über den Hoch- mut oder das Selbstlob eines andern wird endlich in Japan ausgedrückt, indem man die Nase durch die angesetzte Faust verlängert und nach oben kehrt, was in seiner Bedeutung einigermaßen mit unserer Redens- art ,, seine Nase hoch tragen" zusammenfällt^).

Sehr viel mannigfaltiger noch als diese halb mimischen Gebärden von symbolischer Bedeutung sind diejenigen, die durch die plastischen Formungen der Hände zustande kommen. Hier stellt die Fig. 31 eine Reihe neapolitanischer Beispiele, die Fig. 32 einige von nordameri- kanischen Indianern dar. Viele dieser Formen, die mit natürlichen Ausdrucksbewegungen oder mit zeichnenden Gebärden zusammen- hängen, sind übrigens weiter verbreitet. Dahin gehört vor allem die Gebärde a (Fig. 31), als Aufforderung zur Ruhe auch bei uns viel gebraucht. Sie versinnlicht das abnehmende Geräusch räumlich durch die gesenkte, mit der Hohlfläche nach abwärts gekehrte Hand. Ver- bunden mit einer leisen Auswärtswendung, wie in h (Fig. 32), geht sie in die ablehnende Gebärde über, die irgendeinen Vorschlag, eine gehörte Meinung u. dgl. zurückweist, daher sie bei den Indianern auch allgemein als Zeichen der Verneinung vorkommt. Den Gegen- satz zu diesen Symbolen der Ruhe und der Ablehnung bildet die in Fig. 32 i wiedergegebene Indianergebärde, bei der die Handfläche nach oben gekehrt ist. Ahnlich wie die vorige ist auch sie allgemeiner verbreitet und kann je nach leisen Modifikationen und begleitenden Mienen die Aufforderung zu reden, also eine Frage, dann bei ener-

^) Nach Mitteilungen des Herrn J. Irie in Sendai. Die oben angeführten symbolischen Gebärden der Neapolitaner sind A. de Jorio entnommen, a. a. 0. Taf. 21. Die Gebärden d und e (Fig. 30) erwähnt übrigens schon J. J. Engel in seinen „Ideen zu einer Mimik" als in Italien vorkommend. Er meint, beide, und namentlich die zweite, seien unerklärlich. (Engel, Fig. 1 und 2, I, S. 92 ff.)

Symbolische Gebärden.

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gischer Ausführung Zustimmung, Gewährung einer Bitte 9-usdrücken. Eine andere weitverbreitete Gebärde ist der aufgehobene Zeigefinger (Fig. 31 b), der zunächst den Befehl, aufmerksam zu sein, und dann allgemein den Begriff ,, Aufmerksamkeit" bezeichnet. Daran schließen sich je nach der begleitenden Mimik und sonstigen Modifikationen der Bewegung mehrere abgeleitete Bedeutungen. So ist uns die Ge- bärde in Verbindung mit dem fest geschlossenen Munde bereits oben

Fig. 31. Symbolische Handgebärden der Neapolitaner.

als Aufforderung zur Stille begegnet (Fig. 29 a). Verbunden mit dem drohenden Blick bedeutet sie eine Warnung. Losgelöst von allen Affektäußerungen kann sie die Einheit bezeichnen. Dann als eine Verallgemeinerung dieser Bedeutung den Begriff des Zählens. Sie läßt sich hier als eine generalisierende Form zu allen weiteren Zahl- gebärden betrachten, die durch Hinzunahme der übrigen Finger ent- stehen. Diese sind, vom Zeigefinger als der Eins anfangend, bis zum kleinen Finger fortschreitend und dann den Daumen zu Hilfe nehmend,

Id*

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Symbole der Einlieiten. Die ganze Hand wird so zum S}Tnbol der ,,Fünf", die beiden Hände zusammen versinnlichen die „Zehn". Diesen Zahlgebärden kann man eine andere, für den unbestimmten Quan- titätsbegriff „wenig" gebrauchte Ausdrucksform anschließen: Daumen und Zeigefinger werden aufwärts gekehrt und gegeneinander gepreßt, als wollten sie eine kleine Menge eines winzigen Gegenstandes fest- halten (Fig. 31 c). Auch dieses Zeichen ist sehr verbreitet. Es ist eine plastische Umbildung der zeichnenden Gebärde für ,, streuen", ,, Pulver", ,,Salz" und ähnliches, aus der es hervorgeht, wenn die beiden genannten Finger nach oben statt nach unten gekehrt und in ihrer Stellung fixiert werden. Für ,,viel" gibt es keine plastische Ge- bärde, sondern dieser Begriff wird überall, wie es scheint, durch Be- wegungen ausgedrückt, die der Vorstellung einer Aufsammlung vieler Dinge oder einer Anhäufung von Gegenständen entsprechen. So werden bei mehreren Indianerstämmen beide Hände mit ausgestreckten Fingern in der Höhe der Hüften nach außen gehalten und dann gegen- einander und zugleich in die Höhe bewegt, eine Anhäufung übereinander getürmter Massen darstellend. Taubstumme pflegen mit beiden Hän- den geschäftig und oft nacheinander dahin und dorthin zu greifen. Alle diese Zeichen für Quantitätsbegriffe stehen auf der Grenze zwischen nachbildenden und symbolischen Gebärden. Sie fallen einerseits noch in den Bereich jener konkreten Versinnlichung der Vorstellungen durch einzelne Beispiele, welche die unmittelbar nachbildenden Ge- bärden kennzeichnet; anderseits ist die Vorstellung, die auf solche Weise dargestellt wird, schon so allgemeiner Art, daß die Versinn- lichung den Charakter eines Beispiels verliert und als eine Umwand- lung des allgemeinen Begriffs in eine repräsentative Vorstellung, also eben als ein Symbol erscheint. Gerade diese Grenzfälle zeigen das. Symbolische gewissermaßen in seinem Entstehungsmoment.

AVeit mehr als eigentliche Symbole sind einige andere plastische Ausdrucksformen anzusehen, die verschiedene Weiterentwicklungen der Gebärde des emporgehaltenen Zeigefingers (Fig. 31 6) zu sein scheinen. So haben die Zeigefinger beider Hände dicht nebeneinander gehalten bei den Indianern wie bei unsern Taubstummen zunächst die allgemeine Bedeutung ,, zweier Gefährten". Von da aus geht die Gebärde in ,, Geschwister" und ,, Gatten" über. In den beiden letzteren

Symbolische Gebärden.

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Fällen werden aber auch zuweilen Zeige- und Mittelfinger oder auch Zeigefinger und Daumen gebraucht. Hier steht dann mit diesen Ge- bärden ein in Neapel viel gebrauchtes Zeichen (Fig. 31 /) in naher Beziehung, welches, der ,,Kuß des Daumens und des Zeigefingers" genannt, die „Liebe", die „Ehe" oder die „Ehegatten" bedeutet. Tritt bei der vorangegangenen Gebärde zu der in der Vereinigung der beiden Finger gelegenen Symbolik der engen Gemeinschaft noch durch

Fig. 32. Symbolische Handgebärden der Nordamerikaner.

den Gebrauch verschiedener Finger die Andeutung eines Wertunter- schieds, so gewinnt nun dieser letztere seinen besonderen Einfluß in den mannigfachen Verwendungen, welche die Gebärdensymbolik von dem Gegensatze des Daumens und des kleinen Fingers macht. ,, Stark" und ,, schwach", ,,gut" und ,,böse", und dann in einer weiteren Übertragung das starke und das schwache Geschlecht, also ,,Mann" und „Frau", oder „Bruder" und „Schwester", werden so durch den stärksten und den schwächsten Finger ausgedrückt.

Neben diesen Gebärdensymbolen, die, weil sie auf allgemein- gültigen Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen beruhen, in

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ähnlichen oder verwandten Gestaltungen weitverbreitet vorkommen, gibt es aber noch andere, die aus besonderen Anschauungen hervor- gegangen sind. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das neapoli- tanische Zeichen für ,, Gerechtigkeit" (Fig. 31 e), das in der Finger- stellung besteht, mit der man, um die freie Bewegung der Wagebalken nicht zu hindern, eine Wage zu halten pflegt. Man hat in dieser Ge- bärde offenbar nichts anderes als eine pantomimische Nachahmung der symbolischen Darstellungen der Justitia in der bildenden Kunst zu sehen. Eine andere neapolitanische Gebärde (Fig. 31 ^) erinnert an die oben erwähnte symbolische Bedeutung des kleinen Fingers: so verbreitet diese, so singulär ist aber wohl jene Anwendung, bei der die beiden kleinen Finger umeinander geschlungen werden, als kon- ventionelles Zeichen für „Falschheit". Wahrscheinlich liegt hier, abgesehen von der allgemeinen Symbolik der kleinen Finger, noch in der Verschlingung derselben eine weitere, das Anschmiegen des falschen Freundes versinnlichende Gebärde. In dieser Beziehung bildet ein indianisches Zeichen für ,, Freundschaft", das in der ana- logen Verschlingung der beiden Zeigefinger besteht (Fig. 32 1), das genaue Gegenbild: wie die enge Verbindung der Zeigefinger hier die wahre, so symbolisiert dort die der kleinen Finger die falsche Freund- schaft. Diese Freundschaftsgebärde in l ist übrigens nur eine Ver- stärkung des oben erwähnten Symbols der nebeneinander gehaltenen Zeigefinger, von der eine andere Modifikation eine in Je mitgeteilte australische Gebärde für Freundschaft ist. Als Seitenstück zur Justitia mag endlich noch der ,, Diebstahl" erwähnt werden. Als plastische Gebärde, gleichzeitig das Ergreifen und das Verbergen eines Gegen- standes unnachahmlich andeutend, kommt das in d (Fig. 31) wieder- gegebene Zeichen, ähnlich wie das obige Falschheitssymbol, wohl nur in dem Hauptgebiet des plastischen Gebärdenspiels, im Neapoli- tanischen, vor. Anderwärts wird der gleiche Begriff, wie die meisten, die sich auf sinnlich wahrnehmbare Handlungen beziehen, durch zeichnende Bewegungen ausgedrückt: so bei den Taubstummen durch di^ Bewegung des Wegnehmens und Einsteckens, bei den Indianern durch eine Greifbewegung mit darauf folgendem Verschlusse der rückwärts bewegten Hand, ein Symbol, das die beiden Vorstellungen des Ergreifen s und Aneignens wiederum anschaulich verbindet, eben

Symbolische Gebärden. 199

darum aber auch mehr den unmittelbar nachbildenden als den sym- bolischen Gebärden zugehört^). Erst die Einschränkung auf die Plastik der Hand gibt der Gebärde d Fig. 31, da sie nur einen einzelnen an und für sich mannigfacher Deutungen fähigen Zug herausgreift, einen symbolischen und gleichzeitig konventionellen Charakter. Das näm- liche gilt in noch höherem Maße\on einigen Indianerzeichen, die in m und n der Fig. 32 wiedergegeben sind : m ist das bei den Eingeborenen Nordamerikas weit verbreitete Zeichen für ,, Tausch und Handel". Man könnte geneigt sein, es, etwa ähnlich wie das mit den beiden Zeigefingern ausgeführte Freundschaftssymbol Z, für einen ursprüng- lichen symbolischen Bestandteil der Gebärdensprache zu halten. Aber eine andere Interpretation liegt hier näher. Zwei sich kreuzende Striche sind in der Bilderschrift der Indianer das übliche Zeichen für ,, Tausch". Da die Gebärde m wahrscheinlich späten Ursprungs ist, so darf man daher vermuten, daß sie in einer Übertragung dieses Zeichens in die Gebärdensprache besteht^).

Haben sich einmal auf solche Weise, sei. es durch die direkte Ent- wicklung aus nachbildenden Gebärden, sei es, wie im letzten Bei- spiel, durch die Herübernahme aus der Bilderschrift, Symbole von relativ abstrakter Bedeutung entwickelt, so können sich nun aber weiterhin an sie andere anschließen, die von vornherein symbolisch gemeint sind. Die so entstehenden Zeichen tragen dann freilich auch stets das Gepräge einer willkürlichen Erfindung, nicht einer natür- lichen Entwicklung, oder diese greift doch höchstens insofern ein, als solche künstliche Gebärden von natürlich entstandenen auszu- gehen pflegen. In diesem Sinne ist z. B. das Zeichen n (Fig. 32) auf- zufassen, das bei den Indianern in der Bedeutung von ,,Kauf" ge- braucht wird, und das offenbar eine erfundene Abänderung der Ge- bärde m ist.

1) Mallery a. a. 0. S. 293, Fig. 75

^) Über den mutmaßlichen Ursprung des Zeichens in der Bilderschrift vgl. unten V, 2.

200 Die Gebärdensprache.

III. Vieldeutigkeit und Bedeutungswandel der

Gebärden.

1. Unbestimmtheit der Begriffskategorien.

Nach einer oft gemachten Bemerkung entbehrt die Gebärden- sprache aller und jeder grammatischen Kategorien. Sie hat weder Wortbiegungen noch irgendwelche Merkmale, die erkennen lassen, ob ein bestimmtes Zeichen als Substantivum, Adjektivum oder Ver- bum gebraucht werde; von einer Unterscheidung der Partikeln kann schon deshalb nicht die Kede sein, weil die in diesen Wortformen ausgedrückten abstrakteren Begriffsbeziehungen der natürlichen Ge- bärdensprache überhaupt mangelten^).

An dieser Behauptung ist jedenfalls richtig, daß es besondere formale Kennzeichen nicht gibt, durch die irgendeine Gebärde einer der Wortkategorien zugeordnet würde, die uns aus den entwickelteren Lautsprachen geläufig sind. Aber Steinthal hat schon bemerkt, daß jene formale Unterscheidung auch nicht für alle Lautsprachen zu- trifft, ohne daß darum die Unterscheidimg der Begriffe selbst fehlt. Vielmehr ergibt sich in solchen Fällen die Stellung dieser im allgemeinen unzweideutig aus dem Zusammenhang der Kede. Eben weil sie dies tut, konnte sie auch bekanntlich gewissen Sprachen, die sie einst besaßen, wieder verloren gehen. Hier sind also die logischen Kate- gorien vorhanden; dem Worte selbst fehlen aber die Merkmale, an denen seine Zugehörigkeit zu einer solchen zu erkennen ist.

Wenden wir nun diese Gesichtspunkte auf die Gebärdensprache an, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch in ihr gewisse logische Kategorien zur Entwicklung gelangen, daß aber diese nur selten durch Hilfsmittel, die den grammatischen Unterscheidungen analog sind, nämlich durch besondere Modifikationen der Gebärden selbst ausgedrückt werden. Dagegen ergeben sie sich durchweg auch hier aus dem Zusammenhang und der Aufeinanderfolge der einzelnen

1) Steinthal, Über die Sprache der Taubstummen in Prutz' und Wolf- sohns Deutschem Museum, I, 1851, S. 919 ff. Tylor, Forschungen über die Ur- geschichte der Menschheit, S. 20 ff.

Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 201

Zeichen. Nur erleidet in diesem Falle die kategor iale Unterscheidung dadurch noch eine wesentliche Einschränkung, daß sich die natür- liche Gebärdensprache erstens vorzugsweise auf Begriffe mit sinnlich anschaulichem Inhalt, und daß sie sich zweitens ausschließlich auf solche Begriffe erstreckt, die in den drei logischen Grundkategorien der Gegenstands-, Eigenschafts- und Zustandsbegriffe ent- halten sind. Hierbei sind übrigens unter dem letzteren Ausdruck nicht bloß dauernde, sondern auch veränderliche und wechselnde Zu- stände, also Vorgänge und Handlungen, zu verstehen. Wo man Be- griffe der grammatischen Hilfskategorien nach den in der Lautsprache ausgebildeten Wortformen, also Präpositionen, Konjunktionen, abstrakte Adverbien, erwarten müßte, da fehlen aber diese vollständig, oder vielmehr : statt ihrer finden sich konkrete Vorstellungen, die wiederum auf jene drei Hauptkategorien zurückgehen.

Auch die drei Begriffsformen der Gegenstände, Eigenschaften und Zustände werden nun freilich im allgemeinen nicht durch die Gebärde als solche unterschieden. Doch ist in manchen Fällen schon .aus der Art, wie die Gebärde ausgeführt wird, ihr allgemeiner Begriffs- «charakter zu erkennen. Deutlicher geschieht dies noch durch beson- dere Hilfsgebärden, die den Hauptgebärden beigefügt werden, und die man, da sie nur die logische Form des Begriffs, zu dem sie hinzutreten, andeuten, immerhin den reinen Formelementen der Lautsprachen vergleichen könnte. Sie unterscheiden sich von ihnen allerdings dadurch, daß sie, außer in dieser bloß formgebenden Be- deutung, stets als selbständige Zeichen vorkommen. Auch können solche Hilfsgebärden die verschiedensten Grade der Selbständigkeit darbieten, von einer bloß leisen Nuancierung der Hauptgebärde an bis zur Verbindung zweier ursprünglich selbständiger Ausdrucks- formen, die durch ihre momentane Verbindung zu Zeichen eines ein- zigen Begriffs werden. So kann in der Gebärdensprache des Taub- stummen die Berührung eines Zahnes mit dem Zeigefinger in einer vierfachen Bedeutung vorkommen: erstens für ,,Zahn" selbst, sodann für einen der beiden Eigenschaftsbegriffe ,,weiß" oder ,,hart", und endlich für einen harten Gegenstand z. B. einen ,, Stein". Die Artj wie die Gebärde ausgeführt oder mit determinierenden Hilfsgebärden verknüpft wird, unterscheidet alle diese Bedeutungen leicht von-

202 Die Gebärdensprache.

einander. Ist der ,,Zahn" gemeint, so genügt eine leise Berührung desselben. Soll die gleiche Bewegung den Begriff ,,weiß'' ausdrücken, so wird möglichst die ganze Reihe der Zähne gezeigt und zugleich das Auge mit strahlendem Ausdruck geöffnet, um den hellen Licht- eindruck anzudeuten. Für ,,hart" besteht die Gebärde in einem Klopfen des Zeigefingers gegen einen der Schneidezähne. Für ,, Stein" wird der Bewegung für hart die des Werfens als nähere Bestimmung bei- gefügt. Ähnlich kann die Berührung der Lippe sowohl die ,, Lippe" wie die Eigenschaft ,,rot" bedeuten. Im ersten Fall wird, wenn er- forderlich, nach der Ausführung der hinweisenden Gebärde die Lippe selbst noch zwischen Daumen und Zeigefinger gefaßt. Wird die Hand mit aufwärts gekehrter Hohlhand vom Boden her nach oben bewegt,^ so kann dies die Tätigkeit des ,, Hebens" oder einen gehobenen Gegen- stand, ein ,, Gewicht", oder auch die Eigenschaften ,, leicht" oder ,, schwer" bedeuten. Wird die Tätigkeit des ,, Hebens*' in der Regel durch mehrere aufeinander folgende Bewegungen angezeigt, so genügt die einmalige Gebärde, um ,, Gewicht" auszudrücken; ,, leicht" be- deutet die Hebebewegung, wenn sie rasch und mit einem heiteren Ausdruck, ,, schwer", wenn sie langsam und mit dem mimischen Zug der Anstrengung ausgeführt wird. Eine hinweisende Bewegung gegen den Himmel kann den ,, Himmel" selbst im physischen, oder sie kann ihn im übertragenen religiösen Sinne, das ,, Jenseits", ausdrücken; sie kann dann weiterhin auf ,,Gott" bezogen werden, oder endlich auch bloß die Farbe ,,blau" bezeichnen. Im ersten dieser Fälle wird die Gebärde im allgemeinen mit einer gleichgültigen Miene aus- geführt, im zweiten mit dem Ausdruck der Andacht, im dritten unter Hinzufügung der Gebetsgebärde, im vierten mit dem be- gleitenden mimischen Ausdruck der Heiterkeit. Verfolgt man in dieser Weise die eine gegebene Gebärde näher determinierenden Ausdrucksbewegungen, so dürften vielleicht nur wenige Fälle zurück- bleiben, wo trotz verschiedener Bedeutungen der Ausdruck ein ganz übereinstimmender ist.

Am häufigsten bestehen solche Fälle von wirklicher Vieldeutig- keit darin, daß Tätigkeiten und die durch sie hervorgebrachten Er- zeugnisse, Gegenstände und die mit ihnen vorgenommenen Hand- lungen nicht unterschieden werden. So bedeutet die Gebärde des

Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 203

*

Ausstreuens mit Daumen und Zeigefinger ebensowolil diese Hand- lung selbst wie ein auszustreuendes Pulver, in der Regel das aus dem täglichen Gebraucli bekannteste, das ,,Salz". Die Gebärde des Trinkens mit der ähnlich einem Becher geschlossenen Hand bezeichnet nicht nur die Handlung ,, trinken'*, sondern auch das „Getränk", nament- lich das häufigste der Getränke, das ,, Wasser". Werden Gebärden aus mehreren zusammengesetzt, dadurch, daß zu einer Hauptgebärde weitere, näher determinierende hinzutreten, so steigert sich meist noch ihre Vieldeutigkeit. Denn ein solcher Zusammenhang läßt un- bestimmt, welche Gebärde der eigentliche Träger der logischen Kate- gorie sei. Führt z. B. der Taubstumme zuerst die Bewegung des Mahlens an einer fingierten, auf dem Schöße gehaltenen Kaffeemühle, und dann die des Trinkens aus, so kann entweder das ,, Mahlen des Kaffees" oder das „Trinken von Kaffee" oder auch der Kaffee selbst gemeint sein. Im ersten dieser Fälle ruht demnach auf der ersten Gebärde der Hauptbegriff, im zweiten auf der zweiten, im dritten haben beide Gebärden eigentlich einen bloß determinierenden Charak- ter, während der Gegenstand zu den Handlungen, die ihn andeuten, hinzugedacht wird. Eine ähnliche vieldeutige Zusammensetzung ist die folgende. Wenn der Indianer Eßbewegungen und gleichzeitig mit dem Zeigefinger die schneidende Bewegung eines Messers vor dem Munde nachahmt, so hängt diese Gebärde mit der Sitte der Indianer zusammen, den zu verschluckenden Bissen erst, wenn ihn die Zähne erfaßt haben, von einem größeren Fleischstück abzuschneiden. Sie kann demnach entweder die durch die Bewegung ausgedrückte Hand- lung, das ,, Abschneiden des Fleisches", oder sie kann „essen", sie kann aber auch ,, Fleisch" und eventuell sogar ,, Messer" bedeuten. Diese Beispiele zeigen, daß es im allgemeinen zwei Momente gibt, die bei solchen Kombinationen die Mehrdeutigkeit befördern. Das erste besteht darin, daß eine und dieselbe Gebärde in der nämlichen Verbindung einen verschiedenen logischen Sinn haben kann, indem sie bald Hauptbegriff, bald bloß determinierendes Begriffselement ist. Das andere ist dies, daß jede Gebärde, die eine Handlung andeutet, in fast unbegrenzter Weise als Stellvertreterin für Gegenstandsbegriffe gebraucht wird, die mit jener Handlung in Beziehung stehen. Denn es kommen nicht bloß solche Übergänge vor, bei denen zwar die lo-

204 Diö Gebärdensprache.

gische Kategorie wechselt, die Grundbedeutung der Vorstellung aber dieselbe bleibt; sondern, wo dies irgend durch häufig geübte Asso- ziationen nahegelegt ist, da kann der Übergang möglicherweise auf ganz verschiedene Gegenstandsbegriffe erfolgen. In allen solchen Fällen ist es natürlich nur noch der Zusammenhang der Vorstellungen, der die wirklich gemeinte Bedeutung feststellt.

Bietet diese Übertragung von Gebärden, die an sich Handlungen oder Zustände ausdrücken, auf Gegenstandsbegriffe eine nicht zu ver- kennende Analogie mit dem uns aus der Lautsprache geläufigen Über- gang von Verbalformen in substantivische Bildungen, nur mit dem Unterschied, daß die Gebärdensprache schrankenloser und nach be- liebig wechselnden Assoziationen solche Übertragungen ausführt, so fehlt es ims nun auch, ähnlich wie in der Lautsprache, an dem um- gekehrten Übergang nicht. Während aber die zeichnenden Ge- bärden das Gebiet bilden, auf dem sich Übergänge der ersten Art ab- spielen, sind es durchgängig die plastischen, die eine umgekehrt gerichtete Verschiebung der Begriffe vermitteln. Dies liegt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, in der ursprünglichen Natur dieser beiden Formen begründet. Die natürlichste Nachbildung einer Handlimg ist selbst eine Handlung. Sie kann also in adäquater Weise nur durch eine zeichnende Gebärde ausgeführt werden, die eben eine vor dem Auge sich vollziehende Handlung ist. Der Gegenstand dagegen läßt an sich eine doppelte Art der Nachbildung zu: einmal eine solche durch die Handlung, die ihn hervorbringt, also wiederum durch die zeichnende Gebärde; dann aber durch das plastische Bild, das seine ruhende Form zeigt. Hierin ist unmittelbar der psychologische Grund aufgedeckt, der den Übergang der zuständlichen in die gegenständ- liche Bedeutung einer Gebärde zum allgemeineren macht. Immer- hin läßt die fast unbegrenzte Assoziierbarkeit der Vorstellungen auch die umgekehrte Übertragung von der plastischen Gebärde aus zu. Dabei kann unterstützend mitwirken, daß gerade hier überkommene Tradition und konventionelle Symbolik eine größere Rolle spielen, wobei dann zugleich die einzelne Gebärde einen ganzen Satz andeuten kann. So gebraucht der Neapolitaner die mit der Hand gebildete plastische Gebärde der Flasche {d Fig. 26) häufiger, um „trinken", als um ,,Wein" oder ,, Flasche" auszudrücken. Zumeist aber steht

Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 205

sie an Stelle des Satzes ,,icli will jetzt trinken" oder der Aufforderung ,,laß uns trinken". Das Zeichen für Diebstahl (d Fig. 31) kann eben- sogut wie den ,,Dieb" oder den ,, Diebstahl" auch die Mitteilung be- deuten, daß gestohlen worden sei, oder daß jemand zu stehlen beab- sichtige. Ähnlich verhält es sich mit vielen Indianergebärden. Nament- lich die symbolischen Zeichen sind auf diese Weise in der Regel viel- deutig, da sie oft nur den Hauptbegriff eines Gedankens enthalten, dessen Nebenbestandteile unausgesprochen bleiben und dabei mannig- fach variieren können. Hierin kommt übrigens nur in gesteigertem Maß eine allgemeine Eigenschaft der Gebärdensprache zum Aus- druck. Diese ist stets eine Art Abbreviatursprache: sie eilt über alle die Teile des Gedankens hinweg, die sich aus dem Zusammenhang von selbst ergeben, während sie auf der andern Seite nicht minder durch Wiederholung des gleichen Begriffs in verschiedener Form etwa möglichen Mißverständnissen zu begegnen sucht. So ist sie gleich- zeitig kürzer und weitläufiger als die Lautsprache.

Mit diesen Eigenschaften hängt noch eine andere zusammen, durch die sich die natürliche Gebärdensprache von den meisten Ver- suchen ihrer künstlichen Weiterbildung scheidet. Sie besteht in der oben erwähnten Beschränkung auf die drei logischen Haupt- kategorien. Alle näheren Bestimmungen der Gegenstands-, Eigen- schafts- und Zustandsbegriffe bleiben dahingestellt. Die Gebärden als solche bezeichnen in ihrer Aufeinanderfolge lediglich eine Reihe von Vorstellungen, deren jede, wie sie durch ein anschauliolies Zeichen ausgedrückt wird, so auch schon für sich allein anschaulich gedacht werden kann. In welchen logischen, räumlichen oder zeitlichen Be- ziehungen die Vorstellungen zueinander stehen, das lassen jene Zeichen nicht erkennen. Solche Beziehungen können nur dem Zusammen- hang entnommen werden, in den sie durch ihre Aufeinanderfolge treten. So ist die Erzählung eines vergangenen Ereignisses von der eines gegenwärtigen Geschehens oder von der Mitteilung einer bevor- stehenden Handlung im allgemeinen nicht zu unterscheiden. Nur wenn derartige Zeitbegriffe selbständige Gedankeninhalte bilden, können sie durch symbolische Zeichen ausgedrückt werden, indem dann die früher erwähnten räumlichen Versinnlichungen durch hin- weisende Gebärden für sie eintreten (S. 169). Davon abgesehen ver-

206 Die Gebärdensprache.

wandelt aber die Gebärdensprache jedes Ereignis in ein unmittelbar gegenwärtiges. Hierauf beruht zugleich ihre eigentümliche Lebendig- keit. Sie macht den Redenden ebenso wie jeden andern gewisser- maßen zum Miterlebenden alles dessen, was sie ausdrückt. Selbst da, wo die drei Zeitstufen räumlich symbolisiert werden, pflegt sie daher den Begriff, soweit es nur immer geschehen kann, konkret zu gestalten, indem sie durch die besondere Art der Bewegungen andeutet, ob ein Ereignis in naher oder ferner Vergangenheit liege, ob es in naher oder ferner Zukunft geschehen werde. Der Indianer liebt es in solchen Fällen sogar, die Zahl der Tage, Monate oder Jahre, die verflossen sind oder verfließen sollen, durch besondere Gebärden anzugeben. Auf diese Weise nähern sich diese Ausdrucksformen der Zeitstufen selbst schon der Darstellung der Arten des Zeitverlaufs, die eine überaus charakteristische Seite dei Gebärdenmitteilung ausmacht. Will der Taubstumme eine Handlung erzählen, so begnügt er sich nicht zu berichten, daß sie geschehen sei, sondern er schildert wie sie geschehen ist. Die mit Zeigefinger und Mittelfmger der rechten Hand auf dem linken Vorderarm nachgeahmten Gehbewegungen, die den Begriff des Gehens wiedergeben, werden also entweder schnell oder langsam, bald mit dem mimischen Ausdruck der Hast, bald mit dem der Bedächtigkeit ausgeführt. Oder die gleiche Bewegung wird mehrmals wiederholt, in hin- und rückwärts gekehrter Richtung. Ebenso verbinden sich mit den Gebärden für tragen, fahren, arbeiten, einsammele, tauschen, kaufen und andern sehr häufig Modifikationen der zeichnenden Bewegung selbst oder des begleitenden mimischen Ausdrucks, die ein Bild der Art des geschilderten Tuns zu geben suchen.

Ähnlicher sinnlicher Ausdrucksmittel bedient sich die Gebärden- sprache für diejenigen Gedankenelemente, die unsern abstrakten Partikeln entsprechen. So wird der in der Präposition liegende Begriff, wenn er ein räumliches Verhältniß einschließt, durch eine hinweisende Bewegung bezeichnet. Ist der Gegenstand selbst, der in eine räum- liche Beziehung zu einem andern gebracht werden soll, im Sehbereich anwesend, so drückt dann eine und dieselbe Gebärde beides zugleich, den Gegenstand und seine Beziehung aus. So kann der Taubstumme ,,die Katze auf dem Dache" möglicherweise in vierfacher Form wieder-

Unbestimmtheit der Begriffskategorien. 207

geben, je racMem der ganze Inhalt dieser Verbindung oder nur ein Teil oder gar nichts von ihr in der unmittelbaren Anschauung vor- handen ist. Im ersten Fall bezeichnet die hinweisende Gebärde den ganzen Zusammenhang mit einem Male. Im letzten wiid zuerst die Katze durch irgendeine mitbezeichnende Gebärde angedeutet, z. B. durch Nachahmung ihres Schnauzbarts am eigenen Munde und des Kratzens mit den zu Krallen gekrümmten Fingern, dann werden die Umrisse eines Giebeldachs in der Luft beschrieben, und endlich wird mit dem Zeigefinger nach oben gezeigt, gleichsam ,, Katze Dach oben". Ebenso können die andern räumlichen Beziehungen, wie sie den Präpositionen in, aus, durch, von u? w. innewohnen, durch hin- weisende Bewegungen ausgedrückt werden. Aber jene wichtigen Begriffsmetamorphosen, durch die unsere Präpositionen Ausdrucks- mi;;tel der mannigfaltigsten logischen Beziehungen geworden sind, macht die Gebärdensprache nicht mit. Wo logische oder kausale Beziehungen überhaup: vorkommen, da überläßt sie es entweder dem Zusammenhang der Vorstellungen, sie angemessen zu interpolieren, oder sie ersetzt sie durch konkrete Versinnlichungen. In der Gebärden- sprache berichtet man nicht, irgendeine Person sei wegen Diebstahls gehenkt worden, sondern man fügt der Bezeichnung der Person die Gebärde für Dieb oder Stehlen (z. B. Fig. 31 cZ) und die der Strangu- lation, die Andeutung eines um den Hals gelegten Strickes, bei. In der Gebärdensprache heißt es nicht: ,,er starb, weil er dem Trunk ergeben war", sondern: ,,er trank, er trank, er starb", oder eigentlich, da es in ihr keine Flexionsformen des Verbums gibt: „trinken, trinken, sterben". Die Gebärde des Trinkens wird mehrmals nacheinander ausgeführt, dann als Zeichen für Tod der Kopf mit geschlossenen Augen auf die rechte Hand gelegt und eine hinweisende Gebärde nach dem Boden hinzugefügt: ,, schlafen da unten". Wo endlich in der Lautsprache abstrakte Adverbien zu Verbalformen hinzutreten, um in denkbar kürzester Weise bestimmte Veränderungen des Verbal- begriffs hervorzubringen, da löst, ganz im Sinne dieser Ausdrucks- mittel für die Beziehungsformen der Begriffe, die Gebärdensprache entweder die Verdichtung des Gedankens in die konkreten Einzel- vorstellungen auf, oder sie überläßt wiederum dem Zusammenhang die stillschweigende logische Ergänzung.

208 Die Gebärdensprache.

2. Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden.

Die Bewunderer der natürliclien Gebärdensprache, wie sie vor allem unter den Taubstummenlehrern gefunden werden, pflegen von ihr zu rühmen, sie sei nicht nur eine Universalsprache, sondern sie zeichne sich auch ganz besonders durch eine jedes Mißverständnis ausschließende Eindeutigkeit der Begriffssymbole aus. Synonyma sollen in ihr wegen der unmittelbaren sinnlichen Anschaulichkeit und Verständlichkeit der Gebärden völlig ausgeschlossen sein^). Daß diese Meinung bei der Beobachtung der Taubstummen überhaupt entstehen konnte, ist für den eigentümlichen Charakter dieses Zweiges der Gebärdensprache immerhin bezeichnend. Bei solchen Formen derselben, die sich, wie die der Neapolitaner oder der nordamerika- nischen Indianer, durch viele Generationen hindurch entwickelt haben, würde sie jedenfalls unmöglich gewesen sein. Hier fällt die ungeheure Vieldeutigkeit vieler Zeichen sofort in die Augen. Besonders von den plastischen Gebärden, die durchweg meist älteren Ursprungs sind und zu einer konventionellen Anwendung hinneigen, läßt sich wohl sagen, daß sie im allgemeinen vieldeutiger sind, als Worte zu sein pflegen.

Man erkennt leicht, daß diese Unterschiede mit der verschiedenen psychologischen Natur der Gebärden zusammenhängen. Am wenigsten vieldeutig sind die unmittelbar nachbildenden, vor allem die zeich- nenden. Hier ist eine Mehrdeutigkeit nur innerhalb der Grenzen der oben besprochenen kategorialen Verschiebungen möglich. Daß für die Gebärde als solche Begriffe wie ,, geben" und „Gabe" oder wie ,,Dieb", ,, Diebstahl" und ,, stehlen" und ähnliche zusammenfallen, das ist aber in Wahrheit keine Vieldeutigkeit der begrifflichen Grund- bedeutung, sondern eine formale Eigenschaft der Gebärdensprache, da diese Modifikationen eines Begriffs, die durch seine Verbindung mit andern Begriffen zustande kommen, überhaupt nicht unterscheidet. Daß dagegen die Grundbedeutung einer nachbildenden Gebärde völlig eindeutig sein muß, wenn das Bild die Vorstellung, die es zu

^) Einige Äußerungen dieser Art hat Steinthal zusammengestellt, Prutz, und Wolfsohns Deutsches Museum, I, S. 906.

Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 209

erzeugen strebt, wirklich hervorbringen soll, ist einleuchtend. Mit der Umrißzeichnung eines Hauses kann immer nur ein Haus, mit dem mimischen Ausdrucke des Zornes nur die Ge- mütsbewegung des Zornes, mit der nachahmenden Bewegung des Gehens nur die Handlung des Gehens gemeint sein. Da die Gebärden der Taubstummen ganz vorzugsweise zu den zeichnenden Gebärden gehören, so erklärt es sich also hieraus, daß gerade bei ihnen die angebliche Eindeutigkeit der Gebärden gerühmt wird. Aber schon bei der plastischen Unterform der nach- bildenden Zeichen gilt das nicht mehr in gleichem Grade, weil hier die Vorstellung und ihre Bedeutung viel weiter voneinander entfernt liegen, daher denn auch in diesem Fall eine plastische Hand- gebärde von gleicher Beschaffenheit sehr verschiedene Bedeutungen haben kann, wie ein Blick auf die Figg. 27 und 28 lehrt. Eine noch größere Variation der Bedeutungen ist bei den mitbezeichnenden Gebärden möglich. Während die unmittelbar nachbildenden in der Regel nur die logische und grammatische Kategorie unbestimmt lassen, in der ein gewisses Zeichen gedacht wird, erstreckt sich bei den mitbezeichnenden die Möglichkeit des Wechsels schon über den ganzen Umkreis der Vorstellungen, die in irgendeiner leicht assoziier- baren psychologischen Beziehung zu der ausgedrückten Eigenschaft oder Handlung stehen. So kann die Gebärde des Hutabnehmens einen ,,Mann", sie kann aber auch eine ,, Begrüßung" oder in einem etwas abstrakteren Sinne die ,, Höflichkeit" bedeuten. Die Gebärde des Riechens an einem Gegenstande, durch die Bewegung von Daumen und Zeigefinger in der Scellung, in der man einen Blumenstengel zu halten pflegt, gegen die Nase hin ausgeführt, kann „Blume", „Geruch", oder in anderem Zusammenhange „Schnupftabak", sie kann aber auch als unmittelbar zeichnende Bewegung „riechen" ausdrücken usw.

Am weitesten reicht endlich der Kreis möglicher Bedeutungen bei den symbolischen Gebärden. Hier liegt in vielen Fällen eine Mehrdeutigkeit schon darin begründet, daß die nämliche Gebärde auch in ihrem ursprünglichen, nicht symbohschen Sinne gebraucht werden kann. Freilich ist das nur bei den sekundären Formen der Fall (S. 186), und selbst hier ist ein solches Schwanken zwischen un-

Wun dt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^

210 Die Gebärdensprache.

mittelbarer Nachbildung und Symbol im ganzen selten, weil meistens die symbolische Bedeutung die ursprüngliche völlig verdrängt hat, wenn auch die letztere in der Form einer leisen Assoziation immer noch nachklingt. Man denke z. B. an plastische Gebärden wie die des gehörnten Kopfes (Fig. 26 a), des Eselskopfs (ebenda b und c), an die pantomimische Andeutung der Eselsohren u. dgl. Weit viel- gestaltiger ist diejenige Verzweigung der Bedeutungen, die entsteht, wenn entweder eine und dieselbe Gebärde von Anfang an verschiedene symbolische Anwendungen nebeneinander hat, oder wenn sich aus einer bestimmten symbolischen Beziehung eine andere entwickelt. Das erstere kommt häufiger bei primären, das letztere bei sekundären Symbolen vor. Wenn z. B. das offenbar primäre Symbol der beiden aneinander gelegten Zeigefinger ,,zwei Gatten", ,,zwei Gefährten", ,,zwei Geschwister" oder endlich ,,zwei Gegenstände" bedeuten kann, so läßt sich kaum sagen, ob eine dieser Anwendungen früher gewesen sei als die andere. Wir werden höchstens voraussetzen dürfen, da im allgemeinen die konkreten Begriffe früher sind als die abstrakten, daß die Gebärde als Symbol der reinen arithmetischen ,,Zwei" später ist als ihre Anwendung auf irgend zwei einzelne, zusammen gedachte Objekte. Dagegen kann man in vielen andern Fällen nicht zweifeln, daß sich eine bestimmte symbolische Bedeutung erst aus einer früheren, ebenfalls schon symbolischen entwickelt hat. Dies trifft am häufigsten bei sekundären Symbolen zu. Denn bei ihnen kann in der Regel auch dann, nachdem die nachbildende Bedeutung ganz verschwunden ist, noch eine gewisse Entwicklungsfolge bemerkt werden. Ein Krite- rium späterer Entstehung pflegt in solchem Falle dies zu sein, daß eine Bedeutung aus einer bestimmten andern abgeleitet werden muß, die selbst nachweislich sekundär entstanden ist. So kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Gebärde e Fig. 31 früher symbolisch für ,, Gerechtigkeit" als für „Strafe" gebraucht wurde, weil das sinnliche Bild der Wage direkt zur Gerechtigkeit, deren symboHsches Attribut jene ist, aber erst indirekt, nämlich eben durch die Gerechtigkeit als Mittelglied, zum Begriff der Strafe führt. Das von den Indianern als Zeichen der Frage gebrauchte Symbol (Fig. 32 i) ist offenbar von der Bedeutung des Gebens als der unmittelbareren ausgegangen: denn jene Bedeutung wird nur durch ihren Ursprung aus der an einen

Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 211

andern gerichteten Aufforderung zu geben, mitzuteilen, also auch, von Gegenständen auf Gedanken übertragen, seine Gedanken mit- zuteilen, verständlich. Noch augenfälliger ist der spätere Ursprung, falls die eine Bedeutung die andere unbedingt voraussetzt. So wenn die Gebärde des gehörnten Kopfes einerseits eine drohende Gefahr, anderseits aber auch Beschwörung gegen eine solche oder Schutz vor ihr bezeichnet. Hier bilden die Begriffe : Stärke, Gefahr (die von einer Gewalt droht), Schutz gegen Gefahr, Bitte um solchen Schutz eine Begriffsreihe, in der im allgemeinen jedes folgende Glied das voran- gegangene fordert, und die sich daher nicht wohl anders als in der angegebenen Folge entwickelt haben kann. In manchen Fällen, nament- lich bei sekundären Symbolen, kann es freilich auch unsicher bleiben, welche von zwei Bedeutungen früher sei, oder ob sie sich unabhängig aus einer und derselben Grundbedeutung entwickelt haben. So kann man bei jener in Neapel in so mannigfaltigem Sinn gebrauchten Ge- bärde des gehörnten Kopfes wohl zweifeln, ob von den Bedeutungen der physischen Stärke, der Drohung, der Gefahr eine früher sei als die andere, da sie alle möglicherweise unabhängig voneinander aus der ursprünglichen sinnlichen Vorstellung des Stierkopfs entstanden sein können. Wenn endlich dasselbe Zeichen als Symbol „ehelicher Untreue" gebraucht wird, so darf man dieses wohl als eine Über- tragung der sprichwörtlichen Redensart ,, einem Hörner aufsetzen" in die Gebärde oder auch als die pantomimische Nachahmung einer die Untreue symbolisierenden Zeichnung ansehen. Die Redensart selbst soll aber aus einem Volksglauben hervorgegangen sein, nach dem die Untreue der Frau durch ein Hörn angezeigt werde, das ihrem Manne aus der Stirn wachse. Da der Ursprung dieses Volksglaubens unsicher ist und den sonstigen Anwendungen der gleichen Gebärde wahrscheinlich ganz ferne liegt, so läßt sich natürlich nicht entscheiden, welche Bedeutung die ältere sei^).

1) M. Heyne (Grimm, Deutsches Wörterbuch, IV, 2, Sp., 1815) führt die erwähnte Redensart auf eine mittelalterliche Legende zurück. Doch hat die Gebärde, ebenso wie das Sprichwort, schon im Altertum existiert. Sittl (Die Gebärden der Griechen und Römer, S. 104) deutet jene auf die Zweiheit der Männer. Eine Nebenbeziehung hierauf mag immerhin vorhanden sein, wie auch die von Sittl zitierten neapolitanischen Sprichwörter zu zeigen scheinen. Aber

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212 Die Gebärdensprache.

Auf diese Weise eröffnet vor allem der Übergang nachbildender in symbolische Gebärden und die daran sich schließende weitere Ent- wicklung die Möglichkeit zu einer wachsenden Vieldeutigkeit. Natür- lich muß aber diese Zunahme der Bedeutungen wesentlich durch die Veränderung der Bedingungen unterstützt werden, die bei der Tradi- tion bestimmter Zeichen durch viele Generationen hindurch eintritt. Darum ist die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen sehr viel größer bei den überlieferten, als bei den neugebildeten Formen der Gebärden- sprache. So zählt A. de Jorio von der obenerwähnten Gebärde der „Mano cornuta" ungefähr zwanzig Bedeutungen auf, die zum größten Teil symbolischer Art sind, und von denen die meisten wahrscheinlich bis in das Altertum zurückreichen^). Indem aber hierbei bestimmte Bedeutungen zwar nur in seltenen Fällen direkt, um so häufiger je- doch indirekt, nach den vorhandenen Abhängigkeitsverhältnissen der Begriffe, als hervorgegangen aus gewissen andern nachgewiesen werden können, zeigt sich die Gebärde gerade so gut wie das Wort einem Bedeutungswandel unterworfen. Und auch hier pflegt der Übergang auf ferner liegende Begriffe durch Zwischenstufen ver- mittelt zu werden, so daß der ganze Vorgang als eine kontinuierliche Entwicklung erscheint, bei der die Assoziationen, durch die neue Vor- stellungen mit früheren verbunden werden, den Übergang bewirken. Dabei können diese Assoziationen die Vorstellungen bald durch die ihnen eigentümlichen Inhalte, bald infolge rein äußerer, zum Teil zufälliger Beziehungen verbinden. So ist es sichtlich eine innere Be- ziehung der Vorstellungen, wenn die Gebärde der gehörnten Hand zunächst durch die Assoziation mit der Stärke des gehörnten Tieres, des Stieres, die physische Stärke, dann durch weitere daran geknüpfte Assoziationen die Gewalt überhaupt, die Gefahr, die Bedrohung durch Gefahr, die Beleidigung, endlich den Schutz vor Gefahr bedeutet. Dagegen beruht es auf einem äußeren und darum in seinen besonderen Wirkungen kaum zu berechnenden Spiel von Assoziationen, wenn die nämliche Gebärde durch die Anlehnung an den Aberglauben von

diese Beziehung auf die Zweiheit ist vielleicht selbst eine sekundäre, die erst aus der Gebärde entstand.

1) A, de Jorio a. a. O. S. 90 ff.

Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 213

der Zeichnung des betrogenen Ehegatten durch das Hörn in das Sym- bol der ehelichen Untreue überging. Darum steht nun aber auch diese Bedeutung wahrscheinlich außerhalb der Keihe der sonstigen Be- griffsentwicklungen der gleichen Gebärde, falls sie nicht etwa doch ein Seitensproß aus dem Begriff der Bedrohung sein sollte, der zuerst in Beschimpfung überhaupt, dann in diese spezielle Form der Be- schimpfung übergegangen sein könnte. Doch der Zusammenhang mit der erwähnten sprichwörtlichen Redensart macht diese Annahme wenig wahrscheinlich. Zugleich zeigt das Beispiel, wie leicht uns selbst bei der Gebärdensprache die Spuren verloren gehen können, die den Weg einer bestimmten Bedeutungsentwicklung sicher erkennen lassen.

Hiemach entspricht die Gebärdensprache auch darin dem all- gemeinen Begriff einer Sprache, daß sie keineswegs, wie die von ihr gerühmte „Pasilalie" vermuten ließe, überall und unverändert immer dieselbe bleibt. Vielmehr sind Gebärden wie Worte einer Bedeutungs- entwicklung unterworfen, vermöge deren sie sich den wechselnden Bedürfnissen des Denkens anpassen. Es muß allerdings zugestanden werden, daß auf diesen Bedeutungswandel der Gebärden der Besitz der Lautsprache nicht ohne Einfluß ist. Der oben berührte Zusammen- hang gewisser Gebärden mit sprichwörtlichen Redeweisen bietet dafür einen augenfälligen Beleg. Auch ist ja die Veränderung der Begriffe der Natur der Sache nach bei den aus einer längeren Über- lieferung hervorgegangenen Formen viel eingreifender als bei den re- lativ neu entstandenen. Jene sind aber infolge ihrer allgemeinen Ent- wicklungsbedingungen immer zugleich mit dem Gebrauch der Laut- sprache verbunden. Die Annahme, daß in solchen Fällen der Bedeu- tungswandel nicht bloß durch die länger dauernde Tradition, sondern nicht minder durch die Koexistenz mit der Lautsprache gefördert werde, läßt sich also nicht abweisen. Aber in beschränkterem Um- fang vollziehen sich solche Wandlungen doch auch in den neuent- wickelten, dieses Einflusses fast ganz entbehrenden Formen der Ge- bärdenmitteilung. Wenn z. B., wie Tylor^) berichtet, in einer Ber- liner Taubstummenanstalt einer der Lehrer durch die Gebärde des

^) Tylor, Forschungen über die Urgeschichte, S. 29 ff.

214 Die Gebärdensprache.

Armabhauens bezeichnet wurde, weil er aus Spandau war, und eines der Kinder dort einmal einen einarmigen Menschen gesehen hatte, so beruhte das offenbar auf einem Bedeutungswandel, der zwei Asso- ziationsglieder umfaßte: erstens war die nachbildende Gebärde für den ,,Mann mit dem abgehauenen Arm" zur sekundären symbolischen Gebärde für den ,,Mann aus Spandau" geworden, und dann war die Bedeutung in die eines „einzelnen Mannes aus Spandau", des Lehrers, übergegangen. Ähnlich, wenn in der gleichen Anstalt „Frankreich" durch die Gebärde des Kopfabschlagens bezeichnet wurde. Hier war eine Reminiszens aus der französischen Revolutionsgeschichte der Begriff des Köpfens zuerst auf den geköpften König Ludwig XVL und dann von diesem auf das Land übergegangen. Ähnliche Ent- wicklungen kommen überall in der Gebärdensprache vor, und wo etwa ein und dasselbe Zeichen in mehreren Bedeutungen auftritt, da läßt sich meist auch bei den Zeichen der Taubstummen diese Diver- genz als die Folge eines Bedeutungswandels erkennen. So kann sich die Gebärde der über das Haupt erhobenen Hand im Sinne eines in geistiger Beziehung großen, über andere hervorragenden Mannes natürlich nur aus der sinnlichen Bedeutung des körperlich großen Mannes entwickelt haben. Die Gebärde des Taktschiagens in der Bedeutmig von Musik oder Gesang kann nur aus der ursprünglicheren des Taktschiagens selbst oder des den Takt angebenden Dirigenten hervorgegangen sein. Ebenso in vielen andern Fällen. Nur umfaßt bei der neugebildeten Gebärdensprache der Bedeutungswandel be- greiflicherweise immer bloß wenige Glieder, während sich die Erschei- nungen bei den überlieferten Formen weit mehr den entsprechenden der Lautsprache nähern.

Neben der allgemeinen Übereinstimmung, die Gebärden- und Lautsprache in diesen Vorgängen darbieten, dürfen nun aber auch die wesentlichen Unterschiede nicht übersehen werden. Zunächst ist der Bedeutungswandel der Gebärden, sobald er nicht, wie in den zuletzt erwähnten Beispielen, neuesten Ursprungs und einfachster Art ist, selten direkt in der Beobachtung zu verfolgen. Eine Ge- schichte der Gebärden, analog der Geschichte der Wörter, besitzen wir nicht, da es auf ihrem Gebiet, abgesehen von zufälligen Über- lieferungen auf Kunstdenkmälern und bei früheren Schriftstellern,

Begriffsübertragungen und Bedeutungswandel der Gebärden. 215

nichts gibt, was der literarischen Überlieferung entspricht. Wo sich etwa, wie bei der ,,Mano cornuta", mehrere Begriffe nebeneinander erhalten haben, da ist daher im allgemeinen nur nach psychologischer Wahrscheinlichkeit zu entscheiden, welcher der primäre, und welcher der sekundäre sei. Sodann ist der Bedeutungswandel, so mannig- fache Übertragungen er auch in einzelnen Fällen hervorgebracht hat, doch im ganzen genommen von beschränktem Umfang, und ge- rade die wichtigsten imd ursprünglichsten Gebärdeformen, die hin- weisenden und nachbildenden, bleiben ihm fast ganz entzogen. Ersteres erklärt sich aus der meist kurzen Lebensdauer der Gebärdensprache, letzteres aus dem treuen Festhalten der unmittelbar sinnlichen Be- deutung gerade dieser ursprünglicheren Zeichen. Aber selbst bei den symbolischen Gebärden, die dem Bedeutungswandel einen weiteren Spielraum eröffnen, bedarf es offenbar besonderer Anlässe, um nach- einander und nebeneinander zahlreiche Anwendungen des nämlichen Symbols hervorzubringen. So hat innerhalb der neapolitanischen Zeichensprache die gehörnte Hand (Fig. 26 a) eine sehr viel reichere Bedeutungsentwicklung erfahren als die plastische Gebärde des Esels- kopfs (b und c ebenda). Dieser Unterschied ist aber sichtlich davon abhängig, daß jene schon in ihrer ursprünglichen Form, als der gehörnte Kopf überhaupt, eine umfassendere Bedeutung hat, wozu dann spe- zielle kulturhistorische Einflüsse hinzutreten mochten, die ihre Wahl als Droh-, Spott- und Beschwörungsgebärde begünstigten.

Zu diesen Eigentümlichkeiten des Bedeutungswandels der Ge- bärden kommt endlich als eine letzte, wohl am meisten bezeichnende die, daß er fast überall nicht als ein bloßer Wechsel, sondern als eine Verzweigung der Bedeutungen erscheint, als ein Ansetzen neuer Begriffe an einen vorhandenen, der daneben erhalten bleibt. So ist von den zwanzig und mehr Bedeutungen der süditalienischen „Mano cornuta" keine einzige erloschen. Am ehesten noch findet sich die Verdunklung bestimmter, dereinst lebendig gewesener Vor- stellungen beim Übergang nachbildender in symbolische Gebärden, indem hier die sinnliche Bedeutung zur selteneren, manchmal kaum mehr gebrauchten werden kann. Doch pflegt auch in diesen Fällen die erloschene Bedeutung aus dem Gebrauch, aber nicht ganz aus dem Bewußtsein zu verschwinden. So kommt die Handgebärde des Esels-

216 Die Gebärdensprache.

kopfs (Fig. 26 h und c) und die des Eselsohrs kaum noch in anderem als in symbolischem Sinne vor; aber schwerlich wird sie jemals aus- geführt, ohne daß die Vorstellung an den wirklichen Esel im Bewußt- sein anklingt. Ja selbst in den Fällen, wo Beziehungen auf entschwun- dene Gebräuche oder unverständlich gewordene sprichwörtliche Kede- weisen zugrunde liegen, wie bei der Gebärde des Nasendrehens, des Verschluckens einer Lüge (Fig. 30 e), erhält sich immer noch die Nei- gung, dem konventionell gewordenen Zeichen irgendeine anschauliche Bedeutung unterzulegen, wenn diese auch von der ursprünglichen abweichen mag^).

IV. Syntax der Gebärdensprache.

1. Gebärdenfolge der Taubstummen.

Man hat von der Gebärdensprache gesagt, sie sei ,,ohne Satz, also ohne Grammatik". Wenn der Taubstumme, um zu sagen ,,der Vater gab mir einen Apfel", zuerst das Zeichen für „Apfel", dann das für „Vater" und endlich das für „ich" mache, ohne ein Zeichen für „geben" hinzuzufügen, also: ,, Apfel Vater ich", so sei das nichts weniger als ein Satz; denn es fehle diesem Ausdruck eben das, was das Wesen des Satzes ausmache, die eigentliche Aussage 2). Nach dieser Auffassung würde, da die einzelne Gebärde einem Wort äqui- valent ist, eine Gebärdenmitteilung lediglich in einer Summe einzelner Wörter bestehen ; es würde ihr aber das fehlen, was die Sprache eigent- lich erst zur Sprache macht: die Verbindung zu einem Ganzen, in welchem jeder Begriff in einem bestimmten logischen Verhältnisse zu andern Begriffen steht.

1) Die bei dem Bedeutungswandel der Gebärden wirksamen psychischen Elementarprozesse sind oben nur andeutend berührt worden. Da sie vollständig mit den beim Bedeutungswandel der Wörter nachzuweisenden übereinstimmen, so wird erst bei diesem, der uns die gleichen Phänomene in viel weiterem Um- fang erkennen läßt, hierauf einzugehen sein. (Vgl. Kap. VIII.)

2) Steinthal in Prutz' und Wolfsohns Deutschem Museum, I, S. 923.

Gebärdenfolge der Taubstummen. 217

Diese Auffassung von der ungrammatischen Natur der Gebärden- sprache stützt sich teils darauf, daß eine dem Verbalausdruck ent- sprechende Gebärde in manchen Fällen hinwegbleiben kann, teils darauf, daß jene formalen Elemente, welche die Subsumtion unter grammatische Kategorien vermitteln, hier gänzlich fehlen. Der erste dieser Mängel ist jedoch keineswegs ein allgemeiner; er hängt mit der Eigenschaft der Gebärdensprache zusammen, das Selbstverständ- liche zu übergehen, und vielleicht fällt der Verbalbegriff nicht ein- mal häufiger als irgendein anderer Bestandteil der Rede dieser Lex parsimoniae zum Opfer. Auch in dem obigen Beispiel ,, Apfel Vater ich" wird ein dem Verbum entsprechender Gebärdenausdruck nicht immer fehlen. Wenn es eine Bitte enthält, so kann diese in dem mi- mischen Ausdruck enthalten sein, der die Hinweisung auf das Ich begleitet. Die Sätze ,, Vater gib mir einen Apfel" mid „der Vater gab mir einen Apfel" werden also in diesem Sinn auch bei der Gebärd en- mitteilmig deutlich unterschieden. Wo aber je einmal Zweifel über den hinzuzudenkenden Verbalbegriff entstehen sollten, da würde der Taubstumme schwerlich versäumen, die Handlung des Gebens selbst durch eine bezeichnende Gebärde, etwa dadurch, daß er mit der einen Hand einen imaginären, zwischen den Fingern gehaltenen Gegenstand in die andere legt, auszudrücken. Dementsprechend hat denn auch die Gebärdensprache für alle die Begriffe, die bestimmte, die verbalen Prädikate der Sätze bildende Handlungen oder Zustände enthalten, wie gehen, tragen, schlagen, arbeiten, lesen, hören, sehen usw., durch- weg ihre besonderen Ausdrucksmittel. Die zweite angeblich die Bildung eigentlicher Sätze verhindernde Eigenschaft, das Fehlen gramma- tischer Kategorien, ist, wie wir bereits oben (S. 200 f.) gesehen haben, nur partiell und in bedingter Weise anzuerkennen. Partiell, weil ein absoluter Mangel nur für gewisse abstrakte Redeteile zutrifft, die entweder ganz hinwegfallen oder durch konkrete Versinnlichungen der Begriffe ersetzt werden. Das mag immerhin eine niedrige Ent- wicklungsstufe bezeichnen; eine Eigenschaft, durch welche die Ge- bärdensprache der Fähigkeit zur Satzbildung beraubt würde, ist es nicht. Noch weniger gilt dies von jenem relativen Mangel grammatischer Unterscheidung, wonach die einzelne Gebärde als solche nicht er- kennen läßt, welche Stellung sie in der ganzen Mitteilung einnimmt.

218 I^ie Gebärdensprache.

Denn eben hier läßt sich die logische Kategorie, der das einzelne Zeichen zuzurechnen ist, aus dem Zusammenhang unzweideutig erkennen» Dabei stellt es sich aber heraus, daß gerade das, was der Gebärden- sprache angeblich fehlen soll, die Verbindung der einzelnen Vor- stellungen zu einem Satzganzen, für sie das Hilfsmittel ist, durch das der grammatische Wert der einzelnen Gebärden bestimmt wird. Hieraus ergibt sich ohne weiteres, daß von einer Syntax der Ge- bärdensprache mit vollem Recht geredet werden kann, insofern eben S3mtaktische Stellung der Wörter und Satz zusammengehörige Wechsel- begriffe sind. Wo ein Satz existiert, da muß es auch bestimmte Ge- setze der Wortfügung geben, und umgekehrt: wo diese nachzuweisen sind, da ist auch der Satz vorhanden. Man muß daher, statt aus der indifferenten Beschaffenheit der einzelnen Gebärden auf das Fehlen des Satzes zu schließen, vielmehr aus dem Dasein bestimmter syn- taktischer Gesetze folgern, daß auch die Gebärdensprache nicht bloß aus einzelnen Zeichen, sondern aus Sätzen besteht. Ja der Satz spielt in ihr sogar eine größere Rolle, insofern er es ist, der erst dem einzelnen Zeichen seine grammatische Bedeutung verleiht. Natürlich lassen uns aber aus dem gleichen Grunde die zumeist in der Lautsprache dem Wort anhaftenden Merkmale seiner syntaktischen Stellung im Stich, und wir müssen diese vielmehr aus dem ganzen Zusammen- hang des Gedankenausdrucks erschließen. Darum kann wohl gelegent- lich die syntaktische Stellung zweifelhaft werden, ähnlich wie dies übrigens auch in der Lautsprache vorkommt, namentlich wenn diese der charakterisierenden Flexionselemente entbehrt. Es kann z. B. ungewiß sein, ob ein Gegenstandsbegriff als Subjekt oder als Objekt des Satzes, ob ein verbaler Prädikatbegriff aktiv oder passiv gedacht sei u. dgl. Mag nun auch diese Mehrdeutigkeit wegen des Mangels aller Hilfsmittel syntaktischer Wortunterscheidung hier selbstverständ- lich größer sein als in der Lautsprache, so werden wir doch die syn- taktischen Begriffe der letzteren schon deshalb mit vollem Recht auch auf die Gebärdensprache übertragen dürfen, weil jene Mehr- deutigkeit höchstens für den, an den sich die Mitteilung richtet, nie aber für den Sprechenden selbst existiert^).

^) Abgesehen von der hier angedeuteten Verwechslung des Redenden und

Gebärdenfolge der Taubstummen. 219

Über die Aufeinanderfolge der Gebärden in der natürlichen Ge- bärdenspracbe der Taubstummen besitzen wir nun mehrere Auf- zeichnungen von Taubstummenlehrern ^). Sie stimmen darin über- ein, daß in der Regel das Subjekt des Satzes zuerst kommt, entsprechend der gewöhnlichen Ordnung in der Grammatik der Lautsprachen. Dagegen trennt sich die Gebärde von der im Deutschen, Englischen, Französischen und andern modernen Sprachen bevorzugten Be- griffsfolge, indem sie das Attribut, sobald es ein einfacher, in der Sprache durch ein Adjektivum auszudrückender Eigenschaftsbegriff ist, hinter den Gegenstandsbegriff stellt, zu dem es gehört, das Objekt vor die Handlung, auf die sie sich bezieht. Von diesen syntaktischen Regeln wird bekanntlich die zweite auch im Griechischen und Lateinischen befolgt, wogegen die erste hier nicht in gleicher Weise gilt, da in diesen Sprachen sowohl das Substantivum wie das Adjektivum vorangehen kann, je nachdem dieses oder jenes stärker betont werden soll. Der Taubstumme sagt also nicht ,,ein gewaltiger Berg", sondern ,,ein Berg ein gewaltiger", wo im Lateinischen sowohl mons ingens wie ingens mons stehen könnte. Und er sagt nicht ,,der Lehrer lobt den Knaben", sondern ,,der Lehrer den Knaben lobt", analog dem latei- nischen Magister fuerum laudat. Einen Satz wie diesen: ,,der zornige Mann schlug das Kind", würde der Taubstumme folgendermaßen ausdrücken: er würde zuerst auf die Person, die geschlagen hat, hin-

des Zuschauers wird dieses Verhältnis zuweilen auch noch durch die Annahme eines von dem logischen spezifisch verschiedenen psychologischen Subjekt- begriff verdunkelt. So von Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, 1902, S. Iftf. (Vgl. dazu die Ausführungen über das „psychologische Subjekt" unten Bd. 2, Kap. 7, III. ) Schwer begreiflich ist auch die Behauptung Delbrücks, eine Syntax der Gebärdensprache sei, wo sie überhaupt existiere, von der Laut- sprache aus eingedrungen (Grundfragen der Sprachforschung, S. 69). Die Tat- sachen beweisen genau das Gegenteil; und wenn Delbrück selbst einmal versucht hätte, sich in der Gebärdensprache zu üben was nicht allzu schwer ist , so würde ihm kaum entgangen sein, daß die unten (3) zu erörternden psycholo- gischen Bedingungen der Aneinanderreihung der Gebärden mit unwidersteh- licher Gewalt dieser ihre eignen, von der Lautsprache unabhängigen Wege an- weisen. Vgl. hierzu meine Schrift: Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 41 ff.

^) Schmalz, Über die Taubstummen und ihre Bildung, ^ S. 266 ff. Scott, The Deaf and Dumb, 2 p. 134 ff.

220 I^i® Gebärdensprache.

weisen, oder sie auf andere Weise andeuten, dann den mimisclien Ausdruck des Zornes annehmen, hierauf die Gebärde für Kind durch Wiegen des einen Armes auf dem andern ausführen, oder, wenn das Kind anwesend ist, wiederum auf dasselbe hinweisen, und endlich mit der Gebärde des Schiagens den Satz beschließen, also, da Tem- pora und Kasus durch die Gebärde nicht angegeben werden: ,,Mann zornig Kind schlagen". Bezeichnen wir die grammatischen Kate- gorien des Subjekts, des Objekts, des Adjektivums und Verbums durch ihre Anfangsbuchstaben, und deuten wir die Verbindungen der Begriffe durch verbindende Bogenlinien an, so ist demnach die Struktur des Satzes in der Gebärdensprache die nachstehende:

Sie ist in der Stellung von Subjekt und Prädikat übereinstimmend, sonst aber in jeder Beziehung entgegengesetzt der in der Grammatik der modernen Sprachen befolgten Ordnung:

Treten zu dem Verbum noch adverbiale Bestimmungen, so folgt die Gebärdensprache der nämlichen Begel wie bei dem Substantiv: der •adverbiale Begriff steht hinter dem Verbum, zu dem er gehört, wenn er nicht, was gerade bei den abstrakteren Adverbien nicht selten vor- kommt, unmittelbar durch die den Verbalausdruck vertretende Ge- bärde selbst angedeutet wird, indem die Art der Ausführung dieser ein anschauliches Ersatzmittel des Adverbs ist. So wird der Aus- druck: ,,er schlug heftig" durch die energische Bewegung, oder der andere: ,,er schlug oft" durch die mehrmalige Wiederholung des Schiagens wiedergegeben. In manchen Fällen, wenn die Handlung pantomimisch durch Arm und Hand, die nähere Bestimmung durch den mimischen Gesichtsausdruck angedeutet wird, wie in den Ver- bindungen: „er schlug ihn zornig", ,,er winkte ihm freundlich", können sich verbaler und adverbialer Begriff vollkommen simultan begleiten;

Gebärdenfolge der Taubstummen. 221

und das ähnliche kann dann natürlich auch bei dem Substantivum und seinen attributiven Bestimmungen stattfinden. Einen Satz wie diesen: „er redete laut" oder „seine Stimme verbreitete sich weit" würde der Taubstumme so ausdrücken, daß er zuerst die Gebärde des Sprechens, dann eine Bewegung vom Munde aus nach auswärts machte und hierauf mit beiden Händen einen weiten Kreis beschriebe. Ein vollständiger Satz der Gebärdensprache würde also, wenn wir außer den oben angewandten Symbolen noch das Zeichen A' für adver- biale Bestimmungen einführen, folgendermaßen gebaut sein:

S Ä 0 V A'

Dieses Schema der Hauptbestandteile des Satzes verkürzt sich natürlich, wenn einzelne der Unterglieder hin wegfallen. Es kann sich aber auch erweitern, wenn etwa mehrere attributive Bestim- mungen oder mehrere Objektbegriffe die Zusammensetzung steigern. Von besonderem Interesse ist unter diesen Komplikationen diejenige Verbindung zweier Gegenstandsbegriffe, die ein Besitz- oder sonstiges Zugehörigkeitsverhältnis bezeichnet, wie es in der Lautsprache durch den Genitiv ausgedrückt wird. Wo eine solche Verbindung vorkommt, da folgt zumeist der attributive Gegenstandsbegriff nicht, wie die Eigenschaft, dem Hauptbegriff nach, sondern er geht ihm voran. Der Taubstumme sagt also „Mann zorniger", aber ,,der Kirche Turm", entsprechend der in imserer deutschen Wortzusammensetzung ein- getretenen Folge „Kirchturm": er drückt etwa zuerst durch die Zeich- nung eines Daches mit darauf gesetztem Kreuz die Kirche, und dann durch die Erhebung beider Arme mit abermals darüber gezeichnetem Dache den Turm aus. Dabei sind alle diese Kegeln offenbar natür- liche Ergebnisse der Eigenart der Gebärdensprache, nicht im geringsten konventionelle Formen. Sie treten überall in derselben Weise auf, wo Taubstumme untereinander oder mit Hörenden verkehren. Sie befestigen sich aber dann allerdings auch durch den Gebrauch, so daß sie der Taubstumme, der in der Lautsprache unterrichtet wird, nicht selten auf diese überträgt, ebenso wie er noch längere Zeit die Neigung bewahrt, auf Flexionsformen zu verzichten und die Umschreibungen,

222 I^ie Gebärdensprache.

deren die Gebärdensprache bedarf, in der Lautspiache, wo sie über- flüssig sind, anzuwenden. So sagt er etwa im Anfang des Unterrichts: „Lehrer Garten gehen^' statt: ,,der Lehrer ist in den Garten gegangen", oder: „Lehrer klug, schreiben, lesen, arbeiten" statt einfach: „der Lehrer ist klug und fleißig". Statt „der Regen macht das Land frucht- bar" schrieb ein Taubstummer: ,,der Regen fällt, die Pflanzen wachsen", statt ,,ich muß meinen Lehrer lieben und achten" ein anderer ,,ich schlage, betrüge, schimpfe nicht Lehrer, ich liebe und ehre". Neben diesen verdeutlichenden Umschreibungen ist noch lange Zeit der Mangel der Konjunktionen und des Relativpronomens bezeichnend. Die blinde und taubstumme Laura Bridgman schrieb, als sie sich schon des Verbum substantivum bedienen gelernt hatte, noch die Definitionen nieder: ,, Witwe ist Frau, Mann tot und kalt", ,, Jung- gesell nicht haben Weib". Alle diese Erscheinungen zeigen, daß sich in dieser Beziehung die Gebärdensprache nicht anders verhält wie jede andere Sprache. Die eingeübte Sprachform ist nicht bloß ein äußeres Gewand des Gedankens, sondern sie beeinflußt diesen selbst, so daß sie sich zunächst jede neu angeeignete Sprachform Untertan macht 1).

Übrigens können in der Gebärdensprache der Taubstummen von der regelmäßigen syntaktischen Folge auch mannigfache Ab- weichungen stattfinden. Dies gilt schon für die Stellung der Haupt- glieder des Satzes, Subjekt und Prädikat, indem die Prädikatvor- stellung da, wo sie sich mit besonderer Intensität dem Bewußtsein aufdrängt, auch im Ausdrucke dem Subjekt vorangehen kann. Wünscht z. B. der Stumme Wasser zu trinken, so wird er, wenn die Begierde nach dem Trünke sehr lebendig ist, zuerst das Wasser andeuten, in- dem er etwa das Pumpen am Brunnen und das Vorhalten eines Gefäßes nachahmt, dann die Gebärde des Trinkens machen und zuletzt auf sich selbst hinweisen: ,, Wasser trinken ich", also in Zeichen aus-

^) Über die allmähliche Aneignung der Formen der Lautsprache durch Taubstumme während des Unterrichts hat namentlich der selbst taubstumme Kruse eine große Zahl von Beobachtungen gesammelt. (Kruse, Über die Taub- stummen, 1853, S. 56 ff. Vgl. auch Steinthal a. a. O. S. 923 ff.) Über die Sprache der blinden Taubstummen Laura Bridgman vgl. W. Jerusalem, Laura Bridgman, 1890, S. 41 ff.

Gebärdenfolge der Indianer. 223

gedrückt: GVS, nicht S 0 V. Augenscheinlich hat demnach die ge- wöhnliche Folge nicht die Bedeutung eines unabänderlich wirken- den Gesetzes, sondern sie ordnet sich selbst einem allgemeineren psy- chologischen Prinzip unter, nach welchem die Vorstellung, die sich zuerst zur Apperzeption drängt, immer auch zuerst durch die Ge- bärde ausgedrückt wird. Die Folge S Ä O V ist aber offenbar die- jenige, die diesem Prinzipe der bevorzugten Apperzeption am häufigsten entspricht.

2. Gebärdenfolge der Indianer.

Diese Folgerung wird durch die Tatsache bestätigt, daß jene Form der Gebärdensprache, die allein noch in bezug auf ihre Syn- tax durch die Bemühungen der amerikanischen Ethnologen genauer bekannt geworden ist, die der nordamerikanischen Indianer, der Ge- bärdensprache der Taubstummen in jenen Eigenschaften im wesent- lichen gleicht. Diese Übereinstimmung fällt um so mehr ins Gewicht, da die Lautsprachen, die den Verbreitungsgebieten dieser verschiedenen Entwicklungsformen der Gebärdensprache angehören, eine völlig abweichende Struktur besitzen.

Für das Studium der Syntax der indianischen Gebärdensprache bietet die von G. Mallery mitgeteilte Sammlung von Redensarten, Unterredungen und Erzählungen ein reiches Material, aus dem hier nur einige kurze Beispiele angeführt werden sollen^). Um zu fragen, ,,wo ist deine Mutter?" macht der Indianer zuerst die Gebärde für „Mutter", indem er den Zeigefinger der linken Hand in den Mund steckt, ein Zeichen, das in anderer Verbindung auch „Kind" be- deuten könnte, dann durch Hinweisung mit dem rechten Zeigefinger auf den Angeredeten das Zeichen für „du". Hierauf hält er Zeige- und Mittelfinger ausgespreizt vor das Auge und bewegt sie in den Raum hinaus, für ,, sehen". Dann macht er durch eine hinwegweisende Bewegung mit der rechten Hand bei abwärts gekehrter Handfläche das Zeichen für „nicht", und endlich blickt er fragend den Angeredeten

1) Mallery a. a. 0. S. 479 ff.

224 Die Gebärdensprache.

an, indem er sicli rings umsieht: ,, Mutter deine sehen nicht wo?" Der Begriff ,, Mutter" ist offenbar Subjekt dieses Satzes. Daß wir das Wort bei der gewählten Konstruktion in das Objekt verwandeln, ist unwesentlich, wir könnten dem Satz auch die Form geben: ,, deine Mutter wird nicht von mir gesehen, wo ist sie V Demnach ist >S ^ V A' die Ordnung der Begriffe. Zugleich zeigt dieses Beispiel deutlich, wie bei der Gebärdensprache wegen der größeren Unbestimmtheit der einzelnen Zeichen und der daraus entstehenden Gewohnheit, eine Gebärde wenn nötig durch eine andere zu erläutern, das einzelne Zeichen zumeist erst durch den Zusammenhang der Rede seinen Be- griffsinhalt gewinnt. So erhält die erste der angeführten Gebärden die Bedeutung ,, Mutter" erst durch die folgende Hinweisung auf den Angeredeten; in anderm Zusammenhang könnte sie ebensogut heißen: ,,als du ein Kind (eigentlich ein Säugling) warst". Die Schluß- gebärde würde in anderem Zusammenhang auch ,, überall" bedeuten können: durch das Vorangegangene und den begleitenden Gesichts- ausdruck verwandelt sie sich in die Frage ,,wo". Den Satz ,,ich will in zwei Tagen nach Hause gehen" drückte ein Indianer folgender- maßen aus. Zuerst wurden beide Hände mit der Handfläche nach abwärts in der Höhe der Ellbogen horizontal hin und her bewegt und dann die rechte über die linke gelegt: Zeichen für ,, Nacht" (eigentlich eine Verbindung der Zeichen für „Himmel" und ,, Decke"). Hierauf wurden Zeige- und Mittelfinger in die Höhe gehoben: Zeichen für ,,zwei"; mit dem Zeigefinger der Rechten gegen die eigene Brust ge- zeigt: „ich"; nun wies derselbe Finger ausgestreckt auf den Weg hin: ,, gehen". Endlich wurde die geballte rechte Faust gegen den Boden herabbewegt, auf dem der Redende stand: ,, Heimat". Also wört- Uch: ,, Nacht zwei ich gehen Heimat". Seinem Sinne nach läßt sich dieser Satz in zwei Sätze zerlegen, in deren erstem das Prädikat unterdrückt worden ist: ,,zwei Nächte (werden vergehen)" „(dann werde) ich (in meine) Heimat gehen", mit der Begriffsfolge S A (7), S V A'.

Schließlich mag hier als ein etwas verwickelteres Beispiel noch ein Satz aus einer Erzählung eines Mescaleroindianers, zum Volke der Apachen gehörend, angeführt werden. Der Satz lautet in der Übersetzung: ,, Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem

Gebärdenfolge der Indianer. 225

Rang, aber geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mes- caleroindianer gefangen." Die Aufeinanderfolge der Zeichen ist die folgende: 1. „Soldaten": die Daumen werden an die beiden Schläfen gesetzt, die Zeigefinger vorwärts gerichtet, auf der Stirn aneinander stoßend, die übrigen Finger geschlossen (Nachahmung eines soldatischen Mützenschildes), 2. „Haar": Berührung des eigenen Haares, 3. „weiß": Berührung der Zähne, 4. ,, Offizier": Berührung der Spitze der Schulter (Andeutung der Achselstücke), 5. „hochgestellt": Erhebung beider Hände über den Kopf (dieselbe Gebärde wie für Häuptling), 6. ,, töricht" : der Zeigefinger berührt die Stirn und wird dann um Gesicht und Kopf herumgeführt (das übliche Zeichen für närrisch oder dumm), 7. ,,Mes- caleroindianer" : die Hände werden von den Schenkeln zum Körper hinaufgezogen, dann auf die eigene Brust gedeutet (die erste Gebärde Andeutung der Mokassins, der eigentümlichen Fußbekleidung der Indianer, die zweite auf den Stamm des Redenden hinweisend), 8. ,, gefangen": die beiden Hände werden einander genähert, mit den Handflächen einander zugekehrt, dann beide Daumen und Zeige- finger zu einem Kreise geschlossen (zeichnende Gebärde für gefaßt und eingeschlossen). Also: ,, Soldaten (deren) Haar weiß (unter einem) Offizier hochgestellt (aber) töricht die Mescaleroindianer (nahmen) gefangen". Dies entspricht genau der Folge: S Ä O V, nur zerfällt das hier mit dem Symbol Ä bezeichnete Attribut des Subjektbegriffs S in mehrere attributive Bestimmungen von verschiedener Ordnung, für deren Verbindung wieder im wesentlichen die nämlichen Regeln gelten wie für die Hauptbegriffe. Das nähere Attribut zu S (den Sol- daten) ist weißhaarig, nach der Regel S A (Haar weiß) zusammen- gesetzt; das fernere und daher nachfolgende ist der Offizier, zu dem eine entsprechende Präposition hinzuzudenken ist (unter einem Offizier), und dem wieder zwei Attribute (hochgestellt, töricht) nach der Regel S A beigefügt sind. Aus allem diesem erhellt, daß die Gebärdensprache der Indianer in der Aufeinanderfolge der einzelnen Zeichen durchaus mit der Taubstummensprache übereinstimmt.

Wund t, Völkerpsychologie, I. 4. Aufl. 15

226 I^i® Gebärdensprache.

3. Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax.

Daß eine Regelmäßigkeit, die unter so abweichenden Verhält- nissen wiederkehrt, allgemeingültige Ursachen habe, läßt sich nicht wohl bezweifeln. Auch wird man von vornherein zugestehen, daß diese Ursachen psychologische sein müssen, mögen sie nun als solche mit den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungsverlaufs zusammen- hängen, wie man das bei der von Laut- wie Gebärdensprache bevor- zugten Voranstellung des Subjekts vor dem Prädikat wohl vermuten wird, oder mögen sie aus den besonderen Verhältnissen der Gebärden- mitteilung ihren Ursprung nehmen.

Die Syntax der Gebärden läßt sich nun zunächst, wie jede Syn- tax, auf drei Prinzipien zurückführen, die wir kurz als die Prinzipien der logischen, der zeitlichen und der räumlichen Abhängig- keit bezeichnen können. Wirken diese drei in gleichem Sinne, so ist damit auch die Stellung der Begriffszeichen unweigerlich bestimmt. Wirken sie aber, wie es häufig vorkommt, in verschiedenem Sinne, so kann bald der eine, bald der andere Einfluß das Übergewicht ge- winnen. Hierbei ist es nun eine charakteristische Eigenschaft der Gebärdensprache, daß bei ihr die zeitliche und die räumliche Ab- hängigkeit, die wir beide zusammen auch die anschauliche nennen können, von überwiegender Wirkung sind. Diese Eigenschaft läßt sich wieder aus zwei andern unschwer begreifen. Die erste besteht in der sinnlichen Anschaulichkeit und unmittelbaren Verständlich- keit der einzelnen Zeichen, was notwendig auch auf ihre Anordnung herüberwirken muß; die zweite in der im Verhältnis zur Schnellig- keit der Lautsprache sehr viel langsameren Aufeinanderfolge der Zeichen, eine SchwerfäUigkeit der Bewegung, die noch durch die oft sich einstellende Notwendigkeit erläuternder Hilfsgebärden ver- größert wird.

Diese Bedingungen bewirken es, daß gerade diejenige syntaktische Regel, die am meisten die logische Abhängigkeit der Bestandteile des Satzes zur Geltung bringt, die Regel des voranstehenden Sub- jekts, in der Gebärdensprache zwar im allgemeinen befolgt, aber auch am leichtesten verletzt wird. Dabei kommt zugleich in Betracht, daß überall da, wo das Prädikat ein Objekt enthält, dieses durch eine

Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 227

nur unerhebliche Verschiebung der Vorstellungen auch als Subjekt gedacht werden kann, und daß eine Gebärdenfolge, die einem einzigen Satze der gesprochenen Rede äquivalent ist, nicht selten nach dem Sinn des Gedankens angemessener als eine Aneinanderreihung von zwei oder mehr Sätzen betrachtet werden muß. Gerade in solchen Fällen, wo die Stellung des Subjekts zum Prädikat sich umkehrt, wird aber meist eine solche Zerlegung gefordert. So kann wohl der Taubstumme statt der Folge „der Mann der zornige das Kind er schlug" auch die andere wählen: „das Kind er schlug der Mann der zornige". Aber wir können hier ebensogut und wahrscheinlich im Geiste der Gebärdensprache zutreffender interpretieren: „das Kind wurde ge- schlagen, der Mann war zornig". Dem entspricht es in der Tat, daß solche scheinbare Umkehrungen der Stellung von Subjekt und Prädi- kat vorzugsweise in lebhafter, affekterregter Rede vorkommen, unter Bedingungen also, die ebensowohl zur besonderen Betonung und darum Voranstellung der Handlungen, von denen berichtet wird, heraus- fordern, wie zur Zerlegung der Rede in kleinere Teile, deren jeder ein abgeschlossenes, aber rasch vorübergehendes Bild vor die Seele ruft, ganz wie die einzelnen Momente des Affekts selbst rasch einan- der ablösen. Daher diese beiden Eigenschaften, die Voranstellung des Prädikats und der Abfluß der Rede in kleinen, den Zusammen- hang der Gedanken in seine einzelnen Momente zerlegenden Sätzen, auch in der Lautsprache dem Affekt eigen zu sein pflegen. In der Gebärdensprache führt aber, da ihr eine von der syntaktischen Stellung unabhängige grammatische Charakteristik der einzelnen Vorstellungs- zeichen fehlt, die Koexistenz dieser beiden Eigenschaften der affekt- vollen Rede notwendig dazu, daß ein Satz, in welchem das Objekt mit dem zugehörigen verbalen Prädikat voransteht, immer als eine Aufeinanderfolge zweier Sätze mit zwei verschiedenen Subjekten gedeutet werden kann. Dazu tritt noch eine weitere Tatsache für diese letztere Deutung entscheidend ein: die Gebärdensprache kennt die Voranstellimg des Prädikats nur in dem Fall, wo dieses neben dem Verbal- zugleich einen Objektbegriff enthält, der eben als das Subjekt zu jenem gedacht wird. Sie kennt jene Voranstellung nicht bei rein verbalen Prädikaten. So würde es nicht oder doch nur unter besonderen, durch das Vorangegangene gerechtfertigten Bedingungen

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228 Die Gebärdensprache.

möglich sein, zu sagen ,,es schoß der Jäger" statt ,,der Jäger schoß", „es weinte das Kind" statt ,,das Kind weinte". Auch erkennt man leicht, sobald man sich nur den Ausdruck eines solchen Satzes in Ge- bärden vergegenwärtigt, den Grund, aus dem jene in der Lautsprache immerhin nicht seltenen Begriffsfolgen in der Gebärdensprache un- möglich sind. Hier ist es eben das Gebot der Anschaulichkeit, das ihnen um so mehr widerstreitet, je mehr jede einzelne Gebärde durch die Langsamkeit der Aufeinanderfolge in gewissem Grad als eine selbständige Vorstellung aufgefaßt werden muß. Die Bewegungen des Schießens, des Weinens für sich ausgeführt, noch bevor klar ist, auf wen sie bezogen werden sollen, würden gewissermaßen in der Luft schweben. Um überhaupt in ihrem Verhältnis zum Ganzen des Ge- dankens begriffen zu werden, bedürfen sie der Gegenstands vorstellmig, auf die sie sofort bezogen werden können, und die ihnen daher auch in der äußeren Folge der Gebärdezeichen vorangeht.

Wie auf solche Weise die mit der logischen Verbindung der Be- griffe übereinstimmende Stellung der beiden Hauptteile des Satzes im allgemeinen zugleich den Bedingungen der Anschaulichkeit ent- spricht, so ist es nun auch vor allem diese letztere, die alle andern syntaktischen Erscheinungen in der Gebärdensprache beherrscht. Dabei ist das Prinzip der zeitlichen Anschaulichkeit für die Auf- einanderfolge der größeren Zusammenhänge, das der räumlichen für die engeren Verbindimgen innerhalb eines einzelnen Satzes vor- zugsweise bestimmend. Die Gebärdensprache berichtet Ereignisse genau in der Folge, in der sie erlebt wurden. Sie beschreibt Gegen- stände genau in der Ordnung, in der sich ihre Teile der Beobachtung aufdrängen. Darum weiß sie in der Regel nichts von jenen Umstellungen, welche die ausgebildete Lautsprache um bestimmter logischer Zwecke willen vornimmt. Schon der Umstand, daß ihr die abstrakten Wort- formen, besonders die Konjunktionen fehlen, macht es für sie not- wendig, die Zeitbestimmungen durch das einfachste und zugleich anschaulichste Hilfsmittel auszudrücken: dadurch, daß die Zeitfolge der Gebärden eine Nachbildung der Zeitfolge der Ereignisse ist. Zu dieser Folge wird sie aber schon deshalb gedrängt, weil die einzelnen Gebärden in ihren wichtigsten Formen selbst Nachbildungen auf- einander folgender Handlungen sind. So überträgt das Prinzip der

Psychologische Ursachen der Gebärdensyntax. 229

zeitlichen Anscliaulichkeit nur eine Eigenschaft der einzelnen Ge- bärden auf deren Zusammenhang.

In anderer Weise ist dieses Prinzip für die Verbindung der attri- butiven Bestimmungen mit dem Substantivbegriff sowie für die ana- loge Verbindung der Verbalvorstellung mit ihrem Objekt maßgebend. Hier sind die zwei zusammengehörigen Begriffe so eng aneinander gebunden, daß sie in der wirklichen Anschauung überhaupt niemals in zeitlicher Folge apperzipiert werden können. Das Attribut ist im allgemeinen gleichzeitig mit dem Gegenstand; denn es gehört selbst zu den Merkmalen, an denen dieser erkannt wird. Das Objekt ist gleichzeitig mit der Handlung, von der es leidet, und diese ist in dem gegebenen Zusammenhang gar nicht ohne das Objekt zu denken. Nun kann aber die Gebärdensprache noch weniger als die Lautsprache die simultanen Verbindungen der Begriffe durch einen simultanen Ausdruck darstellen. Vielmehr bleiben gerade bei ihr wegen der Lang- samkeit ihrer Zeichenfolge auch die zusammengehörigen Begriffe zeitlich weiter getrennt. Um so mehr ist es daher Bedingung der An- schaulichkeit, daß diejenige Vorstellung vorangeht, die nötigenfalls ohne die andere gedacht werden kann, und daß diejenige nachfolgt, die in der gegebenen Gedankenverbindung der andern bedarf. Alle diese Beziehungen, die attributiven wie die objektiven, lassen sich aber in eine konstantere selbständige und in eine variablere abhängige Vorstellung zerlegen. So ist in der Verbindung „ein großes Haus" das Haus die festere und selbständige, die Größe die variablere und abhängige Vorstellung: das Haus läßt sich noch mit vielen andern Eigenschaften denken, die Größe ist stets an einen Gegenstand, in diesem Fall an das Haus gebunden. Ebenso ist in dem Prädikat des Satzes ,,der Baumeister baut das Haus" wiederum das Haus eine selbständig zu denkende Vorstellung, doch die Handlung des Bauens kann nicht vorgestellt werden ohne den Gegenstand, der gebaut wird. Auf diese Weise sind die beiden Regeln der Stellung des Adjektivs hinter dem Substantiv und des Verbums hinter dem Objekt einer- seits einfache Folgen der realen Koexistenz des Gegenstandes und seiner Eigenschaften, der Handlung und ihres Objekts. Anderseits entspringen sie aus der relativen Langsamkeit der Gebärdenfolge, welche die Forderung mit sich führt, jede einzelne Gebärde sei derart

230 Die Gebärdensprache.

in den Zusammenhang der Rede einzufügen, daß sie für sich allein oder in ihrer Beziehung auf vorangegangene Gebärden unmittelbar verständlich ist. Dies verhält sich in der Lautsprache, in der ein Sub- stantiv und sein Attribut, ein Verbum und sein Objekt im Fluß der Rede vollständig zu einer Worteinheit verbunden sein können, wesent- lich anders. Verbindungen wie mons ingens und ingens mons, puerum laudat und laudat puerum sind beide für unser Denken simultanen Verbindungen äquivalent. Bei der Gebärdensprache, wo sich jeder Begriff selbständiger vom andern abhebt, würde eine Gebärde, die erst durch eine folgende ihre Stellung im Satz erhielte, leicht eine un- erträgliche Hemmung im Flusse der Vorstellungen erzeugen.

Hiernach lassen sich die syntaktischen Eigenschaften der Ge- bärdensprache auf zwei allgemeine Bedingungen zurückführen: erstens auf das in ihr streng festgehaltene Prinzip, daß die einzelnen Zeichen in der Ordnung einander folgen, in der sie in der Anschauung voneinander abhängig sind; und zweitens auf die verhältnismäßig langsame Aufeinanderfolge der einzelnen Zeichen, welche die Forde- rung mit sich führt, daß ein gegebenes Symbol, soweit es nicht an sich selbst deutlich ist, durch vorangehende, nicht erst durch nach- folgende Symbole seine Bedeutung erhält. Sobald diese beiden Postu- late erfüllt sind, kann sich auch noch ein drittes Moment geltend machen : das Bedürfnis, diejenigen Vorstellungen zuerst auszudrücken, die mehr als andere affektbetont sind. Eine wichtige Hilfe, diesem Be- dürfnis zu genügen, ohne die Bedingungen der Anschaulichkeit und der Verständlichkeit zu verletzen, besteht aber für die Gebärden- sprache darin, daß sie einen zusammenhängenden Gedanken in mehrere einzelne Sätze gliedert. Besonders erreicht sie hierbei einen der Voran- stellung des Prädikats äquivalenten Erfolg dadurch, daß sie aus dem verbalen Prädikat und seinem Objekt einen selbständigen Satz bildet, zu dessen Subjekt nun jenes Objekt wird. Damit hängt zusammen, daß überhaupt in der Gebärdensprache alle solche Unterscheidungen, die auf der feineren Gliederung und Periodisierung der Rede beruhen, hinfällig werden. Ein zusammengesetzter Satz wird darum in ihr stets zu einer Aufeinanderfolge mehrerer einfacher Sätze.

Urspining der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 231

V. Psychologische Entwicklung der Gebärden- sprache.

1. Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucks- bewegungen.

Die Gebärdensprache ist ein natürliches Entwicklungsprodukt der Ausdrucksbewegungen; und sie ist, mindestens in dem Umfang und in der Ausbildung, in der sie den Entwicklungsformen der Laut- sprache an die Seite gestellt werden kann, ein spezifisch mensch- liches Erzeugnis. Die höheren Tiere zeigen zwar eine Fülle charakte- ristischer Ausdrucksbewegungen, die denen des Menschen in ihren allgemeinsten Eigenschaften verwandt sind. Doch von allem dem, was die menschliche Gebärdensprache erst zu einer eigentlichen Sprache macht, von der Entwicklung verschiedener Grundformen der Gebärde, von den Übertragungen der Bedeutung und dem Bedeutungswandel, endlich von einer nach bestimmten Gesetzen geregelten syntaktischen Ordnung kann dort nirgends die Rede sein.

Ein Zeugnis für diese niedrigere Stufe der Gebärdenentwicklung bei den Tieren liegt schon darin, daß diejenige Gebärdeform, die beim Menschen überall als die urspünglichste erscheint, und die daher noch beim Kinde am frühesten in spontaner Entstehung beobachtet wird, die hinweisende, beim Tiere kaum vorkommt oder höchstens auf einer Art Zwischenstufe zwischen der ursprünglichen Greifbewegung und der hinweisenden Bewegung stehen geblieben ist. So namentlich auch bei dem durch den Bau seiner Hände zu Greifbewegungen ganz besonders veranlagten Affen ^).

Ähnlich verhält es sich mit der Klasse der darstellenden Ge- bärden. Sie haben in den nachahmenden Ausdrucksbewegungen ihre natürliche Grundlage. Aber der große Schritt, durch den jene allgemein im Tierreich verbreiteten imitativen Bewegungen, bei denen ein Wesen die Handlungen eines andern ihm ähnlichen nachahmt, in Nachahmungen beliebiger objektiver Handlungen über- gehen, ist erst innerhalb der menschlichen Entwicklung getan worden ;

1) Vgl. oben Kap. I, S. 136 f.

232 Die Gebärdensprache.

und erst aus dieser letzteren Form können naturgemäß die in der Gebärdensprache vorkommenden verscliiedenen Arten darstellender Gebärden entspringen. Unter diesen stehen die nachbildenden den gewöhnlichen nachahmenden Affektäußerungen am nächsten. Was sie von diesen scheidet, ist nur die Entwicklung, die sie unter dem Einfluß der Wechselwirkung der Individuen erfahren. Indem die Affektäußerung von dem, an den sich der Affekt richtet, auf seinen Urheber zurückgeht, verändert sie zugleich ihren Inhalt, und indem diese Veränderung auch die Vorstellungsinhalte des Affekts, ja diese wegen der größeren Mannigfaltigkeit, die sie innerhalb einer und derselben Grundstimmung zulassen, ganz besonders trifft, wird allmählich jene hin und her gehende Bewegung des Gebärdenspiels zu einem Austausch der im Bewußtsein der Einzelnen hervortreten- den Vorstellungen. Zunächst erheben sich noch diese Vorstellungen innerhalb einer und derselben Grundstimmung. Dann tragen sie durch die Rückwirkung des Vorstellungswechsels auf die Gefühle die Macht in sich, auch den Gefühlsinhalten der Affekte eine veränderte Rich- tung zu geben. Der ,, Mitteilungstrieb" ist daher ebensowenig eine einheitliche psychische Kraft wie der ,, Nachahmungstrieb", sondern ein notwendiges Produkt des Wechsel Verkehrs der Individuen. Asso- ziieren sich bei dem Nachahmungstrieb mit den Ausdrucksbewegungen des einen in einem andern die zugehörigen Gefühle, aus denen nun die gleichen Ausdrucksbewegungen entstehen, so geht der ,,Mitteilungs- trieb" unmittelbar aus der Gefühlswirkung hervor, welche die Wahr- nehmung dieser sympathischen Affektwirkung begleitet. Denn die Gefühlswirkung wird nun zum impulsiven Motiv, gleiche Affekt- äußerungen des andern hervorzurufen; und damit verbindet sich dann von selbst auch die Mitteilung der den Affekt begleitenden Vor- stellungen. Bei der Wiederholung des Vorgangs kann diese Mitteilung allmählich selbst zum Motiv werden. Je mehr das geschieht, um so mehr gesellen sich aber, wie wir vermuten dürfen, zu den hinweisenden nachahmende Bewegungen. Auf solche Weise sind die letzteren wahr- scheinlich ebensosehr Produkte der entstehenden Gebärdenmitteilung, wie sie anderseits selbst diese erst in ihrer vollkommeneren Ausbildung möglich machen. So geht aus der absichtslos dem Affekt entströmen- den Vorstellungsäußerung im Wechselverkehr der Einzelnen die trieb-

Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 233

artige Mitteilung und dann aus dieser, indem der Handelnde die Er- folge seines Tuns auf sich wirken läßt, schließlicli die willkürliche Mitteilung durch Gebärden hervor. Dabei bleibt aber die Grenze zwischen der ursprünglichen, sich selbst genügenden Äußerung und der später entstandenen, von dem Willen zur Wirkung auf andere getragenen fortan eine fließende. Selbst in der voll entwickelten Ge- bärdensprache ist daher die willkürlich nur zum Zweck der Mitteilung ausgeführte Bewegung auf einzelne Momente beschränkt, zwischen denen sich ganz in der ursprünglichen Weise der Affektäußerung die Gebärden nach rein gefühlsmäßigen Impulsen aneinander schließen.

Mit dem Übergang der nachahmenden Ausdrucksbewegungen in Bestandteile einer zusammenhängenden Gebärdenäußerung ist nun aber auch der Anlaß zur Entwicklung verschiedener formen von Gebärden gegeben, die in der allgemeinen Eigenschaft, durch irgendein dem Gesichtssinn wahrnehmbares Bild die entsprechende Vorstellung zu erwecken, den ursprünglichen nachahmenden Bewegun- gen gleichen, während sie doch dem wachsenden Reichtum der Vor- stellungen und ihrer Verbindungen sich anpassen. Unter den so ent- standenen Gebärdeformen stellt die zeichnende die direkte, im wesent- lichen unverändert gebliebene Fortsetzung der reinen Nachahmungs- bewegung dar : sie hat ganz den dieser Ursprungsform eigenen Charakter rasch vorübergehender Bewegungen beibehalten, wie sie der Natur des Affekts entspricht; und zugleich deutet sie immittelbar das Ob- jekt oder die Handlung selbst an. Von dieser Ursprungsform aus divergiert nun die Entwicklung nach zwei Richtungen. Auf der einen Seite regt sich, indem der begleitende Affekt schwächer wird, der Trieb nach dauernderer Festhaltung einer dem Auge einzuprägen- den Form. Aus diesem Motiv entspringt die plastische Gebärde. Sie setzt unbedingt voraus, daß sich die ursprüngliche Affektgrund- lage der Bewegungen ermäßigt hat. Denn der Affekt treibt um so mehr, je intensiver er ist, zu rasch vorübergehenden Bewegungen. Plastische Gebärden fordern überdies zumeist eine gewisse Überlegung, und sie beruhen darum auch viel häufiger als die zeichnenden in ihren eigentümlichen Bedeutungen auf konventioneller Geltung. Auf der andern Seite entwickelt sich aus der zeichnenden die mitbezeich-

234 Die Gebärdensprache.

nende Gebärde. Sie entstellt, sobald das Bedürfnis erwacht, Gegen- stände oder Handlungen auszudrücken, die durch eine Umrißzeich- nung nicht oder nur unsicher festgehalten werden können, während sich bei ihnen charakteristische Nebenmerkmale der zeichnenden Nachbildung darbieten. Die mitbezeichnende Gebärde liegt daher genetisch der nachahmenden in ihrer ursprünglichen Gestalt wahr- scheinlich näher als die plastische Nachbildung. Aber in der isolieren- den Aufmerksamkeit auf einzelne Eigenschaften, die sie fordert, in dem Streben, ein zur Verständigung dienliches Merkmal herauszu- greifen, verrät doch auch sie eine wachsende Ermäßigung des Affekts und einen zunehmenden Einfluß der Reflexion.

Die letzte Stufe der Entwicklung bezeichnen endlich die sym- bolischen Gebärden. Hierher gehören zunächst die früher (S. 202 f.) erwähnten ursprünglichsten Fälle assoziativer Übertragung von einer sinnlichen Vorstellung auf eine andere. Bei ihrer weiteren Entwick- lung werden dann aber die symbolischen Gebärden für Begriffe an- gewandt, die überhaupt nicht durch ein bestimmtes Bild darstellbar sind, für die also eine zeichnende oder plastische Bewegung nur noch die Bedeutung einer stellvertretenden Vorstellung hat. Eine solche Stellvertretung ist im Gebiet der natürlichen Gebärdensprache nur dadurch möglich, daß eine psychologische Verwandtschaft zwischen dem Begriff und der stellvertretenden Vorstellung besteht. Dadurch unterscheiden sich zugleich die natürlichen Symbole von den künst- lich erfundenen, bei denen jene Beziehung auf willkürlicher Überein- kunft beruht. Indem nun die symbolischen Gebärden auch in ihrer natürlichen Form bereits auf verwickeiteren psychologischen Be- dingungen beruhen, ist es begreiflich, daß sich in vielen Fällen die Grenzen zwischen natürlicher Entstehung und willkürlicher Erfindung verwischen. Im allgemeinen wird es aber als nächstes Kriterium natür- licher Entstehung eines Symbols gelten können, wenn sich ein be- stimmtes sinnliches Bild so unmittelbar für einen Begriff bietet, daß zunächst überhaupt kein deutliches Bewußtsein der Verschieden- heit von Bild und Bedeutung besteht. In zweiter Linie werden dann noch diejenigen Symbole als natürlich entstanden zu betrachten sein, die aus solchen primären auf dem Weg einer einfachen Bedeu- tungsentwicklung hervorgehen. Hiernach sind primäre symbolische

Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 235

Gebärden vor allem jene, die aus hinweisenden entstanden sind, wie die Andeutung der Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch räumliche Richtungen (S. 169 f.). Die Assoziation ist hier um so inniger, da eigentlich auch das Räumliche ohne beglei- tende zeitliche Eigenschaften nicht vorgestellt werden kann. Die hinweisende Bewegung bezeichnet daher in ihrer ursprünglichsten Bedeutung immer zugleich ein Gehen in der angegebenen Richtung, demnach einen zeitlich-räumlichen Vorgang.

Untei? den aus nachbildenden Gebärden entstandenen Sym- bolen stehen diesen einfachsten Assoziationen jene am nächsten, bei denen geistige Eigenschaften, wie Herrschaft, Mut, durch ent- sprechende physische, wie Körpergröße, Muskelkraft u. dgl., aus- gedrückt werden. Den Häuptling oder Herrscher als den großen Mann, den Mutigen als den starken zu bezeichnen, liegt dem Naturmenschen darum nahe, weil der Anführer im Kriege wirklich durch Körpergröße hervorzuragen pflegt, und weil er den Mut nur verbunden mit phy- sischer Kraft kennt. Von diesen Assoziationen aus bilden sich dann andere, bei denen zwischen das sinnliche Zeichen und seine Bedeutung mannigfache Zwischenglieder treten. Wird die Wahrheit durch eine geradlinige, die Lüge durch eine schräge Bewegung vom Mund aus bezeichnet, so scheint die Vorstellung der direkten Bewegung auf das Ziel und der Abbiegung von demselben von der Handlung des Gehens auf die des Redens übertragen zu werden. Aber auch hier entspringt diese Übertragung wohl aus einer direkten Assoziation der Vorstellungen, und sie wird darum von dem naiven Denken zugleich als Wirklich- keit empfunden. Der Lügner, wie er den Blick scheu an dem Getäusch- ten vorübergehen läßt, wagt auch seine Worte diesem nicht direkt ins Angesicht zu sprechen, sondern er redet an ihm vorbei. Wenn ferner die Umfangsverhältnisse der Finger auf moralische Qualitäten übertragen werden, der Daumen also ,,gut", der kleine Finger ,, schlecht" bedeutet, so muß man sich erinnern, daß für den Naturmenschen überhaupt physische Stärke und moralische Tüchtigkeit, physische Schwäche imd niedrige Gesinnung zusammenfallen. Ursprünglich liegt also hier wiederum die Symbolik nicht sowohl darin, daß die moralischen durch physische Eigenschaften, als darin, daß über- haupt Personen durch emporgestreckte Finger versinnlicht werden.

236 Die Gebärdensprache.

Aber auch diese weit verbreitete Symbolik führt auf eine einfachere, noch nicht symbolisch empfundene Assoziation zurück. Wie der Zeigefinger die Person, auf die er hinweist, unmittelbar dadurch an- deutet, daß er den Blick auf sie lenkt, also ein Hilfsmittel ist, um den Gegenstand durch sich selbst vertreten zu lassen, so kann, wenn be- begünstigende Bedingungen hinzukommen, auch die abwesende Person noch durch den ausgestreckten Finger bezeichnet werden, sobald die Umstände eine ähnliche Ergänzung durch die Assoziation mit dem Erinnerungsbilde bedingen. Eine häufige Ursache zur Entstehung einer solchen Erinnerungsassoziation liegt in der Vorstellung einer bestimmten Anzahl von Personen, wo die in entsprechender Anzahl emporgereckten Finger nun die erforderlichen Assoziationen erwecken und zunächst jeder Finger auf eine bestimmte einzelne Person bezogen wird. Indem diese hinzugedachten Vorstellungen allmählich ver- blassen, werden dann die Finger zu eigentlichen Zahlsymbolen: sie repräsentieren jetzt irgendwelche zählbare Gegenstände, während sie vorher nur regelmäßig assoziierte Hilfsvorstellungen gewesen waren, neben denen die hinzugedachten Gegenstände selbst ins Bewußtsein traten. Aus dieser Zeit, wo das stellvertretende Zeichen noch nicht von seinem Gegenstande gesondert war, haben sich ohne Zweifel die besonderen Beziehungen erhalten, die den verschiedenen Fingern und ihren Kombinationen in der ausgebildeten SymboHk der Gebärden beigelegt werden. So war es, nachdem einmal der Zeigefinger durch Assoziation mit einer abwesenden Person für diese eine repräsen- tative Bedeutung erlangt hatte, nur noch ein kleiner Schritt zur Be- zeichnung zweier regelmäßig verbundener Genossen, Brüder, Ehe- gatten oder Kriegsgefährten, durch emporgereckten Zeige- und Mittel- finger. Und nachdem dies vollbracht war, konnte dann leicht noch der weitere Schritt geschehen, die Innigkeit der Verbindung selbst durch die Verschlingung der zwei Finger auszudrücken (l Fig. 32, S. 197). Auch hier darf man annehmen, daß für die ursprüngUche Anschauung Symbol und Wirklichkeit ineinander flössen, indem zu der Gebärde die sinnliche Bedeutung, die sie ausdrückte, unmittel- bar assoziiert wurde. War nun aber einmal, wie es im Laufe der Zeit geschehen mußte, jene assoziierte Vorstellung, die in allen diesen Fällen das in der Gebärde sich darstellende Bild zur Wirklichkeit

Ursprung der Gebärdensprache aus den Ausdrucksbewegungen. 237

erhob, bis zur Unbestimmtlieit verdunkelt, dann konnte zwar noch unter günstigen Umständen der einstige Sinn der Gebärde erfaßt werden, um so mehr mußte sich jedoch, eben weil die Assoziation zurücktrat, der Unterschied zwischen der ursprünglichen und der neuen Bedeutung hervordrängen. Damit war dann der Weg von der unter Mithilfe von Assoziationen indirekt nachbildenden zu der im engeren Sinne symbolischen Gebärde vollständig zurückgelegt.

Eine weitere Komplikation, die den Übergang der vorbereiten- den Zwischenstufen in symbolische Gebärden wesentlich begünstigt, besteht darin, daß verschiedene Symbole aufeinander einwirken und auf diese Weise gemischte symbolische Gebärden erzeugen, bei denen infolge der Verbindung der Motive die Assoziation mit der einstigen sinnlichen Bedeutung vollständig verschwinden kann. Ein charakte- ristisches Beispiel dieser Art ist die Gebärde für „Falschheit" (S. 195, Fig. 31 g), die sich einerseits aus der für Freundschaft, Vertrauen und ähnliche Begriffe vorkommenden (Fig. 32 l) und anderseits aus der Symbolisierung entgegengesetzter Wertbegriffe durch die Größen- unterschiede der Finger erklärt. Ebenso fehlt natürlich die unmittel- bare sinnliche Anlehnung in solchen Fällen, wo die Gebärde selbst nur ein anderwärts, aus der bildlichen Darstellung oder aus der Sitte entlehntes Symbol ist, wie bei der Drehung einer Nase zum Zweck der Verhöhnung (S. 194), bei dem Symbol der „Gerechtigkeit" (Fig. 31 e), bei dem Zeichen der Indianer für „Tausch" oder „Handel" (Fig. 32 m) und in vielen andern Fällen.

Der Vorgang der Entwicklung symbolischer Gebärden stellt sich hiernach, solang er sich rein im Gebiet der Gebärdenmitteilung selber vollzieht, als eine durch Assoziationen vermittelte Ver- schiebung der Vorstellungen dar, die durch allmähliche Ausschaltung einzelner Assoziationsglieder infolge ihrer Verdunklung im Bewußtsein eintritt. Solange hierbei alle wirk- samen Assoziationsglieder einigermaßen lebendig sind, bleibt die Symbolik eine latente, da das Symbol und seine Bedeutung noch vollständig zusammenfallen oder so eng verbunden sind, daß das symbolische Zeichen als ein Teil der Vorstellung des Gegenstandes selbst betrachtet wird. Dagegen wird es als Symbol, dabei aber als ein natürliches, dem Gegenstand durchaus adäquates aufgefaßt, wenn

238 I^i® Gebärdensprache.

einzelne Assoziationsglieder aus dem Bewußtsein verschwunden sind, wäkrend das Gefühl der Verbindung und die entsprechende Analogie der Vorstellungen noch erhalten blieben. Der Übergang in rein kon- ventionelle Gebärdensymbole kann dann von hier aus entweder durch weitere Verdunklung der Assoziationsglieder oder durch die Verbin- dung verschiedener Zeichen, oder endlich durch Aufnahme von außen als Nachbildung symbolischer Gebräuche sowie gewisser Zeichen der Bilderschrift erfolgen.

2. Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst.

Wie die Hände als Greiforgane durch die im Gefolge der psychi- schen Entwicklung eingetretene Abschwächung einzelner Greif - bewegungen zu Hilfsmitteln hinweisender Gebärden geworden sind, so dürfen wir wohl ihre Beteiligung an den verschiedenen Formen darstellender Gebärden mit jener vollkommeneren Tätigkeit dieser Greif Organe in Beziehung bringen, die zur Verfertigung künst- licher Gegenstände aus Materialien der Umgebung fortgeschritten ist. Das einmal geschaffene Werk wird dann weiterhin zum Vorbild, das zum Nachschaffen anregt. Diese nachbildende Tätigkeit be- schränkt sich aber allmählich nicht mehr auf die Gegenstände und Verrichtungen, die den Lebensbedürfnissen dienen, sondern sie geht zur Nachbildung von Gegenständen der Natur selbst über. Jline solche mag gelegentlich dadurch entstanden sein, daß planlos in Stein oder Fels gezeichnete Striche eine zufällige, durch reproduktive Assimi- lationen gesteigerte Ähnlichkeit mit Gegenständen annahmen, worauf dann erst eine spontanere Nachahmung einsetzte^). In andern Fällen mag wohl auch die Erinnerung an das Gesehene unmittelbar dessen Nachbildung angeregt haben. Für eine solche primäre Nachbildung spricht, daß besonders Höhlenzeichnungen ohne solche Spuren voraus- gegangener zufälliger Motive aufgefunden worden sind. Hier ist das Halbdunkel der von der Außenwelt abgeschiedenen Höhle vorzugs- weise geeignet, Erinnerungs- und Phantasiebilder wachzurufen, die nun auf die Wand übertragen werden. Manche dieser Bilder mögen

^) Th. Koch- Grünberg, Südamerikanische Felszeichnungen, 1907i

Die Gebärde und die Anfänge der bildenden Kunst. 239

eine kultische Bedeutung besitzen; andere tragen, indem sie, wie einzelne Höhlenbilder der Buschmänner, prägnante Szenen aus dem Leben darstellen, offenbar einen primitiven Denkmalscharakter an sich. Dafür spricht auch die Tatsache, daß solche Höhlenzeichnungen bei den Buschleuten geflissentlich während langer Zeit geschont werden^).

Auf diese Weise treten die verschiedenen Formen nachbildender Gebärden in enge Beziehungen zu den Anfängen der bildenden Kunst. Ist doch die zeichnende Gebärde gewissermaßen eine ur- sprünglichste Form der zeichnenden Kunst, welche nicht an einem dauernden Material geübt wird, sondern in flüchtigen Bewegungen besteht, die an den Gegenstand erinnern, indem sie ein Bild desselben in dem Zuschauer hervorrufen. Dabei ist freilich der Umkreis der Zwecke des künstlerischen Schaffens von Anfang an ein ungleich weiterer. Gerade auf primitiver Stufe verbindet sich mit jener Fixie- rung eines Erinnerungsbildes in dauerndem Material überhaupt noch nicht die Absicht einer Mitteilung an andere, sondern es wirken ent- weder bloß der Trieb, das im Bewußtsein festgehaltene Bild zu ob- jektivieren, und die Lust an der diesen Trieb befriedigenden Tätig- keit; oder es verbinden sich damit Motive des Zauberkultus: dem Gegen- stand werden zauberische Wirkungen zugeschrieben, die sich auf das Bild übertragen. Auch darin besteht eine gewisse Analogie der Ge- bärde mit den Erzeugnissen der bildenden Kunst, daß Merkzeichen von einfach hinweisender Bedeutung, die freilich an sich noch nicht dem Gebiete der Kunst angehören, den Objekten der bildenden Kunst wahrscheinlich lange vorausgehen, und daß unter diesen wieder die Zeichnung früher ist als das plastische Kunstwerk, ähnlich wie die zeichnende erheblich früher als die plastische Gebärde ist. Zugleich entfernen sich die Erzeugnisse der primitiven plastischen Kunst meist weiter als die der zeichnenden von der Wirklichkeit, ganz wie das von der plastischen gegenüber der zeichnenden Gebärde gilt. Diese ent- wirft freilich nur ein flüchtiges und unvollkommenes Bild; aber sie bemüht sich doch, die Wirklichkeit so treu wie möglich wiederzu-

^) Moszeik, Die Malereien der Buschmänner in Südafrika, 1910, S. 15 ff. Vgl. auch Bd. S^ (Kunst), Kap. II, S. 178 ff.

240 I^ie Gebärdensprache.

geben. Die plastische dagegen ist in ihrer mimischen Form meist ein absichtlich übertreibender Gesichtsausdruck; und wo sie in der plastischen Formung der Hände besteht, da rechnet sie auf die Phan- tasie des Beschauers, woraus sich denn auch wohl erklärt, daß die Mehrzahl der symbolischen Gebärden dieser plastischen Form an- gehört. Ebenso entspringt bei der ursprünglichen Zeichnung die Ab- weichung von der Wirklichkeit in der Kegel nur aus der Un Vollkommen- heit der Kunstübung, nicht aus der Absicht etwas zu erzeugen, was wirklich von der Natur verschieden ist. Das plastische Bild dagegen regt von frühe an zu übertreibenden Umgestaltungen oder Kombi- nationen von Natur formen an. Dabei mag gelegentlich das verwendete Material, der Baumstumpf oder Felsblock, aus dem die Form gebildet wird, selbst schon gewisse Ähnlichkeiten mit Menschen- oder Tier- formen bieten, die als groteske Umgestaltungen erscheinen und so die Phantasie zu weiteren herausfordern. Zudem spielt hier wohl der Zauberzweck, dem von frühe an gerade das plastische Werk zu dienen pflegt, eine bedeutsame Rolle, wie dies besonders die furchterregenden Gesichtsmasken zeigen, deren sich aller Orten die Medizinmänner und Schamanen bedienen. Naturgemäß wird dann freilich diese phan- tastische Übertreibung und Umformung auch wiederum von der Plastik auf die Zeichnung übertragen. Auf einer gewissen Mittelstufe primitiver Kultur, wie sie etwa in der Kunstübung der nordameri- kanischen Indianer vertreten ist, findet sich so in den Zeichnungen und Malereien eine eigentümliche Mischung beider Motive. Auch ihr entspricht aber wieder der Reichtum an symbolischen Übertragungen in der Gebärdensprache dieser Stämme.

3. Gebärdensprache und Bilderschrift.

Die Schrift in der engeren Bedeutung dieses Wortes, als ein System von Gesichtszeichen, welches die Lautgebilde der Sprache festhält und so ihre Mitteilung in unbestimmte Fernen des Raumes und der Zeit möglich macht, liegt außerhalb der Grenzen, die hier der völker- psychologischen Betrachtung gezogen sind. So starke Wirkungen auch die Schrift auf die Sprache der Kulturvölker ausgeübt hat, so

Gebärdensprache und Bilderschrift. 241

gehört sie selbst doch durchaus dem Umkreis technischer Erfindungen an, die in dem allgemeinen Kulturmedium, in welchem sich die spätere Entwicklung der Sprache vollzieht, einen nicht hinwegzudenkenden Wert besitzen, selbst aber, ebensogut wie die geschichtlichen Sonder- entwicklungen der Kunst und Literatur, der Kleidung und Wohnung usw., über die Grenzen des rein Psychologischen in die Gebiete der allgemeinen Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte hineinreichen. Nur in einer Beziehung bleibt hier, ähnlich wie in den andern zu den historischen und philologischen Sondergebieten gehörenden Erschei- nungen, eine diesen bis zu einem gewissen Grade mit der Völker- psychologie gemeinsame Aufgabe in den Problemen bestehen, die dem Übergang der allgemeingültigen psychologischen Motive in solche spezifische Kulturgüter angehören. Ein Grenzgebiet dieser Art ist im vorliegenden Fall die unter dem Zusammenwirken der sprach- lichen Gedankenäußerung und der primitiven Kunstübung entstehende Bilderschrift. Zunächst selbst noch zwischen natürlichem Aus druck des Denkens und willkürlicher Kunstübmig mitteninne liegend, besitzt sie in dem Stadium, in welchem sie in den sprachlichen Ver- kehr eingreift, ähnlich der Gebärde, einen ungleich allgemeingültigeren Charakter als die spätere, unter dem Einfluß willkürlicher Erfindung stehende Schrift. Zugleich hat sie in dieser Beziehung eine vorbild- liche Bedeutung für alle andern in ähnlicher Weise auf der Grund- lage allgemeiner geistiger Anlagen und Triebe aus der erfinderischen Tätigkeit Einzelner hervorgegangenen Kultur er Zeugnisse. Sie alle sind auf einer natürlichen Grundlage erwachsen. In diesem Sinne ist die Bilderschrift ein völkerpsychologisches, die Schrift in ihren ein- zelnen, der erweiterten Mitteilung durch die Lautsprache dienenden Formen ein spezifisch kulturhistorisches Phänomen. Als ein Produkt aus sprachlichem Mitteilungstrieb und primitivem künstlerischem Schaffen ist sie aber der Gebärdensprache verwandt, die nur ihrer allgemeinen Bedeutung nach als ein noch primitiverer, in ihren frühesten Äußerungen der natürlichen Ausdrucksbewegung näherstehender Er- satz der Lautsprache durch sichtbare Zeichen betrachtet werden kann.

Diese Beziehung des Bildzeichens zur Gebärde spricht sich nun auch darin aus, daß dort wie hier hinweisende und darstellende

W u a d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^"

242 I^iö Gebärdensprache.

Zeichen einander gegenüberstehen. Freilich trennt bei den Bildzeichen beide Arten der Symbole nicht bloß ein wahrscheinlich viel längerer Zeitraum, sondern sie weichen auch in ihrer qualitativen Beschaffen- heit weit mehr voneinander ab. Zwar sind schon bei dem Kinde neben den ursprünglichen Greifbewegungen sehr früh hinweisende Hand- und Fingergebärden zu beobachten, während malende Zeichen einer wesentlich späteren Zeit angehören. Aber beide stehen hier doch einander näher, so daß sie sich unmittelbar miteinander verbinden können. So drückt das Kind etwa den Wunsch, von der Wärterin aufgenommen und geschaukelt zu werden, durch wiederholtes rhyth- misches Heben und Senken seiner gegen sie ausgestreckten Arme aus. Die demonstrativen Symbole der Naturvölker dagegen, die als die ersten Vorläufer der Bilderschrift gelten können, gehören über- haupt einer andern Gattung objektiver Merkzeichen an. Ein ge- knickter Zweig deutet etwa dem später Kommenden den Weg an, den ein Vorausgehender eingeschlagen hat, oder quer über den Weg gelegt warnt er vor dem Begehen desselben. Andere Wegzeichen, die sich da und dort noch bis in unsere Tage erhalten haben, sind in den Weg gelegte Steine, in den Sand gezeichnete oder auf Stein ge- ritzte Pfeile usw. 1). Solche Wegmarken sind, wie Vierkandt richtig bemerkt hat, offenbar nicht sowohl Erfindungen als Nachbildungen zufällig vorgefundener Gegenstände, die der Wandernde zuerst zu seiner eigenen Orientierung benutzt hat. Ist die natürhche Wegmarke erst einmal zum Hilfsmittel der Mitteilung an andere geworden, so kann sie sich dann aber gelegentlich auch schon mit einem Bildzeichen verbinden. So kann etwa ein in den Sand gezeichneter Fisch als Weg- marke dienen, um die Genossen auf eine zum Fischfang günstige Stelle aufmerksam zu machen^). Doch die planmäßigere Verwendung des gezeichneten Bildes zur Mitteilung knüpft in der Regel erst an jene fortgeschritteneren Gebilde zeichnender Kunst an, welche auf Fels- wänden und in Felshöhlen, die als Zufluchtsstätten dienen, zunächst

1) G. Mallery, First Report of the Ethnol. Bureau, Washington, 187&— 80. A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel, 1908, S. 49.

2) K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens, 1897. S. 232.

Gebärdensprache und Bilderschrift. 243

ebenfalls ohne Absicht der Mitteilung entstanden sind, aber doch im Gegensatz zu den natürlichen Wegmarken von hinweisender Be- deutung bereits eine gewisse Kunstübung voraussetzen. Eben darum trennt mm aber eine ziemlich weite Strecke der Entwicklung primi- tiver Kultur jene hinweisenden Zeichen von den Bildern, die als Äqui- valente darstellender Gebärden dienen. Auch ist der Weg, der zwischen der primitiven Kunst als solcher und ihrer Verwendung zur Mitteilung liegt, offenbar ein weit größerer als bei den zufällig vorgefundenen Wegmarken. Mag nun das Bild zunächst noch ganz aus dem Trieb des in seiner Felsklause sitzenden primitiven Künstlers entstanden sein, sich die Tiere, denen er als Jäger nachstellt, oder vor denen er Schutz sucht, lebendiger zu vergegenwärtigen, als es das bloße Er- innerungsbild vermag, oder mag sich auf einer etwas späteren Stufe der magische Eindruck, der dem Gegenstand anhaftet, auf sein Bild übertragen und dieses zum Objekt eines primitiven Zauberkults machen, beide Motive liegen noch weit von der Bilderschrift entfernt. Eben- sowenig lassen sich aber die Produkte dieser zeichnenden Kunst als Erzeugnisse eines Spieles der Phantasie betrachten, das nur um seiner erfreuenden Wirkung willen geübt werde. Die primitive Kunstleistung mag erfreuen, nachdem sie da ist, aber wo sie überhaupt noch nicht existiert, da kann sie auch keine lusterregende Wirkung ausüben. Was ihr dagegen von frühe an eigen ist, das ist der Trieb, die Affekte in ihren natürlichen Ausdrucksformen der mimischen und panto- mimischen Bewegungen kundzugeben. Hier sind es insbesondere die pantomimischen Affektäußerungen, die belebend und verstärkend auf die Vorstellungsinhalte der Affekte selbst zurückwirken. Wie der primitive Tiertanz die Bewegungen der Tiere nachahmt, weil ihr Erinnerungsbild die gleichen Affekte wachruft, die das Tier selbst erregte, so ist auch die Zeichnung zunächst nur ein Ausdruck der lebendigen, durch pantomimische Mitbewegungen sich verstärkenden Erinnerung an den Gegenstand. Und wie der Tanz erst durch das lebendige Spiel der rhythmischen Bewegungen die an diese gebun- denen Lustgefühle erweckt, so kann das Wohlgefallen, das sich an die ersten Übungen der zeichnenden Kunst knüpft, nicht die Ursache ihrer Entstehung, sondern nur eine Folgewirkung sein, die dann aller- dings, einmal entstanden, auf ihre Weiterbildung fördernd einwirkt.

16*

244 I^iß Gebärdensprache.

So stehen sicli der Tiertanz und die Tierzeichnung als natürliche Aus- drucksformen gegenüber, in denen sich das Leben des primitiven Jägers spiegelt: beim Tanz in der Rückwirkung des erinnerten Bildes auf den eigenen Körper, bei der Zeichnung in dem Trieb das erinnerte Bild in der Anschauung festzuhalten. Darum ist es nicht bedeutungs- los, daß allem Anscheine nach die Felshöhle die früheste Stätte zeich- nender Kunst ist. Sie macht die pantomimische Selbstdarstellung des innerlich Geschauten am eigenen Körper unmöglich; um so mehr drängt sie dazu, das durch die Pantomime in die Luft gezeichnete flüchtige Bild auf dauerndem Material zu fixieren. Danach ist jene primitive Form der Pantomime, die Tiernachahmung, der entsprechenden Form der Zeichnung, dem Tierbild, lange vorangegangen, und zwischen diesem und seinem Übergang in einer Bilderschrift liegt abermals ein großer, wahrscheinlich durch verschiedene Stufen eines sukzessiven Bedeutungswandels vermittelter Zeitraum. Das gezeichnete Bild, zunächst wohl ohne die Absicht dauernder Erhaltung entstanden, wird durch seine Dauer von selbst in doppeltem Sinne zu einem Er- innerungsmal: es erinnert den, der es geschaffen, an früher Gesehenes und Erlebtes, und es erinnert, wo es von besonderer Kunstfertigkeit Zeugnis gibt, an seinen Urheber. So wird von den Buschmännern ' berichtet, daß sie sich scheuen, die Malereien der Felshöhlen zu über- malen, solange sie sich ihrer Urheber erinnern^). In dem Augenblick, wo diese primitive Kunst von der Nachbildung einzelner Tier- oder Menschengestalten zur Darstellung ganzer Szenen überging, in denen sich der primitive Künstler selbst ein eindrucksvolles Erlebnis ver- gegenwärtigte, mußte nun dieses Erinnerungsmal eine von seinem Schöpfer imabhängige objektive Bedeutung gewinnen. Es wurde zum Denkmal, das die Erinnerung an ein Ereignis länger, als es die bloße mündliche Überlieferung vermochte, festhielt^). Aber auch dem Denk- mal auf dieser Grenze zwischen unabsichtlich entstandenem und will- kürlich geschaffenem Erinnerungsmal fehlt zum Übergang in die Bilderschrift noch eins: die Absicht der Mitteilung. Gewiß ist auch

^) Moszeik, Die Malereien der Buschmänner, S. 27.

2) Über Buschmannszeichnungen, die hierher gehören, vgl. Bd. 3 ^, Kap. II>

S. 187.

Gebärdensprache und Bilderschrift. 245

sie gewissermaßen latent schon vorhanden. Der primitive Künstler wünscht, je stolzer er auf die Produkte seiner Kunst sein darf, um so mehr, daß sie auch von andern gesehen werden. Aber noch mangelt in diesem Stadium der Zweck einer bestimmten Mitteilung, die in der Zeichnung zur Darstellung gelangt, und durch die sich die letz- tere von selbst, ebenso wie der Gedanke, den sie ausdrückt, in einzelne zueinander in Beziehung gesetzte Teile gliedert. Diesen Übergang vermittelt dann sichtlich zumeist der Hinzutritt von Linien, die, zwischen den einzelnen Teilen des Bildes gezogen, solche Beziehungen andeuten, ähnlich wie in der Gebärdensprache zwischen den zeich- nenden hinweisende Gebärden in interpretierendem Sinne eingeschaltet werden. Gerade dieser letzte Schritt ist wahrscheinlich der größte in dieser ganzen Entwicklung, und die ausgebildete Bilderschrift, zu der er erst geführt hat, liegt daher schon auf der Schwelle von der primitiven zu einer entwickelten Kultur. Die Bilderschrift selbst wird aber dadurch zu einer transitorischen Erscheinung. Denn je zusammengesetzter die Mitteilungen werden, um so mehr drängt dies zur Abkürzung der Bilder und zum Gebrauch symbolischer, nicht ohne weiteres verständlicher Zeichen, damit aber auch zu einer künst- lichen Begriffschrift, wie sie uns die ältere Hieroglyphik der Ägypter und die Zeichensysteme der süd- und zentralamerikanischen Kulturvölker vor Augen führen.

Innerhalb jener Übergangszone, wo die Bilderschrift noch Bild und Schrift zugleich ist, Bild in ihrer unmittelbar anschaulichen Be- deutung, Schrift durch den Zweck der Mitteilung, greifen nun zugleich Gebärdensprache und Bilderschrift in ihrer Entwicklung deutlich erkennbar ineinander ein. Dieser Zusammenhang spricht sich auch darin aus, daß es hier in manchen Fällen zweifelhaft sein kann, ob ein gegebenes Zeichen der Bilderschrift eine im Bild fixierte Gebärde, oder ob umgekehrt eine Gebärde die flüchtige Nachahmung eines Bildes ist. Bei beiden Übergängen bedarf es wiederum keiner beson- deren Erfindung, sondern nur der von selbst sich bildenden Assoziation mit jenen längst gebrauchten Merkzeichen, wie sie etwa einzuschlagende oder zu vermeidende Wege andeuten. In dem AugenbUck, wo sich diese Assoziation vollzieht, wird dann aber auch jenes hinweisende Merkzeichen in die Bilderschrift herübergenommen, wo es sich nun

246

Die Gebärdensprache.

in eine der Zeiclinung zugefügte Richtlinie oder in eine Mehrheit solcher Richtlinien umwandelt, die dem Beschauer deutlich machen, wie die einzelnen Teile des durch die Zeichnung dargestellten Gedankens zusammenhängen. Damit erst ist die eigentliche Bilderschrift ins Leben getreten, und durch diese Verbindung von Bildern mit richtung- gebenden Linien wird die Analogie mit den darstellenden und hin- weisenden Zeichen der Gebärdensprache zu einer vollständigen. Da- mit ist aber dann zugleich jener Wechselwirkung zwischen beiden Formen der Mitteilung Raum gegeben, bei der einerseits Gebärden direkt unter die Zeichen der Bilderschrift aufgenommen werden, an-

Fig. 33. Brief eines Indianerhäuptlings in Bilderschrift.

der sei ts aber auch umgekehrt diese auf jene zurückwirken. Da ims über die Entstehung solcher Zeichen eine historische Tradition nicht zu Gebote steht, so kann freilich hier nur aus der Beschaffenheit der Symbole selbst eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die eine oder die andere jener Möglichkeiten gewonnen werden. Doch gibt es beson- ders in der Bilderschrift Zeichen, denen man auf den ersten Blick ansieht, daß sie eigentlich nur Andeutungen von Gebärden sind; und nicht minder scheinen andere auf ein nachträglich erst durch eine Gebärde nachgeahmtes symbolisches Bild hinzuweisen.

Einen Fall der ersten Art und zugleich ein typisches Beispiel ursprünglicher Bilderschrift bietet die Fig. 33. Sie ist die verkleinerte Kopie eines aus der Gegend des oberen Sees in Michigan stammen- den, farbig auf Pergament ausgeführten Dokuments in Bilderschrift,

Gebärdensprache und Bilderschrift. 247

welches die Botschaft eines Häuptlings aus dem Adlertotem (1) an den Präsidenten der Vereinigten Staaten (8) enthält. Die Andeutung des letzteren tritt in dem farbigen Original durch die weiße Farbe des Hauses und des Gesichts der Figur noch deutlicher hervor („der weiße Mann im weißen Hause"). Der Inhalt der in dem Bilde ausgedrückten Botschaft ist etwa der folgende^): „Ich (1) und einige meiner Krieger (2 5) nebst einigen andern mächtigeren Häuptlingen anderer Totems (6, 9) sind versammelt und bieten dir durch mich Freundschaft. Wir sind alle gleicher Ansicht mit dir. Drei Abteilungen meines Stammes (3, 4, 5) wollen von nun an in Häusern leben (7)." Der Totem, dem die Versammelten angehören, ist durch die Tiergestalten (1 5 Adler- totem, 6 Fischtotem, 9 unbestimmt) angedeutet. Die Häuptlingswürde wird durch vom Kopf aufsteigende Linien ausgedrückt: nach der Zahl dieser Linien ist zugleich die Macht des Häuptlings zu bemessen. Der Brief sehr eiber (1) stellt also seine eigene Macht sei es wahr- heitsgemäß, sei es aus Höflichkeit gegen seine Gäste weit niedriger als die von 6 und 9. Das Anerbieten von Friede und Freundschaft wird durch die ausgestreckte Hand, die Übereinstimmung der An- sichten durch die Linien symbolisiert, welche die Augen aller an der Botschaft Beteiligten mit dem rechten Auge des Präsidenten ver- binden. Der Wille der drei Stammesgenossen (3, 4, 5), sich häuslich niederzulassen, also das Jägerleben aufzugeben, wird durch drei unter ihnen gezeichnete Häuser angedeutet (7). Dabei dürfte das größere Haus unter dem größeren Vogel wieder die bedeutendere Macht dieses Kriegers im Vergleiche mit den beiden andern ver sinnlichen. Man muß gestehen, daß ein Brief in gewöhnlicher Schrift und Sprache eine derartige Botschaft kaum kürzer auszudrücken vermöchte, und daß er diese jedenfalls nicht in so anschaulicher Weise wiedergeben würde. Die einzelnen Zeichen, die das Schriftstück zusammensetzen, sind teils nachbildende, wie der Präsident in seinem Hause (8) und die drei Häuser unter den Kriegern (7), teils halbsymbolische: so

^) Die farbige Kopie nebst Erklärung siehe bei Schoolcraft, Ethnological Researches resp. the Red Man of America, 1851, I, PI. 62, p. 418 f. Die bei School- craft dem Original nahekommende Größe ist in Fig. 33 auf die Hälfte verkleinert.

248 Die Gebärdensprache.

die Totemf iguren ; teils sind sie ganz symbolisclie : so die Bezeich- nungen der Häuptlingswürde, die Freundschaftsversicherung und der Ausdruck der Übereinstimmung. Die Bilder der ersten Art sind möglicherweise der Bilderschrift ursprünglich eigen. Wo sie gleich- zeitig als Gebärden vorkommen, wie die Andeutung eines Hauses durch seine in die Luft gezeichneten Begrenzungslinien, da kann dies ebensogut Nachahmung eines wirklichen Hauses wie die eines Bildes sein. Insofern sich Gebärde und Bild in gewissem Sinne wie Skizze und Ausführung verhalten, mögen sie wie diese in Wechselbeziehung zueinander entstanden sein. Anders ist das mit den ganz symbolischen Gebärden, die eigentlich den Hauptinhalt der Mitteilung in dem obigen Beispiel ausmachen. Hier kann zunächst nicht zweifelhaft sein, daß die ausgestreckte Hand die unmittelbare Nachahmung der entsprechen- den Gebärde ist. Bemerkenswert noch ist aber die Übertragung der Gebärde in die Bilderschrift, wo diese zugleich Veränderungen mit sich bringt, die in der abweichenden Ausführung ihren Grund haben. Dahin gehören in erster Linie in Fig. 33 die an den Köpfen der Figuren 1, 6 und 9 nach oben gerichteten Striche, welche die Häuptlingswürds andeuten. Diese symbolischen Striche werden uns sofort verständlich, wenn wir uns des Zeichens erinnern, das in der Gebärdensprache der Indianer einen Häuptling andeutet, und das in der Bewegung beider Hände vom Kopfe an aufwärts besteht (S. 186). Die beiden Linien, die wir über dem Kopf der Fig. 1 bemerken, sind augenscheinlich nichts anderes als Andeutungen dieser Gebärde. Es mag dann aber allerdings eine selbständige Weiterbildung dieses Zeichens in der Bilderschrift sein, wenn wir, um die noch höhere Würde und Macht anzudeuten, die Zahl der Linien über dem Haupt in der Fig. 6 auf fünf, und in der Fig. 9 auf sieben gesteigert sehen. Übrigens zeigt diese Steigerung, wie sehr die noch in unserer heutigen Kultur lebendig gebliebenen Symbole adeligen Geschlechts und königlicher Würde bis zu dieser einfachen Symbolik ursprünglicher Bilderschrift und durch sie sogar bis zur Gebärdensprache zurückreichen. Denn in dem Augen- blick, wo sich die zwei Linien zu 5 oder gar 7 vermehren, wird die Re- miniszenz an die Gebärde zum primitiven Bild einer Krone; und das heraldische Merkmal, an dem sich heute noch die verschiedenen Stufen adeliger Geburt unterscheiden, scheint so in direkter Deszendenz

Gebärdensprache und Bilderschrift. 249

von der einfachen Symbolik herzukommen, durch die bereits die Bilder- schrift der Wilden das primitive Zeichen der Macht zu Weigern sucht. Ein ebenfalls der Gebärdensprache entnommenes, aber nach den Forderungen der Bilderschrift umgemodeltes Symbol tritt uns endlich in den Linien entgegen, welche die Augen der sämtlichen symbolischen Repräsentanten der Personen verbinden. Übereinstimmung der An- sichten drückt die Gebärdensprache anschaulich durch hinweisende Bewegungen aus, die von Auge zu Auge gehen, ähnlich wie die Über- einstimmung der Gefühle durch Hinweisung zuerst auf das eigene Herz, dann auf das des Angeredeten, oder Austausch der Meinungen in Rede und Gegenrede durch eine den eigenen Mund mit dem Munde des andern verbindende Bewegung. Die Bilderschrift der Indianer hat nun alle diese Zeichen aufgenommen, indem sie die Bewegung der Hand oder des Zeigefingers in einer bestimmten Richtung jedesmal durch eine verbindende Linie ersetzt. Ähnlich der in Fig. 33 dar- gestellten Vereinigung der Augen finden sich so in andern Dokumenten namentlich Verbindungslinien zwischen den in den Körperumriß ein- gezeichneten Herzen sehr häufig. Diese Herzen sieht man ohne solche Linien auch an den beiden Figuren 6 und 8 der Fig. 33. In einzelnen Fällen indianischer Bilderschrift erstrecken sich, um die Überein- stimmung der Ansichten und Gefühle mit besonderer Emphase her- vorzuheben, die Verbindungslinien gleichzeitig zwischen den Augen und den Herzen^). Auf andern wird eine Unterredung dadurch sym- bolisiert, daß die die Lippen verbindenden Linien unterbrochen, oder daß statt ihrer einzelne fingerähnliche Körperchen, die von Mund zu Mund zu fliegen scheinen, gezeichnet sind 2), ähnlich jenen naiven Madonnen- und Heiligenbildern der älteren deutschen Meister, aus deren Munde auf langen Streifen die Worte hervorquellen. Es mag dahingestellt bleiben, ob hierdurch nur die Gliederung der Rede in Worte angedeutet werden soll, oder ob darin noch eine unmittelbare Beziehung auf die Hin- und Herbewegung des Zeigefingers enthalten ist. Wie es sich aber damit verhalten mag, jedenfalls führen alle diese symbolischen Zeichen auf Entlehnungen aus der Gebärdensprache zurück,

1) Schoolcraft a. a. 0. PL 60, p. 416.

2) Mallery, Sign Language, Fig. 192—194, p. 374 ff .

250 I^iß Gebärdensprache.

wenn sie auch von dieser losgelöst eine Art selbständigen Daseins führen können.

Diesen Fällen, in denen die Bilderschrift gewisse Zeichen ursprüng- lich der Gebärdensprache entnommen hat, stehen jedoch andere gegen- über, wo die umgekehrte Wanderung wahrscheinlich ist. Namentlich die Klasse der symbolischen Gebärden bietet hier wieder Beispiele. So kann, wie früher bemerkt wurde, das Gebärdensymbol der Gerech- tigkeit (Fig. 31 e, S. 195) nur als Nachbildung der bekannten plastischen Darstellungen der Justitia verstanden werden. Aber selbst unter den Symbolen der primitiven Bilderschrift fehlen solche nicht, die wahr-

Fig. 34. Handelsbrief eines Indianers in Bilderschrift.

scheinlich erst aus ihr in die Gebärdensprache übergegangen sind. Ein Beispiel dieser Art enthält ein vom Prinzen Wied mitgeteilter, in Fig. 34 wiedergegebener Brief eines Mandan -Indianers an einen Pelzhändler ^). Eechts ist ein Bison, eine Fischotter und ein Fischer (Mustela canadensis) abgebildet, links eine Flinte, ein Biber und hinter diesem 30 Striche. Zwischen beiden Gruppen findet sich ein Kreuz, das in der Bilderschrift der Indianer das Zeichen des Tausches ist. Dementsprechend ist der Sinn des Briefes dieser: „Ich biete dir die Felle eines Bisons, einer Fischotter und eines Fischers gegen eine Flinte und dreißig Biberfelle an." Nun haben wir gesehen, daß das Kreuz in der Form zweier gekreuzter Zeigefinger auch als symbolische Ge-

^) Reise in das innere Nordamerika, II, S. 657, Beilage B.

Gebärdensprache und Bilderschrift. 251

bärde für Tausch vorkommt (Fig. 32 m). Man könnte daher vermuten, auch hier sei die Gebärde in die Bilderschrift übergegangen. Dem steht aber entgegen, daß unter dieser Voraussetzung die Entstehung der Gebärde selbst dunkel bleibt. Verkehr und Tausch durch Kreuzung der Finger zu bezeichnen, würde mindestens eine sehr weit her- geholte Symbolik sein. Dagegen liegt der Gebrauch des Kreuzes als Bild in diesem Fall ziemlich nahe, sobald man sich der ursprüng- lichen Bedingungen erinnert, unter denen der Tauschverkehr bei Völkern primitiver Kultur entsteht. Überall, wo sich das Bedürfnis eines solchen mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellt, da pflegt nämlich dieser Orte zu wählen, an denen sich die von verschiedenen Siedelungen und Jagdgebieten kommenden Wege kreuzen. Noch auf einer erheblich höheren Verkehrsstufe, in der Wirtschaftsent- wicklung des deutschen Mittelalters, hat sich daher an den Kreuzweg der Markt und an den Ort des Marktes mit den ihm erteilten öffent- lichen Gerechtsamen der Anfang eines städtischen Gemeinwesens angeschlossen^). Auch wenn noch keine festen Pfade durch das Ge- filde gelegt sind, bilden sich durch den Zug der Gebirge, der Täler und Flußläufe und infolge der Verbreitung verschiedener Horden über bestimmte Territorien solche Kreuzimgspunkte des Verkehrs aus, die zu natürlichen Tauschplätzen werden, sei es, daß die Tauschen- den persönlich zusammentreffen, sei es, daß sie an diesen Orten die Gegenstände, die sie auszutauschen wünschen, niederlegen. Demnach ist jenes Symbol der Bilderschrift ohne weiteres erklärlich, wenn man es als die Andeutung eines solchen dem primitiven Tauschverkehr dienenden Ortes auffaßt. Dann ist aber das Zeichen der Kreuzung der Finger für „Tausch" offenbar aus der Bilderschrift in die Ge- bärdensprache hinübergewandert.

Ähnliche Wechselwirkungen zwischen Gebärde und Schrift be- gegnen uns schließlich bei jener eigenartigen Bilderschrift, die, in- mitten unserer Kulturwelt entstanden, trotzdem eine natürliche Ähn- lichkeit mit den primitiven Bilderschriften der Naturvölker bewahrt: in den schon oben (S. 161, Anm. 1) erwähnten „Zinken" der Gauner. So wird bei ihnen, wie bei den Indianern, die Nacht durch eine ge-

^) Vgl. Lamprecht, Deutsche Geschichte, III, S. 32 ff.

252 Die Gebärdensprache.

wölbte Decke, die Freude oder ein freudiges Ereignis durch ein Herz bezeichnet. Zwei dachähnlich sich aneinander lehnende schräge Linien, die dem Indianer ein Zelt oder Haus bedeuten, sind Zeichen des Ge- fängnisses. Wird damit noch das gleiche Zeichen in umgekehrter Stellung kombiniert, so ist dies das Symbol der ,, Enthaftung". Eine große Rolle spielen aber besonders die symbolischen Zeichen: so be- zeichnet eine aufrecht stehende gerade Linie ,, standhaftes Leugnen", eine horizontale Linie dagegen ,, Eingeständnis" usw. ^). Die Über- einstimmungen mit der Bilderschrift der Naturvölker ist augenfällig, wenn auch im Hinblick auf den spezifischen Interessenkreis und auf den Umstand, daß die Zeichen der Gauner den Charakter einer Ge- heimschrift besitzen, Unterschiede nicht fehlen.

4. Psychologischer Charakter der Gebärdensprache.

Die im Eingange dieses Kapitels berührte Frage, ob die Gebär- densprache erfunden sei, oder ob sie sich aus allgemeingültigen Be- dingungen der psychophysischen Organisation des Menschen nach bestimmten, überall wiederkehrenden psychologischen Gesetzen ent- wickelt habe, kann wohl nach den vorangegangenen Ergebnissen für erledigt gelten. Die natürliche Gebärdensprache, die sich unter ähnlichen Bedingungen immer wieder spontan in ähnlichen Formen entwickelt, trägt eben in dieser Übereinstimmung der Bedingungen und ihrer Wirkungen die zuverlässigste Bürgschaft ihrer von äußerem Zwang und willkürlicher Erfindung gleich unabhängigen psycholo- gischen Gesetzmäßigkeit in sich. Aber diese Gesetzmäßigkeit schließt willkürliche Einflüsse Einzelner und künstliche Erfindungen, die an der Vervollkommnung der Gebärdenmitteilung im Interesse beson- derer durch sie zu erreichender Zwecke arbeiten, keineswegs aus. Solche Einflüsse springen in einzelnen Fällen deutUch genug in die Augen. Sie sind an den Umdeutungen der Zeichen zu erkennen, die

^) Hanns Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter 3, 1899, S. 261, 275 ff. Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik, II, S. 1, 33 ff. (Dazu Taf. 20 ff.)

Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 253

der Absiclit, die Gebärdensprache zu einer Gebeimsprache zu machen, entstammen, wie bei manchen der neapolitanischen Symbole. Eben- so weisen die sichtbaren Entlehnungen aus der Bilderschrift und deren weitere symbolische Umgestaltungen auf ähnliche Einflüsse hin. Man erinnere sich z. B. der verschiedenen Umdeutungen des Symbols der Gerechtigkeit (Fig. 31 e, S. 195) und an das Tauschsymbol mit seinen Weiterbildungen (Fig. 32 m und w, S. 197). Motive, die solche künst- liche Übertragungen hervorbringen, und die aller Wahrscheinlichkeit nach auf willkürliche Einfälle Einzelner zurückgehen, begleiten von Anfang an die Entwicklung der Gebärdensprache, und es erhebt sich daher unabweislich die Erage nach dem Verhältnis dieser Momente natürlicher Entstehung und künstlicher Umbildung überhaupt. Diese Frage hängt aber wieder auf das engste mit der andern zusammen, welches in beiden Fällen die psychischen Vorgänge sind, aus denen die äußeren Wirkungen entspringen, und in welchen Beziehungen hier die generellen, auf allgemeingültigen psychischen Gesetzen be- ruhenden Prozesse zu den individuellen, ursprünglich auf ein einzelnes Bewußtsein beschränkten Motiven stehen.

Für die Beantwortung beider Fragen bildet der Ursprung der Gebärden aus den Ausdrucksbewegungen die feste Grundlage^ von der die psychologische Analyse ausgehen muß. Dieses Ursprungs- gesetz führt mit Notwendigkeit zu der Voraussetzung, daß die pri- märe Ursache einer natürlichen Gebärde nicht in dem Motiv der Mit- teilung einer Vorstellung, sondern in dem des Ausdrucks einer Gemütsbewegung liegt. Die Gebärde ist zunächst und ursprüng- lich Affektäußerung. So wesentlich es für die Gebärdensprache ist, daß sie sich über diese Stufe allmählich erhebt, so würde sie selbst doch ohne ursprüngliche Affektmotive niemals entstehen können. Nur sekundär, insofern jeder Affekt gefühlsstarke Vorstellungen ent- hält, wird die Gebärde zugleich Vor Stellungsäußerung. In den weiteren psychischen Wirkungen, die sich an diesen Nebenbestandteil der Affektäußerung knüpfen, liegt aber die Ursache für die ganze Weiter- entwicklung zur eigentlichen Gebärdensprache. Als Vorstellungs- äußerung vor allem vermag die Ausdrucksbewegung in andern die gleichen Affekte wachzurufen, indem durch die Einwirkung überein- stimmender Vorstellungen erst eine Übereinstimmimg der Affekte

254 I)ie Gebärdensprache.

entstehen kann. Die Gefühlsäußerungen vermögen immer nur die gleichen Grundrichtungen der Gemütsbewegung anzugeben und wieder- zuerzeugen. Einen sichern Anhalt gewinnt, wie der Affekt selbst, so auch seine Wiederentstehung im andern durch die Vorstellungs- inhalte und durch die Bewegungen, in denen sich diese nach außen kundgeben. Mit der Wiedererzeugung des Affekts geht aber noch ein anderer Einfluß der Vorstellungsäußerung Hand in Hand. Indem diese der in dem Genossen entstandenen Wieder- spiegelung der Gemütsbewegung ein festeres Substrat gibt, regt sie weitere Vorstellungen an, die mit den durch die Gebärden mitgeteilten in Beziehung stehen, sie weiterführen oder auch, wenn sich widerstrebende Affekte regen, zu ihnen in einen Gegen- satz treten. Jetzt ist daher die Gebärde des Zweiten nicht mehr ein bloßer Reflex der Bewegung des Ersten, sondern aus der Mitbewegung ist eine Antwortbewegung geworden. Mögen zu- nächst die Grenzen zwischen dieser und jener noch ineinanderfließen, allmählich müssen sie sich, je reger die Vorstellungsbewegungen im individuellen Bewußtsein werden, weiter und weiter entfernen. War die Antwort zuerst wenig mehr als eine Nacherzeugung desselben Vorstellungsinhalts, so tritt im weiteren Verlaufe die Wiederholung des Wahrgenommenen hinter den neu angesponnenen Vorstellungs- inhalten zurück. Auf diese Weise ist der individuelle in einen gemein- samen, unter der fortwirkenden Hin- und Herbewegung der Gebärden sich fortan verändernden Affekt übergegangen. Indem sich dann noch durch die überwiegende Betonung der Vorstellungsinhalte die Gefühlselemente der Affekte und dadurch die Affekte selbst ermäßigen, wird endlich der gemeinsam erlebte, mit der Gebärdenäußerung hin- und herwogende Affekt zum gemeinsamen, im Wechselverkehre der Gebärdenäußerung sich betätigenden Denken.

Ihrem psychologischen Charakter nach sind somit die Bewegungen, aus denen sich die ursprünglichen Gebärden und ihre Übergänge in eine mehr und mehr sich regelnde Gebärdenmitteilung zusammen- setzen, Triebhandlungen, d. h. Willenshandlungen, die auf ein einziges Motiv erfolgen und diesem Motiv angepaßt sind, aber ohne einen irgend merklichen Zusammenstoß desselben mit weiteren Mo- tiven zu verraten (vgl. S. 44 ff.). Insofern nun ein Motiv stets in einem

Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 255

Gefühl mit entsprechendem Vorstellungsinhalt oder, wie wir es bei etwaigem Übergewicht des letzteren ausdrücken können, in einer gefühlsstarken Vorstellung besteht, wird auch bei der Triebhandlung der Effekt in dem Vorstellungsinhalt des Motivs antizipiert. Die Hinweisung auf die Objekte oder bei stärkerer Affekterregung deren Nachbildung durch die eigene Bewegung ist daher Affektsymptom und Motivsymptom zugleich: die Gebärde ist unmittelbarer Ausdruck derjenigen Vorstellungen, die den Affekt im Augenblicke beherrscht. Bei der ursprünglichen Ausbreitung von Affektäußerungen ist es das- selbe Motiv, das in einem Ersten die Gebärde erzeugt, und das dann in einem Zweiten wieder anklingt, um den nämlichen äußeren Erfolg herbeizuführen. Indem aber jenes Motiv in dem Zweiten allmählich noch weitere Motive hervorruft, ändert sich entsprechend die Ge- bärdenäußerung. Auf diese Weise vollzieht sich, immer noch in den Grenzen bloßer Triebhandlungen, der Übergang der Mitbewegung in die Antwortbewegung, der der eigentliche Geburtsmoment der Gebärdensprache ist. Doch liegen allerdings in eben jenen Verände- rungen, aus denen der Wechsel der Motive und ihrer äußeren Wir- kungen bei der Hin- und Herbewegung der Gebärden entsteht, zu- gleich die Bedingungen für ein allmählich hervortretendes willkür- liches Handeln, das nun an entscheidenden Stellen in den Verlauf der Triebbewegungen einzugreifen und seine weitere Richtung zu bestimmen pflegt. Denn sobald die von außen aufgenommene Vor- stellung andere Vorstellungen wachruft, müssen diese nach den be- sonderen Vorbedingungen des individuellen Bewußtseins variieren. Zudem können sich jetzt mehrere Assoziationswirkungen gleichzeitig geltend machen, indem der Eindruck nach verschiedenen Richtungen hin assoziative Beziehungen darbietet. So wiederholen sich hier die nämlichen Momente, welche die Willensentwicklung überall zeigt. Zuerst entsteht ein passiv erlebter Kampf der Motive, der mit dem Übergewicht eines bestimmten Motivs endigt. Dieser Kampf gestaltet sich dann, indem in wachsendem Maße die Vorerlebnisse auf den gerade ablaufenden Prozeß einwirken, zu einem Vorgang der Wahl oder der aktiven Bevorzugung des herrschend gewordenen Motivs, der sich von jenem passiv erlebten Kampf der Motive subjektiv nur durch die stärkere Beteiligung von Aufmerksamkeitsvorgängen und Tätig-

256 I^ie Gebärdensprache.

keitsgefühlen unterscheidet. In gleichem Maße beginnen sich dann die Assoziationen zu deutlichen intellektuellen Prozessen zu ordnen: bewußte Beziehungen und Vergleichungen treten hervor. Es gestaltet sich so allmählich aus der triebartigen Aufnahme, Wieder- holung und Umänderung der Gebärden eine reflektierende und in entscheidenden Momenten erfinderische Verwendung und Umwand- lung derselben.

So kann man denn schon von der Gebärdensprache, dieser un- vollkommensten, aber eben wegen ihrer Un Vollkommenheit für die allgemeinsten Probleme vielleicht lehrreichsten Form der Sprache, sagen, sie repräsentiere in ihrer Bildung alle Entv/icklungsstufen, die das geistige Leben des Menschen überhaupt zurücklegt. Darum ist es aber auch nicht möglich, sie auf eine einfache psychologische Formel zurückzuführen. Die Sprache, und so bereits die Gebärden- sprache, ist ein treuer Abdruck des Menschen in der Gesamtheit seiner psychischen Leistungen. Das Grundgesetz aller geistigen Entwick- lung, wonach das Folgende ganz und gar aus dem Vorangegangenen entsteht und dennoch ihm gegenüber als eine neue Schöpfung erscheint, dieses Gesetz der ,, psychischen Resultanten'' oder der ,, schöpferischen Synthese" bewährt sich Schritt für Schritt auch in der Aufeinander- folge der seelischen Vorgänge, aus denen sich die Entwicklung der Gebärdensprache zusammensetzt. Jede Stufe dieser Entwicklung ist im Keime schon in der vorangegangenen enthalten und ist doch ihr gegenüber ein Neues. So ist die Antwortgebärde ein gewaltiger Schritt nach vorwärts gegenüber der bloßen Nachahmung, und doch ist sie, wie wir annehmen dürfen, aus dieser ohne irgendein Herein- tragen fremdartiger Kräfte, rein durch die Steigerung der dort schon wirksamen elementaren psychischen Bedingungen entstanden. Nicht anders leitet die triebartige Reaktion auf äußeye Eindrücke in ein willkürliches, besonnenes Handeln, und dieses endlich in das Gebiet erfinderischer Leistungen über. Hierbei greifen nur mehr und mehr wegen der sich steigernden Mannigfaltigkeit singulärer Bedingungen auch die Handlungen Einzelner maßgebend in das Getriebe der all- gemeinen psychischen Wirkungen ein. In dieser ganzen Entwicklung erblicken wir überall nur ein den Ereignissen selbst immanentes Fort- schreiten über die erreichten Grenzen, nirgends ein Hineingreifen

Psychologischer Charakter der Gebärdensprache. 257

äußerer fremdartiger Kräfte, nirgends ein Hervortreten neuer spezi- fischer „Seelen vermögen". Was wir besonnene Walil zwischen ver- schiedenen Motiven und erfinderische Tätigkeit nennen, das ist eben selbst nur die höchste Steigerung und zugleich der notwendige End- erfolg der Wirkung ursprünglichster einfacher Triebe und der zu diesen hinzukommenden, vor allem durch das gemeinsame Leben gebotenen Bedingungen. In diesem naturnotwendigen und doch durch und durch zwecktätigen, von den vorhandenen zu neuen und vollkommeneren Zwecken aufsteigenden Fortschritt liefert die Gebärdensprache ein Beispiel der Sprachentwicklung überhaupt, ausgezeichnet durch' die Einfachheit und Durchsichtigkeit der Erscheinungen.

Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl.

Drittes Kapitel.

Die Sprachlaute.

I. Stimmlaute im Tierreich.

1. Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen.

Der Sprachlaut ist psychologisch betrachtet eine Ausdrucks- bewegung, vor andern ausgezeichnet durch die Beteiligung der mus- kulösen Tonapparate des Kehlkopfes und der Mundhöhle sowie der respiratorischen Muskeln, die das Anblasen dieser Tonapparate ver- mitteln. Die besonderen Muskelwirkungen, die dem so erzeugten Schall jene mannigfaltigen Klang- und Geräuschqualitäten verleihen, durch die er seine Eigentümlichkeit als Sprachlaut gewinnt, gehören im weiteren Sinne dem Gebiet der mimischen Bewegungen an. Vor den stummen Gefühlssymptomen, deren Hauptsitz die Mimik des Angesichts ist, zeichnen sich diese die Sprachlaute begleitenden mi- mischen Bewegungen nur dadurch aus, daß an ihnen neben den äußeren innere Bewegungen der in Mundhöhle und Rachen gelegenen Muskeln beteiligt sind, allen voran das durch feinste Beweglichkeit und Tast- empfindlichkeit ausgezeichnete muskulöse Organ: die Zunge. Die Beziehung ihrer Stellungen und Bewegungen zu den verschiedenen Sprachlauten hat sich der Beobachtung so frühe schon aufgedrängt, daß in vielen Sprachen die Bezeichnung der Zunge ohne weiteres auf die Sprache selbst übergegangen ist (lingita, yXaiaaa, hebr. laschon usw.).

Als die Vorstufen der Sprachlaute sind hiernach alle jene tie- rischen Lautäußerungen anzusehen, die durch ähnliche respiratorisch erregte Tonwerkzeuge hervorgebracht werden und die psychophysische Bedeutung von Ausdrucksbewegungen besitzen. So die Schreie und

Stimmlaute ak Ausdrucksbewegungen. 259

Lockrufe vieler Tiere aus der Klasse der Amphibien, wie der Frösche, Kröten, Krokodile, Schildkröten, namentlich aber der Vögel Und Säugetiere, während andere Geräuschbildungen im Tierreich, wie das Geräusch der Klapperschlangen, die Laute mancher Fische, die das Ausströmen der Luft aus der Schwimmblase begleiten, endlich die Geräusche vieler Insekten, die durch die schwingenden Bewegungen der Flügel oder durch das Aneinanderreihen horniger Teile des Haut- skeletts entstehen, weder nach ihren physiologischen Bedingungen noch wahrscheinlich nach ihrer psychologischen Funktion hierher gehören. Denn dies kennzeichnet alle mit respiratorischen Tonappa- raten erzeugten Schreie und Rufe der Tiere und läßt sie als Vorstufen der Sprachlaute erscheinen, daß sie unmittelbare Ausdrucks- mittel psychischer Zustände sind. Als solche sind sie durch die doppelte Eigenschaft ausgezeichnet, daß die erzeugten Laute durch den Eindruck auf das Gehör des rufenden Tieres eine energischere Entladung der Gefühle bewirken, und daß sie in andern Tieren der gleichen Art ähnliche Gefühle erwecken können. Dabei gilt für sie dasselbe, was für die Ausdrucksbewegungen überhaupt gilt: nicht die objektive Bedeutung ist die primäre, sondern die subjektive. Da die respiratorischen Symptome bei den heftigeren Affekten an und für sich schon stärker hervortreten, so ist die Lautäußerung zunächst nur eine weitere Steigerung der allgemeinen Affektwirkung; und da in allen Fällen die Empfindungen, welche die Ausdrucksbewegungen begleiten, durch ihren unmittelbaren sinnlichen Gefühlston die Affekte selbst verstärken, so liegt auch die Lautwirkung auf das eigene Ohr noch innerhalb der Grenzen der allgemeingültigen Affektvorgänge. Nur gewinnt dieser sonst zurücktretende Bestandteil hier sofort eine vorherrschende Bedeutung.

Jene subjektiven Motive der Affekte und ihrer Ausdrucksformen finden nun aber in dem Zusammenleben der Tiere weitere Bedingungen vor, die auf die ursprünglichen Gefühlsmotive verändernd und ar- weiternd zurückwirken. Wie die Ausdrucksbewegung überhaupt zuerst ein triebartig, dann aber in einzelnen Momenten willkürlich gebrauchtes Ausdrucksmittel ist, so entwickelt sich der ursprüng- liche Gefühlslaut zum Ruf laut und Locklaut. Auch diese bleiben fortan vorherrschend Gefühlsäußerungen. Die Hilfe- und Lockrufe

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260 I^ie Sprachlaute.

der Tiere entstehen nicht bloß ursprünglich ohne Bewußtsein der Zwecke, denen sie künftig dienen können, sondern sie werden auch, nachdem sie zu Hilfsmittehi der Mitteilung geworden sind, immer noch in vielen Fällen, ganz wie andere Ausdrucksbewegungen, ohne einen solchen Zweck hervorgebracht. Die primären Gefühlsäußerungen durch die Stimme sind daher aller Wahrscheinlichkeit nach rein sub- jektive Gefühlslaute, die nur auf die stärksten, schmerzerregenden Sinnesreize eintreten. Unter diesen sind im wilden Zustand der Tiere die mit heftigstem Unlustgefühl verbundenen Hungerempfindungen die häufigsten; und an das den Hunger ausdrückende Wehgeheul schließen sich dann in natürlicher Assoziation Lautäußerungen an, die die Verfolgung und Bewältigung der Beutetiere, endlich solche, die den Kampf um die Beute begleiten, Übertragungen, bei denen sich die Art der Laute nach den veränderten Bedingungen, die für die Gefühle und ihre Äußerungen entstehen, von selbst modifiziert. Der Schmerzensschrei und der Wutschrei werden aber auch um deswillen als die ursprünglichsten Stimmäußerungen gelten müssen, weil sie noch jetzt die allgemeinsten sind. Viele Nagetiere, wie der Hase, der Maulwurf, das Eichhörnchen, verhalten sich in der Regel stumm, nur heftige Sinnesreize oder die äußerste Angst entlocken ihnen einen durchdringenden Schmerzensschrei. Dazu gesellt sich namentlich bei den wild lebenden Karnivoren, als eine eigentümliche Dauerform des Schmerzensschreies, das Wehgeheul des Hungers, und endlich, wahrscheinlich aus diesem entstanden, der Wutschrei. Mit der Ermäßigung der Affekte mildern sich auch hier die Affekt- äußerungen, und es gewinnen so die Stimmlaute feinere Nuancen, durch die sie mannigfaltigere Lust- wie Unlustgefühle verraten. Unter ihnen werden jene Gefühlslaute, die die Liebeswerbung begleiten, sichtlich in vielen Fällen für die reichere Entwicklung der Lautäußerun- gen von hervorragender Bedeutung. Dies zeigen vor allem die Be- dingungen, unter denen die Singvögel ihre Lockrufe ertönen lassen, wie denn auch die Tatsache, daß vorzugsweise die männlichen Vögel mit Gesangsmitteln ausgestattet sind, deutlich auf diesen Zusammen- hang hinweist^). Doch ist der Vogelgesang schon eine verhältnis-

^) Darwin, Abstammung des Menschen. Deutsch von J. V. Carus, 1871, II, S. 43 ff.

Stimmlaute als Ausdrucksbewegungen. 261

mäßig hochstehende, auf eine kleine Gruppe von Tieren beschränkte Gefühlsäußerung, und die Bedingungen seines Vorkommens machen es wahrscheinlich, daß er sich aus roheren Formen der Lautäußerung, vielleicht aus dem Wutgeschrei der in der Paarungszeit miteinander kämpfenden männlichen Tiere, entwickelt hat. Nachdem jene Form der Ausdruckslaute entstanden war, mußte sie sich aber, gemäß dem allgemeinen Prinzip der Übertragung der Ausdrucksbewegungen, alsbald auf andere Affekte von verwandtem Gefühlston ausbreiten. Mag darum der Gesang des männlichen Singvogels in vielen Fällen Lockruf bleiben, seine allgemeine Bedeutung ist dies jedenfalls nicht mehr, sondern er ist, ähnlich den fortwährenden zwecklosen Flug- und sonstigen Körperbewegungen der meisten kleineren Vögel, zu einem allgemeinen Ausdrucksmittel von Gefühlen meist heiteren Charakters geworden. Bei dieser ganzen Entwicklung spielen objek- tive Zweckmotive, wie sie von Anfang an fehlen, so auch im weiteren Fortgang keine wesentliche Rolle. Vielleicht sind die subjektiven, ohne Absicht hervorgebrachten Gefühlslaute, wie die verbreite tsten, so überall die ursprünglichsten, und sie behalten fortwährend das Übergewicht, wenn sie auch allmählich in einzelnen Fällen von will- kürlichen Handlungen abgelöst werden, die sich dieser Ausdrucks- mittel bemächtigen. Doch mußten diese bereits vorhanden sein, ehe sie in den Dienst der geselligen Triebe treten konnten. Und noch jetzt sind in der Tierreihe das heftige Schmerzgefühl und der Affekt der Wut die beiden Seelenzustände, die sich allgemein und mit unwider- stehlicher Gewalt in Lauten äußern. Infolge der Differenzierung der Gefühle, die mit zunehmender psychischer Entwicklimg eintrat, sind aber diese Lautäußerungen allmählich auf andere Gemütszu- stände übergegangen. Dabei wurden sie dann teils abgeschwächt, teils abgeändert, teils verbanden sie sich mit den mannigfachen Vor- stellungsinhalten und Willensrichtungen, so daß schließlich die voll- kommeneren dieser Ausdruckslaute, die Hilfe- und Lockrufe, bereits als eine Art Vorstufe der Sprache betrachtet werden können. Übrigens sind hier unter Hilfe- und Lockrufen nur solche Laute zu verstehen, die unmittelbare Äußerimgen sozialer Triebe sind, und mit denen sich daher direkt das Begehren nach Hilfe oder nach Herbeilockung an- derer, namentlich der weiblichen Tiere verbindet. Diese Grenzen

262 Die Sprachlaute.

pflegt man, wie überall bei der Beurteilung tierischer Lebensäußerungen, nicht immer einzuhalten, sondern man ist geneigt, jeder Handlung, die geeignet ist, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, auch so- fort die Vorstellung dieses Erfolges unterzuschieben.

2. Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute.

Der Ausgangspunkt aller Äußerung tierischer Stimmlaute ist, wie oben bemerkt, der Schrei, der in seiner Qualität wie Intensität nur unerhebliche Modifikationen bietet. Denn Schmerz und Wut, die beiden einzigen Affekte, die sich auf dieser ersten Stufe mit Laut- äußerungen verbinden, sind beide heftige Unlustregungen. Der so unter stärkstem Exspirationsdruck in den gespannten Stimmbändern erzeugte, dem weit geöffneten Kachen entweichende Schrei ist nach seinem musikalischen Charakter ein von starken dissonanten Neben- tönen begleiteter, also geräuschähnlicher Klang. Er ist je nach den Dimensionen des Stimmorgans von verschiedener, aber bei einem und demselben Tiere nahezu gleichbleibender Tonlage. Diese variiert nur etwas nach der Intensität des Affekts, da der stärkere Affekt eine Steigerung des Atemdrucks und der Stimmbänderspannung und dadurch eine Erhöhung der Tonlage bewirkt. Gemäß den allgemeinen Gesetzen des Verlaufs der Affekte steigt dabei die Tonhöhe zuerst mehr oder weniger rasch an, um dann wieder abzufallen. Außerdem zeigt sie zuweilen, namentlich bei den Zorn- und Wutaffekten, einen intermittierenden, mehrmals auf- und absteigenden Rhythmus. So spiegelt sich der Verlauf des Affekts genau in den Veränderungen der Tonhöhe und Tonstärke oder in dem abwechselnden crescendo und decrescendo der Lautäußerungen. Der Stimmlaut selbst aber bleibt lediglich ein Symptom der Entladung starker Gefühle^).

Dies wird anders auf der zweiten dieser Stufen. Zu dem Schmerz- und Wutschrei treten nun Lautäußerungen mäßiger Affekte. Der Übergang zu ihnen hängt nicht oder wenigstens nicht in erster Linie von der zunehmenden psychischen Entwicklung, sondern haupt-

1) Über den intermittierenden Charakter dieser Affekte vgl. Physiologische Psychologie, III«, S. 193 f.

Allgemeine Entwicklung der Ausdruckslaute. 263

sächlich, wie es scheint, von der Lebensweise der Tiere ab, da bei den in Schwärmen oder Familien lebenden diese Weiterbildung eher als bei den solitär lebenden beobachtet wird. Schon dies spricht dafür, daß es die unter dem Einfluß des Zusammenlebens erfolgende Ermäßigung der Schmerz- und Wutlaute zu Hilfe- und Lockrufen ist, die den Übergang vermittelt. Dabei zeigt sich aber zugleich, daß diese Ermäßigung, einmal eingetreten, nicht auf die sie zuerst hervor- bringenden Triebäußerungen beschränkt bleibt, sondern daß nun teils schwächere Unlustaffekte, die auf der ersten Stufe noch keine Stimmreaktionen zur Folge haben, teils Lustaffekte mannig- fachen Inhalts zu Grundlagen der Lustäußerungen werden können. Hier hängt es dann ganz von dem Temperament der Tiere ab, ob die eine oder andere Affektrichtung mehr hervortritt. In vielen Fällen bestehen die Lautreaktionen schwacher Affekte in einer einfachen Abnahme der ursprünglichen Schreilaute. Bei schwächerem Respi- rationsdruck und geringerer Spannung der Stimmbänder werden Laute erzeugt, die sich im wesentlichen nur durch ihre verminderte Intensität und durch ihre tiefere Tonlage unterscheiden. Unterstützt wird diese Veränderung des Klangcharakters außerdem dadurch, daß die Mundhöhle weniger geöffnet wird, weshalb die in dem Stimmton enthaltenen hohen, scharf dissonierenden Obertöne geschwächt wer- den, zugleich jedoch gewisse Verschlußgeräusche im Ansatzrohr des Stimmorgans entstehen können, die den Laut ebenfalls qualitativ abändern. Charakteristische und bekannte Beispiele dieser Klang- modifikationen sind das Blöken der Schafe, das Grunzen der Schweine, das Schnattern der Gänse, das Gackern der Hühner usw. Zugleich bemerkt man in den meisten dieser Fälle eine Veränderung des zeit- lichen Verlaufs der Lautäußerungen. Da schwache Affekte, nament- lich Lustaffekte, durchweg mehr den Charakter dauernder Stim- mungen als momentaner Affektanfälle haben, so verteilen sich auch die Lautäußerungen über eine längere Zeit: sie bestehen in der Regel in mehreren rhythmisch sich wiederholenden Tonstößen, in deren Tempo sich zumeist das stationäre Temperament der Tiere, zuweilen aber auch in einem gewissen Grade die momentane Temperaments- lage spiegelt. Vergleicht man z. B. das imruhig hastige Gackern der Hühner mit dem phlegmatischen Blöken der Schafe oder dem lang

264 I^ie Sprachlaute.

gezogenen, in großen Pausen sich wiederholenden Brüllen einer Kuh- herde, so fallen diese Unterscliiede sofort auf. Auch zeigt sich hierbei, daß es besonders die temperamentvolleren Tiere sind, bei dejien inner- halb der Lautäußerungen der Lustaffekte mannigfachere Abstufungen vorkommen. Die ruhig zufriedene Stimmung äußert sich in einem langsameren Rhythmus und in gedämpfteren Lauten, als die auf- geregte Freude oder das heftige Verlangen. So entwickeln sich in einzelnen Fällen besondere intensive Freudelaute, die entweder bloß durch eigentümliche Nuancen des Ausdrucks von den Schmerz- und Wutausbrüchen der gleichen Tiere verschieden sind, wie das ver- gnügte Bellen des Hundes, das freudige Greschnatter einer auf ihr Futter losstürzenden Entenschar, oder die sich zu besonderen lauten Rufformen ausbilden, wie das Krähen des Hahnes.

Diese Erscheinimgen stehen bereits auf der Schwelle zu den Lautäußerungen der dritten Stufe. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sich zwei völlig verschiedene Arten von Stimmlauten ausbilden, von denen die eine den Schreilauten der ersten Stufe ent- spricht und gleich diesen als Ausdrucksmittel stärkster Affekte er- halten bleibt, während die zweite, höhere Form zum feiner nuancierten Ausdruck schwächerer Gefühle wird. Dabei überwiegen unter diesen die Lustgefühle, daher mäßige Unluststimmungen sogar in der Regel nur daran kenntlich sind, daß die gewohnheitsmäßige Lustäußerung auf einen gedämpfteren Ton und auf ein langsameres Tempo herab- gestimmt ist. Bezeichnen wir um der Unterscheidung willen sowie mit Rücksicht darauf, daß diese feiner nuancierten Lautäußerungen im allgemeinen in höherem Grade den Toncharakter an sich tragen, die Ausdruckslaute der ersten und zweiten Stufe als Schreilaute, die der dritten als Tonlaute, so sind demnach die Schreilaute das Ur- sprüngliche und zugleich das Bleibende; die Tonlaute sind das höher Entwickelte und Vollkommenere, das nicht nur von einer Spezies zur andern, sondern selbst von einem Individium zum andern und von einem Affekt zum andern variiert. Dieser höheren Stufe entspricht es, daß die Tonlaute wieder in zwei verschiedenen Formen vorkommen: als Tonmodulation und als Lautartikulation. Beide weichen sowohl in den physiologischen Hilfsmitteln ihrer Bildung wie in ihrer subjektiven und objektiven psychophysischen Wirkung wesentlich

Tonmodulationen als Ausdrucksfonnen bei Tieren. 265

voneinander ab. Dennoch sind sie Ausdrucksmittel, die im allgemeinen einander begleiten. Namentlich ist, wo die Ausbildung der feineren Oefühlssprache in der Richtung der Lautartikulation erfolgt ist, mit dieser stets auch eine Tonmodulation verbunden. Darin dokumen- tiert sich unter diesen beiden Formen wieder die der Lautartikulation als die höhere Stufe.

3. Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren.

Die Tonmodulation der Stimmlaute ist, wenn man die unvoll- kommeneren Anfänge und die Übergänge zwischen Schrei und Ton- laut hinzunimmt, weit verbreitet im Tierreich. Beschränkt man sich -aber auf die deutlicheren Tonbildungen, so lassen sich namentlich manche Ausdruckslaute unserer intelligenteren Haustiere hierher zählen. Man denke z. B. an die mannigfachen Modulationen im Bellen und Heulen des Hundes, an das zornige und das fröhliche Bellen oder, bei mäßigeren Affekten, an das unmutige und das heitere, von ein- zelnen jauchzenden Gefühlsausbrüchen unterbrochene Knurren, ferner an das laute Schmerzgeheul und das manchmal ganz in melodischen Tongefällen sich bewegende wehmutsvolle Heulen beim Anhören von Musik. Ebenso verfügen manche Affenarten, besonders der Gibbon xmd der amerikanische Brüllaffe (Mycetes), über eine verhältnismäßig reiche Tonmodulation; doch scheint es nicht, daß sich gerade bei diesen menschenähnlichen Tieren eine solche in regelmäßigen musi- kalischen Intervallen bewegt^). Weit in den Schatten gestellt werden aber diese Erscheinungen durch die Stimmlaute der Singvögel. Bei ihnen sitzt der im übrigen dem Kehlkopf der Säugetiere analog gebaute Tonapparat an der Stelle, wo sich die Luftröhre in die beiden Bronchien gabelt (im unteren Kehlkopf), eine Einrichtung, die mit dem spezifisch musikalischen Charakter des Singtons der Vögel zu-

^) Letzteres ist allerdings speziell vom Gibbon behauptet worden. Die nicht auf eigene Beobachtung gegründete Nachricht Darwins (Abstammung des Menschen, II, S. 291) über den Gesang dieses Affen erweist sich jedoch bei näherer Nachforschung als unzuverlässig. (Vgl. darüber: Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, S. 96 f.)

266 Die Sprachlaute.

sammenhängt. Indem liier nämlich die Luftröhre ein Ansatzrohr von regelmäßigen und unveränderlichen Dimensionen bildet, analog wie bei unseren Blasinstrumenten mit konstantem Ansatzrohr, hat der Stimmapparat eine vorwaltend musikalische, zur Erzeugung von Ton- modulationen geeignete Beschaffenheit, während bei dem Stimm- organ des Menschen und der Säugetiere die Rachen- und Mundhöhle ein Ansatzrohr von sehr veränderlichen Dimensionen darstellt, das eben deshalb in hohem Grade der Bildung von Lautartikulationen fähig ist. Der Ausbildung der äußeren Tonapparate in der Klasse der Vögel geht offenbar die der zentralen Gebiete des Gehörsinns und der mit ihnen zusammenhängenden Innervationsherde der Stimmbewegun- gen parallel. Sie äußert sich in der Neigung vieler Vögel, gehörte Laute nachzuahmen, besonders aber in der Eigenschaft mancher Singvögel, die Singtöne in annähernd harmonischen Intervallen an- einanderzureihen. Die erste dieser Erscheinungen, die Nachahmung von Lauten, kommt wieder in doppelter Form vor : in der Nachahmung, der Tonmodulationen anderer Vögel, und in der Nachahmung von Lautartikulationen, besonders auch menschlicher Sprachlaute, bei den Papageien, Staren, Krähen, Drosseln u. a. Bei einzelnen dieser Tiere, wie der Drossel, sind beide Nachahmungstalente in einem ge- wissen Grade vereinigt. Im allgemeinen sind es jedoch vorzugsweise Sehr ei Vögel mit sehr geringer Fähigkeit der Tonmodulation, die es zu einer artikulierten Sprache bringen.

Die musikalische Anlage der Singvögel ist hauptsächlich in der zweiten der obenerwähnten Eigenschaften, in der Verbindung der Töne zu harmonischen Tonfolgen zu erkennen. Da Tonmodulation und Lautartikulation immer verbunden sind, so lassen sie sich auch bei dem Anhören der Singweise irgendeines Vogels stets nebeneinander wahrnehmen. Zwischen dem menschlichen Kunstgesang und dem natürlichen Vogelgesang besteht in dieser Beziehung, wenn man von der sprachlichen Bedeutung der menschlichen Laute absieht, der Unterschied bloß darin, daß der Vogel über eine geringere Zahl von Lauten verfügt, und daß sich diese in einer höchst einförmigen Weise wiederholen. Auch ist die Lautartikulation meist sehr viel undeut- licher, ein Umstand, der es unmöglich macht, sie in unseren Laut- zeichen genau wiederzugeben; nicht bloß deshalb, weil die gehörten

Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren. 267

Laute nur selten mit den Lautbedeutungen unserer Zeichen überein- stimmen, sondern mebr noch, weil wir überall geneigt sind, in das un- deutlich Gehörte irgendwelche geläufige Laute hineinzuhören. Gerade die Auffassung des Vogelgesangs bietet daher einen auffallenden Beleg für jenes Spiel psychischer Assimilationen, das wir auch bei den Laut- assimilationen der Sprache kennen lernen werden^). Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man sich vornimmt, in den Schlag eines und desselben Singvogels verschiedene Laute hineinzuhören, ein Versuch, der in ziemlich weitem Umfange zu gelingen pflegt. Wo eigentliche Singvögel, wie die Drossel oder gar der Kanarienvogel, sprechen lernen, da beruht darum auch die Nachahmung weniger auf einer wirklichen Ähnlichkeit der Lautartikulationen, als auf einer solchen der Tonmodulationen der menschlichen Stimme, und selbst bei dem eigentlichen Sprechvogel, dem Papagei, spielt dieses Moment eine erhebliche Rolle. Hauptsächlich hierauf und weniger auf Ver- schiedenheiten der individuellen Lautbildungen ist es wohl zurück- zuführen, wenn die Angaben der Beobachter über den Schlag ver- schiedener Singvögel nicht wenig voneinander abweichen. Demnach ist es nur als eine sehr ungefähre Andeutung solcher Laute anzu- sehen, wenn man den Schlag der Nachtigall durch tiu tiu tiu tio tio tio

qutio qutio qutio tzü tzü tzü , den der Lerche durch tiri tiri tiri tiri

, des Sperlings durch schilf schuf schuf ti ti ti ti ti usw.

wiedergibt^).

Weit deutlicher ausgeprägt ist derjenige Bestandteil des Vogel- gesangs, zu dem jene Lautartikulationen nur den unentbehrlichen Text bilden: die Tonmodulation. Das Merkmal, das sie von den unvollkommeneren Tonmodulationen tierischer Schreie wesentlich unterscheidet, ist der nicht bloß den einzelnen Tönen, sondern bei

1) Vgl. unten Nr. II, 5 und Kap. IV.

2) Versuche, die Lautbildungen der Vögel, namentlich der Singvögel, auf- zuzeichnen, sind von Beobachtern des Lebens der Vögel mehrfach gemacht wor- den. Besonders in dem umfangreichen Werke von J. A. Naumann, Naturgeschichte der Vögel Deutschlands, herausgeg. von seinem Sohne J. F. Naumann, 6 Bde. 1822 33, ist diesem Punkte große Sorgfalt gewidmet, wogegen von den Ver- fassern dieses Werkes leider kein Versuch gemacht wurde, auch die Tonmodu- lationen in Noten aufzuzeichnen.

268 Die Sprächlaute.

den besseren Sängern auch den Tonfolgen eigene musikalische Cha- rakter. Terzen und Quintsn, daneben zuweilen Oktaven und ganze Töne bilden hier die regelmäßigen Aufeinanderfolgen, neben denen es freilich auch an unharmonischen Abweichungen nicht fehlt. Weniger ist der Rhythmus ausgebildet. Er fehlt zwar nicht völlig, ist aber doch nur in den allem Vogelgesang eigenen Wiederholungen des gleichen Tones, sowie in der gleichförmigen Aufeinanderfolge der Triller oder gewisser, immer wiederkehrender Tonläufe zu finden, nicht in wirklichen rhyhmischen Melodien. Im ganzen läßt hiernach die musikalische Anlage der Singvögel zwei Stufen unterscheiden, die durch Übergänge verbunden sind. Die niedrigere Form besteht in einer nur wenig durch melodische Kadenzen unterbrochenen ein- fachen oder trillernden Wiederholung des gleichen Tones. Diesen Typus einfacher Ton Wiederholungen zeigt z. B. die ganze Familie der Finken, wie Buchfink, Stieglitz, Sperling usw. Ein Beispiel gibt das folgende, dem Sperling nachgeschriebene Motiv ^):

Sperling

Die zweite vollkommenere Form der Tonmodulation besteht darin, daß, meist rasch nacheinander und nicht selten durch Ton-

^) Ich entnehme dies und die folgenden Notenbeispiele der Arbeit von Xenos Clark, Animal Musik, in the American Naturalist, Vol. XIII, Nr. 4, 1879. Die Genauigkeit des musikalischen Gehörs vieler Singvögel ergibt sich übrigens auch aus der Fähigkeit derselben, andere Vogelstimmen und Vogelmelodien oft täuschend nachzuahmen. Über einige auffallende Beispiele solcher Art be- richtet B. Placzek, Der Vogelgesang nach seiner Tendenz und Entwicklung (Ver- handl. des naturforsch. Vereins in Brunn XVII, S. 19, 34 f.).

2) Die Bezeichnung „guttural" soll einen Kehllaut anzeigen, der musi- kalisch aus einem raschen Triller zwischen dem tiefen Ton und seinen höhereu Oktaven zu bestehen schemt. Auf die Exaktheit der Taktgliederung, die wohl in der Niederschrift nur im Anschluß an die musikalische Übung gewählt ist, darf man sich natürlich bei allen diesen Beispielen nicht verlassen, wie aus dem, was oben über den Rhythmus der Vogelmelodien gesagt wurde, hervorgeht.

Tonmodulationen als Aiisdrucksformen bei Tieren. 269

Wiederholungen unterbrochen, Tonläufe zwischen zwei oder drei zu- einander harmonischen Tönen eintreten. Indem diese ebenfalls in der Regel mehrmajs sich wiederholen, geben sie sich als eine höhere Entwicklung der einfachen Ton Wiederholungen zu erkennen. Denn man darf vielleicht annehmen, daß diese durch den Triller allmäh- lich in den Tonlauf übergegangen ist. Ein Beispiel dieses zweiten Typus zeigt das folgende, dem Schlag der Nachtigall nachgeschriebene Motiv :

Nachtigall

iprjirv»jr-^^jiirv-iJ5]J5]^:iJg:^

Die ersten zweigliedrigen Tonläufe springen in der Oktave von d zu d, und die folgenden dreigliedrigen Kadenzen bilden einen c?-Dur- akkord, von dem aus die Melodie wieder in die Tonika d übergeht. Eine so große musikalische Regelmäßigkeit mag immerhin zufällig und selten sein. Im ganzen ist aber nicht zu bezweifeln, daß beson- ders bei diesem zweiten Typus regelmäßige Wiederholungen annähernd harmonischer Tonfolgen vorkommen.

Je abwechslungsreicher die Tonmodulation wird, um so mehr kann sie natürlich variieren. Unter diesen Variationen sind diejenigen von besonderem Interesse, die bei einem und demselben Individuum je nach der Gemütslage stattfinden. Wir können sie namentlich bei unseren Zimmervögeln häufig beobachten, wenn es auch als Regel gilt, daß, sobald die Gemütsstimmung imter ein gewisses Niveau sinkt, der Vogel überhaupt zu singen aufhört. Die in dieser Beziehung be- obachteten Schwankungen betreffen daher meist bloß die Gefühls- richtungen der größeren oder geringeren Erregung und Spannung, letzteres z. B. bei der Neugier, zu der manche Vögel in hohem Grade geneigt sind. In der Dimension der Lust- und Unlustgefühle begegnen uns dagegen in den Gesangweisen der Vögel im allgemeinen nur solche Schwankungen, die noch innerhalb der Lustrichtung liegen; die An- näherung an Unluststimmungen kündet sich bloß durch verlang- samtes Tempo, abnehmende Tonstärke und Tonhöhe an. Bei Schreck, Furcht, Zorn und andern wirklichen Unlustaffekten gehen aber die

270

Die Sprachlaute.

Tonmodulationen regelmäßig in Schreilaute über, die dann mit ent- spreclienden Veränderungen, der Artikulationslaute verbunden sind. Die drei folgenden Beispiele, Modifikationen der in der ersten der obigen Notierungen nachgebildeten Sperlingsmelodie, geben ein Bild dieser, im Verhältnis zu den uns geläufigen musikalischen Ausdrucks- mitteln freilich sehr dürftigen, aber in den elementaren Grundlagen doch übereinstimmenden Veränderungen:

Freude

Niedergeschlagenheit

Heftige Erregung |gf fTT

Darwin meint, es bleibe ein Rätsel, warum beim Menschen und bei den Tieren in gewissen Gemütsbewegungen hohe und in andern tiefe Töne verwendet werden, und keine der über den Ursprung des musikalischen Ausdrucks aufgestellten Theorien sei imstande, dieses Rätsel zu lösen ^). Nach den in Kap. I erörterten Tatsachen wird man diesem Ausspruch kaum beipflichten können. Zunächst ordnen sich hier die Stimmbewegungen dem allgemeinen Prinzip der Affekt- äußerungen unter, wonach die größere oder geringere Schnellkraft und Energie der Bewegungen mit den Gefühlsrichtungen der Affekte, und zwar zunächst und direkt mit den Erregungs- und Spannungs- gefühlen, dann infolge der Verbindungen derselben auch mit den Lust- und Unlustgefühlen eng zusammenhängt. Die Ausdrucksbewegungen sind nun nicht bloß eine natürliche Wirkung der diese Gefühle beglei- tenden Innervationszustände, sondern sie entsprechen auch in ihren eigenen sinnlichen Gefühlswirkungen wiederum den primären Ge- fühlen, mit denen sie daher verschmelzen, und die sie verstärken. Das nämliche gilt aber auch von den Bewegungsempfindungen der

^) Darwin, Abstammung des Menschen, II, S. 295, Anm.

Tonmodulationen als Ausdrucksformen bei Tieren. 271

Stimmorgane und den an sie gebundenen Gefühlen. Nur kommt bei ihnen noch eine Folgewirkung hinzu, die bei den andern Ausdrucks- formen fehlt: der Stimmlaut, der ebenfalls Veränderungen erfährt, die sich mit der wechselnden Energie und Schnelligkeit der Bewegungen von selbst einstellen. Er hat zugleich in noch ganz anderem Maß als die an sonstige Bewegungen gebundene innere Tastempfindung die Eigenschaft, selbst wiederum Gefühle zu erregen, die nach Qualität und Stärke den ursprünglichen, zu deren Ausdruck die Laute dienen, verwandt sind. Durch diese stärkere Eindrucksfähigkeit eignen sich daher die Stimmlaute in besonderem Grade dazu, diejenigen Wir- kungen herbeizuführen, die bei allen Ausdrucksformen als erhaltende und modifizierende Bedingungen mitspielen: die Entladung des Affekts, und die durch sie nach der ersten konsensuellen Verstärkung allmählich eintretende Lösung desselben. Gleichwohl würde es noch nicht gerechtfertigt sein, deshalb die Wirkung hoher und tiefer, starker und schwacher Töne oder selbst die der schnellen und langsamen Rhythmen bloß aus den äußeren Körperbewegungen und den sie be- gleitenden Empfindungen ableiten zu wollen. Die Tatsache, daß die Gefühlsfärbungen verschiedener Empfindungen einander verwandt sind und sich daher bei ihrer Verbindung steigern, müssen wir viel- mehr als eine ursprüngliche, nicht weiter abzuleitende anerkennen. Denn diese Beziehung begegnet uns ja auch da, wo zu einer Verbindung des Sinneseindrucks mit bestimmt modifizierten Ausdrucksbewegungen kein Anlaß gegeben ist, z. B. bei den Gefühlseigenschaften der ver- schiedenen Farben. Die ursprüngliche psychologische Verwandt- schaft bestimmter Gefühle und die Verbindung, in die sie außerdem infolge der Bedingungen ihrer subjektiven Entstehung zueinander treten können, schließen sich aber nicht im geringsten aus. Das Zu- sammentreffen dieser Motive zu übereinstimmender Wirkung ent- spricht vielmehr ganz dem allgemeinen Zusammenhang und der wechsel- seitigen Anpassung der Funktionen. Die Rückwirkung der Funktion auf ihre Entstehungsbedingungen, im vorliegenden Fall also der Stimm- laute auf die Gefühle, deren Ausdruck sie sind, bildet nun zugleich den Hauptantrieb in der Entwicklung der Gefühlsäußerungen durch Stimmlaute. Zwischen dem unmelodischen und unartikulierten Schmerzensschrei und den schon eine reiche Skala von Gefühlen um-

272 I>ie Sprachlaute.

fassenden Tonmodulationen des Singvogels liegt sicherlicli eine weite Kluft. Dennoch bleibt die Mannigfaltigkeit der Äußerungsformen auch hier noch eine beschränkte. Denn eine Schranke des Ausdrucks- mittels der Tonmodulation ist es immer, daß diese sich niemals über eine reine Gefühlssprache erheben kann. Die Gefühle selbst bedürfen aber zu ihrer reicheren Entwicklung einer reicheren Vorstellungs- welt. Da eine solche nur mit Hilfe der artikulierten Sprache möglich ist, so wird daraus auch der ungeheure Abstand be- greiflich, der den menschlichen Kunstgesang und die aus ihm hervorgegangene Kunst der Musik von dem natürlichen Gesang des Vogels scheidet.

4. Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen.

Der menschliche Gesang bildet den einzigen sicher bezeugten Fall, wo sich die beiden in der Entwicklung der Stimmlaute neben- einander hergehenden Momente, Lautartikulation und Tonmodu- lation, in vollkommnerer Ausbildung vereinigt haben. Im allgemeinen sind darum wohl beide als zwei ursprünglich aus dem intensivsten Gefühlslaut, dem Schrei, hervorgegangene divergierende Ent- wicklungen anzusehen, während doch jede dieser Ausdrucksformen immer auch bis zu einem gewissen Grade die Mitwirkung der andern voraussetzt. Denn es gibt ebensowenig eine Lautartikulation ohne einen gewissen Grad von Tonmodulation, wie diese ohne jene möglich ist. Nun scheint die menschliche Sprache ursprünglich mit den Stimmlauten anderer mit Lautartikulation begabter Wesen auf gleicher ^tufe zu stehen. So ungewöhnlich mannigfaltig die artikulierten Laute der menschlichen Stimme sind, ihrer Tonmodulation fehlt der musi- kalische Charakter. Schon in einer sehr frühen Lebenszeit bringt zwar das menschliche Kind bedeutungslose artikulierte Laute hervor, die zugleich eine deutliche Tonmodulation erkennen lassen. Aber diese ist unmusikalisch, sie entbehrt durchaus des regelmäßigen Ton- falls. Diesen eignet sich das Kind erst viel später an, indem es vor- gesungene Melodien nachahmt, ungefähr in derselben Zeit, in der es zuerst auch seine artikulierten Laute verbindet, um bestimmte Worte

Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 273

nachzuahmen. Hiermit scheinen die Tatsachen der generellen Ent- wicklung übereinzustimmen, soweit uns diese heute noch einigermaßen zugänglich sind. Obwohl Tonmodulation und wechselnde Lautstärke überall miteinander verbundene Faktoren des sprachlichen Aus- drucks sind, so bilden doch sichtlich beide relativ unabhängige Bestand- teile, die aus verschiedenen Motiven entspringen. Die Tonmodulation ist, wie ihr charakteristischer Wechsel bei Frage, Ausruf, Bekräftigung einer Aussage usw. zeigt, vor allem Ausdruck der die Rede begleiten- den Gefühlslage. Der Wechsel der Lautstärke dagegen oder der exspira torische Akzent ist Ausdruck wie Ursache der rhythmischen Bewegung der Rede, mag er nun aus dem rhythmischen Gefühl selbst entstehen, oder mag er aus der Hebung gewisser Hauptbestand- teile des Gedankens hervorgehen. Dabei ist diese Rhythmik der ge- sprochenen Rede von der Tonmodulation an sich unabhängig. Beide repräsentieren eben ganz verschiedene Motive des sprachlichen Aus- drucks: die Tonmodulation die qualitative Gefühlsstimmung, der Akzent den Rhythmus der Artikulationsbewegungen, der als solcher einen Bestandteil der allgemeinen rhythmischen Körperbewegungen bildet. Darum ist die übliche Unterscheidung von ,, Tonakzent" und ,, dynamischem Akzent" irreführend. Es gibt nur einen eigentlichen Akzent, das ist der dynamische oder exspira torische. Beide können einander nicht ersetzen; wohl aber kann der eine den andern ver- drängen, und dies scheint in der Tat durchweg in dem Sinne geschehen zu sein, daß die Tonmodulation in der gewöhnlichen Rede durch den dynamischen Akzent zurückgedrängt wurde, um dann erst im Kunst- gesang wieder das Übergewicht über diesen zu erlangen. Denn in allen Sprachen, in denen die Tonmodulation vorherrscht, tritt der exspira torische Akzent zurück ; und nachweislich ist in vielen Sprachen im Laufe ihrer Entwicklung die Tonmodulation durch den Akzent zurückgedrängt worden^). Zugleich scheint sich bei Völkern mit überwiegender Tonmodulation der Gesang von der gewöhnlichen

^) Belehrende Beispiele bieten hier vor allem die afrikanischen Sprachen (Meinhof, Archiv für Anthropologie, N. F. Bd. IX, 1910, S. 188 ff.). Doch werden wir auch auf germanischem Sprachgebiet hierher gehörige Erscheinungen kennen lernen. (Vgl. unten Kap. IV, Nr. VI.)

Wun dt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 1^

274 1^6 Sprachlaute.

Rede weniger zu entfernen. Er bleibt, ebenso wie die Musik, ein- förmiger und ist weniger harmoniscli ausgebildet als da, wo durch die Herrschaft des rhythmischen Akzents die gewöhnliche Rede und der Gesang schärfer sich sondern^).

Alle diese Erscheinungen deuten bereits die Richtung an, in der die Antwort auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Gesang und Sprache gesucht werden muß. Sicherlich kann man sich nicht mit Lucrez den Gesang des Menschen aus dem der Singvögel durch Nach- ahmung entstanden denken^). Nicht minder unhaltbar ist die Meinung Darwins, Mensch und Vogel seien zwar unabhängig voneinander, aber durch die gleichen ursprünglichen Motive zu Gesangslauten ge- langt, indem diese sexuelle Lockrufe gewesen seien, durch die einst- mals der Mann um das Weib nicht anders geworben habe, als wie es noch heute in der Paarungszeit die männlichen Vögel um ihre Weibchen tun^). Abgesehen von den unzulänglichen Analogien aus dem Tierreich fehlt die Hauptsache: ein Unterschied der Geschlechter

^) Eine hochausgebildete Tonmodulation mit sehr schwacher dynamischer Akzentuierung findet sich in den ostasiatischen Sprachen, dem Chinesischen, Japanischen, Siamesischen. Die lange Abgeschlossenheit dieser ostasiatischen Kultur hat hier wohl konservierend auf diesen an sich ursprünglicheren Zustand gewirkt. Über die Beziehungen des Akzents und der Tonmodulation zur Satz- fügung siehe Bd. 2, Kap. VII.

Ein gutes Beispiel für die verdrängende Wirkung der dynamischen Akzen- tuierung auf die. Tonmodulation bietet übrigens die Übung unserer Kinder in der poetischen Rezitation von Gedichten. Zuerst, bei dem bekannten Herunter- leiern des Auswendiggelernten, herrscht durchaus eine einförmig über wenige Tonstufen sich erstreckende Tonmodulation. Wird die Rezitation ausdrucks- voller, so gewinnt dann mehr und mehr der dynamische Akzent und mit ihm die den Gedanken sich anschmiegende Rhythmisierung die Ober- hand.

*) „At liquidas avium voces imitarier ore

ante fuit multo quam levia carmina cantu concelebrare homines possent aurisque juvare."

(T. Lucretii Cari De rerum natura, V, 1366.) Über eine an diese Vorstellungen zum Teil wieder anknüpfende, auch von B. Del- brück gebilligte Theorie von O. Jespersen vgl. Sprachgeschichte und Sprach- psychologie, S. 92 ff., und unten Bd. 2, Kap. IX.

3) Darwin, Abstammung des Menschen, II, S. 290 ff.

Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 275

in der Anlage zum Gesang ist beim Menschen nicht nachzuweisen^). Ist der menschliche Gesang, wie die Tatsachen der generellen und der individuellen Entwicklung wahrscheinlich machen, ein Erwerb der Kultur, so ist er das scheidet ihn von dem, was wir bei den Ton- modulationen des Vogels Gesang nennen von Anfang an das Er- zeugnis einer, wenn auch noch so primitiven, Kunst. Darum kann man zwar von natürlichen Tonmodulationen der menschlichen Stimm- laute, aber man kann nicht von einer ,, na türlichen Musik" der Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes reden, um dann mit Herbert Spencer aus der "Weiterentwicklung derselben, wie sie besonders durch die leidenschaftlich erregte Rede nahegelegt werde, die Entstehung har- monischer Kadenzen abzuleiten^). Auch diese Hypothese trägt den Stempel der Willkür. Rhythmus und Tonbewegung in harmonischen Intervallen bilden die unveräußerlichen Merkmale des Gesangs. Es kann vorkommen, daß der Rhythmus wenig ausgebildet ist, oder daß umgekehrt ein bestimmter Rhythmus besteht, aber die Tonintervalle nur annähernd einen musikalischen Charakter besitzen. Niemals jedoch kann die Tonmodulation als solche, ohne Rhythmus und ohne harmonische Ton Verhältnisse, Gesang genannt werden. Vollends im gesteigerten Affekt besitzt die Sprache am wenigsten musikalische Eigenschaften: denn hier besonders fallen die Laute leicht in die pri- mitive Form disharmonischer Schreilaute zurück, und es bewegt sich die Rede unter dem Einfluß des starken und irregulären Wechsels der Gefühle in völlig unrhythmischen Formen^).

Mehr trifft mit diesen Bedingungen eine andere Ansicht zusammen, die, im Gegensatz zu diesen Versuchen einer Ableitung aus Ursprung-

^) Darwin beruft sich hier allerdings auf zwei Zeugnisse. Diese wider- sprechen sich aber eigentlich wechselseitig. Erstens sollen die Männchen einiger Quadrumanen entwickeltere Stimmorgane besitzen als die Weibchen. Zweitens werde allgemein angenommen, daß die Frauen angenehmere Stimmen be- säßen als die Männer, was als Fingerzeig dienen könne, „daß sie zuerst musikalische Kräfte erlangten, um das andere Geschlecht anzuziehen" (S. 295 f.).

2) Herbert Spencer, The Origin and Function of Music, in Essays political and speculative. 1858.

^) Über die Bedeutung von Rhythmus und Tonmodulation für die Gliede- rung der Rede vgl. unten Kap. VII, Nr. VIL

18*

276 Die Sprachlaute.

liehen Naturbedingungen, in der Kunst selbst, und zwar in der bereits entwickelten Dichtkunst, die Quelle des musikalischen Ausdrucks sieht. ,,Aus betonter, gemessener Rezitation der Worte entsprang", wie Jacob Grimm sich ausdrückt, ,, Gesang und Lied, aus dem Lied die andere Dichtkunst, aus dem Gesang durch gesteigerte Abstrak- tion alle übrige Musik" ^). Diese Erklärung hat nur den einen Fehler, daß sie gegenüber der vorangegangenen in das entgegengesetzte Ex- trem verfällt. Der Rezitator, der die Taten der Helden preist, oder der Priester, der den Opferkultus mit Gebeten begleitet, sie sind Erschei- nungen einer bereits fortgeschrittenen Kultur. Daß das Epos und das Kultusgebet nicht von Anfang an Lied und Gesang, also von Rhyth- mus und melodischer Tonfolge begleitet gewesen seien, erscheint mindestens unwahrscheinlich. Die Kunst des wandernden Sängers und der religiöse Kultgesang mögen daher immerhin für die Weiter- entwicklung des musikalischen Ausdrucks ihre Bedeutung haben, als Beginn desselben können sie ebensowenig gelten, wie das Ho- merische Epos ein Urzustand der Poesie oder die Homerische Götter- welt eine primitive Mythologie ist. So gewinnt denn auch die Hypo- these Jacob Grimms ihr Recht, wenn wir sie aus der vermeintlichen Urzeit der Homerischen Welt in die wirkliche Urzeit der Kultur zurück- verlegen, soweit uns diese in dem Leben der heutigen primitiven Völker erreichbar ist. Nicht der epische Gesang, sondern der Tanz, begleitet von einem monotonen und oft bedeutungslosen Gesang, bildet hier überall die ursprünglichste und trotz dieser Ursprünglichkeit hoch ausgebildete Kunst ^). Mag er als Kulttanz oder als reine, dem Genuß der eigenen rhythmischen Körperbewegimgen hingegebene Affekt- äußerung auftreten, er beherrscht so sehr das Leben des Naturmenschen,

^) Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache, ^ 1858, Ö. 54. Eine ähnliche Ansicht hat auch Herbert Spencer in seiner Soziologie vorgetragen, indem er teils aus den lobpreisenden Triumph- und Siegesgesängen, die einem sieghaften Häuptling dargebracht wurden, teils aus religiösen Zeremonial- und Opfergesängen die Kunstformen der Poesie und Musik hervorgehen läßt. Da- neben nimmt er aber auch hier noch im Sinne seiner obenerwähnten älteren Theorie an, daß schon in den gewöhnlichen, namentlich leidenschaftlichen Äuße- rungen eine Hinneigung zum musikalischen Ausdruck liege. (Soziologie, deutsche Ausg. IV, Kap. III, S. 141 ff., 255.)

2) Vgl. hierzu Bd. 3 3 (Kunst), S. 470 ff.

Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 277

daß sich ihm alle andern Kunstformen unterordnen. Ist er doch selbst gewissermaßen die primitive bildende Kunst, die hier noch ganz in der Selbstdarstellung der menschlichen Gestalt in der Mannigfaltig- keit ihrer dem jedesmaligen Affekt folgenden Bewegungen aufgeht. Das primitive Lied und die primitive Musik, die, dieser Herrschaft des Rhythmus über die Melodie folgend, mehr über Lärmwerkzeuge als über musikalische Instrumente gebietet, ordnen sich völlig dieser rein rhythmischen Kunst unter. Vor allem bei den die überwiegende Zahl der primitiven Tänze bildenden Nachahmungen der Tiere bildet nun aber die Verbindung einer treuen Nachbildung der an sich meist unregelmäßigen Bewegungen des Tieres mit der Unterordnung unter die streng festgehaltene rhythmische Form einen besonderen Antrieb zur Entwicklung einer komplizierten Technik. Während Alte und Junge, Männer und Frauen, wo beide am Tanze teilnehmen, in der Raschheit und Gewandtheit ihrer Bewegungen mannigfach abweichen, werden sie doch durch den gleichen Rhythmus zusammengehalten. So entstehen von selbst kunstvolle Tanzformen, die man, vom Rhyth- mischen in das Melodische übersetzt, den polyphonen Leistungen eines aus verschiedenen Instrumenten zusammengesetzten Orchesters ver- gleichen könnte, und zu denen die monotone und zuweilen nur in unartikulierten oder traditionellen, nicht mehr verstandenen Wörtern bestehende Stimmbegleitung in starkem Kontrast steht. Nun ist es sicherlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß bei den gleichen Naturvölkern, bei denen sich der Rhythmus der Körperbewegungen so reich entwickelt hat, nicht bloß die Gesangsmelodie höchst unvoll- kommen geblieben ist, sondern daß auch die gewöhnliche Sprache eine ähnlich gleichförmige Tonmodulation zeigt, während eine dy- namische Akzentuierung der Rede fast ganz fehlt. Mit andern Worten : Gesang und gewöhnliche Sprache sind wenig geschieden und ent- sprechend nehmen die Artikulationsorgane an dem allgemeinen Rhyth- mus der Körperbewegungen noch fast gar keinen Anteil. Dies äußert sich natürlich besonders in der spezifisch rhythmischen Kunstform, im Tanze; aber es gilt doch für die Beziehungen der Körper- zu den Stimmbewegungen überhaupt.

So begreift es sich, daß Tonmodulation und Akzent in ihren aus- geprägten Formen bis zu einem gewissen Grade sich ausschließen,

278 I>ie Sprachlaute.

daß sie aber nicht im mindesten Erscheinungen sind, die einander vertreten können. Die Tonmodulation ist Ausdruck qualitativer Nuancen der Rede, wie wir das auch in den sonst vom dynamischen Akzent beherrschten Sprachen noch deutlich bemerken können, wo sie für besondere Modifikationen der Bedeutung stehen geblieben ist : so in der Erhöhung des Tones bei der Frage, in der etwas geringeren, aber mit Tonverstärkung verbundenen Tonerhöhung beim Ausruf, endlich in der Vertiefung des Tones am Ende einer Aussage^). Sie sind neben bedeutungslos gewordenen dialektischen und individuellen Modulationen des Tones die letzten Spuren einer Qualifikation der Bedeutung durch den Tonfall, wie sie in ausgeprägterer, auf den ge- samten Begriffsinhalt des Wortes übergreifender Form die ostasia- tischen Sprachen bieten. Kann doch auch für uns noch in gewissen Fällen ein und dasselbe Wort, wie das ,,ja ?" der Frage oder des Zweifels und das ,,3a!" der Verwunderung oder der Versicherung, im Zusammen- hang der Gedanken wesentlich verschiedene Bedeutungen besitzen^). Demgegenüber besitzt der exspiratorische Akzent, der auf ein ein- faches Wort oder auf einen Wortbestandteil gelegt wird, an sich nur den Wert einer quantitativen Steigerung. Darum ist er zunächst nur Ausdruck der Affektstärke, während die Gefühlsqualität des Affekts, die an den sonstigen Bedeutungsinhalt gebunden ist, vom exspira- torischen Akzent unberührt bleibt. Dagegen ist dieser ein Teil der gesamten Ausdrucksbewegungen, und er hat hier, wie seine allmäh- liche Entwicklung in vielen Sprachen lehrt, zugleich die Bedeutung eines komplementären Ausdrucksmittels. Je mehr die äußeren pan- tomimischen Ausdrucksbewegungen zurücktreten, ein um so größeres Gewicht gewinnt die an den entscheidenden Stellen eintretende Laut- steigerung durch den Affekt. Beispiele eines so sich entwickelnden Gegensatzes begegnen uns heute noch deutlich in der Sprechweise der uns bekannten Kulturvölker. Das Französische hat sich unter den romanischen Sprachen wohl am meisten die Tonmodulation be- wahrt, neben der auch in ihm der dynamische Akzent zurücktritt. Dafür besitzt der Franzose ein um so wirksameres Mittel des Affekt-

^ ) Meinhof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, S. 68 ff. 2) Vgl. Bd. 2, Kap. VII.

Tonmodulation und Lautartikulation beim Menschen. 279

ausdrucks in dem Gebärdenspiel, das seine Rede begleitet. Der eng- lische Redner bleibt äußerlich unbewegt, und seine Worte bewegen sieb nur innerhalb eines ausnehmend geringen Umfangs der Ton- modidation ; aber er verfügt über einen sehr umfangreichen und wechseln- den dynamischen Akzent. Erscheinungen wie diese bei sonst in der Kultur einander nahestehenden Völkern können uns wohl auch am ehesten über die Ursachen der allmählichen Verdrängung der Ton- modulation durch den dynamischen Akzent Aufschluß geben. Sicht- lich ist diese Verdrängung nicht direkt erfolgt, sondern das Anwachsen der exspiratorischen Betonung ist selbst allem Anscheine nach erst die Wirkung der allmählich infolge besonderer nationaler Anlagen, die sich unter dem Zusammenfluß für uns im einzelnen nicht mehr nachzuweisender Faktoren entwickelt haben, eingetretenen Unter- drückung des äußeren, die Rede begleitenden Gestus. Dieser hat sich aber, da der Affekt fortan sich Luft machen muß, um so ener- gischer auf die Artikulationsbewegungen selbst geworfen. Hier unterdrückt er seinerseits wieder jede ausgiebigere Tonmodulation, wie uns das die Vergleichung der gesprochenen Rede mit dem Gesang vor Augen führt. Denn auch hier muß der letztere eben deshalb auf die stärksten dynamischen Akzente verzichten, weil ein übermäßiger Exspirationsdruck die feineren Tonunterschiede zurückdrängt.

Dagegen bewegt sich der dynamische Akzent der gewöhnlichen Sprache selbst wieder zwischen zwei wesentlich abweichenden Mo- tiven, einem rhythmischen, bei dem die Lautfolge als solche, ohne Rücksicht auf die Beziehung der Laute zum Bedeutungsinhalt des Wortes für die Betonung entscheidend ist, und einem logischen, das umgekehrt auf den Bedeutungswert des Lautes das Schwergewicht legt. Ausgeprägte Beispiele für die Vorherrschaft des ersten, rhyth- mischen Motivs bieten hier das Griechische und Lateinische auf der einen Seite, in denen sich die Betonung nach der Stellung der betonten Silbe richtet, und das Germanische auf der andern, wo die Stamm- silbe, also derjenige Lautbestandteil, der dem Wort seinen wesent- lichen Bedeutungsinhalt verleiht, den Akzent trägt. Dort, bei der Betonung nach der Position, bewirkt der Wechsel der Klangstärke einen rhythmischen Abfluß der Laute, indem in beiden Sprachen

280 Die Sprachlaute.

die Stellung des Akzents im allgemeinen eine solche ist, daß ein auf- und abwogender Rhythmus entsteht, ähnlich wie er, nur strenger gebunden, die musikalische Methode beherrscht. So ist denn auch diese rhythmische Form der dynamischen Betonung noch mit einer ausgiebigeren Tonmodulation vereinbar, wie unter den neueren Sprachen wieder besonders das Französische zeigt. Ganz anders in den germanischen Sprachen, wo das logische Prinzip der dynamischen Akzentuierung zur Herrschaft gelangte. Ohne Rücksicht auf rhyth- mischen Aufbau der Worte schreitet hier die Rede fort. Indem sich ■aber gleichzeitig die den Affekt widerspiegelnde äußere Körper- bewegung ermäßigt hat und der Respirationsdruck an ihre Stelle getreten ist, erhält der Satzakzent, der die durch den Affekt ge- hobenen Stellen der Rede scharf hervortreten läßt, die Vorherrschaft über den Wortakzent, und die Sprache gewinnt jenen rhythmischen Tonfall, den sie im einzelnen Wort verloren, im Satze wieder. Doch die Tonmodulation, die an den melodischen Wortklang gebunden ist, tritt jetzt um so mehr in der in ihrem gesamten Aufbau von der ex- spiratorischen Betonung beherrschten Rede zurück. Nach allem dem läßt sich die rhythmische Form des dynamischen Wortakzents wohl auch einerseits als eine Zwischenstufe betrachten zwischen einem früheren Zustand mit herrschender Tonmodulation und einem späteren mit vorwaltend dynamischer Betonung, anderseits aber zugleich als eine solche zwischen einem Stadium, wo das einzelne Wort nach Klang wie Betonung einen relativ veränderlichen Wert hat, und einem an- dern, in dem es innerhalb des vom dynamischen Satzakzent beherrschten Ganzen des Gedankens einer verschiedenen Abstufung fähig ist. Da- bei sind übrigens diese Verhältnisse durchaus nicht maßgebend für die Ausbildung der Sprache überhaupt. Eine Sprache mit fast reiner Tonmodulation und sehr geringem dynamischen Akzent wie das Chi- nesische verfügt vermöge dieser einseitigen Ausbildung über Mittel, die unseren europäischen Kultursprachen nicht zu Gebote stehen. Eine andere, die, wie das Französische, durch die Verbindung von Ton- abstufung und rhythmischer Akzentuierung einen den feineren Ge- fühlsnuancen des Ausdrucks sich anschmiegenden musikalischen Charakter bewahrt hat, besitzt hierin einen Vorzug, welcher den nur über logische Wort- und affektbetonte Satzakzente verfügenden

Tonniodulation und Lautartikulation beim Menschen. 281

Sprachen abgeht. Denn während diese ihrerseits die den Gedanken tragenden Hauptbegriffe mehr zu Gehör bringen, steht ihnen als Aus- druck subjektiver Stimmung lediglich die Stärke der Betonung in ihrer bloß intensiven Steigerung zu Gebote. Auch hier macht sich eben im Gebiet der Sprache die allgemeine psychologische Tatsache geltend, daß in den Ausdrucksbewegungen der Affekte hinter den Intensitätsäußerungen die sonstigen, namentlich also die qualitativen Gefühlsnuancen zurücktreten^). In allem dem bieten uns aber noch die Sprachen der heutigen Kulturvölker nicht bloß letzte Spuren einer allgemeinen in Betonung und Sprechmelodie in gesetzmäßiger Weise die ganze Geschichte der Sprache begleitenden Entwicklung, sondern auch deutliche Wirkungen einer Differenzierung dieser Entwicklung, in der Melodie und Rhythmus der Rede, mit ihren subjektiven psychischen Korrelaten, qualitativer Nuan- cierung der Gefühle und intensiver Affekterregung, miteinander konkurrieren.

In diesen Eigenschaften der Tonmodulation und des Rhythmus liegt nun auch das Verhältnis von Sprache und Gesang begründet. Ist hier zweifellos die Sprache das Frühere, so begleiten sich doch beide, so weit wir in der Entwicklung der Menschheit zurückgehen können, und sie nähern sich zugleich um so mehr, auf einer je ur- sprünglicheren Stufe wir sie antreffen: in der Sprache überwiegt die Tonmodulation, und der Gesang entfernt sich noch wenig von der gewöhnlichen Rede. Dabei wirkt aber die Kunst auf beide in einer primitiveren Form ein, nämlich in dem eine ursprüngliche Einheit bildender und musischer Kunst repräsentierenden Tanz. In der Be- gleitung zum Tanz erhebt sich zuerst die gesprochene Rede zum Lied und dieses wirkt dann seinerseits wieder auf die Sprache zurück. Es bringt strengeren Rhythmus in die Rede, und es schafft reichere Ton- modulationen. In beiden Eigenschaften, in der Steigerung des rhyth- mischen und des melodischen Faktors scheidet sich so mehr und mehr der Gesang von der gesprochenen Rede. In diese Entwicklung tritt endlich die Differenziermig des Liedes ein. Dieses wird schon inner-

M Vgl. Physiol. Psychol. III», S. 199 ff., 260 ff. Über das Verhältms von Wort- und Satzakzent siehe unten Kap. VIL

282 I^ie Sprachlaute.

halb eines primitiven Zauberkultus zum Kultlied, das in seinen Anfängen wohl stets mit dem Tanz verbunden ist, der weiterhin in dem Kulttanz verwickeitere, von einem strengen Zeremoniell geregelte Formen annimmt, während er in der langsamen Feierlichkeit vieler derselben der Ausbildung des melodischen Faktors fördernd entgegen- kommt. Anderseits greift nun aber auch die rhythmisierte Rede über das Gebiet des Tanzes und des unter seiner Mitwirkung entstandenen Kultlieds in das profane Leben und dessen alltägliche, nicht weniger wie der Tanz durch die Organisation der Bewegungswerkzeuge sich mit rhythmischer Gliederung verbindenden Beschäftigungen hinüber. So sind die Arbeiten des Schmiedens, des Holzfällens, des Säens, dann die Tret- und Schlagbewegungen, die dem Enthülsen des Getreides dienen, das Spinnen, das Weben, das Flechten usw. entweder von selbst an regelmäßige rhythmische Körperbewegungen gebunden, oder sie werden mindestens in hohem Grade durch eine der Natur der Arbeit sich anpassende Rhythmik der Bewegungen erleichtert, so daß die Arbeit selbst in ein erfreuendes Spiel sich verwandeln kann. Diese erleichternde Wirkung des Rhythmus auf den Vollzug der Be- wegungen findet ihren psychologischen Ausdruck in den wechselnden Spannungs-, Lösungs- und Lustgefühlen, die die Arbeit begleiten. So regt sich der Trieb, diesen lusterregenden Wechsel der Gefühle mit Lauten zu begleiten, die durch die hinzukommenden Artikula- tions- und Gehörsempfindungen das rhythmische Gefühl verstärken und regulierend und fördernd auf die Arbeitsbewegungen zurück- wirken. Diese begleitenden Laute lassen ferner, wo sich zu der gleichen Arbeit mehrere vereinigen, diese in übereinstimmendem Rh5rthmu& die Bewegungen ausführen. Arbeitsgesänge gehören daher, wie K. Bücher gezeigt hat, wahrscheinlich zu den frühesten Gattungen der Poesie und des musikalischen Ausdrucks^). Bisweilen enthalten sie nichts als sinnlose artikulierte Laute, die dem Rhythmus der ge- leisteten Arbeit angepaßt sind. Reste solcher Lautbildungen mögen sich noch in den Refrainzeilen mancher Volkslieder finden 2). Dann

1) Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, * 1908.

2) Ein Beispiel bei Bücher a. a. O. S. 271.

Stadien der Lautbildung beim Kinde. 283

füllen sich allmälilich die Takte mit sprachlichem Inhalt, der sich bald auf die Arbeit selbst, bald auf andere Begegnisse des täglichen Lebens bezieht, und der zunächst durch Improvisation entsteht, ehe er sich zu bestimmten, bei der gleichen Arbeit regelmäßig wieder- holten Liedern fixiert^). Nach einer andern Seite entwickeln sich aus dem Kulttanz, ursprünglich als spezifische Formen desselben, der Jagd- und der Kriegstanz; und in weiterer Rückwirkung über- trägt sich der Rhythmus dieser Tänze durch begleitende Lärm- und Musikinstrumente auf den Anmarsch zum Kampfe und auf die Wieder- holung in Spiel und Waffentanz. So entsteht der Kampf gesang und, auf ihn zurückgehend, das Lied des Sängers, der die Taten der Helden feiert^).

IL Sprachlaute des Kindes.

1. Stadien der Lautbildung beim Kinde.

Die Entwicklung der kindlichen Stimmlaute läßt sich deutlich in drei Stadien unterscheiden. Das erste, das in der Regel bis in die sechste Lebenswoche herabreicht, ist das der Schreilaute. Das zweite, von der siebenten Woche bis zum Ende des ersten, manch- mal auch bei noch normalen Kindern bis gegen Ende des zweiten Lebensjahrs sich erstreckend, ist das der artikulierten sinnlosen Laute. Das dritte beginnt mit der Hervorbringung artikulierter Laute, denen die bestimmte Absicht der Benennung beiwohnt: das Stadium der eigentlichen Sprachbildung, es umfaßt die folgenden Lebensjahre. Man kann, freilich etwas willkürlich, seine obere Grenze da annehmen, wo das Kind seine Vorstellungen und Willensakte durchweg in regelmäßig geordneten Sätzen ausdrückt. Zur Sprachentwicklung im weiteren Sinne gehören natürlich alle drei

1) Ebenda S. 252 ff.

2) Vgl. hierzu Bd. (Die Kunst), Kap. III.

284 Die Sprachlaute.

Stadien; denn jede vorausgehende Stufe bildet die psychophysische Vorbedingung der folgenden. Den Anfang der eigentlichen Sprach- bildung wird man aber erst ansetzen können, wo das Kind wirk- lich, wenn auch noch so unvollkommen, willkürlich Gegenstände und Vorgänge seiner Umgebung mit artikulierten Lauten zu be- zeichnen beginnt. In diesen Verlauf schieben sich dann außer- dem Zwischenstufen ein, die den Übergang vermitteln, und die namentlich zwischen den beiden letzten Stadien von psychologischem Interesse sind^).

Die erste Lautreaktion des neugeborenen Kindes ist bekannt- lich der Schmerzensschrei. Kälte und Hunger scheinen die Reize zu sein, die diese Reaktion auslösen. Sie besteht in unartikulierten, meist bei weit geöffnetem Munde vorgebrachten Lauten von vokalischem Klangcharakter, wie a, a, u, uä. Schon in der ersten Lebensw^oche pflegt sich der Gebrauch dieser Schreilaute zu erweitern, indem sich nicht bloß Schmerz, sondern auch sonstige, z. B. durch eine ungewohnte Lage oder durch die plötzliche Entziehung der Nahrung hervorgerufene Unluststimmungen durch ein ähnliches Geschrei kundgeben, das nun in seinem äußersten Grade den Charakter des Wutschreies annimmt. Wie der Schmerz- und der Wutschrei die allgemeinen Aus- gangspunkte des Ausdrucks der Gemütsbewegungen durch Stimm- laute im Tierreich sind, so ordnet sich demnach auch ihre individuelle Entstehung beim Kinde dieser generellen Entwicklung unter. Der Hauptfortschritt, der sich dann um das Ende des ersten mid den An- fang des zweiten Lebensmonats vollzieht, besteht darin, daß allmäh- lich auch schwächere Gefühle von Lautäußerungen begleitet werden: so die geringeren Grade des Unbehagens, der Ungeduld, des Verdrusses, und in leisen Anfängen schon gewisse Lustgefühle, die letzteren freilich zunächst in der mehr negativen als positiven Form

1) Die folgenden Angaben stützen sich zumeist auf Beobachtungen, die ich selbst an zweien meiner Kinder ausgeführt habe. Sorgfältige Aufzeichnungen über die Sprachentwicklung des Kindes geben außerdem W. Preyer (Die Seele des Kindes, * S. 364 ff.) und besonders Clara und WUliam Stern, Die Kinder- sprache, 1907, zugleich mit einer ausführlichen Übersicht über die reiche Literatur.

Stadien der Lautbildung beim Kinde. 285

des nachlassenden Mißvergnügens, denen aber bald Laute der Be- friedigung, des Behagens nachfolgen. In gleichem Maße nehmen die Lustäußerungen ermäßigte Formen an, und neben den eigentlichen Schreilauten treten moderierte Ausdruckslaute auf. Infolge der hier- bei vorhandenen geringeren und wechselnderen Spannung der Stimm- bänder wird die Tonmodulation der Laute eine mannigfaltigere; und durch die gleichzeitig sich einstellenden wechselnderen Formungen der Teile der Mundhöhle wächst, wenn auch noch in beschränktem Maße, die Anzahl der Lautartikulationen. Die Vokalklänge vermehren sich daher, und teilweise verbinden sie sich mit Verschluß- und Re- sonanzlauten: Lautbildungen wie ör, rö, ra, ta, am, hu treten zu den früheren hinzu. Sowohl nach dem Charakter dieser halbartikulierten Laute wie nach den Anlässen, bei denen sie hervorgebracht werden, bildet so diese Zeit bereits eine Zwischenstufe zu dem folgenden Sta- dium.

Dieses zweite Stadium selbst ist zunächst durch die rasch wach- sende Zahl der Lautartikulationen gekennzeichnet. Sie kommt, ab- gesehen von der zunehmenden Beweglichkeit der Mund- und Rachen- teile, hauptsächlich auf Rechnung der in der Regel im 7. bis 8. Monate hervorbrechenden Schneidezähne. Gleichzeitig wächst aber sichtlich auch der Reichtum der Gemütsstimmungen, namentlich der Lust- affekte und der an sie sich anschließenden Affekte der Neugier, Er- wartung, Verwunderung, indes sich die Unlustaffekte noch auf lange hinaus weder nach ihren psychologischen Anlässen noch in ihren phy- sischen Symptomen wesentlich zu ändern pflegen. Während sich daher Schmerz und Zorn ganz wie früher durch lautes unartikuliertes Geschrei kundgeben, nehmen mehr und mehr die Perioden zu, wo das Rind, in zufriedener Stimmung, fast ununterbrochen artikulierte Laute ausstößt. Gerade die deutlicheren Artikulationen, wie am, ah, ora, ra, da, an, na, hu, hu, Verbindungen also von Resonanz- und Lippen- verschlußlauten mit Vokalen, unter welchen letzteren nur das i zu- nächst noch zurücktritt, sind augenscheinlich Äußerungen dauernder, aber schwacher Lusterregungen. Stärkere Lustaffekte künden sich in derselben Zeit gewöhnlich durch in lautes krähendes Geschrei an, das sich von dem Wehgeschrei durch seine kürzere Dauer und seine hohe Tonlage unterscheidet. Dabei muß freilich ein für allemal

286 Die Sprachlaute.

bemerkt werden, daß es sich bei Angaben über die artikulierten Laute des Kindes in dieser Lebenszeit stets nur um eine annähernde Wieder- gabe der häufiger vorkommenden Laute handeln kann. Eine den Ansprüchen der Lautphysiologie genügende Charakterisierung ist unmöglich, weil man fast ganz auf die Beurteilung des akustischen Eindrucks angewiesen bleibt. Die wirklich hervorgebrachten Laute sind zudem, wenn man die Übergänge und die in unseren konven- tionellen Symbolen kaum darstellbaren Laute hinzunimmt, geradezu unübersehbar in ihrer Mannigfaltigkeit.

Li dem geschilderten Verhalten ändert sich im Laufe der folgen- den Monate nur wenig, abgesehen davon, daß die Lautartikulationen zahlreicher werden, indem sich zunächst die Vokale, dann auch die Konsonanten durch mannigfaltigere Abstufung der Lippen Verschluß- laute und durch den Hinzutritt der Zungenlippenlaute, überhaupt aber durch die immer größer werdende Beweglichkeit der Zunge ver- vollständigen. So beobachtet man als häufiger auftretende neue Ar- tikulationen Laute wie oi, eg, ge, ai, ja, eh, br, ta, ga, ha und ähnliche. Damit ist schon ungefähr zu Ende des ersten Lebensjahrs ein zureichen- des Material für die Lautgebilde der Sprache vorhanden. Nichts- destoweniger haben diese Laute noch nicht im mindesten den Charakter wirklicher Sprachlaute, sondern ihr einziger psychologischer Unter- schied von den primitiven Schreilauten liegt darin, daß sie Ausdrucks- mittel einer ganz andern Kategorie von Gefühlen sind, nämlich eben jener mäßigen Lust-, Spannungs- und Erregungsgefühle, die allmählich durch die eingetretene psychische Entwicklung entstanden. Ganz diesem Stadium reiner Gefühlsäußerungen gehört auch noch die Bildmig der Lautwiederholungen an, die in der Regel in die zweite Hälfte des ersten Lebensjahrs fällt, also dem Auftreten der ersten artiku- lierten Laute erst nach geraumer Zeit folgt. Lautlich scheint sie an den zunehmenden Gebrauch der Dental- und Lippen Verschlußlaute gebunden zu sein. Zunächst bilden sich meist mehrfache Wieder- holungen, wie da-da-da-da, ba-ha-ha-ba, ma-ma-tna-ma. Das Kind scheint sich bei ihrer Hervorbringung besonders behaglich zu fühlen. Auch kommen bei ihnen gelegentlich Tonmodulationen von freilich durchaus unharmonischer Art vor. Doch bedingen diese Wieder- holungsformen zum erstenmal eine gewisse zeitliche Regelmäßigkeit

Stadien der Lautbildung beim Kinde. 287

der aufeinander folgenden Laute, in der sich Spuren eines rhyth- mischen Gefühls und eines Wohlgefallens an rhythmischen Eindrücken verraten. Allerdings ist dieses Gefühl noch von einfachster Art, da sich der Rhythmus auch hier, analog wie bei den offenbar psycho- logisch verwandten einfachsten Formen der Tonmodulation bei den Vögeln (S. 268), auf die Einhaltung einer annähernden Zeitgleichheit der einzelnen Laute beschränkt. So können denn auch diese Laut- wiederholungen weder als Nachahmungen der eigenen vorangegangenen Lautbildungen, wie man sie genannt hat, noch als Vorübungen zur eigentlichen Sprache gedeutet werden, sondern sie beruhen, ähnlich wie die analogen Erscheinungen bei Tieren, lediglich auf allgemeinen psychophysischen Anlagen bestimmter Bewegungsorgane zu rhyth- mischer Funktion. Neben den Organen der Lokomotion sind es be- sonders auch die der Stimmbildung, denen diese Anlage eigen ist. Man kann wohl vermuten, daß sie im Laufe der generellen Entwick- lung erworben wurde. Im individuellen Leben entstehen aber diese rhythmischen Bewegungen automatisch, und die Lustgefühle, die sie erwecken, sind ihre Wirkungen, nicht ihre Ursachen. Nachdem die Lautwiederholungen entstanden sind, bilden sie ein günstiges Material für die Sprachentwicklung; ihrer eigenen Entstehung liegt aber jede auch nur triebartige Richtung auf diesen Zweck fern.

Bald nach dem Hervortreten der Wiederholungslaute, in der Regel gegen das Ende des ersten Lebensjahrs, bietet sich nun noch eine andere Erscheinung dar, in der zum erstenmal die selbständige Lautbildung des Kindes mit den Einflüssen der Umgebung in Be- ziehung tritt. Das Kind beginnt nämlich äußere Laute, manchmal beliebige zufällige Geräusche, namentlich aber Sprachlaute, die ihm vorgesagt werden, nachzuahmen. Die Neigung zu dieser ,,Echo- sprache" ist bei verschiedenen Kindern in ungleichem Maße vor- handen. Die Erscheinung selbst besteht aber in einem völlig verständ- nislosen Nachahmen der Laute, ähnlich der bei geistigen Schwäche- zuständen vorkommenden Echosprache, die in den Fällen von an- geborenem Idiotismus eine auf dieser Stufe stehen gebliebene Kinder- sprache ist. Sie ist Teilerscheinung anderer Nachahmungsbewegungen besonders der Nachahmung von Gebärden, welche letztere zuerst

288 I>ie Sprachlaute.

als unwillkürliche Nachbildung mimischer Ausdrucksformen und dann, auf einer etwas fortgeschritteneren Stufe, als solche von hinweisenden und nachahmenden Handbewegungen vorzukommen pflegt. In etwa derselben Zeit beginnt sich dann auch ein Verständnis gesehener Ge- bärden und gehörter Wörter zu regen. Allem andern geht in dieser Beziehung ein instinktives Verstehen mimischer Ausdrucksbewegungen voran, das schon in den ersten Lebensmonaten deutlich an der Rück- w^irkung auf die eigenen Gemütsbewegungen des Kindes zu bemerken ist. Darauf folgt einige Monate später das Verstehen hinweisender Gebärden und diesem wieder, meist erst gegen Ende des ersten Lebens- jahrs, das Verstehen einzelner Wörter, das sich darin verrät, daß das Kind nach dem Gegenstand oder der Person, die genannt werden, blickt. Doch ist es bemerkenswert, daß zwischen diesem Verstehen gehörter Wörter und der eigenen Anwendung derselben zum Zweck der Benennung immer noch eine geraume Zeit liegt; daher es in dieser Entwicklung eine kurze Periode geben kann, in der das Kind einerseits verständnislos AVörter nachspricht, ander- seits solche versteht, gleichwohl aber selbst noch nicht im eigentlichen Sinne spricht, das heißt Worte in der Absicht der Benennung gebraucht.

Der Eintritt in dieses letzte Stadium, in das der eigentlichen Sprachbildung, ist demnach durch das Zusammentreffen zweier Momente bestimmt: der Lautnachahmung, wie sie in der Echo- sprache ihren Ausdruck findet, und des Verstehens gehörter artiku- lierter Laute, das sich an das Verstehen mimischer und pantomimischer Bewegungen als ein letzter Vorgang anschließt. Mit diesem fällt je- doch der verständnisvolle Gebrauch der Worte zeitlich noch nicht zusammen; sondern erst, nachdem Nachahmung und Verständnis, beide unabhängig voneinander eine Zeitlang geübt worden sind, treten die ersten mit der Absicht der Mitteilung gebrauchten sprachlichen Benennungen auf. Zunächst sind es Personen und Vorkommnisse der täglichen Umgebung, die das Kind zur Benennxmg anregen oder es veranlassen, ihm vorgesprochene Wörter in gleicher Bedeutung nach- zusprechen: so in den bekannten Lallwörtern Mama, Pa^pa, ferner atta für das Fortgehen einer Person, mimi für die Milchflasche und dergleichen mehr. Diesen Erscheinungen, die in der Regel in die Wende

Stadien der Lautbildung beim Kinde. 289

des ersten und zweiten oder in die ersten Monate des zweiten Lebens- jahrs fallen, folgen dann die weiteren Wortbildungen der Kinder- sprache meist so rasch, daß schon in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs für die das Interesse erregenden Gegenstände der Um- gebung zureichende Bezeichnungen vorhanden sind. Bei einem Mädchen, dessen erste mit dem Zweck der Benennung gebrauchte Sprachlaute genau in den 12. Monat fielen, zählte ich im 19. Monat bereits 66 Wörter, die sich einen Monat später abermals um 12 vermehrt hatten. Bei- spiele dieser Wortbildungen sind: Oggo Onkel, Dada Tante, Opapa, Omama Großpapa, Großmama, Eje Marie, Wida Friedrich, Mann Mann, Mne Junge, Pipi Vogel, Wauwau Hund, Hotto Pferd, Mi Katze, Mu Kuh, Wa Wagen, Ägga Auge, Mon Mond, Muni guten Morgen, Nan gute Nacht, U Hütchen, Gag Kleid, Jüja Schleier, Aga Jacke, üa Schuh, Bo Boden, Bat Band, Bu Buch, Mia Finger, Miawut Finger- hut, Guga Kuchen, Dida (Tiktak) Uhr, Aga Kaffee, Joj Schoß, adda spazieren gehen, teail aufstehen usw. Erst nach dieser Zeit der ersten Wortbildungen vermehren sich auch die häufiger gebrauchten artiku- lierten Gefühlslaute. So sind von der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs an Laute wie chi, up, id, ol, tschi, pu, Jcch, mp, schi, klu u. a. zu hören. Gegen die Mitte des dritten Lebensjahrs pflegen die sämtlichen in der Sprache der Umgebung vorkommenden Laute auch in der Sprache des Kindes und in den bloßen Gefühlsartikulationen, die längere Zeit neben der eigentlichen Sprache fortbestehen, eine Rolle zu spielen. Dabei werden freilich noch verschiedene Laute mit- einander verwechselt, eine Erscheinung, die aber nur zum allergeringsten Teil in einer wirklichen Unfähigkeit der Artikulation, sondern zumeist in ganz andern Bedingungen ihren Grund hat, auf die wir unten noch zurückkommen werden.

Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. *

290 I^ie Sprachlaute.

2. Angebliche Worterfindung des Kindes.

Bei Müttern und Ammen herrscht weitverbreitet die Ansicht, das Kind erfinde sich seine Sprache selber, und von frühe an wende es diesem Zwecke seine Aufmerksamkeit und Überlegung zu. Die Entstehung dieser Ansicht ist begreiflich genug. Das Kind bringt seine ersten, noch bedeutungslosen artikulierten Laute spontan her- vor; und wenn es dann später diese Laute zu wirklichen Wörtern verbindet, so läßt sich zwar der Einfluß des Vorsprechens nicht ganz übersehen, aber in vielen Fällen liegt er doch nicht ohne weiteres zu- tage. Dazu kommt der eigenartige Charakter der Kindersprache. Auffallend ist es übrigens, daß die nämliche Ansicht fast ausnahms- los auch noch von den pädagogischen Beobachtern der Kindersprache und von vielen Psychologen geteilt wird. Dies läßt sich wohl nur daraus erklären, daß in der Psychologie jener Mütter und Ammen, die von der wunderbaren Erfindungskraft des Kindes erfüllt sind, ein Vorurteil vorkommt, das sich mit merkwürdiger Beharrlichkeit auch in der Psychologie der Gelehrten behauptet hat: das Vorurteil, daß der Mensch von Haus aus ein Wesen sei, das in seinen Hand- lungen von logischen Reflexionen bestimmt werde. Diese Psycho- logen zweifeln z. B. nicht daran, daß jede Empfindung, etwa die Emp- findung blau, die uns der blaue Himmel verschafft, ein ,, Urteil" sei, oder sich mit einem solchen verbinde, weil diese Empfindung irgend- einen, wenn auch noch so primitiven, „Denkakt" ausmache^). Eben- so wird in dem Gefühl der Lust oder Unlust nicht selten eine Be- ziehung zur Güte oder Schlechtigkeit, Nützlichkeit oder Schädlich- keit der Reize gesehen. Und daß vollends jede Willenshandlung aus einer Vergleichung und Bevorzugung der gewollten Handlung her- vorgehe, ist noch heute eine weitverbreitete Überzeugung. Ich glaube nicht, daß in allen diesen Fällen, wenn man sich auf die unbefangene Auffassung der Tatsachen selbst beschränkt, ohne ihnen nachträgliche Reflexionen über sie unterzuschieben, im

^) Vgl. z. B. Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, I, 1874, S. 182.

Angebliche Worterfindung des Bandes. 291

Ernst von einer Nachweisung solcher logischer Vorgänge die Rede sein kann^).

In der Anwendung auf die Psychologie des Kindes äußert sich nun jener Standpunkt der Reflexionspsychologie vor allem darin, daß er auf jede Frage, die das Verhalten des Kindes stellen mag, von vornherein und ohne jede Kontrolle des Beobachteten die Antwort bereit hat. Da alle psychischen Vorgänge logische Denkakte sein sollen, so erscheinen hier die Handlungen des Kindes im allgemeinen als eindeutige Symptome. Wenn z. B. das neugeborene Kind auf süße und bittere Geschmacksreize in verschiedener Weise den Mund verzieht, gerade so wie dies der Erwachsene tut, so wird das als ein Zeugnis dafür betrachtet, daß jenes ebenso wie dieser Abscheu oder Wohlgefallen empfinde. Wenn das Kind sein Auge einem äußeren Lichte zuwendet, so soll es dadurch seine Aufmerksamkeit kundgeben; starrt es das Licht lange und auffallend an, so wird dies als ein Zeichen der Verwunderung oder vielleicht gar des Nachdenkens betrachtet. Daß es alles dies möglicherweise sein könnte, sofern man die Sym- ptome für sich, ohne alle Rücksicht auf die sie begleitenden Bedingungen ins Auge faßt, ist natürlich nicht zu bestreiten. Gewiß ist aber, daß die genannten Erscheinungen eine solche Deutimg noch nicht recht- fertigen, sondern daß andere, unzweideutige Merkmale gegeben sein müssen, ehe wir über den Charakter der zugrunde liegenden psychi- schen Vorgänge oder auch nur darüber entscheiden können, ob es sich wirklich um psychische Vorgänge handelt. Denn in Wahrheit sind alle jene Erscheinungen vieldeutiger Art, und bei dem Ungeheuern Einfluß, den vererbte Organisationsbedingungen, wie sie in besonders verwickelter Form in den Nervenzentren vorauszusetzen sind, auf die Lebensäußerungen ausüben, ist die bloße Analogie gewisser Be- wegungen mit unseren eigenen willkürlichen Handlungen für die psychologische Natur der Prozesse selbst durchaus nicht entscheidend. Hier bietet nun aber gerade die Sprache den großen Vorzug, daß sie uns eine genauere Einsicht in die Bedingungen ihrer Entstehung imd eine vollkommenere Beherrschung dieser Bedingungen gestattet

2) Vgl. hierzu die Bemerkungen der Einleitung, S. 19 ff.

19*

292 Die Sprachlaute.

als die meisten andern Vorgänge der psycMschen Entwicklung. In- dem nämlich die Sprache von Anfang an im Verkehr mit der Um- gebung sich bildet, wird ihre Entwicklung in viel höherem Grad als die der sonstigen psychischen oder psychophysischen Funktionen der Kontrolle durch die objektive Beobachtung zugänglich. Denn jener Verkehr ist ein äußerer Vorgang, den wir bei zureichender Sorg- falt wenigstens in dem Sinne vollkommen zu beherrschen vermögen, daß sich nichts in ihm ereignet, was wir nicht sofort in seiner äußeren Entstehungsweise und seinen objektiven Rückwirkungen verfolgen können. Freilich bedarf es dazu einer täglichen, ja stündlichen Beobach- tung des Kindes und womöglich einer verständnisvollen Mitwirkung aller Personen, die mit dem Kinde verkehren, damit jede neu auf- tretende Erscheinung in ihrem Entstehungsmoment registriert und auf ihre Bedingungen zurückgeführt werden könne. Wenn daher manche zweifellos sonst sorgfältige Beobachter zu Schlüssen gelangt sind, die sich bei Einhaltung der angedeuteten Vorsichtsmaßregeln nicht bestätigen, so trägt daran, wie ich glaube, lediglich jene logische Interpretation der Vulgärpsychologie die Schuld, die sie von vorn- herein geneigt macht, die Sprache im wesentlichen als eine „Erfindung'* des Kindes anzusehen, und von der beherrscht sie begreiflicherweise vor allem bemüht sein muß, den Spuren dieser erfinderischen Tätig- keit nachzugehen. Auf die Nachweisung der äußeren Einflüsse, die hierbei mitwirken, wird dann natürlich nicht die gleiche Sorgfalt ver- wendet.

Schon die Auffassung des allerersten Stadiums der Sprachent- wicklung, jener meist von der siebenten Lebenswoche an allmählich auftretenden artikulierten Laute, die noch keine Sprache sind, aber sie vorbereiten, leidet unter der Geltendmachung dieses logischen Gesichtspunkts. Die populäre Meinung sieht in ihnen ,, Vorübungen", in denen sich das Kind nicht ganz ohne eigene Absicht auf das künf- tige Geschäft des Sprechenlernens vorbereite; und dieser Meinung nähern sich auch die Schilderungen wissenschaftlicher Beobachter gelegentlich in bedenklichem Grade. Mindestens erachtet man es für eine ,, zweckmäßige Einrichtung der Natur", daß das Kind alle die Laute, deren es später bedürfe, selbsttätig erzeuge und sich durch ihre Wiederholung in deren Bildung vervollkommne. Nun kann man

Angebliche Worterfindung des Kindes. 293

es gewiß in retrospektiver Betraclitung für zweckmäßig halten, daß das Kind in dem Augenblick, wo es zu sprechen anfängt, bereits über das Lautmaterial verfügt, dessen es bedarf. Aber objektiv ist das nicht bloß zweckmäßig, sondern notwendig; denn es würde gar nicht ein- zusehen sein, wie eine Nachahmung von Sprachlauten möglich sein sollte, ehe die dabei vorkommenden Lautartikulationen schon vor- handen sind. Subjektiv kann aber von Zweckmäßigkeit nicht geredet werden, weil das Kind mit seinen der Sprache vorausgehenden Lauten überhaupt keinerlei Absicht, am allerwenigsten die, künftig sprechen zu wollen, verbindet. Diese Laute sind reine Gefühlslaute, gerade so gut wie die in einem noch früheren Stadium auftretenden Schrei- laute. Sie unterscheiden sich von letzteren nur dadurch, daß sie an mildere Gefühle, namentlich an mäßige Lustgefühle, gebunden sind. Psychologisch sind sie also jedenfalls nur als Gefühlssymptome zu deuten, und wenn sie späterhin außerdem das Material abgeben, aus dem eigentliche Sprachlaute gebildet werden, so ist das kein anderer Zusammenhang zwischen dem Vorausgehenden und Nachfolgen- den, als wie er uns auch sonst überall in der Entwicklung psychischer Funktionen begegnet.

Mehr als diese der Sprache vorausgehenden Lautartikulationen haben nun aber die den Eintritt in die eigentliche Sprachentwick- lung bezeichnenden Wortbildungen des Kindes die Aufmerksam- keit psychologischer Beobachter gefesselt. Dabei konnte freilich nicht verborgen bleiben, daß das Kind viele Worte von seiner Umgebung aufnimmt imd nachspricht. Doch ist es bezeichnend, wie sehr selbst diese bekannte Tatsache nicht selten durch den Begriff der „Erfin- dung" in ein Licht gerückt wird, das auch diese nachgebildeten Sprach- laute zur Hälfte als eigene Erfindungen erscheinen läßt. Das Nach- sprechen des Kindes wird nämlich unmittelbar mit seiner Neigung zu onomatopoetischen Wortbildungen in Verbindung gebracht. Echo- sprache und onomatopoetische Worterfindung sollen daher im wesent- lichen Vorgänge gleicher Art sein. Von den onomatopoetischen Bil- dungen bezeichnet z. B. Taine die Laute hoho für das Huhn, oua-oiM für den Hund entschieden als selbsterfundene, durch welche das Kind diese Tiere absichtlich nachgeahmt habe. Als weitere Worterfindungen, die mehr in das Gebiet der interjektionsartigen Ausdruckslaute fallen

294 Die Sprachlaute.

würden, führt er ham für „ich will essen", tem im Sinn eines Demon- strativs für „gib, nimm, sieh" an^). In Darwins Beobachtungen be- schränkte sich die angeblich ,, selbständige" Erfindung auf den Laut mum, den das Kind in ähnlichem Sinne wie das von Taine bemerkte ham anwandte, für den Wunsch zu essen oder auch für das Substan- tivum ,, Essen", daher es später diesen Laut sogar in Zusammen- setzungen gebrauchte, z. B. shu-mum im Zucker, blacJc-shu-mum für Lakritzen ^). Sully beobachtete bei einem 8 Monate alten Knaben, also in einer Zeit, die früher liegt als die eigentliche Sprachbildung, die Laute ma-ma als Zeichen der Trauer, da-da als Zeichen der Freude. Ferner hält er da für einen bei englischen und deutschen Kindern instinktiv gebrauchten Demonstrativlaut, und ata oder tata für ein Lautzeichen, welches den Abgang einer Person bedeute usw.^). Ein noch reicheres Vokabular angeblich selbstgeschaffener Wörter geben einige amerikanische Beobachter*).

Natürlich ist es völlig unmöglich, bei diesen Berichten nach- träglich festzustellen, was wirklich eigene Tat des Kindes, und was ihm etwa aus seiner Umgebung unbemerkt überliefert worden ist. Aber so viel ist ohne weiteres ersichtlich, daß zahlreiche, der an- gegebenen Wortschöpfungen entweder gewissen Wörtern aus der Sprache der Erwachsenen »o ähnlich oder in der traditionellen Kinder- sprache seit alter Zeit so heimisch sind, daß sie von vornherein als der Entlehnung dringend verdächtig angesehen werden müssen. Dahin gehören das koko des französischen Kindes für das Huhn, das mit coque, tem für nimm, das mit tiens zusammenhängt, u. a. Die von Sully schon im 8. Monat beobachteten Laute ma-ma und da-da fallen noch in die Zeit der reinen artikulierten Gefühlslaute, wo der erste Laut der gewöhnliche Begleiter der natürlichen Weinbewegungen

^) Taine, Revue philos., I, 1876, p. 5. Über den Verstand, deutsch von L. Siegfried, 1880, I, S. 287 ff.

2) Darwin, Mind, Vol. II. 1876, p. 293.

3) Sully, Untersuchungen über die Kindheit, deutsche Ausg. 1892, S. 130 f.

*) Vgl. besonders Moore, Psychological Review, 1896, Suppl. Nr. 3. Steven- son, Science, 21, 1893. Hun, Monthly Joum. of psych. Med., 1886.

Angebliche Worterfindung des Kindes. 295

ist, während der zweite zu denen gehört, die das Kind neben andern bei behaglicher Gemütsstimmung hervorbringt. Das demonstrative da des deutschen und englischen steht aber ebenso wie das tem des französischen Kindes imter dem Verdacht der Entstehung aus den bekannten Demonstrativwörtem da, das, engl, ihat, und ata oder lata für die Entfernung einer Person gehört ebensogut wie die onomato- poetischen Tierlaute zu dem alten Inventar der Kindersprache. Was Laute wie mum und ham für „essen" betrifft, so berichtet schon Sa- muel Heinicke, ein 19 jähriger Taubstummer habe neben andern ge- wohnheitsmäßig für gewisse Gegenstände gebrauchten Ausdrucks- lauten auch das Wort mum in der Bedeutung ,, essen" gebraucht^). Auch kann wohl die später zu erwähnende Tatsache, daß in zahl- reichen Sprachen zur Bezeichnimg der Funktionen der Artikulations- organe Laute Verwendung finden, bei denen diese Funktionen selbst mitwirken, in diesem Fall als ein Zeugnis für eine natürliche Ent- stehung der Laute angeführt werden 2). Eine andere Frage ist es aber, ob diese Laute nicht, ebenso wie die mancherlei onomatopoetischen Tiemamen, dem Kinde von seiner Umgebung mitgeteilt wurden. Ist es doch eine beliebte Gebärde der Mütter und Wärterinnen, ehe sie dem Kind etwas zu essen geben, die Eßbewegungen nachzuahmen. Dem entspricht, daß mum in der Bedeutung „still" ein englisches Wort ist, das offenbar aus der gleichen Ausdrucksbewegung entstand. Über die Herkunft anderer angebhch selbständiger Worterfindungen läßt sich natürlich nichts vermuten. Doch lehren Beobachtungen über die Entstehung ähnlicher scheinbar ganz willkürlicher Bezeich- nungen, wie vorsichtig man in dieser Beziehung sein muß. So erinnere ich mich, daß ich bei der Beobachtung eines meiner Kinder mehrere Tage von der Frage beunruhigt wurde, wie das Kind dazu kam, einen Stuhl guTc zu nennen, bis ich ermittelte, daß das Kindermädchen mehr- mals eine künstliche Katze auf den Stuhl gesetzt hatte und mit einer hinweisenden Gebärde auf diese dem Kinde zurief „guch\ guckV (von gucken provinziell = sehen) die gewohnte Art, in der sie das Kind aufforderte, nach einem Gegenstand hinzusehen. Das Kind hatte

^) Heinicke, Beobachtungen über Stumme, S. 137. 2) Vgl. unten III, 2.

296 I>iö Sprachlaute.

aber diese Aufforderung nicht auf das Sehen bezogen, sondern zu- nächst als eine Benennung des Stuhles, und dann in zweiter Linie auch als eine solche der Katze aufgefaßt. Aus dieser Erfahrung läßt sich die Lehre entnehmen, daß ein neues und nicht ohne weiteres erklärbares Wort im Mund eines Kindes darum noch lange keine eigene Erfindung sein muß, da bei der ersten Assoziation eines Lautes mit einem Gegenstand oft der seltsamste Zufall mitspielen kann. Höchstens durch eine fortwährende sorgfältige Kontrolle aller Einflüsse, wie sie außerordentlich schwer auszuführen ist, kann man hier hoffen, in jedem einzelnen Falle dem Ursprung eines neu beobachteten Wortes auf die Spur zu kommen.

Unter diesen Umständen ist es nun um so bemerkenswerter, daß in einer Anzahl streng unter Anwendung der gebotenen Vor- sichtsmaßregeln ausgeführter Beobachtungen nicht ein einziges Wort als von dem Kinde selbständig erfunden nach- gewiesen werden konnte. Hierher gehört in erster Linie die Beobachtungsreihe Preyers ,,über die Urlaute und Sprachanfänge eines während der ersten drei Jahre täglich beobachteten Kindes", jedenfalls die eingehendste und sorgfältigste, die wir besitzen. Sie führte in der Frage der Worterfindung zu dem Ergebnis, daß das einzige Wort, das möglicherweise das Kind selbständig erfunden haben konnte, ein schon zu Ende des 11. Monats beobachtetes atta oder hatta, hötta war, das vorkam, wenn jemand das Zimmer verließ, oder wenn das Licht ausgelöscht wurde. Aber Preyer selbst läßt dahin- gestellt, ob nicht auch dieses Wort ein nachgesprochenes sei; und da atta in dem Sinne, in dem es hier gebraucht wurde, ein bekanntes Wort der konventionellen Kindersprache ist, so hat diese Ver- mutung offenbar die größte Wahrscheinlichkeit für sich^). Dies Ergebnis Preyers ist übrigens um so bemerkenswerter, weil dieser Beobachter selbst sich jener Art logischer Interpretation psychischer Vorgänge, aus der die Annahme der ,, Erfindung" der Sprache durch das Kind hervorgegangen ist, durchweg zuneigt. Er würde also von vornherein schwerlich abgeneigt gewesen sein,

1) Preyer a. a. 0. S. 372.

Angebliche Worterfindung des Kindes. 297

eine solche Erfindung zu konstatieren, wenn sie sich nur hätte nachweisen lassen.

Ich selbst habe in zwei Fällen die Entwicklung der Sprache in der Weise verfolgt, daß ich über jedes neu auftretende Wort und seine Bedeutung sorgfältig Buch führte und sofort seinen Ursprung zu er- mitteln suchte, während zugleich alle Personen der Umgebung an- gewiesen waren, auf die in Betracht kommenden Erscheinungen zu achten. Als Kesultat ergab sich, daß bei dem einen dieser Kinder kein einziges Wort, das in der Zeit der eigentlichen Sprachbildung mit dem ersichtlichen Zweck der Benennung entstand, ursprüng- liches Eigentum des Kindes war. Die Beobachtungen bei dem andern Kinde führten zu dem gleichen Ergebnis, mit der Ausnahme, daß für eine einzige Benennung die selbständige Lautbildung nicht als absolut ausgeschlossen gelten konnte. Dieser Ausnahmefall betraf aber nicht eigentlich ein "Wort, sondern ein Geräusch, das von dem Kinde, wie es schien, nachgeahmt wurde. Wenn man nämlich einen Schlüsselbund vor ihm schüttelte, so brachte es mit der Zunge den vibrierenden Laut l-l-l-l-l- hervor, und es gebrauchte dann diesen Laut auch beim Anblick eines einzelnen Schlüssels. Aber in diesem Fall ist es wieder sehr wohl möglich, daß das von dem Kinde gehörte Wort „Schlüssel" auf jenen Laut eingewirkt hatte. Zu dem gleichen negativen Resultat kamen Clara und William Stern sowie E. Meu- mann in ihren sorgfältig durchgeführten Beobachtungen^). Natür- lich bezieht sich dies nur auf die Zeit der ursprünglichen Sprach- bildung, wogegen später, etwa vom 5. Lebensjahr an, auch schon beim Kinde willkürliche Benennungen, analog den scherzhaften Wort- erfindungen des Erwachsenen, gelegentlich vorkommen.

Dieses Resultat bestätigt vollkommen, was sich eigentlich schon aus dem S. 287 geschilderten Verhältnis der ersten Sprachäußerungen

1) Cl. und W. Stern a. a. 0. S. 327 ff. E. Meumann, Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde, ^ 1908, S. 89 ff. Auch Meringer, (Aus dem Leben der Sprache, 1906, S. 206 ff.) schließt sich dem an. Ähnhch wer- den wohl mehrere andere angeblich „erfundene'' Wörter zu deuten sein, die Ament (Die Entwicklung von Sprechen und Denken, 1899, S. 63) von verschie- denen Beobachtern anführt, z. B. Hbu für Vogel (Piepvogel ?), adi für Kuchen (essen?) u. a.

298 Di© Sprachlaute.

zu gewissen andern in die gleiche Periode fallenden Erscheinungen erschließen läßt. Die eine dieser Erscheinungen ist die Echo spräche, die zweite das Auftreten von Grebärden, die deutlich ein eingetretenes Wortverständnis verraten, wie das Hinblicken nach Personen oder Gegenständen, deren Namen genannt werden. Daß beide Erschei- nungen dem spontanen Gebrauch der Sprache vorauszugehen pflegen, ist für die Motive der ersten Wortbildung überaus bezeichnend. Das Kind spricht verständnislos Wörter nach, und es versteht ein- zelne der von seiner Umgebung gebrauchten Wörter, ehe es selbst ein Wort zur Bezeichnung irgendeines Gegenstandes anwendet. Daraus geht hervor, daß in dem Augenblick, wo dies geschieht, die Bedingungen einer nachahmenden Wortbezeichnung vollkommen im Kinde bereit liegen. Es braucht nur noch die beiden bisher getrennt geübten Funktionen, Wortwahrnehmung und Wortverständnis, miteinander zu verbinden, um sich die Wortsprache anzueignen. Jede unbefangene Beobachtung bestätigt, daß dies der wirkliche Weg der Entwicklung ist, und daß die entgegenstehende Annahme teils auf unzulänglicher Beobachtung, teils und hauptsächlich auf der Fälschung des wirklich Beobachteten durch die Einmengung vulgärpsychologischer Vor- urteile und Reflexionen beruht. Dieser letztere Fehler wurzelt um so tiefer, als er noch über die Periode der ersten Wortbildung hinaus die Beurteilung über das Verhalten des Kindes zu bestimmen pflegt. So bemerkt Preyer, die ,, Begriffsbildung" sei von den ersten An- fängen der Wortbildung an da und gestatte dem Kinde, Wörter, die man ihm mitgeteilt, beliebig in ihrer begrifflichen Bedeutung zu er- weitern oder auf neue Begriffe zu übertragen^); und Taine meint, in vielen Fällen, wo dem Kind ein Wort mitgeteilt werde, sei es erst das Kind selbst, das seine Bedeutung bestimme: „wir haben ihm den Ton gegeben, es hat den Sinn dazu erfunden". Im großen und ganzen ,, erlerne es daher die fertige Sprache wie ein wahrer Musiker den Kontra- punkt, ein wahrer Dichter die Prosodie". Worterfindung und An- eignung mit willkürlicher Umformung der Begriffe sollen auf diese Weise fortwährend ineinander greifen. Das von Taine beobachtete Kind gebrauchte z. B. das Wort he he anfänglich nur für das kleine Jesus-

^) Preyer, Seele des Kindes, * S. 380, und an andern Stellen.

Angebliche Worterfindung des Kindes. 299

kind, das man ilim auf einem bestimmten Gemälde gezeigt hatte. Dann zeigte man ihm andere Kinder und endlich sein eigenes Bild im Spiegel, indem man dasselbe Wort ,bebe* sagte. „Hiervon aus- gehend hat das Kind den Sinn des Wortes erweitert; „bebe" nennt es nun alle kleinen Figuren, z. B. die halbgroßen Gipsfiguren auf der Treppe" usw. ^).

Es scheint mir, der Fehler, den die Reflexionspsychologie bei der Beurteilung der von dem Kinde herbeigeführten Wortübertragungen begeht, läßt sich nicht deutlicher kenntlich machen, als es durch dieses Beispiel geschieht. Wenn wir nachträglich die verschiedenen Be- deutungen, die das Kind einem und demselben Wort im Verlauf der Zeit gibt, auf ihr logisches Verhältnis prüfen, so ergeben sich natür- lich Verallgemeinerungen, Verengerungen und sonstige Umwand- lungen der Begriffe. Diese Begriffsoperationen verlegt man nun in das Kind selber. Man nimmt an, dieses ändere den Sinn eines Wortes willkürlich nach seinen Bedürfnissen und womöglich infolge einer Überlegung. Aber nicht nur erklären sich alle jene Erfolge vollkommen zureichend aus naheliegenden Assoziationswirkungen, sondern sie sind auch gelegentlich von Erscheinungen begleitet, die direkt auf bestimmte Wahrnehmungsassoziationen hinweisen, während sie jeder Art logischer Reflexion widersprechen. Wenn das Kind Taines das Wort hebe von dem Jesuskind des einzelnen Gemäldes allmählich auf alle möglichen kleinen Menschengestalten übertrug, so ist das um so weniger zu verwundern, weil man es schon gelehrt hatte, das Wort auf sehr verschiedene analoge Fälle anzuwenden. Die Assoziation ähnlicher Vorstellungen hätte also bei ihm eine merkwürdig unent- wickelte sein müssen, wenn es nicht zu den vielen Fällen der ihm ge-

^) Taine a. a. O. S. 286 ff. Wenn auch nicht alle psychologischen und päda- gogischen Beobachter des Kindes so weit gehen, wie hier von Taine und andern Vertretern der „Erfindungstheorie" geschieht, so huldigen doch die meisten insofern einer ähnlichen Interpretationsweise, als sie in reinen Assoziations- wirkungen, wie den oben geschilderten, bald Umfangserweiterungen der Be- griffe, bald Urteile oder Schlüsse erblicken. Vgl. z. B. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde, 1889, S. 148 ff., Begriff und Begriffe in der Kindersprache, 1902, S. 142 ff. Compayre, Die Entwicklung der Kindes - Seele, übers, von Ufer, 1900, Bd. I, S. 310 ff. u. a.

300 r>ie Sprachlaute.

zeigten Anwendung auch noch einige andere von ähnlicher Beschaffen- heit hinzugefügt hätte. Das letztere wird dem Kind um so leichter, je unbestimmter vielfach die Vorstellungen sind, die es sich bildet, weshalb man auch bei ihm Ähnlichkeitsassoziationen zwischen Gegen- ständen beobachten kann, zwischen denen wir selbst nimmermehr solche bilden würden. Besonders spielen dabei die unvollkommenen Tiefenvorstellungen des Kindes, mit denen wieder seine höchst schwan- kenden Größenvorstellungen zusammenhängen, eine Rolle. So kann man leicht sogar in einem schon vorgerückteren Stadium beobachten, daß ein Kind etwa eine kleine Wasserpfütze und einen See für gleiche oder ähnliche Dinge hält, oder daß es für den Unterschied des von ihm aus dem Material seines Baukastens gebauten und eines wirk- lichen Hauses kein rechtes Maß hat. Helmholtz erzählt, als kleiner Knabe habe er, auf dem Arm seiner Mutter sitzend, von dieser ver- langt, sie solle ihm die Dachdecker vom nächsten Turm, die er für kleine Puppen hielt, herabholen ^). Wenn demnach das Kind meist in viel weiterem Umfang Ähnlichkeitsassoziationen ausführt als der Erwachsene, so beruht das nicht auf einer umfassenderen Tätigkeit der „Vergleichung", sondern umgekehrt darauf, daß es leichter Gegen- stände verwechselt, die nur eine entfernte Ähnlichkeit haben, und daß bei ihm namentlich Größen- und Entfernungsunterschiede noch fast gar keine Rolle spielen. Dagegen kann man nicht minder beobachten, daß es zu solchen Assoziationen, bei denen Reflexionsmomente zu assoziativen Wirkungen verdichtet sind, und die sich bei uns ohne weiteres vollziehen, nicht oder erst dann gelangt, wenn es durch den übereinstimmenden Namen zu einer Assoziation veranlaßt wird. Diese bleibt aber dann zunächst eine reine Wortassoziation. So wurde es einem Kinde, nachdem es einen Stuhl von einer bestimmten Form tül genannt hatte, zuerst schwer, dasselbe Wort auf Stühle von ganz anderer Form zu übertragen. Es zeigte also in dieser Beziehung immer noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hunde, dem man durch asso- ziative Übung das Kunststück beigebracht hat, eine bestimmte Tür zuzuschlagen, der aber nicht sofort veranlaßt werden kann, die näm-

^) Helmholtz, Physiologische Optik, 2 S. 770.

Angebliche Worterfindung des Kindes. 301

liehe Leistung auch, an einer andern zu wiederholen^). Ein anderes Kind übertrug dagegen das Wort dül sofort von einem Stuhl auf ein Sofa^). Sicherlich wird man diesen Unterschied nicht darauf zurück- führen können, daß das erste dieser Kinder nur Begriffe von beschränk- tem, das andere solche von weitestem Umfang gebildet habe, sondern eben nur darauf, daß dort die Assoziation zufällig an einem Merkmal haften blieb, das bloß dem einen StuhLzukam, etwa an seiner Stellung im Zimmer, während sie hier offenbar von der sich häufiger wieder- holenden Vorstellung des Sitzens gelenkt wurde. In der Tat lassen sich in der Periode der Sprachentwicklung, um die es sich hier handelt, durchaus keine Merkmale nachweisen, die über die Absicht, jedesmal nur den einzelnen konkreten Gegenstand zu benennen, hinausgehen. Auch das Kind, das ein Sofa als Stuhl bezeichnet, will damit keinen alle Sitzgelegenheiten umfassenden Allgemeinbegriff ausdrücken, son- der eben nur das eine Objekt, auf das es den Namen durch Asso- ziation übertragen hat. Eine solche Assoziation tritt aber ein, sobald irgendeine Ähnlichkeit oder eine äußere Beziehung gegeben ist, welche zureicht, um bei dem Anblick des neuen Gegenstandes das nämliche Wort zu reproduzieren, das sich mit dem Anblick des früheren kompli- ziert hatte. Nun setzen natürlich alle Begriffe Assoziationen voraus; doch von einer wirklich eingetretenen Begriffsbildung können wir nur dann reden, wenn zwischen den Vorstellungen Beziehungen ent- stehen, die in Urteilen ihren Ausdruck finden. Eine Subsumtion der mit dem gleichen Wort benannten Gegenstände unter eine und die- selbe Gattung kann vollends erst stattfinden, wenn Vergleichungen zwischen den Gegenständen ausgeführt werden, auf Grund deren ein allgemeinerer, ihnen übergeordneter Begriff entsteht. Gewiß kommen Anfänge solcher Begriffsbildung auch beim Kinde vor. Aber sie gehören einer weit späteren Periode an, in der ihm die Sprache schon ein verhältnismäßig geläufiges Werkzeug gewor- den ist.

Deutliche Belege für diesen rein assoziativen Charakter der ursprünglichen Namenübertragungen bieten sich insbesondere auch

1) Vgl. meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, * S. 458.

2) Nach einer Beobachtung von Prof, K. Brugmann.

302 Die Sprachlaute.

bei solclien Benennungen, die aus melir oder minder zufälligen äußeren Berülirungsassoziationen entstanden sind. Hierher gehört der oben berichtete Fall, wo ein Kind das Wort guck, durch das es auf eine künstliche Katze, die auf einem Stuhl stand, aufmerksam gemacht werden sollte, zunächst auf den Stuhl bezog, dann aber auch auf die Katze selbst, so daß nun das gleiche Wort zwei gänzlich verschiedene Bedeutungen angenommen hatte. Einen ähnlichen Fall erzählt Ro- manes nach einer Beobachtung Darwins an dessen Enkelkinde. Das Kind gebrauchte das Wort quah nicht bloß zur Bezeichnung der Enten, in welcher Bedeutung es ihm mitgeteilt worden war, sondern auch zu der des Wassers, und von da aus übertrug es dann das gleiche Wort einerseits auf alle Vögel und fliegenden Insekten, und anderseits auf alle möglichen fließenden Substanzen^). Man wird schwerlich fehlgehen, wenn man nach Analogie mit dem vorigen Fall annimmt, daß hier der Laut, der mit der hinweisenden Gebärde auf eine im Wasser schwimmende Ente verbunden war, gelegentlich einmal mit der Ente und bei einer andern Gelegenheit mit dem Wasser assoziiert wurde, worauf sich dann alles Weitere vermöge der oben erörterten Ähnlich- keitsassoziationen von selbst entwickelte. Oft bildet gerade die Ver- schiedenheit der mit dem gleichen Wort bezeichneten Gegenstände einen sprechenden Beleg für die bloß nach irgendeiner zufälligen Ähn- lichkeit gebildete Assoziation. So übertrug ein 17 Monate altes Kind das Wort eijebapp für die Eisenbahn, die es als Spielzeug besaß, ohne weiteres auf das Bild mehrerer in gleichen Abständen hintereinander gehender Hunde 2).

Darf man nun aus allen diesen Beobachtungen noch nicht schließen, daß das Kind auch späterhin auf bloße Assoziationsbildungen be- schränkt bleibe, sondern eben nur dies, daß die eigentliche Begriffs- bildung einem späteren Stadium angehört und mit der ersten An-

^) Romanes, Die geistige Entwicklung des Menschen. Deutsche Ausgabe S. 283.

2) Das nämliche Kind hatte, im 13. Monat stehend, das Wort ein bißchen (für „behutsam"), das ihm zugerufen wurde, als es nach der Brille seines Vaters griff, auf die Brille übertragen, nach der es jedesmal griff, wenn das Wort in ganz anderem Zusammenhang vorkam. (Mitteilung von Prof. Brugmann.)

Angebliche Worterfindung des Kindes. 303

eignung der Sprache nichts zu tun hat, so gilt dies auch für den Ur- sprung der Sprache selbst. Daß das Kind unter den normalen Ver- hältnissen seiner Entwicklung die Sprache nicht selbsttätig erzeugt, sondern daß sie ihm von seiner Umgebung mitgeteilt wird, ist zweifel- los. Dies schließt aber natürlich nicht aus, daß es irgendeine Sprache, irgendeine Art und Weise, seine Vorstellungen und Gefühle durch Laute kundzugeben, nicht „erfinden" würde, denn dieser Aus- druck ist kein adäquater Begriff für die hier stattfindenden Vorgänge wohl aber selbständig erzeugen und ausbilden würde, wenn nicht die ihm von außen mitgeteilte Sprache dem zuvorkäme. Wäre es möglich, Kinder, ohne ein Wort vor ihnen auszusprechen, aufwachsen zu lassen, so würde vermutlich neben der natürlichen Gebärden- sprache auch eine natürliche, wenngleich vielleicht sehr unvollkommene Lautsprache bei ihnen entstehen. Aber dies würde nach allem, was wir bei der Sprachentwicklung des Kindes beobachten, in einer andern Weise, und es würde sicherlich sehr viel später geschehen^). Die Sprachbildung unserer Kinder ist, weil sie unter dem Einflüsse der redenden Umgebung stattfindet, eine verfrühte Entwicklung. Sie wird hervorgerufen, lange bevor sie spontan erfolgen würde. Es verhält sich mit ihr nicht anders als mit allen ihr nachfol- genden Formen geistiger Entwicklung. Was sich die Gattung in allmählichem Fortschritt durch die Arbeit zahlloser Gene- rationen erringen mußte, das ist für den Einzelnen von früh an ein überlieferter Besitz.

^) Einige namentlich in der älteren Literatur vorkommende Angaben über Kinder, die sich, zusammen aufwachsend, eine eigene Sprache gebildet haben sollen, sind wohl ein für allemal in das Gebiet der Fabel zu verweisen. Da genauere Angaben über jene eigenartige Sprache fehlen, so liegt mög- licherweise eine Verwechselung mit den gewöhnlichen artikulierten Gefühls- lauten vor.

304 Die Sprachlaute.

3. Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung.

Unter den Ergebnissen, die wir der Beobachtung der Sprach- entwicklung des Kindes entnehmen können, steht die Tatsache oben- an, daß die ursprüngliche Entstehung artikulierter Laute und die Anwendung dieser Laute zur Benennung von Gegenständen zwei nach ihren inneren und äußeren Bedingungen völlig auseinander- fallende Vorgänge sind. Die ursprünglichen artikulierten Laute sind reine Gefühlsäußerungen. Als solche sind sie psychische Symptome, so gut wie die Wortbildungen. Aber sie sind im Unterschied von diesen keiner andern Beschränkung unterworfen als der, daß sie, im Gegensatz zu den Schreilauten, mäßige Gemütsbewegungen begleiten. Irgendeine speziellere Beziehung zwischen der Art der Gefühlserregung und der Beschaffenheit der Laute läßt sich hier ge- rade so wenig wie bei den analogen Gefühlsäußerungen vieler Tiere auffinden. Demnach müssen sie wohl, gleich diesen, auf eine phy- siologische Anlage zurückgeführt werden, vermöge deren das Kind ebenso auf Gefühlserregungen mit artikulierten Lauten reagiert, wie es etwa auf süße, saure und bittere Geschmacksreize mit den ent- sprechenden mimischen Bewegungen antwortet. Der Unterschied beider Fälle ist nur der, daß die ursprünglichen Geschmacksreaktionen wahrscheinlich rein physiologische Reflexe in niederen Nervenzentren sind, da sie bereits von der Geburt an beobachtet werden, während die artikulierten Lautreaktionen Lustgefühle voraussetzen, die in der frühesten Lebenszeit noch nicht vorkommen und physiologisch wahrscheinlich erst auf Grund einer umfänglicheren Entwicklung der Leitungsbahnen des Großhirns möglich sind. In der Tat lassen sich die erwähnten Lautartikulationen nach Ursprung wie Wirkung durchaus den mimischen Ausdrucksbewegungen an die Seite stellen, mit dem einen Unterschied, daß jene bald sehr viel mannigfaltiger werden. Daß das menschliche Kind schon in sehr früher Zeit über ein so reiches Register von Lautreaktionen verfügt, die nach ihrer psy- chischen Bedeutung schwerlich in gleichem Grade nuanciert sind, dies kann aber nur auf einer vererbten physiologischen Anlage be- ruhen. Das Kind bringt so werden wir annehmen können in-

Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 305

folge seiner Abstammung von einer mizählbaren Reihe von Ahnen, die alle schon im Besitz der Sprache gewesen sind, die Anlage zu zahl- reichen, schon in den ersten Lebenswochen sich ausbildenden zentralen Leitimgen zur Welt mit, so daß sich seine Gefühle, sobald diese Ent- wicklung vollendet ist, außer in mimischen Bewegungen auch in Laut- artikulationen äußern. Dabei sind die zentralen Verbindungen, von denen die Innervation der Stimmorgane abhängt, von vornherein so mannigfaltig, daß der einzelne Laut ohne merkliche Änderung der Gefühlsqualität in weitem Umfang wechseln kann. Die artikulierten Laute des Kindes sind somit Ausdrucksbewegungen, die in ihrer Viel- gestaltigkeit weit über das nächste Bedürfnis, dem sie dienen, hinaus- gehen, weil sie eben Produkte vererbter Anlagen sind, auf welche die verwickeitere Funktion, die später auch im individuellen Leben aus ihnen hervorgeht, in der generellen Entwicklung bereits einge- wirkt hat.

Diese nahe Beziehung der Lautartikulationen zu den sonstigen Ausdrucksbewegungen läßt sich nun auch daraus erkennen, daß sich bei jenen, ebenso wie bei diesen, sehr früh schon gewisse individuelle Nuancen ausprägen, die allmählich zunehmen, und aus denen sich später die Sprechweise des einzelnen Menschen entwickelt. Noch größere Unterschiede zeigen in dieser Beziehung die verschiedenen Nationen. Wie sehr Lautartikulation imd Tonmodulation bei dem Deutschen, Engländer, Franzosen, Italiener abweichen, ist ja all- bekannt. Daß aber diese Unterschiede nicht bloß von den Anforde- rungen, die der Lautcharakter der Sprache an die Sprachorgane stellt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch von Rassenverschieden- heiten in der physischen Bildung der Artikulationswerkzeuge ab- hängen, lehren die bekannten Erfahrungen über die Aneignung frem- der Sprachen, nach denen selbst bei vollkommener Übung in der Regel noch die Artikulationsweise der Muttersprache ihren Einfluß aus- übt. Natürlich stehen diese beiden Momente in Wechselwirkung: die Eigenschaften der Lautorgane wirken auf die Sprache, imd diese wirkt wieder auf jene zurück. Durch Umgewöhnung und Übung können daher schließlich auch solche Stellungen und Bewegungen entstehen, die dem individuellen Sprachorgan ursprünglich nicht eigen waren. Deshalb ist es nicht leicht, mit Sicherheit festzustellen,

Wu n dt, Yölterpsychologie. I. 4. Aufl. ^0

306 ^i® Sprachlaute.

ob diese Anpassung des Organs an die Sprache bloß die Wirkung in- dividueller Einübung, oder ob sie in irgendeinem Grade in der an- geborenen Organisation bereits vorgebildet ist. Bedenkt man, wie sehr der Artikulationsmechanismus mit den mimischen Bewegungen und durch diese mit der dauernden Gesichtsbildmig zusammenhängt, so ist von vornherein ein gewisser Grad angeborener Anlage auch hier nicht ausgeschlossen. Sind doch bekanntlich einzelne rassenphysio- gnomische Merkmale zuweilen selbst bei stammverwandten Nationen, z. B. Deutschen und Engländern, bereits in sehr früher Lebenszeit zu erkennen. Auch scheinen schon in den Lallsilben der Säuglinge Rassenunterschiede vorzukommen, wenn die folgende Zusammen- stellung der von Frey er und K. C. Moore mitgeteilten Laute einen Schluß zuläßt. Als Zeitpunkt ist in beiden Fällen die 12. bis 14. Lebens- woche gewählt^).

Deutsches Kind. Kind englischer Zunge,

am, ma, ör, rö, ar, ra, hu, ua, om, in, eng, gr-r-r-r, bo-wo, ang, diddle, ing,

ab, la, ho, . mö, nä, na, an, mg, mb, bow-wow, th, udn, pop-pä-pä-bä, udu,

gr, ha, bu, me, nt. bob-bä, um-go, good, momä.

Nun mag man dem Spiele des Zufalls einen noch so großen Ein- fluß einräumen und zugeben, daß große Verschiedenheiten in ähn- lichem Sinn auch bei Kindern gleicher Rasse nicht fehlen; dennoch erscheint der Unterschied bedeutend genug und auch im allgemeinen dem Lautcharakter der beiden Sprachen angemessen. Werden der- gestalt wahrscheinlich selbst die Anlagen zu der besonderen Nuan- cierung der Lautbildungen, wie sie den verschiedenen Sprachen eigen- tümlich sind, in gewissem Grade vererbt, so ist aber um so mehr an- zunehmen, daß jene Fülle artikulierter Gefühlsäußerungen, der wir vom zweiten Lebensmonat an beim Kinde begegnen, mit der all- gemeinen Erwerbung der Sprache durch die Gattung zusammen-

^) Ich habe aus der Tabelle von K. C. Moore die Schreilaute, sowie einige Laute, die annähernde Wiederholungen der bereits notierten sind, aus der Auf- zeichnung Preyers die reinen Vokallaute, weil für die Artikulation minder cha- rakteristisch, hinweggelassen. Vgl. die Originaltabellen bei Preyer a. a. 0. S. 344, Moore S. 116.

Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 307

hängt. Da in den vorsprachlichen Artikulationslauten des Kindes neben den häufiger gebrauchten, den späteren Sprachlauten einiger- maßen ähnlichen immer gelegentlich auch andere, ganz abweichende vorkommen, so liegt übrigens in dieser großen Mannigfaltigkeit von Bildungen wohl zugleich die Erklärung dafür, daß sich das Kind, sobald es in die Periode der eigentlichen Sprache eingetreten ist, leicht ein völlig fremdes Lautsystem aneignen kann, dessen Bewältigung dem Erwachsenen weit schwerer wird. Die kindlichen Sprachorgane können sich eben in dieser Zeit noch, unbeschadet der etwa vorhan- denen vererbten Anlage, jedem möglichen Lautsystem, das ihnen durch die Umgebung dargeboten wird, anpassen^).

Für die individuelle Sprachentwicklung ist es nun offenbar von größter Bedeutung, daß die Reize, durch die jene vererbten Anlagen zur Funktion erregt werden, selber nicht dem Vorgange der Sprach- bildung angehören. Nur hierdurch wird es möglich, daß die Aneignung der Sprache in eine Periode des individuellen Lebens fällt, in der die Fähigkeit zur spontanen Erzeugung derselben noch lange nicht vor- handen sein würde. Denn diese Aneignung besteht eben lediglich darin, daß das Kind die Laute, die es bis dahin als bloße Gefühls- äußerungen hervorbrachte, unter dem Einflüsse des erwachenden Nachahmungstriebes nach den von den Personen der Umgebung vorgesprochenen Lauten umbildet. Auch die ersten Lautnach- ahmungen geschehen daher in jener behaglichen Luststimmung, die das Kind überhaupt zur Lautbildung anregt, und sie beruhen offenbar darauf, daß die Art der Gefühlsäußerung direkt durch den vorge- sprochenen Laut bestimmt wird. So entsteht in der Regel zuerst jene verständnislose ,, Echosprache", die die eigentliche Sprache vor- bereitet. In diesem Stadium wird demnach zu dem gehörten Wort und der gesehenen Lautartikulation eines der bereits eingeübten Laut- gebilde, das einen ähnlichen Schalleindruck hervorbringt, assoziiert. Dies ist eine Gleichheitsassoziation, die sich im Gebiet des Gehörs- sinns abspielt, aber teils durch die objektive Komplikation mit dem

^) So hat man mehrfach beobachtet, daß Kinder europäischer Missionare Sprachlaute, die ihren Eltern unüberwindliche Schwierigkeiten bereiteten, z. B. die Schnalzlaute der Hottentotten, spielend erlernten.

20*

308 I>i© Sprachlaute.

Gesichtsbilde, teils durcli die subjektive mit den Bewegungsempfin- dungen des Spracblauts vervollständigt wird. Der Bildung dieser assoziativen Nachabmung liegt daber allerdings bereits eine Funktion der Aufmerksamkeit zugrunde, in der sieb das erste Erwacben intellek- tueller Tätigkeit ankündigt. Aber diese Funktion bestebt nocb nicbt in der Nacbabmung selbst, die sieb durcb reine Assoziation vollzieht, sondern vielmehr in der erleichterten Apperzeption äußerer Keize, die sich in solcher Assoziation verrät. Dem gebt dann unter der Wirkung dieser zunehmenden Aufmerksamkeit auf Sinnesreize eine zweite Asso- ziation zur Seite: das ist die durch die Gebärden und Blicke der Per- sonen der Umgebung vermittelte bestimmter Worte mit den Gegen- ständen. Erst wenn beide Assoziationen gebildet sind, ist der weitere Schritt ihrer Verbindung mögUch. Diese ist demnach eine Verbindung zweiter Stufe. Als solche, nicht als direkte Beziehung des selbst- erzeugten Wortes auf das Objekt, charakterisiert sie sich schon da- durch, daß jene beiden Assoziationen eine Zeitlang unabhängig neben- einander bestehen, ehe sie sich zu dieser Resultante vereinigen. Ab- gesehen von der stärkeren Spannung der Aufmerksamkeit, welche die Vereinigung der zwei unabhängig entstandenen Verbindungen erfordert erweist sich aber auch hier der Prozeß als ein rein asso- ziativer. Als solcher läßt er sich seinen Hauptbestandteilen nach in die Gleichheitsassoziationen des gehörten Wortes mit dem selbst- erzeugten Sprachlaut und in die Berührungsassoziation mit der hin- weisenden Gebärde und mit dem durcb sie bezeichneten Gegenstande zerlegen, wozu als komplikatives Mittelglied noch die Empfindung der eigenen Artikulationsbewegungen hinzukommt.

Eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielt endlich die Gebärde. Sie ist es, die am frühesten von dem Kinde „verstanden", das heißt als eine Andeutung davon aufgefaßt wird, daß mit dem Worte der gezeigte Gegenstand gemeint sei. Diese Auffassung ist aber freilich nicht ohne weiteres vorhanden, sondern sie entsteht bei den ersten Benennungen infolge wiederholter hinweisender Gebärden. Auch hier wird man daher annehmen dürfen, daß zunächst die Wahr- nehmung der Gebärde mit der des Gegenstandes ein Ganzes bildet, das mit dem Wort assoziiert wird, worauf dann erst die Gebärde durch ihre relativ gleichförmige Wiederholung hinter dem gezeigten Objekt

Psychophysische Bedingungen der individuellen Sprachentwicklung. 309

zurücktritt. Auf diese Weise ist es gewissermaßen eine Verbindung von^ Gebärdensprache und Lautspracbe, die dem Kind allmählich die freie Verfügung über die mitgeteilten Wörter verschafft, und die den Übergang von den vorwiegend durch äußere Verbindungen der Eindrücke erweckten Assoziationen zu den apperzeptiven Verbin- dungen vermittelt^).

Die allmähliche Entwicklung der apperzeptiven Funktionen aus den Assoziationen tritt in diesem Fall augenfällig darin zutage, daß die nächste Verbindung, die wegen der elektiven Wirkung der Aufmerksamkeit als eine apperzeptive betrachtet werden muß, zu- gleich ein unmittelbares Ergebnis der vorausgehenden Assoziationen ist. Aus der Assoziation zwischen Sprachlaut, Gebärde und Gegen- stand sondern sich für die Apperzeption Sprachlaut und Gegenstand als die beiden zusammengehörigen Bestandteile. Dies kann aber nur geschehen, weil die das Mittelglied bildende Gebärde durch die Be- dingungen der Assoziation selbst schon zurückgedrängt wird. Ist einmal erst irgendein Wort durch jene assoziative Auslese ohne die Gebärde und ohne sonstige ursprünglich begleitende Nebenvorstellungen als Zeichen eines bestimmten Gegenstandes apperzipiert worden, so bedarf es nun in künftigen Fällen jener assoziativen Eliminations- prozesse nicht mehr, sondern bei jedem andern Gegenstande wird das gleichzeitig ausgesprochene Wort ohne weiteres als das ihm zu- gehörige Zeichen aufgefaßt. Die zuerst nur durch den Mechanismus der Assoziationen entstandene Auslese ist so zu einer gewollten geworden. Bestand bei der ursprünglichen Nachahmung der Sprach- laute der Willensvorgang nur in der Kichtung der Aufmerksamkeit auf den gehörten Laut und auf das durch die Gebärde gezeigte Ob- jekt, so betätigt er sich nun auch darin, daß er unter allen den Ein- drücken, die in einem Moment zusammentreffen, gerade diese zwei,

^) Die große Bedeutung der Gebärde für die Sprachentwicklung des Kindes ist sehr deutlich auch daran zu beobachten, daß das Band selbst sehr häufig Ge- bärden früher als Sprachlaute zur Bezeichnung von Gegenständen anwendet, wobei es diese Gebärden nur mit beliebigen Gefühlslauten begleitet. Bei der Gebärde, namentlich der hinweisenden, ist eben die Beziehung zu dem Gegen- stand eine unmittelbare, während sie bei dem Wort erst durch die assoziative Einübung entstehen muß.

310 Die Sprachlaute.

den Sprachlaut und den zu ilim gehörigen Gegenstand, als zusammen- gehörige herausgreift. Damit ist aber die Apperzeption des einzelnen Eindrucks in eine apperzeptive Verbindung übergegangen.

4. Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache.

Wenn in solcher Weise im allgemeinen jedes Wort der kind- lichen Sprache eine bloße Nachahmung eines vorgesprochenen Wortes ist, wie erklären sich dann aber die Eigenschaften dieser Sprache? Bekanntlich haben besonders die onomatopoetischen Wörter die An- nahme veranlaßt, das Wort werde mindestens in vielen Fällen von dem Kinde selbst ,, erfunden". Denn diese Lautnachahmungen er- scheinen nicht bloß an sich als natürliche, der Auffassungsstufe des Kindes entsprechende Bildungen, sondern sie sind auch in gewissem Grade, analog wie die Gebärden, eine Art Universalsprache. Aller- dings fehlt es in dieser nicht an dialektischen Unterschieden, in denen sich die Spuren des Einflusses der allgemeinen Sprache der Umgebung verraten: so wenn das deutsche Kind den Hund wau-wau, das fran- zösische oua-oua, das niederländische waf-waf, oder wenn das deutsche das Huhn gluh-gluk oder tuh-tuk, das französische koh-koh nennt u. dgl. Der bemerkenswerteste Unterschied ist aber wohl der, daß die Neigung zu onomatopoetischen Wortbildungen außerordentlich variiert. Während sie sich bei den europäischen Nationen im wesentlichen auf einige Tiemamen und wenige Vorgänge des täglichen Lebens, wie das Essen, das Klingeln der Hausglocke u. dgl., beschränkt, sind z. B. die japanische und die chinesische Kindersprache überaus reich an solchen Formen^). Viele dieser Formen sind in die tägliche Um-

1) Die folgende kleine Tabelle ist ein Auszug aus einer im ganzen 53 ono- matopoetische Wörter umfassenden Sammlung der japanischen Kindersprache, die ich der Güte des Herrn J. Jrie in Sendai verdanke: dö-dö Pferd mö-mö Kuh, wan-wan Hund, nya-nya Katze, ziu-ziu Maus, ka-ka Krähe, kokko Huhn, ho- kekio Nachtigall, po-po Taube, zion-zion Sperling, gizzion Heimchen, bun-bun Biene, pi-pi Flöte, sian-sian oder gon-gon große Glocke, zirin-zirin kleine Glocke, don-don Trommel, gara-gara Wagen, goro-goro Donner, kon-kon Husten, mon- mon Buchstabe (Nachahmung der Lippenbewegungen), /w-/u Feuer (von der

Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. 311

gangssprache übergegangen, wie sicli denn namentlich das Japanisclie, ähnlich den malaio-polynesischen Sprachen, durch den reichen Ge- brauch von Verdoppelungsformen auszeichnet, von denen manche ursprünglich der Kindersprache entlehnt sein mögen. Anderseits ist es aber doch wahrscheinlich, daß die Motive, die allge- mein als psychologische Ursachen der Lautwiederholung vor- kommen, in jenen Sprachen überhaupt sehr viel wirksamer ge- wesen sind, so daß nun diese Eigenschaft auch wieder die Kindersprache beeinflußte^).

Demnach ist der internationale, hierin der Gebärdenmitteilung verwandte Charakter der Kindersprache zwar ein Zeugnis für die unmittelbare Verständlichkeit ihrer onomatopoetischen Lautbil- dungen, ohne daß diese darum ein ursprüngliches Eigentum des Kin- des selbst zu sein brauchen. Wohl aber werden wir, gemäß der all- gemeinen Entstehungsweise der kindlichen Wortbildungen, schließen dürfen, daß es besondere, von denen der sonstigen Sprache im all- gemeinen abweichende Motive sind, welche die Personen der Um- gebung im Verkehr mit dem Kinde zu jenen eigentümlichen Wort- bildungen veranlassen oder irgendeinmal veranlaßt haben, denn eine große Anzahl dieser Wörter ist ja ebenso ein überliefertes Gut wie die sonstige Sprache. Doch in jedem Falle bleibt es die Eigen- art solcher Lautbildungen, daß sie für diesen spezifischen Zweck über- liefert sind, und daß bei ihnen die Affinität zwischen Laut und Be- deutung, wenn nicht dem Kinde, so mindestens dem Erwachseneu gegenwärtig ist, daher er denn auch leicht den überkommenen Wort- schatz mit analogen, selbstgeschaffenen Bildungen vermehrt. Eben deshalb werden wir aber annehmen dürfen, daß die nämlichen psycho- logischen Bedingungen, die uns bei diesen fortwährend neu entstehen- den Bestandteilen begegnen, bei der ursprünglichen Bildung jener Kindersprache wirksam waren. Solcher Motive gibt es im allgemeinen

Mundbewegung beim Anblasen desselben), uma-uma Essen (Eßbewegungen), ita-ita schmerzhaft, auch Messer (Ausruf bei der Schmerzempfindung), pappa Tabak (vom ,, paffen*', des Rauchers).

^) Über die psychologischen Ursachen der Verdoppelungserscheinungen im allgemeinen vgl. unten Kap. V, Nr. V, 3.

312 1^16 Sprachlaute.

zwei. Das erste bestellt in dem Bestreben, die eigene Wortbildung dem leicht verfügbaren Lautvorrate des Kindes und den in den vor- spracMiclien artikulierten Lautbildungen am häufigsten auftreten- den Verbindungen anzupassen; das zweite in dem Triebe, das Wort so zu bilden, daß es durch sich selbst verständlich werde. Beide Mo- tive entspringen wieder in keiner Weise aus irgendeiner Reflexion über Mittel und Zweck, sondern sie bestehen in Trieben, das heißt in einfachen, durch die unmittelbare Wahrnehmung und die an sie gebundenen Gefühle veranlaßten Willenserregungen und Hand- lungen. Der erste dieser Triebe stimmt mit dem Nachahmungstrieb des Kindes, wie er sich in der Echosprache äußert, wesentlich überein, und er wird selbst durch die Echosprache stark angeregt. Kann man doch, wenn erst dieses Stadium eingetreten ist, nicht selten beobachten, daß Mutter und Kind einander wiederholt irgendein Wort zurufen, das im Grunde für beide Teile die Bedeutung eines Echowortes hat, weil es bloß aus der Lust an der Wiederholung hervorgeht. Bei dem gewöhnlichen Vorsprechen kommt zu dieser Äußerung des Nach- ahmungstriebs als zweites Motiv die Absicht, einen bestimmten Gegen- stand durch Laut wie Gebärde dem Kinde deutlich zu machen. Dies ist kein einfacher Gefühlsimpuls mehr, sondern meist schon ein kom- plizierter Willensvorgang. Immerhin folgt auch er nicht selten trieb- artig den Motiven, die sich aus der Situation ergeben. Demnach wird die Benennung von selbst halb Nachahmung der kindlichen Lailaute, halb Nachbildung irgendeines am Gegenstande wahrgenommenen Merkmals. Das Produkt dieser Mischung der Motive ist notwendig irgendeine onomatopoetische Wortbildung. Da das Kind gerade in der Periode, die der eigentlichen Sprachbildung vorausgeht, ohne- hin stark zu Lautwiederholungen neigt, an denen sich sein erwachen- des rhythmisches Gefühl erfreut, so erklärt sich schon hieraus, daß diese Neigung auch der Kindersprache sich mitteilt oder vielmehr instinktiv von der Umgebung des Kindes ihr mitgeteilt wird, indem sich dabei nur die mehrfache Wiederholimg in der Eegel auf die einfache Verdoppelung einschränkt. In geringerem Grade wirken dann gelegentlich auch die von den Objekten selbst hervorgebrachten Laute mit, wie bei „wau-wau" für den Hund, „hot-hot" für das Pferd. Aber entscheidend ist dieses Motiv

Psychologische Eigenschaften der kindlichen Sprache. 313

jedenfalls niclit, da es bei andern Namen, wie z. B. bei „Papa" und „Mama" ganz binwegfällt.

Nach allem dem ist die kindlicbe Spracbe ein Erzeugnis der Um- gebung des Kindes, an dem das Kind selbst wesentlich nur passiv mitwirkt. Diese Mitwirkung besteht hauptsächlich darin, daß das Kind die Laute am leichtesten nachahmt, die am deut- lichsten von ihm gesehen werden, daher diese nun auch für den Lautvorrat der Kindersprache bestimmend sind. Dazu kommt dann, daß der Erwachsene, der mit dem Kinde verkehrt, instinktiv seine Äußerungen dem wirklichen oder vermeintlichen Anschau- imgskreise des Kindes anpaßt, indes die dem Kinde vermöge natür- licher Gefühlsmotive eigene Neigung zu Lautwiederholungen die ono- matopoetische Gestaltung der Wörter beeinflußt. Eine wesentliche Rolle bei der Mitteilung der Bedeutungen spielt endlich die meist triebartig mit dem Worte verbundene Gebärde, die durch ihre an- schauliche Beziehung zu dem Gegenstand dem Kind am frühesten verständlich ist und am frühesten und selbständigsten von ihm wieder- holt wird. Für das Problem, wie die Sprache ursprünglich entstanden ist, bietet somit die Analyse der kindlichen Sprachentwicklung keine unmittelbar verwertbaren Ergebnisse, immerhin aber einige indirekte Wegweiser in der bei ihr so augenfällig hervortretenden instinktiven Anpassung des Redenden an Anschauungen und Gefühle des An- geredeten, sowie in der Bedeutung der Gebärde für die erste Verstän- digung durch die Lautsprache ^).

^) Mit dem Ergebnis, daß die kindliche Sprache nicht von dem Kind „er- funden'*, sondern ihm unter den oben erörterten Bedingungen des wechsel- seitigen Verkehrs von der Umgebung mitgeteilt ist, erledigt sich von selbst die in verschiedenen Schriften über die Sprache des Kindes wiederkehrende Be- hauptung, die Entwicklung der kindlichen Sprache sei „eine abgekürzte Wieder- holung der Sprachentwicklung überhaupt". (Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken, S. 42.) In Wahrheit ist die Entwicklung der kindlichen Stimmlaute eine annähernde Wiederholung der allgemeinen Entwicklung der Stimmlaute genau bis zu dem Zeitpunkt, wo die Sprache anfängt, also im Stadium der unartikulierten Schreilaute und allenfalls auch noch der unartiku- lierten sinnlosen Gefühlslaute; darüber hinaus ist sie es nicht mehr. Ähnlich- keiten mit den Lautsystemen der Naturvölker, speziell der Polynesier, die H. Gutz- mann (Zeitschrift für pädagogische Psychologie, I, 1899, S. 28 ff.) als beweisend

314 Die Sprachlaute.

5. Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache.

Sind die bisher betrachteten Eigenschaften der Kindersprache Wirkungen des Verkehrs mit der Umgebung, an denen diese im all' gemeinen mehr beteiligt ist als das Kind, so verhält sich dies nun wesentlich anders bei einer letzten Reihe von Erscheinungen, die so gut wie ausschließlich in dem sprechenden Kinde selbst ihre Quelle haben: das sind die Lautvertauschungen und die „Lautverstümme- lungen". Sie sind zugleich diejenigen Erscheinungen, die am längsten andauern, so daß ihre letzten Spuren in der Regel noch zu beobachten sind, wenn im übrigen eine vollständige Aneignung der Sprache ein- getreten ist.

Die herrschende Meinung geht dahin, alle diese Lautverände- rungen seien durch das Unvermögen des Kindes bestimmte Laute hervorzubringen veranlaßt. Das Kind substituiere daher regelmäßig dem schwierigeren Laut einen leichteren. Fritz Schnitze suchte das Prinzip dieser Substitution auf die Regel zurückzuführen, für den unaussprechbaren Laut setze das Kind den ihm nächst verwandten, mit geringerer physiologischer Schwierigkeit sprechbaren ein, und wenn es diesen nicht zu beherrschen vermöge, so lasse es den Laut

ansieht, sind dies um so weniger, als die Eigenschaften und die genealogischen Zusammenhänge der polynesischen Sprachen annehmen lassen, daß diese dereinst ein reicheres Lautsystem besaßen, und daß sie überhaupt lautlich sehr starke Veränderungen erfahren haben. (Fr. Müller, Expedition der Novara, Linguistischer Teil, 1867, S. 290.) Auch stehen z. B. die melanesischen Sprachen jedenfalls nicht höher in ihrer Entwicklung; gleichwohl sind sie verhältnismäßig reich namentlich auch an konsonantischen Lauten. (Vgl. H. C. von der Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, I, S. 253, 266.) In dem lautgeschichtlich am zu- verlässigsten durchforschten Gebiet aber, in dem der indogermanischen Sprachen, scheint der Lautbestand der uns erreichbaren Urzeit nicht ärmer, sondern reicher zu sein als der der meisten Sprachzweige, die aus der Ursprache hervorgegangen sind. Wenn gewisse Analogien der kindlichen Sprache mit der der Naturvölker trotzdem existieren, so liegen sie, wie sich später zeigen wird, auf einem ganz andern Gebiet: auf dem der Wort- und Satzfügung, und sie lassen sich nicht aus einem „biogenetischen Grundgesetz", wohl aber aus den allgemeinen Eigenschaften eines unentwickelten Bewußtseins ableiten. (Vgl. Kap. VIL)

Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache. 315

ganz weg^). Dieser Kegel haben andere Beobachter teils zugestimmt, teils widersprochen. Im ganzen ist aber dabei nicht das Prinzip als solches, sondern nur die ihm beigegebene Eegel beanstandet worden^). Ich bin im Gegenteil geneigt, dem von Schultze aufgestellten Satze, daß bei den Lautumwandlungen des Kindes die Verschlußstelle von hinten nach vorn verlegt wird, von den gutturalen und palatalen zu den labialen und dentalen Artikulationen, eine gewisse Geltung ein- zuräumen. Dagegen glaube ich, daß das ziemlich allgemein angenom- mene Prinzip, das Kind substituiere überall da andere Laute, wo ihm die geforderten unmöglich oder schwierig sind, nicht aufrecht- erhalten werden kann. Diese Annahme wird, wie mir scheint, einfach dadurch widerlegt, daß das Kind meistens schon in den Anfängen seiner nachahmenden Sprachbewegungen im vollen Besitz aller der Artikulationen ist, die zu den verschiedenen Lautbildungen erfordert werden, indem es dieselben fortwährend in den der eigentlichen Sprache vorausgehenden Gefühlslauten verwendet. Dazu kommt, daß die gleichen Laute in gewissen Wörtern vermieden und gleichzeitig in andern gebraucht werden. Das nämliche Kind, welches das Kind ,,Tind" und die Pfeife ,,Peipe" nennt, spricht etwa das Wort Gasse ,,Gack" und Vater ,,Faata'' aus. Nicht in dem Unvermögen, die Laute überhaupt hervorzubringen, sondern in andern Bedingungen müssen also diese Umwandlungen ihren Grund haben. In der Tat ergibt die Beobachtung des Kindes selbst und die nähere Betrachtung der statt- findenden Lautumwandlungen zwei Bedingungen, die es vollkommen begreiflich machen, daß trotz der Fähigkeit, die geforderten Laute zu erzeugen, mehr oder minder eingreifende Veränderungen beim Nachsprechen derselben entstehen müssen. Die erste dieser Be- dingungen besteht in der unvollkommenen akustischen wie optischen Apperzeption der Laute und Lautbewegungen, die zweite in den innerhalb der zusammenhängenden Rede ein- tretenden, beim Kinde wesentlich gesteigerten Kontaktwirkungen der Laute.

1) Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes, 1880, S. 34 ff. 3) So besonders von Preyer, Seele des Kindes, 3 S. 346, 434, sowie von W. Ament, Die Entwicklung von Sprechen und Denken usw., S. 65 ff.

316 Die Sprachlaute.

Zunächst wird die erste Entstellung nachalimender Artikula- tionsbewegungen niclit bloß dadurch bestimmt, daß die Laute gehört, sondern wesentlich auch dadurch, daß die Lautbewegungen gesehen werden. Blindgeborene Kinder beginnen daher viel später nachzu- sprechen als sehende, und in den meisten Fällen sogenannter „Hör- stummheit", bei der die Entwicklung der Sprache trotz vorhandener Hörfähigkeit und anscheinend zureichender Intelligenz ausbleibt, erweisen sich Defekte des Sehens mindestens als mitbeteiligt^). Solche Sehdefekte hemmen freilich noch aus einem andern Grunde die Wort- nachahmung: sie hindern die Assoziation zwischen Wort, Gebärde und Gegenstand. Aber eine wichtige Seite dieses hemmenden Ein- flusses wird man immerhin auch darin erblicken müssen, daß der von den gesehenen Artikulationsbewegungen ausgehende Antrieb hin weg- fällt. Beobachtet man doch gerade in der ersten Zeit der Wortbildung, besonders auch bei der sogenannten Echosprache, daß das Kind dem Sprechenden aufmerksam das Wort vom Munde abliest, ehe es das- selbe wiederholt. Es ahmt also gleichzeitig den akustischen und den optischen Eindruck des Wortes, und zunächst sogar vorzugsweise den letzteren nach, da die gesehene Artikulationsbewegung einen weit stärkeren Impuls zur Mitbewegung hervorbringt als der gehörte Laut. Hieraus erklärt sich immittelbar das starke Übergewicht der la- bialen und dentalen Laute in der Kindersprache: das Kind ahmt eben vor allem diejenigen Komponenten der Lautbewegungen nach, die es sieht. Erst in zweiter Linie steht die Ungenauigkeit der Gehörswahrnehmung, die es dann freilich mitbedingt, daß das Kind lange Zeit bei seinen falschen Artikulationen verharrt. In dieser Be- ziehung zeigt sich aber beim Kinde nur in verstärktem Maße, was wir fortwährend auch in der Kede des erwachsenen Menschen beobachten können, wenn dieser Laute nachbildet, die seinem Sprachorgan un- gewohnt sind. Unsere eingeübten Wortvorstellungen sind Kompli- kationen von Lautempfindungen und Artikulationsempfindungen

1) A. Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen, Heft 3: Hörstumm- heit, 1898, S. 16. Über kindliche Sprachstörungen und Sprachhemmungen über- haupt vgl. H. Gutzmann, Des Kindes Sprache und Sprachfehler, 1894. Sprach- entwicklung des ELindes und ihre Hemmungen, 1902.

Lautvertauschungen und Lautverstümmelungen in der Kindersprache. 317

und die Worteindrücke werden erst von dem Augenblick an verhält- nismäßig treu apperzipiert, wo ihnen die entsprechenden Lautemp- findungen früherer gleicher Eindrücke assimilierend entgegenkommen, und wo sie sich zugleich unmittelbar mit den zu ihnen gehörigen Ar- tikulationen assoziieren. Darum vermögen wir nur solche Sprach- laute vollkommen richtig zu hören, die wir auch selbst richtig erzeugen können. Wer im eigenen Sprechen das linguale mit dem gutturalen r oder die Tenuis mit der Media verwechselt, dem entgehen die Unter- schiede meist auch beim Hören der Laute. Nicht anders verhält es sich bei der Aneignung einer fremden Sprache, die darum in ihrem Lautcharakter stets nach den geläufigen Lauten der eigenen um- gemodelt wird. Nun sind beim Kinde alle diese Assoziationen von Laut- und Artikulationsempfindungen noch unausgebildet, und eben- so stehen ihm anfänglich assimilierende Wortgebilde noch nicht oder nur in abgeänderter Beschaffenheit zu Gebote. Es ist daher selbst- verständlich, daß sich die Sprachlaute, in denen es die unvollkommen gehörten und gesehenen Laute nachbildet, nur sehr allmählich mit der Sprache seiner Umgebung in Einklang setzen.

Zu den abändernden Einflüssen, denen der einzelne Laut als solcher unterworfen ist, kommen aber als ein zweites die Lautform wesentlich bestimmendes Moment die Kontaktwirkungen der Laute, die durch ihre Verbindung zu zusammengesetzten Wort- gebilden eintreten, und die wiederum nach denselben allgemein- gültigen Gesetzen erfolgen, nach denen wir sie überall in der Sprache wirksam finden, denen aber allerdings die kindliche Sprache nicht nur in stärkerem Grade, sondern auch überwiegend in anderer Rich- tung unterworfen ist, als die seiner Umgebung. Alle diese unter den Bezeichnungen der „progressiven und regressiven Assimilationen und Dissimilationen" bekannten Wirkungen werden uns als normale sprach- liche Erscheinungen im folgenden Kapitel näher beschäftigen. Hier sei nur soviel bemerkt, daß sie als psychophysische, gleichzeitig auf Assoziationen der Lautvorstellungen und auf mechanischen Bedingungen der Artikulationsbewegungen beruhende Vorgänge zu deuten sind, die sich mit der Geschwindigkeit des Eedeflusses steigern, mit der wachsenden Übung der Artikulations- und der ihnen parallel gehen- den Vorstellimgsbewegungen aber abnehmen. Nun besitzt natürlich

318 Die Sprachlaute.

das Kind diese Übung in sehr geringem Maße, und auch die Vor- stellungsbewegung ist bei ihm eine verlangsamte gegenüber dem nor- malen Bewußtsein. Daraus erklärt sich, daß die Sprache des Kindes geradezu überfüllt ist mit diesen Kontaktwirkungen, durch welche die Laute einander angeglichen oder durch Dissimilation gesondert oder ganz unterdrückt werden. Es erklärt sich aber aus der lang- sameren Vorstellungsbewegung des Kindes insbesondere auch die andere Tatsache, daß bei ihm die progressiven Assimilationen weitaus überwiegen. Aus einer großen Zahl hierher gehöriger Beobachtungen vermag ich nur sehr wenige regressive Assi- milationen anzuführen; sie sind durchweg zugleich solche, bei denen ohnehin die Richtung der selbständigen Lautvertauschung der Veränderung begünstigend entgegenkommt. So wott für fort, Däthe für Käthe, Nanone für Kanone. Diesen Bei- spielen steht eine große Menge progressiver Assimilationen teils für sich teils mit Lautvertauschungen und Dissimilationen vermischt gegenüber, z. B. Nana für Nase, Tata für Tante, Munn für Mund, Nann für Nacht, Gag für Kleid, Guga für Kuchen, Dedde für Decke, Bebe für Besen, Bübü für Bücher, Bihhe für Bitte, Joj für Schoß, Auau für Auge, Mormor für Morgen, Dodanana für Promenade usw. Die Assimilationen sind, wie man sieht, bald konso- nantische, bald vokalische, am häufigsten aber beides zugleich, während nicht selten außerdem Dissimilationen mitspielen. Letztere kommen übrigens auch gelegentlich, namentlich bei dem Zusammentreffen von Konsonanten, für sich allein vor: so in Faata für Vater, Aam für Arm, Baat für Bart. Jenes Überwiegen der progressiven Assimilation ist besonders deshalb bemerkenswert, weil in allen Kultursprachen indogermanischer und semitischer Herkunft überwiegend die um- gekehrte, regressive Form der Assimilation vorkommt, während in andern Sprachen, z. B. in den ural-altaischen, ähnlich wie beim Kinde, die progressive, und zwar vorzugsweise die vokalische vorherrscht. Die Erklärung dieser Erscheinungen wird uns später beschäftigen. Hier mußten sie nur als diejenigen Momente hervorgehoben werden, die vor allem andern die Lautabweichungen der Kindersprache be- dingen. Zugleich sieht man unmittelbar an den obigen Beispielen, wie sehr diese Erscheinungen die der Kindersprache eigenen Laut-

Primäre und sekundäre Interjektionen. 319

Wiederholungen begünstigen. Indem die vorangehende Silbe auf die nachfolgende assimilierend einwirkt, bringt sie eben ohne weiteres eine Lautwiederholung hervor.

III. Naturlaute der Sprache und ihre Umbildungen.

1. Primäre und sekundäre Interjektionen.

„Naturlaute" nennen wir, wenn der Begriff im Zusammenhange mit dem des Sprachlauts und zugleich im Gegensatze zu diesem ge- braucht wird, alle Stimmlaute der Tiere und des Menschen, die der Wortsprache vorausgehen oder als Überlebnisse eines vorsprach- lichen Zustandes in sie hineinreichen. In diesem Sinne sind die sämt- lichen natürlichen Stimmlaute der Tiere und die Lautäußerungen des Kindes, bevor es zu sprechen anfängt, Naturlaute. Das Kind, nach- dem es sprechen gelernt hat, fährt fort, seine lebhafteren Gefühle in ihnen zu äußern. Beim entwickelten Menschen treten sie zurück: sie werden mehr und mehr von der Sprache verdrängt, indem auch die lebhafteren Gefühle allmählich in sprachliche Formen eingekleidet werden. Doch ganz verschwinden sie niemals. Vielmehr dauern sie in den beiden Gattungen fort, in die sie sich schon bei manchen Tieren und beim Kinde in den ersten Lebenswochen geschieden haben: als unartikulierte Schreilaute, die sich allerdings beim erwachsenen Menschen durchgehends auf die äußersten Grade des Schmerzes oder allenfalls noch der Wut oder des Jubels einschränken, und als artikulierte Gefühlslaute, die im ganzen mäßigere Gefühle ausdrücken, infolge der fortschreitenden Ablösung durch die Sprache aber ebenfalls seltener und auf intensivere Gefühle zurück- gedrängt werden.

Die stehen gebliebenen Keste dieser reinen Naturlaute sind die primären Interjektionen. „Primär'* wollen wir sie nennen, weil sie die ursprünglichsten sind, und weil sie den Charakter von Natur- lauten vollständig bewahrt haben. Mit der eigentlichen Sprache in gar keiner inneren Verbindung stehend, bilden sie gleichsam ver- einzelte Trümmer einer vorsprachlichen Stufe, die den Zusammen-

320 Die Sprachlaute.

hang der Rede unterbreclien. Dahin gehören Laute wie im Deutschen oA, achy ah, au, weh, ha, he, ei, juhe. Rufe, die in den Sprachen der modernen Kulturvölker nur gering an Zahl sind, im Griechischen und Lateinischen aber in mannigfaltigeren Abstufungen vorkommen und, wie es scheint, häufiger gebraucht wurden. So hat das Latei- nische als Rufe der Freude io, iu, ha, euoe, des Schmerzes vae, heu, eheu, ohe, au, der Verwunderung o, en, ecce, hui, hem, vah, des Zurufs heus, o, eho, froh, die sämtlich in die Literatursprache, namentlich der Komödiendichter, übergangen sind, und wozu gelegentlich auch noch andere, mehr zufällige Gefühlslaute kommen, die kein festes Bürgerrecht in der Sprache erworben haben. Denn gerade dieses Ge- biet ist momentanen Neubildungen besonders zugänglich. Auch die Sprachen primitiver Kulturvölker sind reich an primären Interjek- tionen^). Dabei tragen alle diese Gefühlslaute in den verschiedensten Sprachen namentlich insofern einen verwandten Lautcharakter, als die Naturlaute für heftige erregende Affekte die hohen, solche für deprimierende Gefühle die tieferen Vokalklänge enthalten. Doch ist es sichtlich nicht sowohl die Kultur an sich, die diese Zahl all- mählich beschränkt, als vielmehr die von der Sitte gebotene Mäßigimg der Affektäußerungen. Der antike Mensch gibt seine Freude wie seinen Schmerz ungehemmter in Gebärden wie Lauten kund. So werden bekanntlich die Helden Homers gelegentlich schreiend und laut jam- mernd geschildert, wobei es freilich der epische Dichter meist dem Hörer überläßt, sich die Laute hinzuzudenken. Auf der Bühne, wo die Handlung nicht bloß erzählt, sondern unmittelbar vorgeführt wird, äußern die tragischen Helden ihren Schmerz in Lauten, die zu einem großen Teil dem Gebiete beliebig wechselnder primärer Interjek-

1) In W. von Humboldts Werk über die Kawi- Sprache (ergänzt von Buschmann, HI, S. 982) sind aus dem Tongischen 10, aus dem Tahitischen 8 primäre Interjektionen aufgeführt. Ungefähr die gleiche Zahl erreicht Riggs in der Dakota- Sprache (Contributions to the North American Ethnol. Vol. IX, 1893, p. 54), wobei es freilich im letzteren Falle zweifelhaft ist, ob nicht einige von sekundärer Natur darunter sind. Vgl. auch Steinthals Ver- zeichnis der Interjektionen in den Mande-Negersprachen, S. 132, 184, Leider sind in den meisten neueren Wörterverzeichnissen und Grammatiken von Sprachen der Naturvölker die Interjektionen wenig oder gar nicht berück- sichtigt.

Primäre und sekundäre Interjektionen. 321

tionen angehören, wie: «TrorTra?, jfaTTaTCTtaTCaTCTta-TcaTCTTauajtocly ho aTTazccl usw. (Sophokles, Philoktet, 742 800). Der heutige Über- setzer ist nicht mehr imstande, diese Schmerzenslaute treu wieder- zugeben; er sieht sich genötigt, sie teilweise in Sätze zu übertragen, wie: „o weh mir Armen", ,,o Schmerz" u. dgl. Hierin spiegelt sich aber ein Vorgang, der wahrscheinlich, solange die Sprache besteht, wirksam gewesen ist: der allmähliche Ersatz der primären durch sekundäre Interjektionen, wobei wir mit dem letzteren Namen diejenigen reinen Gefühlsäußerungen bezeichnen wollen, die in andere sprachliche Formen eingekleidet werden. Dahin gehören also Rufe wie: ,^Z€v'\ ,,me hercle", ,,apage", ,,mein Gott", ,,mein Himmel", ,, Jesus Maria", ,, Donnerwetter", ,, Blitz" usw., sowie die aus solchen Wörtern und aus primären Interjektionen zusammengesetzten Gebilde wie: ,,0 Himmel", ,, potztausend", ,,ach Gott". Wenn wir die Sprache der griechischen und römischen mit der unserer heutigen Dramatiker, selbst solcher vergleichen, die beflissen sind, die Redeweise des ge- wöhnlichen Lebens so naturgetreu wie möglich abzuschildern, so ge- winnt man den Eindruck, daß sich bei dem modernen Menschen der Naturlaut des Gefühls durch zunehmende assoziative Übertragung mehr und mehr in Worte umgesetzt hat. Hierdurch erklärt es sich, daß in den modernen Sprachen die Zahl der primären Interjektionen eine außerordentlich spärliche geworden, daß aber die der sekundären um so mehr gewachsen ist. Dieser Prozeß ist vermutlich noch nicht abgeschlossen. Denn sollten auch die primären Interjektionen etwa schon auf dem für sie erreichbaren Minimalstand angelangt sein, so werden doch sekundäre immer wieder neu geschaffen, und jedes Zeit- alter gibt ihnen sein eigenes Gepräge. Das Altertum ruft die Götter an, das Mittelalter setzt die Personen der heiligen Familie und der Heiligen an deren Stelle. In beiden Fällen sind es offenbare Gebets- formeln, die zuerst zu Flüchen und dann zu unbestimmteren Inter- jektionen geworden sind. Bei dem modernen Menschen endlich sind es Wettererscheinungen und Zahlen die letzteren natürlich von Geldwerten herstammend die für sich allein oder mit Fragmenten der früheren Formeln gemischt die Stelle der Götter und Heiligen einnehmen. So in Ausdrücken wie: ,, Donnerwetter", ,,alle Hagel", ,, potztausend", „Kreuzdonnerwetter" und ähnlichen.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. "^

322 I>ie Sprachlaute.

2. Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ.

An die sekundäre Interjektion schließt sich, gewissermaßen als eine auf eine bestimmte Vorstellung bezogene Unterform derselben, der sprachliche Ausdruck des Vokativs an. Mit Recht haben schon die alten Grammatiker ihn für keinen echten Kasus gehalten. Er ist im Grunde nichts anderes als der interjektional verwendete, entweder mit einem interjektionalen Zeichen allgemeinerer Art versehene oder auch nur von der entsprechenden Betonung begleitete Nominal- stamm. Wenn ich ,,Karr' rufe, um entweder einer Person mit Namen Karl meine Verwunderung oder meine Mißbilligung oder meinen Wunsch, daß sie stillstehe, auszudrücken, so ist die Bedeutung des Wortes keine andere als die der Interjektionen oh oder eh oder he, mit dem einen Unterschiede, daß dort die Interjektion gleichzeitig eindeutiger und vieldeutiger geworden ist: eindeutiger hinsichtlich der Person, auf die sie sich bezieht, vieldeutiger hinsichtlich der Ge- fühle, die sie ausdrückt. Solange wir uns der allgemeinen Interjek- tionen bedienen, wenden wir für Freude, Verwunderung, Schmerz usw. verschiedene Laute an. Hier dagegen kann das eine Wort ,,Karr' alle diese Gefühle ausdrücken. Freilich mindert sich auch dieser Unter- schied dadurch, daß die Tonmodulation, in der das Wort gesprochen wird, jene Anlässe ziemlich treu widerspiegelt. Wie ein Eigenname, so können dann aber auch andere Wörter, die irgendeine das Gefühl erregende Vorstellung bezeichnen, die Stelle einer Interjektion ein- nehmen. So wenn im Kriege der Kuf ,,der Feind" den plötzlich wahr- genommenen Anmarsch feindlicher Truppen ankündigt, oder wenn jemand bei den entsprechenden Anlässen ,, Feuer' ', ,, Diebe", ,, Mörder" ruft. So trägt denn auch der Vokativ überall da, wo er in der Sprache einen besonderen Ausdruck gefunden hat, diesen Charakter einer an eine konkrete Vorstellung gebundenen Interjektion an sich. In den indogermanischen Sprachen geschieht dies häufig durch das Vor- rücken des Akzents auf die Anfangssilbe. So wird jiaTiJQ zu jtclteq, altind. JDiyäHS (Zeug) zu Diyäus, usw. Umgekehrt kann aber auch die interjektionale Betonung dadurch bewirkt werden, daß die letzte Silbe verlängert wird oder der Akzent auf sie rückt, oder auch indem

Wortformen mit Affektbetonung: Vokativ und Imperativ. 323

besondere interjektionale Elemente dem Wort angehängt oder voran- gestellt werden^). Manche Sprachen, wie z. B. das Litauische, be- sitzen diese letztere, übrigens auch anderwärts der Volkserzählung zukommende Eigenschaft in hohem Maße. Dabei wird dann stets die Interjektion mit einem irgendeinen Vorgang schildernden Verbum, als eine Gefühlsverstärkung desselben, verbunden 2). Wenn in andern Fällen solche spezifische Eufformen keinen besonderen grammatischen Ausdruck gefunden haben, so ist das wahrscheinlich nur ein schein- barer Mangel, da unwillkürlich bald die Anfangs-, bald die End- silbe oder auch, bei einsilbigen Wörtern, das ganze Wort stärker betont wird. Wir rufen Feuer, Diebe, Otto oder Otto, Marie oder Marie usw.

Man hat solche E-ufformen als abgekürzte Sätze betrachtet, bei denen das gerufene Wort Subjekt, das Prädikat aber aus der gesamten Situation zu ergänzen sei. Der Euf ,,Karr' oder ,, Feuer" bedeute etwa ,,Karl komm hierher" oder ,,es ist Feuer ausgebrochen" usw.^). Nun mag es sein, daß jemand mit dem Ruf wirklich einen solchen Wunsch verbindet. Doch selbst in diesen Fällen dürfen wir nicht über- sehen, daß die Übertragung in einen Satz immer eine logische Inter- pretation bleibt, die den psychologischen Zustand des Bewußtseins deshalb nicht getreu wiedergibt, weil auch dann, wenn die Inter- pretation richtig ist, der Satz nicht im entwickelten, sondern im un-

1) So wurden nach den Angaben der indischen Grammatiker die Endungen -ä, -äi, -äu im Vokativ auf drei Moren gedehnt. (Jak. Wackernagel, Altindische Grammatik, I, 1896, S. 297 ff.) Auch die besonders in Personennamen häufig vorkommende Gemination eines Konsonanten inmitten des Wortes ist nach Brugmanns Vermutung aus einer ursprünglich nur im Vokativ vorhandenen Lautverstärkung zu erklären, die dann auf die übrigen Kasus überging, wie in griech. <PiV,iog, .lat. Gracchus, Varro, Mummius, ahd. Aggo, Uta.

2) Leskien, Indogermanische Forschungen herausgeg. von Brugmann und Streitberg, Bd. 13, S. 165 ff. In gewissem Grad ist diese Unterbrechung durch Interjektionen eine allgemein verbreitete, den Ausdruck belebende Er- scheinung innerhalb der Volkserzählung, z. B. „bums, da lag er", ,, patsch, da war er gefangen" u. dgl. Auch darin bewährt sich hier die Interjektion als ein Ausdruck des Affekts, daß sie verschwindet, sobald die Erzählung einen ruhigen, epischen Stil annimmt.

3) Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, * S. 130.

21*

324 Die Sprachlaute.

entwickelten Zustand im Bewußtsein steht, als eine Gesamtvorstellung, die sich nur in bezug auf die im Ruf ausgedrückten Bestandteile ge- gliedert hat^). Der Ausdruck dieser Bestandteile ist aber durch den hinzutretenden Affekt bestimmt, der den Ruf zugleich zu einer be- sonders gearteten Interjektion macht. Als solche zeichnet ihn nur der außerdem vorhandene Vorstellungsinhalt aus, durch den er even- tuell in einen Satz übergehen kann, ohne darum doch selber ein Satz zu sein.

Eine Strecke näher auf dem Wege vom Naturlaut zum Satze stehen dem letzteren die eigentlichen Imperative, zu denen unter den obenerwähnten Wortverbindungen schon diejenigen gezählt werden können, die irgendeiner bestimmt gerichteten Aufforderung dienen. Umgestaltungen der Lautform von interjektionalem Charakter zeigt allerdings der Imperativ im ganzen seltener als der Vokativ. Bald kommen bei ihm Lautverkürzungen, bald interjektionale Präfixe oder Suffixe vor^). Gleichwohl nimmt er unter den Verbalformen eine durchaus analoge Stellung wie der Vokativ unter den Nominal- bildungen ein. Auch er ist ein Ausdruck einer interjektional betonten konkreten Vorstellung. Doch bringt der Charakter der Verbalbegriffe einen gewissen Unterschied mit sich. Eine gegenständliche Vorstellung kann im allgemeinen in sehr wechselnden Gedankenverbindungen vorkommen. Jene nachträgliche grammatische Interpretation, die zu einem interjektional gebrauchten Gegenstandsbegriff einen Satz ergänzt, ist daher vieldeutig, und dem entspricht in den meisten Fällen die Bewußtseinslage dessen, der die nominal geformte Interjektion gebraucht. Anders bei dem Verbalbegriff. Die Handlung, die er aus- drückt, ist in dem Augenblick der Anwendung des Wortes in der Regel eindeutiger Art; und wo die Verbalvorstellung ohne alle Zeitbeziehung, aber versehen mit dem interjektionalen Akzent auftritt, da ist darum

') Vgl. Kap. VII, Nr. 1, 5.

■^) So noch im Deutschen, z. B. bliuwä herre bliu („schlag zu, o Herr, schlag zu'*), wo bliuwä eine Erweiterung der 2. Pers. Sing, durch die Interjektion ä ist. (Weinhold, Mittelhochdeutsche Grammatik, 2 1883, S. 345.) In den Sprachen der Naturvölker finden sich vielfach analoge Erscheinungen. (Vgl. z. B. Hum- boldt, Kawi- Sprache, III, S. 872 f.)

Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen. 325

auch der mit ihr im Bewußtsein des Redenden verbundene weitere Vorstellungsinhalt in diesem unmittelbarer gegenwärtig und von dem Hörenden unzweideutiger zu ergänzen als im vorigen Falle. Zu- rufe wie „gib", „komm", „geh", ,, bring", ,,hilf" usw. pflegen uns daher schon vollständig als Äquivalente von Sätzen zu gelten. Sie sind das freilich genau genommen auch nicht. Doch in dem allmäh- lichen Übergange von der reinen Interjektion zum ausgebildeten Satze bezeichnen sie immerhin wegen der prädizier enden Funktion, die dem Verbum anhaftet, eine letzte Stufe, Den verbalen Imperativen stehen dann aber gewisse befehlend gebrauchte Adverbien oder adverbiale Nominal Verbindungen gleich, denen nach ihrer eigenen Natur oder vermöge der Situation, in der sie vorkommen, der ergänzende Verbal- begriff eindeutig zugeordnet ist, wie ,,zu Hilfe", ,, herbei", ,,fort", ,, hinweg" u. a. Ihrer psychologischen Bedeutung nach sind alle diese Redeformen sekundäre Interjektionen. Als solche sind sie Glieder einer Entwicklung, die in dem Moment beginnt, wo der in der Inter- jektion ursprünglich ausgedrückte Naturlaut mit der Sprache in Wech- selwirkung tritt, indem er Wörter der Sprache in Interjektionen um- wandelt und diese dann wiederum allmählich in Sätze einfügt. Der Endpunkt dieser Entwicklung ist naturgemäß da gegeben, wo die Interjektion auch im sprachlichen Ausdruck zu einem vollständigen Satze geworden ist.

3. Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen.

Neben dem Übergange der Interjektion aus ihrer primären in diese sekundären Formen gibt es noch einen zweiten Weg, auf dem der Naturlaut Eingang in die Sprache finden kann. Er besteht darin, daß ein solcher unmittelbar von der Sprache aufgenommen und in sprachliche Formen gekleidet wird, so daß er wie eine Wurzel erscheint, die einer Wortbildung oder einer Reihe von Wortbildungen zugrunde liegt. Die primäre Interjektion ist demnach Ausgangspunkt zweier divergierender Entwicklungen: auf der einen Seite assimiliert der natürliche Gefühlslaut vorhandene Wörter der Sprache, mit denen er sich zuerst verbindet, um dann ganz in ihnen unterzugehen; auf der

326 I>ie Sprachlaute.

andern Seite geht er selbst in die Sprache über und wird Anlaß zu Wortbildungen, die in ihrer Bedeutung den an die Gefühlslaute ge- bundenen Vorstellungen entsprechen. Im ersten Falle wird der Natur- laut durch das Wort verdrängt, das psychologisch ihm äquivalent geworden ist; im zweiten dringt er umgekehrt in das Wort ein und verliert dadurch seinen ursprünglichen Gefühlswert, um, gleich andern Wortbildungen, eine objektive, begriffliche Bedeutung anzunehmen. Die Zahl der so an der Wortbildung teilnehmenden Naturlaute scheint in den einzelnen Sprachen eine sehr verschiedene zu sein. Am all- gemeinsten ist dieser Übergang bei denjenigen Interjektionen, die lediglich Ausdruckslaute von Gemütserregungen sind, wie im griech. oXoXvl^co (heule), aid^^o), axofiai (ächze), ala?<.a^co (schreie, haupt- sächlich vom Kampfgeschrei gebraucht), oder im lat. ukilare (heulen), jubilare (jubeln), ejulare (jammern); ebenso im Deutschen die Verba heulen, ächzen, das Substantivum Weh mit seinen Ableitungen (weh- klagen, Wehgeschrei u. a.). Manche dieser Ableitungen sind alt, wie das deutsche heulen (ahd. hiuwüdn, eigtl. ,, jubeln"), und es kann dann natürlich die Entstehung aus einer Interjektion einigermaßen fraglich sein; in andern Fällen, wie bei ächzen und Weh, handelt es sich um neue Wortbildungen, denen die entsprechenden Gefühlslaute jeden- falls lange vorausgegangen sind. In noch andern kann sich die Inter- jektion auf einen objektiven Vorgang beziehen und mit einem ono- matopoetischen Verbum in Zusammenhang stehen, wie paff mit paffen, plumps mit plumpsen u. ä. Auch hier ist, da es sich meist um neue Wortbildungen handelt, wohl in der Regel die Interjektion früher als das Verbum i).

1) Einen Beleg für diese meist anzunehmende Priorität der Interjektion bildet wohl auch die Tatsache, daß z. B. das Litauische, das, wie oben (S. 323) bemerkt, in der Erzählung die interjektionalen Zwischenrufe oft im Übermaß zeigt, besonders reich an onomatopoetischen Verben ist. Vgl. das Verzeichnis bei Leskien, a. a. O. S. 183 ff. Ein Beispiel aus einem weit entfernten Sprach- gebiet ist ferner das Runa simi oder Keshua (Peru), das eine Fülle von primären Interjektionen besitzt, aus deren jeder mit Hilfe des Verbums niy „sagen" ein zusammengesetztes Verbum gebildet werden kann, das ,, jammern", „überrascht sein" usw. ausdrückt (Middendorf, Das Runa simi oder die Keshua -Sprache, 1890, S. 125 f.), eine Erscheinung, in der sich offenbar eine analoge Verbindung, wie wir sie in unserm Verbum „wehklagen" besitzen, in weiterer Ausdehnung wiederholt.

Naturlaute als Grundbestandteile von Wortbildungen. 327

Abgesehen von der immerhin im allgemeinen beschränkten An- zahl von Wörtern, die mit primären Interjektionen zusammenhängen, kann nun aber die Frage entstehen, ob nicht auch solche Gefühls- laute, die, ohne der Klasse der allgemein verbreiteten Interjektionen anzugehören, unter besonderen Bedingungen als Gefühlsäußerungen vorkommen, auf gewisse Wortbildungen eingewirkt haben. In der Tat gibt es ein Wortpaar, für das ein solcher Ursprung mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann: das ist die Benennung von Vater und Mutter. Hier hat schon im 18. Jahrhundert de la Condamine^) auf die weite Verbreitung von Namen, die unsem Kin- derlauten Papa und Mama ähnlich sind, hingewiesen. Eine umfassende Zusammenstellung solcher Namen hat dann Buschmann in seiner Schrift „Über den Naturlaut" gegeben. Sie erstreckt sich über eine große Zahl der verschiedensten Sprachen von Natur- wie Kultur- völkern^). Buschmann unterscheidet für die Benennung des Vaters die vier typischen Laute: fa, ap, ta, at, für die der Mutter: wm, am, na, an Laute, die sich in den Einzelsprachen in verschiedenen Modi- fikationen finden, wie z. B. pa in den Formen ba, ho, fa, hi, hau usw. Außerdem können sie entweder in dem Zustande des unveränderten Naturlauts vorkommen, wie in dem Papa und Mama unserer Kinder- sprache, oder sie können von der Sprache assimiliert sein, wie in Vater und Mutter. Sicherlich würde sich das von Buschmann mitgeteilte, mehr als zweihundert Einzelsprachen umfassende Verzeichnis heute bedeutend vervollständigen und teilweise berichtigen lassen; das all- gemeine Ergebnis würde dadurch keine nennenswerte Veränderung erfahren. Daß man in einem solchen Zusammentreffen ein Werk des Zufalls vor sich habe, ist aber ausgeschlossen. Die auf Grund der Theorie der Ableitung aller Wörter aus Begriffswurzeln versuchte

1) Voyage dans Tlnt^rieur de l'Amerique m6ridionale, 1745.

2) Über den Naturlaut. Berlin 1853. Über die Namen für Vater und Mutter in den indogermanischen Sprachen handelt außerdem Delbrück, Abh. der sächs. Ges. d. Wiss. Phil. -bist. Kl. Bd. 11, S. 381 ff. Eine vergleichende Zusammen- stellung aus verschiedenen Sprachgebieten folgt unten (4 a). Eine nach Koelles Polyglotta Africana und andern Quellen verfaßte Tabelle teilt John Lubbock mit (Die Entstehung der Zivilisation, deutsche Ausg. 1875, S. 354 ff.).

328 Die Sprachlaute.

Zurückführimg unseres Vater- und Mutternamens auf gewisse all- gemeinere Begriffe, wie die des ,,Bescliützens" und des ,,Ernährens", müßte daher, auch wenn sie im übrigen psychologisch haltbar wäre, gegenüber diesem offenkundigen Zusammenhang mit bestimmten Naturlauten abgelehnt werden^). Die Naturlaute, um die es sich hier handelt, unterscheiden sich aber von den oben betrachteten pri- mären Interjektionen wesentlich dadurch, daß sie im Vergleich mit diesen in ihrem Gefühlscharakter indifferent sind. Als Interjektionen kommen Laute wie fa, ta, ma usw. wohl nur ausnahmsweise vor. Dagegen gehören sie zu den frühesten Lailauten des Kindes in dem die eigentliche Sprachbildung vorbereitenden Stadium und dabei zugleich zu denjenigen Lauten, die das Kind aus den oben (S. 315 f.) angeführten Gründen bei der Nachahmung von Lautartikulationen am frühesten verwendet. Demnach dürfen wir schließen, daß, wie überall, so auch hier diesen Lauten nicht vom Kinde selbst, sondern von seiner Umgebung ihre Bedeutung angewiesen wurde. Wie die ersten Sprachlaute des Kindes überhaupt früher auf Personen, wegen der größeren Aufmerksamkeit, die diese erregen, als auf Gegenstände bezogen werden, so stehen naturgemäß unter diesen Personen die nächsten, die Eltern, wieder im Vordergrunde. Auf sie werden daher in jenem ersten wechselseitigen Nachsprechen, das sich aus Anlaß der Echosprache zwischen dem Kind und seiner Umgebung entwickelt, die frühesten artikulierten Laute bezogen. In den unentwickelteren Sprachen sind dann die so entstandenen Namen auf der Stufe einfacher oder durch Verdoppelung erweiterter Naturlaute, wie in unserem ,,Papa" und ,,Mama", stehen geblieben. In den Kultursprachen hat auch hier, ähnlich wie bei den aus Inter- jektionen hervorgegangenen Wortbildungen, der Naturlaut nur die Wurzel abgegeben, aus der ein Wort hervorging, das sich im übrigen an die sonstigen typischen Formen der Wortbildung anlehnte. „Vater" und ,, Mutter" unterscheiden sich daher in ihrer formalen Bildung nicht mehr von andern Wörtern, wie ,, Bruder" und ,, Schwester",

1) Über diese Ableitungen aus allgemeinen Begriffswuizeln sowie über die Wurzeltheorie überhaupt vgl. unten Kap. V, Nr. III, 4.

Schallnachahrnuiigeii und Lautbilder. 329

die völlig unabhängig von irgendwelchen Naturlauten entstan- den sind.

IV. Lautnachahmungen in der Sprache.

1. Schallnachahmungen und Lautbilder.

In allen Sprachen begegnen uns Wörter, die in ihrer Lautbildung eine so unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen oder Merkmalen, die sie bedeuten, erkennen lassen, daß sie gewöhnlich als ,, Lautnach- ahmungen" bezeichnet werden. Leicht lassen sich diese Wortbildungen in zwei Klassen ordnen. Die erste umfaßt solche Fälle, wo der Sprach- laut einem objektiven Lautvorgang ähnlich ist. So bei den Tier- namen Rabe, Krähe, Kuckuck, Uhu, bei denen, analog wie bei den onomatopoetischen Tiernamen der Kindersprache, die von den Tieren hervorgebrachten Laute wahrscheinlich auf die Wortbildung einge- wirkt haben ; ferner bei Wörtern wie : bellen, donnern, flüstern, gackern, glucksen, kichern, klatschen, klirren, knistern, knirschen, krachen, krähen, krächzen, kreischen, munkeln, murren, faffen, pfeifen (aus lat. pipare), prusten, puffen, rasseln, räuspern, stöhnen, summen, ticken, zirpen, zischen, zwitschern u. a. ^). Man kann sie, weil bei ihnen der Sprach- laut Nachahmung eines äußeren Schalles ist, speziell als Schall - nachahmungen bezeichnen. Außer ihnen umfaßt aber der weitere Begriff der sogenannten ,, Lautnachahmung" noch solche Wörter, in denen irgendein mit keinerlei Schallbildung verbundener Vorgang durch einen Laut wiedergegeben wird, und wo demnach mittels einer Übertragung des Eindrucks auf einen andern Sinn, meist den Ge- sichts- oder Tastsinn, in eine Lautform diese dem äußeren Vorgange nachgebildet scheint. Hierher gehören Wörter wie: bummeln, baumeln, flimmern, hätscheln, krabbeln, kribbeln, pfuschen, torkeln, wimmeln u. a., wozu noch manche kommen, bei denen es zweifelhaft ist, ob

^) Eine größere Zahl solcher verhältnismäßig junger „Onomatopoetica-' aus deutschem Sprachgebiet hat H. Paul, Prinzipien, ^ S. 180 f. zusammen- gestellt. Die oben ausgewählten sind nur die häufiger gebrauchten.

330 Die Sprachlaute.

bei ihnen nicht Schallnachahmungen mindestens mitwirkten, wie z. B. huschen, lullen, rempeln, schlottern, stolfern, tätscheln und viele andere. Wir wollen diese Nachbildungen äußerer Vorgänge, bei denen eine eigentliche Schallnachahmung entweder ausgeschlossen oder zweifelhaft ist, der Kürze wegen Lautbilder nennen. Natürlich ist die Frage, ob eine „Schallnachahmung" vorliegt, im allgemeinen sicherer zu entscheiden als die, ob man in einem gegebenen Wort ein ,, Lautbild" zu sehen habe. Li der Tat hat man zuweilen nicht bloß Wörter wie die oben aufgeführten, sondern auch solche wie ,,hart", ,,süß", ,, bitter", oder ,, Schmerz", ,, Liebe", ,,Zom", ,,Haß" und an- dere für sinnliche Nachbildungen der Begriffe gehalten, und ähnlich ist sogar schon den einfachen Sprachlauten, namentlich den Vokalen, ein auf ihrem Klangcharakter beruhender Gefühls- und Bedeutungs- wert zugeschrieben worden^). Solche Vermutungen mögen hier ganz außer Betracht bleiben, da bei ihnen die Gefahr einer nachträglichen und umgekehrten Assoziation allzu nahe liegt. Der Begriff hat in diesem Falle möglicherweise dem Wort seine eigentümliche Gefühls- färbung erst mitgeteilt, worauf dann diese für eine ursprüngliche Eigen- schaft des Wortes selbst oder einzelner Lautelemente desselben gehalten wird. Mag übrigens der Kreis der unmittelbaren Beziehungen von Laut und Bedeutung etwas weiter oder enger gezogen werden, sicher ist jedenfalls, daß solche Beziehungen in einer Anzahl von Fällen existieren. Sicher ist aber allerdings auch, daß alle diese Fälle, selbst wenn man die zweifelhaften mitrechnen wollte, gegenüber der Un- geheuern Menge anderer, wo gar keine Beziehung nachzuweisen ist, eine verschwindende Minderheit bilden.

Trotzdem ist es nicht gerechtfertigt, wenn man wegen dieser geringen Anzahl sogenannter ,,Onomatopoetica" auf ihre Existenz überhaupt keinen Wert legt. In der Sprache ist jede Erscheinung, die irgendeine Affinität zwischen Laut und Bedeutung erkennen läßt, von Interesse, mag sie nun oft vorkommen oder nicht. Ebenso bildet der Umstand, daß es sich hier häufig um neue Wortbildungen handelt ,

1) Vgl. z. B. Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache, ^ 1852, S. 93 f. K. W. L. Heyse, System der Sprachwissenschaft, 1866, S. 77 ff. C. L. Merkel, Physiologie der menschlischen Sprache, 1866, S. 79 ff.

Schallnachahmungen und Lautbilder. 331

keinen Grund gegen den Wert der Erscheinung. Diese Argumente stehen schon unter der Voraussetzung, alles, was sich heute im Leben der Sprache ereignet, lasse auf deren frühere Entwicklungszustände keine Schlüsse zu. In der Tat bemerkt Lazarus Geiger, die Worte besäßen „erst in ziemlich späten Schichten eine gewisse Neigung, den Objekten schildernd nahezutreten". Wörter wie Rabe^ Krähe, Kuckuck, donnern, schwirren u. a. seien zwar im Laufe der Zeit zu Lautnachahmungen geworden, ihren Wurzeln liege aber eine solche Beziehung fern^). Wird hier immerhin noch eine sekundäre Wirkung der Vorstellung auf den Laut zugestanden, so sind nun manche Sprach- forscher geneigt, selbst innerhalb dieser Grenzen eine solche Affinität möglichst zu beschränken. Sobald diese in verwandten Sprachen oder in älteren Sprachformen des gleichen Gebiets nicht existiert, so gilt sie ihnen als eine nichtssagende, zufällige Erscheinung 2).

In diesen Anschauuügen spiegelt sich deutlich die merkwürdige Mischung von Romantik und Skepsis, die in der heutigen Sprach- wissenschaft als das natürliche Produkt ihres Ursprungs aus der ro- mantischen Geistesströmung und des allmählichen Hineinwachsens dieser in das Zeitalter des positivistischen Kleinbetriebs hervorgegangen ist. Max Müller, dessen linguistische wie mythologische Theorien im einzelnen längst obsolet geworden sind, ist hier immer noch der typische Repräsentant der geltenden Meinungen^). Sie lassen sich in bezug auf die vorliegende Frage in die zwei Sätze zusammenfassen: 1) Wo eine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung nicht in den Urbestandteilen einer Sprache, den Wurzeln, nachzuweisen ist, da existiert sie überhaupt nicht. 2) Jede Lautänderung, die im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Sprache ein- getreten ist, muß auf rein lautgesetzliche Vorgänge zurück- geführt werden, die als solche mit der Bedeutung der Wörter gar nichts zu tun haben.

1) Lazarus Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft, I, 1868, S. 168. Vgl. a. L. Noir6, Logos, Ursprung und Wesen der Begriffe, 1885, S. 105.

2) Vgl. z. B. Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 34.

^) Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache, Bd. 1, 1863, S. 307 ff., 6, Aufl. (1892), S. 455 ff.

332 r>ie Sprachlaute.

Daß die „Wurzeln" selbst, wie wir später sehen werden, Pro- dukte einer grammatischen Abstraktion sind, die willkürlich und im Widerspruch mit allen Erscheinungen der Sprache zu wirklichen Urwörtern gemacht wurden, charakterisiert die romantische Grund- lage dieser Auffassung^). Daß dieses Phantasiegebilde einer Ursprache zu einem von allen psychologischen Einflüssen unberührt bleiben- den Objekt einer irgendwo in den Wolken schwebenden historischen Gesetzmäßigkeit erhoben wird, nach deren Bedingungen man nicht zu fragen habe, charakterisiert aber jenen historischen Skeptizismus, wie er in dieser Form wiederum eigentlich nur auf dem Boden der Romantik möglich war. Nun ist freilich die Unhaltbarkeit eines solchen Standpunkts bereits allerorten zutage getreten. Den mannigfachen psychophysischen Kontakt- und Assoziationswirkungen, die überall die sprachlichen Gebilde nach Laut wie Bedeutung verändern, hat die Sprachwissenschaft bereitwillig ihre Tore öffnen müssen. Aber man fügte sich doch nur notgedrungen, wenn ein anderer Ausweg schlechterdings nicht zu finden war, der Herbeiziehung solcher psycho- logischer und psychophysischer Einflüsse. Diese deckten sich nun im wesentlichen mit dem Gebiete der früheren grammatischen „Aus- nahmen''. Nur hatte sich das Verhältnis zwischen Regeln und Aus- nahmen dadurch in eigentümlicher Weise gestaltet, daß man für die Ausnahmen plausible psychologische Gründe geltend machte, während die Regeln in dem geheimnisvollen Dunkel einer unerforschlichen historischen Gesetzmäßigkeit verblieben. Für die regelmäßigen sprach- lichen Bildungen stehen so im wesentlichen noch heute die beiden oben formulierten Dogmen in kaum beschränkter Geltung, obgleich sie nicht bloß willkürliche, sondern im Grunde sehr unwahrschein- liche Annahmen sind. Denn wenn überhaupt assoziative Beziehungen irgendwelcher Art zwischen dem Lautcharakter und dem Begriffs- inhalt eines Wortes entstehen, so wird dies wohl zu jeder Zeit geschehen können. Nur werden solche da, wo sie einer jüngeren Zeit angehören, selbstverständlich leichter nachweisbar sein. Vermögen wir doch absolut nicht zu übersehen, welche Nebenmomente der Tonlage, des

2) Vgl. unten Kap. V, Nr. III.

Schallnachahmungen und Lautbilder. 333

Tonwechsels und der sonstigen nur mangelliaft durch die Tradition erhaltenen Erscheinungen in einer frühen Zeit wirksam gewesen sein mögen. Die Behauptung, onomatopoetische Beziehungen seien nur von Wert, wenn sie einer ursprünglichen, nicht wenn sie einer jüngeren Sprachstufe angehören, ist daher genau in ihr Gegenteil umzukehren. Für die assoziativen Kräfte, die überhaupt in der Sprache wirken, sind die uns näher liegenden Formen die wertvolleren, weil in ihnen jene Wechselwirkungen am wenigsten durch andere, unserer Nach- weisung entzogene Einflüsse getrübt sind. Wo sich aber auf einer früheren Sprachstufe analoge Beziehungen, wie sie sich gelegentlich noch heute bilden, auffinden lassen, da ist es natürlich vollends un- zulässig, diese für zufällig oder bedeutungslos zu erklären, weil sie in sonst verwandten Sprachen nicht existieren. Wörter wie knirschen, kichern, glucksen, klatschen, f rüsten und viele andere hören doch darum nicht auf onomatopoetisch zu sein, weil sie in dieser Form dem neu- hochdeutschen Sprachgebiet ausschließlich eigen sind. Und warum sollten z. B. analoge Wortgebilde im Hebräischen nicht onomato- poetisch sein, weil sie es in andern semitischen Sprachen nicht sind, oder weil die zweisilbigen Wortstämme, mit denen hier nicht selten der onomatopoetische Charakter zusammenhängt, den sonst ver- wandten hami tischen Sprachen nicht zukommen ? Es ist klar, daß hier nicht dem psychologischen der historische Gesichtspunkt, son- dern daß dem wirklichen geschichtlichen Werden der Sprache eine hypothetische Urgeschichte substituiert wird. Mit der Unterschätzung der lebendigen Wirklichkeit verbindet sich aber zugleich eine ins äußerste getriebene Skepsis gegenüber allen Erscheinungen, in denen gewisse tatsächliche Beziehungen hervortreten, sobald diese ge- schichtlich nicht näher zu verfolgen sind. Ein Beispiel mag genügen, diesen extremen Historismus zu kennzeichnen. Oben ist schon der Tatsache gedacht worden, daß gewisse Lallaute des Kindes, wie fa, ha, ma, na u. a., vielfach in den Namen für Vater und Mutter vor- kommen, wobei die Explosivlaute den Vater-, die Resonanzlaute den Mutternamen kennzeichnen. Da diese Beziehung in hunderten von Sprachen wiederkehrt, so ist für jeden, der die Prinzipien der empi- rischen Wahrscheinlichkeit nicht für eine leere Erfindung der Mathe- matiker ansieht, der Zufall ausgeschlossen. Dem extremen Sprach-

334 I^iö Sprachlaute.

historiker gilt die Frage trotzdem als zweifelhaft. Denn es kommen einige Fälle vor, in denen sicli das gewöhnliclie Verhältnis umkehrt, indem der Vater Mama und die Mutter Papa oder ähnlicli genannt wird^). Man fordert also eine absolute Ausnahmslosigkeit. Daß diese in solchem Fall einer an Unmöglichkeit grenzenden Unwahrschein - lichkeit gleichkommen würde, bedenkt man nicht.

Wie das erste, so ist nun aber auch das zweite der oben formu- lierten Dogmen unhaltbar. Zunächst sind ja die lautgesetzlichen Vorgänge an sich nicht sowohl letzte Erklärmigsgründe als vielmehr Probleme, die überall der physiologischen oder psycho- logischen Interpretation bedürfen. In diesem Sinne gibt es daher eine rein historische Erklärung dieser Vorgänge überhaupt nicht, sondern das historisch Gewordene, mag es so umfassend oder so beschränkt sein wie es wolle, fordert stets eine Zurück- führung auf seine Ursachen und Motive. Nun sind aber die geschichtlichen Tatsachen überall, und so auch im Gebiet der Sprachgeschichte, höchst komplexer Art. Selbst da, wo eine be- stimmte Lautbildung auf einen lautgesetzlichen Vorgang von allgemeinerer Verbreitung zurückgeführt werden kann, bleibt daher erstens die Frage nach den Bedingungen jenes Vorgangs eine offene, und ist zweitens die Mitwirkung besonderer Motive, die in dem spe- ziellen Fall unterstützend oder modifizierend in ihn eingreifen, nicht ausgeschlossen. Auch das mag durch ein Beispiel belegt werden, bei dem sich, weil es einer neueren Periode der Sprachgeschichte an- gehört, die Interferenz der Wirkungen verhältnismäßig sicher nach- weisen läßt. Wir legen heute den beiden Wörtern Rahe und Rappe eine onomatopoetische Färbung bei: in dem Raben meinen wir das krächzende Geschrei des Vogels zu hören, bei dem Rappen denken wir an das trapp trapp des Pferdes. Nun lehrt aber die Sprachgeschichte, daß die Differenzierung der Wörter Rahe und Rappe erst in neuhoch- deutscher Zeit und wohl gleichzeitig mit der Übertragung des Namens von dem schwarzen Vogel auf ein schwarzes Pferd eingetreten ist. Ursprünglich war das Wort nur Vogelname und wurde in der Regel

1) Sütteriin a. a. 0. S. 31.

Sohallnachahmungen und Lautbilder. 335

in Niederdeutschland Rabe, in Oberdeutschland Raffe ausge- sprochen. Das Neuhochdeutsche hat also die Wörter differen- ziert, indem es die Benennung des Vogels dem niederdeutschen, die des Pferdes dem oberdeutschen Sprachgebiet entnahm. Folglich ist so schließt man vom rein historischen Stand- punkt aus diese Differenzierung eine ,, zufällige", und eine onomatopoetische Bedeutung besitzen die Wörter überhaupt nicht ^). Nun würde dieser Schluß offenbar selbst dann nicht bindend sein, wenn die Differenzierung auf die hochdeutsche Schriftsprache und Sprechweise beschränkt geblieben wäre. Denn da der Zufall auch für die Sprachgeschichte kein Begriff von erklärendem Wert ist, so bleibt immer noch die Frage, warum das Neuhochdeutsche überhaupt diese Scheidung vorgenommen hat, und warum sie nicht ,, zufällig" in entgegengesetzter Richtung erfolgt ist. Und hier ist dann wohl die wahrscheinlichste Interpretation die, daß die Assoziation mit dem Ruf des Vogels einerseits und mit dem Pferde- getrappel anderseits diese Richtung veranlaßt hat. Eine solche Deu- tung wird in der Tat dadurch verstärkt, daß, wie die vorhandenen Dialektwörterbücher lehren, jene Unterscheidung auch in die Dia- lekte eingedrungen ist, so daß heute im Niederdeutschen das schwarze Pferd ebenfalls Rappe, nicht Rabe, und im Oberdeutschen der Vogel sehr häufig Rabe, das Pferd aber stets Rappe genannt wird. Offen- bar ist in diesem Fall die historische Verfolgung des Vorgangs deshalb besonders belehrend, weil sie augenfällig zeigt, wie sich in solchen Ent- wicklungen die rein lautlichen Differenzierungen mit den psycho- logischen Assoziationen zwischen Laut und Bedeutung durchkreuzen können, und wie irrig daher der so oft stillschweigend oder ausdrück- lich befolgte Grundsatz ist, da, wo irgendein Vorgang auf lautgeschicht- liche Bedingungen zurückgeführt sei, werde damit die Mitwirkung anderer Momente von selbst hinfällig. Das Gegenteil ist richtig: bei einer so komplexen Funktion wie der Sprache ist eine komplexe Beschaffenheit der Ursachen von vornherein wahrscheinlich.

1) Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, S. 155. Vgl. über diese und ähnliche Erscheinungen unten Kap. VIII, Nr. I, 2.

336 Die Sprachlaute.

Hiernach werden wir im Gegensatze zu den oben formulierten Grundsätzen eines einseitigen Historismus die folgenden drei Ge- sichtspunkte als diejenigen festhalten dürfen, die unter den obwaltenden Bedingungen brauchbare, wenn auch bei der Un- sicherheit und der schwankenden Natur der Erscheinungen nicht immer entscheidende Kriterien für das Vorhandensein irgendwelcher psychologischer Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung ab- geben können:

1. Wo in einer Sprache den Variationen der Bedeutung bestimmte Variationen des Lautes in einer so großen Zahl gleicher oder ana- loger Fälle parallel gehen, daß dadurch die Annahme eines Zufalls ausgeschlossen ist, und wo diese Variationen zugleich einer unmittel- bar wahrzunehmenden Empfindungs- und Gefühlswirkung der Laute entsprechen, da darf mit Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung vermutet werden.

2. Lautgesetzliche Änderungen und psychisch bedingte Modi- fikationen der Laute schließen sich nicht notwendig aus, da den kom- plexen Vorgängen hier wie überall im allgemeinen auch komplexe Ursachen zugrunde liegen. Dabei können die psychischen Bedingungen bald die lautgesetzlichen Wirkungen unterstützen, bald über ihr ur- sprüngliches Gebiet ausdehnen, bald sich mit ihnen zu Differenzierungen der Bedeutung verbinden. Wo die Vermutung einer solchen Kompli- kation der Ursachen vorliegt, da bildet dann das Vorkommen analoger Erscheinungen unter ähnlichen, einfacheren Bedingungen ein Krite- rium ihrer Wahrscheinlichkeit.

3. Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung werden voraus- sichtlich vor allem da unserem psychologischen Verständnis näher zu bringen sein, wo' ihre Entstehung einer verhältnismäßig neuen Stufe der Sprachentwicklung angehört, weil hier die unmittelbaren Wirkungen der Laute unserer Beobachtung leichter zugänglich, und andere unbekannte Nebenwirkungen, welche die psychologischen Beziehungen der Laute komplizieren könnten, wie abweichender Sprechrhythmus und Tonfall, relativ ausgeschlossen sind. Wo sich aber auf älteren Sprachstufen Beziehungen zwischen Laut und Be- deutung überhaupt finden, da sind dieselben nach Analogie der Fälle zu beurteilen, die in der lebenden Sprache vorkommen.

Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmungen. 337

Diese Gesichtspunkte stehen in vieler Beziehung im Gegensatz zu verbreiteten Anschauungen. Denn in der Regel legt man auf jene bekannte Anwendung der empirischen Wahrscheinlichkeit, welche die allgemeine Methodenlehre als das „Prinzip der sich begleitenden Veränderungen" bezeichnet, in der Sprachwissenschaft nur geringes Gewicht. Dem methodologischen Grundsatze aber, daß komplexe Erscheinungen meist auch komplexe Ursachen voraussetzen, sub- stituiert man zumeist den andern: wo irgendeine einzelne Bedingung einer Erscheinung nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht sei, da seien mitwirkende Ursachen ausgeschlossen. Endlich pflegt man selbst da, wo es sich lediglich um Tatsachen der Erfahrung handelt, noch immer zuweilen den Erscheinungen, die unserer Beobachtung näher liegen, solche vorzuziehen, die einer entfernteren Vergangen- heit oder gar der mindestens teilweise hypothetischen Vorgeschichte der Sprache angehören.

2. Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung.

Das Wort ,, Lautnachahmung" kann von vornherein in doppeltem Sinne verstanden werden. Man kann es entweder als eine ,, Nach- ahmung des Lautes" oder als eine ,, Nachahmung durch den Laut" interpretieren. Nicht selten ist ihm ausschließlich die erste Bedeutung gegeben worden. Damit wird dann der Begriff auf die Gruppe der oben als ,, Schallnachahmungen" bezeichneten Erscheinungen ein- geschränkt. Während die Gegner der Onomatopöie vorzugsweise diesen engeren Begriff bekämpften, steckten deren Anhänger in der Regel das Gebiet viel weiter ab: überall wo der Laut auch nur einen Gefühlston anklingen läßt, der durch das Objekt erregt zu sein scheint, waren sie geneigt, eine ,, Lautnachahmung" anzunehmen^). Nun

1) ,, Allen Sinnen liegt Gefühl zum Grunde**, sagt Herder in seiner Schrift über den Ursprung der Sprache, ,,und dies gibt den verschiedenartigsten Sen- sationen schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. . . . Wir sind voll solcher

Wundt, Yölkerpsychologie. I. 4. Aufl. 22

338 I^iö Sprachlaute.

ist ersichtlicli, daß es zahlreiclie Fälle gibt, in denen schon deshalb von einer Nacbabmung eines Scballeindrucks nicht die Rede sein kann, weil der benannte Vorgang oder Gegenstand keinen Eindruck auf unsern Gehörssinn macht, während gleichwohl das Wort als ein ,, Laut- bild" gelten muß. Auch handelt es sich gerade hier meist um sprach- liche Neuschöpfungen, bei denen, weil irgendwelche lautgeschicht- liche Bedingungen gar nicht mitgewirkt haben, ein im weiteren Sinn onomatopoetisches Motiv nicht bezweifelt werden kann. Wenn aber Wörter wie bummeln, baumeln, krippeln, torkeln, pfuschen, wimmeln gerade so gut wie donnern, klirren, knarren, rasseln, murren als Laut- nachahmungen empfunden werden, so kann die allgemeine Bedeutung solcher offenbar nur darin bestehen, daß sie Nachahmungen durch den Laut, nicht oder doch nur in gewissen Fällen auch Nach- ahmungen des Lautes sind. Hierdurch wird jedoch zugleich der Zweifel angeregt, ob selbst da, wo für unser Ohr das Wort eine Schallnachahmung bedeutet, der Sprechende selbst damit die Absicht verbunden habe, den gehörten Schall durch einen Sprach- laut nachzuahmen.

Wird die Frage so gestellt, so kann nun in der Tat die Antwort kaum zweifelhaft sein. Eine absichtliche Nachbildung der durch einen äußeren Vorgang erregten Schallempfindung würde nicht bloß mit der Existenz von Lautbildern, die sich auf lautlose Eindrücke be- ziehen, schwer zu vereinigen sein, sondern sie würde auch psychische Vorgänge voraussetzen, die im gewöhnlichen Verlauf der Sprach- äußerungen nicht oder nur unter Bedingungen vorkommen, die in diesem Fall äußerst unwahrscheinlich sind. Zuvörderst ist es nämlich klar, daß der Prozeß der Nachbildung irgendwelcher unhörbarer Vorgänge durch Laute, wie er bei den oben so genannten ,, Lautbildern" vorliegt, an und für sich von weit allgemeinerer Art ist als das Gebiet der bloßen ,, Schallnachahmung". Denn da bei dem ersteren Sinnes- eindrücke von jeder möglichen Beschaffenheit durch Sprachlaute wiedergegeben werden, so ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch bei den Schalleindrücken in analoger Weise sollte geschehen

Verknüpfungen der verschiedensten Sinne.*' (Herders sämtl. Werke, Ausgabe von Suphan, V, S. 61.)

Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 339

können. Dann ist aber die „Schallnacliahmung" nur eine beson- dere, durch nichts als durch den Eindruck auf den Gehörssinn aus- gezeichnete Art von Lautbildern. Dazu kommt das noch entscheiden- dere Bedenken, daß eine „Schallnachahmung" im eigentlichen Sinne, das heißt als absichtliche Nachahmung eines äußeren Schalles durch die Sprachorgane, tatsächlich nur unter Bedingungen vorkommt, die im allgemeinen bei der Neubildung von Wörtern nicht voraus- zusetzen sind. Wenn wir z. B. Tierlaute oder Sprachlaute anderer Menschen oder sonstige zufällige Naturlaute willkürlich nachahmen, so ist die Lage, in der sich bei solchen Gelegenheiten unser Bewußt- sein befindet, sicherlich nicht diejenige, die bei der Bildung wirklicher Wörter angenommen werden kann. Bei der willkürlichen Nachahmung wird, wo sie auch vorkommen mag, unmittelbar nur die Wiedergabe des Lautes selbst bezweckt, nicht die Bezeichnung des Gegenstandes. Wo sich etwa die letztere Absicht regt, da handelt es sich um einen selbständigen, erst zu der Nachahmung hinzutretenden Vorgang. Wir mögen also willkürlich hervorgebrachte Lautnachahmungen unter Umständen nachträglich benützen, um sie zur Namengebung zu verwenden; dagegen läßt sich eine Umkehrung dieses Prozesses, wie sie vorausgesetzt wird, wenn man den Vorgang onomatopoetischer Wortbildung als eine Nachahmung des Lautes auffaßt, nirgends nachweisen. So ist es ja auch bei der Entwicklung der kindlichen Sprache aus der „Echosprache" nicht die Absicht der Mitteilung, aus der die Nachahmung entspringt. Vielmehr ist umgekehrt die Nach- ahmung zunächst da, und dann erst bemächtigt sich der Trieb nach Mitteilung der durch jene zur Verfügung gestellten Bezeichnungen in dem angemessenen Sinne. Auch die Nachahmung ist aber hier wiederum keine willkürliche, sondern triebartig folgt dem gehörten Laute die Artikulationsbewegung, die dann von selbst einen analogen Laut hervorbringt. Direkt wirkt also der gehörte Laut nur auf die Artikulation der Sprachwerkzeuge, erst indirekt auf den Sprachlaut selbst. Die Unhaltbarkeit des Begriffs der Lautnachahmung in dem vulgären Sinn einer absichtlichen Wortschöpfung,^ die den gehörten Schall benutzt, um sein akustisches Bild vor dem Hörer zu wieder- holen, liegt demnach darin, daß sie in die Auffassung der sprach- bildenden Vorgänge den Begriff der Erfindung hinüberträgt. Nun

22*

340 Die Sprachlaute.

können künstliche Worterfindungen und sogar ganze künstliche Sprachen bekanntlich vorkommen; auch können die ersteren, wie vor allem die Geschichte der wissenschaftlichen Terminologie lehrt, in die allgemeine Sprache übergehen. Doch die onomatopoetischen Wörter sind in der Regel nicht solche Kunsterzeugnisse, sondern Ge- bilde der natürlichen Sprache. Sie tragen so in jeder Beziehung die Merkmale einer aus der fortwirkenden Macht ursprünglicher sprach- bildender Kräfte entstandenen Neuschöpfung an sich, und sie sind als solche wohl meist überhaupt nicht individuellen Ursprungs, son- dern entstehen gleichzeitig in zahlreichen Mitgliedern einer Sprach- gemeinschaft, wobei dann erst die etwa vorkommenden individuellen Nuancen des Ausdrucks durch eine unabsehbare Summe von Wechsel- wirkungen zwischen Sprechenden und Hörenden allmählich aus- geglichen werden.

Das Ergebnis, daß eine onomatopoetische Wortbildung von ab- sichtlicher Nachahmung wie von direkter Nachbildung des Schall- eindrucks gleicherweise verschieden ist, legt nun eine Annahme nahe, die besonders von Steinthal näher ausgeführt wurde. Entsteht der Laut als eine absichtliche Reaktion auf den Eindruck, so scheint er zunächst dem Gebiet der Reflexe verwandt zu sein. Die Beziehung zum Gegenstand würde sich dann dem allgemeinen Prinzip der Re- flexbewegungen unterordnen, nach welchem diese vermöge der ver- erbten und erworbenen Anlagen des zentralen Nervensystems den Sinnesreizen in einer dem Ort und der Art des Eindrucks adäquaten Weise mechanisch zugeordnet sind (S. 47). Ist der Laut nur bei einer beschränkten Anzahl onomatopoetischer Wortbildungen eine direkte Nachahmung des äußeren Schalles, so scheint ferner der nächste Aus- weg, um über jene allgemeinere Beziehung Rechenschaft zu geben, der zu sein, daß man das Gefühl zu Hilfe nimmt, das durch seine mannigfachen Assoziationen und Analogien bei den Empfindungen der verschiedenen Sinne überall geeignet ist, das Mittelglied zu bilden, das den Eindruck mit dem durch ihn ausgelösten Laute verbindet. Das onomatopoetische Lautgebilde, mag es eigentliche Schallnach- ahmung oder bloßes ,, Lautbild'* im Sinne der obigen Unterscheidungen sein, wird daher von Steinthal als ein ,, Reflex" aufgefaßt, der in seiner Form von der Beschaffenheit des Objekts abhänge, und dessen Ver-

Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 341

wandtschaft mit diesem durch die analogen Gefühle vermittelt sei, die durch den Eindruck des Objekts und durch den des Lautes er- weckt werden. Demnach soll jede Lautnachahmung einerseits auf einem gänzlich willenlosen Vorgang, anderseits aber auf einer in- direkten, durch das begleitende Gefühl erzeugten Assoziation mit dem Gegenstande beruhen-^).

Diese Auffassung begegnet aber schon deshalb Bedenken, weil sie den Begriff des ,,Eeflexes" in einem seiner physiologischen An- wendung widersprechenden Sinne verwendet. Denn sie dehnt dessen Geltungsbereich auf psychophysische Vorgänge aus, die er nach seinem ursprünglichen Inhalt ausschließt. Auch für die Psychologie besteht nämlich der Wert dieses Begriffs gerade darin, daß er eine wohl de- finierbare wichtige Gruppe rein physiologisch bedingter, ohne be- gleitende psychische Vorgänge verlaufender Bewegungen um- faßt. Sind solche Vorgänge in der Form von Empfindungen und Ge- fühlen vorhanden, so nennen wir eben die eintretende Handlung nicht mehr eine Keflexbewegung, sondern eine Trieb- oder einfache Willens- handlung, da jener gleichzeitige Empfindungs- und Gefühlsinhalt psychologisch durchaus die Rolle eines die Handlung bestimmenden Motivs spielt, dessen Wirksamkeit sich von derjenigen der Motive zusammengesetzter Willenshandlungen nur dadurch unterscheidet, daß es das allein vorhandene und darum auch das allein wirksame Motiv ist^). Liegt demnach zwischen Reflex- und Triebbewegung das unmittelbar unterscheidende Merkmal nur in dem begleitenden Bewußtseinsvorgang, so hängt nun damit auch der weitere Unter- schied zusammen, daß die Bewegung, wo sie rein physisch bedingt ist, ohne weitere Folgewirkungen abläuft, während Empfindung und Gefühl stets Nachwirkungen zurücklassen, vermöge deren sich an die Triebhandlung weitere psychische oder psychophysische Vor- gänge anschließen können. In der Tat trifft dies ganz besonders da zu, wo die Triebbewegung in einer durch den Eindruck eines gesehenen

1) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, 1871, S. 376 ff. Ursprung der Sprache, * 1888, S. 368 ff.

2) Vgl. oben Kap. I, S. 43 ff., und Physiol. Psychologie, ^ III, S. 235 ff.

342 Die Sprachlaute.

oder betasteten Objekts ausgelösten Lautäußerung bestellt. Denn indem die Gebörsempfindungen mit den Eindrücken der andern Sinne mannigfaltige Komplikationen bilden können, die sich durch Wieder- holung befestigen, wird hier der Übergang der Lautäußerung in den Sprachlaut unmittelbar nahegelegt. Tragen auf diese Weise die ono- matopoetischen Lautbildungen in dem, was ihnen ihre Bedeutung in der Sprache verleiht, Eigenschaften an sich, die sie von den eigent- lichen Keflexen wesentlich unterscheiden, so wird demnach der Aus- druck ,, Sprachreflex" in diesem Zusammenhang zu vermeiden und durch das zu ersetzen sein, was die Bewegung wirklich ist: durch den Begriff einer Triebbewegung, die, weil sie die Sprachorgane er- greift, von selbst mit Lautbildung verbunden ist.

Hieran schließt sich dann sofort die weitere Frage, was dem auf solche Weise hervorgebrachten Laute die Eigenschaften verleiht, durch die er auch dem Hörer als ein dem objektiven Eindruck ähnlicher oder sonst irgendwie angemessener erscheint. Erfolgt die Lautäußerung als eine einfache Triebbewegung, so wird damit die naive Annahme, daß sie absichtliche Nachahmung eines Schalleindrucks oder ab- sichtliche Übertragung irgendeines andern Sinnesreizes in ein Schall- bild sei, von selbst hinfällig. Denn die Beziehung zwischen Laut und Bedeutung kann nun keine im voraus gewollte, sondern nur eine nachträglich entstandene sein. Der Laut wurde nicht gebildet, weil er eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem objektiven Ein- druck besaß, sondern er wurde umgekehrt dem Eindruck ähnlich, weil die Artikulationsbewegung, aus der er hervorging, dies notwendig so mit sich führte. Hierdurch werden wir auf das hingewiesen, was den Laut selber erst erzeugt: auf die Lautbewegung der Sprach- organe. Unmittelbar sind es ja nicht die Laute, sondern die Laut- bewegungen, die durch den äußeren Eindruck triebartig ausgelöst werden. Hier bieten aber offenbar alle Arten sogenannter „Laut- nachahmung" den ausgezeichneten Fall dar, daß die Artikulation der Sprachorgane eine äußere Bewegung oder die Wirkung einer solchen, die noch deutlich den Bewegungsmodus erkennen läßt, nachbildet. Daß dies willkürlich geschehe, ist wiederum durch die Natur der ur- sprünglichen Triebbewegungen ausgeschlossen. Wie vielmehr jeder lebhaft erregte Beobachter einen Bewegungsvorgang, den er sieht,

Allgemeine Bedeutung der Lautnachahmung. 343

mit Mienen und Gebärden begleitet, so und nicht anders haben wir uns jene Lautbewegungen zu denken: als Bewegungen, die, indem sie die durcb den Eindruck erregten subjektiven Gefühle ausdrücken, unwillkürlich aucb den das Gefühl erregenden Vorgang selbst nacb- bilden. Diese Mitbewegungen sind gerade so gut wie alle andern ur- sprünglichen Gebärden unwillkürliche Akte; aber sie sind nicht bloße Reflexe, sondern Triebhandlungen, in denen sich die vorhandene psychische Erregung äußert. Nach diesem Zusammenhange mit den sonstigen Gebärden können wir eine solche nachahmende oder nach- bildende Bewegung der Artikulationsorgane am zutreffendsten als eine Lautgebärde bezeichnen. Die Beziehung zwischen dem ob- jektiven Eindruck und der Lautnachahmung besteht dann aber darin, daß diese in keiner Weise eine Nachahmung des Lautes, sondern eine unwillkürliche Nachbildung des äußeren Vorgangs durch den Laut ist, die in der Übereinstimmung der triebartig entstehenden Lautgebärde mit dem äußeren Eindruck ihre eigentliche Quelle hat. Unter ,, Lautgebärden" können wir hiernach mimische Bewegungen der Artikulationsorgane verstehen, die zumeist der Kategorie der nachbildenden Gebärden angehören, und die sich von andern Ge- bärden nur dadurch unterscheiden, daß sich mit ihnen ein den be- gleitenden Affekt ausdrückender Stimmlaut verbindet, der durch die mimische Bewegung seine eigentümliche Artikulation und Mo- dulation erhält^).

Das aufgestellte Prinzip macht nun vor allem die zweite Klasse onomatopoetischer Bildungen, die der Lautbilder, leicht verständ- lich. Um hier, wo von einer wirklichen Nachahmung des Lautes nicht die Rede sein kann, über die nicht zu verkennende Beziehung zwischen Laut und Bedeutung Rechenschaft zu geben, bezeichnet man in der

^) Den Ausdruck „Lautgebärde*' hat bereits Heyse (System der Sprach- wissenschaft, S. 73), aber in einem wesentlich andern, engeren Sinn angewandt. Er nennt so die meist von Gebärden begleiteten interjektionalen Zurufe, wie stf he, holla; synonym gebraucht er daher auch für sie den Ausdruck „Begeh- rungslaute". Nach den oben gewählten Bezeichnungen sind diese Interjektionen nicht Lautgebärden sondern unmittelbare Gefühlslaute, die nur als Begleiter anderer Gebärden, also bloß mittelbar, eine Beziehung zu dem äußeren Objekt gewinnen können.

344 Die Sprachlaute.

Regel diese Erscheinungen unterschiedslos als „Lautmetaphern" oder „Lautsymbole". Der irgendeinem andern Sinnesgebiet angehörige Eindruck soll in einen verwandt erscheinenden Schalleindruck über- tragen werden 1). Nach der oben gegebenen Erläuterung des Vorgangs handelt es sich jedoch hier offenbar überhaupt um keine Übertragung. Nicht durch den Laut selbst, sondern durch die Artikulationsbewegung wird zunächst der äußere Eindruck nachgebildet. Bei dieser mimischen Gebärde bedarf es aber keines Übergangs auf ein anderes Sinnes- gebiet, sondern die äußere Bewegung oder der als Bewegung auf- gefaßte Eindruck wird unmittelbar durch die Gebärde wiedergegeben. Diese nachbildende Gebärde, die sich dann von selbst auch dem Laute mitteilt, ist es, nicht ein als Metapher oder Symbol aufzufassendes Lautbild, das bei Wörtern wie bummeln, flimmern, kribbeln, torkeln, wimmeln und ähnlichen den Eindruck einer Nachahmung der Wirk- lichkeit hervorbringt. Nicht der Laut als solcher ist also die Quelle dieses Eindrucks, sondern die Artikulationsbewegung, namentlich die fein nuancierte Bewegung der Zunge und der Lippen. Die Wir- kung dieser mimischen Gebärde auf den hervorgebrachten Laut muß dann allerdings auch bei solchen durch den Laut selbst gar nicht nachzubildenden, weil lautlosen Eindrücken die Wirkung der Ge- bärde verstärken. Denn der Laut ist wieder innig mit der Lautbewegung assoziiert, so daß er in dem Hörer die ähnliche mimische Bewegung hervorzubringen strebt. Doch der Satz, daß die durch einen äußeren Eindruck erweckten Lautgebärden in erster Linie mimische Bewegungen und dann erst sekundär zugleich Laute sind, gilt selbstverständlich auch für die Schallnachahmungen. Bei Wörtern wie klatschen, knistern, krachen, stöhnen, summen usw., bei denen der wahrgenommene Eindruck selbst ein Laut und das Wort ein ihm ähnlicher Laut ist, wird gleichwohl der gehörte Schall entweder unmittelbar von einer

1) Heyse, System der Sprachwissenschaft, S. 93 ff. Heyse selbst faßt übrigens den Begriff der „Lautmetapher" ziemlich weit, da er Wörter wie „sanft", ,, scharf", „weich", „hell", „lind", und viele andere hierher rechnet, die jeden- falls nicht zu den „Lautgebärden" in dem oben begrenzten Sinne gehören, und bei denen es sehr zweifelhaft ist, ob die vermeintliche Lautnachahmung nicht erst auf der gewohnheitsmäßigen Assoziation des Lautes mit dem Begriff beruht, (Siehe oben S. 330.)

Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. 345

Artikulationsbewegung begleitet, oder diese assoziiert sich ohne weiteres mit ihm. Nur die Wirkung des mit der Lautgebärde ver- bundenen Lautes wird in diesem Fall voraussichtlich eine stärkere sein als vorhin, weil hier der Laut als solcher, nicht bloß durch die mimischen Bewegungen, die er anregt, an den ursprünglichen Ein- druck gebunden ist und so nachträglich als eine unmittelbare Wieder- gabe desselben erscheint.

3. Lautgebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane.

Die Zurückführung der Schallnachahmungen wie der Lautbilder a-uf Lautgebärden macht eine Gruppe von Erscheinungen sofort ver- ständlich, auf die der Begriff der ,, Lautnachahmung" unter keinen Umständen anwendbar ist, von denen man aber sagen könnte, sie seien ihrer Natur nach in eigentlicherem Sinne Lautgebärden als alle andern. Diese Erscheinungen bestehen darin, daß Organe und Tätigkeiten, die zur Bildung der Sprachlaute in Be- ziehung stehen, sehr häufig mit Wörtern benannt werden, bei deren Artikulation die gleichen Organe und Tätig- keiten mitwirken. Demnach erinnern diese Wortbildungen an gewisse in der Kindersprache vorkommende Ausdruckslaute, wie z. B. an die früher erwähnten Laute für ,, essen": mum, ham, am (S. 295). In der Tat mag es sein, daß hier, ähnlich wie bei den Namen für Vater und Mutter, eine gewisse Nachwirkung der kindlichen Lallaute nicht ausgeschlossen ist. Von dem Lautwandel scheinen ferner auch diese Erscheinungen nicht wesentlich berührt zu werden, da bei dem durch ihn bewirkten Wechsel der Laute diese immerhin in derselben Laut- klasse verbleiben, so daß die Beziehung zu dem Artilmlationsorgan nicht verloren geht, übrigens ist es charakteristisch, daß sich die hierher gehörigen Lautbilder ausschließlich auf solche Organe und deren Funktionen beziehen, die der Sitz deutlicher Artikulations- empfindungen sind: so in erster Linie auf Zunge und Mund, dann aber auch auf Nase und Zähne.

So enthält vor allem der Name für das Hauptorgan der Laut- artikulation, die Zunge, in zahlreichen Sprachen einen lingualen

346 Die Sprachlaute.

oder dentalen Konsonanten als den Hauptti'äger des Wortes. Da diese beiden GeräuscUaute in gleicher Weise unter ausgeprägter Mitwirkung der Zungenbewegung entstellen, so liat der ünterscbied, ob lingual oder dental, sowie der Übergang des einen Lautes in den andern durch eintretenden Lautwandel in diesem Fall keine Bedeutung. Äbnlicli kebrt in den Bezeicbnungen des Mundes und gewisser mit ibm zusammenhängender Tätigkeiten, wie schließen (griech. ^vw), essen (chin. nam, jav. mangan), still sein (hebr. alam, latein. mutus), der labiale Resonanzlaut wieder. In manchen Sprachen scheint der vom Ausatmungsstrom begleitete labiale Explosivlaut gleichzeitig dem Begriff des Blasens und dem des Mundes zugrunde zu liegen: so im hebr. faah blasen, feh Mund. In noch andern Sprachen, be- sonders in solchen des malaio-polynesischen Gebiets, ist ein Aus- druckslaut, der vielleicht mit der mimischen Nachbildung des Vogel- schnabels zusammenhängt, auf die Bezeichnung des menschlichen Mimdes übergegangen: so gibt es im Malaiischen neben einem älteren Wort mulut für Mund auch ein neueres chotok, welches ursprünglich Schnabel bedeutet, im Javanischen wird aber nur das Wort chochot für beide Begriffe gebraucht^). Diese Beziehungen sind keineswegs allgemeingültiger Art. In vielen Fällen sind die Benennungen der Sprachorgane offenbar ganz andern, für ims nicht mehr erkennbaren Ursprungs. Doch der Zusammenhang mit Gebärdebewegungen der Artikulationsorgane ist immerhin häufig genug, um einen Zufall aus- zuschließen. Übrigens ist derselbe wieder am häufigsten für die Zunge^. etwas seltener für die übrigen Organe und ihre Tätigkeit nachzu- weisen^).

1) Vgl. die Worttafel bei W. von Humboldt, Kawi-Sprache, II, S. 250.

2) Zur Veranschaulichung des oben Bemerkten lasse ich hier eine Zu-- sammenstellung von Wörtern verschiedener Sprachen für die genannten Or- gane und Tätigkeiten folgen, die ich hauptsächlich Humboldts Kawi-Sprache, Koelles Polyglotta Africana und Adelung- Vaters „Mithridates" entnehme. Dieses Material entspricht natürlich in vieler Beziehung, namentlich was die Schreibung der Laute betrifft, nicht mehr den heutigen Anforderungen. Doch darf man wohl voraussetzen, daß die hier allein in Betracht kommenden Haupt - unterschiede der Laute dabei hinreichend zum Ausdruck kommen.

Zunge: Türk. du, Ungar, hyelo. Ja van. liüaty Madec. lela, Polyn. elelOy

Laut gebärden zur Bezeichnung der Artikulationsorgane. 347

Im Unterschied von den gewöhnliclien ,,Lautnaclialimungen", die sich in sehr vielen Fällen als sprachliche Neubildungen erweisen, kommen diese unmittelbaren Ausdruckslaute der Sprachorgane gleicher- weise in älteren wie in neueren Sprachformen vor; sie scheinen daher ebenso zu den ursprünglichsten wie zu den unvergänglichsten Er- scheinungen der Sprache zu gehören. Dies erklärt sich wohl aus den Bedingungen ihrer Entstehung. Können wir nämlich die ,, Schall- nachahmungen'* und die „Lautbilder" als nachbildende Laut- gebärden von übereinstimmendem Charakter auffassen, die sich erst sekundär, durch die Wirkung, die bei der ersteren Form der ge- hörte Laut auf den Redenden wie Hörenden ausübte, gesondert haben, so besitzen die Ausdruckslaute für die Artikulationsorgane und ihre Bewegungen die Bedeutung hinweisender Lautgebärden. Auf diese Weise ergibt sich eine vollständige Analogie mit den beiden allgemeineren Klassen der nachbildenden und der hinweisenden Ge- bärden. Zugleich ist aber im vorliegenden Fall der Unterschied beider Formen ein relativ geringerer als sonst. Denn die nachbildende Laut- gebärde erscheint lediglich als eine Übertragung der demonstrativen Bewegungen der Sprachorgane auf äußere, ebenfalls durch charakte-

Mal. leda, Austral, tullun, Afrik. (Bornu) telam, Südafr. (Basünde) ludtmi, Mo- zamb. limi.

Mund: Mongol. am, Samoj. namo. Mal. mulut, Afrik. (Fulbe) hüiom, Süd- afr. (Ründa) mülam, Madec. muluh.

Essen: Chines. nanif Ja van. mangan, Tahit. amw, Madec. human, Surinam. njarriy Austral. nomang, Südafr. (Susu) nimiu.

Stille sein: Tahit. namu, Fidschi hamu, Peruan. amu, Mpongwe-Indian. imamUy Hebr. alam.

Blasen: Mal. pupuf, Tongan. huhu, Neuseel. pupu% Austral. iohun, Kafir. pupma, Galla lufa, Peruan. pumöni, Finn. puTckia, Hebr. päah, Nhd. pusten.

Für die relative Häufigkeit dieser Ausdruckslaute mag es ein gewisses Maß abgeben, daß unter den 200 von Koelle (Polyglotta Africana, 1854) auf- geführten afrikanischen Sprachen nach Ausscheidung aller irgend zweifelhaften Formen für die Zunge etwa 100, für den Mund bloß 53 als Lautgebärden gedeutet werden können. Natürlich kommt dabei in Betracht, daß vielfach Wörter gleicher Abstammung mehreren Sprachen gemeinsam sind. Da dies aber auch für die abweichenden Wortbildungen gilt, so wird man jenes Maß immerhin als ein annäherndes betrachten dürfen.

348 Di© Sprachlaute.

ristisclie Bewegungen sich auszeichnende Objekte, so daß hier die beiden Arten der Lautgebärde die natürlichen und notwendigen Modi- fikationen einer und derselben Grundform sind, die in gewissem Sinne nachbildend und hinweisend zugleich ist.

4. Natürliche Lautmetaphern.

Unter einer ,, Lautmetapher" verstehen wir im allgemeinen eine Beziehung des Sprachlauts zu seiner Bedeutung, die sich dadurch dem Bewußtsein aufdrängt, daß der Gefühlston des Lautes dem an die bezeichnete Vorstellung gebundenen Gefühl verwandt ist. Solche Metaphern sind künstlich, wenn der Dichter oder Eedner die Schall- färbung und den Ehythmus seiner Worte so wählt, daß sie den Gefühls- ton des Gedankeninhalts wiedergeben. Dabei kann zugleich die Laut- metapher ohne scharfe Grenze in die Lautnachahmung übergehen. So bleibt der homerische Vers (Od. XI, 598): avtig emtxa Ttidovöe Tivllvöevo läccg ävaiöijg noch im wesentlichen in den Grenzen der Lautmetapher, die Übersetzung von Voß: ,, Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor" ist aber fast vollständig zur Schall- nachahmung geworden. In dem Schillerschen Lied von der Glocke nähern sich die Verse „Von dem Dome schwer und bang tönt die Glocke Grabgesang" der Schallnachahmung, die Schluß verse ,, Ziehet, ziehet, hebt, sie bewegt sich, schwebt" enthalten keine Spur einer solchen, aber sie haben den allgemeinen Charakter der Lautmetapher. Natürliche Lautmetaphern werden wir nun nach Analogie dieser Beispiele solche Wortbildungen nennen, die auf dem Wege der natür- lichen Sprachentwicklung entstanden sind und zugleich eine durch den Gefühlston des Lautes vermittelte Beziehung zwischen diesem und seiner Bedeutung erkennen lassen. Während die künst- liche Lautmetapher, da sie ein gegebenes und an sich im allgemeinen nicht metaphorisches Lautmaterial verwendet, er^t in größeren Wort- verbänden und Satzfügungen zur Geltung kommt, haftet die natür- liche dem einzelnen Worte selbst an. Nun braucht auch eine dichte- rische Lautmetapher kein Erzeugnis planmäßiger Absicht zu sein,

Natürliche Lautmetaphern. 349

sondern sie kann sich ungesucht darbieten, lediglicli unter der Wirkung des Triebes, den Ausdruck adäquat der Vorstellung zu gestalten. Der Gegensatz des ,, Künstlichen" und ,, Na türlichen" bezieht sich also hier weniger auf die Entstehung der Laut- metapher selbst als auf die der Spracherzeugnisse, in denen sie vorkommt. Dieser Unterschied kann dann aber freilich zugleich den andern mit sich führen, daß die künstliche zu einer absicht- lichen wird, wie das bei dem angeführten Hexameter von Voß zweifellos der Fall ist.

Hat schon die künstliche Lautmetapher infolge der Mannig- faltigkeit der Gefühlsassoziationen der Klänge eine gewisse Unbestimmt- heit und Vieldeutigkeit, so gilt dies nun in noch höherem Grade von der natürlichen, da diese dem Laut des einzelnen Wortes an- haftet, so daß ihr alle die Mittel der Klang Verbindung und des Rhyth- mus, deren sich poetische Lautmetaphern bedienen, abgehen. Statt dessen kommt bei ihr durchweg ein anderes Moment zur Geltung, das im allgemeinen zugleich das einzig sichere Kriterium für ihre Unter- scheidung von zufälligen oder auf eingeübter Assoziation beruhen- den Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung bildet. Es besteht darin, daß die natürliche Lautmetapher stets ein Glied in einer Reihe zusammengehöriger Erscheinungen ist, aus deren Vergleichung erst der metaphorische Charakter des einzelnen Lautes erschlossen werden kann. ,, Na türliche Lautmetaphern" setzen also korrelative Ver- änderungen von Laut und Bedeutung voraus. Die Erscheinungen sind aber nur dann mit einiger Sicherheit als Lautmetaphern aufzu- fassen, wenn das einzelne Wort nicht einen isolierten Fall bildet, son- dern wenn Wörter von etwas abweichendem Laut- und Bedeutungs- inhalt vorkommen, und die Lautvariation, die dabei beim Übergang des einen Wortes zum andern stattfindet, mit einem entsprechen- den Wechsel des sinnlichen Gefühlstons der Laute verbunden ist. Hierdurch wird sofort eine große Zahl von Wörtern, in denen man oft mit Vorliebe Lautmetaphern gesehen hat, von diesem Gebiet ausgeschlossen, weil bei ihnen jenes Kriterium korrelativer Laut- äriderungen fehlt. Dahin gehören Wörter wie Liehe, Schmerz, lind, sanft, hart usw. Von andern wie süß, bitter, spitz, stumpf muß es wenig- stens dahingestellt bleiben. (Vg. oben S. 330.) Auch bei diesen zweifei-

350 Die Sprachlaute.

haften Beispielen sind es aber solche, die, wie süß und hitter^ Gegen- sätze des Gefühls andeuten, bei denen eine Lautmetapher noch am wahrscheinlichsten ist^).

Beschränken wir uns nun auf Fälle, in denen das angegebene Merkmal zutrifft, so können namentlich folgende Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit als natürliche Lautmetaphern angesehen werden: 1) die Bezeichnungen von Vater und Mutter mit ihren meist den konsonantischen Bestandteilen dieser Wörter anhaftenden, dem Gegen- satz des starken und des schwachen Geschlechts entsprechenden Laut- färbungen; 2) die Lautabstufungen bei Wörtern, die verschiedene räumliche Entfernungen entweder direkt ausdrücken, wie die Ortsadverbien, oder stillschweigend enthalten, wie die Demonstrativ- und Personalpronomina, indem hier in vielen Fällen der größeren Entfernung der stärkere Laut entspricht; 3) die Lautvariationen bei Wörtern, die verschiedene Modifikationen einer und der- selben Tätigkeit bezeichnen, wobei die jedesmalige Lautfärbung die der Bedeutungsmodifikation entsprechende Gefühlsfärbung wiedergibt.

a. Lautmetaphern in den Wörtern für Vater und Mutter.

Der großen Analogie zahlreicher und zum Teil weit entlegener Sprachen in den Namen für Vater und Mutter ist schon oben als eines Zeugnisses für den Übergang gewisser Naturlaute in die Sprache ge- dacht worden (S. 327 f.). In den dort erwähnten je vier Typen, fa, ap, ta, at für den Vater, ma, am, na, an für die Mutter ist aber zu- gleich ein Lautunterschied ausgeprägt, nach welchem dem stärkeren Geschlecht der stärkere, dem schwächeren der schwächere Laut ent- spricht, insofern wir diese Unterscheidungen des stärker und schwächer für den Gegensatz der labialen oder dentalen Explosivlaute f und t gegenüber den labialen oder nasalen Kesonanzlauten m und n hier der Kürze wegen anwenden dürfen. Denn gewiß sind ja diese Bezeich- nungen auch mit Rücksicht auf den Gefühlston der Laute nicht er-

1) Über die Wörter für süß und bitter in verschiedenen Sprachen vgl. üb- rigens unten Kap. VIII, Nr. IV.

Natürliche Lautmetaphern.

351

schöpfend, da namentlich die längere Dauer und der klangartige Cha- rakter der Resonanzlaute ihre Gefühlswirkung wesentlich mitbedingt. Daß diese Regelmäßigkeit eine zufällige sei, ist wieder durch die Zahl der Fälle ausgeschlossen. Auch findet sich gelegentlich ein vokalischer Lautunterschied, der einen ähnlichen Gegensatz auszudrücken scheint, indem der stärkere Vokal, a oder u, für den Vater, der schwächere e oder i, für die Mutter charakteristisch ist^).

Für diese Korrelation, die durch die Beschaffenheit der Laut- gebilde den Gedanken an die Lailaute des Kindes unmittelbar nahe- legt, sind im allgemeinen drei Erklärungen gegeben worden. Erstens meint man, der Laut ma sei der frühere und der häufigere unter den vorsprachlichen Artikulationen des Kindes, darum sei er für die Mutter gewählt worden, worauf der andere fa allein für den Vater übrig blieb ^). Diese Deutung scheitert jedoch aus mehreren Gründen.

1) Einige Beispiele aus Buschmanns Tabellen (a. a. 0. S. 14 ff.) mögen diese Verhältnisse veranschaulichen. Ich wähle die Beispiele so, daß möglichst die verschiedenen obenerwähnten Fälle in ihnen repräsentiert sind.

Semitisch Vater: ab Mutter: am

Asiatisch-europäische Sprachen:

Türkisch Mongolisch Tungusisch Finnisch Baskisch

ata, aha dba ami oeta, atya aita

ana ege aenni enne ama

Afrikanische Sprachen:

Kosah Bechuana Mozambique Suaheli Kongo Galla Hottentottisch

Vater: vao baato tete, tili babe lata aba iip

Mutter: mao naacho mama, amao amowo mama häda mama

Vater: Mutter:

Amerikanische Sprachen:

Lummi-Ind. Cataquina Kuki Khajin Dakota Cherokee

man payu fall amay atä atoteh

tan nayu noh iney innan atsing

Malaio-polynesische Sprachen: Javanisch Bugi Madecassisch Tagalisch Neuseeländisch bapa ama rai, bdha awa matua tane

ma ina reni ina matua wähina

(Elter Mann, Elter Frau).

2) Sütterlin, Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 3L

Malaisch Vater: pa, bdha Mutter: ama

352 Die Sprachlaute.

Zunächst ist es überhaupt nicht richtig, daß der ma-Laut der ur- sprünglichere und der häufigere sei. Wenigstens gilt das nicht, wenn man an die Lallaute des Kindes denkt, unter denen ha ha, pa pa, da da usw.. Laute, die den Vater zu charakterisieren pflegen, weit über- wiegen^). Sodann müßte nach dieser Theorie notwendig erwartet werden, daß der ma-Laut als Muttername der frequentere, der pa- Laut als Vater name der seltenere sei. Wiederum ist aber, wie schon eine flüchtige Durchmusterung der Vokabularien lehrt, das Gegen- teil richtig^). Nach einer zweiten Hypothese soll ebenfalls der Mutter- name der Ausgangspunkt der Unterscheidung gewesen und die Be- zeichnung des Vaters daher nur als eine zufällige Ergänzung desselben entstanden sein, der ma-Laut für die Mutter soll aber an die Saug- bewegungen des Kindes erinnern^). Abgesehen davon, daß die vor- hin erwähnte größere Häufigkeit des 2?a-Lautes für den Vaternamen auch mit dieser Interpretation unvereinbar ist, dürfte jedoch die Be- hauptung, das bald glucksende bald schmatzende Geräusch des trinken- den Säuglings erinnere an den Laut ma, bei jedem, der Säuglinge be- obachtet hat, erheblichen Bedenken begegnen. Eher ließe sich, wenn man einmal zufällige und einseitige Assoziationen zu Hilfe nehmen will, an die Möglichkeit denken, daß zwar nicht unter den zur Zeit der Wortbildung vornehmlich in Betracht kommenden Lallworten des Kindes, wohl aber von frühe an unter den Schreilauten der Laut ma nicht selten vorkommt. Da könnte dann allenfalls auf die Mutter, die das schreiende Kind beruhigt, dieser Schreilaut übertragen worden

^) Dies lehren nicht bloß meine eigenen Aufzeichnungen, sondern auch die Mitteilungen von Preyer u. a. Vgl. z. B. Preyer, Die Seele des Kindes, ^ S. 370 ff. 424 ff. Moore, The Child, p. 116.

2) In Koelles Vokabularien afrikanischer Sprachen, die, wenn sie auch heutigen lautphysiologischen Ansprüchen nicht mehr völlig genügen, für die verhältnismäßig rohen Artikulationsunterschiede, um die es sich hier handelt, einen vergleichenden Maßstab abgeben können, finde ich in einer Gesamtzahl von 200 Sprachen 158 Fälle des Typus pa oder ta für Vater, und nur 99 Fälle des Typus ma oder na für Mutter. Im Mutternamen spielt eben die vo- kalische Dämpfung eine größere Rolle, und sie findet sich bei sonst ab- weichender Lautbildung auch da, wo der Vatername jenen häufigsten Typen folgt.

3) Delbrück, Grundfragen der Sprachforschung, S. 78.

Natürliche Lautmetaphem. 353

sein. Mag man das nun immerhin, nach dem Prinzip der Kompli- kation der Bedingungen, als eine möglicherweise mitwirkende Ur- sache gelten lassen, für die Gesamtheit der Erscheinungen würde auch diese Interpretation unzulänglich sein, teils wegen des schon erwähnten Übergewichts der fa- und ^a-Laute für den Vater, teils weil sie über- haupt für alle die Fälle nicht zutrifft, in denen die Unterscheidung ganz und gar dem Gebiet der Vokalbildung angehört, hier aber nicht minder in einer den Zufall ausschließenden Kegelmäßigkeit in dem oben angegebenen Sinne zu beobachten ist, wie vor allem im Gebiet der amerikanischen und zum Teil auch der ural-altaischen Sprachen. Dies führt zugleich auf die dritte der möglichen Erklärungen, die jedenfalls den Vorzug hat, daß sie alle Erscheinungen dieses Gebiets zusammenfaßt und für beide Elternnamen zutrifft, nicht den einen, und dazu noch den konstanteren, als bloßes Produkt des Zufalls an- sieht. Ein solcher Zufall wird ohnehin schon dadurch unwahrschein- lich, daß hier die Lautgebilde selbst zumeist in einer deutlich erkenn- baren Korrelation stehen. Dabei können dann diese Lautbeziehungen äußerlich von sehr verschiedener Beschaffenheit sein, während sie doch in dem psychologischen Charakter der Lautdifferenzierung über- einstimmen. Lautgebilde wie yafa und mama auf der einen, ama und ina auf der andern Seite sind ja an sich außerordentlich ver- schieden. Aber in einer dem zweiten Wort eigenen Schwächung des Lautes stimmen sie überein. Und da nun diese Form sich begleitender Veränderungen nicht auf w^enige Fälle beschränkt ist, sondern in einer großen Zahl der lebenden Sprachen wiederkehrt, so haben wir allen Anlaß, einen psychologischen Grund zu vermuten. Hierbei isb je- doch zu bedenken, daß nicht das Kind, sondern die erwachsene Um- gebung im Verkehr mit dem Kinde auch diese Lautdifferenzierung geschaffen hat, da gerade die Namen für Vater und Mutter, wie schon Preyer bemerkte, nachweislich immer erst von außen dem Kinde dargeboten und von ihm meist nur allmählich richtig angewandt werden^). Eben darum nehmen nun diese Namen an jenem allgemeinen Zug zu onomatopoetischen Bildungen teil, die weder das Kind noch

1) Preyer, Seele des Kindes, 3 S. 353. Vgl. oben S. 288 ff.

W u n ä t , VölterpBychologie. 1. 4. AbA. 23

354 I^iö Sprachlaute.

der Erwachsene für sich zustande bringen würde, die sich aber mit instinktivem Zwang als eine natürliche Ausdrucksform einstellen, wo sich die Umgebung des Kindes diesem unter Benutzung seines Lautmaterials verständlich machen will. Wo eine eigentliche Laut- nachahmung nicht zu Gebote steht, da greift dann die Mutter oder Amme zur Lautmetapher, das heißt zu Lautbildern, die zu den Gegen- ständen selbst keine objektiven Beziehungen bieten, denen aber eine dem Unterschied der Objekte entsprechende Verschiedenheit des Gefühlstons eigen ist. Somit ist die Entstehung der Bezeichnungen für Vater und Mutter kein spezifischer Ausnahmefall, sondern sie zeigt nur in einer stabil gewordenen Form eine Erscheinung, die sich in einer vergänglicheren Weise in den fortwährend entstehenden und verschwindenden Lautmetaphern der Kinderstube unter unsern Augen ereignet. In dem Verkehr zwischen Mutter und Kind hat jeder Sprachlaut seinen Gefühlston, mag er nun in die vorgefundenen Wörter hineingelegt werden, oder mag er in neuen Lautbildungen sich Luft machen.

b. Lautmetaphern in Ortsadverbien und Pronominal- formen.

Isc die vokalische Lautabstufung bei der Unterscheidung von Vater und Mutter eine seltenere Lautmetapher, so scheint sie dagegen bei der Unterscheidung der Ortsbegriffe entschie- den vorzuwalten. Sie besteht hier in einer Korrelation zwischen Lautsteigerung und Zunahme des Raumes. Besonders die Sprachen der primitiven Kulturvölker zeigen diese Erscheinung in augenfälliger Weise, während sie z. B. in den semitischen und indogermanischen Sprachen entweder ganz fehlt oder sich jedenfalls der sicheren Nachweisung entzieht. Ahnlich den Ortsadverbien „hier" und ,,dort" verhalten sich in dieser Beziehung die Demonstrativpronomina ,, dieser" und ,, jener". Wie der entferntere Ort, so wird die entferntere Person durch Steigerung des Vokaltons ausgedrückt, wobei durchweg a, o und u als die stärkeren, e und i als die schwächeren Vokale erscheinen.

Natürliche Lautmetaphem. 355

Daneben kommen dann auch konsonantische Lautverstäikungen vor^).

Augenfällige Zeugnisse für das Vorkommen natürlicher Laut- metaphern in diesen Fällen liefern die Sprachen mancher Natur- völker, namentlich da, wo sich in ihnen eine mehrfache Abstufung solcher Unterschiede ausgebildet hat, eine Erscheinung, die nicht ganz selten vorkommt, und die durchaus der konkreten Form des Denkens in diesen Sprachen gemäß ist. So finden sich in den poly- nesischen Sprachen im allgemeinen drei Ortsabstufungen mit den Stammsilben ni, nei, na und m; nur in einzelnen dieser Sprachen haben sich aber alle drei Abstufungen erhalten. Ebenso verhält es sich mit dem Demonstrativpronomen, wo das Neuseeländische die Steigerungsformen tenei, tena, tera (oder enei, ena, era), ,, dieser", ,, jener hier", ,, jener dort", besitzt, die wieder nichts anderes als pronominale ümwandlungsformen der drei Ortsadverbien nei, na, ra sind (,,hier", „dort", „dort in der Feme" oder, von der Zeit gebraucht, „damals"). Das Tahiti hat dafür die drei Stufen teie ,, dieser", teienei „dieser dort"

1) Das folgende Verzeichnis mag diese Sätze veranschaulichen.

Ortsadverbien Madecassisch Tahitisch Tagalisch Japanisch Dhimalisch Ossetisch

hier:

io

io nei

dito

ko ita

am

dort:

ao

ia na

taon

ka Uta

um

Suluanisch

Sahaptinisch

Mutsunisch

Tarahumaranisch

Vai

hier:

aya

kina

ne

ihe

nt

dort:

apo .

kuna

nu

ale

nu

Demonstrativpronomina:

Javanisch Neuseeländisch Tagalisch Tamulisch Dhimalisch Soso

dieser: iki tinei dini i iti yo

jener: iku tera yari a uti na

Mande Vai Jorubanisch Abchassisch Magyarisch

dieser: nyin me na dbri ez

jener: wo ke ni uhri az

23*

356 I^ie Sprachlaute.

und taua ra „jener*' ^). Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe wird also meist durch Vokalsteigerung, der von der zweiten zur dritten durch konsonantische Verstärkung vermittelt. Ebenso besitzen die Sudan- und die Bantusprachen für die Abstufungen der Orts- und der Personenbezeichnung zumeist Vokalsteigerungen, zuweilen aber auch Konsonantenverstärkungen: z. B. für ,, dieser" und ,, jener" im Soso yi und na, im Mande nyin und wo, dagegen im Vai me und he; für ,,hier" und ,,dort" hat das letztere wieder verschiedene Abstufungen, näm- lich nie und nu, oder auch nume, nume und nuro^). In den Bantu- sprachen hat im allgemeinen das Pronomen der ersten Person den hohen, das der zweiten den tiefen Ton (m^ und Jeu), und das ähnliche findet sich meist bei dem nach drei Entfernungen abgestuften Demonstrativ- pronomen; doch werden hier die Erscheinungen zum Teil durch Vor- gänge des Lautwandels modifiziert^). Nicht minder ausgeprägt finden sich diese Vokalabstufungen in den hami tischen Sprachen. In der Regel bezeichnet dabei i die kleinste, a eine mittlere und u die größte Entfernung*). Wo die Tonmodulation vorherrscht, wie in den Sudan- sprachen, kann in solchen Fällen der Klangcharakter des Vokals der gleiche bleiben und nur die Tonhöhe in entsprechendem Sinne wechseln. Alle diese Erscheinungen zeigen freilich zugleich, daß die Gefühls- betonungen der Laute keine konstanten, in allen Sprachen über- einstimmenden Werte sind. Auch können sie durch Akzent und Dauer der Laute sowie durch die sonstigen Bedingungen des Lautwandels Abänderungen erfahren. Darum kann hier immer erst eine größere Zahl parallel gehender Variationen von Laut und Bedeutung eine entsprechende Lautmetapher wahrscheinlich machen. Auch sind die Lautabstufungen des Personalpronomens wohl ebenfalls den räum- lichen Entfernungsunterschieden zuzuordnen. Doch dürfte zuweilen noch ein anderes Moment mitwirken, das der Lautmetapher ihren eigenartigen Charakter verleiht. Auffallend häufig kommen nämlich

1) Buschmann in Humboldts Kawi- Sprache, III, S. 819. Fr. Müller, Grund- riß der Sprachwissenschaft, II, 2, S. 29.

2) Steinthal, Die Mande- Negersprachen, S. 81 ff.

3) Meinhof, Grammatik der Bantusprachen, 1906, S. 35 ff.

*) Meinhof, Archiv für Anthropologie, N. F., Bd. 9, 1910, S. 198.

Natürliche Lautmetaphern.

357

für das „Ich'' die Resonanzlaute, namentlich der labiale m, in sonst gänzlich stammesfremden Sprachen vor. Da schon der Natur- mensch nach weitverbreiteten animistischen Vorstellungen sein Ich in das Innere seines Körpers verlegt, so mag der bei verschlossenen Lippen hervorgebrachte Laut hier als eine natürliche Lautmetapher für das Ich empfunden werden. In einzelnen Fällen, wie z. B. im Lateinischen, Griechischen, Deutschen, ist der labiale Resonanzlaut aus der Nominativform verschwunden, während er im Akkusativ erhalten blieb (ego me, ich mich). Diese Lautanalogien haben bisweilen einen genealogischen Zusammenhang der Sprachen oder eine äußere Übertragung vermuten lassen. Wenn aber die Laut- abstufungen ma, ta, sa, mit denen das Sanskrit das Ich, Du und Er bezeichnete, mit dem Hebräischen ani, attu, hu, dem mon, ton, son des Lappen, dem an, ad, u (ai) des Somali und mit den gleichen Formen noch vieler anderer Sprachen analoge Variationen darbieten, so kann namentlich in den letzteren Fällen weder an ursprüngliche Verwandt- schaft noch selbst an eine frühe Übertragung gedacht werden^). Denn das Ich und das Du (für die dritte Person tritt zumeist ein Demon- strativpronomen ein) gehören überall zu den frühesten Bestandteilen der Sprache. Auch ist der wirkliche genealogische Zusammenhang, wie er z. B. die verschiedenen indogermanischen Sprachen verbindet,

1) Die folgende Übersicht, ein kurzer Auszug aus den Paradigmen in Fr. Müllers Grundriß der Sprachwissenschaft, mag dies veranschaulichen.

Sanskr. Hebräisch Somali Lappisch Türkisch Mandschu Mongolisch

ma {äham) ani an mon hen hi ben

ta {twam) atta ad ton sen si isehi

sa hu u {ai) son öl tere tere

Tumelisch Madecassisch Hawaiisch Javanisch Südaustralisch Loango Kongo

'iigi ahu au haku ngai i meno

ninna u nge

pa ha oyandi

ngo

ano

ko}>

kowe

ngu

iza

ja

hiya

Amakosa

Mande

Lenni-Lennape

Sahaptin

mina

en

ni

in

ivena

i

ki

im

Jena

a

neka

ipi

358 Die Sprachlaute.

von der wahrsclieinlicli nur durcli übereinstimmende Lautmetaphern vermittelten Analogie olme weiteres zu unterscheiden. Dort tritt uns eine eigentliclie Lautverwandtschaft, hier bloß eine analoge Abstufung der Laute bei im übrigen meist völliger Verscbiedenlieit entgegen. Poch ist anzuerkennen, daß diese Regel der Lautabstufung beim per- sönlichen im ganzen häufiger als beim hinweisenden Pronomen von Ausnahmen durchkreuzt wird. Dies mag, abgesehen von den sonstigen, namentlich im Lautwechsel gelegenen Bedingungen, teilweise schon aus der soeben berührten Komplikation verschiedener Lautmetaphern zu erklären sein. Vor allem aber ist zu bedenken, daß die hier überall zugrunde liegende räumliche Entfernungsanschauung beim Demon- strativum eine weit unmittelbarere ist als bei dem Personale, bei dem sie wohl erst durch eine Assoziation mit jenem zustande kommt. Übrigens muß auch hier betont werden, daß einzelne Beispiele, die sich dem Prinzip der Lautmetapher nicht fügen, in allen diesen Fällen nicht als Gegeninstanzen gelten können. Eine ausnahmslose Über- einstimmung würde angesichts der Komplikation verschiedener und zum Teil widerstreitender Bedingungen eine absolute Unmöglich- keit sein. Wenn im Hebräischen eine sonst weitverbreitete Laut- metapher vorkommt, die das Assyrische nicht hat, so hört darum jene nicht auf, eine Lautmetapher zu sein; gerade so wenig, wie für uns das Wort donnern aufhört eine Schallnachahmung zu sein, weil das stammverwandte Wort in andern indogermanischen Sprachen keine solche ist. Es gibt zweifellos ursprüngliche, und es gibt ge- wordene Schallbilder und Lautmetaphern, und diese gewordenen können ebensogut Neubildungen wie Ableitungen aus alten Wort- stämmen sein, in denen solche Beziehungen noch nicht vor- handen waren ^).

1) Danach kann ich auch die von P. W. Schmidt (Mitteilungen der An- thropologischen Gesellschaft in Wien, Bd. 33, 1903, S. 369) beigebrachten Gegen- beispiele nicht als richtig anerkennen.

Natürliche Lautmetaphern. 359

c. Korrespondierende Laut- und Bedeutungsvariationen bei Eigenschafts- und Tätigkeitsbegriffen.

Eine dritte Reihe hierher gehöriger Erscheinungen besteht in Lautvariationen stammverwandter Wörter bei intensiven oder quali- tativen Abstufungen von Eigenschafts- und Tätigkeitsbegriffen. Dabei ist eine Lautmetapher an dem ursprünglichen Wortstamm in der Regel nicht zu erkennen. Aber die von dieser anscheinend in- differenten Grundlage ausgehenden Lautvariationen lassen sie deut- lich hervortreten. Belehrende Beispiele bietet hier das Gebiet der Sudansprachen, und wiederum sind es die Vokale, die je nach Klang- farbe oder Tonhöhe die Bedeutung in ähnlichem Sinn modifizieren wie beim Demonstrativum. So bedeutet im Ewe ein Adjektiv mit Tiefton und mit verlängertem Vokal gesprochen einen großen, im Hochton und mit verkürztem Vokal einen kleinen Gegenstand^). Mit Recht hat schon Meinhof darauf hingewiesen, daß wir uns un- willkürlich der gleichen Lautvariation bedienen, wenn wir einem Kinde Geschichten erzählen, in denen Riesen oder große Tiere und Zwerge oder kleine Tiere vorkommen. Der Naturmensch, dessen Denken überall ein anschauliches und in diesem Sinne kindliches ist, fixiert ohne weiteres in der allgemeinen Sprache, was wir erst in diesem besonderen Fall, wo wir uns der kindlichen Anschauung an- passen wollen, in sie hineinlegen. Doch wenn Meinhof diese Laut- variation darauf bezieht, daß große Menschen und Tiere ciefen, kleine hohen Stimmton besitzen, so mag das wohl als schwache Assoziation mitwirken, der Hauptsache nach wird man aber auch hier den Wechsel auf den kontrastierenden Gefühlston zurückführen müssen, der die Vorstellungen begleitet^). Der Menschenfresser wird weniger deshalb mit Tiefton geschildert, weil er ungewöhnlich groß ist das braucht er nicht einmal notwendig zu sein sondern weil er Furcht erweckt, und von den Feen und Elfen wird im Hochton erzählt, ohne daß man sie sich kleiner als andere Frauen denkt. Auch hat man bei diesem Parallelgehen des Ausdrucks für groß und klein mit dem für

1) B. Westermaim, Grammatik der Ewe- Sprache, 1907, S. 44.

2) Meirihof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, S. 8L

360 Die Sprachlaute,

fern und nahe wohl eher an eine unmittelbare räumliche Assoziation als etwa daran zu denken, daß die Stimme des Riesen erst auf seine Größe und dann diese auf die große Raumentfernung übertragen worden sei. Dieser Beziehung zum Affekt der Furcht, des Grauens auf der einen, des Heitern oder Komischen auf der andern Seite ent- spricht es denn auch, daß analoge Lautvariationen für andere gegen- sätzliche Eigenschaften, wie z. B. für einen angenehmen und einen unangenehmen Geruch, für süß und bitter, weich und hart usw., nicht selten sind, und daß endlich, wie wir sogleich sehen werden, in den gleichen Sprachen die Gegensätze hoher und tiefer Töne dem Aus- druck der Tätigkeit und des Leidens dienen i). In der Tat bieten die Verbalformen in den verschiedenen Bedeutungswandlungeri, die bei ihnen ein und derselbe Verbalstamm erfahren kann, besonders günstige Angriffspunkte für solche einander parallel gehende Variationen von Laut und Bedeutung. Sie sind hier zuerst auf indogermanischem Sprach- gebiet von A. F. Pott beobachtet und unter dem Namen der ,, Wurzel- variation" beschrieben worden^). Manche dieser Erscheinungen reichen in das Gebiet der eigentlichen Lautgebärden. Doch können in der nämlichen Wortreihe Variationen vorkommen, bei denen wohl nur eine natürliche Lautmetapher vorliegt. So gibt es eine Anzahl so- genannter indogermanischer Wurzeln, die mit dem Laute hr beginnen und sämtlich den Begriff des Geräusches in irgendeiner Weise mo- difiziert ausdrücken. Kommt noch der explosive Auslaut k hinzu, so wird daraus der Begriff des lauten Geräusches; die einzelnen Modifikationen dieses letzteren werden dann durch die verschiedenen vokalischen Inlaute ausgedrückt: krak das plötzliche laute Geräusch (z^a^w krächzen), krauk den dauernden, dumpferen lauten Schall (y.Qavyri Lärm), krik den scharfen eindringenden Laut {kqI^co kreischen, schwirren). Alle diese Formen lassen sich zugleich als ,, Lautnach- ahmungen" deuten. Sie verhalten sich ähnlich etwa unseren deutschen Wörtern schnarren^ schnurren, schwirren u. a. Die nämliche Erschei- nung begegnet uns, zugleich in ihren mannigfachsten Übergängen

^) Westermann, a. a. O., S. 130.

2) Pott, Etymologische Forschungen, 1,2 S. 27, 169. II,^ S. 22.

Natürliche Lautmetaphem. 361

zwischen direkter Lautgebärde und Lautmetapher, in den semi bischen Sprachen. Die Laut Variation besteht hier in einem Wechsel des Aus- lauts der in diesen Sprachen in der Regel zweisilbigen Wortstämme ^). So in der folgenden Wortreihe: "para lösen, parad trennen, parat von sich werfen, param teilen, paras zerstreuen, paraz ausbreiten, parak brechen, parar spalten. Die Beziehung zwischen Laut- und Bedeu- tungsvariation ist augenfällig; aber von einer eigentlichen Laut- nachahmung läßt sich nur selten reden. Höchstens findet sich inso- fern eine direkte Beziehung, als die dauerndere Tätigkeit durch einen dauernderen, die intensivere durch einen stärkeren Laut ver sinnlicht wird. So stehen sich z. B. parad trennen und parak brechen, sarak ausbreiten und sarak aussprengen, parad trennen und parar spalten, ^arab rauh sein und garar schnarren, gaal wegwerfen und gaar zurück- stoßen gegenüber. Nun läßt sich wohl sagen, das explosive k im Aus- laut mache im Vergleich mit andern Lauten den Eindruck des Plötz- lichen, Gewaltsamen, der Zitterlaut r den einer intensiven, dauernden oder sich wiederholenden Tätigkeit. Dennoch handelt es sich dabei offenbar um die Übertragung anderweitiger Sinneseindrücke in die Lautform oder vielmehr in eine Lautgebärde, die entsprechende Modi- fikationen der Lautform hervorbringt. Diese Übertragung beruht aber in erster Linie auf der Verwandtschaft des den Eindruck und des die Lautgebärde und den Laut begleitenden Gefühlstons, einer Asso- ziation, die wir oben als die wesentliche Bedingung der natürlichen Lautmetapher kennen lernten (S. 348).

Neben diesen, der indogermanischen „Wurzelvariation" an die Seite zu stellenden Variationen des Auslautes besitzen übrigens die semitischen Sprachen noch eine zweite mit der AVortflexion ver- bundene Form von Laut Variation, die teils zu den Präfixbildungen,

*) Eingehend hat auf diese Gruppen zusammengehöriger Wortstämme Oesenius hingewiesen in seinem „Ausführlichen Lehrgebäude der hebräischen Spräche'S S. 183 ff., vgl. Hebr. Grammatik, i* S. 71. In jedem hebräischen Lexikon fallen diese zusammengehörigen dreikonsonantigen Wortstämme in die Augen. Es versteht sich übrigens von selbst, daß auch hier der onomatopoetische Charakter von der Frage des Ursprungs ganz unab- hängig ist.

362 Die Sprachlaute.

teils zu den Umlauterscheinungen gehört, während sie im Hinblick auf die Kichtung der Lautänderungen wohl zugleich den Lautmeta- phern zugezählt werden kann: es sind dies jene Konjugationsformen, welche die verschiedenen Arten einer Handlung, die reflexive, passive, kausative, iterative, bezeichnen. Diese Formen des sogenannten Niphal, Fiel, Pual, Hiphil, Hophal, Hitpael usw. verraten zum großen Teil schon in ihren den einzelnen Flexionen des hebr. Verbums päal entnommenen Benennungen eine metaphorische Beziehung zwischen Laut und Bedeutung; und wo diese bei einzelnen Formen undeut- licher ist, wird sie durch deren Einordnung in die Keihe wahrschein- lich. Zwei direkt auf die Veränderung des begleitenden Gefühls hin- weisende Mittel sind es nämlich, die hier zur Anwendung kommen: erstens die Erhöhung und Vertiefung des Vokaltons, von denen jene einer erregenden, diese einer herabstimmenden Gefühlswirkung ent- spricht; und zweitens Verstärkungen des Anlauts durch Präfixe. Diese drücken im allgemeinen eine verstärkende, dabei aber je nach der Beschaffenheit der Verbindung wechselnde Modifikation der Be- deutung, namentlich eine reflexive oder kausative oder eine Vereinigung beider, aus. Am klarsten tritt hier die natürliche Lautmetapher in der Erhöhung und Vertiefung des vokalischen Inlauts hervor, während sich bei den mit Präfixen versehenen Formen dazu noch eine Art hin- weisender Lautgebärde zu gesellen scheint. So enthält das Piel den reinen Begriff der Verstärkung und Wiederholung der Handlung, z. B. schüal bitten, schiel betteln; im Pual ist im Gegensatze dazu der Begriff des Leidens ausgeprägt: käfal schlagen, kuttal geschlagen wer- den. Besonders diese das Passivum charakterisierende Tonvertiefung ist übrigens w^eit verbreitet auch in den hamitischen, den Bantu- und Sudansprachen. Sie bildet so die dritte Parallele zu den Gegensätzen des Hoch- und Tieftons und ist hier am nächsten dem Kontrast des Furchtbaren, Unheimlichen und des Erfreulichen, Heitern verwandt^).

1) MeJnhof, Archiv der Anthropologie, N. F., Bd. 9, S. 189 f. Ebenda Beispiele von Laut Variationen noch für weitere Modifikationen des Verbal- begriffs. So wird im Haussa ein i an ein Verbum actionis angehängt, wenn eine Bewegung vom Redenden weg, ein o, wenn sie auf ihn zu stattfindet, eine Unterscheidung, die wiederum auf die der räumlichen Entfernungen durch die gleichen Vokale zurückgeht.

Natürliche Lautmetaphem. 363

Das Niphal stellt an dem andern Ende dieser Formenreihe : es ent- hält bloß die als Präfix hinzugefügte Lautgebärde, ohne Änderung des vokalischen Inlauts: satar verhüllen, nistar sich verbergen. Eine Kombination beider Ausdrucksmittel findet sich im Hiphil und Hit- pael, von denen das erstere im allgemeinen rein kausativ ist: kadasch heilig sein, hikdisch heiligen, für heilig erklären; das zweite reflexiv und kausativ zugleich: hitkadesch sich heiligen. Daneben steht die Form des Hophal, die wiederum die passive Bedeutung durch die Vertiefung des Vokaltons anzeigt: hokdasch geheiligt werden. Außer diesen Formen, in denen sich Lautmetapher und Lautgebärde direkt zu verbinden scheinen, fehlt es endlich nicht an solchen, in denen eine reine Lautnachahmung hervortritt. So bei gewissen selteneren Konjugationen, die eigens dem Ausdruck rasch sich wiederholender Bewegungen dienen und daher auch nur bei den zu einer solchen Bil- dung herausfordernden Verbalstämmen vorkommen. Hierher gehören z. B. die Formen des semitischen Palpel: von zalal klingen zilzel klingeln, von gara ziehen (den Atem) gargar gurgeln. Diese Erschei- nungen zeigen deutlich, daß die Einordnung einer Verbalform in ein allgemeingültiges Flexionsschema die Mitwirkung onomatopoetischer Motive keineswegs ausschließt, sondern daß auch hier die Geltung des Prinzips des Zusammenwirkens mehrfacher Ursachen bei kom- plexen Wirkimgen wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. So könnte es z. B. sehr wohl sein, daß das hebr. Pual zunächst durch eine rein äußere Ursache den tiefen Inlaut gewonnen hat^). Aber wenn nun dieser auch auf alle andern passiven Formen übergegangen ist (Hophal, Hotpael), für die sich eine solche äußere Ursache nicht nachweisen läßt, so würde immer noch ein an die passive Bedeutung als solche gebundener Grund dieser Ausdehnung wahrscheinlich sein. Ebenso kann man wohl bezweifeln, ob garah ziehen an und für sich schon onomatopoetisch sei; daß gargar gurgeln eine w^irkliche Lautnach-

^) In der Tat wird im Ägyptischen das Passiv durch Suffigierung von ut oder tu gebildet, woraus möglicherweise durch Eindringen des u in den Wortkörper die Form des Pual entstanden sein kann. (Fr. Müller, Grund- riß, 111,2, S. 271. P. W. Schmidt, Mitteilungen der Anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903, S. 371.)

264 Die Sprachlaute.

ahmung ist, wird man schwerlich bestreiten. Man wird demnach auch annehmen dürfen, daß das psychologische Motiv zur Entstehung der Palpel-Yoim. in diesem Fall eben die onomatopoetische Wirkmig selbst gewesen sei.

Die zuletzt angeführten Beispiele bilden zugleich treffende Be- lege für den allgemeinen Zusammenhang zwischen den natürlichen Lautmetaphern und den eigentlichen Lautnachahmungen oder, wie wir sie nach dem früher Gesagten besser nennen, zu den nachahmen- den und hinweisenden Lautgebärden. Bei den Palpelformen des Semitischen sind die Bewegungen der Artikulationsorgane so treue Nachbildungen der gesehenen und gehörten Schallbewegungen, daß der Laut von selbst zur Lautnachahmung werden kann. Aber nur selten fordern die äußeren Eindrücke unmittelbar zu ihrer Nach- bildung heraus. Dann bleibt gleichwohl eine hinweisende Laut- gebärde möglich, und sie tritt naturgemäß auf, sobald die Handlung durch ihre Beschaffenheit zu einem Hinweis anregt. Diese Bedingung ist nun in besonderem Grade bei den reflexiven und kausativen Formen, bei denen vorzugsweise hinweisende Präfixe vorkommen, erfüllt. Daß z. B. die Handlungen des Sichverbergens, des Heiligsprechens, in ganz anderem Maß einen Hinweis veranlassen, als die des Ver- hüllens, des Heiligseins, ist augenfällig. Hierzu kommen endlich noch Modifikationen der Bedeutung, zu deren Ausdruck weder nachahmende noch hinweisende Lautgebärden zur Verfügung stehen, die sich aber um so entschiedener durch ihren eigentümlichen Gefühlston aus- zeichnen. Dahin gehört namentlich einerseits die Steigerung einer Handlung, wie sie entweder unmittelbar durch intensivere Aktion oder mittelbar durch Wiederholung der nämlichen Tätigkeit hervor- gebracht werden kann, und anderseits die Umkehrung dieses Vor- ganges, das Leiden, das durch das Erdulden einer Handlung entsteht. Hier beginnt das Gebiet der reinen natürlichen Lautmetaphern, die nun durch die Gegensätze der Erhöhung und der Vertiefung des Vo- kaltons ausgedrückt werden können. Als bloße Empfindungen, ohne Rücksicht auf das begleitende Gefühl betrachtet, haben diese Ver- änderimgen gerade so wenig eine Beziehung zu den entsprechenden Variationen der Bedeutung, wie hohe Töne zu hellen Farben und tiefe Töne zu dunkelm Lichte. Hier wie dort wird diese Beziehunj;

Natürliche Lautmetaphern. 365

erst durch die Gefühle vermittelt, welche die Empfindungen begleiten, und in beiden Fällen handelt es sich in der Tat um die gleichen Gegen- sätze der erregenden und deprimierenden Gefühle. Die inten- sivere oder wiederholte Tätigkeit wirkt erregend, der Zustand des Leidens niederdrückend. Beide finden so in Lautartikulationen ihren natürlichen Ausdruck, die sich schon im Gebiet der ursprünglichen Naturlaute, bei den primären Interjektionen, in der verschiedenen Vokalfärbung kundgeben (S. 319f.). Wie sich der Zuruf, der auf einen starken Sinneseindruck reagiert und eventuell die Aufmerksamkeit eines andern auf den nämlichen Eindruck lenken soll, in hohen und hellen, der verhaltene Schmerz in tiefen und dumpfen Vokaltönen äußert, so wird, wenn auch in abgedämpfterem Maße, infolge der nämlichen Assoziationen der Gefühle der hohe Vokalton zum Aus- druck des Intensiven und Iterativen, der tiefe zu dem des Passiven. Diese reinen Gefühls änderungen der Laute vermischen sich dann, ohne daß ein Unterschied zwischen diesen Ausdrucksmitteln zum Bewußtsein kommt, mit den Lautgebärden, wie das so charakteristisch die gemischten Formen des Hiphil, Hophal, Hitpael usw. zeigen. Kommt doch auch bei ihnen in dem Präfix, das als Wirkung einer demonstrativen Lautgebärde aufgefaßt werden kann, neben dem Hin- weis noch die Steigerung und Vertiefung des Vokaltons in der Unter- scheidung der aktiven und passiven Form zur Geltung. So müssen wir uns denn überhaupt vorstellen, daß alle diese Miotel des Ausdrucks, Lautgebärden verschiedener Art und Lautmetaphern, nicht in der Wirklichkeic, sondern nur in unserer unterscheidenden psycholo- gischen Abstraktion voneinander zu sondern sind. Wie diese Aus- drucksmittel ohne Wahl und Überlegung, rein triebmäßig zur An- wendung kommen, als Reaktionen, die von selbst den Eindrücken folgen, weil eine natürliche psychologische Affinität die Ausdrucks- bewegungen mit den sie erregenden Reizen verbindet, so kommt es auch in dem unmittelbaren Bewußtsein niemals zu einer Unterschei- dung der verschiedenen psychologischen Bedingungen, unter denen jene Affinität steht. Vielmehr erscheinen Lautgebärden und natür- liche Lautmetaphern gleicherweise unmittelbar als adäquate Reak- tionen auf den Eindruck. Durch dieses Verhältnis rechtfertigt sich nun auch die Bezeichnung ,, natürliche Lautmetaphern" für die zu-

366 Die Sprachlaute.

letzt erörterte Gruppe von Erscheinungen. Dem allgemeinen Begriff der ,, Metapher" fügen sie sich deshalb, weil sie einerseits durch Gefühls- assoziationen vermittelte Übertragungen des Eindrucks auf ein an- deres Sinnesgebiet, nämlich direkt auf das der Artikulationsempfin- dungen, und dann weiterhin indirekt auf das der Schallempfindungen sind, und weil anderseits durch diese Übertragung die Gefühlswirkung des Eindrucks verstärkt wird zwei Merkmale, die der Metapher auch in ihren „künstlichen" Formen eigen sind^). ,, Natürlich" ist aber die ursprüngliche Lautmetapher deshalb, weil sie unter der un- mittelbaren Wirkung der natürlichen Motive der Ausdrucksbewegungen entsteht, indem sie die Lautgebärde je nach Umständen ergänzt oder verstärkt, ohne daß ein bestimmtes Bewußtsein ihres Unterschieds von dieser und der stattfindenden Übertragung auf ein anderes Sinnes - gebiet besteht. Diese Bedingungen bringen es dann freilich auch mit sich, daß die natürliche Lautmetapher Wirkungen entfaltet, die von denen der poetischen Metapher weit abliegen, und auf denen eben ihre die nachahmenden und hinweisenden Gebärden ergänzende Be- deutung beruht. Indem sie nicht bloß, wie die poetische Metapher, der intensiveren Gefühlsbetonung einer im allgemeinen schon ohne sie vorhandenen Vorstellung dient, sondern als unmittelbare Reaktion auf einen Eindruck entsteht, erweckt sie durch ihre Assoziation mit diesem überhaupt erst die Vorstellimg. So wird sie ein natürliches Ausdrucksmittel, nicht bloß, wie die poetische Metapher, ein Ver- stärkimgsmittel des Denkens. Als ein solches Ausdrucksmittel ver- mengt sie sich aber imterschiedslos mit den hinweisenden und nach- ahmenden Gebärden der Sprachorgane, von denen sie sich eben nur dadurch unterscheidet, daß bei ihr die Gefühlsassoziation wegen ihrer fast unbeschränkten Beziehungen auch für solche Vorstellungen ad- äquate Ausdrucksformen liefert;, die den eigentlichen Lautgebärden, den hinweisenden wie den nachahmenden, unzugänglich sind.

1) Vgl. Kap. VIII, Nr. V.

Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphem. 367

5. Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphern.

Gegen diese Betrachtungen bleiben, wenn man von der offen- bar unwahrscheinliclien Annahme absieht, daß es sich hier überall nur um Spiele des Zufalls handle, zwei Einwände, die in der Tat in den Augen vieler gewichtig genug gewesen sind, um dem ganzen Gebiet der Naturlaute, der Lautnachahmungen und der Lautmeta- phern zwar ein gewisses Recht einzuräumen, dieses aber zugleich so zu beschränken, daß es für die Probleme der Entstehung und Ent- wicklung der Sprache kaum in Betracht kommt. Der erste Einwand besteht in dem verhältnismäßig späten und darum möglicherweise sekundären Ursprung mancher dieser Erscheinungen. Der zweite beruft sich auf die weit überwiegende Zahl sprachlicher Formen, bei denen irgendeine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung über- haupt nicht nachzuweisen ist. Daß der erste Einwand für viele Fälle zutrifft, für andere wenigstens nicht unbedingt zurückgewiesen wer- den kann, wurde schon hervor^hoben (S. 330 f.). Wortstämme, die jetzt für uns in deutlicher Lautaffinität zueinander stehen, können diese erst durch sekundäre Veränderungen erlangt haben; und andere Erscheinungen sind zwar alt, aber nicht ursprünglich, da sie verwandten Sprachen fehlen. Offenbar handelt es sich also hier überall um sekundäre Bildungen. Gleichwohl beruht dieser ganze Einwand teils auf einer Verkennung der wirklichen Natur der psychogenetischen Sprachprobleme, teils auf einer irrigen Abschätzung der Bedeutung, die den heute oder in näherer geschichtlicher Vergangenheit nachweisbaren Tatsachen für die Beurteilung früherer, unserer Beobachtung entzogener Vor- gänge zukommt. Die Bedingungen, von denen die Beziehungen der Laute zu ihren Bedeutungen abhängen, lassen sich der Natur der Sache nach mit einiger Sicherheit nur an den lebenden oder an den für uns in zureichenden Überlieferungen lebendig ge- bliebenen Sprachen beobachten. Wollen wir aber über Zustände, die diesen vorausgegangen sind, begründete Vermutungen auf-

368 Die Sprachlaute.

stellen, so wird zu solchen in erster Linie die gehören, daß sich die allgemeinsten Eigenschaften des Menschen nicht geändert haben, seit es eine Sprache gibt. Es mag darum sein, daß von allem dem, was ursprünglich an Lautgebärden und natür- lichen Lautmetaphern in menschlichen Sprachen vorhanden war, heute überhaupt nichts mehr existiert. Daß aber die Sprache zu irgendeiner Zeit jener sinnlichen Ausdrucksmittel entbehrt habe, die sie uns heute in manchen ihrer Bestandteile un- mittelbar verständlich machen, dies ist gerade so unwahr- scheinlich, wie es etwa die Annahme sein würde, der Unter- schied hoher und tiefer Töne, heller und dunkler Farben sei für den Urmenschen von absolut andersartigen Gefühlswirkungen begleitet gewesen als für den heutigen, oder jener habe etwa seine Freude durch stöhnende, seinen Schmerz durch jubelnde Laute geäußert u. dgl.

Schwerer wiegt auf den ersten Blick der zweite Einwand: alle Lautgebärden und Lautmetaphern seien immer nur ein verhältnis- mäßig kleiner Teil des Lautbestandes einer Sprache. Gleichwohl lassen sich hiergegen zwei Gesichtspunkte geltend machen. Erstens kennen wir andere Motive für eine Beziehung zwischen Laut und Bedeutung, die uns den Laut als einen unmittelbar sich darbietenden und verständlichen Ausdruck der Vorstellung begreifen ließe, überhaupt nicht. Eine ganz willkürliche oder zufällige Assoziation könnte daher zwar als eine mögliche, keinesfalls jedoch als eine natürliche, dem Ausdruck eines be- stimmten seelischen Vorgangs adäquate Beziehung gelten. Zwei- tens liegt in den starken Wandlungen, denen der Lautbestand der Wörter im Laufe der Zeit unterworfen ist, ein zureichender Grund dafür, daß deuthche Beziehungen zwischen Laut und Be- griff zu den relativ seltenen, und daß sie zumeist zu den jüngeren Erscheinungen der Sprache gehören. Denn es darf hier überall nicht übersehen werden, daß, so wichtig eine solche Affinität bei der ersten Entstehung eines Wortes sein mag, diese für die weitere Erhaltung desselben in der Regel nicht von Belang ist, falls nicht, wie bei den eigentlichen Lautgebärden, der Trieb zur Nachbildung besonders geweckt wird. Im allgemeinen

Psychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphem. 369

erhält sich daher die Bedeutung des Wortes in der Tat nur durch die äußere gewohnheitsmäßige Assoziation oder, wenn die Bedingungen dazu günstig sind, durch neu hinzutretende Assoziationen, ohne daß dabei der Lautcharakter des Wortes eine Rolle spielt.

Daß jedoch diese Tatsache mit einer ursprünglichen Affinität zwischen Laut und Bedeutung sehr wohl vereinbar sein kann, lehrt die Gebärdensprache, und lehren im Grunde alle jene Erschei- nungen, bei denen ein analoger Übergang ursprünglich psychisch vermittelter Vorgänge in gewohnheitsmäßige automatische Ver- bindungen nachzuweisen ist. Auch die Gebärden gehen ja in eingeübte und konventionelle Zeichen über. Nur liegt bei ihnen dieser Übergang wegen der fortwährenden Neubildung und der sinnlichen Anschaulichkeit der Gebärden in der Regel in so naher Vergangenheit, daß nur bei einer kleinen Zahl die ur- sprüngliche psychologische Bedeutung zweifelhaft sein kann. Wenn sich dieses Verhältnis bei der Lautsprache umkehrt, so bleibt dies auch dann noch begreiflich, wenn wir annehmen, in ihr sei ursprünglich alles ein ebenso natürliches und psychologisch wohl motiviertes Ausdrucksmittel gewesen. Nun würden bei dieser Annahme kaum andere Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung verständlich sein als diejenigen, die uns bei den hin- weisenden und nachahmenden Lautgebärden sowie bei den natür- lichen Lautmetaphern begegnet sind. In der Tat entsprechen aber diese drei Formen bedeutsamer Lautbewegungen durchaus den drei Arten von Gebärden, die wir im vorigen Kapitel kennen lernten: den hinweisenden, nachbildenden und sym- bolischen, nur daß bei der letzteren Gattung in Anbetracht der willkürlichen erfinderischen Tätigkeit, der die Gebärden- sprache in höherem Grade unterworfen ist, der Übergang in das eigentliche Symbol näher liegt als bei der Lautsprache. Darum können wir wohl von natürlichen Metaphern, nicht aber berechtigterweise von ,, Lautsymbolen" reden, während die hier- her gehörigen Gebärden wirkliche Symbole sind. Denn das Symbol liegt dem bezeichneten Gegenstand gleichzeitig femer und näher als die Metapher: ferner, weil sich bei ihm eine

Wnndt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 24

370 I^i© Sprachlaute.

zusammengesetzte Vorstellung zwischen die Ausdrucksbewegung und ilire Bedeutung einschiebt, näher, weil diese Vorstellung ge- rade infolge ihrer zusammengesetzten Beschaffenheit ein deutlicheres Zeichen des Begriffs sein kann. Die natürliche Lautmetapher besteht demnach lediglich in der Übertragung einer Vorstellung in eine Ausdrucks- und Lautbewegung, die durch die Assoziation der an beide gebundenen übereinstimmenden Gefühle vermittelt wird. Bei der symbolischen Gebärde wird durch diese Gefühls- assoziation erst noch eine zwischenliegende Vorstellung erweckt, die durch die Verbindung ihrer Teile nach ihrem allgemeinen Gefühls- charakter dem symbolisierten Begriff verwandt erscheint. In diesem Sinn ist Erhöhung und Vertiefung des Lautes für den Ausdruck der intensiveren Tätigkeit und des Leidens eine Lautmetapher; die gerade und die schiefe Bewegung des Zeigefingers vom Mund aus für die Begriffe der Wahrheit und Lüge sind Gebärden- symbole. Aus diesem Verhältnis erklärt es sich zugleich, daß die Sprache zwar natürliche Lautmetaphern in Fülle, aber natürliche Lautsymbole nicht besitzt. Der Laut als solcher kann immer nur bestimmte Gefühle und, insofern an den Laut eine Vorstellung geknüpft wird, auch eine diesen Gefühlen entsprechende Modifi- kation der Vorstellung erwecken. Er ist aber als Bewegung wie als Laut ein zu einfaches sinnliches Gebilde, um ohne weiteres einen nicht in der unmittelbaren Anschauung vorhandenen Begriff sinnlich vertreten zu können. Dazu bedarf es hier schon der aus Worten zusammengesetzten Rede, die erst fähig wird ein geglie- dertes Ganzes der Anschauung im Bewußtsein wachzurufen. Dies verhält sich anders bei der Gebärde, die wegen der deutlichen Sichtbarkeit ihrer räumlichen Erscheinungsweise jenen für das Sym- bol erforderlichen Zusammenhang immittelbar zu erzeugen vermag. Hier ist also die Gebärde dem Sprachlaut überlegen. Freilich ist das nur eine Überlegenheit der unvollkommeneren Entwicklungsstufe, mit der zugleich die Beschränkung der Gebärde auf Symbole einfachster sinnlicher Art zusammenhängt.

Wären alle Sprachlaute auf hinweisende und nachahmende Lautgebärden und auf natürliche Lautmetaphern zurückzuführen, so würde die Sprache hinsichtlich des Lautmaterials, aus dem

Phychologische Entstehung der Lautgebärden und Lautmetaphern. 371

sie besteht, vollständig erklärt sein, ähnlich wie uns die Ge- bärdensprache in ihrem Aufbau aus einzelnen ausdrucksvollen Gebärden im wesentlichen vollständig erkennbar ist. Auch dann würde aber die Lautsprache sicherlich nicht jener Mannig- faltigkeit der Ausdrucksformen für den gleichen Begriff er- mangeln, die bei dem gegenwärtigen, für uns zumeist undurch- sichtigen Zustand ihres Lautmaterials an den ungeheuren Ver- schiedenheiten menschlicher Sprachen einen wichtigen Anteil hat, imd durch die sie sich von der gleichartigen Beschaffenheit der Gebärdensprache unterscheidet. Zu einem wesentlichen Teile liegt dies jedenfalls in den nämlichen Ursachen begründet, die zwar die Gebärde, jedoch nicht den Laut als solchen zum Symbol werden lassen, sondern ihn auf das unbestimmtere Gebiet natürlicher Lautmetaphern einschränken. Denn jene Ur- sachen sind auch in dem Verhältnis der hinweisenden und nachahmenden Lautgebärden zu den entsprechenden Formen äußerer Gebärden erkennbar. Wie die Lautmetapher, so ist die Lautgebärde vieldeutig. Sogar im engsten Umkreis der Ono- matopöie, bei der eigentlichen Schallnachahmung, ist die Artiku- lationsbewegung nicht bloß von dem objektiven Laut, sondern von der Art, wie er apperzipiert wird, abhängig. Darum können selbst für eine und dieselbe Schall vor Stellung die nachbildenden Wörter verschiedener Sprachen sehr voneinander abweichen. Voll- ends wo Gefühlsassoziationen mit ins Spiel kommen, wie bei den Lautmetaphern, da können bald wechselnde Gefühle an eine und dieselbe Vorstellung geknüpft, bald übereinstimmende in sehr verschiedener Weise ausgedrückt werden. Was die eine Sprache durch die Verstärkung eines konsonantischen Lautes, das deutet die andere durch eine Erhöhung des Vokaltons, wieder eine andere durch ein interjektionsartig wirkendes Prä- oder Suffix an usw., und manche dieser Ausdrucksmittel, namentlich solche, die dem Gebiet der Tonmelodie und des Sprechtakts angehören, sind in den uns erhaltenen Überlieferungen älterer Sprachformen wahr- scheinlich unerkennbar geworden. Zu jenem Wechsel der psychi- schen Wirkungen kommen dann noch Abweichungen der physi- schen Lautwerkzeuge, die selbst dann, wenn die psychischen

24*

372 Die Sprachlaute.

Motive dieselben bleiben, den Lautausdruck verschieden gestalten können. Alle diese wechselnden Eigenschaften sind aber endlich infolge der Vorgänge des Lautwandels in einem fortwährenden Flusse begriffen. Dieser verändert den Lautbestand der Wörter unablässig, und er kann daher die ursprüngliche Beziehung zu dem sinnlichen Eindruck unkenntlich machen oder auch umge- kehrt Beziehungen hervorbringen, die dem ursprünglichen Sprach- laute fehlten.

Viertes Kapitel.

Der Lautwandel.

I. Die Lautgesetze in der Sprachwissenschaft.

1. Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze.

Die Erscheinungen des Lautwandels verdanken die bevorzug fce Stelle, die sie in der sprachwissenschaftliclien Forschung einnehmen, wohl in erster Linie dem Umstände, daß sie ein Gebiet büden, auf dem mehr als auf irgendeinem andern eine strenge Gesetzmäßigkeit das Leben der Sprache zu beherrschen scheint. Zwar folgen Wort- bildung und Satzfügung im allgemeinen nicht minder festen Ge- setzen. Aber da es sich bei ihnen mehr um dauernde Zustände handelt, so erwecken sie nicht so unmittelbar wie die Veränderungen der Laute den Eindruck eines kausalen Zusammenhangs, der an die Regelmäßig- keit gewisser Naturvorgänge erinnert.

Die Beobachtung dieser Regelmäßigkeit ist es, die zu dem in der neueren Sprachwissenschaft energisch betonten Postulat der ,, Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze" geführt hat. Ein solches Postu- lat konnte natürlich niemals in dem Sinne verstanden werden, daß man Gesetze annahm, die in jedem einzelnen Fall zur Wirkung ge- langten, sondern nur in dem andern, daß die Lautgesetze, gerade so wie die Naturgesetze, ausnahmslos dann wirken, wenn sie nicht durch andere Gesetze oder durch singulare Ursachen, die ihnen ent- gegenwirken, aufgehoben werden^). Nicht um die ausnahmslose

1) In diesem Sinne, nämlich mit der Voraussetzung, daß Ausnahmen von den Lautgesetzen immer nur Fälle bezeichnen könnten, in denen der zu erwartende Lautwandel aus bestimmten, erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, inter- pretiert schon A. Leskien, der zuerst den Ausdruck „Ausnahmslosigkeit" in diesem

374 Der Lautwandel.

Geltung irgendeines einzelnen Gesetzes handelt es sicli also dabei, sondern um eine ausnahmslose Gesetzmäßigkeit, das heißt um den Grundsatz, daß für jede geschichtliche Lautänderung irgend- eine Ursache, sei es nun ein in weitem Umfang gültiges Lautgesetz, sei es eine beschränktere, nur für eine Reihe von Fällen oder vielleicht sogar nur für einen einzelnen Fall geltende Bedingung anzunehmen ist. Die in diesem Sinne verstandene ,,Ausnahmslosigkeit der Laut- gesetze'* kehrt vor allem ihre Spitze gegen die Ausnahmen der alten Grammatik, die auf der Voraussetzung beruhten, daß irgendeine Abweichung von einer sonst gültigen Regel als ein Spiel des Zufalls oder einer willkürlichen Laune anzusehen sei. Sieht man von dieser polemischen Spitze ab, so würde aber der Ausdruck offenbar zweck- mäßiger durch den andern einer „allgemeingültigen Gesetzmäßig- keit des Lautwandels" ersetzt werden. Auch die Naturgesetze gelten ja nicht ausnahmslos, da ihre Wirkungen im einzelnen Fall durch hinzutretende Bedingungen abgeändert oder ganz aufgehoben wer- den können. Wo es sich um sogenannte ,, empirische Gesetze" handelt, da ist übrigens eine Nachweisung kompensierender Bedingungen häufig nicht möglich; sondern solche empirische Gesetze gelten ent- weder, oder sie gelten nicht, und wenn sie nicht gelten, so können wir unter günstigen Bedingungen die Ursachen nachweisen, die ihre Geltung verhindern, oder die anderweitigen Gesetze, die für sie ein- treten; wir sind aber nicht imstande, dem nicht zur Anwendung kommenden Gesetze selbst noch irgendeine Partialwirkung innerhalb der zusammengesetzten Erscheinung zuzuweisen. Das Gesetz z. B., daß der Kohlenstoff ein ,,vierwertiges" Element ist bewährt sich bei einer bestimmten Kohlenstoff Verbindung, oder es bewährt sich nicht; das sogenannte Dovesche ,, Drehungsgesetz der Winde" trifft in einem bestimmten Falle zu, oder es trifft nicht zu. Der Grund dieses Verhaltens ist unschwer einzusehen. „Empirische Gesetze" nennen wir im allgemeinen im Gegensatz zu den abstrakten und axio-

Zusammenhange gebraucht hat, jene Forderung. (Die Deklination im Slavisch- Litauischen und Germanischen, 1875, S. 2; Preisschrift der Jablonowskischen Ges. zu Leipzig, Nr. XIX.) Ähnlich sprechen sich Osthoff und Brugmann aus. (Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, I, Vorwort, S. XIII. ^

Das Postulat der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze. 375

matisch angenommenen Gesetzen der Mechanik komplexe Gleicli- förmigkeiten des Geschehens, die wir nicht oder mindestens nicht vollständig in die Summe der Bedingungen zerlegen können, die ihnen zugrunde liegen. Ein solches Gesetz gilt daher nur solange, als die sämtlichen zur Erhaltung jener Gleichförmigkeit erforderlichen Be- dingungen vorhanden sind. Es hört auf zu gelten in dem Augenblicke, wo die dem Enderfolg entgegenwirkenden Bedingungen überwiegen. Wenn nun vollends auf den Inhalt eines empirischen Gesetzes psy- chologische Momente von mitbestimmendem Einflüsse sind, wie das bei den ,, Lautgesetzen" von vornherein wahrscheinlich ist, da wird es zweifelhaft, ob überhaupt auch nur für die einfachsten Fälle jene Voraussetzung einer Verbindung an sich unaufhebbarer Wirkimgen, wie wir es dem Schema des Kräfteparallelogramms entnehmen, zu- treffend sei. Wo z. B. dem Bewußtsein verschiedene Assoziationen zur Verfügung stehen, da vollzieht es irgendeine von ihnen, und für diese werden gewiß entscheidende Gründe wirken; aber die andern beteiligen sich nicht etwa nach Maßgabe der sie in das Bewußtsein hebenden Kräfte, sondern sie beteiligen sich in der Regel gar nicht. Oder wenn wir zwischen verschiedenen Motiven des Handelns schwan- ken, so kann der Kampf der Motive ein deutlich in unserem Bewußt- sein verlaufender Vorgang sein; doch nachdem die Entscheidung erfolgt ist, pflegen die überwundenen Motive in der resultierenden Handlung nicht mehr nachzuwirken. Ob diese Fälle auf das allge- meine Verhalten sogenannter empirischer Gesetze zurückzuführen seien, oder ob bei ihnen besondere Eigenschaften der psychischen Kausalität in Rechnung kommen, mag hier dahingestellt bleiben, der Erfolg ist jedenfalls der nämliche: von einer ausnahmslosen Geltung kann unter keinen Umständen die Rede sein. Die einzige Bedeutung, die diesem Ausdruck in Anwendung auf die Lautgesetze beigelegt werden kann, ist also die, daß die Veränderungen der Sprachlaute einer strengen Kausalität unterworfen sind, die teils in bestimmt formulierbaren Gesetzen von weitverbreiteter Geltung, teils in nach- weisbaren einzelnen Ursachen, die jene Geltung in besonderen Fällen aufheben, ihren Ausdruck findet^).

1) Über die Anwendung des Gesetzesbegriffs überhaupt und über den

376 Der Lautwandel.

2. Teleologische Hypothesen über die Ursachen der

Lautänderungen.

Indem das Postulat der ,,Ausnahmslosigkeit" durch die ihm ausdrücklich oder stillschweigend gegebene Deutung nicht bloß die Lautgesetze selbst mit den Naturgesetzen in Analogie bringt, son- dern auch für die Ursachen, welche die Wirksamkeit dieser Gesetze stören, eine Unterordnung unter gesetzmäßige Bedingungen fordert, richtet nun aber jener Begriff seine Spitze nicht allein gegen die Aus- nahmen der alten Grammatik, sondern nicht minder gegen eine Inter- pretation sprachlicher Vorgänge, welche diese auf gewisse Zweck- mäßigkeitsmotive zurückführt.

Von den Vertretern dieser teleologischen Erklärungsweise wurde zwar anerkannt, Regeln wie Ausnahmen seien von bestimmten Ur- sachen abhängig; aber man hielt daran fest, die Sprachforschung müsse, wie die Naturforschung, vor allem ,, normale und abnorme Erscheinungen unterscheiden". Dann lasse auch das Abnorme ,, durch Zusammenstellung verwandter Abnormitäten selbst wieder eine ge- wisse Ordnung erkennen''^). Durch diese Vergleichung war, da das Pathologische mit dem Physiologischen in den allgemeinen Eigen- schaften des Lebens übereinkommt, eigentlich schon gefordert, daß für Regel wie Ausnahme die Ursachen auf dem gleichen Gebiete zu suchen seien. In der Tat bemühte man sich daher, alle Lautänderungen auf gewisse ,, Triebe'' zurückzuführen, denen man zwecktätig wirkende psychische Motive unterlegte. Ob diese Motive zugleich als willkür- liche gedacht waren, mag dahingestellt bleiben; es genügt, daß man von ihnen nach Analogie bekannter willkürlicher Zweckmotive Ge- brauch machte. Solcher Triebe wurden hauptsächlich drei ange- nommen: erstens das Streben nach Bequemlichkeit, zweitens das Streben bedeutsame Laute zu erhalten oder zum Zwecke der Unter-

Begriff des ,, empirischen Gesetzes" insbesondere vgl. togik, III ^ S. 123 ff. Über gewisse Grenzfälle einer wirklichen oder scheinbaren „Ausnahmslosigkeit" der Lautgesetze vgl. übrigens unten Nr. VI, 5.

1) Curtius, Grundzüge der griech. Etymologie, ^ S. 90.

Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen. 377

Scheidung der Begriffe zu sondern, und drittens der Trieb nach Gleich- förmigkeit, der unter der Wirkung anderer Wortformen ,, falsche Analogien" veranlasse, das heißt Lautbildungen, die den regelmäßigen Lautgesetzen widersprechen. Von diesen Trieben sollen die beiden ersten, der nach Bequemlichkeit und der ihm bis zu einem gewissen Grade das Gleichgewicht haltende nach Unterscheddung, die nor- malen Eigenschaften bestimmen, worunter man die regelmäßigen Lautgesetze und gewisse wünschenswerte Einschränkungen derselben verstand. Aus ,, falschen Analogiebildungen" dagegen sollte ein jenen regelmäßig wirkenden Kräften entgegengesetztes, abnormes Ver- halten hervorgehen. Demgemäß nahm man an, die beiden ersten Triebe seien in den älteren Zeiten der Sprachentwicklung fast aus- schließlich herrschend gewesen, während der letzte, abnorme mehr den späteren Stadien des Verfalls der sprachlichen Formen an- gehöre^).

Diese Auffassung verwickelte sich nun schon innerhalb der von ihr gemachten Voraussetzungen mit sich selbst in einen eigentüm- lichen psychologischen AViderspruch. Gerade das, was sie vorzugs- weise als das Normale und ursprüngliche ansieht, die Lautgesetze, führt sie nämlich auf das Streben nach ,, Bequemlichkeit" zurück, also auf eine Eigenschaft, die bereits der Grenze des abnormen Ver- haltens nahekommt. Damit stimmt überein, daß ,, Verwitterung" und ,, lautlicher Verfall" der Sprache, ohne Frage pathologische Zu- stände, als das Ergebnis dieser Kräfte der Sprachentwicklung betrachtet werden. Daß eine Verfallserscheinung das Normale und Gesetzmäßige sein soll, ist aber nicht minder widerspruchsvoll wie das andere, daß

^) Der hier kurz gekennzeichnete psychologische Standpunkt ist von einer Reihe von Forschern festgehalten worden, die dabei zugleich von dem Streben geleitet waren, willkürlichen etymologischen Versuchen durch strengere Be- tonung der Lautgesetze zu steuern. Hierher gehören namentlich G. Curtius, A. Schleicher, Benfey, Pott, Max Müller u. a. Am eingehendsten wurden diese Anschauungen, besonders auch in ihrer psychologischen Begründung, von Cur- tius vertreten in seiner Griech. Etymologie, ^ S. 21 ff., 409 ff und an anderen Orten. Vgl. bes. die Streitschrift: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung, 1885, und die Erwiderung K. Brugmanns, Zum heutigen Stand der Sprach- wissenschaft, 1885.

378 Der Lautwandel.

der ,, konservative Trieb", der diesem Verfalle zum Trotz bedeut- same Unterschiede bewahre, auf der einen Seite als ein Zeichen un- geschwächter Nachwirkung der sprachbildenden Kräfte, auf der an- dern aber doch, dem ,, Gesetzmäßigen'' gegenüber, das ja dem unauf- haltsamen Verfall entgegenftihrt, als etwas Abnormes angesehen wird. Dazu kommt, daß auch der ,, falschen Analogie" unter Umständen ein der lautgesetzlichen Zerstörung entgegenwirkender Einfluß nicht abgesprochen werden kann. So ergibt sich ein merkwürdiges Resul- tat: am Erfolge gemessen erscheint das Abnorme zumeist als da& erhaltende und gesunde, das Normale als das kranke und zerstörende Prinzip. Dieses paradoxe Ergebnis fällt natürlich vor allen Dingen auf Rechnung des Umstandes, daß diese Gegenüberstellungen von ,, normal" und ,, abnorm", von ,, physiologisch" und ,, pathologisch" selbst ,, falsche Analogien" sind. Das nämliche gilt von den bildlichen Ausdrücken ,, Verwitterung" und ,, Verfall". Sie erwecken unver- meidlich die Vorstellung eines rückläufigen Zersetzungsprozesses. Nun ist aber nicht im mindesten einzusehen, warum, wenn beispiels- weise eine Aspirata gh^ dh, bh im Laufe des regelmäßigen Lautwandel» in eine einfache sogenannte Media g, d, h, oder wenn diese in eine Te- nnis k, t, f übergeht, solches als ,, Verwitterung" oder ,, Verfall" zu deuten sei. Man könnte mit demselben Rechte meinen, der Über- gang der Media in die Tennis bezeichne eine Erhebung der Sprache zu größerer Kraft, was ungefähr auf das Gegenteil der Verwitterungs- theorie hinauskäme^). Mit welchem Rechte will man ferner behaupten,, der Übergang eines Vokals a in e oder i, oder eines a in o oder gar^ wie z. B. im Althochd., in uo sei eine Verfallserscheinung? Ebenso- gut kann man sagen, bei der Bildung des a sei die Mundartikulation und folglich die Innervation verhältnismäßig einfacher als bei den andern Vokalen, demnach bezeichneten diese eine höhere Stufe der Lautentwicklung. Natürlich wird man am besten weder das eine noch das andere tun, sondern daraus, daß solche Lautänderungen in sehr verschiedener Richtung vor sich gehen, schließen, irgendeine kon- stante Richtung in bezug auf Erleichterung oder Erschwerung der

1) In der Tat ist diese Auffassung schon von Jakob Grimm und dann von G. Curtius selbst in einer älteren Abhandlung (Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprach- forschung II, 1853, S. 331) angedeutet worden. Vgl. unten Nr. III, 6.

Teleologische Hypothesen über die Ursachen der Lautänderungen, 379

Artikulation bestehe überhaupt nicht; dies um so mehr, da jene Be- griffe selbst wieder relative sind, die von dem jedesmaligen Zustand der Sprachorgane abhängen. Laute, deren Hervorbringung bei einem bestimmten Zustande ,, bequem" ist, können möglicherweise bei einem andern imbequem werden.

Leidet so die Vergleichung des regelmäßigen Lautwechsels mit einem Verwitterungsvorgang unter einem falschen Bilde, das selbst wieder durch eine fehlerhafte psychologische Begriffsbildung, den ,, Bequemlichkeitstrieb", veranlaßt ist, so steht nun der zur Erklärung gewisser Ausnahmeerscheinungen herbeigezogene ,, Erhaltungstrieb" ganz imd gar unter dem Banne der alten Erfindungstheorie. Einen Trieb, der allgemein auf die Erhaltung der sprachlichen Laute gerichtet wäre, könnte man sich ja noch als eine einfache Betätigung von Ge- dächtnisassoziationen denken. Aber ein Trieb, dem das Gedächtnis nur zu Hilfe kommt, wo es sich um die Erhaltung ,, bedeutsamer Unterschiede" handelt, wäre nur als die Äußerung einer bedachtsam handelnden Intelligenz möglich, die wir hier, angesichts der bekannten Tatsache, daß die Sprache zufällige Lautübereinstimmungen bei totaler Verschiedenheit der Bedeutungen duldet, billig bezweifeln dürfen.

Gegenüber dieser Annahme eines Erhaltungstriebs wurde end- lich in der Anerkennung sporadischer ,, Analogiebildungen", das heißt solcher Abweichungen von den Lautgesetzen, die durch das Walten mehr äußerlich wirkender Laut- und Begriffsassoziationen bedingt seien, auch dem Gebiet der unwillkürlichen seelischen Vor- gänge ein gewisser Spielraum eingeräumt. Es ist aber bezeichnend, daß, solange man den angedeuteten teleologischen Standpunkt fest- hielt, gerade dieser Einfluß der Assoziationen eigentlich nur als ein Notbehelf zugelassen war. Schon der Ausdruck „falsche Analogien" ist dafür charakteristisch. Der konservative Trieb, obgleich an sich den Lautgesetzen gegenüber etwas Abnormes, galt doch noch als eine berechtigte Reaktion gegen die allzu zerstörende Wirksamkeit dieser Gesetze. Die falsche Analogie dagegen erschien als etwas absolut Unlogisches und zugleich Zweckloses, als eine ,, Mißbildung und Ver- irrung gegenüber der gesunden Bildung"^).

^) Curtius, Zur Kritik dei neueren Sprachforschung, S. 44.

380 Der Lautwandel.

3. Annahme physischer und psychischer Momente der.

Lautentwicklung.

Bezeichnenderweise war es zunächst weniger die innere Un- wahrscheinlichkeit der von der teleologischen Erklärung angenomme- nen „Triebe'', als das Widerstreben gegen das angeblich planlose Abirren der durch Analogie beeinflußten Lautänderungen, was den Widerspruch herausforderte. Sollte überhaupt die Idee einer strengen Gesetzmäßigkeit durchgeführt werden, so war das Bild eines zu- fälligen ,, Mitlaufens mit einer andern Herde" unmöglich zu dulden, sondern man fühlte sich gedrungen, der physischen Notwendigkeit den Zwang absichtslos wirkender psychischer Motive gegenüberzu- stellen. Für beide Begriffe boten die Lautgesetze einerseits, die Ana- logiebildungen anderseits die Anhaltspunkte. Das Lautgesetz re- präsentierte das Prinzip der strengen physischen Gesetzmäßigkeit, die Analogie erschien als ein Resultat bewußtloser psychischer Kräfte, das die allgemeinere Wirksamkeit der Lautgesetze zuweilen unter- breche, um so mehr aber mit ihnen zusammen der ,,Ausnahmslosig- keit" der Gesetze überhaupt als Stütze diene. So wurden beide als das physiologische und das psychologische Moment des Laut- wechsels unterschieden und ihnen die Forderung an die Seite ge- stellt: sobald eine lautliche Erscheinung aus den physischen Laut- gesetzen nicht abzuleiten sei, müsse man sie auf den psychischen Me- chanismus der Analogie zurückzuführen suchen. Ein letzter Rest jener Unterscheidung des Normalen und Abnormen blieb aber auch hier noch in dem methodologischen Prinzip erhalten : an die Erklärung einer Erscheinung durch Analogiebildung solle immer erst dann ge- dacht werden, wenn sich alle lautgesetzlichen Interpretationen als unmöglich herausstellten^).

Hiernach ist es keineswegs bloß die Betonung der strengen Kau- salität des Lautwechsels, sondern eigentlich in noch höherem Grade

1) H. Paul in seinen und Braunes Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, VI, 1879, S. 1 ff. Osthoff, Das physiologische und psy- chologische Moment der sprachlichen Formenbildung, 1879. Misteli, Laut- gesetze und Analogie, Zeitschrift für Völkerpsychologie, XI, 1880, S. 410.

Annahme physischer und psychischer Momente der Lautentwicklung. 381

die Hervorhebung der ,, blind waltenden ''Gesetzmäßigkeit, was diese Auffassung von den vorangegangenen Anschauungen scheidet. Von einer gewissen Inkonsequenz und Willkür war aber auch sie nicht frei. Die stärkste, die ihr als eine Art Erbstück von den Regeln und Ausnahmen der alten Grammatik noch anhaftete, die nämlich, daß die ,, Analogie" immer nur im Notfall und ,,so sparsam wie möglich" herbeigezogen werden solle, wurde allerdings bald überwunden. In- dem das ,, psychologische Moment" in den Vordergrund trat, war man um so mehr geneigt, in ihm ein wichtiges neues Erklärungsprinzip zu sehen, da sich hier das Merkwürdige ergab, daß man die ,, Regel", nämlich die den Lautgesetzen folgenden Veränderungen, als etv\^as zunächst noch ganz Unerklärliches hinnehmen mußte, während man die ,, Ausnahmen", die Analogiewirkungen, als psychologisch begreif- liche Erscheinungen betrachten lernte. So konnte es nicht ausbleiben, daß das Erkennbare dem Unerkennbaren auch in der AVertschätzung den Rang streitig machte, und daß man allmählich dazu geführt wurde, Analogien und Lautgesetze einander gleichzustellen^). Immerhin blieb auch jetzt noch eine qualitative Unterscheidung, zu der kein positiver Rechtsgrund vorlag, weil die Ursachen der eigentlichen Lautgesetze als unerkennbar angesehen wurden. Denn sind sie dies, so ist offenbar jene Gegenüberstellung des ,, physiologischen" oder ,, mechanischen" und des ,, psychologischen" Moments vorläufig ganz hypothetisch. In der Tat läßt es sich mindestens ebensogut denken, daß psychische Bedingungen die letzten Ursachen der regelmäßigen Lautänderungen seien, als daß rein äußere Einflüsse, etwa solche des Klimas, der Naturumgebung oder der Ernährung, eine Umwand- lung der physischen Organisation bewirkt haben sollten, von der die Sprachorgane mit ergriffen wurden. Auch wird die Art, wie Laut-

1) Bezeichnende Äußerungen vgl. bei Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft, S. 81, 85 ff. Sogar eine Bevorzugung der Analogie in ihrem Werte für die Sprache tritt nicht selten hervor. So heißt es bei Brugmann (S. 81 f.): „Der Lautwandel beeinträchtigt die Gruppierung (zusammengehöriger Wortgruppen), lockert die Verbände, indem er zwecklose Unterschiede zwischen zusammengehörigen Formen schafft. ' Dagegen „ist ein Mittel zur Reaktion in der Analogiebildung gegeben. Jede Sprache ist unaufhörlich damit beschäftigt, unnütze Ungleichmäßigkeiten zu beseitigen" usw.

382 Der Lautwandel.

gesetze und Analogiebildungen fortwährend ineinander greifen, offen- bar viel verständlicher, wenn man sie nicht als disparate, einander entgegenwirkende Kräfte, sondern als Bedingungen auffaßt, die schließlich beide irgendwie in der psychophysischen Natur des Menschen begründet sind. Damit stimmt überein, daß wir einerseits wegen der gedächtnismäßigen Reproduktion lautgesetzlicher Formen not- wendig bei diesen eine Mitwirkung der nämlichen Assoziationen voraus- setzen müssen, die man zur Erklärung der Analogiebildungen heran- zieht, und daß anderseits die Assoziationen, durch Einübung in auto- matische Verbindungen übergehen, so daß diejenigen Erscheinungen, die zuerst auf die Seite der psychischen Momente verlegt werden, mit der Zeit auf die der physischen zu stehen kommen.

4. Komplikation der Ursachen des Lautwandels.

Machen die angedeuteten Umstände eine strenge Scheidung der physiologischen und der psychologischen Faktoren dieser Vor- gänge überhaupt unmöglich, so kommt nun noch der weitere Um- stand hinzu, daß die Annahme, jeder Lautwechsel sei entweder auf allgemeine Lautgesetze oder auf Analogiebildungen zurückzuführen, an eine Voraussetzung geknüpft ist, die in der Wirklichkeit wahr- scheinlich niemals vollständig zutrifft. Dies ist die Voraussetzung, daß die Sprachgemeinschaft eine in sich geschlossene sei, also nicht durch äußeren Verkehr und die an ihn gebundenen Sprach- mischungen beeinflußt werde. Man pflegt darum die Geltung aller bei jener Zweiteilung der Erscheinungen in Frage kommenden Wir- kungen auf einen bestimmten Dialekt und auf eine bestimmte Periode der Sprachentwicklung zu beschränken. Nun lassen sich aber weder die Grenzen einer Periode noch die eines Dialekts fest bestimmen, und überdies finden sich namentlich in einem Kulturvolke durch das Zuströmen einzelner Individuen aus fremden Dialekten und durch den in der Literatur vermittelten Austausch fortwährende Abwei- chungen von dem angenommenen Stabilitätszustande, so daß dieser zu einer Abstraktion wird, zu der die Wirklichkeit immer nur An- näherungen bieten kann.

Komplikation der Ursachen des Lautwandels. 383

Auch da, wo derartige äußere Einflüsse hinwegfallen sollten, bildet jedoch das „psychische" so wenig wie das ,, physische" Moment der Lautentwicklung einen einheitlichen Begriff, sondern dieser zer- legt sich jedesmal in eine Vielheit von Bedingungen. Mag nun gleich unter den psychischen Bedingungen die „Analogie" der Interpreta- tion einen sehr weiten Spielraum bieten, so ist doch kaum anzunehmen, daß es außer ihr keinerlei psychologische Ursachen geben könne, die auf die Gestaltung der Laute einwirken. Legen doch schon die beim Zusammentreffen gewisser Laute innerhalb derselben Wörter oder benachbarter Wörter entstehenden Lautänderungen (das ,,Sandhi" der indischen Grammatiker) den Zweifel nahe, ob nicht auch hier psychische Motive wirksam seien, die dann jedenfalls nicht auf ,, Ana- logien" zurückzuführen sind. Ferner ist der ,, Nachahmungstrieb" oder vielmehr die Summe eigentümlicher Assoziations- und Willens- motive, die man unter diesem Namen zusammenfaßt, und die in der Gebärdensprache eine so große Rolle spielen, möglicherweise auch bei der Lautsprache von nicht zu unterschätzendem Einfluß. Frei- lich wird er nur dann auf weitere Kreise wirken können, wenn ihm sonst begünstigende Bedingungen entgegenkommen. Welcher Art aber diese seien, das läßt sich von vornherein kaum bestimmen. Zu- dem werden die Assoziationen, die den Lautwandel beeinflussen, nicht allein von der Sprache selbst, sondern sie können ebenso von irgendwelchen andern Lebensgebieten, von der Sitte und von den mythologischen Vorstellungen ausgehen und auf die Sprache über- greifen. Man denke nur an die bei manchen amerikanischen Stämmen bestehende Sitte, beim Sprechen den Mund nicht zu schließen, eine Gewohnheit, durch die sich das ganze Lautsystem dieser Sprachen verändert hat. Darf man nun aber vielleicht auch annehmen, daß solche Einflüsse mehr singulärer Natur sind, so bleibt doch schließ- lich eine Gruppe von Tatsachen übrig, die den Lautgesetzen so wenig wie den „Analogiebildungen" unterzuordnen ist. Sie besteht in allen den Erscheinungen, die auf eine Wechselwirkung zwischen Laut und Bedeutung hinweisen. Ihnen wird man um so weniger die Auf- nahme unter die allgemeinen Ursachen der Lautänderungen versagen können, als uns schon die Untersuchung der Sprachlaute eine Menge solcher Assoziationen in den natürlichen Lautgebärden und Laut-

384 Der Lautwandel.

metapliern kennen lehrte. So gut wie die Neuschöpfung von Wörtern, werden sie natürlich auch den Lautwandel beeinflussen. Ähnliches wird man überall da annehmen dürfen, wo sich bestimmte Laut- elemente mit bestimmten Begriffsmodifikationen assoziiert haben, wie z. B. im Griechischen der i-Laut mit der Bedeutung des Optativs usw. Daß sich solche begriffliche mit andern, rein lautlichen Asso- ziationen mannigfach durchkreuzen, deren Wirkungen verstärken oder aufheben hönnen, scheint unzweifelhaft. Doch muß es genügen, hier auf diesen Punkt hinzuweisen. Denn die Frage dieser Wechsel- beziehungen hängt so eng mit den allgemeinen Erscheinungen des Bedeutungswandels zusammen, daß sie uns erst bei diesem näher beschäftigen kann^).

Im Hinblick auf diese große Mannigfaltigkeit der Umstände, die bei den Vorgängen des Lautwandels in Betracht kommen, ist es vielleicht begreiflich, daß man in der Sprachwissenschaft nicht selten nach dem Grundsatze handelt: sobald für eine gegebene Erscheinung eine Ursache nachgewiesen sei, so werde dadurch von selbst die Auf- suchung weiterer Bedingungen überflüssig. Doch kann dieser Grund- satz auf sachliche Richtigkeit jedenfalls keinen Anspruch erheben. Denn dieses Prinzip der Einheit der Ursache hat keinerlei Wahr- scheinlichkeit für sich. Erscheinungen von so verwickelter Natur sind in der Regel weder im ganzen noch in einem einzelnen Fall durch eine einzige Bedingung zu erschöpfen. Nicht das Prinzip der Einfach- heit, sondern das der Komplikation der Ursachen ist daher das- jenige, das von vornherein der Beurteilung des Tatbestandes zugrunde gelegt werden sollte.

^) Vgl. den Abschnitt über die Erscheinungen des korrelativen Laut- und Bedeutungswandels in Kap. VIII, Nr. I.

Lautwandel und Lautwechsel. 385

IL Individuelle und generelle Formen der

Lautänderung,

1. Lautwandel und LautwechseL

Wie bei allen Erscheinungen, die zum Gebiet völkerpsyclio- logiscber Betrachtungen gehören, das Individuum und die Gemein- schaft in fortwährender Wechselwirkung stehen, so gilt dies natur- gemäß auch von den Wandlungen der Sprachlaute. Eine generelle Geltung kann aber im allgemeinen nur eine solche Abweichung er- langen, die aus Bedingungen hervorgeht, denen zahlreiche Mitglieder der Sprachgemeinschaft unterworfen sind.

Nun bringen es die physiologischen Verhältnisse der Lautbildung mit sich, daß der individuelle Ursprung einer Lautänderung ein doppelter sein kann: entweder ein allmählicher und stetiger, bei dem zwischen dem Ausgangs- und dem Endlaut möglicherweise eine unendliche Anzahl von Zwischenstufen liegt, oder ein plötz- licher und sprungweiser, bei dem mit einem Male der Anfangs- in den Endlaut übergeht. Man pflegt diese beiden Fälle als die des stetigen und des springenden Lautwechsels zu bezeichnen und demnach wohl auch, da der Begriff des „Wandels" die Nebenbedeu- tung eines stetigen Vorgangs angenommen hat, den ersteren einen „Lautwandel", den letzteren einen „Lautwechsel" im engeren Sinne des Wortes zu nennen^).

Der Gegensatz dieser beiden Formen hängt mit dem physio- logischen Charakter der beiden Laute, die als Anfangs- und End- laut den Prozeß der Veränderung einschließen, zusammen. Ein stetiger Lautwandel kann nur zwischen solchen Lauten stattfinden, die durch alle möglichen Übergangsstufen ineinander übergeführt werden können. Dagegen ist zwischen Lauten, bei denen ein solcher Übergang ausgeschlossen ist, nur ein springender Wechsel möglich. So kann z. B. a in e oder o, o in u, e in i, oder es kann d einerseits in

1) Sievers, Grundzüge der Phonetik, * 1983, S. 246, und in Pauls Grund- riß der germanischen Philologie, 2 I, 1897, S. 309.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 25

386 Der Lautwandel.

t, anderseits in dh, dz, z ganz allmählich durch minimale Veränderungen der Mundstellungen übergehen. Dagegen kann f m q, t m. f oder re in er nur plötzlich überspringen, weil es zwischen den Artikulationen des Anfangs- und des Endlauts keine Zwischenstellungen gibt, die eine Reihe allmählicher Übergänge bilden könnten. Begegnet man in der Sprache Lautänderungen, die sich individuell durch stetige Abstufungen der ersten Art hervorbringen lassen, so pflegt man daher anzunehmen, daß sie auch generell Erzeugnisse eines stetigen Lautwandels seien. So wenn mhd. Hute in nhd. Leute, ahd. gasti in gesti „Gäste", urgerm. ^fad-er (& = engl, th) ^) in nhd. Vater, lat. ag-nus in ang-nus übergegangen ist. Begegnet man anderseits solchen Lautänderungen, die sich in- dividuell nicht stetig erzeugen lassen, so führt man sie auf den springen- den Lautwechsel zurück. So wenn griech. "^qoteros in jtotbqoq, lat. ^finque in quinque, ahd. hrestan in nhd. bersten überging.

So wichtig nun dieser Unterschied für die physiologische Ent- stehungsweise des Lautwechsels sein mag, so erweist er sich doch in doppeltem Sinn als ein fließender. Erstens ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß auch derjenige Wechsel, der seiner physiolo- gischen Natur nach ein stetiger sein kann, im einzelnen Fall als ein springender vorkommt; und wahrscheinlich würde er sich um so mehr als ein solcher darstellen, je mehr man auf sein individuelles Vorkommen zurückzugehen vermöchte. Beim Übergange von gasti in gesti z. B. wird wohl der Einzelne gelegentlich einmal mehr nach a, ein anderes Mal mehr nach e artikulieren, doch im ganzen wird er in jedem be- sonderen Falle nicht um unendlich kleine, sondern um beliebige end- liche Größen seine Mundstellung ändern. Ferner muß aber umgekehrt auch derjenige Lautwechsel, der individuell ein springender war, bei seiner generellen Verbreitung zu einem annähernd stetigen Vorgang werden. Denn wie sich schon bei dem Einzelnen der Übergang von der alten zur neuen Lautform nicht mit einem Mal als Regel durch- setzt, sondern zunächst zeitweise auftritt und dann durch Gewöhnung häufiger und häufiger wird, so wird vollends nie eine Abweichung

1) Mit einem Sternchen werden hier und im folgenden überall, nach dem in der Sprachwissenschaft eingeführten Usus, solche Wörter bezeichnet, die laut- gesetzlich erschlossen, aber nicht direkt belegt sind.

Lautwandel und Lautwechsel. 387

die ganze Sprachgemeinschaft gleichzeitig ergreifen, sondern all- mählich durch eine Periode gemischten Gebrauchs sich ausbreiten, um schließlich herrschend zu werden. Auf diese Weise kann ein noch so allmählicher Lautwechsel im individuellen Sinn als ein sprin- gender gelten, wenn er nur die Eigenschaft hat, in sehr vielen Ab- stufungen variieren zu können; und umgekehrt kann jeder Laut- wechsel, wie er auch individuell beschaffen sein mag, im generellen Sinn als ein allmählicher und annähernd stetiger Vorgang angesehen werden.

Mag aber gleich jener Unterschied des Stetigen und Plötzlichen, solange man allein die äußere Erscheinungsweise der Lautänderungen ins Auge faßt, nur ein relativer sein, so verhält es sich doch anders, sobald man den ursprünglichen psychophysischen Bedingungen der Lautänderungen nachgeht. Da diese Bedingungen notwendig mit Einflüssen zusammenhängen, denen die individuellen Sprach- organe unterworfen sind, so tritt darum hier der Grundsatz in seine Rechte ein, daß sich kein Wechsel in einer redenden Gemeinschaft vollziehen kann, der nicht in den Eigenschaften der Individuen und in den Einwirkungen, denen sie unterworfen sind, vorgebildet wäre. Demnach setzt die Analyse der generellen eine solche der individuellen Bedingungen des Lautwandels voraus, und diese können möglicherweise je nach der Beschaffenheit der Lautüber- gänge abweichen, da Unterschieden der physischen Vorgänge auch solche ihrer psychischen Bedingungen voraussichtlich entsprechen werden.

In der Tat wird diese Voraussage durch die Beobachtung der

unabhängig von allen generellen Lautänderungen sich darbietenden

individuellen Abweichungen der Lautbildung durchaus

bestätigt. Solche Abweichungen treten nämlich erstens dadurch

ein, daß jedes individuelle Sprachorgan für jede Artikulationsweise,

die ihm möglich ist, einen gewissen Spielraum der Artikulation

besitzt, innerhalb dessen stetige Veränderungen möglich sind, die,

sobald irgendwelche Einflüsse eine bestimmte Richtung begünstigen,

die Anlage zur Entstehung eines stetig eintretenden Lautwandels

enthalten. Zweitens beobachten wir, daß im Verlaufe der Rede durch

fehlerhafte Artikulation ein Überspringen aus einer bestimmten

25*

388 Dei' Lautwandel.

Artikulationsform in eine andere, die außerhalb jenes Spielraums der normalen Bewegungsamplitude liegt, eintreten kann, ein springen- der Lautwechsel also, den man in seinen die normale Lautbildung beeinflussenden Formen je nach seinen besonderen Eigenschaften entweder als eine Lautvermengung oder als eine Wortvermengung bezeichnet: das erstere dann, wenn die Abweichungen unter dem Ein- flüsse nahe benachbarter Laute entstehen, das letztere, wenn sie in- folge von Assoziationen mit andern, durch den Inhalt des Gesprochenen lautlich oder begrifflich nahegelegten Wörtern zustande kommen. Zu diesen Abweichungen kommt endlich noch eine dritte, darin be- stehend, daß das individuelle Sprachorgan die Laute einer fremden Sprache in ihrem Lautwerte zu verändern pflegt, auf welche Ver- änderungen teils die abweichende physische Anlage des Sprachorgans, teils Assoziationen mit Wörtern der eigenen Sprache bestimmend einwirken. Das Studium dieser drei Arten individueller Lautände- rungen, des Spielraums normaler Artikulationen, der Laut- und Wortvermengungen, der Sprachmischungen, bildet so eine notwen- dige Vorbereitung zu der psychophysischen Analyse jedes generellen Lautwandels.

2. Spielraum der normalen Artikulationen.

Der Spielraum der normalen Artikulationen ist bei jedem ein- zelnen Laut ein nicht unbeträchtlicher. Zugleich kann aber diesem Begriff eine individuelle und eine generelle Bedeutung gegeben werden. Der individuelle Spielraum äußert sich darin, daß der nämliche Laut in verschiedenen Fällen innerhalb einer gewissen Breite variieren kann. Dabei sind von diesem Begriff des individuellen Spielraums diejenigen Lautmodifikationen auszuschließen, die von wechselnden objektiven Bedingungen, namentlich von den verschiedenen Laut- verbindungen abhängen. Denn hier handelt es sich in Wahrheit gar nicht um denselben Laut, sondern um verschiedene Laute, die wir nur wegen ihrer Ähnlichkeit gewöhnlich mit dem gleichen Zeichen schreiben. Das a in lachen und laden, das e in gehen und Pferd, das p in Post und Pfeil, vollends das betonte und das tonlose e in gehen, lehen usw. sind wirklich verschiedene Laute, die in jeder strengeren

Spielraum der normalen Artikulationen. 389

phonetisciieii Schrift unterschieden werden müssen, wobei dann aber wiederum wegen der unendlichen Zahl solcher Abstufungen eines Lautes nur die größeren Intervalle berücksichtigt werden können. Doch abgesehen von diesen wirklichen Unterschieden gibt es für einen und denselben, in einem bestimmten Wort und unter sonst unver- ändert bleibenden Bedingungen vorkommenden Sprachlaut gerade so gut einen gewissen Spielraum der individuellen Artikulation, wie unsere sonstigen Bewegungen, z. B. Größe, Verlauf und Richtung der Gehbewegungen, variieren können.

Einen noch weiteren Umfang hat der Spielraum in der zweiten, allgemeinen Bedeutung, wo er die Breite der Abweichungen der ein- zelnen Individuen einer Sprachgemeinschaft von der mittleren durch- schnittlichen Artikulationsform bezeichnet. Denn in diesem gene- rellen Spielraum sind alle individuellen Spielräume enthalten, derart, daß die häufigste Artikulationsweise des Einzelnen in jenem eine bestimmte Stelle einnimmt. Hierdurch entsteht, zusammen mit den Eigentümlichkeiten von Tonfall und Rhythmus, die indivi- duelle Nuancierung der Sprache, die es uns möglich macht, eine uns bekannte Person an ihrer Sprechweise unter Umständen aus tausend andern Stimmen heraus zu erkennen.

In den beiden Bedeutungen, in denen hier der Begriff des Spiel- raums der Artikulation gebraucht wurde, repräsentiert nun aber dieser Begriff keine einfache, etwa nur nach zwei entgegengesetzten Richtungen veränderliche Größe, sondern er läßt sich als eine ,, vier- fach ausgedehnte Mannigfaltigkeit'^ auffassen, insofern er sich aus vier Spielräumen zusammensetzt: aus der räumlichen Variation der Artikulationsstelle, der zeitlichen der Lautdauer, der intensiven der Lautstärke und der qualitativen der Tonhöhe. In dem ersten dieser Spielräume bewegen sich die hauptsächlichsten Veränderungen des Geräusch- und Klangcharakters, die den Sprachlaut als solchen kennzeichnen. Der zweite und dritte kommen vorzugsweise in dem Zusammenhang der verschiedenen Laute zur Geltung, indem der zweite die relative Dauer, der dritte den relativen Grad der Betonung bestimmt. Das nämliche gilt von dem vierten Spielräume, dem der Tonhöhe. Nur kommt bei ihm außerdem in Betracht, daß er bis zu einem gewissen Grade von dem ersten und

390 Der Lautwandel.

dritten, dem Klangcliarakter des Lautes und der Lautstärke, abhängt, da namentlicli gewisse Vokalklänge höhere, andere tiefere Teiltöne enthalten, und da mit der Lautstärke infolge der eintretenden größeren Spannung der Stimmbänder in der Regel die Tonhöhe steigt. Ab- gesehen vom Gesang, bilden schon in der gewöhnlichen Rede die Va- riationen der Tonhöhe ein selbständiges Moment (S. 359 f). Durch die innerhalb jener vier Spielräume möglichen Variationen sowie durch die Wirkungen, die diese Schwankungen wieder aufeinander ausüben, ist aber fortwährend die Möglichkeit zu allmählichen Laut- änderungen gegeben. In der Tat sehen wir solche regelmäßig bereits während des individuellen Lebens eintreten, namentlich wenn zu den allgemeinen Bedingungen psychophysischer Entwicklung noch be- sondere Einflüsse hinzutreten, wie sie Erziehung, Bildung und Ver- kehr mit sich führen. Selten wird daher die Sprache eines Menschen in zwei zeitlich weit auseinander liegenden Perioden seines Lebens genau den gleichen Lautcharakter besitzen. Vielmehr kann sich hier in beschränktem Umfang ein allmählicher Lautwandel vollziehen, der sich möglicherweise von einer Generation zur andern steigert. Darauf scheinen in der Tat die Unterschiede der Sprechweise hinzu- weisen, die wir schon bei der Vergleichung der Sprache einer älteren und einer jüngeren Generation des gleichen Volkes meist deutlich bemerken ^).

3. Störungen der Lautbildung.

Anderer Art ist die zweite Klasse der obengenannten Bedin- gungen möglicher Artikulationsänderungen, die der Artikulations- fehler. Gröbere Fehler von konstanter Beschaffenheit sind Wirkimgen

1) So konnte Rousselot (Les modifications phon^tiques du langage, 6tu- di^es dans le patois dune famille de Cellefrouin (Charente), 1901, p. 200) sogar innerhalb einer ziemlich abgeschiedenen Bevölkerung schon bei der Vergleichung zweier Generationen, die nur um 4 9 Jahre voneinander verschieden waren, einen Übergang des moullierten l in / feststellen. Daß er bei seiner eigenen Mutter, die er zehn Jahre hindurch beobachtete, keinerlei Veränderung wahrnahm, bildet natürlich keine Gegeninstanz. Auch dürften wohl überhaupt die Perioden merk- licher Änderungen, abgesehen von einem ausnahmsweise raschen Wechsel der Lebensbedingungen, in der Regel größere sein.

Störungen der Lautbildung. 391

pathologischer Zustände, die als solche außerhalb des Kreises normaler Lautänderungen liegen, aber deshalb hier herbeigezogen werden müssen, weil sie gewissen noch in die Breite des Normalen fallenden Erscheinungen analog sind. Nach ihren Sjnnptomen lassen sich die pathologischen wie die normalen Artikulationsfehler in drei Klassen ordnen, zwischen denen übrigens mannigfache Übergänge vorkommen können: in die Lauterschwerungen (Dyslalien), die Lautver- mengungen (Paralalien) und die Wortvermengungen (Onoma- tomixien). Dabei verstehen wir unter den ,,Lautvermengungen'' solche Störungen der Lautbildung, die durch die Einwirkung von Lauten des gleichen Wortes oder dicht aneinander grenzender Wörter entstehen, während wir die aus der Einwirkung verschiedener, nicht unmittelbar verbundener Wörter hervorgehenden Störungen als Onomatomixien bezeichnen. Diese dritte Klasse wird von der zweiten in der Regel nicht geschieden. Dennoch ist dies ebensowohl um des verschiedenen Charakters der Erscheinungen willen, wie wegen der Beziehungen, die sie zu wesentlich abweichenden Vorgängen des gene- rellen Lautwechsels bieten, erforderlich^).

a. Lauterschwerungen.

Die Lauterschwerungen oder Dyslalien können entweder auf fehlerhafter Bildung der peripheren Sprachwerkzeuge oder auf zentralen Innervationsstörungen oder endlich auf beiden Momenten zugleich beruhen. Ihre Symptome bestehen in einer Erschwerung der Artikulation, die entweder alle Laute oder bloß einzelne treffen kann. Ist dabei die Fähigkeit der Erzeugung der Laute vorhanden und ihre Hervorbringung nur durch organische Bedingungen erschwert, so entstehen die Erscheinungen des Stamm eins und Silbenstol- perns. Bei ihnen pflegen sich stets mit peripheren Erschwerungen

1) Zusammenfassende Darstellungen der pathologischen Sprachstörungen geben A. Kußmaul, Störungen der Sprache, 1877, S. 186 ff., und A. Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen, Heft 1—4, 1898 bis 1900. Die „Aphasie" und „Paraphasie" werden uns, als Symptome, die für die psychologischen Be- dingungen der Wortbildung bedeutsam sind, erst im nächsten Kapitel beschäf- tigen.

392 Der Lautwandel.

zentrale Innervationsstörungen zu verbinden. Als der mildeste Fall gehört hierher der Mangel an Übung in deutlicher Artikulation, wie er als Folge fehlerhafter Erziehung und Selbsterziehung häufig vor- kommt. Das durch periphere Erschwerungen oder mangelnde Sprach- übung entstehende Stammeln kann ferner durch Angstgefühle, die das Sprechen begleiten, und die auch mit sonstigen Störungen der Koordination der Bewegungen verbunden sind, erheblich gesteigert werden. Hier grenzt übrigens das Abnorme oft dicht an das noch Normale. Denn jenes besteht eigentlich nur in einer schon bei gering- fügigen Anlässen eintretenden Erschwerung des Sprechens, ähnlich derjenigen, die auch dem gesunden Sprachorgan unter etwas schwie- rigeren Bedingungen widerfährt. Mindestens bedarf es einer beson- deren Übung, um nicht bei dem Versuche, schwer zu artikulierende oder ungewöhnlich lange Wörter und Phrasen schnell auszusprechen, dem Stammeln und Silbenstolpern anheimzufallen: so bei dem be- kannten ,, Fritz frißt frische Fische" usw.

Wesentlich verschieden von diesen mit den Artikulations- erschwerungen der normalen Sprache verwandten Erscheinungen des Stammeins sind die des Stottern s. Sie beruhen auf einer teta- nischen krampfhaften Innervation der Artikulationsorgane, sind also, wie aus ihren Symptomen hervorgeht, vorwiegend zentralen Ursprungs, wobei jedoch wiederum periphere Ursachen ihren Ein- tritt begünstigen können. Auch der auffallende Einfluß psychischer Bedingungen, die Verstärkung des Übels durch Angstgefühle, seine Milderung durch methodische Erziehung und vor allem durch Übung in willkürlicher langsamer Artikulation, bestätigen die zentrale Ent- stehungsweise. Auf gemischte Ursachen sind schließlich die auf einzelne Laute beschränkten Artikulationsfehler zurück- zuführen, insofern bei ihnen ebenso die mangelnde Beweglichkeit der äußeren Organe auf die Innervation wie umgekehrt die mangelnde Übung dieser auf die Organe zurückwirken kann. Die beschränkten Artikulationsfehler dieser Art führen regelmäßig zu Lautvertretun- gen. Dabei lassen sich zwei verschiedene Grade der letzteren unter- scheiden. Der stärkere besteht in der Substitution eines Lautes von ganz abweichender Artikulationsform, z. B. in 'der Vertretung der Oaumenlaute durch Resonanzlaute, der Lippenlaute durch Zungen-

Störungen der Lautbildung. 393

laute oder umgekehrt. Dies sind Lautvertretungen, wie man sie auch beim Kind in der Zeit des Sprechenlernens (S. 314 ff.), sowie bei der Assimilation der Wörter einer Sprache durch eine andere von abweichen- dem Lautsystem beobachtet. Der schwächere Grad der Lautver- tretung äußert sich in der Vertauschung nahe verwandter Laute, wie z. B. in dem Ersatz des Zungen-r durch das Rachen-r, der Tenuis f, h, t durch die Media h, g, d usw., Fälle, die bereits durchaus in die Breite normaler Abweichungen und dialektischer Unterschiede hinüber- spielen. Abgesehen hiervon bilden die Dyslalien denjenigen Grenz- fall individueller Lautstörungen, wo diese ihrer Natur nach indivi- duell bleiben. Denn indem die besonderen zentralen und peripheren Momente, die eine derartige Erschwerung der Artikulation herbei- führen, aus singulären Bedingungen der psychophysischen Organi- sation entspringen, verschwinden sie im allgemeinen mit dem Indi- viduum, bei dem sich jene Bedingungen vorfanden. Darin unterschei- den sie sich wesentlich von den folgenden Lautstörungen, bei denen eine jede individuell eintretende Abweichung in vielen andern In- dividuen analoge Bedingungen vorfindet.

b. Lautvermengungen. Im Unterschiede von der Dyslalie bleiben bei den Lautver- mengungen oder Paralalien die einzelnen Lautbildungen an sich normal, aber ihre Ordnung in der Zusammenfügung zum Worte wird gestört. In diesem Symptom liegt schon ausgesprochen, daß aus- schließlich zentrale Ursachen, und zwar solche, die den höheren Zen- tralgebieten angehören, der pathologischen Paralalie zugrunde liegen. Während uns ferner bei den Dyslalien, soweit sie zentral bedingt sind, überall nur Störungen der Reflex- oder Koordinations Verbindungen be- gegnen, ohne daß diesen physiologischen Vorgängen, die sich durchgängig in den niedrigeren Nervenzentren abspielen, psychische Abweichungen parallel gehen, sind umgekehrt bei den krankhaften Formen der Para- lalie diese in der Regel vorhanden. So beobachtet man denn auch die auf- fallendsten dieser Lautvermengungen in der Sprache Geisteskranker^).

1) Über die Sprache Geisteskranker vgl. Snell, AUg. Ztschr. f. Psychiatrie IX, 1852, S. 11 ff. Brosius, ebenda XIV, 1857, S. 37 ff.

394 Der Lautwandel.

Zu den noch in die Breite des normalen Lebens fallenden ,,Paralalien" gehören viele Erscheinungen des sogenannten Ver- sprechens. Sie sind ziemlich regelmäßige Begleitsymptome der „Zerstreutheit", können aber außerdem durch eine ungewöhnliche Geschwindigkeit des Kedeflusses unterstützt werden^). Hieraus er- gibt sich, daß auch diese normalen Artikulationsfehler überwiegend infolge psychischer Ursachen entstehen, denen gegenüber periphere Bedingungen nur von sekundärer und untergeordneter Bedeutung sind. Denn der Zustand der ,, Zerstreutheit" pflegt in einer Ablenkung der Aufmerksamkeit zu bestehen, die ein Abschweifen auf assoziierte, namentlich auch auf die unmittelbar nachfolgenden oder voraus- gehenden Lautvorstellungen möglich macht.

Suchen wir die pathologischen Paralalien sowie die gewöhn- lichen Erscheinungen des ,, Versprechens", soweit sie dem Gebiete der oben definierten eigentlichen Lautvermengungen angehören, nach psychologischen Gesichtspunkten zu ordnen, so lassen sie sich in die drei Klassen der Einschaltungen, der Auslassungen und der Umstellungen der Laute unterscheiden. Die erste dieser Er- scheinungen, die Einschaltung, findet sich in pathologischen Fällen außerordentlich häufig. Sie kann sich hier zu Einfügungen ganzer Wort- und Satzbildungen erweitern oder auch aus völlig sinnlosen Lautbildungen bestehen. In allen diesen Fällen sind die eingeschal- teten Laute durch ihre häufige Wiederholung in hohem Grad eingeübt,

^) Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch - linguistische Studie, 1895. R. Meringer, Aus dem Leben der Sprache. 1908. Viele der in beiden Schriften sorgfältig gesammelten Beispiele gehören aller- dings nicht hierher, sondern teils zu der unten zu besprechenden Wortvermengung (Onomatomixie), teils in das Gebiet der dem nächsten Kapitel vorzubehalten- den Wortbildungsfehler (Paraphasien). Auch dehnen diese Autoren den Begriff des ,, Versprechens" in einigen Fällen auf Redeformen aus, die zwar ungewöhn- lich, deshalb aber doch nicht den Sprachstörungen zuzurechnen sind, so z. B. auf die Vermischung bildlicher Ausdrücke in der poetischen Rede. Shakespeares Worte im Hamlet ,,0r to take arms against a sea of troubles and by opposinge end them" halte ich nicht mit den Verff. für eine falsche Kontamination (S. 58), sondern für eine sehr schöne Metapher. Die Verstärkung des Eindrucks durch eine Verbindung der Bilder ist eine berechtigte Eigentümlichkeit der Metapher. (Vgl. unten Kap. VIII, Nr. V, 4.)

Störungen der Lautbildung. 395

SO daß sie offenbar meist absichtslos und nur dunkel bewußt auftreten. Sie werden vor allem da in den Zusammenhang der Rede eingefügt, wo diese aus irgendeinem Grunde vorübergehend stockt; doch können sie sich in extremen Fällen auch fortwährend und zwangsweise der Artikulation aufdrängen. Das Stocken des Gedankenflusses bietet den nächsten Anlaß zu einer unwillkürlichen Ausfüllung der Pausen durch Zwischenlaute, die dann zur Gewohnheit wird, so daß sie auch da eintritt, wo jene ursprüngliche Ursache hinwegfällt. Innerhalb längerer Wörter sind Schaltlaute als Silbenwiederholungen, z. B. Indedeterminismus für Indeterminismus, oder als einfache Trennungen zweier Laute, z. B. netonatorum für neonatorum, beim gewöhnlichen Versprechen nicht ganz selten. Eine besondere Modifikation der Ein- schaltungsgewohnheiten ist es, wenn manche Personen die Schluß- worte der Sätze zu wiederholen pflegen. Da der Satzschluß in der Regel mit einer Pause des Vor stellungs Verlaufs zusammen- fällt, so ist dies nur ein spezieller Fall der allgemeinen Tat- sache, daß die Schaltlaute vorzugsweise in derartigen Zwischen- pausen auftreten.

Die zweite Klasse der Paralalien besteht in der Auslassung von Lauten. Sie geht leicht durch Auslassung ganzer Wörter in die syntaktischen Sprachfehler über. Bei der Lautfolge im einzelnen Worte tritt die Auslassung besonders bei längeren Wörtern ein, und es sind hier besonders die mittleren Laute, die ausfallen: die Laut- bildung eilt ihrem Ende zu. So in der Ideenflucht der Irren, wo leicht nicht nur Worte, sondern ganze Satzteile ausfallen können; aber auch beim gewöhnlichen Versprechen, namentlich in sehr schneller Rede: z. B. Substution für Substitution, Charaktologie für Charakterologie, aller Leute für allerlei Leute u. ä. Durch die schon hier bemerk- bare Antizipation des Folgenden, die die Lautbewegungen über- stürzt, geht diese Verkürzung in die Erscheinungen der nächsten Klasse über.

Diese dritte Klasse ist die der Umstellungen. Eine Um- stellung von Lauten ist in doppelter Weise möglich. Entweder wird ein späterer Laut vor einem andern, der ihm vorausgehen sollte, ge- bildet; oder ein früherer Laut folgt einem andern nach, der eigentlich später kommen sollte. Wo es sich um eine reine Umstellung handelt,

396 Der Lautwandel.

da sind natürlich beide Fälle immer zugleich vorhanden: jede Anti- zipation ist für den Laut, der durch den vorausgenommenen zurück- gedrängt wird, eine Postposition, und umgekehrt. Doch sind die Störungen von verschiedenen Nebensymptomen begleitet, die bald auf die eine, bald auf die andere Erscheinung als die primäre und für beide zugleich auf abweichende Ursachen hinweisen. Die Voraus- nahme besteht nämlich entweder in einer einfachen Umstellung, wobei ein einzelner Laut oder ein ganzer Lautkomplex mit einem fol- genden vertauscht wird, wie z. B. bei der Umwandlung von hegleiten in gehleiten, von Raum und Zeit in Zaum und Reit, von Rotkohl in Kohl- rot. Oder sie ist mit lautlichen Veränderungen verbunden, bei denen sichtlich die ursprüngliche Lautform auf die veränderte noch ein- gewirkt hat, wie z. B. bei dem Übergang von Totschläger in Schlag- töter. In beiden Fällen kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Vorausnahme eines im regelmäßigen Vorstellungsverlaufe nach- folgenden Gliedes die Ursache, und die eintretende Veränderung der wirklich nachfolgenden bloß eine Folge jener Antizipation ist. Diese selbst beruht aber offenbar darauf, daß die Wortvorstellungen samt den an sie gebundenen Artikulationsimpulsen dem Fluß der Rede vorauseilen. Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch me- chanische Ursachen verlangsamt, wie beim Schreiben oder aber auch bei der Rede des Stammelnden, so treten daher solche Antizipationen besonders leicht ein. Wir verschreiben uns schon unter normalen Verhältnissen leichter als wir uns versprechen, und in den Schrift- stücken der Idioten und paralytischen Geisteskranken ist, neben der Auslassung von Silben oder Buchstaben, die Vorausnahme nach- folgender Schriftzeichen eine häufige Erscheinung. Bei den nämlichen Individuen findet man aber auch nicht selten das Symptom des so- genannten ,,Silbenstolperns", das eben aus solchen Vorausnahmen der Laute und den ihnen folgenden Wirkungen besteht. Die häufigste dieser Wirkungen ist die, daß während der Antizipation einer folgen- den Wortvorstellung auch die normale Assoziation der Laute, nament- lich wenn diese durch mehrfache Anwendung eingeübt ist, auf die

Störungen der Lautbildung. 397

momentane Artikulation einwirkt, wodurch sich dann diese aus beiden Wirkungen zusammensetzt: so bei der Umkehrung von Totschläger in Schlagtöter,

Von allen diesen Erscheinungen imterscheiden sich durchaus diejenigen Symptome, die entstehen, wenn ein bestimmter Laut oder Laut komplex eine verspätete Wirkung auf das Bewußtsein ausübt. Eine solche kann unabhängig von gleichzeitigen Vorausnahmen, die dann stets als das Primäre anzusehen sind, nur in der Form einer Nach- wirkung stattfinden, bei der ein vorangegangener Laut noch als Vorstellung im Bewußtsein bleibt, während sich die folgenden Sprach- bewegungen bereits abspielen. Dadurch entsteht entweder eine Ver- mischung jenes vorausgegangenen mit dem augenblicklich geforderten Laut oder eine völlige Verdrängung des letzteren durch jenen. So in Artrillerie für Artillerie, Pomode für Pomade, Rautenkraune für Rautenkrone. Besser als die Ausdrücke Antizipation und Postposition drücken daher die andern der Vorausnahme und Nachwirkung das Verhältnis der Vorgänge aus. Zugleich machen es diese Aus- drücke verständlich, daß die durch Vorausnahme der Artikulationen entstehenden Sprachfehler im allgemeinen häufiger sind als die aus der Nachwirkung der Laute entspringenden. Daß der Vorstellungs- verlauf schneller dahineilt als die Sprachbewegungen, ist eben eine sehr leicht vorkommende, namentlich aber eine jeden Nachlaß der normalen Willenshemmung begleitende Erscheinung. Darum ver- sprechen wir uns in dieser Weise so leicht, wenn wir ,, zerstreut" sind. Dagegen verschwindet das gesprochene Wort in der Regel sehr schnell aus dem Bewußtsein, und nur ausnahmsweise, wenn aus irgendwelchen Gründen die Vorstellungsbewegung gehemmt ist, bleibt es noch, während sich schon ein neues Wort zur Apperzeption drängt. Einen Fall dieser Art haben wir bei den regelmäßig progressiven Laut- angleichungen der kindlichen Sprache beobachtet, wo eben offen- bar die Schwerfälligkeit der Vorstellungsbewegung, die aus dem Mangel an Übung entspringt, die Quelle der Erscheinung ist (S. 318). Wegen ihrer wesentlich verschiedenen Bedingungen kommen übrigens die Vorausnahme und die Nachwirkung der Laute selten nebeneinander, und namentlich innerhalb einer und derselben Um- stellimg fast niemals vor. Nur die pathologischen Fälle bieten hierzu

398 Der Lautwandel.

gelegentliche Beispiele, wie in Rartrillerie für Artillerie. Doch mögen hier noch besondere Ursachen, in diesem Beispiel wahrscheinlich eine abnorme Neigung zur Artikulation des r, hinzukommen.

c. Wortvermengungen.

Durch ihre dem eigenen Verlauf der Vorstellungen und Arti- kulationen entgegengesetzte Richtung nähern sich die Nachwirkungen der Laute bereits der dritten Klasse individueller Sprachstörungen, den Wortvermengungen, unter denen wir hier Artikulationsfehler verstehen, die infolge von Assoziationen mit andern laut- und be- griff sverwandten Wörtern eintreten. Von den Erscheinungen des gewöhnlichen Versprechens gehört hierher wahrscheinlich die aus- nehmend häufige Verwechselung von Fisch und Schiff, wo sowohl das erste für das zweite wie das zweite für das erste Wort eintreten kann. Zwar läßt sich dies Beispiel auch als eine Vorausnahme der Laute deuten. Doch stehen beide Wörter jedenfalls unter einer wechsel- seitigen lautlichen und begrifflichen Assoziationswirkung, die wohl zusammen den Austausch vermitteln. Häufiger kommen ähnliche Erscheinungen in der Form falscher Wortzusammensetzungen vor, wobei die Bestandteile aus verschiedenen assoziativ verbundenen Wörtern bestehen, z. B. Zwittellaut, zusammengesetzt aus Mittellaut und Zwitterlaut. Namentlich kurz vorher gesprochene Laute oder Wörter assoziieren sich leicht auf diese Weise mit den nachfolgenden. Jemand hat z. B. eben von Gegenständen gesprochen und redet dann von der ,, Verschärfung der Gegenstände" statt der ,, Verschärfung der Gegensätze''. Oder: „erworbene Körperveränderungen enverhen sich nicht" statt „vererben sich nicht", konkret und kontrakt statt ab- strakt usw. Auch bei Geisteskranken sind derartige Phänomene nicht selten. Sie kommen hier besonders in der Form der Neubildung von Wörtern vor, die freilich manchmal ganz willkürliche oder zufällig aufgegriffene Lautgebilde sein können, oft aber auch aus der Asso- ziation zweier irgendwie lautlich verwandter oder sonst in Beziehung stejiender Wörter hervorgehen, wie z. B. Idensität aus Identität und Intensität, Kontraktionskohäsion durch Lautassoziation von Kon- traktion und Kohäsion u. a. Mehr als in solchen einzelnen Wort-

Störungen der Lautbildung. 399

bildungen gibt sich aber die ungeheure Macht der Lautasso- ziationen bei der Ideenflucht der Irren in den Wortwiederholungen kund, bei denen Laute, die ursprünglich vielleicht zufällig zu- sammengeraten sind, fortwährend in der nämlichen äußeren Asso- ziation wiederkehren.

Abgesehen von diesen Fällen des normalen Zerstreutseins oder der pathologischen Gedankenverwirrung, die beide auf die gleiche Ursache, auf die Vorherrschaft loser Assoziationen bei schweifender Aufmerksamkeit, zurückführen, kommt die Onomatomixie aber auch noch unter einer wesentlich andern Bedingung vor, nämlich bei man- gelnder Übung im Gebrauch der Sprache überhaupt oder gewisser in dem gegebenen Zusammenhang benutzter Wörter, an deren Stelle sich dann andere irgendwie lautverwandte ganz oder teilweise ein- schieben. So nicht selten beim Keden in einer fremden Sprache, als Bestandteil des sogenannten Radebrechens. Dann aber auch bei der verwandten Erscheinung des ,, Messingisch", den Vermischungen von Dialekt und Schriftsprache bei solchen, die in der letzteren un- geübt sind, oder endlich oft besonders drastisch in der Vermischung von Fremdwörtern, Fritz Reuter bietet namentlich in der ,,Strom- tid" dafür zahlreiche Beispiele, z. B. Element statt Eleve, Gregorius für Chirurgus, Operamente statt Operationen (Assoziation mit Sakra- mente) qualrfikaziert statt qualifiziert, nach Analogie von Qualifikation, ,,ich bin dem Herrn Großherzog sein Fasan'', statt Vasall usw. In diesen Fällen ist es die unzureichende Festigkeit der Assoziation zwischen dem Begriff und dem zugehörigen Wort, die die Vermengung her- beiführt.

Diesen Erscheinungen nahe verwandt sind schließlich die falschen Wortbildungen in der Sprache des Kindes, die in den der vollen Be- herrschung der Sprache unmittelbar vorangehenden Stadien vor- kommen, am meisten in der Zeit zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr, aber in einzelnen Fehlgriffen auch noch darüber hinaus. Vermengungen der Stammbestandteile laut- oder begriffsverwandter Wörter finden sich in der Kindersprache selten; augenscheinlich weil der Wortvorrat überhaupt noch ein beschränkter ist. Um so mehr wirken die Abwandlungsformen des gleichen Wortes oder verschiedener Wörter aufeinander ein und erzeugen dadurch die mannigfachsten

400 Der Lautwandel.

Vermengungen der Wortformen. So bildete ein Kind das Substantiv Setz statt Sitz durcb Assoziation mit setzen, zu Ameise einen falschen Singular Amaus nach Analogie zu Maus, Mäuse. Am verbreitetsten sind aber, offenbar wegen ihrer die sichere Einübung erschwerenden Mannigfaltigkeit, die durch Assoziationen bewirkten Abweichungen der Verbalflexion. Sie können in den verschiedensten Eichtungen auftreten. Besonders das deutsche Praeteritum mit seinem Wechsel zwischen starker und schwacher Form und seinen verschiedenen vo- kalischen Umlauten innerhalb der ersteren bietet Anlaß zu außer- ordentlich häufigen Vermengungen. So bildete ein von mir beobach- tetes Kind schaß zu schießen, offenbar durch Vermengmig mit zu essen, dagegen zu essen durch Vermengung mit ließ zu lassen. Zugleich ist bei allen diesen Vermengungen verschiedener Wortformen leicht zu bemerken, daß die am häufigsten gebrauchten, weil sie eben die eingeübteren sind, am leichtesten Assoziationswir- kungen äußern. Hieraus erklärt sich, daß die anomalen, aus abweichen- den Wortstämmen gebildeten Formen leicht nach Analogie der nor- malen Bildungen umgewandelt werden: also guter statt besser, vieler statt mehr, „wir hinnen'' statt „wir sind'' u. dgl. Auch die Erschei- nung, daß das Kind beim Gebrauch der Genera das Neutrum be- vorzugt oder allein anwendet, gehört hierher. Infolge des verschwen- derischen Gebrauchs der Diminutivbildungen in der Kindersprache hat in dieser das Neutrum von vornherein das Übergewicht, und die Macht der Übung verschafft ihm daher in zweifelhaften Fällen stets die Vorherrschaft. Endlich wird hierdurch die Tatsache verständlich, daß die überwiegende Richtung der Vertauschungen im Deutschen beim Nomen wie Verbum von der starken zur schwachen Form geht. Da die schwachen Formen an und für sich schon die Mehrheit bilden und außerdem durch die übrigen Formen des gleichen Wortes begünstigt werden, so erkennt man darin wiederum die Wirkung der größeren assoziativen Übung. So bildet das Kind mit Vorliebe Formen wie gebte, gehte, trinhte für gab, ging, trank usw. ^). Zu diesen Wirkungen

^) Weitere hierher gehörige Beispiele vgl. bei Gust. Lindner, Aus dem Naturgarten der Kindersprache, 1898, S. 101 ff., und W. Ament, Entwicklung von Sprechen und Denken, S. 166 ff. Analoge Beobachtungen an französischen

Störungen der Lautbildung. 401

der assoziativen Angleichung anderer Wortformen an die häufigsten und geübtesten gehört ohne Zweifel auch die in die früheste Zeit der Aneignung der Sprache fallende Ersetzung aller möglichen andern Verbalformen durch den Infinitiv. Sie ist die Folge des ausgedehnten Gebrauchs, den in unseren modernen Sprachen der Infinitiv in seinen Verbindungen mit den Hilfsverben findet. Indem in solchen Ver- bindungen wie ,,ich will gehen", ,, werde gehen", ,,soll gehen", ,,muß gehen" usw. durch alle Personen der Einzahl und Mehrzahl hindurch immer das Wort ,, gehen" als konstanter Bestandteil wiederkehrt, wird es zu derjenigen Form, die zum Ausdruck aller möglichen Modi- fikationen des Begriffs dient, solange die für diese in der Sprache vorhandenen Ausdrucksformen noch nicht geläufig sind. Auch diese Erscheinung ist also eine Wirkung der Assoziationsübung, die nicht im geringsten etwa mit der abstrakteren Bedeutung des Infinitivs zusammenhängt, für die das Kind in dieser Lebenszeit überhaupt kein Verständnis hat. Wie andere Sprachfehler, so kann übrigens auch dieser bei fortdauerndem Mangel an Übung in begrifflicher Son- derung der Redeteile aus der Kindheit in die spätere Lebenszeit hin- übergenommen werden, wo er dann manchmal irrtümlicherweise für absichtlichen Lakonismus gehalten wird.

Diese Erscheinungen der Kindersprache gleichen bereits so sehr den in der normalen Sprachentwicklung vorkommenden sogenannten ,, Analogiebildungen", daß man vielfach nicht nur auf ihre unver- kennbare Verwandtschaft hingewiesen, sondern sogar vermutet hat, die ,, Analogiebildungen" seien ursprünglich aus der Kindersprache in die allgemeine Sprache eingedrungen. Dies ist aber kaum wahr- scheinlich. Einerseits ist nicht einzusehen, warum nicht dieselben Assoziationsmotive, die beim Kinde wirksam sind, auch in der all- gemeinen Sprache zur Geltung kommen sollten. Anderseits weichen die Veränderungen dieser durch ihre allmähliche und stetige Ent- wicklung durchaus ab von der irregulären, vielfach von Fall zu Fall wechselnden Wortvermischung des Kindes. Diese unabhängige Ent-

Kindem bei E. Egger, Observations et r^flexions sur le d^veloppement de l'in- telligence et du langage chez les enfants, 1879, p. 40. Compayre, Entwicklung der Kindesseele, S. 316 ff.

Wunät, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^

402 I^er Lautwandel.

stehungsweise ist es jedoch, die aucli liier die individuellen Erschei- nungen für das Studium der generellen wertvoll macht, weil wir bei jenen die Vorgänge, die uns hier im allgemeinen nur in ihren Kesul- taten entgegentreten, noch in ihrer unmittelbaren Entstehungsweise beobachten können.

Überblickt man die gesamten Laut- und Wort vermengungen, wie sie in der Breite des normalen Lebens bald infolge schweifender Aufmerksamkeit, bald als Wirkungen sich überstürzenden Rede- flusses oder, wie beim Kind, als solche mangelnder Artikulations- übung beobachtet werden, 'so sind es offenbar zwei Punkte, in denen diese Erscheinungen übereinstimmen. Erstens vollziehen sie sich stets absichtslos. Die Fehler des gewöhnlichen Versprechens wer- den entweder von dem Redenden selbst gar nicht bemerkt oder ver- spätet, nachdem das falsche Wort ausgesprochen ist. Das gilt selbst von den auffallendsten dieser Sprechfehler, von den Laut- und Wort- einschaltungen, wie sie als gewohnheitsmäßige Ausfüllungen der Redepausen bei Gesunden und besonders bei Geisteskranken vor- kommen. Auch diese fühlen sich widerstandslos der Macht der in ihrem Bewußtsein auftauchenden und die Artikulationsorgane zur Mitbewegung hinreißenden Laut vor Stellungen, selbst wenn solche aus ganzen Wortgruppen und Sätzen bestehen, preisgegeben. Zweitens spielen bei der Erzeugung dieser Sprachfehler gelegentlich wohl me- chanische Erschwerungen der Artikulation eine gewisse Rolle. Doch sind sie in vielen Fällen, namentlich bei den Lautversetzungen und Wortvermengungen, ganz ausgeschlossen. So ist gebleiten nicht leichter als hegleiten, Artrillerie ist schwieriger als Artillerie usw. Was dagegen niemals fehlt, das sind gewisse psychische Einflüsse. Dahin gehört zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wortassoziationen. Ihm tritt der Wegfall oder Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wir- kungen des Willens und der Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Ob jenes Spiel der Assoziationen darin sich äußert, daß ein kommender Laut antizipiert oder ein vorausgegangener reproduziert oder ein gewohnheitsmäßiger zwischen andere eingeschaltet wird, oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken,

Störungen der Lautbildung. 403

alles dies bezeichnet nur Unterschiede in der Eichtung und allenfalls in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der all- gemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifel- haft sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte, nach dem Prinzip der Komplikation der Ursachen, auf ein Zusammentreffen mehrerer Mo- tive zurückzuführen habe. So kann die Umwandlung von hegleiten in gehleiten auf Vorausnahme: sie kann aber auch auf freier Asso- ziation zahlreicher Wörter mit der Anfangssilbe ge, oder sie kann end- lich auf der speziellen Assoziation mit dem begriffsverwandten geleiten beruhen. Netonatorum kann als einfache Einschaltung eines Lautes, es kann aber auch als Vorausnahme des t der vorletzten Silbe gedeutet werden. Pomode ist zunächst wohl eine Lautnachwirkung, doch ist daneben die Assoziation mit Kommode nicht ausgeschlossen; bei Zauyn und Reit ist die Vorausnahme wahrscheinlich das primäre Moment, aber die Existenz der Wörter Zaum und reiten und ihre begriffliche Assoziation mag mitgewirkt haben. Übrigens bilden die verschiedenen Formen assoziativer Einflüsse insofern eine Stufenreihe der Symptome, als infolge der natürlichen Richtung des Redeflusses die Voraus- nahmen am leichtesten vorkommen, die Nachwirkungen und die Übergänge auf andere Wortgebilde dagegen höhere Grade der Stö- rung bezeichnen. Darum finden sich die Vorausnahmen in den ge- wöhnlich beobachteten Fällen des Versprechens am häufigsten; die Nachwirkungen und die Vermengungen disparater Wörter werden nur bei hohen Graden der ,, Zerstreutheit", außerdem bei noch mangeln- der Redeübung, oder endlich als Symptome geistiger Paralyse wahr- genommen.

Alle diese Ergebnisse stehen im vollen Einklang mit bekannten experimentellen Beobachtungen über Laut- und Wortassoziationen. Ermittelt man in einer großen Zahl von Fällen die auf ein zugerufenes, vorher nicht erwartetes Wort im Bewußtsein aufsteigenden Vor- stellungen, so zeigt sich, daß schon beim normalen Menschen solche Assoziationen überwiegen, bei denen das Wort ein anderes lediglich nach der Lautähnlichkeit oder nach sonstigen äußeren Beziehungen, z. B. nach häufiger Verbindung, wachruft. Mit dem Nachlaß hemmen- der imd regulierender Willenseinflüsse auf den Vorstellungsverlauf

26*

404 Der Lautwandel.

nimmt nun aber namentlich die Menge der reinen Lautassoziationen noch erheblich zu. Diese Zunahme ist daher eine der gewöhnlichsten Erscheinungen der geistigen Störung^).

4. Sprachmischungen und Mischsprachen.

Mit der Betrachtung des Einflusses der Sprachmischungen auf die individuelle Lautbildung betreten wir bereits ein Gebiet, auf dem die individuellen in generelle Erscheinungen des Lautwechsels über- gehen. Indem der Einzelne aus einer fremden Sprache ein Wort auf- nimmt, ändert er dessen Lautcharakter nach der Anlage seiner Sprach- organe und nach den besonderen Laut- und Begriffsassoziationen, die in ihm bereit liegen. Auf diese Weise ist die entstehende Laut- änderung zunächst ein individueller Vorgang. Aber da fast überall, wo sich dieser Vorgang ereignet, ähnliche Bedingungen bei einer größeren Zahl von Menschen wiederkehren, so entsteht aus dieser individuellen sofort eine generelle Erscheinung, bei der nun die Ein- zelnen in eine Wechselwirkung treten, infolge deren die größeren in- dividuellen Unterschiede allmählich sich ausgleichen. Die Sprach- mischung kann auf diesem Wege, wenn die Zufuhr fremden Sprach- guts zunimmt, die der Gemeinschaft ursprünglich eigentümliche Sprache mehr und mehr umgestalten und sie in eine Mischsprache überführen^). Der Eintritt eines Einzelnen mit fremder Muttersprache in eine bestimmte Sprachgemeinschaft pflegt einen Austausch herbei- zuführen, der sich auf alle Bestandteile einer Sprache, auf Laute, Wörter und Satzfügungen, erstrecken kann. Dieser Austausch steigert

^) Trautscholdt, Philos. Studien, I, 1883, S. 218. Asehaffenburg, Kraepe- lins Psychologische Arbeiten, I, 1896, S. 64, 72. II, 1899, S. 4 ff., 14, 49 f. C. G. Jung und F. Riklin, Diagnostische Assoziationsstudien, 1906.

2) Auf die Wichtigkeit des Studiums der Sprachmischungen für die Laut- und Begriffsseite der Sprache hat besonders eindringlich H. Schuchardt hin- gewiesen: Slawo-Deutsches und Slawo- Italienisches, .1884, und Zeitschrift für romanische Philologie, herausgeg. von G. Gröber, XII, 1888, S. 242, 301 ff.. XIII, 1889, S. 463 ff . (Negerportugiesisch und Indoportugiesisch.) Vgl. a. Win- disch, Zur Theorie der Mischsprachen und Lehnwörter, Ber. der sächs. Ges. der Wiss. 1897.

Sprachmischungen und Mischsprachen. 405

sich, wenn mehrere mit dem gleichen fremden Idiom in dieselbe Ge- meinschaft aufgenommen werden, und mit der wachsenden Zahl nähert er sich der Grenze, wo ein annäherndes Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben eintreten kann. Während das Idiom des einzelnen Ein- wanderers in der Kegel sehr bald spurlos in der Masse verschwindet, erhält nun aber eine zusammengehörige Gruppe, indem sie unter sich die alte Muttersprache pflegt, diese länger und entwickelt einen größeren Einfluß auf die Umgebung^). Das Maß dieses Einflusses, mit dem die eigene Widerstandskraft gegen die fremde Sprache gleichen Schritt hält, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, und es verteilt sich auf die Bestandteile der Sprache in sehr ungleichem Grade. So ist der Einfluß kulturell höher stehender Individuen begreiflicherweise im allgemeinen größer, und infolge dieses Übergewichts teilt bei Rassen- mischungen die höhere Rasse leichter der niederen ihre Sprache mit als umgekehrt. Ferner ist es eine Begleiterscheinung dieser über- wiegenden Wirkung, daß die aufgenommene fremde Sprache relativ wenig verändert wird, während die Muttersprache derer, die sich das neue Idiom aneignen, durch Aufnahme fremder Bestandteile entartet^). So ist das allemannische Deutsch der Elsässer durch den Einfluß des Französischen, so das Deutsch der in Amerika eingewanderten Deutschen unter dem Ein- fluß des Englischen zur Mischsprache geworden, während das Fran- zösisch der ersteren, das Englisch der letzteren weit weniger von ihrer ursprünglichen deutschen Muttersprache beeinflußt werden. Dabei verhalten sich aber die einzelnen Bestandteile der Sprache in diesem Wettkampf der Kulturen wesentlich verschieden. Was die Sprache der höheren Kultur in die der niederen überträgt, das ist hauptsäch- lich ein Teil des Wortschatzes. Das neue Wort als Zeichen eines neuen Begriffs wird mit diesem selbst aufgenommen. Viel widerstands- fähiger als gegen die Einfuhr fremder Wörter verhält sich eine Sprache

1) Über einzelne Bedingungen solcher Ausbreitung finden sich lehrreiche Ausführungen mit Bezug auf die slawischen Sprachmengungen in Österreich bei Schuchardt, Slawo-Deutsches usw., S. 11 ff.

2) Vgl. Schuchardt, Slawo-Deutsches usw., S. 35 f. Windisch a. a. O., S. 104.

406 Der Lautwandel.

gegen die Aufnahme fremder Satzfügungen und Wortabwandlungen. Dies ist leicht begreiflich, da diese Formen von den psychischen Ge- setzen abhängen, nach denen die Vorstellungen verbunden werden. Diese Gesetze können natürlich beharren, selbst wenn sich ein großer Teil des Wortschatzes verändert hat. So läßt das Judendeutsch auch da, wo es alle hebräischen Wortabkömmlinge abgestreift hat, und wo die, die es reden, vielleicht keines einzigen hebräischen Wortes mehr kundig sind, dennoch in Satzkonstruktion und Rhythmus deut- lich den Einfluß der hebräischen Sprache erkennen.

Ahnlich ist das Lautmaterial, aus dem die Wörter einer Sprache bestehen, sehr viel beharrlicher und widerstandsfähiger gegen in- dividuelle Einflüsse als der Wortvorrat. Dies gibt sich daran zu er- kennen, daß nicht bloß bei der Übertragung einzelner Lehnwörter, sondern auch bei der Aufnahme ganzer Wortverbindungen und bei der Entstehung wirklicher Sprachmischungen nicht der Laut- bestand der aufnehmenden, sondern der der aufgenom- menen Sprache die wesentlichsten Veränderungen erfährt. Das Lehnwort wird durch Laut Vertretungen und Lautangleichungen, aufgenommene Phrasen werden außerdem durch Einschiebung ge- läufiger Wortbildungen aus der eigenen Sprache assimiliert. Dabei ist es augenfällig, daß im geraden Gegensatz zu der Aufnahme der begrifflichen Seite des Wortvorrats diese lautliche Umbildung um so eingreifender, die Aneignung also um so vollständiger zu sein pflegt, auf einer je niedrigeren Kulturstufe sich die aufnehmende Sprach- gemeinschaft befindet. So erfahren die Wörter europäischer Sprachen die stärksten Umwandlungen, wenn sie in die Sprachen der Natur- völker übergehen^). Diese Umwandlungen sind denen der kindlichen Sprache insofern ähnlich, als die Assimilation des Dargebotenen an das eigene Lautmaterial in beiden Fällen eine möglichst vollstän- dige ist. Hierin liegt zugleich die Erklärung für jenen überwiegenden Einfluß, den bei der Sprachmischung die primitivere Rasse auf das Lautmaterial der Sprache ausübt. Dieses Übergewicht beruht hier

1) Vgl. Beispiele aus dem kreolischen Romanisch bei Schuchardt, Gröbers Zeitschrift, XII, S. 245 ff., XIII, S. 467 ff., dazu die Lautumwandlungen der Kindersprache, oben Kap. III, S. 314 ff.

Sprachmischungen und Mischsprachen. 407

nicht sowohl auf einer positiven Einwirkung, als auf dem Unver- mögen, den neu sich darbietenden Lautgebilden die eigenen Artiku- lationsbewegungen anzupassen.

Abweichend von diesen Erscheinungen bei der Mischung fremder Sprachen verhalten sich in mancher Beziehung die allmählichen Über- tragungen und Ausgleichungen, die man da beobachtet, wo Dialekte einer und derselben Sprache miteinander in Berührung treten. Diese Vorgänge sind deshalb von besonderem Interesse, weil sich dabei in gewissem Grad unter unsern Augen Ereignisse vollziehen, die zweifellos bei allen allmählich imd stetig geschehenden Laut- änderungen der Sprache wirksam sind. So beobachtet man, daß inner- halb eines Bezirks mit kleineren dialektischen Abweichungen die größeren Städte die ländliche Bevölkerung, aus der sie namentlich die jugendlichen, neuen Eindrücken zugänglichsten Lebensalter an- ziehen, auch in der Sprache allmählich sich angleichen. Mit städtischen Lebensanschauungen und Sitten bringt der Dienstbote und Fabrik- arbeiter die städtische Sprechweise in seine alte Heimat mit^). Noch schärfer prägen sich diese Erscheinungen da aus, wo abweichendere Dialekte aneinander grenzen. Auch in diesem Fall pflegt die An- gleichung die Regel einzuhalten, daß die in Wirtschaft und Verkehr zurückstehenden Gebiete vorwiegend von den fortgeschritteneren beeinflußt werden. Dabei schreitet sie in bestimmten Stadien vor, indem sie von solchen Lautgebilden ausgeht, die in den häufiger ge- brauchten Wörtern vorkommen, um von da aus langsamer auf die Gesamtheit der Laute überzugreifen^). In beiden Fällen ist es die jüngere Generation, bei welcher die Veränderung beginnt. Zunächst ist es wahrscheinlich das fortgeschrittenere Jugendalter, das fremde Laute und Worte in die Heimat einführt. Dann ist es das Kindes- alter in dem Stadium der sich vollendenden Aneignung der Sprache, das die Neuerungen bereitwillig aufnimmt, während die Generation der Alten auch hier noch an dem Überkommenen festhält. So ent-

1) Vgl. einige Beispiele aus deutschem Sprachgebiet bei Otto Bremer, Deutsche Phonetik, 1893, Vorwort S. X.

2) Rousselot, Les modifications phon^tiques du langage etc., p. 147 ff., 348.

408 Der Lautwandel.

springt dieser Einfluß der jüngeren Generation wohl aus zwei inein- ander greifenden Momenten: aus dem lebhafteren Verkehr, der die reifere Jugend beeinflußt, und aus der größeren Anpassungsfähig- keit der Sprachorgane, an der mit dieser in noch höherem Maße das Kindesalter teilnimmt. In einzelnen dieser Erscheinungen hat man eine Stütze für die Annahme eines individuellen und zufälligen Ur- sprungs solcher Veränderungen gesehen. Der ländliche Arbeiter bringe etwa eine neue Aussprache aus der Stadt in seine Dorfgemeinde, weil ihm jene als die vornehmere erscheine. Nun soll gewiß nicht geleugnet werden, daß gelegentlich einmal etwas Derartiges vorkommt. Aber diese singulären Fälle willkürlicher Nachahmung sind offenbar auf die regelmäßigen Erscheinungen der Ausbreitung und Angleichung der Lautformen im wesentlichen ohne Einfluß. Der individuelle Fall verschwindet wirkungslos, wenn er einem weiter verbreiteten Vor- gang sich einreiht. (Vgl. oben Einl. S. 22 ff.) So können wohl auch einmal Sprachfehler Einzelner nachgeahmt werden. Doch der Zwang, den sie den Sprachorganen aufnötigen, läßt sie bald spurlos wieder verschwinden. Die dauernden Wandlungen der Laute verbreiten sich aber unwillkürlich, und ohne daß die Beteiligten selbst davon ein deutliches Bewußtsein besitzen, indem ihnen, im Gegensatze zu jenen gezwungenen Nachahmungen, die Artikulation willig entgegen- kommt. Dafür spricht denn auch, daß das Jünglingsalter bei der ersten Aufnahme des Fremden, dagegen das frühere Kindesalter bei der weiteren Ausbreitung die Hauptrolle spielt. Der individuelle Einfluß gewinnt eben dann erst die zureichende Macht zur Hervor- bringung allgemeiner Veränderungen, wenn er durch die unabhängige Wiederholung in zahlreichen Einzelfällen zu einem generellen wird, und namentlich dann, wenn ihm in der Bevölkerung selbst schon allgemeine Anlagen förderlich sind. Die Träger dieser Anlagen sind aber vornehmlich die Angehörigen der neuen Generation mit ihren bildsameren Organen und ihrer höheren Rezeptivität für neue Ein- drücke^).

1) Auch Rousselot (a. a. O., p. 350, 352) betont diese generelle Natur der sprachlichen Veränderungen. Wenn freilich seine Vergleichung des Vorgangs mit der Ausbreitung einer Epidemie zu der äußerst problematischen Hypothese

Sprachmischungen und Mischsprachen. 409

Bei allen jenen Lautänderungen, die im Gefolge der Spracli- Tind Dialektmischung eintreten, sind übrigens sichtlich zwei phy- siologische Momente wirksam: ein akustisches und ein motorisches. Beide sind infolge der unmittelbaren Verbindung der Sprachlaute und Artikulationsempfindungen fest assoziiert. Das fremde Wort wird zunächst als Lautbild geläufigen Lauten der eigenen Sprache angeglichen, wobei die Veränderung, die es erfährt, mit dem Abstand der abweichenden Artikulationsgewohnheiten zunimmt. Dieser Um- bildung des akustischen Eindrucks entsprechend werden dann bei der Übertragung des gehörten Lautes in eigene Sprachbewegungen diese noch einmal im Sinne der eingeübten Bewegungsformen ver- schoben. Darum pflegt beim Nachsprechen eines Fremdworts dem Radebrechenden selbst die Abweichung seiner Aussprache nicht ganz zu entgehen; aber er hält doch seine Aussprache da schon für richtig, wo sie dies in Wahrheit noch lange nicht ist. Worte, die ein Mensch nicht korrekt aussprechen kann, vermag er wegen der mangelhaften Wirkung der Artikulationsempfindung innerhalb der Wortkompli- kation auch nicht richtig zu hören ^). Er überträgt sie daher in die nach Laut und Bewegungsempfindung nächsten aus dem ihm geläu- figen Vorrat, wobei jedoch immerhin der gehörte Laut eine gewisse Wirkung im Sinne seiner ursprünglichen Artikulationsweise ausübt. WT'as die Art unterscheidet, in der der Gebildete und der Mann aus dem Volk ein ihm neues Fremdwort nachspricht, das ist darum vor allem die durch die mannigfaltigere Übung gesteigerte Fähigkeit des ersteren, jener von dem gehörten Laut ausgeübten Wirkung nach- zugeben und auf diese Weise akustisch wie motorisch Sprachlaute zu reproduzieren, die ursprünglich außerhalb des Umfangs der ihm gewohnten Artikulationen lagen. Ebenso ist dann wieder vermöge

einer mehr oder weniger plötzlich eintretenden Blutänderung führt, die das pneumogastrische Nervensystem affiziere, für die er die geringe Wider- standskraft des Kindesalters gegen das Neue geltend macht, so ist er, wie ich glaube, hier an den näherliegenden psychophysischen Bedingungen vorüber- gegangen.

^) Vgl. die Parallelerscheinungen aus der Kindersprache, Kap. III, :S. 315 ff.

410 Der Lautwandel.

der oben erörterten Bedingungen durchweg bei der jüngeren Gene- ration die Anpassungsfähigkeit größer als bei der älteren. Wo wirk- licbe Sprachmiscliungen eintreten, wie in den Grenzgebieten ver- schiedener Nationen, teilt sich dann diese Erweiterung des Laut- und Artikulationsumfangs größeren Kreisen der Bevölkerung mit. Die Macht der ursprünglich eingeübten Bewegungsformen ist aber auch in solchen Fällen noch daran zu erkennen, daß der Lautcharakter der aufgenommenen fremden Sprache dann am wenigsten gefälscht wird, wenn sie ausschließlich zur Anwendung kommt. Hier greift dann die für den Wortschatz geltende Regel, daß die aufgenommene Fremdsprache unverändert bleibt, mit einer gewissen Annäherung, wenngleich nicht im selben Maß, auch für die Sprachlaute Platz, Dies trifft aber für die ursprüngliche Muttersprache nicht mehr zu, sondern während diese durch aufgenommene Fremdwörter verun- staltet wird, gleichen sich die letzteren zugleich dem Lautcharakter der Muttersprache an. So kann man beobachten, daß die Elsässer und die gleich ihnen in manchen Kantonen stark von der franzö- sischen Sprache beeinflußten Schweizer das Französische auf zwei verschiedene Arten aussprechen, die namentlich bei Ungebildeteren sehr beträchtlich abweichen können: als ein erträglich reines Fran- zösisch, wenn sie sich französisch unterhalten, und als ein sehr stark durch das Alemannische lautlich verderbtes Französisch in den ein- zelnen französischen Wörtern und Phrasen, die sie in ihre deutsche Unterhaltung einstreuen. Ahnlich verhält es sich mit den Deutsch- amerikanern, wo sie in größeren Mengen zusammen wohnen. Neben einem verhältnismäßig reinen Englisch herrscht bei ihnen ein Deutsch, das durch zahlreiche englische Wörter verunstaltet ist; diese eng- lischen Wörter sind aber dialektisch gänzlich verderbt.

Zum Teil erklärt sich diese Erscheinung wohl daraus, daß ver- schiedene Sprachen abweichende Konfigurationen der Sprachwerk- zeuge erfordern, die in dem Fluß der Rede nicht plötzlich gegeneinander ausgewechselt werden können. Im weiteren Verlauf wirkt aber wohl noch mit, daß eine solche Mischsprache ein Idiom für sich ist, das nicht bloß als Ganzes, sondern in allen seinen Bestandteilen von der an- geeigneten fremden Sprache unterschieden wird. Das scheinbar gleiche und nur lautlich abweichende Wort in beiden Sprachen ist

Grundformen des generellen Lautwandels. 411

daher in Wahrheit dennoch nicht völlig das gleiche Wort. Wesent- liche Bedingung für den Eintritt aller dieser Erscheinungen bleibt es aber stets, daß der eindringenden fremden Sprache eine einiger- maßen geschlossene Gemeinschaft oder mindestens eine größere Zahl von Individuen, die durch Verkehr und gemeinsame Sprache zu- sammengehalten werden, gegenübersteht^).

Auch diese Tatsachen lehren, daß der allgemeine Lautcharakter einer Sprache eine verhältnismäßig stabile, viel weniger individuell bestimmte Eigenschaft ist als ihr begrifflicher Wortvorrat. Mag der Einzelne unter günstigen Umständen durch Worte und selbst Satz- wendungen die Sprache dauernd beeinflussen, dem überlieferten Laut- bestand gegenüber ist das Individuum in der Regel machtlos. Im engsten Kreise kann es wohl durch seine Sprechweise auf andere ein- wirken. Solche Einflüsse äußern aber nur dann dauernde Wirkungen, wenn sie in einer großen Zahl weiterer Individuen der gleichen Ab- änderungsrichtung begegnen, wenn sich also das Individuelle durch vielfache Wiederholung der gleichen Bedingungen von selbst zum Generellen erweitert.

5. Grundformen des generellen Lautwandels.

Von zwei verschiedenen Gesichtspunkten kann man bei dem Ver- such einer Klassifikation der Erscheinungen des Lautwandels aus- gehen: von einem ,, logischen" und einem „psychophysischen". Vom

1) Als Beispiel der obenerwähnten Wü-kung auf die assimilierten fremden Elemente mögen die folgenden Sätze aus dem ,,Pennsylvania-Dutch" dienen, die ich einer von M. Grünbaum (Mischsprachen und Sprachmischungen, Vir- chows und Holtzendorffs Vorträge, 1886, S. 42) mitgeteilten Geschäftsreklame einer pennsylvanischen Zeitung entnehme. Die zugrunde liegende Muttersprache ist der Pfälzer Dialekt, der in seinem Lautcharakter vollständig erhalten geblieben ist und diesen den aufgenommenen englischen Wörtern mitgeteilt hat. ,,Sagt der Pit (Peter): wann sei Lebtag Leut mich geplihst (to please) han, so warens de zweh Deutsche . . . Do hab ich mir von denne a Suht (suite) kaft, un nau (now) fihl ich mich so stolz wie e General . . . Well, loß der Stiem raus (let the steam out), do muß ich anne . . . wir sind determt (determined) Bissness (business) zu tun."

412 Der Lautwandel,

logischen Standpunkt aus ist es lediglich der Geltungsbereich der die einzelnen Erscheinungen beherrschenden Lautgesetze, ohne jede Rücksicht auf den eigentümlichen Inhalt derselben, der für die Gruppie- rung der Tatsachen in Betracht kommt. Neben diesem Umfang der Gültigkeit kann außerdem noch die Eigenschaft bestimmter Gleich- förmigkeiten des Geschehens, daß sie stets miteinander verbunden vorkommen, als ein formales Merkmal angesehen werden, so daß also z. B., wenn innerhalb eines Sprachgebiets der Übergang der Aspirata in die Media und derjenige der Media in die Tenuis sich begleitende Veränderungen sind, diese letzteren als der Inhalt eines allgemeineren Lautgesetzes gelten. Nun kann es, wie oben bemerkt wurde (S. 373), ,, ausnahmslose Lautgesetze" höchstens dann geben, wenn die Kon- kurrenz mit andern Gesetzen nicht verändernd einwirkt. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß es sich dabei in der Regel um ge- wisse Grenzfälle handeln wird, bei denen zu irgendwelchen Ursachen bestimmter Lautänderungen spezielle Bedingungen hinzutreten, welche die Wirksamkeit konkurrierender Ursachen ausschließen. So kommt es, daß diejenigen Lautgesetze, die eine solche Ausnahms- losigkeit für sich in Anspruch nehmen können, meist nicht allgemeinster, sondern umgekehrt speziellster Art sind, und daß sie, wenn man ihnen eine allgemeine Formulierung zu geben sucht, nicht selten den Charakter von Regeln mit Ausnahmen oder sogar von Ausnahmen zu allgemeineren Regeln annehmen^). Wohl aber gibt es Lautgesetze, die gegenüber andern in doppelter Beziehung eine ausgezeichnete Stellung einnehmen : erstens insofern die einzelnen Tatsachen, die unter sie gehören, an Zahl besonders groß sind, und zweitens insofern, als sie eine unge- wöhnlich große Menge regelmäßig koexistierender Vorgänge um- fassen. Wir wollen den durch diese beiden Eigenschaften formal aus- gezeichneten Lautwandel der regulären, und die für ihn geltenden

1) Dahin gehören z. B. die von Delbrück (Grundfragen der Sprachforschung, 8. 102) angeführten Fälle „ausnahmsloser Lautgesetze'*, daß im Griechischen am Ende des Wortes t und d abfallen und m in n übergeht (z. B. fiiki aus *(X6Xit, vgl. Gen. fisXiT-og, &kXo6 aus *aAAo = lat. aliud, "rniov lat. equum), Beispiele, wo eben die ausschließlich für das Ende des Wortes geltende Erscheinung das sogenannte Gesetz sofort als eine Ausnahme zu der sonst bestehenden Kon- stanz jener Laute kennzeichnet.

Grundformen des generellen Lautwandels. 413

empirischen Gesetze die „regulären Lautgesetze" nennen. Alle die- jenigen Veränderungen, die nur einzelne Tatsachen der Lautgeschichte oder beschränkte Gruppen solcher umfassen, und bei denen die regel- mäßig begleitenden Veränderungen fehlen oder ebenfalls von be- schränktem Umfange sind, wird man dann als singulären Laut- wandel bezeichnen können.

Nach dem zweiten, dem psychophysischen Gesichtspunkte zerfallen die Erscheinungen des Lautwandels gemäß den Bedingungen ihrer individuellen Entstehung in Formen stetiger und in solche sprungweiser Änderungen. Hierbei sind aber diese zeitlichen Ver- schiedenheiten nur äußere Symptome innerer Unterschiede. Phy- siologisch können nämlich die stetigen Lautänderungen nur zwischen Lauten von verwandter Artikulationsform vor sich gehen, die sich nach den früher (S. 389) erwähnten vier Richtungen des Artikulations- raumes, der Lautdauer, der Tonhöhe und der Lautstärke verändern. Der sprunghafte Lautwechsel dagegen vollzieht sich zwischen allen möglichen an sich völlig unverwandten Lauten, und es ist bei ihm nur die allgemeine Veränderung der Artikulationsform von Bedeutung. Psychophysisch beruht demnach der stetige Lautwandel im all- gemeinen auf stetig vor sich gehenden Veränderungen der psycho- physischen Organisation, da nur dann die Veränderungen selbst mehr oder weniger stetig erfolgen können. Außerdem kann aber bei ihnen, wie wir voraussetzen dürfen, die Komplikation der Bedingungen eine größere sein, da stetige Änderungen überall leichter und darum unter mannigfaltigeren Einflüssen eintreten können als plötzliche. Darum kann auch leicht über ihre wirklichen Ursachen größere Un- sicherheit herrschen. Dem gegenüber werden sich die springenden Lautänderungen zwar ebenfalls nur allmählich über eine redende Ge- meinschaft ausbreiten. Da sie aber von dem individuellen Sprach- organ jedesmal plötzlich vollzogen werden müssen, so ist hier der Um- fang der stattfindenden Abweichung größer und augenfälliger, während zugleich ihre Bedingungen zumeist die Veränderungen enger begrenzen. Diese Bedingungen bestehen in der Tat durchweg in einzelnen asso- ziativen Einwirkungen verschiedener Lautgebilde aufeinander. Dem- nach fällt im ganzen die psychophysische Einteilung mit der logischen in dem Sinne zusammen, daß der reguläre Lautwandel einerseits

414 Der Lautwandel.

ein stetiger und anderseits ein allgemeiner ist, wobei sich freilich sowohl die Geschwindigkeit der Veränderungen wie der Umfang des Sprachgebiets, das sie ergreifen, zwischen weiten Grenzen bewegen kann, während der singulare in den besonderen Wirkungen der Lautbestandteile einer Sprache aufeinander seine konkreten psychophysischen Ursachen hat.

Weiterhin lassen sich nun aber die Formen des singulären Lautwandels aus dem Verhältnis ableiten, in dem die soziolo- gischen zu den individuellen psychologischen Bedingungen stehen. Bezeichnen nämlich die verschiedenen Klassen der unter normalen wie abnormen Verhältnissen als individuelle Abweichungen vor- kommenden Laut- und Wortvermengungen die überhaupt möglichen Richtungen, nach denen Lautänderungen stattfinden, so sind es an- derseits soziologische Bedingungen, die gewisse Abweichungen in bestimmte Grenzen einschränken und andern einen Vorrang ver- schaffen. In erster Linie steht hier das Prinzip der Ausschaltung allzu großer Abweichungen. Es ist ein allgemein für das Verhält- nis der individuellen zu den ihnen entsprechenden generellen Verände- rungen gültiges Gesetz, das wir kurz als das der soziologischen Auslese bezeichnen können. Durch diese Auslese bleiben nament- lich die beiden ersten Arten allgemeiner Sprachfehler, die Einschal- tungen und Auslassungen von Lauten, in ihrer generellen Ver- breitung durchaus in jene Grenzen eingeschränkt, wo sie zugleich eine physiologische Erleichterung der Artikulation bewirken. Da die Motive, die zu einer solchen drängen, wiederum nahe mit allgemeinen Veränderungen zusammenhängen, so sind erleichternde ,, Dissimila- tionen" sowie die der beschleunigten Artikulation sich fügenden Laut- abschwächungen, die allmählich in eine völlige Elimination einzelner Laute übergehen können, sehr allgemeine Begleiterscheinungen des regulären Lautwandels. Eine noch größere Bedeutung besitzen so- dann die Vorausnahmen und die Nachwirkungen der Laute. Für beide gilt die in dem Prinzip der soziologischen Auslese begründete Einschränkung, daß, im Unterschiede von den weit umfangreicheren individuellen Sprachfehlern analoger Art, bei dem generellen Laut- wechsel nur benachbarte Laute solche Einflüsse äußern. Wir können daher diese Erscheinungen, die gewöhnlich ,, regressive und

Grundformen des generellen Lautwandels. 415

progressive Assimilationen" genannt werden, als assoziative Kon- taktwirkungen der Laute bezeiclinen. Das Attribut „assoziativ" weist darauf hin, daß, wie bereits die Betrachtung der entsprechenden individuellen Artikulationsfehler gezeigt hat, trotz mithelfender phy- siologischer Momente das hauptsächlich wirksame Motiv in Laut- assoziationen besteht. Solche sind endlich noch bei der letzten Gruppe von Lautänderungen anzutreffen, die den „Wortvermengungen" parallel gehen. Wir wollen sie, da in diesem Falle die Assoziationen von mehr oder minder fern liegenden Lautgebilden ausgehen, die assoziativen Fernewirkungen der Laute nennen. Bei ihnen wird, im Vergleich mit den außerordentlich mannigfaltigen indivi- duellen Sprachfehlern von gleichem psychologischem Charakter, wiederum in hohem Grade die soziologische Auslese wirksam, da hier nur gewisse oft wiederkehrende Verbindungen, die durch grammatische und begriffliche Beziehungen nahegelegt werden, einen dauernden Einfluß auf die Sprache gewinnen. Die große Mehr- zahl zufälliger individueller Entgleisungen dagegen geht spurlos an ihr vorüber.

Während die bisher unterschiedenen Lautänderungen Vorgänge sind, die sich in einer geschlossenen Sprachgemeinschaft lediglich durch die in der Sprache selbst und in den allgemeinen Kulturein- flüssen gelegenen Bedingungen vollziehen können, tritt diesen end- lich eine letzte Gruppe von Erscheinungen gegenüber, an denen sich die Einflüsse fremder Sprachgemeinschaften oder einzelner ihnen entlehnter Wortgebilde verraten. Hier müssen freilich für uns die möglicherweise sehr umfangreichen Sprachmischungen ganz außer Betracht bleiben, die, einer vorhistorischen Zeit angehörend, vielleicht für den Lautbestand der uns überlieferten ,, Ursprachen" bestimmend gewesen sind. Diese Fragen mögen noch einmal Aufgaben der prä- historischen Sprachforschung werden, der psychologischen Unter- suchung bieten sie keinerlei Angriffspunkte. Wohl aber hat diese diejenigen Sprachmischungen, die als Wirkungen des Völkerverkehrs fortwährend in die Entwicklung der Sprache eingreifen, in die bei ihnen wirksamen psychischen Vorgänge zu zerlegen. Hierher gehören die Lautveränderungen bei der Wortentlehnung. Gegenüber den die ganze Sprache umgestaltenden Sprachmischungen bilden übrigens

416 Der Lautwandel.

die Wortentlehnungen einen verhältnismäßig zurücktretenden Be- standteil der Sprachentwicklung.

Indem die hier aufgezählten Formen des Lautwandels, abge- sehen von noch spezielleren Ursachen, die sich unserer Nachweisung entziehen, sowie von den später zu erörternden Wechselwirkungen von Laut- und Bedeutungswandel, fortwährend nebeneinander auf die Sprache einwirken, ist diese von einer Fülle sich durchkreuzen- der Gesetze beherrscht, deren jedes naturgemäß nur gelten kann, wenn es nicht durch andere, im gegebenen Fall zwingendere Gesetze aufgehoben wird. Unter diesen treten zunächst die des regulären Lautwandels den mannigfachen einzelnen Kontakt- und Assoziations- wirkungen gegenüber, die wir auf singulare Lautgesetze zurückführen können. Da jene im ganzen die konstanteren, diese die variableren sind, so erklärt sich daraus hinreichend die verbreitete Vorstellung, daß der reguläre Lautwandel die eigentlichen, im engeren Sinne so zu nennenden ,, Lautgesetze" in sich schließe, deren Geltung nun in einzelnen Fällen durch spezielle Bedingungen aufgehoben oder modi- fiziert werde. Da ferner der reguläre Lautwandel, wie das seine größere Regelmäßigkeit schon mit sich bringt, im allgemeinen bei sehr wech- selnden Verbindungen der Laute vorkommen kann, so pflegt man ihn auch den ,, selbständigen" zu nennen und ihn als solchen speziell dem aus Kontaktwirkungen hervorgehenden als dem ,, abhängigen" oder ,, kombinatorischen" gegenüberzustellen. Nun ist aber klar, daß in dem verbreiteteren Vorkommen an und für sich noch keinerlei Be- weisgrund für die Annahme liegen kann, hier sei es der einzelne Laut als solcher, der eine von äußeren Bedingungen völlig unabhängige Veränderung erfahren habe, wie dies der Ausdruck ,, selbständig" andeutet. Vielmehr kann es sehr wohl sein, daß solche äußere Be- dingungen dabei nur in einer viel größeren Zahl von Fällen und unter sonst mannigfach variierenden Umständen auf den Laut eingewirkt haben. In der Tat ist ja ein im strengen Sinne ,, selbständiger" Laut- wandel schon deshalb ein Ding der Unmöglichkeit, weil der einzelne Sprachlaut kein isoliertes Gebilde, sondern ein aus dem Wortzu- sammenhang durch Abstraktion gewonnenes Element ist. Wenn aber der einzelne Laut durchweg in Verbindung mit andern Lauten steht, so kann er unmöglich von diesen Verbindungen unabhängige Ver-

Grundformen des generellen Lautwandels. 417

änderungen erfahren. In Wirkliclikeit bestätigen das auch, wie wir unten sehen werden, die Erscheinungen, indem sie zeigen, daß die sogenannten ,, Lautgesetze" selbst wiederum nur Abstraktionen aus gewissen durchschnittlichen Lautänderungen sind, die in den einzelnen Fällen durch den Zusammenhang mit andern Lauten mannigfach bedingt sind. Demnach wollen wir den Ausdruck ,, selbständiger" Lautwandel um so mehr vermeiden, weil er zwischen den beiden Klassen mehr oder minder regulärer und relativ singulärer Lautänderungen eine Kluft errichtet, die tatsächlich nirgends existiert. Indem er dazu verführt, das alte Schema der grammatischen Regel und ihrer Aus- nahmen auf die Lautgesetze zu übertragen, erweckt er überdies von vornherein die Vorstellung, die eigentlichen Lautgesetze beruhten auf spezifischen, von Kontakt- und Assoziationseinflüssen gänzlich verschiedenen Kräften. Da diese auf die einzelnen Laute selbständig wirken sollen, so liegt es dann außerdem nahe, sie wiederum auf eine einzige allgemeine Ursache zurückzuführen, über die man sich nun in mancherlei vagen Vermutungen ergeht. Natürlich sind aber alle diese Voraussetzungen von vornherein ebenso unwahrscheinlich, wie es die Annahme eines selbständigen Lautwandels überhaupt ist. Denn unter je mannigfaltigeren Bedingungen der reguläre Wechsel vor- kommt, um so wahrscheinlicher ist es, daß er sich nicht durch die Ein- fachheit, sondern umgekehrt durch die Komplikation der Ursachen unterscheidet; und bei den singulären Lautänderungen wird die Zu- rückführung auf bestimmte einzelne Bedingungen eben deshalb leichter möglich, weil hier diese von einfacherer Natur sind. Das für die nähere Untersuchung maßgebende Merkmal ist daher nicht dies, daß die regulären Lautänderungen strengeren Gesetzen folgen als die singu- lären; mindestens muß dies vorläufig ganz dahingestellt bleiben. Noch weniger ist es zulässig, von vornherein anzunehmen, beidemal seien die Erscheinungen auf wesentlich verschiedene Ursachen zurück- zuführen. Vielmehr bleibt der einzige Unterschied, den wir ohne vor- zugreifen machen dürfen, der, daß singulare Veränderungen durch- weg auf bestimmte einzelne Bedingungen zurückführbar sind, die wir entweder direkt nachweisen oder mit verhältnismäßiger Sicher- heit aus den näheren Umständen erschließen können, während sich die Ursachen des regulären Lautwandels zunächst unserem Nach-

W n n d t , Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 27

418 Der Lautwandel.

weis entzielien. Damit wird aber für die Untersuchung beider Gruppen eine Maxime maßgebend, die zu der gewöbnlich befolgten den vollen Gegensatz bildet. Während diese unter der immer noch herrschenden Vorstellung steht, der reguläre Lautwandel sei eine Art allgemein- verbindlicher Norm, der die singulären Erscheinungen infolge irgend- welcher Ausnahmebedingungen widerstreiten, haben wir hier ledig- lich der Maxime zu folgen, daß man bei einer Klasse zusammengehöriger und überall einander durchkreuzender Erscheinungen nicht vom Un- bekannteren und darum voraussichtlich Verwickelteren zum Bekann- teren und Einfacheren, sondern umgekehrt von diesem 'zu jenem über- zugehen hat. Zunächst werden daher die Fälle verhältnismäßig leicht zu durchschauender Lautänderungen zu durchforschen und damit gewisse unzweifelhaft vorhandene Ursachen des Lautwandels fest- zustellen sein, um dann erst zur Untersuchung derjenigen Erschei- nungen fortzuschreiten, bei denen dies bis dahin nicht in gleicher Weise gelungen ist. Demnach gehen wir aus von den assoziativen Kontaktwirkungen der Laute. Von ihnen führt dann die Be- trachtung naturgemäß zu solchen Veränderungen, die wir als die assoziativen Fernewirkungen der Laute zusammenfassen können. An diese schließen sich, mehr als eine besondere Gruppe denn als eine spezifische Art solcher Fernewirkungen, die vorzugsweise bei Wortentlehnungen stattfindenden Laut- und Begriffsassoziationen an. Nachdem wir durch die Betrachtung aller dieser Fälle singulären Lautwandels mit den Bedingungen vertraut geworden sind, unter denen in einzelnen, durch die Gunst der Umstände zugänglicheren Fällen Lautänderungen bedingt werden, wollen wir uns schließlich den Erscheinungen des regulären Lautwandels zuwenden, bei denen dies im allgemeinen nicht mehr zutrifft, die aber wegen ihrer weitgreifenden geschichtlichen Zusammenhänge ein besonderes Inter- esse in Anspruch nehmen.

Regressive und progressive Lautinduktion. 419

IIL Assoziative Kontaktwirkungen der Laute.

1. Regressive und progressive Lautinduktion.

Als Kontaktwirkungen sollen hier alle diejenigen Lautände- rungen bezeichnet werden, die sich unmittelbar als Folgen der Ein- wirkung eines Lautes auf einen andern, der sich in seiner Nähe, also in der Regel in unmittelbarer Wortverbindung mit ihm befindet, darstellen. Für die Kontaktwirkungen ist es demnach kennzeichnend, daß nicht bloß der Lautwandel selbst, sondern auch der ihn herbei- führende äußere Anlaß direkt unserer Beobachtung gegeben ist. Übrigens sind auch bei den Kontaktwirkungen nur die äußeren Be- dingungen der Vorgänge in gewissen die Veränderung bewirkenden Lauten der direkten Beobachtung zugänglich; auf die Gründe, aus denen ein einzelner Laut tatsächlich auf einen andern einwirkt, läßt sich erst aus der Vergleichung einer größeren Anzahl analoger Er- scheinungen und aus Beobachtungen über die bei dem Kontakt der Laute obwaltenden physischen und psychischen Bedingungen zurück- schließen.

Bezeichnen wir, nach dem Vorbilde der für gewisse physikalische und physiologische Ferne- und Nahewirkungen eingeführten Namen, denjenigen Laut, von dem eine verändernde Wirkung ausgeht, als den ,, induzierenden", den, der die Veränderung erleidet, als den ,, in- duzierten", so können nun sowohl bei unmittelbarer Berührung beider, wie bei mittelbarer, wo sich zwischen sie noch andere Lautelemente einschieben, Kontakterscheinungen stattfinden. Immer jedoch be- steht die Bedingung, daß beide Laute einander nahe genug seien, um sowohl physisch wie psychisch eine direkte Einwirkung möglich zu machen, physisch, insofern die beiden Artikulationsbewegungen einander schnell genug folgen; psychisch, insofern vorausgesetzt werden darf, daß sich beide Laute während einer gewissen Zeit zu- sammen im Bewußtsein befinden. Ferner kann die Kontaktwirkung eine einseitige sein, so daß von den zwei in Beziehung tretenden Lauten der eine der induzierende, der andere der induzierte ist; oder es kann eine Wechselwirkung vorliegen, wo dann jeder Laut induzierend und

27*

420 I^er Lautwandel.

induziert zugleich ist. Von diesen beiden mögliclien Fällen ist der erstere jedenfalls der weitaus häufigere: die Kontaktwirkungen der Laute sind in der Regel einseitiger Art.

Unter den in dem obigen Sinne zu definierenden Kontakterschei- nungen nehmen nun diejenigen die erste Stelle ein, bei denen sich die Wirkung auf die Erzeugung eines qualitativen Lautwechsels beschränkt, ohne daß Lautverlust und Einschaltung von Lauten stattfindet: die sogenannten ,, kombinatorischen Lautänderungen". Sie lassen sich in verschiedene Unterformen scheiden. Die Lautinduktion kann nämlich hier sowohl in qualitativ wie in zeitlich entgegengesetzten Richtungen stattfinden. Die qualitativen Gegensätze bestehen darin, daß der induzierende Laut entweder den induzierten sich ähn- lich, oder aber daß er ihn sich unähnlich macht, daß er also im ersten Fall eine qualitativ attrahierende, im zweiten eine abstoßende Wirkung ausübt. Dort pflegt man die Erscheinung als ,, Assimilation", hier als „Dissimilation" zu bezeichnen. In jedem dieser Fälle kann aber außerdem die zeitliche Richtung der Wirkung eine entgegen- gesetzte sein, indem ein Laut entweder auf einen ihm vorausgehenden oder auf einen ihm nachfolgenden induzierend einwirkt: im ersten Fall nennt man die Wirkung eine ,, regressive", im zweiten eine „pro- gressive". Demnach zerfallen die Erscheinungen der eigentlichen Lautinduktion in vier Formen: in eine regressive und progressive Assimilation, und in eine regressive und progressive Dissi- milation. Unter ihnen überwiegen weitaus die Assimilationen und ebenso wiederum, wenigstens in den uns näher stehenden Kultur- sprachen, die regressiven Wirkungen. Die häufigste unter den ge- nannten Erscheinungen ist daher überhaupt die ,, regressive Assimi- lation" oder diejenige Kontaktwirkung, bei der ein bestimmter Laut einen ihm in der Rede vorausgehenden in solcher Weise induziert, daß dieser ihm angeglichen wird.

Auf die abweichenden Bedingungen der regressiven und der progressiven Assimilation weist nun schon die Tatsache hin, daß jede in der Regel auf Laute von verschiedenem Klangcharakter ihre Wirkungen ausübt. Bei der gewöhnlichen „regressiven Assi- milation" gehören die aufeinander einwirkenden Laute am häufigsten der Klasse der konsonantischen Geräuschlaute an; der ,, progressiven.

Regressive und progressive Lautinduktion. 421

Assimilation" unterliegen öfter die Vokale und die Halbvokale. Wo die Vokale überhaupt eine assimilierende Wirkung äußern, sei es eine regressive oder progressive, da geschieht dies außerdem niemals in unmittelbarer Berührung, wie zumeist bei den Konsonanten, sondern über zwischenliegende Konsonanten hinweg. So gehören zu den ge- wöhnlichsten regressiven Assimilationen Übergänge wie adsimilare in assimilare, adferre in afferre, adgredi in aggredi, adtrahere in attra- here, conligere in colligere usw., ferner von agnus in angnus, supmus in summus, sedla in sella, oder im Italienischen fiotto aus lat. fluctus, fatto aus f actus, im Deutschen hatte aus habte, empfangen, empfinden aus entfangen, entfinden, griech. e/ußdllco aus evßdlXco, elleino) aus evlelmo usw. Die Kontaktwirkung besteht hier teils in einer völligen, teils in einer bloß partiellen Angleichung, in einer Annäherung der Artikulation des vorangehenden an den nachfolgenden induzieren- den Laut: erster es z. B. in supmus summus, adsimilare assimilare, habte hatte, letzteres in agnus angnus, entfangen empfangen, h'ßalloj ifißdllco. Viel seltener ist die progressive Assimilation konsonantischer Laute, wie in klimmen aus Mimben, lat. forfex aus forpex, Vulva aus vulba u. a., Fälle, die zugleich an Erscheinungen der Dissimilation, der Elision und der Umstellung der Laute, mit denen sie im Erfolg zusammentreffen, nahe angrenzen^). Umgekehrt ist die vokalische Assimilation in regressiver Richtung eine verhält- nismäßig seltene Erscheinung. Doch gehören hierher wahrscheinlich Fälle wie im lat. similis (simul), facilis (facultas), wo die adjektivische Endung auf den Stammvokal zurückgewirkt zu haben scheint, femer der Umlaut im Deutschen, wie der Übergang von ahd. gasti in gesti, mhd. geste ,, Gäste", fallit in fellit ,, fällt", handi in hendi „Hände", brüt in plur. bruiti ,, Bräute" usw., in welchen Fällen wieder in der Regel eine bloße Annäherung des vorausgehenden an den nachfolgen-

1) Eine systematische Übersicht über alle diese, hier nicht näher zu er- örternden, aber in den wesentlichen Motiven mit den Formen der Assimilation und Dissimilation übereinstimmenden Erscheinungen für das indogermanische Gebiet gibt Brugmann, Kurze vergl. Grammatik, S. 225 ff., für die romanischen Sprachen Meyer-Lübke, Gramm, der romanischen Sprachen, Bd. 1, S. 315 ff. Vgl. auch E. Wechssler, Gibt es Lautgesetze ? S. 140 ff.

422 Der Lautwandel.

den Vokal, keine völlige Angleichung zu beobacliten ist. Um so häu- figer ist progressive Assimilation der Vokale. So lat. fulguris aus ^fuLgoris (vgl. temporis), aM. hohona aus Jiöhana „von oben". Vor allem aber geboren hierher die Erscheinungen der sogenannten ,, Vo- kalharmonie" in den ural-altaischen, den malaiischen und polyne- sischen Sprachen. In den beiden letzteren Sprachgruppen hängt dieselbe mit den hier außerordentlich verbreiteten Verdoppelungs- erscheinungen zusammen, die es bewirkt haben, daß viele Wörter dieser Sprachen überhaupt nur noch als Verdoppelungsformen vor- kommen. Da man in solchen Fällen meist annehmen darf, daß die einfache Form die ursprüngliche sei, so kann diese dann zugleich als der induzierende Laut betrachtet werden; und da die Betonung auf dem inlautenden Vokal liegt, so sind hier wahrscheinlich ähnliche assi- milierende Bedingungen wie bei der eigentlichen Assimilation wenigstens von mitbestimmender Wirkung. In der Tat zeigen diese Sprachen auch da, wo keine eigentliche Wiederholung vorliegt, eine große Neigung zur Bildung zweisilbiger Wörter mit gleichen, durch einen konso- nantischen Laut getrennten Vokalen. Noch charakteristischer äußert sich die progressive Vokalassimilation in den uralischen und altaischen Wortbildungen, wo dasselbe Suffix in seinen übrigen Bestandteilen konstant zu bleiben, in seinen vokalischen Elementen aber derart zu variieren pflegt, daß diese jedesmal dem vokalischen Inlaut des vorangehenden Wortstamms angeglichen sind. So heißt im Jakutischen aga-lar Väter, äsä-lär Bären, ogo-lor Kinder, ebenso aga-ttan vom Vater, äsä-ttän vom Bären, ogo-tton vom Kinde. Ähnlich im Türkischen sev-mek lieben, hak-mah erblicken, mä-niäk kennen usw.

Gegenüber diesen mannigfaltig variierenden Vorgängen der Assi- milation ist die Dissimilation die weit seltenere Erscheinung. Aus- schließlich von konsonantischen Lauten als induzierenden Elementen ausgehend, erstrecken sich ihre Wirkungen in der Regel ebenfalls auf solche; doch können auch Vokale, die zwischen Konsonanten ein- geschaltet werden, als Erzeugnisse der Dissimilation vorkommen. Die regressive Richtung der Wirkung ist wieder die vorwaltende, ohne daß die progressive ganz fehlt. In beiden Formen scheint die Dissimilation auf den älteren Entwicklungsstufen der indogermanischen

Regressive und progressive Lautinduktien. 423

Sprachen allgemeiner gewesen zu sein, was zumeist wohl mit dem häufigeren Vorkommen der eine solche besonders leicht veranlassen- den echten Aspiraten zusammenhängt. Denn im Sanskrit und Grie- chischen werden die verbreitetsten dieser Erscheinungen durch das von Graßmann aufgestellte „Gesetz der Hauchdissimilation" beherrscht: ,,Wenn in zwei Konsonantengruppen eines Wortes, die durch einen Vokal getrennt sind, Aspiraten vorkommen, so wird eine derselben, in der Kegel die erste, ihrer Hauchung beraubt''^). So hat sich durch regressive Dissimilation ein idg. "^dhidheti in skr. dadhäti, gr. rld-i^Gi, "^O^Qecpco in rgecpiu, ^O^Qixog (^(>*^) in tqixoq umgewandelt. Der Effekt bleibt derselbe, wenn bei der Wiederholung gleicher Laute der vorangehende in eine andere, verwandte Lautgruppe überspringt, wie beim Übergang von gr. d^rjQr]Tr]Q in ^i^lrjTJ^o, vagva^ in Xdgva'^, lat. peregrinus in ital. pellegrino, venenum in veleno, arhor in albero u. a.^). Progressive Dissimilationen kommen vereinzelt im Lateinischen sowie in modernen Sprachen, in den letzteren namentlich bei der Aufnahme von Fremdwörtern vor. So schwankt die Endung des lateinischen Adjektivs zwischen -alis und -aris: die im einzelnen Falle übliche Form ist aber in der Regel von der dissimilierenden Wirkung des vorausgehenden Stammkonsonanten abhängig. Demnach stehen sich einerseits pluralis, ruralis, muralis, anderseits singularis, solaris, cappillaris u. a. gegenüber^). Progressive Dissimilationen bei der Aufnahme von Fremdwörtern sind engl, turtle aus turtur, engl, purple aus purpura, marble aus marmor u. a.

Mit der Assimilation und Dissimilation stehen endlich noch ge- wisse andere Veränderungen der Lautgestalt der Wörter, nämlich die Weglassung und Zufügung, die Umstellung und Zusammenziehung von Lauten, in naher Beziehung. Unter ihnen sind Weglassung, Um- stellung imd Zusammenziehung offenbar der Assimilation, und zwar speziell der regressiven, verwandt. Denn der nämliche Zusammen-

1) Graßmann, Kuhns Zeitschr. für vergl. Sprachw. XII, 1863, S. 110 f.

2) Brugmann, Kurze vergl. Grammatik der indogerm. Sprachen, 1902, S. 39 ff. M. Grammont, La dissimilation consonnantique (Thöse de Paris), 1895.

3) Pott, Etymologische Forschungen, 2 II, S. 96.

424 Der Lautwandel.

hang der Rede, der auf einen gegebenen Laut einen nachfolgenden einwirken läßt, wird natürlich auch die Ausstoßung der zwischen beiden vorhandenen Lautelemente bewirken können, wobei es dann, da das einzelne Wort nicht für sich allein steht, gleichgültig ist, ob die ausgestoßenen Teile dem Inlaut oder dem An- oder Auslaut an- gehören (Elision, Aphäresis und Apokope der Grammatiker). So ist lat. ne-unquam, in nunquam, ante-ea in antea, griech. yevsQog in yeveog, xaglerat in xagLeoi, im Deutschen tadelen in tadeln, weralt in werlt, Welt, oder lat. gnotus in notus, historia in ital. storia, griech. ytQOVT (Vokativ) in yegov , deutsch herriro in herro, herre, Herr, und ime, ire in ihm, ihr übergegangen usw. Ähnlich beruht die Umstellung (Metathesis) auf der Antizipation eines folgenden Lautes, die der bei der regressiven Assimilation beobachteten analog ist imd sich nur durch ihre in den sonst abweichenden Bedingungen begründete Form der Wirkung unterscheidet: so in den Doppelformen y-aQTSQog und y.QareQog, deutsch Born und Bronn ,, Brunnen", ital. formento aus lat. frumentum, roman. por, pour aus lat. pro. Als eine Assimilation und Elision zugleich läßt sich schließlich die Zusammenziehung be- trachten, wie rovvofxa. aus ib ovof.ia, nörunt für noverunt usw. Da- gegen ist die Zufügung von Lauten nur eine modifizierte Dissimi- lation: so der Übergang von griech. 'ÄaKXr]7Ti6g in lat. Aesculapius, femer die Bildung der Formen promptus, sumptus für promtus, sumtus usw. Endlich kann auch die Elision gleichzeitig die Bedeutung einer Dissimilation besitzen : so beim Übergang von gr. cpQarQia in (pargia, von afu(pig)0Q6vg in ai^icpoQEvg, wo eben durch den Wegfall der Laut- wiederholung die dissimila torische Wirkung erzielt wird.

2. Theorie der Kontaktwirkungen.

a. Ästhetische, teleologische und psychologische

Deutungen.

So klar bei allen diesen Erscheinungen, bei der Assimilation, der Dissimilation und den ihnen verwandten Vorgängen der Aus- schaltung, Umstellung, Kontraktion und Einfügung von Lauten die

Theorie der Kontaktwirkungen. 425

äußeren Bedingungen der Lautänderungen in Gestalt bestimmter, unmittelbar sich berührender oder benachbarter Laute vor Augen liegen, so wenig hat man sich bis dahin über die inneren, physiolo- gischen oder psychologischen Ursachen dieser Erscheinungen einigen können. Die alten Grammatiker sahen den Wohllaut für den treiben- den Grund an, und noch heute ist diese Meinung nicht ganz verschwun- den, indem man euphonischen oder allgemeiner ausgedrückt ästhe- tischen Motiven wenigstens eine mitwirkende Bedeutung zugesteht^). Diese Annahme ist aber nach allem, was oben über die Bedingungen des Lautwandels überhaupt bemerkt wurde, unzulässig (S. 376 ff.). Sie ist dies nicht deshalb, weil nicht in der Tat Sprachlaute mehr oder minder wohlgefällige Klang Verbindungen bilden können, son- dern weil dies eine von Bedingungen objektiver wie subjektiver Art abhängige Nebenwirkung, kaum jemals die Ursache des Lautwechsels selbst ist.

Noch länger als die ästhetische hat sich die teleologische Auf- fassung in der Form der ,, Bequemlichkeitstheorie" erhalten 2). Was oben im allgemeinen von ihrer Anwendung' auf die Erscheinungen des Lautwandels gesagt wurde, gilt auch hier (S. 377 ff.). Daß die meisten Assimilationen und Dissimilationen eine gewisse ,, Erleichte- rung der Artikulation" mit sich führen, ist unbestreitbar. Der Fehler liegt nur darin, daß man diesen Erfolg wieder zur Ursache macht, was er unmöglich sein kann, da der ,, Bequemlichkeitstrieb" kein psychisches Motiv ist, das wir als solches bei den sprachlichen Vor- gängen eine Rolle spielen sehen. Entscheidend sind hier vor allem die diesen generellen analogen individuellen Kontaktwirkungen, die uns bei den Erscheinungen des sogenannten ,, Versprechens" ent- gegentreten, und die, vollkommen unwillkürlich sich einstellend, von dem Sprechenden entweder erst nachträglich oder überhaupt nicht bemerkt werden (S. 390 ff.). Sind diese Erscheinungen Wir- kungen eines psychophysischen Mechanismus, bei dem von zweck- tätigem Handeln nicht die Rede sein kann, so muß das aber auch

1) Vgl. z. B. W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, ^ S. 36.

2) Vgl. z. B. G. V. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, 1891, S. 203 ff.

426 Der Lautwandel.

von dem „kombinatorischen Lautwandel" der Sprache gelten, der, abgesehen davon, daß er ein genereller ist, offenbar in seinen Ent- stehungsbedingungen mit jenen individuellen Erscheinungen zu- sammenfällt. Zudem weist unter den Tatsachen der sprachlichen Kontaktwirkungen selbst schon das auffallende Übergewicht der regressiven Assimilation oder Dissimilation in den uns bekannten Kultursprachen auf solche absichtslos und unbewußt wirkende Be- dingungen hin. Denn hier liegt es überaus nahe, sich der Tatsache zu erinnern, daß der Fluß unserer Gedanken meist dem Fluß unserer Worte vorauseilt. Es leuchtet aber ein, daß infolgedessen eine Artiku- lationsbewegung bereits ausgeführt oder wenigstens vorbereitet wer- den kann, ehe sie eigentlich an der Reihe ist-^).

Da nun das gleiche Prinzip auf die progressive Assimilation und Dissimilation offenbar keine Anwendung finden kann, so griff Stein- thal diesen scheinbaren Gegensatz der Erscheinungen auf, indem er ihn unmittelbar auf einen Gegensatz der Bedingungen selbst bezog. War es ihm auf der einen Seite unzweifelhaft, daß die regressiven Kontaktwirkungen auf dem der Lautbewegung vorauseilenden Fluß der Vorstellungen, also auf einer psychischen Ursache beruhten, so glaubte er umgekehrt schließen zu dürfen, bei allen progressiven sei eine bloß physische Abhängigkeit anzunehmen. Demnach unterschied er zwischen psychisch und physisch bedingten Vorgängen der Lautattraktion. Jenen wies er die regressiven, diesen die progressiven Wirkungen zu. Indirekt machte er für die letzteren freilich ebenfalls psychische Motive insofern verantwortlich, als er, der hergebrachten „Bequemlichkeitstheorie" sich anschließend, ,,Eile, Nachlässigkeit und Schlaffheit" als ihre wesentlichsten Ursachen betrachtete^).

^) Der erste, der in diesem Sinne die regressive Assimilation aufgefaßt hat, scheint, nach einer Bemerkung W. Scherers, Th. Jacobi gewesen zu sein (Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 35). Wie sehr er sich aber dabei den Vorgang als einen rein psychischen, nicht als einen psycho -physischen denkt, erhellt daraus, daß er ihn als eine „Antizipation des Ableitungs- oder Endvokals in der Vorstellung" bezeichnet.

2) Steinthal, Zeitschr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, I, 1860, S. 93 ff. Vgl. bes. S. 125 f.

Theorie der Kontakt Wirkungen. 427

Übrigens scheinen diese Annahmen noch gegenwärtig weit verbreitet zu sein^).

Gleichwohl läßt sich eine solche Gegenüberstellung psychisch und physisch bedingter Lautänderungen nicht aufrechterhalten. Gerade hier sind die normalen und pathologischen ,,Lautvermen- gungen", bei denen wir uns in der günstigen Lage befinden, analoge Erscheinungen in ihrer individuellen Entstehung verfolgen zu können, entscheidende Belege für eine andere Auffassung (vgl. oben S. 393 ff.). Nach den dort gewonnenen Ergebnissen bildet nämlich nicht nur der dem gesprochenen Wort vorauseilende Verlauf der Vorstellungen ein wesentliches Moment bei der Antizipation von Lauten, sondern auch dem umgekehrten Vorgang, der Einwirkung vorausgehender auf nachfolgende Laute, liegt nicht minder ein psychisches Moment, eine Nachwirkung des vorangegangenen Klanges im Bewußtsein, zugrunde. Ganz besonders die auffallenden Steigerungen dieser Nach- wirkung, wie sie in pathologischen Fällen vorkommen, bilden hierfür überzeugende Belege. Freilich ist im normalen Bewußtsein der Kul- turvölker der vorwärts gerichtete Drang der Vorstellungen über- wiegend, und die Nachwirkungen verschwinden hier, wenigstens beim erwachsenen Menschen, verhältnismäßig rasch. Beim Kinde aber dauern sie weit länger an, wie das starke Übergewicht progressiver Lautangleichungen in der Kindersprache zeigt (S. 318). Nicht bloß bei den beiden Formen der Assimilation, sondern auch bei der Dissi- milation, sowie bei den übrigen hierher gehörigen Vorgängen der Ein- schaltung, Ausstoßung und Zusammenziehung der Laute sind nun assoziative Einflüsse als notwendige Bedingungen vorauszusetzen. Bei der Ausstoßung und Zusammenziehung ergibt sich das schon aus ihrer engen Beziehung zur regressiven Assimilation. Da sie eigent- lich nichts anderes sind als sehr intensive Wirkungen der nachfolgen-

1) Vgl. z. B. Misteli (Lautgesetz und Analogie, Zeitschr. f. Völkerpsycho- logie usw., XI, 1880, S. 388 ff.), der die Möglichkeit einer merklichen psychischen Tätigkeit bei der progressiven Assimilation dadurch für widerlegt hält, daß dieselbe entweder einen rückwärts gekehrten Ablauf der Lautbilder oder ein langsameres Denken als Sprechen voraussetzen würde, was beides unmöglich sei.

428 Der Lautwandel.

den Laute auf die vorangehenden (S. 395 ff.), so ist natürlich auch derselbe Einfluß der vorauseilenden Vorstellungsbewegung nur in höherem Grade anzunehmen. Ebenso setzt die Dissimilation analoge psychische Bedingungen voraus. Die Wirkung ist hier bloß insofern verschieden, als sie nicht in angleichendem, sondern in differenzieren- dem Sinn erfolgt. Darum ist es kein wesentlich anderer Vorgang, der supmits in summus, agnus in angnus, und der umgekehrt sumtus in sumptus überführt, oder der in pluralis und singularis die gleiche Adjektivendung jedesmal in abweichender Richtung gestaltet. Man muß sich bei allen diesen Erscheinungen gegenwärtig halten, daß der einzelne Laut nie für sich allein, sondern immer nur in dem Zu- sammenhang einer bestimmten Lautfolge im Bewußtsein existiert. Wie der rasche Übergang der labialen Tennis in den entsprechenden Resonanzlaut die erstere verschwinden läßt {supmus in summus), so schiebt sich umgekehrt bei dem Übergang des labialen Resonanz- lauts in die dentale Tennis von selbst, und um so leichter, je rascher der Übergang erfolgt, zwischen beide die labiale Tennis ein (sumtus in sumptus). Ähnliche Wirkungen können dann aber auch über zwischenliegende Laute hinausreichen: so in singularis, pluralis, mxirhle für marmor u. dgl., wo überall der Wechsel zwischen verwandten und leicht ineinander übergehenden Lauten im Vergleich mit der Wieder- holung der gleichen Konsonanten als eine bei rascher Artikulation unwillkürlich sich einstellende Anpassung an den Fluß der Rede auf- tritt; daher denn auch schon bei den Erscheinungen des ,, Versprechens" und ebenso in der Kindersprache solche Dissimilationen vermischt mit Assimilationen, Lautausstoßungen und -kontraktionen vorkommen (S. 314 ff.).

Der Irrtum Steinthals, der in diesen Fällen, sobald die Wirkung regressiv erfolgt, einen psychischen Vorgang sieht, aber in progressiver Richtung diesen für unmöglich hält, wurzelt schließlich in einer all- gemeineren psychologischen Voraussetzung, die nach allem, was wir aus experimentellen Ermittelungen über den Verlauf der Bewußt- seinsvorgänge wissen, falsch ist: in der Voraussetzung nämlich, daß in einem gegebenen Augenblick immer nur eine einzige Vorstellung im Bewußtsein anwesend sei^). Daraus würde sich natürlich eben-

^) Steinthal, Einleitung in die Psychol. und Sprachw., 1871, S. 134.

Theorie der Kontaktwirkungen. 429

sogut die Unmöglichkeit einer regressiven wie die einer progressiven Wirkung folgern lassen. Denn wäre jeweils nur eine Vorstellung möglicli, so würde das notwendig der im Augenblick ausgesprochene Laut sein, neben dem weder ein später kommender noch ein früher dagewesener Platz fände. Steinthal hatte dieser Folgerung durch seine Hypothese der „schwingenden Vorstellungen" zu entgehen versucht. Jeder Satz verläuft, wie er meint, ,, punktuell" durch unser Bewußt- sein; aber das eben gesprochene Wort kommt nicht sofort mit seinem Verschwinden im Unbewußten zur Ruhe, sondern es befindet sich noch während einer gewissen Zeit im erregten Zustand. Ebenso seien die kommenden Worte bereits in einer gewissen Bewegung im un- bewußten Hintergrund der Seele, ehe sie ins Bewußtsein eintreten, so daß dadurch auch das momentan gesprochene Wort mit dem voraus- gehenden und nachfolgenden in Verbindung treten könne ^). Dies würde freilich an und für sich wieder ebensogut eine vorwärts wie eine rückwärts gerichtete Wirkung erzeugen. Aber es soll dann noch das weitere Moment hinzukommen, daß der psychische Mechanismus der Sprachorgane bis zu einem gewissen Grade selbständig abläuft, wie eine aufgezogene Uhr, ohne daß er in jedem Augenblick mit der Vorstellungsbewegung gleichen Schritt halten müßte. Da nun die Gedanken rascher fließen als die Worte, so soll im allgemeinen der Vorstellungsverlauf, für dessen Glieder jener Satz von der punktuellen Ausdehnung des Bewußtseins allein gilt, dem Verlauf der Worte meist um eine gewisse Strecke voraus sein. Dadurch werde dann un- mittelbar die regressive Wirkung als eine psychisch bedingte begreif- lich, wogegen es naheliege, die progressive aus eben jener Trägheit der Artikulationsorgane abzuleiten, die das Vorauseilen des Gedanken- laufs möglich mache ^).

Diese ganze Betrachtungsweise steht und fällt, wie man sieht, mit der Annahme der punktuellen Enge des Bewußtseins. Schon in der Hilfshypothese der ,, schwingenden Vorstellungen" liegt aber eigentlich das Eingeständnis der Unhaltbarkeit dieser Annahme.

1) Ebenda S. 237 ff. Zeitschr. für Völkerpsych. I, S. 111.

2) Zeitschr. f. Völkerpsychol. I, S. 126 f.

430 Der Lautwandel.

Denn die Tatsachen, denen zuliebe sie gemacht ist, beweisen un- befangen betrachtet, daß es eine solche punktuelle Enge nicht gibt. Wie ließe es sich auch sonst begreifen, daß in jedem Augenblick einer zusammenhängenden Rede die Prägung des Gedankens offenbar nicht bloß durch die momentan ausgedrückte Vorstellung, sondern gleichzeitig durch die vorangehenden und die nachfolgenden bestimmt wird ? Die Lehre von den „schwingenden Vorstellungen" ist hier nur ein Notbehelf, um diese Tatsache mit der Hypothese, der sie in Wahr- heit widerspricht, zu vereinigen. Denn das Wesen dieser ,, schwingen- den Vorstellungen" besteht eigentlich darin, daß den unbewußten Vorstellungen die bekannten Wirkungen der bewußten zugeschrieben werden. Woher wissen wir aber, daß sie nicht im Bewußtsein sind? Offenbar bloß daraus, daß wir sie nicht ohne weiteres bemerken können. Das würde aber immer nur rechtfertigen, sie als unbemerkte zu bezeichnen, das heißt anzunehmen, neben den klarer bewußten, über die wir uns deutliche Rechenschaft geben, seien auch noch andere, dunklere vorhanden. Daß dies im Fluß der gesprochenen Rede in der Regel teils diejenigen Wort- und Begriffsvorstellungen sein wer- den, die den unmittelbar deutlich aufgefaßten vorausgehen, teils diejenigen, die ihnen nachfolgen, liegt auf der Hand. Auch steht dies mit den Beobachtungen, die wir unter den zur Entscheidung dieser Frage geeignetsten experimentellen Bedingungen machen können, im Einklang. Bei momentaner Einwirkung einer größeren Anzahl von Gesichtseindrücken unterscheiden wir neben dem sehr beschränkten Umfang deutlich apperzipierter Reize andere, die dunkler aufgefaßt werden, und noch andere, bei denen wir nur noch ein unbestimmtes Dasein im Bewußtsein konstatieren können. Lassen wir Taktschläge in regelmäßigen Zeitintervallen einwirken, so läßt sich die Grenze feststellen, wo plötzlich eine Zusammenfassung der vorhergegangenen mit den gegenwärtigen nicht mehr möglich ist, weil jene, dunkler imd dunkler werdend, schließlich den Umfang des Bewußtseins über- schreiten ^). Aber nicht bloß diese auf ganz anderem Wege gewonnenen

^) Grundriß der Psychologie/* S. 254 ff. Vgl. auch unten Kap. V, Nr. n.

Theorie der Kontaktwirkungen. 431

Beobachtungen beweisen die Undurchführbarkeit der Hypothese von der „punktuellen Enge des Bewußtseins", auch die Erscheinungen selbst, die der Fluß der Rede darbietet, sind unterstützende Zeugnisse gegen jene offenbar nicht aus Beobachtungen, sondern aus der meta- physischen Hypothese einer punktuellen Unteilbarkeit der Seele herstammende Voraussetzung. In dem Augenblick, in dem ich einen Satz auszusprechen beginne, steht das Ganze des Gedankens schon in allgemeinen Umrissen, mit etwas deutlicherer Ausprägung einzelner Hauptvorstellungen, vor mir; und in dem Augenblick, in dem ich den Satz vollendet habe, überblicke ich meist noch einmal dieses Ganze, während sich oft gleichzeitig schon der folgende Gedanke unbestimmt ankündet ^). Dabei ist von einem Hin- und Herschwingen abwechselnd über die Schwelle des Bewußtseins tretender und wieder unter sie sinkender Vorstellungen absolut nichts zu bemerken, sondern der ganze Vorgang spielt sich in der Regel vollkommen stetig und ruhig ab, und als besonders charakteristisches Symptom der dunkler be- wußten Inhalte tritt überall nur ihr Einfluß auf die Gefühlslage hervor.

b. Psychophysische Theorie der Lautinduktion.

Nach allen oben erörterten Tatsachen kann es nicht zweifelhaft sein, daß ein im Fluß der Rede auftretender Sprachlaut einem dop- pelten psychischen Einfluß ausgesetzt ist: einerseits der Wir- kung, welche die nachfolgenden, teilweise selbst schon in sprachlicher Form im Bewußtsein anklingenden Vorstellungen auf ihn ausüben, anderseits aber auch der Nachwirkung, die von dem gesprochenen Wort im Bewußtsein zurückgeblieben ist. Welcher dieser beiden Ein- flüsse überwiegt, oder ob beide in gewissem Grade sich mischen, das hängt natürlich von besonderen Bedingungen individueller oder ge- nereller Art ab. In diesem Sinn ist daher die Erscheinung, daß in bestimmten Sprachen die regressive und in andern ebenso ausgeprägt die progressive Richtung der Veränderungen vorwaltet, zu beurteilen.

1) Weiteres hierüber in Kap. V, Nr. III, 5, und in Kap. VII.

432 I^er Lautwandel.

Eigentlich ist dieser Unterschied selbst schon ein Zeugnis dafür, daß auch bei der progressiven Form psychische Bedingungen nicht fehlen können. Denn ein solcher fast zum Gegensatze sich zuspitzender Unterschied läßt sich doch kaum anders als aus einer verschiedenen psychischen Anlage begreifen. Wo die regressive Assimilation vor- herrscht, wie bei den Indogermanen, da wird man annehmen müssen, daß die Gedankenbewegung vorzugsweise vorwärts, den kommenden Vorstellungen zugewandt sei. Jene Tendenz nach wachsender Ge- schwindigkeit des Kedeflusses, wie sie sich als Produkt der intellek- tuellen Kultur eingestellt hat, mußte zugleich die vorwärts eilende Richtung erzeugen, die in der Rückwirkung der kommenden Laute auf die vorangegangenen ihren Ausdruck findet. In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, daß sich in den älteren Formen der indogermanischen Sprachen noch am häufigsten Erscheinungen der entgegengesetzten, progressiven Wirkung vorfinden (S. 422 f.), und daß diese noch heute in der Sprache des Kindes fast die alleinherrschende ist (S. 318). Nicht minder ist es charakteristisch, daß sie als bleibende Erscheinimg ganz besonders in Sprachgebieten vorkommt, in denen überhaupt eine Neigung zu Lautwiederholungen besteht (S. 422). Die progressive Wirkung selbst wird man daher im allgemeinen als die ursprüng- lichere ansehen dürfen. Die ,, Vokalharmonie'* ist eben nur ein spe- zieller Fall von Lautwiederholung. Nun kann man die letztere in ihren sonstigen, bereits in das Gebiet der Wortbildungsprozesse herein- reichenden Formen unmöglich für einen bloß „leiblich-mechanischen" Vorgang halten. Schon durch diesen Zusammenhang wird also eigent- lich die Annahme eines rein physischen Ursprungs der vorwärts ge- richteten Lautwirkungen widerlegt^).

1) Eine im obigen Sinne psychologische, in einigen Punkten der hier ge- gebenen ähnliche Erklärung hat, wie ich einer Notiz von Sievers (Grundzüge der Phonetik,« S. 252) entnehme, bereits Böthlingk (Jen. Lit.-Ztg. 1874, S. 767) von der verschiedenen Richtung der Lautwirkungen bei dem „kombinatorischen Lautwandel" gegeben: „Ein indogermanisches Wort", sagt er, „ist in dem Maß eine wirkliche Einheit, daß der Sprechende schon beim Hervorbringen der ersten Silbe das ganze Wort sozusagen im Geist ausgesprochen hat. Nur auf diese Weise ist es zu erklären, daß zur Erleichterung der Aussprache einer nachfolgenden Silbe schon die vorangehende modifiziert wird. Ein Individuum der ural-al-

Theorie der Kontaktwirkungen. 433

Verfolgt man die Assoziationswirkungen in ihren einzelnen For- men bei den verschiedenen Kontakterscheinungen der Sprache, so zeigen sich nun aber schließlich doch besonders in den elementaren Prozessen, welche die komplexen Assoziationen zusammensetzen,

taischen Völkergruppe stößt, unbekümmert um das Schicksal des Wortes, die erste Silbe desselben, den Träger des Haupt begriff s, ohne weiteres heraus; an diese reiht er dann die weniger bedeutsamen Silben in etwas roher Weise an, indem er gleichsam erst in dem Augenblick an Abhilfe denkt, wenn er nicht mehr weiter kann." Zu dem ersten Teil dieser Erklärung bemerkt Sievers mit Recht, daß man ihr im allgemeinen zustimmen könne, jedoch mit der Einschränkung, daß von einem „Bestreben nach Erleichterung" nicht geredet werden sollte, da wirklich und bewußt die Assimilationen nicht seien. Auch beschränkt sich, wie aus den oben angeführten Beobachtungen hervorgeht, das Vorauseilen der Vorstellungen keineswegs auf die Teile des nämlichen Wortes. Weiterhin bedarf aber diese Schilderung des Bewußtseinszustandes bei der progressiven Assimi- lation insofern der Richtigstellung, als eine „Abhilfe" im Augenblick der Aus- sprache nicht vorliegt, da man unter dieser doch wiederum nur ein willkürliches zwecktätiges Handeln verstehen kann. Bei der „Vokalharmonie" stellt sich vielmehr ein dem vorangegangenen gleicher Klang lediglich deshalb ein, weil er unmittelbarer dem Bewußtsein gegenwärtig ist als der in einem andern Laut- gebilde von sonst gleicher Bedeutung gebrauchte. In sev-mek wird also z. B. der vokalische Inlaut des Suffixes unmittelbar von dem vorangegangenen Stamm- vokal attrahiert, und nur die konsonantischen Bestandteile folgen der ganzen Gruppe übereinstimmender Suffixe von gemeinsamer Lautform, wie lak-maJc, mä-mäk usw. Es würde aber unberechtigt sein, dies auf eine besondere Träg- heit des Redenden zurückzuführen. Sie beruht darauf jedenfalls ebensowenig wie die verwandte Eischeinimg der Wortwiederholung, die im Gegenteil, wie wir sehen werden, meist aus einem Trieb nach energischer Betonung der Vor- stellungen hervorgeht. Eher wird man sagen können, die progressive Assimi- lation sei die natürliche und darum ursprüngliche Form der Lautwirkung, so- lange nicht durch die zunehmende Schnelligkeit der Gedankenbewegung eine relativ stärkere Wirkung der kommenden Laute auf die vorangehenden ein- getreten ist. Dafür spricht vor allem auch ihr Übergewicht in der frühesten Kindersprache. In diesem Sinne würde sie also in ihrer einseitigen Ausbildung als ein Zeichen primitiverer geistiger Kultur zu deuten sein, wobei freilich be- achtet werden muß, daß von einem gewissen Punkt an die Sprache stabiler wird, so daß daher der Zustand einer Sprache nicht den Zustand der heutigen Kultur eines Volkes, sondern denjenigen spiegelt, in dem jene letzte Stabilisierung der Wortformen eingetreten ist. Auch ist nicht zu vergessen, daß die Ursachen der progressiven wie der regressiven Attraktionserscheinungen fortan in jedem Sprach- bewußtsein nebeneinander wirksam bleiben, daher denn beide nebeneinander bestehen können, wobei nur eine verschieden starke Neigung in der einen oder andern Richtung nachzuweisen ist. Ein Zeugnis hierfür ist das Rumänische,

Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 28

434 Der Lautwandel.

charakteristische Unterschiede bei den Assimilationen und Dissimi- lationen einerseits, bei den regressiven und progressiven Lautinduk- tionen anderseits. Bei den Assimilationen ist unter allen Umständen die Assoziationswirkung eine direkte: der induzierende Laut ist in dem Augenblick, wo er auf den induzierten einwirkt, im Bewußt- sein derart aktuell, daß er sich entweder ganz an die Stelle des ur- sprünglich vorhandenen Lautes drängt oder diesen in seinem Laut- charakter sich angleicht. Die assoziativen Elementarwirkungen sind also hier wesentlich Gleichheitsassoziationen, und wo eine völlige Angleichung nicht zustande kommt, da ist dies nur darauf zurück- zuführen, daß der ursprüngliche Laut noch eine partielle Nebenwirkung geltend macht, zugleich ein Fall, der besonders deutlich die Ent- stehung einer solchen ,,Ahnlichkeitsassoziation" aus einer Mischung gleicher und verschiedener Elementarwirkungen verdeutlicht. Dem- nach sind die Lautassimilationen psychologisch betrachtet simul- tane Assoziationen. Der induzierende Laut verdrängt den indu- zierten ganz oder teilweise, ohne daß in dem Moment, wo sich die Asso- ziation vollzieht, etwas anderes als die vollendete Wirkung derselben im Bewußtsein ist: der Vorgang ist so auch im psychologischen Sinn eine „Assimilation", da wir mit dem letzteren Namen eben eine solche simultane Assoziation von Elementen eines und desselben Sinnesgebiets verstehen^). Nicht ganz so einfach liegen die Verhält- nisse bei den Dissimilationen. Dies hat aber offenbar darin seinen Grund, daß man unter diesem Namen überhaupt ziemlich verschieden- artige Erscheinungen zusammenfaßt. Vor allem lassen sich hier wohl drei Gruppen solcher Erscheinungen unterscheiden, je nach- dem gleichzeitig Lautverlust oder aber Lautwechsel ohne Laut- verlust oder endlich Lautvermehrung mit oder ohne Lautwechsel stattfindet.

in welchem die Vokaiharmonie in beiden Formen ziemlich häufig ist (Ad. Storch, Vokalharmonie im Rumänischen, Diss. Leipzig 1899), während sie in andern romanischen Sprachen selten und nur in regressiver Richtung vorzukommen scheint (Meyer-Lübke, I, S. 286 f.). Daß übrigens bei den Rumänen die Nach- barschaft der Türken und Magyaren mit ihrer progressiven Vokalassimilation eingewirkt hat, ist wohl nicht zu bezweifeln. 1) Grundriß der Psychologie, i^ g. 274 ff.

Theorie der Kontakt Wirkungen. 435

Der erste dieser Fälle, die dissimilatorische Elision, nähert sich in seinen Bedingungen am meisten der Assimilation. Wie bei der letzteren ein vorangehender und ein folgender Laut miteinander zu einem einheitlichen Lautgebilde verschmelzen, so verdrängt bei jener der eine den andern ganz aus dem Bewußtsein, indem sich unter der Wirkung des vorandrängenden Vorstellungsverlaufs die Artiku- lationsorgane auf einen folgenden Lautkomplex einstellen, ehe noch der momentan erzeugte vollständig hervorgebracht ist. Von den sonstigen im raschen Redefluß entstehenden Elisionen unterscheidet sich die dissimilatorische nur dadurch, daß bei ihr der Ausfall durch die folgende Wiederholung des gleichen Lautes unterstützt wird, wie in (pargla für cpqaTQiay ai.iq)OQBVQ für a}-icpicpoQEvg, semestris für semimestris, gratulari für gratitulari usw. Alle diese Fälle reichen in das Gebiet der Wortbildung durch Wortzusammensetzung hinüber. Indem bei dieser die Beschleunigung des Redeflusses eine wesent- liche Rolle spielt, erklärt es sich zugleich, daß hier die Veränderung durchweg in regressiver Form erfolgt. So finden sich denn zahlreiche Analoga nicht nur in den Erscheinungen des Versprechens, sondern auch in denen des Verschreibens, wo das wiederholte Vorkommen desselben Buchstabens eine besonders häufige Ursache von Elisionen ist.

Der zweite Fall ist die eigentliche Dissimilation, eine Laut- induktion, bei der von zwei gleichen in kurzem Abstand sich wieder- holenden Lauten der eine nach einer abweichenden, aber verwandten Lautgruppe hin verändert wird, wie z. B. "^d^qacpto in TQscpco, d^r]Qr]Ti]Q in S^f]lrjT7]Q, venenum in veleno, turtur in turtle usw. Auch hier setzt die Erscheinung, ebenso wie die Lautassimilation, eine assoziative Wechselwirkung der aufeinander folgenden Lautgebilde voraus: ohne diese würde ein momentan noch nicht ausgesprochener Laut ebenso- wenig dissimilativ wie assimilativ wirken können. Während er aber bei der Assimilation die Artikulationsbewegung unmittelbar nach sich zieht, modifiziert er diese bei den dissimila torischen Lautänderungen im Sinn eines erleichterten Übergangs auf einen andern dominierend gewordenen und deshalb der Veränderung widerstehenden Laut. Bei der eigentlichen Dissimilation gewinnt dann die relative Asso- ziationskraft der in Wechselwirkung tretenden Laute den ent-

28»

436 Der Lautwandel.

scheidenden Einfluß: der durcli Assoziationshilfen widerstandskräf- tigere Laut bleibt bestehen, der schwächere verändert sich. Hieraus ergibt sich meist sofort die Kichtung der dissimilierenden Wirkung. So entsteht einerseits singularis durch Assoziation mit singuli, an- derseits aber pluralis durch Assoziation mit plures. Natürlich wird übrigens dieser Unterschied der assoziativen Hebung auch bei den dissimilatorischen Elisionen in der Regel eine mitwirkende Rolle spielen. So wird z. B. in einem Wort wie aixq)icpoQBvg der zweite Bestandteil durch die gleichzeitige Assoziation von Laut und Be- deutung mit g)OQ€vg, cpoga usw. gehoben. Sobald daher das zusammen- gesetzte Wort zu einer neuen Worteinheit verschmolzen ist, kann das Ganze leicht zu cc/iKpoQevg, unmöglich aber etwa zu ^df^q)iQSvg ver- stümmelt werden. Man wird demnach den Unterschied der Wirkungen zwischen Assimilation und Dissimilation auch darauf zurückführen können, daß bei der Assimilation der Einzellaut als solcher, bei der Dissimilation der ganze Lautkomplex, in dem jener das herrschende Element bildet, assoziativ wirksam wird. Damit stimmt überein, daß namentlich die konsonantischen Assimilationen häufiger im un- mittelbaren Kontakt der Laute, die entsprechenden Dissimilationen aber erst auf größere Entfernungen hin zu wirken pflegen ; und hiermit hängt offenbar wieder zusammen, daß eigentlich nur die Assimila- tionen reine Kontakterscheinungen sind, während bei den Dissimila- tionen bereits Fernewirkungen, nämlich Assoziationen mit andern Wortgebilden, mitspielen^).

1) An assoziative Ferne Wirkungen hat wohl auch Brugmann gedacht, wenn er die Dissimilation darauf zurückführt, daß ein Sprachgebilde „durch andere mit ihm assoziierte nicht in allen Teilen die genügende »etymologische' " Belichtung habe. (Kurze vergleichende Grammatik S. 40, vgl. auch Ber. der Sachs. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1900, S. 394 ff., und Grundriß, I, S. 850 ff.). Analog Grammont (a. a. 0.), wenn er die Dissimilation „la loi du plus fort" nennt. Vgl. Wechssler, Gibt es Lautgesetze ? S. 155 ff. Psychologisch scheint es mir auch hier geboten, den mögHcherweise der Mißdeutung ausgesetzten Begriff des Etymologischen ganz aus dem Spiel zu lassen, überdies aber die Bedingungen der stärkeren Wirkung positiv auszudrücken: dann bestehen diese eben darin, daß die eine ,, Lautung" gegenüber der andern durch Hilfsassoziationen gehoben und darum zur dominierenden geworden ist. Dasselbe gilt natürlich für die spär- lichen Fälle rein vokalischer Dissimilationen: so wenn z. B. societas nicht in aso-

Theorie der Kontaktwirkungen. 437

Der dritte Fall, die dissimilatorische Einschaltung, kommt teils im unmittelbaren Kontakt der Laute in der Form einer dem natürlichen Mechanismus der Bewegungen folgenden konsonantischen Übergangsartikulation vor, wie in sumptus für sumtus, teils in der Form vokalischer Zwischenlaute zwischen zwei Konsonanten, wie in lat. Aesculapius für gr. ÄGyi},r]7ri6g, poljoies. igolide für engl, gold, franz. canif für niederl. knijf (Messer), lansequenet für deutsch lands- knecht u. a. ^). Wie diese Beispiele lehren, finden sich solche Laut- einschaltungen, ebenso wie die ihnen entgegengesetzten Elisionen und Lautverstümmelungen, besonders häufig bei der Aufnahme von Fremdwörtern, wo dann neben der Anpassung an die gewohnte Ar- tikulationslage der Sprachorgane wohl auch noch Assoziationen mit geläufigen Wortvorstellungen der eigenen Sprache einwirken können, etwa bei Aesculapius solche mit Wörtern wie aes, aesculus usw. Auch die Kindersprache ist reich an Einschaltungen, die durch die Ver- hältnisse ^ ihres Vorkommens sowie durch ihre häufige Verbindung mit der Elision schon darauf hinweisen, daß bei ihnen die rein me- chanische Seite der Artikulation die Hauptrolle spielt, indes die ge- legentlich mitwirkende assoziative Angleichung an andere Wörter auch hier die Erscheinung den assoziativen Fernewirkungen nähert.

Während so die Assimilation und Dissimilation der Laute nur äußerlich als Gegensätze erscheinen, innerlich aber, nach den sie be- stimmenden psychophysischen Bedingungen, einander nahe verwandt sind, ist dies wesentlich anders bei den über jene beiden sich verteilen- den Gruppen regressiver und progressiver Kontaktwirkungen.

ciitas (vgl. novitas) übergegangen ist, wo die Assoziation mit socius erhaltend auf das erste i eingewirkt haben wird. Übrigens kommt, wie dieses Beispiel zeigt, die vokalische Dissimilation, im Gegensatze zur konsonantischen, vorzugsweise im unmittelbaren Kontakt der Laute vor, wogegen umgekehrt die vokalische Assimilation (die sogenannte Vokalharmonie) in die Entfernung, die konsonan- tische Assimilation im unmittelbaren Kontakt der Laute wirkt, ein doppelter Gegensatz, der aus den Bedingungen der Lautartikulation in beiden Fällen leicht erklärlich ist.

^) Weitere Beispiele aus romanischem Sprachgebiet s. bei Wechssler, Gibt es Lautgesetze ? S. 153 f.

438 Der Lautwandel.

Indem bei den ersteren der Laut noch nicht als akustischer Eindruck vorhanden ist, wohl aber sich die ihm entsprechende Artikulations- bewegung bereits stark zum Bewußtsein drängt, ist bei ihnen die Ar- tikulationsempfindung der in der Lautkomplikation dominierende Bestandteil, neben dem zwar der akustische, vermöge seiner innigen Assoziation mit jener Empfindung, nicht fehlt, aber doch verhält- nismäßig zurücktritt. Umgekehrt verhält es sich bei den progressiven Erscheinungen. Hier wirkt mehr als die vorangegangene Artikula- tionsempfindung des induzierenden Lautes dieser selbst als unmittel- barer akustischer Eindruck nach. Daraus erklärt es sich, daß die re- gressive Wirkung bei den Assimilationen vorzugsweise die für die Bewegungsempfindung deutlichsten Lautelemente, die Konsonanten, die progressive die akustisch wirksamsten, die Vokale, trifft. Wie aber auf diese Weise die psychische Wirkung eines Lautes stets eine zweiseitige ist, ebenso hat jeder eine rückwärts und eine vorwärts gerichtete physische Wirkung, die von der Einübung bestimmter Lautverbindungen abhängt. Auch physiologisch ist ja der ein- zelne Sprachlaut nichts für sich allein Bestehendes, sondern, wie er nur in konkreten Wortverbindungen vorkommt, so wird er in diesen Verbindungen je nach ihrer relativen Häufigkeit mehr oder minder fest eingeübt. Ganz abgesehen von dem Vorauseilen der Vorstellungen stellen sich also schon infolge dieser mechanischen Einübung oft ver- bundener Bewegungen die Sprachorgane bereits auf einen kommen- den Laut ein, während der gegenwärtige eben erst ausgesprochen wird. Damit tritt dann von selbst je nach Umscänden eine Angleichung des gesprochenen Lautes an einen folgenden, oder die völlige Elimi- nation eines solchen, oder endlich, wenn der Übergang der Artiku- lationen einen Wechsel der Lautbewegungen begünstigt, eine Dissimi- lation ein. Alle Kontaktwirkungen finden auf diese Weise in dem Prinzip der mechanischen Einübung oft verbundener Bewegungen ihre physiologische Erklärung. Eine solche Übung wird aber wieder um so merklicher sein, je redegeübter im allgemeinen ein Volk, und je mehr es zu rascher Verkettung der Laute beanlagt ist. So begreift sich auch von dieser Seite aus die Bevorzugung der regressiven Veränderungen, besonders der Assimilationen in den-

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jenigen Sprachen, deren Entwicklungsgeschiclite auf eine früli er- rungene Kultur hinweist. Dieses physische und das oben erwähnte psychische Moment werden sich nun voraussichtlich bei allen regressiven Kontaktwirkungen als parallel laufende Erscheinungen verbinden, was nicht ausschließt, daß im einzelnen Fall bald mehr das eine, bald mehr das andere in den Vordergrund tritt. Dies ist darum möglich, weil die mechanische Einübung dazu führt, daß Artikulationen zu- sammen eingeübt und infolgedessen automatisch verbunden werden, ohne daß die Lautvorstellung stets gleichen Schritt damit hält. Nament- lich werden wir daher voraussetzen dürfen, daß bei den Kontakt- wirkungen unmittelbar aufeinander folgender Laute dies mechanische Moment zur Hervorbringung des Lautwechsels genügt, ohne daß dasselbe in merklichem Grade von einer Vorausnahme der Laut- vorstellungen begleitet zu sem braucht. Wo dagegen eine regressive Assimilation oder Dissimilation über zwischenliegende Laute hinaus stattfindet, da wird im allgemeinen die Wirkung stets als eine psy- cho physische in dem Sinn aufzufassen sein, daß die bloße mecha- nische Einübung immer nur direkt aneinander grenzende Bewegungen zu völliger oder teilweiser Verschmelzung bringen kann, während eine rückläufige Wirkung, die weitere Strecken umspannt, nicht ohne eine gleichzeitige Vorausnahme der Vorstellungen möglich ist. Dazu können dann endlich noch Assoziationen mit außerhalb stehenden, aber laut- oder bedeutungsverwandten Wortgebilden, also assoziative Fernewirkungen, treten. Sie erweisen sich besonders bei den dissimi- la torischen Lautänderungen wirksam, indem sie hier durch die Fixierung eines dominierenden Lautgebildes für die Richtung der Dissimilation bestimmend werden.

Wie bei den regressiven, so sind nun aber auch bei den progressiven Kontaktwirkungen physische Bedingungen wohl überall von mit- wirkender Bedeutung. Ist es dort die Einübung oft verbundener Artikulationen, so kann es hier die Einstellung auf eine soeben aus- geführte Bewegung sein, die den Einfluß ausübt. So schwierig eine Lautbewegung an sich sein mag, einmal ausgeführt kommt sie wesent- lich leichter zustande. Das Symptom unvollkommener Übung in irgendeiner Klasse mechanischer Leistungen pflegt sich daher stets

440 I^er Lautwandel.

in der Neigung zur Wiederholung der zuletzt ausgeführten Bewegungen zu äußern. Bis zu einem gewissen Grade bleibt natürlich diese Neigung auch bei fortgeschrittener Übung erhalten. Demnach übt fortwährend auch physisch ein vorangegangener Laut eine Art Attraktionswirkung auf einen nachfolgenden aus. Dies zeigt zugleich, daß die progressiven Assimilationen auch vom Gesichtspunkte der physischen Einübung aus die primitiveren, einer ursprünglicheren Stufe sprachlicher Übung entsprechenden Formen sind. Die allgemeinen Anlagen zu ihnen bleiben aber fortan bestehen, so daß sie nicht sowohl direkt als in- direkt, durch den wachsenden Einfluß der Einübung zusammen- gesetzter Artikulationsverbindungen, in den Hintergrund gedrängt werden.

Hiernach läßt sich das Ergebnis dieser Analyse dahin zusammen- fassen, daß bei jeder Art dieser Erscheinungen psychische und phy- sische Ursachen zusammenwirken. Dabei gehören die psychischen Ursachen zu jenen elementaren Assoziationswirkungen, ver- möge deren jeder psychische Vorgang nach zwei Richtungen hin in assoziativen Beziehungen stehen kann und in der Regel auch wirk- lich steht, wenngleich die eine Richtung durch das Übergewicht der andern kompensiert zu werden pflegt. Die physischen Ursachen fallen dagegen in das Gebiet der Übungsvorgänge, mid zwar sind die regressiven Erscheinungen als Folgen der Mit Übung bestimmter Artikulationsbewegungen mit andern, mit denen sie oft verbunden waren, die progressiven als Folgen jener un- mittelbaren Übung aufzufassen, die eine Wiederholung der Be- wegung erleichtert.

Allgemeine Formen assoziativer Fernewirkung. 441

IV. Assoziative Fernewirkungen der Laute.

1. Allgemeine Formen assoziativer Ferne Wirkung.

Von „Fernewirkungen der Laute" werden wir, wenn wir diesen Begriff im Verhältnis zu den Nahe- oder Kontaktwirkungen be- stimmen, überall da reden können, wo gewisse Lautelemente eines Wortes nicht durch andere, im selben oder in einem angrenzenden Wort vorkommende Laute beeinflußt werden, sondern wo sich irgend- ein im Augenblick nicht unmittelbar gegebenes Wort oder eine ent- sprechende Wortsippe als der Grund der Lautänderung herausstellt. Auch auf die Fernewirkungen können wir daher, um die Richtung derselben anzugeben, die oben gebrauchte Unterscheidung indu- zierender und induzierter Laute anwenden. Dabei ist aber, wenn eine solche Fernewirkung zwischen zwei Wörtern oder Wortgruppen annehmbar sein soll, stets erforderlich, daß dieselben in irgendeinem Verhältnis stehen, das eine Assoziation zwischen ihnen ermöglicht. Denn daß eine Lautinduktion zwischen Wörtern, die durch den un- mittelbaren Zusammenhang der Rede gar nicht verbunden sind, an- ders als durch Vermittelung bestimmter psychischer Assoziationen zustande komme, erschein u hier von vornherein ausgeschlossen. Auch unter dieser Voraussetzung kann übrigens die Frage, ob eine bestimmte assoziative Beziehung wirklich stattgefunden habe, im einzelnen Falle zweifelhaft bleiben, weil eben hier immer nur der Effekt einer In- duktionswirkung gegeben ist, während die induzierenden Momente selbst bloß erschlossen werden können. Dieser Schluß kann nun namentlich deshalb unsicher sein, weil teils mehrere induzierende Momente, teils andere verändernde Bedingungen möglicherweise im gleichen Sinne wirken. Schon über die tatsächlichen Beziehungen der Erscheinungen, die einer psychologischen Interpretation zugrunde zu legen sind, bleiben darum hier nur mehr oder minder wahrschein- liche Aufstellungen möglich. Diese werden sich jedoch um so mehr der Grenze der Gewißheit nähern, je zahlreichere einander ähnliche Fälle für eine bestimmte Form der Beziehung aufgefunden werden können, und je größer die psychologische Wahrscheinlichkeit ist, daß

442 Der Lautwandel.

gewisse Wörter, zwisclien denen eine Femewirkung angenommen wird, wirklicli miteinander assoziiert werden.

Die Sprachwissenscliaft hat sämtliche Erscheinungen solcher assoziativer Fernewirkungen der Laute ,, Analogiebildungen" genannt, ein Ausdruck, der den äußeren Erfolg der Wirkung, freilich aber auch nur diesen, vollkommen treffend bezeichnet. Bei jeder Analogie- bildung wirkt irgendein Wort so auf ein anderes ein, daß dieses ihm in seinem Lautcharakter analog wird. Besser noch als ,, Analogie- bildung'' deutet daher auch der ebenfalls oft gebrauchte Ausdruck „Angleichung" die äußere Beschaffenheit des Vorgangs an. Zugleich weist er aber darauf hin, daß den Analogiebildungen unter den Kon- taktwirkungen die ,, Assimilationen" am nächsten stehen. Wie diese als Angleichungen benachbarter Laute, so können jene als ,,Angleichun- gen durch fernewirkende Assoziation" definiert werden. Der Arten solcher Angleichung können wir dann im allgemeinen zwei unter- scheiden: die eine wollen wir als ,, Angleichung grammatischer Formen" oder kürzer als ,, grammatische Angleichung", die andere als „An- gleichung nach logischen Beziehungen der Begriffe" oder als ,, be- griff liehe Angleichung" bezeichnen. Jede dieser Arten läßt sich wieder in zwei Unterarten zerlegen: die grammatische Angleichung in die „Angleichung verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes", wir wollen sie kurz die „innere grammatische Angleichung" nennen, und in die ,, Angleichung übereinstimmender grammatischer Formen verschiedener Wörter", sie sei die „äußere grammatische Angleichung" genannt. Die zweite Hauptform, die ,, begriff liehe Angleichung", zerfällt ebenfalls in zwei Gruppen von Erscheinungen: die eine wird durch ,, Angleichung an Wörter von verwandter Bedeutung", die an- dere durch „Angleichung an Wörter von gegensätzlicher Bedeutung" gebildet; jene mögen abkürzend „Angleichungen durch Ähnlichkeit", diese ,, Angleichungen durch Kontrast" genannt werden^).

1) Von den genannten Klassen der ,, Analogiebildung" hat ursprünglich die erste vorzugsweise die Aufmerksamkeit der Sprachforscher auf sich gelenkt. Hier hat zuerst H. Paul die oben erwähnten beiden Unterarten scharf geschieden. Die Angleichung verschiedener grammatischer Formen desselben Wortes an-

Grammatische Angleichungen, 443

2. Grammatische Angleichungen.

a. Innere grammatische Angleichungen.

Unter diesen verschiedenen Formen von Angleichungsvorgängen stehen die inneren grammatischen Angleichungen offenbar den im unmittelbaren Kontakt der Laute erzeugten Lautassimila- tionen am nächsten. Zwar treffen die induzierend aufeinander wirken-

einander nennt er „Analogiebildung durch stoffliche Ausgleichung'', die An- gleichung übereinstimmender grammatischer Formen verschiedener Wörter „Analogiebildung durch formale Ausgleichung", weil dort der Wortkörper selbst eine Ausgleichung ursprünglicher Lautunterschiede zeige, während hier bloß zwischen formal zusammengehörigen Wörtern verschiedenen Stoffes die aus- gleichende Wirkung stattfinde. (Paul, in den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, herausgegeben von Paul und Braune, VI, 1879, S. 7 ff.) Wesentlich auf der Grundlage dieser Panischen Unterscheidung haben dann H. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen Formenbildung, 1879, S. 22 ff., und Wheeler, Analogy and the scope of its application in language (Cornell University, Studies in classical Phi- lology), 1887, p. 8 ff., die Analogiebildungen behandelt. Ich habe es vorgezogen, um den Unterschied von der zweiten Klasse dieser Erscheinungen kenntlich zu machen, beide Gruppen unter der Benennung der „grammatischen Angleichungen" zusammenzufassen. Übrigens sei schon hier bemerkt, daß diese Unterscheidung nur eine vorläufige ist, da, wie wir unten sehen werden, in den einzelnen Fällen die „inneren" und die „äußeren" Assoziationsmomente stets zusammenwirken, und es sich also höchstens um ein Übergewicht der einen oder der andern Rich- tung handeln kann. Die „begrifflichen Angleichungen" sind in ihrer Bedeutung für die Lautentwicklung besonders von K. Brugmann hervorgehoben und in die beiden Formen der ,,Angleichung gegensätzlicher Begriffe" und der „An- gleichung infolge von Begriffs Verwandtschaft" unterschieden worden (Brug- mann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen, 1886 bis 1893, vgl. den Sachindex unter ,,Angleichung" und die dabei angeführten einzelnen Stellen des Textes). Unter den gleichen Gesichtspunkten behandelt M. Bloomfield eine Reihe von ihm so genannter ,, Assimilationen und Adapta- tionen" (American Journal of Philology, XII, 1891, p. 14 ff., XVI, 1895, p. 420 ff.). Ebenso W. Meyer-Lübke speziell für das Gebiet der romanischen Sprachen, Gramm, der rom. Spr., I, 1890, II, 1894: siehe die Sachregister unter „Anbildung" und ,,Angleichung". Vom experimentell-psychologischen Standpunkte aus be- handeln diese Erscheinungen A. Thumb und K. Marbe, Experimentelle Unter- suchungen über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogie- bildungen, 1901, und A. Thumb, Psychologische Studien über die sprachlichen

444 Der Lautwandel.

den Laute niclit im selben Worte zusammen, aber sie geboren Wörtern an, die als Ableitungen aus einem und demselben Wortstamm einander so nahe stehen, daß die Gelegenheit zur Assoziation dieser Wortformen fortwährend geboten ist, daher denn auch hier verhältnismäßig am wenigsten ein Zweifel über die Existenz und Richtung wirklicher Assoziationen obwalten kann. Wenn z. B. der Plural des Präteritums von sterben aus dem noch im älteren Neuhochdeutsch vorkommen- den stürben in starben übergegangen ist, so hat sichtlich der Singular starb hier eine angleichende Wirkung ausgeübt. Umgekehrt, wenn im Präteritum zu werden die ältere Singularform ward gegenwärtig zwar nicht ganz verschwimden, aber doch durch die neue Form wurde zurückgedrängt ist, so hat hier der Plural wurden induzierend gewirkt. Ähnliche Umwandlungen sind ich hörte, aus dem mittelhochd. ich horte durch Angleichung an das Präsens ich höre entstanden, du fliegst^ er fliegt, du kriechst, er hriecht aus du fleugst, er fleugt, du kreuchst, er kreucht durch Angleichung an ich fliege, ich krieche. Oder das Adjek- tivum rauh statt des älteren rauch durch Angleichung an den Kom- parativ rauher usw. In manchen dieser Fälle sind die ursprünglichen Formen nicht vollständig durch die neuen, durch Angleichung gebil- deten verdrängt worden, sondern sie bestehen für gewisse Nuancen des Begriffs, wie ward neben wurde, oder in der poetischen Redeweise, wie fleugt neben fliegt, noch fort. Nicht selten begegnen wir ferner solchen Wortformen, die in der Art ihres Gebrauchs derart zwie- spältig sind, daß sich bei ihnen die induzierende Wirkung und das Beharrungsvermögen der ursprünglichen Form die Wage zu halten scheinen, wie in gesendet neben gesandt, gewendet neben gewandt usw. Auf früheren Stufen der Sprachentwicklung scheinen die inneren grammatischen Angleichungen namentlich auch bei jener allmäh- lichen Reduktion der Kasusformen der Nomina, der Genera, Tem-

Analogiebildungen, Indogermanische Forschungen, Bd. 22, 1907, S. 1 ff. Der psychologische Standpunkt dieser Arbeiten weicht von dem im folgenden zur Geltung gebrachten hauptsächlich in der Auffassung des Assoziationsbegriffs ab, den die genannten Autoren im wesentlichen in seiner hergebrachten, wie ich glaube absolut unhaltbar gewordenen Form festhalten. Vgl. hierzu Physiol. Psychol. III,» S. 502 ff. und Kleine Schriften, Bd. 2, S. 182 ff.

Grammatische Angleichungen. 445

pora und Modi des Verbums beteiligt zu sein, die z. B. in den indo- germanischen Sprachen einen durchgehenden Zug bildet^). Zuweilen ist hier wohl die Angleichung der Laute verschiedener, ursprünglich nach Begriff wie Laut abweichender Formen das Primäre gewesen. Nachdem sich erst der Lautunterschied verwischt hatte, wurde dann auch der begriffliche Unterschied allmählich verdunkelt, was freilich nur geschehen konnte, indem an die Stelle des ursprünglich durch die Flexionsform ausgedrückten konkreten Begriffsverhältnisses ein allgemeineres trat. So hat mutmaßlich diese zunächst den äußeren Lautkörper der Worte treffende Assoziationswirkung in ihren Folgen eine indirekte Wirkung auch auf die Entwicklung der Begriffe ausgeübt.

b. Äußere grammatische Angleichungen.

Wesentlich anders verhält es sich nach Bedingungen wie Wir- kungen mit den äußeren grammatischen Angleichungen. Indem bei ihnen nicht verschiedene Abwandlungsformen eines und desselben Wortes, sondern umgekehrt analoge grammatische Formen verschiedener Wörter zueinander in Beziehung treten, ist die indu- zierende Wirkung an und für sich eine entferntere, kann aber dadurch verstärkt werden, daß sie von einer größeren Zahl von Wörtern aus- geht. So hat sich im Neuhochdeutschen die Genitivendung -es vom Gebiet der Nominalstämme mit ursprünglich vokalischem Auslaut zum Teil auf das der konsonantischen Stämme ausgedehnt. Nach Analogie der Formen des Tages, des Wolfes usw. sagen wir statt des älteren des Vater, des Bruder jetzt des Vaters, des Bruders; ebenso haben die alten Genitive des Hahnen, des Schwanen den neuen des Hahnes, des Schwanes Platz gemacht. Anderseits freilich fehlt es auch nicht an der umgekehrten Induktionswirkung, wenn sie gleich die seltenere ist: statt, wie im älteren Neuhochdeutschen, des Hirtes, des Rabens heißt es jetzt des Hirten, des Raben. Vielleicht ist hier zu- nächst die Angleichung an andere einen Stand oder einen Beruf aus-

1) Vgl. Kap. VI, Nr. II und III.

446 Der Lautwandel.

drückende Wörter der schwachen Deklination, wie des Grafen, des Boten, wirksam gewesen. In nicht wenigen Fällen schwankt übrigens auch dann wieder die Form zwischen verschiedenen Wirkungen, wie in des Nachbars und des Nachbarn, des Bauers und des Bauern, des Bares imd des Bären. Eine weitere Angleichung dieser Art besteht darin, daß der in gewissen Fällen regelmäßig bestehende Umlaut des Plurals auf den Plural anderer Nomina, dem er ursprünglich nicht zukommt, eingewirkt hat. So hatte gast ursprünglich den Plur. gasti, was durch regressive Assimilation in nhd. Gäste überging, und danach sind dann Plurale wie Wölfe, Vögel, Acker gebildet worden. Nicht minder zahlreich sind ähnliche Angleichungsvorgänge im Gebiet verbaler Formen. Im ganzen ist auch hier der Übergang der sogenannten starken in die schwachen Formen überwiegend. So sind er buk, rnuhl, glomm, boll in er backte, mahlte, glimmte, bellte übergegangen. Doch stehen dem auch Angleichungen umgekehrter Richtungen gegenüber wie prieSf statt preiste, frug statt fragte. Des öfteren finden sich solche Übergänge und Mischformen auch in Dialekten, wie gelitten statt ge- läutet, gewunken statt gewinkt. In den meisten dieser Fälle ist es augen- fällig, daß ein bestimmtes Wort, das auf ein anderes mutmaßlich ein- gewirkt haben könnte, nicht anzugeben ist: er buk kann in er backte unter der Einwirkung von machte, brachte ebenso wie von lebte, legte usw., er preiste in er pries unter der von ließ wie von gab, ging, stand usw. übergegangen sein. Höchstens wird man vermuten dürfen, daß den im Klang ähnlicheren Wörtern eine intensivere Wirkung zukam, daß also ließ mehr auf pries eingewirkt haben mag als gab oder stand, machte mehr auf backte als lebte oder lobte. Im ganzen aber wird in jedem einzelnen Falle solch äußerer Angleichung eine von unbestimmt vielen Wörtern ausgehende Attraktion anzunehmen sein, wobei natür- lich die Wirkung bald in gleichem, bald in entgegengesetztem Sinne stattfinden konnte. Im letzteren Fall kann sie dann leicht zur Bildung von Doppelformen führen, die entweder als rein lautliche Schwan- kungen bestehen bleiben oder sich mit einer Differenzierung dei Be- griffe verbinden. Da solche verschieden gerichtete Attraktionen bei den äußeren grammatischen Angleichungen natürlich ungleich häufiger vorkommen als bei den inneren, während diese leichter zur Reduktion

Grammatische Angleichungen. 447

grammatischer Formen und dadurch zum Zusammenfließen gewisser Begriffsverhältnisse führen, so hat die äußere Angleichung wohl häufiger den Erfolg einer Neubildung, namentlich in den älteren Stadien der Sprachentwicklung, in denen solche Prozesse einen weiteren Spiel- raum einnehmen^).

Erscheinen nach dieser Richtung der Assoziationen innere und äußere grammatische Angleichung, so verwandt sie nach der Natur der psychischen Vorgänge sind, gewissermaßen als Gegensätze, so werden sie nun aber dadurch wieder einander näher gerückt, daß jeder Vorgang der einen Art, z. B. jede zwischen den Abwandlungen eines und desselben Wortes sich bewegende Assoziation, auch Vor- gänge der andern Art, Assoziationen mit den analogen Abwandlungs- formen anderer Wörter, nahelegt, und ebenso umgekehrt. Hat sich also auch der Plural stürben zunächst durch Angleichung an den Sin- gular starb in starben umgewandelt, so können immerhin andere im Inlaut übereinstimmende Singular- und Pluralformen wie gab gaben, machte machten, legte legten usw. als äußere Hilfskräfte mitgewirkt haben. Und wenn auf der andern Seite bei der äußeren Angleichung auf die Umwandlung von Bildungen wie buJc, muhl, glomm in backte, mahlte, glimmte in erster Linie die analogen Abwandlungsformen anderer Wortstämme, wie machte, brachte, dachte usw. eingewirkt haben werden, so läßt sich doch die Annahme nicht abweisen, daß nebenbei auch eine Art innerer Angleichung stattgefunden habe, indem die Präsensformen backe, mahle, glimme auf jene Formen des Präteritums herüberwirkten und zu ihrem allmählichen Verschwinden beitrugen. Denn psycho- logisch betrachtet steht jede Wortform, sobald es sich überhaupt um assoziative Fernewirkungen handelt, unter dem Einfluß unab- sehbar vieler Attraktionskräfte, die von den zu ihr in Beziehung stehen- den Vorstellungsresiduen ausgehen. Daß solche assoziative Beziehungen innere wie äußere sein können, das lehrt gerade die Existenz der beiden

^) Zahlreiche Beispiele für die Reduktion wie Neubildung grammatischer Formen infolge solcher Assoziationen vgl. bei Brugmann, Grundriß, unter „Ana- logiebildung'* und für das Englische bei Wheeler, Analogy, p. 12, 21 ff., für diei^ romanischen Sprachen bei Meyer-Lübke, II, S. 403 ff., 426 ff.

448 Der Lautwandel.

Hauptformen sogenannter „Analogiebildungen". Da aber im all- gemeinen bei jeder äußeren Angleicbung immer zugleich irgendwelche Motive einer inneren und ebenso bei jeder inneren solche einer äußeren tatsächlich obwalten, so sind wir gezwungen anzunehmen, daß beide assoziative Fernewirkungen immer ineinander eingreifen, und daß sich im einzelnen Fall aller Wahrscheinlichkeit nach nur ihre relative Stärke unterscheidet, während bei der inneren An- gleichung die äußere und bei der äußeren die innere als Hilfswirkung hinzukommt.

3. Begriffliche Angleichungen.

a. Angleichung durch Begriffsverwandtschaft,

Von den zumeist vorzugsweise unter dem Begriff der ,, Analogie- bildungen'' zusammengefaßten Wirkungen und Wechselwirkungen der grammatischen Abwandlungsformen, die sich deutlich bis in das gegenwärtige Leben der Sprache herab verfolgen lassen, unterscheiden sich die begrifflichen Angleichungen schon äußerlich dadurch, daß ihre Wirksamkeit wohl durchweg entweder in eine frühere Zeit der Sprachentwicklung oder, sofern sie einer späteren Periode an- gehören, in Zeiten rascher Umbildung durch Einwirkung von Volks- dialekten, Sprachmischungen u. dgl. fällt. Dies begreift sich leicht, da es sich hier um Lautumwandlungen handelt, die zumeist in die Vorgänge der Wortbildung selbst eingreifen, und bei denen daher das Wort als solches gewissermaßen noch im Flusse der Entwicklung begriffen ist. So treten uns namentlich Bezeichnungen für korrelative Begriffe schon in früher Zeit oft in lautlich verwandten Formen ent- gegen, die wegen dieses Parallelismus von Laut und Begriff mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine ursprüngliche Angleichung durch Ähnlichkeit der Bedeutung zurückgeführt werden können. Als sicher erwiesen kann aber freilich der Angleichungsvorgang nur dann gelten, wenn das eine Glied eines solchen Wortpaars auf einer älteren Stufe nachgewiesen werden kann, wo es jene Lautähnlichkeit noch nicht besaß, und namentlich läßt sich auch nur in diesem Fall die

Begriffliche Angleichungen. 449

Richtung bestimmen, in der die induzierende Wirkung stattfand. So haben sich wahrscheinlich schon in urindogermanischer Vorzeit die Endungen der Namen für Schwester und Bruder, *su€sdr und *hhraiör, sowie für Vater und Mutter, pater und tnater, in Angleichung aneinander gebildet. Ähnlich scheinen vielfach die Lautformen der verschiedenen Personalpronomina, des Ich, Du, Er, einander angeglichen zu sein. So lassen die drei Personen in den ural-altaischen Sprachen, wie im Lappischen mon ton son, im Magyarischen en te ö, deut- lich eine Angleichung des Vokalklangs erkennen, wobei jedoch die auf den konsonantischen Lauten ruhende Verwandtschaft der ver- schiedenen Sprachen älter ist als die im allgemeinen auf eine engere Sprachgruppe beschränkte Analogie der Vokalklänge. In den indo- germanischen Sprachen sind bei der allmählichen Reduktion der Kasusformen des Nomens neben grammatischen Lautangleichungen jedenfalls auch Assoziationen nach begrifflicher Verwandtschaft wirk- sam gewesen^). Besonders ausgeprägt, namentlich in bezug auf die Richtung der stattgehabten Angleichung, erscheinen die Wirkungen dieser Vorgänge bei gewissen Verbal- und Nominalformen von ähn- licher Bedeutung, aber abweichender Abstammung, wenn das eine der begriffsverwandten Wörter in einer Lautmodifikation vorkommt, die auf die angleichende Wirkung des andern zurückgeführt werden kann. So hat gr. agvco ,, schöpfe" die Nebenform agvoatj, die unter der Wirkung von aq)voGCü ,, schöpfe" entstanden zu sein scheint. So ist ferner (pdqvy^ für ein ursprüngliches (fccQv^ „Schlund" eingetreten, offenbar durch Angleichung an ^ctQvy^ ,, Kehlkopf". So hat sich ferner ital. furneccio ,, Diebstahl" wahrscheinlich nach ladroneccio, franz. rougeole ,, Röteln" nach veröle ,, Pocken" gebildet usw.

b. Angleichung durch Kontrast der Begriffe.

Noch häufiger scheint die zweite Form begrifflicher Angleichung zu sein, die nach Kontrast der Begriffe. Sie findet, wie das die Natur des logischen Gegensatzes mit sich bringt, regelmäßig zwischen Gliedern eines Begriffspaars statt, was bei der vorigen Form zwar

1) Vgl. Kap. VI, Nr. IL

W HD dt, Völkerpsychologie. 1. 4. Aufl. ^*^

450 I^er Lautwandel.

ebenfalls vorkommen kann, aber doch nicht überall zutrifft. Übrigens bildet der Kontrast auch hier gelegentlich nur einen Grenzfall der Verwandtschaft, insofern eine Angleichung durch Gegensatz bloß stattfinden kann, wenn sich die gegensätzlichen Begriffe als die End- glieder eines und desselben Begriffskontinuums betrachten lassen, wie groß und klein, gut und schlecht, schwer und leicht usw. So ver- mutet man, daß in den Präpositionen evg, eig ,,in", ,, hinein" das g zu der einfacheren lokalen Präposition ev ,,in" nach Analogie von €§ „aus" hinzugefügt worden sei, so daß nun die begrifflichen Gegen- sätze des ,, herein" und ,, heraus" durch den gleichen Endlaut zu- sammengehalten werden. Ähnlich ist OTtioS-e ,, hinten" für das ältere OTtid^e wahrscheinlich durch Angleichung an TtQoode ,,vorn" ge- bildet. Im Lat. entstand, wie man annimmt, aus einem ursprüng- lichen Neutrum minius ,,die Minderheit" das Adjektivum minor, mi- nor is durch Angleichung an 7najor, majoris. Das altlat. ningulus statt nullus ,, keiner" scheint eine Angleichung an singulus ,,ein einziger" zu sein. So wird ferner senecta ,,das Greisenalter" nach Analogie von juventa ,,die Jugend", aber wohl auch umgekehrt Juventus nach Ana- logie von senectus, senectutis gebildet; meridionalis ist an die Stelle des regulär gebildeten meridialis „mittäglich" getreten, nach dem Vorbilde von septentrionalis ,, mitternächtlich". Im ital. greve aus lat. grave ,, schwer" ist der lautgesetzlich nicht begründete Übergang des a in e mutmaßlich in Anlehnung an leve ,, leicht" aus lat. levis er- folgt. Aus lat. reddere ,, wiedergeben' hat sich, wohl durch Einwirkung von frendere ,, nehmen", ital. rendere, franz. rendre gebildet. Im Deutschen sind Sommer und Winter, ahd. sumar, wintar, ein Begriffs- paar, bei dem das zweite nach dem ersten Worte gebildet zu sein scheint. Der irreguläre Genitiv Nachts ist wahrscheinlich durch Angleichung an Tags, das dialektisch vorkommende heute Morgend nach Analogie von heute Abend entstanden usw. ^).

^) Vgl. über diese Erscheinungen außer Brugmann a. a. O. noch Wheeler, Analogy, p. 19 ff. und Meyer-Lübke, I, II im Register unter „Angleichung".

Begriffliche Angleichungen. 451

c. Komplikationen der Angleicliungsvorgänge.

Die verschiedenen Formen sogenannter „Analogiebildung", die grammatische und begriffliche Angleichung infolge von Verwandt- schaft und Gegensatz, sind nun keineswegs überall getrennt von- einander vorkommende Erscheinungen, sondern sie können in der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen, sich unterstützen oder entgegenwirken und sich in einzelnen Fällen wohl auch mit den oben behandelten Nahewirkungen der Laute, den Assimilationen und Dissi- milationen, verbinden. So fügen z. B. unsere zahlreichen deutschen Komposita mit genitivischer Bildung des ersten Wortbestandteils bekanntlich an dieses nicht selten das Genitivsuffix -s auch dann an, wenn das Wort für sich allein diese Genitivendung nicht hat: wir sagen nicht bloß Kriegsgeschrei, Ratsversammlung, Berufswahl, sondern auch Regierungsrat, Gründungsfest usw. Aber diesen stehen andere Beispiele gegenüber, wo die gleiche Endung nicht in das Kom- po itum eingedrungen ist, obgleich das Simplex sie hat, wie in Hof- rat, Vaterhaus, Jubeljahr u. a. Hier werden wir demnach annehmen dürfen, daß die echten Genitivbildungen von Wörtern wie Ratsver- Sammlung, Berufswahl usw. auf die andern Komposita angleichend eingewirkt haben, daß dies aber hauptsächlich in solchen Fällen ge- schehen sei, wo der Lautübergang von dem ersten zum zweiten Teile des Kompositums dies begünstigte. Wir können also wohl diese Er- scheinung als ein Mischprodukt aus Angleichung an verwandte gram- matische Formen und aus dissimilierender Kontaktwirkung der Laute betrachten. Häufiger noch kommen Komplikationen der verschie- denen Arten begrifflicher Angleichung untereinander sowie mit den grammatischen Angleichungen vor. So hatte f,iala „sehr" ursprüng- lich wohl zwei Komparativformen: (iiähov {/.idhaTo) und "^fxilXov. Der Übergang dieses "^f-UXlov in /.lällov kann dann einerseits aus der grammatischen Angleichung an f.tdla, ^dhara, anderseits aus der begrifflichen Angleichung an Bildungen, die irgendwelche andere Größenbestimmungen ausdrücken, wie t«/«, d-daoov (raxt-ov), r«/f(rra, eläaaov, eldxiOTa, abgeleitet werden. Bei den mannigfaltigen asso- ziativen Beziehungen, in denen das einzelne Wort zu andern Wörtern

29*

452 Der Lautwandel.

steht, ist in diesen und allen ähnlichen Fällen in der Tat die Kompli- kation der Motive wahrscheinlicher als die isolierte Wirksamkeit eines einzelnen. Im allgemeinen werden wir daher auch hier nach dem Prinzip der „Komplikation der Bedingungen'' den Lautcharakter, den das einzelne Wort im Laufe seiner Entwicklung annimmt, als das Erzeugnis einer Vielheit mannigfach interferierender Ursachen ansehen müssen, die sich teils unterstützen, teils auch einander ent- gegenwirken können, so daß sich in bestimmten Wörtern gewisse Lautmetamorphosen nicht vollziehen, die in andern, sonst ihnen pa- rallel gehenden eingetreten sind. So ist im Präsens des Verbum subst. eifiL ,,ich bin" die erste Person Plur. aus elfAtv in ea/uEv übergegangen, augenscheinlich durch eine von den Mehrheitsformen der zweiten Person lotbvj iore ausgeübte Attraktion, die gleichzeitig als eine grammatische und als eine begriffliche, letztere vermittelt durch die in beiden Fällen vorhandene Mehrheitsvorstellung, betrachtet werden kann. Es handelt sich also hier um eine Interferenz gleich gerichteter Einflüsse. Dagegen ist im Imperf. des gleichen Verbums die analoge Angleichung nicht erfolgt: neben rjoroVy rjaze ist hier i^f.iev stehen geblieben, nicht in rjoinev übergegangen. Den Grund hierzu kann man aber in den zahlreichen andern Verbalformen mit der gleichen Pluralendung finden, wie sYrjfASv, eßrjf^eVf eößr}f,iev, eine Wirkung, die selbst wieder als die Verbindung einer äußeren grammatischen Angleichung mit einer durch die Mehrheitsvorstellung vermittelten Begriffsassoziation betrachtet werden kann, durch welche die an- gleichende Wirkung der Formen ^atov, fjore paralysiert wurde, also in diesem Fall eine Interferenz entgegengesetzt gerichteter Ein- flüsse, wobei der eine, offenbar derjenige der sich aus den meisten Einzelkräften zusammensetzt, obsiegte^).

^) Vgl. Brugmann, Berichte der kgl. sächs. Ges. d. Wiss., Phil. -bist. KL 1897, S. 185 ffi

Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 453

4. Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen.

a. Entstellung der Fernewirkungen aus elementaren Asso- ziationen.

Greifen auf diese Weise die vier oben unterschiedenen Grund- formen psychischer Angleichungsvorgänge in so mannigfacher Weise ineinander ein, daß der einzelne Fall wohl zumeist aus einem Zu- sammen- und Gegenwirken verschiedener Bedingungen hervorgegangen ist, so deutet nun schon das Wort ,,Angleichung", das einen für alle Fälle gemeinsamen Begriff bezeichnet, auf einen im ganzen überein- stimmenden Charakter aller dieser assoziativen Femewirkungen und zugleich auf Beziehungen zu den oben erörterten Kontaktwirkungen hin. Dies bewährt sich auch darin, daß beide, die Ferne- wie die Nahe- wirkungen der Laute, in den Formen, in denen sie uns in der Sprache begegnen, an individuelle Abweichungen erinnern, die auf den nämlichen physischen und psychischen Bedingungen beruhen. Wie die Lautveränderungen infolge von Kontaktwirkungen in den ver- schiedenen Lautvermengungen (Paralalien) ihre Vorbilder haben, so finden sich solche zu den mannigfaltigsten ,, Analogiebildungen" vor allem in jenen Erscheinungen der Wortvermengung (Onomato- mixie), die zusammen mit Paralalien bei dem ,, Versprechen" des Zerstreuten, bei dem Gebrauch einer nicht geläufigen Sprache oder einzelner Wörter einer solchen oder endlich bei dem Kind in der Pe- riode der Aneignung der Sprache vorkommen (S. 314 ff.). Hierbei besteht der Unterschied zwischen den Erscheinungen des Versprechens der Redegeübten und den Sprachfehlern der Sprechenlernenden im wesentlichen nur darin, daß bei jenen irgendeine ganz zufällige Wort- assoziation die Abweichung herbeiführt, die dann bei klarer Besinnung leicht als Fehler erkannt wird, während bei diesen die Abweichung von dem Sprachgesetz ebensowenig wie die Übereinstimmung mit demselben direkt zum Bewußtsein kommt. Hier zeigen aber jene Wortvermengungen des gewöhnlichen Versprechens deutlich, daß die Ursachen zu solchen Abweichungen in jedem Bewußtsein vor- handen sind. Zugleich wird es begreiflich, daß diese die bestimmte,

454 Der Lautwandel.

vorzugsweise den Abwandlungsformen der Wörter zugekehrte Richtung nur da annehmen, wo die eigentümlichen Bedingungen hinzutreten, die bei der Aneignung einer Sprache obwalten. Nun bleiben diese Bedingungen in einem gewissen Grad immer bestehen. Eine jüngere Generation eignet sich die überlieferte Sprache von neuem an, und in geringerem Umfange bleibt auch der Sprachgeübte den Wirkungen, die verwandte Wortbildungen auf die Aussprache des einzelnen Wortes ausüben, fortan ausgesetzt. Auf einer je früheren Stufe der Kultur sich die Sprachgemeinschaft befindet, je weniger namentlich die Sprache durch die Literatur fixiert ist, einen um so größeren Spielraum müssen natürlich solche individuelle Einflüsse gewinnen. So führt auch hier, gerade so wie bei den Kontaktwirkungen der Laute, diese Betrachtung zu dem Ergebnis, daß jede in der Sprache zur Herrschaft gelangte Abweichung von den Laut- und Formgesetzen infolge grammatischer oder begrifflicher Angleichungen ursprünglich ein individueller Vor- gang war, der, während eine Menge ähnlicher individueller Abwei- chungen spurlos verschwand, durch begünstigende Bedingungen sich verbreitete, bis seine Wirkung schließlich allgemein wurde. Damit ist nicht gesagt, daß eine solche Abweichung nur in einem ein- zigen Individuum ihren Ursprung genommen habe. Vielmehr, je günstigere Bedingungen der Verbreitung sie vorfand, um so mehr wird auch schon ihre Entstehung erleichtert gewesen sein, so daß viele Einzelne unabhängig voneinander den gleichen Wirkungen unterlagen.

Mit diesem individuellen Ursprung der generellen Erscheinungen ist für die Natur der Prozesse vor allem dies sichergestellt, daß auch hier von einer teleologischen, Willkür und Absicht zu Hilfe rufenden Interpretation unmöglich die Rede sein kann. Denn alle jene indivi- duellen Erscheinungen treten ganz von selbst, ungewollt und zunächst ohne jedes Bewußtsein der wirklich stattfindenden Abweichung ein. Wie die individuelle, so kann also auch die generelle Erscheinung nur in einem psychischen oder physischen Mechanismus oder, da die Sprache eine doppelseitige Funktion ist, in einem psychophysischen begründet sein. Hier weisen aber in psychologischer Hinsicht alle diese Erscheinungen so zwingend auf Vorgänge der Assoziation hin, daß die Ausdrücke ,, Analogiebildungen'' und ,, sprachliche Asso-

Psychologische Theorie der assoziativen Fernewirkungen. 455

ziationen" vielfach schon als gleichbedeutend gebraucht worden sind^). Doch ist auch hier mit diesem allgemeinen Ausdruck wenig getan, solange man sich nicht nähere Rechenschaft darüber gibt, wie die Assoziationen beschaffen sind. Das Wort ,, Assoziation'' selbst sagt nicht mehr, als daß infolge irgendwelcher Beziehungen zwischen psy- chischen Inhalten lediglich vermöge der Eigenschaften, die diese selbst besitzen, also ohne Zutun unseres Willens oder vermittelnder intellek- tueller Vorgänge, eine Verbindung zwischen jenen Inhalten eingetreten sei. Und man redet von einem ,, Mechanismus der Assoziationen", um anzudeuten, daß keine außerhalb der assoziierten Vorstellungen liegenden psychologisch nachweisbaren Ursachen, wie z. B. Willens- handlungen oder logische Überlegungen, die Verbindung erzeugt haben. Aber mit diesem in seiner Allgemeinheit höchst unbestimmten Begriff ist für die beschreibende Analyse des Tatbestandes selber so gut wie nichts gewonnen, und die ohne Rücksicht auf überlieferte psycho- logische Begriffe gebrauchten Ausdrücke ,, Analogiebildungen" und ,,Angleichungen" sind insofern sogar zutreffender, als sie wenigstens das jedesmalige Endergebnis des sprachlichen Vorgangs deutlich be- zeichnen. Ja, nimmt man den Begriff der „Assoziation" in dem- jenigen Sinn, in dem ihn die sogenannte ,, Assoziationspsychologie" des 18. Jahrhunderts ausgebildet hat, und in dem er von vielen Psy- chologen noch gegenwärtig festgehalten imd speziell auch auf diese sprachlichen Vorgänge angewandt wird, so muß man noch einen Schritt weiter gehen, dann ist jener Ausdruck nicht nur zu unbestimmt, sondern in dieser Anwendung geradezu falsch: Assoziationen in dem hergebrachten Sinne sind die sogenannten Analogie- bildungen und Angleichungen überhaupt nicht. Jenem Begriff gemäß soll nämlich die Assoziation ein Vorgang sein, der im allgemeinen auf zwei Vorstellungen Ä und B sich erstreckt, von denen die eine die andere in das Bewußtsein hebe, weil sie irgendwie ähn- lich, oder weil sie gewohnheitsmäßig oft mit ihr verbunden gewesen sei. Man unterscheidet danach die Ähnlichkeits- und die Berührungs- assoziation, die manche Psychologen auch auf eine Form zu redu- zieren suchen, indem sie entweder die Berührung auf Ähnlichkeit

1) Vgl. oben S. 380 f.

456 I^er Lautwandel.

oder und dies wohl häufiger die Ähnlichkeit auf Berührung zu- rückführen^). Auch bei diesem Streite wird jedoch daran festgehalten, daß die Assoziation in jedem einzelnen Fall auf einer irgendwie ent- standenen Affinität zwischen je zwei Vorstellungen beruhe, die bei der Anziehung, die sie aufeinander ausüben, im wesentlichen unver- ändert bleiben. Wenn A von einem direkten Eindrucke herstammt und B ein dem A assoziiertes Erinnerungsbild ist, so soll dieses B zwar manchmal, gerade so gut wie der Eindruck A selbst, unvollständig oder undeutlich wahrgenommen werden. Aber dies soll nicht hindern, daß in einem gegebenen Assoziationsakt jeweils nur ein bestimmtes A mit einem bestimmten B verbunden werden kann. Kommt irgend- eine dritte Vorstellung C mit ins Spiel, so soll das eben nur in einem neuen Assoziationsakt geschehen können. Dieser Voraussetzung eines von Vorstellung zu Vorstellung reichenden Bandes entspricht es denn auch ganz, daß man jede Assoziation als einen sukzessiven Vorgang auffaßt, weil zuerst das eine Glied A der Verbindung und dann das andere B im Bewußtsein auftrete. Das Schema, nach dem man die gewöhnlichen Erinnerungsvorgänge nicht beobachtet, aber mit einem gewissen Schein von Wahrscheinlichkeit logisch ge- gliedert hatte, wurde hier zum Schema der Assoziation und Repro- duktion überhaupt. Wenn irgendein Eindruck an ein früheres Er- lebnis erinnere, dann sei, so reflektierte man, zuerst der Eindruck da und hierauf das Gedächtnisbild; ähnlich schlinge daher überall die Assoziation ihre Bande zwischen unsern Vorstellungen. Wie der Eindruck das Erinnerungsbild, so könne dieses ein anderes Erinnerungs- bild emporheben. Auf solche Weise sollen Assoziationsreihen von mehr oder minder großer Ausdehnung entstehen, in denen die folgenden Vorstellungen immer an die früheren anknüpfen, mögen sie nun mit den unmittelbar vorangegangenen Gliedern der Reihe oder mit weiter zurückliegenden verbunden sein.

Mißt man die grammatischen und begrifflichen Angleichungen der Sprache an diesem überlieferten Schema der Assoziation, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß beide Begriffe nicht im geringsten

1) Grundriß der Psychologie, lo S. 271 ff. Kleine Schriften, Bd. S. 182 ff.

Psychologische Theorie der assoziativen Ferne Wirkungen. 457

sich decken. Erstens ist es in den meisten Fällen nicht ein einzelnes Wort, dem ein anderes angeglichen wird, sondern eine Vielheit, nicht selten eine mibestimmte Vielheit von Wörtern. Zweitens wirkt, wo je einmal die vorwiegende Assoziation eines bestimmten Wortes nach- weisbar ist, dieses nicht als ganzes, sondern in irgendeinem einzelnen Lautbestandteil, während seine andern Elemente völlig wirkungslos bleiben. Drittens kann ein und dasselbe Wort verschiedenen, von ganz abweichenden Wörtern ausgehenden Wirkungen unterworfen sein, Interferenzphänomene, die bald Verstärkung, bald Komplikation der Wirkungen, bald aber auch Kombinationen verschiedener neben- einander stattfindender Lautinduktionen erzeugen können. Viertens endlich ist von einer Sukzession d-er Vorstellungen in keinem einzigen Beispiel dieser Angleichungsvorgänge, mögen sie auf eine Mehrheit nebeneinander hergehender Wirkungen oder nur auf eine einzige liin weisen, irgend etwas wahrzunehmen. Daß das induzierende und das induzierte Wort im unmittelbaren Zusammenhang der Kede sich berühren, ist nur ein seltener Ausnahmefall, der bereits auf der Über- gangsstufe zur Kontaktwirkimg steht. Freilich ist aber auch bei dieser, wie wir sahen, das eigentliche Motiv der Wirkung nicht eine dem üb- lichen Schema entsprechende „Reproduktion und Assoziation", son- dern es besteht in der Vorausnahme und Nachwirkung bestimmter Laute und Lautbewegungen, die sich unwillkürlich und bei den Assi- milationen vollkommen simultan mit dem gesprochenen Laute ver- binden (S. 431 ff.).

In der Tat lassen sich daher die sämtlichen Formen der An- gleichung, der grammatischen wie der begrifflichen, nur als simul- tane Assoziationen oder, wie wir diese nennen, wenn es sich um Ver- l^indungen innerhalb eines und desselben Sinnesgebiets handelt, als psychische Assimilationen verstehen, an denen aber nicht, wie die alte Assoziationstheorie voraussetzt, fest begrenzte fertige Vor- stellungen, sondern Vorstellungselemente beteiligt sind. Das Produkt dieser elementaren Verbindungen steht als eine einheitliche Vorstellung im Bewußtsein, und erst durch die psychologische Ana- lyse der unmittelbaren Bedingungen und der entfernteren Vorbe- dingungen, unter denen es entstand, kann es einigermaßen in seine Bestandteile zerlegt werden. Solche Assimilationen begegnen uns

458 Der Lautwandel.

schon im Gebiet der normalen Sinneswahrnehmung überall. Der Vorstellungsinhalt irgendeiner Wahrnehmung erklärt sich im all- gemeinen niemals zureichend aus der Zusammensetzung des Eindrucks, sondern er besteht immer zugleich aus Assoziationen mit den Elementen vorangegangener Vorstellungen, mit denen sich die Elemente de» wirklichen Eindrucks wechselseitig assimiliert haben. Daium nimmt, auch abgesehen von der verschiedenen Beschaffenheit der Sinnes- organe und dem verschiedenen Standpunkt der Betrachtung, vermut- lich kein Mensch einen Gegenstand genau ebenso wie ein anderer wahr» Jeder bringt zu dem Eindruck wieder andere Bedingungen hinzu, andere Vorstellungselemente, die zu dem gegebenen Objekt in irgend- welche Beziehungen treten können, «ei es daß sie sich angleichen und dadurch den Eindruck verstärken, sei es daß ihnen aus vorangegangenen Verbindungen Elemente anhaften, die dem unmittelbaren Eindruck fehlen. Alle diese Bedingungen treten uns am deutlichsten bei jenen künstlichen Steigerungen und willkürlichen Variationen der Assi- milationswirkungen entgegen, wie sie sich bei den experimentell er- zeugten Sinnestäuschungen beobachten lassen^). Auf diese simul- tanen Assoziationen den von Leibniz in wesentlich anderem Sinne geschaffenen Begriff der ,, Apperzeption" zu übertragen, ist schon deshalb unzulässig, weil dadurch jene simultanen Vorgänge von der Gesamtheit der übrigen Assoziationen, mit denen sie auf das engste zusammenhängen, und zu denen sie die mannigfachsten Übergänge darbieten, getrennt werden, so daß die falsche Vorstellung einer spe- zifischen Verschiedenheit der Vorgänge selbst erweckt wird^).

^) Grundriß der Psychologie, i* S. 278 ff. Grundzüge der physiol. Psyehol.,^ II,, S. 575 ff., III, S. 502 ff. Phil. Stud. XIV, S. 32 ff. Kleine Schriften III, S. 312 ff.

2) Es ist bezeichnend, daß dieser von Her hart eingeführte, nach unserer heutigen Kenntnis der Assoziationen unbrauchbar gewordene Begriff der „Apper- zeption" auch heute noch hauptsächlich von Philosophen angewandt wird, die in bezug auf die Assoziationen selbst an dem unzulänglichen Schematismus der Assoziationspsychologie festhalten. So stützen sich hier zwei unhaltbare Begriffe wechselseitig. Daß man bei dieser irreführenden Anwendung des Apper- zeptionsprinzips zugleich einer passenden Bezeichnung für die elementaren Funk- tionen des Willens und der Aufmerksamkeit verlustig geht, wird sich, abgesehen von den hierher gehörigen Tatsachen der Individualpsychologie, auch bei den sprachlichen Vorgängen der Wortbildung und Satzfügung deutlich ergeben. (Vgl. Kap. V und VII.)

Psychologische Theorie der assoziativen Feme Wirkungen. 459

Wie die Erscheinungen der normalen Illusionen bei der Sinne^- wahrnelimung, so bilden nun die Analogiebildungen und Angleichungen innerhalb der Sprache ein Gebiet, auf welchem sich die völlig passive, ohne jede Beteiligung unseres Wollens und Denkens erfolgende und dabei doch überaus fruchtbare und schöpferische Wirksamkeit der Assimilationen auf das klarste entfaltet. Zugleich bilden diese Er- scheinungen ein für das Studium der psychischen Prozesse höchst wertvolles Beobachtungsmaterial, einerseits weil uns hier die Vor- gänge selbst unter wesentlich andern und vorwickelteren Bedingungen entgegentreten als bei den Sinneswahrnehmungen, imd anderseits weil die Zeugnisse der Sprachgeschichte in der Regel bestimmtere Hinweise auf die Ursachen der Vorgänge und das Verhältnis der in assimilative Wechselwirkung tretenden Elemente enthalten. Dies zeigt sich auch daran, daß in diesem Fall die Erscheinungen schon für die äußere Beobachtung in mehrere, scharf zu unterscheidende Gruppen auseinander treten, deren Eigentümlichkeiten jedesmal auf Unterschiede der psychischen Bedingungen selbst hinweisen. Hierdurch bilden diese Assimilationsvorgänge auf dem Gebiete der Sprache ganz besonders schlagende Belege für das sich bei allen asso- ziativen Prozessen bewährende Prinzip, daß eine Assoziation überhaupt nicht zwischen Vorstellungen, sondern immer nur zwischen Vorstellungselementen stattfindet, indem gleiche Elemente mit gleichen, berührende mit berühren- den früherer Vorstellungen sich zu verbinden streben. Da nun aber solche Elemente niemals in isoliertem Zustande, sondern sowohl vor wie nach eingetretener Assimilation immer nur in ihrer Verbindung mit andern Bestandteilen als vorstellbare psychische In- halte vorkommen, so können sie überhaupt nur als Dispositionen unserer Seele gedacht werden, denen zugleich irgendwelche physische Dispositionen in den Sinneszentren entsprechen werden. Sie gehen erst in dem Moment in vorstellbare psychische Inhalte über, wo sie sich mit weiteren Elementen verbinden, mögen nun letztere durch unmittelbare Sinneseindrücke erweckt werden oder selbst zu den wieder aktuell gewordenen Dispositionen gehören. Die in einem ge- gebenen Augenblick im Bewußtsein auftauchende, aus Elementen zahlreicher und zum Teil weit abweichender früherer Eindrücke auf-

460 Der Lautwandel.

gebaute Vorstellung wird daher als Ganzes wie in allen ihren Teilen stets nur in dem Augenblick zu einer wirklichen Vorstellung, wo sich die assimilative Verbindung vollzieht. Vorher sind die Elemente bloß als latente psychische Kräfte vorhanden gewesen, die sich erso in ihrer nachherigen Beteiligung an einer gegebenen Vorstellungswirkung zu erkennen geben. Den Dispositionen, insofern sie in dieser Weise zu- gleich latente psychische Kräfte sind, lassen sich nun bildlich, wenn wir die Verhältnisse der physischen Kräfte auf sie übertragen denken, immer attraktive und repulsive Wirkungen zuschreiben: attraktive, die gleiche und berührende Elemente iu das Bewußtsein zu heben streben ; repulsive, durch die sonstige Elemente, die ihnen widerstreiten, unter der Schwelle des Bewußtseins gehalten werden. Gerade für dieses Wechselspiel der Attraktion und Repulsion der Vorstellungselemente, das wir gelegentlich schon bei den Wahrnehmungsvorgängen beobach- ten, bieten die analogen Erscheinungen auf dem Gebiet der Sprache die deutlichsten Belege, besonders in jenen Fällen, wo zwei Angleichungs- prozesse miteinander in Wettstreit geraten und der Enderfolg dann eine Verbindimg mehrerer partieller Angleichungen aufweist. Wenn z. B. */««UAov nicht in */«^AAoj', wie die Angleichung an verwandte Komparativformen vermuten ließe, sondern durch eine nebenher gehende Angleichung an juala^ die wahrscheinlich noch durch eine von analogen Steigerungsbegriffen, wie ^äaGov, släaoov ausgehende Attraktion unterstützt wurde, in ixälXov übergegangen ist, so hat hier die von dem a-Laut ausgeübte angleichende Wirkung zugleich eine Repulsion auf den e-Laut ausgeübt, die stärker war als die sonst diesem zur Seite stehenden attrahierenden Kräfte.

Um die Wirkungen, aus denen solche den sprachlichen Analogie- bildungen zugrunde liegende psychische Assimilationen hervor- gehen, richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß alle jene Er- scheinungen nur einzelne Fälle sind, in denen vermöge besonderer, irgendeine Abweichung vom normalen Verhalten herbeiführender Bedingungen die Attraktionen und Repulsionen psychischer Elemente deutlicher hervortreten. In Wahrheit besteht aber alles Sprechen in fortwährenden Analogiebildungen und Angleichungen, und wir würden niemals zur Beherrschung einer Sprache gelangen, wenn nicht fort und fort Dispositionen zur Assoziation der Vorstellungselemente

Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 461

entstünden und sich verstärkten. Oline Zaudern bilden wir in einer uns geläufigen Spraclie die Kasusformen des Substantivs, die Ab- wandlungen des Verbums oder selbst Wortzusammensetzimgen, ohne sie uns im einzelnen Fall direkt angeeignet zu haben. Wir tragen ge- wissermaßen paradigmatische Vorstellungsreihen als latente Kräfte in uns, deren Latenz aber eben darin besteht, daß sie uns nicht, wie die Paradigmen der wirklichen Grammatik, in Gestalt bestimmter einzelner Vorstellungen gegeben sind, sondern daß sie nur in der Form elementarer funktioneller Anlagen in uns liegen, von denen jeweils diejenigen aktuell werden, die durch die gegebene Bewußtseinslage begünstigt sind. Wenn wir eine einzelne grammatische Form bilden, so werden wir uns daher nur sehr selten und unter Ausnahmebedingimgen irgendeiner anderen Wortvorstellung bewußt, der sie analog ist. Viel- mehr wirken die zugehörigen und im Augenblick disponibeln Elemente wie eine Totalkraft, die uns bloß in ihrem Effekt, nicht in den zahl- losen einzelnen Komponenten gegeben ist, aus denen sie sich zusammen- setzt. Ein überraschendes und freilich auch nur partiell erhellendes Licht fällt auf diese Vorgänge erst da, wo sie etwa einmal in ungewöhn- licher Form verlaufen, wo also statt der erwarteten andere Attrak- tionswirkungen, sogenannte ,, falsche Analogien", zustande kommen. Sie spielen in der Tat im Gebiet der Sprache etwa dieselbe Rolle wie in dem der Sinneswahrnehmung die „normalen Sinnestäuschungen." In Wirklichkeit sind diese ebensowenig Urteilsfehler, als die man sie früher häufig betrachtet hat, wie die sogenannten falschen Analogien Sprachfehler sind. Wie vielmehr jene aus den schon bei der normalen Sinneswahrnehmung wirksamen Gesetzen, so sind auch diese aus den Assoziationsgesetzen hervorgegangen, die sich überall in der Sprache betätigen. Nur der Umstand, daß die Assoziationen der Elemente infolge bestimmter Bedingungen ungewöhnlicher Art sind, gibt ihnen ihre eigenartige Stellung und zugleich ihren großen heuristischen Wert. Beide Fälle gehören zu jenen, wo die Natur für uns experimen- tiert, indem sie eine Veränderung der Bedingungen herbeiführt, die einer willkürlichen Variation derselben gleichkommt.

462 Der Lautwandel.

b. Psychologische Analyse der vier Hauptformen der

Lautangleichung.

Betrachtet man die vier oben unterschiedenen Gruppen der An- gleichung sprachlicher Formen nach den durch diese Zurückführung auf elementare psychische Assimilationen geforderten Gesichtspunkten, so zeigt sich kein wesentlicher Unterschied der Elementarprozesse selbst. Wohl aber führen die Erscheinungen zur Annahme einer ver- schiedenen und für jede Gruppe höchst charakteristischen Verteilungs- weise der Elementarwirkungen. Hierbei ist, wie bei allen sprach- lichen Erscheinungen, jede Vorstellung als Komplikation eines begriff- lichen Inhalts und einer zugehörigen Lautvorstellung aufzufassen. Wegen der Festigkeit dieser Komplikation wird im allgemeinen eine Assoziation der begrifflichen immer auch eine solche der lautlichen Elemente herbeiführen; es wird aber auch umgekehrt die Lautattrak- tion eine Assoziation der Begriffe veranlassen können. Zugleich' bringt es die Verkettung der sprachlicnen Komplikationen mit sich, daß keine der erwähnten Attraktionswirkungen jemals für sich allein vor- kommt, sondern daß es sich überall nur um vorwiegende Kichtungen handeln kann.

In einer Hinsicht stimmen nun trotz sonstiger Verschieden- heit der Bedingungen die vier Gruppen der Angleichungsprozesse überein. Das ist die allgemeine Richtung, in der die lautändernden Kräfte wirken. Unterscheiden wir die Lautelemente eines Wortes in solche, die dem in dem Worte ruhenden, relativ konstant bleiben- den Grundbegriff angehören, und in andere, die den verschiedenen Modifikationen entsprechen, in denen jener Grundbegriff infolge seiner Beziehung zu andern Begriffen vorkommt, so können wir die Elemente der ersten Art als die Grundelemente, die der zweiten als die Be- ziehungselemente des Wortes bezeichnen^). Die Unterscheidung dieser Elemente berührt sich zwar mit der grammatischen Unter- scheidung des Wortstamms und der Flexionsbestandteile, aber sie ist von allgemeinerer Bedeutung. Indem wir uns nämlich dabei das

^) Näheres über die Bedeutung dieser Elemente für die Wortbildung vgl. unten Kap, V, Nr. III.

Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen. 463

Wort nicht in einen einzigen konstanten Grundbestandteil und in einen oder einige Beziehungsbestandteile zerlegt denken, sondern in seine Lautelemente, die je nach ihrer Bedeutung Grundelemente oder Beziehungselemente sein können, entspricht es dem fließenden Charakter der in der Sprache ausgedrückten Begriffe und Begriffs- beziehungen, daß auch dieses Verhältnis zwischen Grmidelementen und Beziehungselementen ein fließendes ist. Gewisse Elemente, die sich in zahlreichen Umwandlungsformen als Grundelemente bewähren, können in andern in die Reihe der Beziehungselemente übertreten, während bei der Stabilisierung gewisser Flexionsformen und bei der Wortkomposition umgekehrt Beziehungselemente zuweilen zu Grund- elementen werden oder auch zu selbständigen Beziehungswörtern sich verbinden. Angesichts des nie rastenden Wirkens der sprach- bildenden Vorgänge beanspruchen daher jene Bezeichnungen an und für sich nur eine relative Bedeutung: Grundelemente sind überall nur diejenigen Lautelemente, die innerhalb einer Reihe zusammen- gehöriger Laut- und Begriffsänderungen konstant bleiben und eben darum für den Redenden die Träger des Grundbegriffs sind; Be- ziehungselemente diejenigen, die durch ihr Gebundensein an die Be- ziehungen und Verbindungen, in die der Begriff tritt, von selbst die Bedeutmig variabler Begriffsmodifikationen annehmen.

Fassen wir in diesem relativen, aber in jedem einzelnen Fall der Anwendung doch eindeutigen Sinne jenen durch die natürliche Stellung des Wortes in der Rede gegebenen Gegensatz auf, so bilden nun die sämtlichen oben betrachteten Angleichungen, wenn wir für sie wieder den Begriff der ,, Lautinduktion'' benutzen, ein Gebiet von Vorgängen, wo die induzierten Lautbestandteile durchaus nur den jeweiligen Beziehungselementen des Wortes angehören. Dagegen zerfallen sie nach der Stellung der induzierenden Bestandteile von vorn- herein in zwei Klassen: in der einen sind diese induzierenden Bestand- teile ebenfalls Beziehungselemente, dies bildet den Fall der ,, gram- matischen Angleichungen"; in der andern sind sie Grundelemente, dies ist der Fall der „begrifflichen Angleichungen''. Dabei treten nun aber neben diesen dem Vorgang den entscheidenden Charakter aufprägenden Assoziationen stets noch andere als Hilfskräfte auf, so daß ebensowohl bei den grammatischen Angleichungen Attrak-

464 Der Lautwandel.

tionen von Grundelementen wie bei den begrifflichen Angleichungen solche von Beziehungselementen mitwirken. Diejenige Wirkung, die wir in einem gegebenen Fall speziell als die ,, induzierende*' heraus- greifen, bezeichnet daher stets nur die zunächst der Beobachtung sich aufdrängende Seite der Erscheinung, niemals den ganzen Kom- plex mannigfach gerichteter attraktiver und repulsiver Kräfte, die an dieser beteiligt sind. Hiernach lassen sich im ganzen vier typische Formen assoziativer Verbindungen unterscheiden, die den vier oben betrachteten symptomatischen Gruppen entsprechen. Um sie mittels kurzer symbolischer Ausdrücke zu erläutern, sollen beliebige Grund- elemente eines Begriffs durch Buchstaben der ersten, Beziehungs- elemente durch solche der zweiten Hälfte des Alphabets angedeutet werden, so daß also Ä B M N und E F S T zwei Wörter nebst den an sie gebundenen Begriffen andeuten, die in allen ihren Elementen abweichen, A B M N und A B S T solche, die in ihren Grundelementen übereinstimmen, A B M N und E F M N andere, bei denen das gleiche für die Beziehungselemente gilt, endlich A B M T und A C S T, A B M S und C D M T usw. solche, die verschiedene Arten partieller Übereinstimmung darbieten. Nun sind an sich nur zwischen überein- stimmenden Elementen assimilierende Wirkungen möglich. Durch diese können dann aber nach dem Prinzip der Kontiguität weitere, bloß in äußerer Verbindung stehende in das Bewußtsein gehoben oder aber vorhandene, die in der neu gebildeten Verbindung keine Stelle finden, aus ihm verdrängt werden. Derartige Wirkungen können nach mannigfachen Erfahrungen, die sich uns im Gebiet der Sprache bieten, nicht bloß zwischen den Elementen verschiedener, sondern auch zwischen denen der gleichen Vorstellungen, insbesondere also zwischen den Laut- und Begriffselementen eines Wortes stattfinden. Wollen wir eine schematische Übersicht über die verschiedenen ty- pischen Formen der oben behandelten Angleichungs Vorgänge ge- winnen, so erscheint es daher zweckmäßig, für die Begriffselemente symbolische Zeichen zu wählen, die je nach Bedürfnis die isolierte oder die vereinigte Wirkung der einzelnen Bestandteile einer Kompli- kation andeuten. Wir bezeichnen daher eine Komplikation aus Laut- und Begriffselementen, wie oben, mit großen Buchstaben und wählen diese Symbole überall da, wo eine gleichzeitige assoziative Wirkung

Psychologische Theorie der assoziativen Femewirkungen.

465

der vereinigten Laut- und Begriffselemente anzunehmen ist. Da- gegen sollen Lautelemente, wo sie für sich allein wirksam sind, durch die kleinen Buchstaben des lateinischen Alphabets a, h, c . . . oder m, n, o . . ., und Begriffselemente, sofern sie ohne die zugehörigen Lautelemente wirken, durch die griechischen Buchstaben or, /?,/.. . angedeutet werden. Dabei werden im letzteren Fall diese Symbole nur für die Grundelemente des Wortbegriffs angewandt, da, wie die Erscheinungen begrifflicher Angleichung, bei denen eine solche selb- ständige Wirksamkeit der Begriffselemente allein in Frage kommt, zeigen, Attraktionswirkungen, die vom Lautwert der Worte unab- hängig sind, überhaupt nur den Grundelementen zukommen. Weiter- hin soll die Hauptrichtung der Assoziationen durch ausgezogene, die Neben- und Hilfswirkungen sollen durch unterbrochene Linien an- gedeutet werden. Solche Elemente endlich, die durch die begleitenden repulsiven Wirkungen verschwinden, sind in eckige Klammern ein- geschlossen, und die Hauptrichtung der Induktion wird durch einen Pfeil angedeutet. Jeder symbolischen Wortformel ist zur Verdeut- lichung ein Wortbeispiel beigefügt.

Typus I. (Innere grammatische Angleichung.)

AB S {z. B. starb) (gab tat machte

j I I gaben taten machten)

A B[M]T (stürben) h d S e f S g h S

A B S T (starben)

h ä S T e f S T g h S T usw.

~r ~r~ "T"

Typus IL (Äußere grammatische Angleichung.) AB S {z. B. backe)

A ß[M] (bück)

A B S T (backte) e d S T e f S T g h S T

(mache

lache

krache)

(machte

lachte

krachte)

c d S

e / S

9 h S

-^

Wniidt, Völkerpsychologie.

4. Aufl.

30

466 I^er Lautwandel.

Typus III. (Allgleichung durch Begriffsverwandtschaft.)

CC ß S t[v] (Z. B. (X(pV(JGM\

I I I I j {(/QVG(T(jü vvaao) mvaGO))

a c s (aQVcn)) / («« = schöpfe)

llll I efstghstikst usw.

a C S t (CCQVGGÜ)) ß III

Typus IV. (Angleichung durch Begriffsgegensatz.)

a ß b s t {z. B. it. leve) \

llll I Cf /? = leicht (brevis)

a y d [v] (lat. gravis) ^

a y d s t (it. greve)

Ja y = schwer c e s t

Aus diesem Schema erhellt zunächst, daß die beiden Formen grammatischer Angleichung (Typus I und II), solange man von dem Verhältnis der Hauptrichtung und der Nebenrichtungen der Assi- milation abstrahiert, im wesentlichen übereinstimmen. Der Unter- schied beider liegt besonders darin, daß, was bei der einen Form Haupt- wirkung ist, bei der andern zur Nebenwirkung wird, und umgekehrt. Damit hängt der weitere in dem Schema ausgedrückte Unterschied zusammen, daß bei dem ersten Typus die assoziative Verbindung der Grundelemente eine größere Rolle spielt, wodurch diese Form den begrifflichen Angleichungsvorgängen des Typus III und IV näher steht. Diese beiden Typen selbst sind dann wieder von im ganzen übereinstimmendem Charakter, indem bei beiden sogar die Richtung der Hauptwirkung die nämliche ist und nur die Beimischung eines Kontrastfaktors und y) zu den gleichen Begriffselementen a einen Unterschied begründet. Damit steht in Verbindung, daß die An- gleichung durch Kontrast einen Grenzfall bildet, wo äußere Hilfs- wirkungen verhältnismäßig zurücktreten und oft wohl ganz ver- schwinden können. Dies ist durch die Natur des Kontrastes bedingt, nach der ein gegebener Begriff in einem bestimmten Gedankenzu- sammenhang jeweils einen bestimmten Gegenbegriff fordert. Übri- gens ist es für beide begriffliche Angleichungsformen charakteristisch,

Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen. 467

daß, wie bei ilinen die Hauptkräfte von Begriffselementen ausgehen, die unabhängig von ihren Lautkomplikationen wirken, so als äußere Hilfskräfte umgekehrt reine Lautwirkungen, die von den begriff- lichen Bedeutungen der Wörter unabhängig sind, unterstützend ein- greifen.

5. Physiologische Einflüsse bei den Lautangleichungen.

Erscheint nach der in dem obigen Schema gegebenen Zerglie- derung der Angleichungs Vorgänge der Ausdruck, diese seien ,, psy- chisch bedingte Formen des Lautwandels*', gerechtfertigt, insofern ja eben diese Zergliederung überall auf Verbindungen elementarer Assoziationen zurückführt, so schließt das nun aber keineswegs aus, daß nicht auch hier den Assoziationen gewisse physiologische Be- dingungen zur Seite stehen. In der Tat wird diese Annahme schon durch die allgemeine Erwägung nahegelegt, daß alle Assoziationen ihrem wesentlichen Charakter nach mit den Übungsvorgängen eng zusammenhängen, daß aber diese stets entweder rein physische oder aber psychophysische Funktionsänderungen sind: das erstere bei der Funktionsübung der niederen Nervenzentren oder der peripheren Organe, wie der Muskeln und Drüsen, das letztere bei den mit Ver- änderungen in den höheren Zentralgebieten vor sich gehenden Pro- zessen. So begreiflich es demnach ist, daß wir solche Vorgänge der Übung und Mitübung auf die psychische Seite stellen, solange sie sich uns vorwiegend in psychischen Symptomen zu erkennen geben, so kann dies doch an jener prinzipiellen Auffassung nichts ändern, daß sie, als psychophysische Vorgänge, nur die verwickeltsten und höchsten Erscheinungsformen der alle Lebensprozesse beherrschenden Gesetze der Veränderung der Funktion durch die wiederholte Ausübung der Funktion selbst sind. Diese prinzipielle Auffassung findet aber im vorliegenden Fall ihre besondere Rechtfertigung noch darin, daß die Sprache mehr als irgendeine andere psychische Leistung die Kenn- zeichen einer psychophysischen Funktion an sich trägt, die von den äußeren motorischen und akustischen Hilfsmitteln der Lauterzeugung an bis zu den Verbindungen der akustischen Zentren verschiedener Ordnung auf physischer Grundlage ruht. Diese Bedeutung der phy-

30*

468 Ber Lautwandel,

siologischen Übung tritt nun auch in einzelnen die assimilativen Ferne- wirkungen begleitenden Erscheinungen selbständig zutage. Besonders gehören hierher zwei Tatsachen. Die erste besteht in der überwiegen- den Wirkung solcher Lautverhältnisse, die von vornherein schon durch ihre größere Häufigkeit bevorzugt sind. So verdrängen bei den gram- matischen Angleichungen, wo nicht besondere Erhaltungsbedingungen mit eingreifen, die häufigeren Flexionsformen allmählich die selteneren. So sind ferner unter den begrifflichen Angleichungen die durch Kontrast den durch Ähnlichkeit vermittelten überlegen, wahrscheinlich des- halb, weil im selben Maß, als der Kontrast das wirksame Begriffs- verhältnis auf Korrelatbegriffe einschränkt, er wegen der großen Häufigkeit der Verbindung dieser Begriffe ein Übergewicht in ihrer gemeinsamen funktionellen Einübung behauptet. Die zweite Tatsache besteht in dem von Anfang an unwillkürlichen Eintritt der Verände- rungen. Diese Art der Entstehung erweckt unmittelbar den Eindruck eines psychischen Mechanismus, der zugleich ein physischer sein muß, da die Lautbildung als solche dem Gebiet physischer Vorgänge an- gehört. Gerade bei den Sprachorganen läßt aber, wie auch sonst die Erfahrung vielfach zeigt, die Wiederholung einer bestimmten Be- wegung diese leicht auch da entstehen, wo eigentlich eine andere ge- wollt wurde, lediglich deshalb, weil die Organe nun einmal auf eine bestimmte Aufeinanderfolge der Artikulationsbewegungen eingeübt sind. Mag es z. B. noch so wahrscheinlich sein, daß aQvoj, als es sich in agioocü umwandelte, zunächst der assoziativen Wirkung des be- griff sverwandten ctq)vootü gefolgt ist: ohne die entsprechende Ein- übung der der Endung -vooco eigenen Lautbewegungen, die wieder halb als assoziatives, halb als rein mechanisches Moment infolge der in dieser Abfolge eingeübten Bewegungen die Veränderung erleich- terte, würde der Wandel der Laute nicht erfolgt sein. So darf durch- weg auch für diese der Wirksamkeit der psychischen Assoziations- gesetze besonders günstigen Erscheinungen assoziativer Fernewir- kungen der Satz als gültig angesehen werden, daß jeder Lautwandel ein psychophysischer Vorgang ist.

Hauptformen der Wortentlehnung. 469

V. Laut- und Begriffsassoziationen bei Wort- entlehnungen,

1. Hauptformen der Wortentlehnung.

Mit den soeben betrachteten assoziativen Fernewirkungen der Laute berühren sich sehr nahe diejenigen Erscheinungen, die infolge der Einführung eines nach Laut wie Bedeutung fremden Wortes in eine Sprache eintreten. Auch hier entstehen naturgemäß Assoziationen mit andern, bereits geläufigen Wörtern von ähnlichem Klangcharakter, die teils als bloße Lautgebilde, teils auch durch ihren Begriffswert auf das neuaufgenommene Wort herüberwirken. Die Wortentlehnung ist demnach ein Produkt der Sprachmischung. Dabei ist aber der Begriff der letzteren hier im weitesten Sinne zu nehmen. Denn die Erscheinungen der Wortentlehnung stellen sich überall da ein, wo überhaupt ein unverstandenes Wort in einer Sprache Eingang findet, mag es nun einer fremden Sprache oder einem andern Dialekt oder vielleicht auch nur einer älteren Periode der gleichen Sprache angehören. Diese geschichtlichen Bedingungen ihrer Ent- stehung bewirken zugleich psychologische Eigentümlichkeiten, durch die sich der Prozeß der Wortentlehnung von den gewöhnlichen ,, Ana- logiebildungen*' wesentlich unterscheidet.

Geht man nämlich von den vier oben unterschiedenen Formen assoziativer Fernewirkungen aus, so umfassen diese nur jene näher zusammengehörigen Vorgänge, bei denen diejenigen Lautbestand- teile eines Wortes, die als die Träger seiner Grrundbedeutung betrachtet werden können, während des Lautwechsels unverändert geblieben sind, bei denen also nur seine Beziehungselemente, nicht aber die Grund- elemente einer von andern Wörtern ausgehenden assimilierenden Wirkung unterlagen. (Vgl. das Schema auf S. 465 f.) Nun ist es unvermeidlich, daß die Assoziations Wirkungen, denen alle Bestand- teile der Sprache ausgesetzt sind, da und dort über diese Grenze hinaus- streben. In Anbetracht der festen Verbindung von Begriff und Wort sind aber die Grundelemente des letzteren unter normalen Bedingungen weit stabiler als die Beziehungselemente, die leicht, ohne daß damit der begriffliche Wert des Wortes selbst oder auch nur seiner Ab-

470 Der Lautwandel.

Wandlungsformen alteriert wird, die mannigfachsten Veränderungen erfahren können. Diese Verhältnisse werden jedoch wesentlich ab- weichende, sobald ein der Sprache bisher fremdes Wort in sie eingeführt wird. Ihm gegenüber existiert jenes der Verbindung von Laut und Bedeutung anhaftende sichere Gefühl des Unterschieds zwischen Grund- und Beziehungselementen nicht mehr. Jetzt ist daher das ganze Wort in allen seinen Bestandteilen gleichmäßig den verändern- den Wirkungen der von außen einwirkenden Assoziationskräfte aus- gesetzt. Den beiden Hauptklassen der grammatischen und der be- grifflichen Angleichungen schließen sich demnach alle Umwand- lungen, die infolge dieser weiter um sich greifenden Wechselwirkungen entstehen können, als eine dritte Klasse an, bei der weder Beziehungs- auf Beziehungselemente, wie bei der ersten, noch Grundelemente auf Beziehungselemente, wie bei der zweiten Klasse, sondern Grund- elemente auf Grundelemente assimilierend einwirken. Auch diese Klasse zerfällt dann aber wieder in zwei Gruppen von Erscheinungen. Bei der ersten wirkt ein Wort oder eine Anzahl von Wörtern auf den gesamten Lautkörper eines gegebenen Wortes ein, um ihn eventuell bis zur Unkenntlichkeit zu ver- ändern, ohne daß dabei der Begriffswert desselben wesentlich alte- riert wird: dies ist der Fall der Wortentlehnung mit reiner Lautassoziation oder der gewöhnlich so genannten ,, Wortassi- milation". Bei der zweiten Gruppe wirkt ein einzelnes Wort, seltener eine bestimmte Gruppe von Wörtern vermöge der Laut- assoziationen, in denen sie zu einem gegebenen Worte stehen, auf dieses ein, indem sie es sich wiederum in erster Linie lautlich, dann aber auch in gewissem Grade begrifflich assimilieren, so daß der ursprüngliche Begriff des Wortes dadurch zwar nicht ver- drängt wird, aber eine eigentümliche Färbung gewinnt, die ihm vor dieser Einwirkung nicht zukam: dies ist der Fall der Wort- entlehnung mit Begriffsassoziationen oder der sogenannten „Volksetymologie". Wir können demnach unter Benutzung der gleichen Symbole beide Gruppen als einen Typus V und VI den obigen vier hinzufügen.

Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation. 471

Typus V. (Wortentlehnung mit reiner Lautassoziation.) a ß a l m n (z. B. fenestrum) (Lager ahd. legar Maser ahd. masar)^)

a ß a c m t (Fenster ahd. venstar) c e s p c d s t usw.

Typus VL ( Worten tlehming mit Begriffsassoziationen.)

(Arm) (Brust)

a l ni n (z.-B. arcuballista) y a m d c t

a ß y d a c m t (Armbrust)

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2. Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation.

Die ,, Wortassimilation" ist die einfachere dieser Erscheinungen. Sie ist diejenige, bei der die bloßen Lautassoziationen und sie be- gleitend die physischen Bedingungen der Lauterzeugung vorwalten. Zugleich verhält sie sich aber, wie die früher (S. 404 ff.) erwähnten Beobachtungen bei Sprachmischungen begreiflich machen, wesent- lich abweichend nach der Stufe der Kultur, auf der sie stattfindet. In seiner ursprünglichen, Grund- wie Beziehungselemente des Wortes gleichmäßig ergreifenden Gestalt vollzieht sich der Vorgang nur, wenn die Aufnahme durch die mündliche Rede geschieht, und beson- ders wenn sie der Ausbildung einer Schriftsprache vorausgeht, also in einer frühen Kulturepoche des assimilierenden Volksgeistes. Je mehr sich dagegen die eigene Sprache gefestigt und die Aufmerksam- keit auf die Eigentümlichkeit des Fremdworts geschärft hat, um so

^) Natürlich sollen diese Beispiele wieder, ähnlich wie die oben (Typus I IV) bei den äußeren Wirkungen der Assoziation angeführten, nicht sagen, daß speziell von den Lautelementen der hier angeführten Wörter eine nachweis- bare Attraktion ausgegangen sei, sondern sie sollen nur andeuten, daß zur Zeit der Assimilation überhaupt lautverwandte Wörter existierten, die attrahierend wirken konnten.

472 Der Lautwandel.

mehr zieht sich der Assimilationsprozeß auf die Beziehungselemente zurück und läßt den eigentlichen Wortkörper selbst unangetastet. Deutlich erhellt dieser Unterschied in solchen Fällen, wo eine Sprache auf verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung aus einer und derselben fremden Sprache das gleiche Wort assimiliert hat, wie bei manchen dem Lateinischen und Romanischen entnommenen deutschen Lehn- wörtern. So ist schon in sehr früher Zeit Vogt (ahd. ßgat) aus lat. vocatus, dann viel später im mhd. und nhd. Advokat aus dem gleich- bedeutenden advocatus gebildet worden; ferner Speise (ahd. spisa), das aus dem neulat. spesa = spensa eigentlich ,, Auf wand'' entlehnt wurde, während aus dem gleichen Wort in viel späterer Zeit (17. Jahrh.) das der ursprünglichen Bedeutung näher liegende Spese (,, Geschäfts- spesen) in den kaufmännischen Verkehr Aufnahme fand. Ähnlich sind zu verschiedenen Zeiten Segen und Signal aus Signum, Kreuz und Kruzifix aus crux, crucifixum entstanden usw. ^).

Wenn man diese Unterschiede der Aneignung fremden Sprach- guts in früherer und in späterer Zeit in der Regel darauf zurückführt, daß sich die Sprache dort noch in einem ,, bildsameren" Zustande befunden habe als hier, so ist das natürlich eine nichtssagende Rede- weise. Der eigentliche Grund kann allein darin liegen, daß die phy- sischen und psychischen Bedingungen, die überhaupt bei der Wort- assimilation eine Rolle spielen, auf einer Stufe primitiverer Kultur intensiver wirken, während sie doch ihrem allgemeinen Charakter nach, wie sich aus der Übereinstimmung der Erscheinungen schließen läßt, hier wie dort die nämlichen sind. Die physiologischen Be- dingungen für die Umwandlung eines gehörten Lautes bei seiner Re- produktion durch die eigenen Sprachorgane sind aber doppelter Art: sie sind sensorische, insofern der akustische Eindruck innerhalb einer gewissen Breite schwankt; und sie sind motorische, insofern jedes Sprachorgan dem Lautsystem der eigenen Sprache adaptiert ist und daher vermöge der von ihm erworbenen mechanischen Übung fremde Laute bei der Reproduktion im Sinne der gewohnten um- wandelt. Infolge jener doppelseitigen Natur der Sprachfunktionen,

^) Vgl. F. Kluges Verzeichnis lateinischer Lehnwörter in den altgermanischen Sprachen, in Pauls Grundriß der german. Philologie,^ I, S. 333 ff.

Wortentlehnungen mit reiner Lautassoziation. 473

nach der jedes Denken von Worten zum leisen Sprechen zu werden strebt, und nach der sich jedes Hören von Worten mit dem Impuls zur Nachbildung der Sprachlaute verbindet, greifen nun diese akusti- schen und motorischen Umbildungen fortwährend ineinander ein: der Laut wird anders gehört, weil er anders gesprochen wird; und er wird anders gesprochen, weil er anders gehört wird. Schon innerhalb der verschiedenen Dialekte einer und derselben Sprache ist diese AVechselwirkung deutlich zu bemerken: Lautunterschiede, die den Genossen des einen Dialekts im Sprechen wie Hören geläufig sind, werden von denen des andern, solange sich jene Unterschiede inner- halb enger Grenzen bewegen, auch akustisch nicht unterschieden. Hier macht sich eben, wie schon bei den individuellen Wortassimila- tionen der kindlichen Sprache (S. 314 ff.), die Tatsache geltend, daß jeder Sprachlaut eine Komplikation ist, in welche die eigene Artiku- lationsempfindung mit eingeht, so daß, wenn diese unverändert bleibt, auch die Änderungen der begleitenden Gehörsempfindung schwerer bemerkt werden. Zu diesen psychologischen Momenten kommt dann noch als eine weitere wichtige psychophysische Bedingung, daß in der Sprachgemeinschaft, die ein Fremdwort aufnimmt, Vorstellungs- residuen besonderer Art zu assimilativer Wechselwirkung mit neuen Eindrücken bereit liegen. In eine in völlig fremder Sprache gehörte Kede ist der Hörende fortwährend geneigt, die ihm vertrauten Laute und Worte hineinzuhören, ähnlich wie wir auch in beliebige unartiku- lierte Geräusche oder Naturlaute, in das Klappern der Mühlräder, das Ticken des Uhrpendels, die Stimmlaute der Tiere, bekannte Sprach- laute hineinhören können. Auf diese Weise ist jede durch einen aku- stischen Eindruck geweckte Lautvorstellung ein Assimilationsprodukt, in welchem die reproduktiven Elemente, die dem Schatz geläufiger Wortvorstellungen entstammen, um so leichter den überwiegenden Bestandteil bilden, je fremdartiger die gehörten Laute selbst sind. Alle diese psychophysischen Momente zusammengenommen verleihen der Wortassimilation ihren eigenartigen Charakter und unterscheiden sie von den auf die formalen Wortbestandteile beschränkt bleibenden Angleichungs Vorgängen .

474 Der Lautwandel.

3. Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen.

Die sogenannten ,, Volksetymologien" sind Erscheinungen, die sich in allen ihren Eigenschaften den ursprünglichen Wortassimi- lationen anschließen. Doch unterscheiden sie sich dadurch, daß die bei der gewöhnlichen Wortassimilation ganz im Hintergrund bleiben- den begrifflichen Elemente der früheren Wortvorstellungen in dop- pelter Weise entscheidend an dem Vorgang teilnehmen. Erstens sind sie es, die die Auffassung des Wortes und dessen Keproduktion be- stimmen. Zweitens verleihen sie dem durch das assimilierte Wort ausgedrückten Begriff selbst eine eigentümliche Färbung, die ihn den assimilierenden Begriffselementen nähert. Diese Verhältnisse finden in dem auf S. 471 dargestellten Schema (Typus VI) darin ihren Ausdruck, daß das neu gebildete Wort nach seinem begrifflichen Auf- bau aus direkten, ursprünglichen Elementen (a, ß), die in der Regel das Übergewicht behalten, und aus reproduktiven, die durch die Laut- assoziation geweckt werden (/, d), gemischt ist. Hiermit verbindet sich dann von selbst die diese Klasse von Angleichungen unterscheidende Eigenschaft, daß sich bei ihren ausgeprägten Formen überhaupt nicht mehr Haupt- und Nebenwirkungen unterscheiden lassen, sondern daß an jedem Vorgang zwei Hauptwirkungen beteiligt sind (bei Typus VI durch die zwei Pfeile angedeutet), die eben durch ihre Ver- bindung das Eigenartige der Erscheinung ausmachen. Genauer läßt sich demnach die ,, Volksetymologie" als eine ,, Wortassimilation mit begrifflicher Umbildung des Wortes durch die assimilierenden Ele- mente" oder, wenn man diese Definition in einen kurzen Ausdruck zusammenfassen will, als eine ,, lautlich-begriffliche Wortassimilation" bezeichnen, im Unterschiede von der ,,rein lautlichen" des Typus V. Wie bei dieser, so stellt sich aber auch bei jener, und zwar wegen des Übergreifens der Assoziation auf die begrifflichen Elemente in noch höherem Grade, der Enderfolg des Prozesses als ein Produkt der Wechselwirkung direkter und reproduktiver Elemente dar, an dem bald die einen bald die andern überwiegend, bald auch beide ziemlich gleichmäßig beteiligt sein können. Übrigens ist die „Volksetymologie" insofern eine spezielle Form der Wortassimilation,

Wortentlehnmigen mit Begriffsassoziationen. 475

als sie gleichfalls das Wort als Ganzes ergreift. Nur hierdurch ist es möglich, daß sie den Begriffsinhalt des Wortes in mehr oder minder weitgehendem Maße verändert, da der Begriffsinhalt im allgemeinen an das Wortganze gebunden ist. Daß diese Vorgänge durch den Aus- druck ,, Volksetymologie" psychologisch in ein falsches Licht gerückt werden, ist hiernach einleuchtend. Mit der reflektierenden Wort- erklärung des Etymologen sind sie in Wahrheit absolut unvergleich- bar. Sie unterscheiden sich von ihr ebenso nach ihren äußeren wie nach ihren inneren Merkmalen. Die wirkliche Etymologie sucht das Wort auf ein verloren gegangenes oder wenigstens aus dem Bewußt- sein verschwundenes Stammwort von irgendwie verwandter Bedeu- tung zurückzuführen; die ,, Volksetymologie" substituiert umgekehrt ein Wort mit bekannter Bedeutung einem andern, wodurch dieses zugleich mehr oder weniger in seiner Bedeutung verändert wird. Vor allem aber ist die sogenannte Volksetymologie, wie die Wortassimi- lation überhaupt, ein rein assoziativer, dem psychophysischen Mecha- nismus der Sprachfunktionen zugehöriger Vorgang, von der rein laut- lichen Wortassimilation eben nur dadurch verschieden, daß mit den Lauten zugleich begriffliche Elemente assoziativ gehoben werden und infolgedessen ihrerseits wieder auf die Lautassoziation zurück- wirken können.

Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zu den lautlichen Wortassi- milationen lassen sich nun die lautlich-begrifflichen oder die ,, Volks- etymologien" wieder in zwei Gruppen sondern, deren eine jenen noch näher steht, während bei der zweiten das begriffliche Moment der Assoziation überwiegt. Die erste können wir als ,, Wortassimilationen mit begrifflichen Nebenwirkungen", die zweite als ,, Wortassimila- tionen mit Begriffsumwandlungen" bezeichnen^).

^) Eine reiche Sammlung hierher gehöriger Erscheinungen aus dem Gebiet der deutschen Sprachgeschichte bietet neben zwei Aufsätzen von W. Förstemann, der zuerst den Namen „Volksetymologie" eingeführt hat (in Kuhns Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, I, 1852, S. 1 ff., XXIII, 1877, S. 375 ff.), das Buch von K. G. Andresen, Über deutsche Volksetymologie,^ 1889. Vieles, aber nicht immer Zuverlässiges aus dem Gebiet der Sprichwörter und sprichwortähnlichen Redensarten enthält unter anderm auch H. Schrader, Der Bilderschmuck der deutschen Sprache (o. J.). Eine Übersicht der Hauptliteratur über den Gegen-

476 Der Lautwandel.

a. Wortassimilationen mit begrifflichen Neben- wirkungen.

Bei dieser Gruppe unterscheidet sich die lautliche Seite des Vor- gangs nicht von einer gewöhnlichen rein lautlichen Wortassimilation. Nur entsteht als Nebenwirkung infolge der partiellen oder totalen Übereinstimmung des assimilierten Produkts mit einem bekannten Wort eine nebenhergehende Assoziation mit dem an dieses Wort ge- bundenen Begriff. Doch wirkt diese Assoziation nicht in erheblicher Weise auf das Lautgebilde selbst ein. Die begriffliche Färbung, die das assimilierte Wort annimmt, erscheint daher als ein zufälliges psychologisches Nebenprodukt der Wortassimilation: diese würde eine rein lautliche geblieben sein, hätte sich nicht der Gleichklang mit einem geläufigen Wort eingestellt. Dabei kann natürlich dieser assoziierte Begriffsinhalt von dem wirklichen des Wortes sehr weit abliegen, und es pflegt darum bei dieser ersten Gruppe die Neben- vorstellung selbst nur in der Form einer unbestimmten Komplikation mit dem Hauptbegriff vorzukommen, die je nach besonderen Be- dingungen auch ganz verschwinden kann, wodurch der Vorgang in eine rein lautliche Wortassimilation übergeht.

Beispiele, die dieser Gruppe vorwiegend lautlicher Assimila- tionen angehören, finden sich weit verbreitet in der Sprache. So in Wörtern wie Damhirsch aus lat. dama „Hirsch", Leinwand aus mhd. linivdt durch Assoziation mit dem etymologisch unverwandten Ge- wand, Kammertuch urspr. Tuch von Camhray, deutsch Kamerich, Maulesel von lat. mulus usw. In allen diesen Fällen fehlt zwar nur dann die durch die Lautangleichung des Wortes erweckte Neben- vorstellung, wenn ein bestimmtes Wort durch häufigen Gebrauch so geläufig geworden ist, daß es sich in ein einfaches Begriffszeichen ohne alle Nebenvorstellungen umgewandelt hat. Aber auch wo dies nicht zutrifft, ist die Nebenvorstellung nur lose mit der Hauptvor- stellung verknüpft. Bei dem ,,Mauleser' denkt man etwa an das Maul

stand und zugleich eine kurze Darstellung der Entwicklung der theoretischen Anschauungen über denselben gibt J. Kjederqvist, in Sievers' Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 27, 1902, S. 409 ff .

Wortentlehnungen mit Begiiffsassoziationen. 477

des Esels, bei dem ,,Kammertucli" an die Kammer, in der es auf- bewahrt oder in der es gemacht wird, oder man empfindet vielleicht auch das Wort, analog wie in ,, Kammerherr'' u. dgl., als eine Art Wertprädikat. Für die psychologische Entstehung solcher Asso- ziationen bleibt es jedoch bezeichnend, daß eine, wenn auch noch so unbestimmte Verbindung der Vorstellungen immerhin möglich sein muß, wenn diese den Inhalt des Begriffs ergreifende Angleichung überhaupt eintreten soll. Wo das nicht der Fall ist, da kann sich eine vollkommene lautliche Übereinstimmung zweier Wörter herstellen, mag sie nun auf dem Wege sonstiger lautgesetzlicher Änderungen oder auf dem einer rein lautlichen Wortassimilation entstehen, ohne daß an irgendeinen begrifflichen Zusammenhang gedacht wird. So empfinden wir zwischen bedauern, eigen tl. belauern (wie noch Lessing schreibt) von mhd. türen, und dauern == ,, beharren" von lat. durare, oder zwischen befehlen y empfehlen von mhd. hevelen, empfelen und fehlen = mhd. vaelen lat. f allere nicht den geringsten Zusammen- hang, gerade so wenig wie zwischen Ton = Lehm und Ton = tonus (musikalischer Ton), zwischen Tau = Strick (Schiffstau) und Tau = engl, dew (feuchter Niederschlag), Lehre und Leere und vielen an- dern lautlich entweder ganz oder nahe zusammenfallenden, aber be- grifflich auseinanderliegenden Wörtern. Es muß also stets eine ge- wisse Assoziationsmöglichkeit hinzukommen, wenn sich mit der laut- lichen auch noch eine begriffliche Assoziation verbinden soll, während es zugleich als ein begünstigendes Moment wirkt, wenn das die Asso- ziation anregende Wort von seltenerem, das der assoziierten Neben- vorstellung entsprechende von häufigerem Gebrauch ist. So werden ja Wörter wie Damm, Kammer, Maul usw. viel mehr verwendet, als Damhirsch, Kammertuch, Maulesel. Dieser Einfluß der relativen Häufigkeit entspricht aber durchaus den allgemeinen Assoziations- bedingungen. Je eingeübter ein Wort ist, um so mehr ist es geneigt, bei jedem Anlaß mit seinen lautlichen wie begrifflichen Elementen deutlich bewußt zu werden. Ein seltenes Wort dagegen wirkt zu- nächst nur als Lautgebilde, und es bedarf einer gewissen Zeit, bis der begleitende begriffliche Bestandteil apperzipiert wird. Mittlerweile ist, wenn das an sich seltene Wort einen beweglicheren Bestandteil hat, dieser als selbständiger Begriff bereits aktuell geworden, und der

478 D^i' Lautwandel.

Gesamtbegriff, der sich nun allmählich ebenfalls aufarbeitet, findet jenen bereits vor, mit dem er sich daher alsbald assoziiert. Dies kann aber natürlich nicht geschehen, wenn die begrifflichen Elemente beider Wörter gleich geläufig, und wenn sie überdies zureichend voneinander verschieden sind. Dann wird vielmehr der in dem gehörten Worte liegende Begriff sofort herrschend und läßt den durch den Gleich- klang etwa assoziierbaren gar nicht neben sich aufkommen. Letz- teres geschieht in der Tat in Wörtern wie befehlen, empfehlen, bedauern, die uns ungefähr ebenso geläufig wie fehlen oder dauern geworden sind, und wo trotz der Lautangleichung an diese keine Spur einer be- grifflichen Assoziation zu bemerken ist.

Hiermit hängt eng zusammen, daß die Bedingungen für laut- lich-begriffliche Wortassimilationen am günstigsten dann sind, wenn das gehörte Wort an sich der begrifflichen Beziehungen für den Hören- den entbehrt, wenn es also z. B. einer fremden Sprache oder einer zur Fremdsprache gewordenen älteren Sprachstufe angehört. Hier kommen dann auch am ehesten Assoziationen mit völlig heterogenen, ledig- lich durch den Wortklang erweckten Vorstellungen vor, die nun auf den Lautcharakter des Wortes stark angleichend zurückwirken können. Dahin gehört z. B. die populäre Umgestaltung des unguentum Neapo- litanum in umgewendeten Napoleon, des Emplastrum diachylon in Diakonuspflaster, der Species lignorum in spitze Lenore, des Unguen- tum in Umwand, der Morsellen (von Morsum Bissen) in Mamsellen usw. ^). Ebenso gewisse aus fremden Sprachen aufgenommene sprich- wörtliche Redensarten wie ,,sein Glück in die Schanze schlagen", wo die Chance des Spiels in eine Schanze (Festungsschanze) verwandelt worden ist, oder dialektische Übertragungen von Redensarten, wie blutjung für bluttjung, blutt dial. == bloß, also ungefähr so viel wie ,,jung wie ein Vogel, der noch nicht flügge ist", pudelnaß wahrscheinlich für pfudelnaß, pfudel = Pfütze, also eigentlich ,,naß wie eine Pfütze". In allen diesen Fällen besitzen natürlich die Neben vor Stellungen, die hier das Wort selbst umgeprägt haben, eine verschiedene Stärke.

^) Eine ziemlich reiche Zusammenstellung derartiger volkstümlicher Namen für Arzneimittel gibt C. Müller (Dresden) in der Zeitschrift des deutschen Sprach- vereins, 11. Jahrg. Nr. 4, 1896.

Wortentlehnungen mit Begriffsassoziationen. 479

Sie sind am schwäclisten bei dem ,, umgewendeten Napoleon" und ähn- lichen anscheinend durch reine Lautassoziation entstehenden Ge- bilden, bei denen nur an Stelle einer ursprünglich schon willkürlichen Benennung eine ebensolche andere getreten ist^). Tiefer greift dieser Einfluß in den andern Fällen, wo eine dem Gegenstand inadäquate, aber doch irgendwie mit ihm vereinbarte Vorstellung erweckt wird. Hier bleibt der Gedanke in einem dem ursprünglich angenäherten Sinn überhaupt nur dadurch erhalten, daß die so verdrängte Vor- stellung selbst eine bloße Nebenvorstellung war, und daß daher bei dem ganzen Prozeß die Hauptvorstellung nach Laut wie Begriff un- verändert blieb. Statt „naß wie eine Pfütze" denkt der Redende nun ,,naß wie ein in Wasser gebadeter Pudel"; statt an den „blutten", noch nicht flügge gewordenen Vogel denkt er etwa an die roten Wangen eines gesunden Kindes; statt an die ,, Chance" des Spieles an die glück- liche Belagerung einer ,, Schanze", falls er sich überhaupt, nachdem die Redensarten hinreichend eingeübt sind, noch an die Bedeutung des Wortes erinnert. Denn allerdings wird hier die inadäquate Be- schaffenheit der Vorstellungen schon darin bemerkbar, daß sich die syntaktische Verbindung durchaus nicht der neuen Nebenvorstellung angepaßt hat. Dies ist aber zugleich ein Symptom dafür, daß diese neue Nebenvorstellung überhaupt nur dunkler im Bewußt- sein ist.

b. Wortassimilationen mit Begriffsumwandlungen.

Durch die eingreifenden Rückwirkungen, die in Fällen wie den zuletzt erwähnten die durch die Lautassimilation erweckten, eigent-

^) Daß übrigens auch in diesen Fällen gelegentlich eine Begriff sassoziation mitspielen kann, bemerkt Kjederqvist. Ein Landapotheker meinte, wie er mit- teilt, die Bauern dächten bei dem „umgewendeten Napoleon" an die Hemden und Kleidungsstücke, die sie zuerst umwenden müßten, ehe sie dieselben mit der Salbe bestrichen (a. a. O. S. 443). Daß die Apotheken die reichsten Fundstätten solcher Umbildungen sind, hat natürlich seinen guten Grund in der Fülle un- bekannter Namen, die hier dem Kunden aus dem Volke entgegentreten. Doch mag auch noch eine leise Erinnerung an den zum Teil sehr seltsamen Drogen- schatz der vormaligen Apotheken mitwirken, zu denen z. B. Eselspfoten, Krebs - äugen, die Asche alter Schuhe (cineres calceorum vetustorum) und ^äeles ähnliche gehörten.

480 D<?i' Lautwandel.

lieh dem Gegenstand heterogenen Vorstellungen auf den begrifflichen Inhalt eines Wortes ausüben, nähern sich diese Beispiele schon bedeu- tend der zweiten Gruppe dieser Erscheinungen, den Wortassimila- tionen mit Begriffsumwandlungen. Was jene Fälle immer noch von dieser Gruppe scheidet, ist die inadäquate Beschaffenheit der erweckten Neben Vorstellungen, die es dort zu einer festen Assoziation mit dem ursprünglichen Begriff nicht kommen läßt. Doch finden sich in dieser Beziehung offenbar wieder die verschiedensten Ab- stufungen und Übergänge: ein Wort wie ,, pudelnaß*' z. B. steht einer neu gebildeten Vorstellung mit fester Assoziation ihrer Bestandteile schon viel näher als ,, blutjung" oder gar als die ,, Schanze", in die das Glück geschlagen wird. Dies ist nun aber das Wesentliche bei den wirklichen Begriffsumwandlungen, daß der lautliche und der begriffliche Bestandteil des Wortes zugleich und zum Teil jeder durch den andern geändert wird, so daß sich am Ende des Prozesses das durch die doppelte Assimilation veränderte Wort ebenso als ein ein- heitliches Laut- und Begriffsgebilde darstellt wie vorher. So ist der Friedhof in unserer heutigen Sprache ein unmittelbar die Vorstellung des Friedens in sich schließender Begriff geworden, verschieden von dem Freithof mhd. vrithof, dem ,, eingefriedigten Hof", der er einst war. Ebenso wird die Sündflut heute als ein echtes Kompositum zum Begriff Sünde verstanden, obgleich sie erst durch eine teils lautliche teils begriffliche Angleichung aus der sin-vluot, der ,, allgemeinen Flut" (von ahd. mhd. sin ,, überall, immer") entstanden ist. Ahnliche Bei- spiele sind Liebstöckel als Verdeutschung von Levisticwn, Pfeffermünze als Umwandlung von Pfefferminze, Beifuß für das ältere hihöz, von hozen stoßen, also wörtlich ,,das dazu gestoßene" (Kraut), Fälle, in denen überall Assoziationen mit dem Stengel oder den Blättern oder der Wurzel der Pflanze mitgewirkt haben werden. Weitere Assimi- lationen dieser Art sind Trampeltier für Dromedar (von ögofiag Läufer), Maulwurf für moltwurfe, von mhd. molte ,, Staub", also ,, Staub werf er", Murmeltier für mus montanus (Bergmaus), Umwandlungen, bei deren erster die Vorstellung, daß der Maulwurf die Erde mit dem Mund aufwerfe, wirksam war, während die zweite auf die murmelnde Stimme des Tieres bezogen wird, von der hier dahingestellt bleiben mag, ob sie nicht ebenfalls bloß in der Vorstellung existiert. Ähnliche Bei-

Beziehungen d. Wortentlehnungen zu d. andern assoziativen Feme Wirkungen. 481

spiele, deren Entstehungsweise hiernach keiner Interpretation be- darf, sind Höhenrauch für älteres Heirauch von hei ,,heiß, trocken" , Armbrust aus arcuhallista von arcus „Bogen" und hallista ,, Wurf- maschine", Hängematte, das zunächst von dem holländischen hangmat herstammt, zu dem seinerseits wieder du Ponceau und Pott das Ur- wort in dem in verschiedenen amerikanischen Sprachen vorkommen- den Wort für ,,Bett" (haynac, amaca) vermuten^). Ganz in dieselbe Klasse gehören manche neuere Umbildungen, wie im Schwedischen die von Stipendium in stöpeng nach stö' = stöd (südschwedisch) ,, Unter- stützung" und peng ,, Pfennig", oder niederd. die von Odontine (einem aus England eingeführten Zahnmittel) in in de tene ,,in die Zähne" 2), und andere dem Beobachtungsgebiet der Landapotheke entnommene Verdeutschungen, wie Tinctura amara in Martertropfen, Tinctura asae foetidae in Aastropfen und ähnliche. Auch sprichwörtliche Redens- arten gehören hierher, z. B. das wütende Heer für Wotans {Wuotans) Heer, ,, einem den Rang ablaufen'^'' für rank ablaufen, rank = ,, Neben- weg'', in analoger Bedeutung wie im nhd. Ranke usw. In allen diesen Fällen läßt sich annehmen, daß lautliche und begriffliche Assimi- lationen einander vollkommen parallel gegangen sind, so daß, wenn auch die Lautumwandlung zunächst der frühere Prozeß gewesen sein wird, doch die durch sie hervorgerufene Begriffsumwandlung alsbald wieder auf die Lautgestalt des Wortes zurückwirken mußte.

4. Beziehungen der Wortentlehnungen zu den andern assoziativen Ferne Wirkungen.

Während die vorangegangenen, ausschließlich die Beziehungs- elemente der Wörter ergreifenden Wortentlehnungen allgemeine, von früh an in allen Sprachen vorkommende Erscheinungen sind, gehören die lautlich-begrifflichen Assoziationen mehr den späteren Stadien der Sprachgeschichte an. Auch scheinen sie ebenso häufig

1) Pott, Doppelung, 1862, S. 81 ff., wo noch einige weitere Beispiele er- läutert sind.

2) Kjederqvist, a. a. 0. S. 432 ff.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^'-

482 I^r Lautwandel.

Produkte der Dialektmischung wie der eigentlichen Sprachmischung zu sein. Auf diese mit eigentümlichen Bedingungen der Kulturent- wicklung zusammenhängenden Momente ist es wohl zurückzuführen, daß unter den neueren Sprachen die deutsche reicher als andere an „Volksetymologien*' zu sein scheint. Bei dem ursprünglichen Mangel an Benennungen für die Gegenstände, mit denen der Fortschritt der Kultur bekannt machte, war die deutsche Sprache darauf angewiesen, teils aus dem Lateinischen und aus den romanischen Sprachen Fremd- wörter aufzunehmen, teils sich aus eigenem Vorrat durch Dialekt- übertragungen zu ergänzen. Immerhin finden sich auch auf andern Sprachgebieten zahlreiche hierher gehörige Erscheinungen^). Unter den älteren Sprachen ist besonders das Griechische ziemlich reich an lautlich-begrifflichen Assimilationen, wie schon die bekannten Umdeutungen alter mythologischer Namen lehren, so die des Hirten- gottes ndv in einen ,, Allgott" (vrav ,, alles"), des Kgovog in ein mytho- logisches Symbol der ,,Zeit" (XQOt'og), des ^AitoXkuiv Xvaelogy des „leuchtenden" (luceo leuchte), in einen „Wolfstöter" kvycoxTovog, des ägyptischen Horpe chrat (,,Horus das Kind") in einen ^AgTioAgdtr^g ,, Herrn der Sichel" (von ccqjtt] Sichel), wobei im letzteren Fall auch noch die Auffassung der dem Gott auf den Bildwerken beigegebenen Geißel als einer Sichel mitwirkte. Diese und ähnliche Beispiele sprechen genugsam für die Neigung auch des griechischen Volksgeistes, das Unverständliche oder unverständlich Gewordene durch Angleichung an geläufige Begriffe und Wörter zu assimilieren.

Nach allem dem dürfen wir wohl die lautlich-begrifflichen An- gleichungen als ebenso allgemeingültige Erscheinungen wie die übrigen Angleichungsvorgänge ansehen. Sie bilden aber zugleich insofern

^) Vgl. für das Lateinische und Griechische Otto Keller, Lateinische Volks- etymologie und Verwandtes, 1891 (Anhang: Griechische Volksetymol. ) ; für das Lidogermanische überhaupt, besonders das Griechische Brugmann, Grundriß der vergl. Grammatik, an den im Index unter „Volksetymologie'* angeführten Stellen; für die romanischen Sprachen Diez, Etymologisches Wörterbuch,^ 1887, und Meyer-Lübke, Gramm, der roman. Sprachen, I, 1890, im Sachregister unter „Volksetymologie". Auch Andresen hat in der Einleitung zu seiner „Deutschen Volksetymologie* einiges aus andern Sprachgebieten zusammengetragen, a. a. 0. S. 26 ff.

Beziehungen d. Wortentlehnungen ^u d* andern assoziativen Femewirkungen. 483

die letzte Stufe aller assoziativen Fernewirkungen, als bei ihnen die Vorgänge selbst ebenso wie die Bedingungen, unter denen sie ent- stehen, am verwickeltsten sind. In dieser Beziehung bilden alle diese Prozesse, von den einfachen assoziativen Wechselwirkungen zwischen den lautlichen Beziehungselementen der Abwandlungen eines und desselben Wortes an bis zu den eventuell alle Laut- und Begriffs- elemente umfassenden Umgestaltungen der Wörter oder, wie sie die populäre Reflexionspsychologie nennt, den ,, Volksetymologien", eine Stufenreihe von Vorgängen, in der jede Form assimilativer Beziehung, die aus allgemeinen psychologischen Gründen überhaupt möglich ist, auch wirklich vorkommt. Dabei ist aber diese Stufenreihe doch insofern in gewissem Sinn eine stetige, als jene Assoziation, die einer Form ihr eigentümliches Gepräge verleiht, immer nur diejenige Er- scheinung ist, die am stärksten an den Endprodukten des Prozesses hervortritt, während insbesondere bei den einfacheren dieser Vor- gänge stets Nebenwirkungen vorkommen, die den Übergang zu der nächsten Stufe vorbereiten. So verbindet sich jede innere mit äußeren, freilich aber auch jede äußere mit inneren grammatischen Angleichungen, Begriffliche und grammatische Angleichungen greifen mannigfach ineinander ein, und in den begrifflichen Angleichungen der Beziehungs- elemente bereiten sich, da dabei die Grundelemente des Wortes bereits als assimilierende Kräfte auftreten, die lautlichen und lautlich-begriff- lichen Wortassimilationen vor. Das seelische Leben ist eben auch hier ein Zusammenhang ineinander eingreifender und vielfach in- einander fließender Vorgänge, die leicht über die Grenzen hinaus- reichen, die wir ihnen durch die Unterordnung unter gewisse Be- griffe ziehen.

31*

484 Der Lautwandel.

VI. Regulärer Lautwandel. 1. Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels.

Die Frage, warum ein Volk den Lautbestand eines Wortes im Laufe der Jahrhunderte scWießlicli bis zur Unkenntlichkeit ver- ändern kann, läßt sich in allgemeingültiger Weise unmöglich beant- worten. Wir müßten, um dies zu leisten, über Art und Umfang aller der Wandlungen Rechenschaft geben, die durch innere Kultur und äußere Einflüsse in dem ganzen geistigen und körperlichen Wesen der redenden Gemeinschaft eingetreten sind. Wir können nur fest- stellen, daß sich solche Wandlungen unaufhaltsam vollziehen, und daß sie schon in Zeiträumen eintreten, in denen man ihnen in der Regel nur wenig Beachtung schenkt. Wie die deutsche Sprache noch zu Leibniz' Zeit für den Ausdruck von Stimmungen wie Begriffen im Vergleich mit der italienischen, französischen, englischen ein un* gefüges Werkzeug war, so erscheint sie uns in ihrem Lautcharakter, soweit wir auf diesen aus den Literaturdenkmalen jener Zeit zurück- schließen können, roher, schwerfälliger. Leider ist der Phonoauto- graph erst eine moderne Erfindung. In der Zukunft mag es möglich sein, Aussprache, Betonung, Schnelligkeit imd Rhythmus der Rede, wie sie innerhalb einer bestimmten Epoche gewesen sind, künftigen Generationen aufzubewahren. Uns entgeht dieses Hilfsmittel, das für die Aufnahme fremder Idiome, namentlich solcher der Natur- völker, bereits vielversprechende Dienste leistet. Wir können uns keine Vorstellung davon machen, wie Friedrich der Große wirklich gesprochen hat, oder wie zu seiner Zeit im allgemeinen gesprochen worden ist. Geschwindigkeit, Rhythmus und Tonbewegung lassen sich durch keine schriftliche Aufzeichnung mit vollkommener Sicher- heit festhalten, und selbst die Laute einer Sprache lassen sich in den uns geläufigen Zeichen, auch wenn sie noch so sehr mit Hilfe von be- sonderen Transkriptionszeichen vermehrt werden, nur in sehr ent- fernter Annäherung wiedergeben. Vor allem gilt das natürlich für Sprachen oder für Zustände noch heute lebender Sprachen, die der geschichtlichen Vergangenheit angehören. Wo mehrere Generationen nebeneinander leben, da vernehmen wir aber zuweilen noch letzte

Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 485

Andeutungen solcher Wandlungen in der Sprechweise der Alten und Jungen.

Welches sind nun die Ursachen dieser wahrscheinlich bald schneller bald langsamer sich vollziehenden Veränderungen ? Ganz im all- gemeinen pflegt man wohl drei solcher Ursachen anzunehmen: erstens den Einfluß der äußeren Naturumgebung, zweitens die Ver- mischung von Völkern und Rassen verschiedener Abstammung, und drittens den Einfluß der Kultur, wenn wir unter diesem Be- griff alles zusammenfassen, was innerhalb einer Sprachgemeinschaft unabhängig von jenen beiden Bedingungen eine Veränderung in dem physischen wie in dem geistigen Charakter der einzelnen herbei- führen kann. Bei der Würdigung dieser Einflüsse wie der Faktoren, in die sie sich zerlegen lassen, sind dann vor allem zwei Gesichts- punkte zu beachten, die bei den analogen Entwicklungsproblemen der Naturwissenschaft bereits ihre Fruchtbarkeit bewährt haben. Der erste besteht darin, daß aus der allmählichen Anhäufung kleiner Wirkungen große Veränderungen entstehen können. Der zweite läßt sich in die schon bei den Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung erwähnte Regel fassen, daß komplexe Erscheinungen auch aus kom- plexen Bedingungen hervorzugehen pflegen. Dabei wird der erste dieser Sätze zugleich in dem Sinne durch den zweiten modifiziert, daß neu hinzutretende Einflüsse auf Tendenzen, die bis dahin mehr oder weniger latent geblieben waren, als auslösende Kräfte wirken können, indem sie Verhältnismäßig rasch Veränderungen erzeugen, die durch andere, stetig wirkende Kräfte bereits vorbereitet waren, aber eines von außen kommenden Anstoßes bedürfen, um ins Leben zu treten. Solche Auslösungen lange vorbereiteter Wirkungen sind es, die, wie wir Vermuten dürfen, bei den organischen Arten jene plötz- lich auftretenden Mutationen zustande bringen, aus denen mit über- raschender Schnelligkeit neue Varietäten entspringen können^). Bei der Sprache ist ein solches Zusammenwirken plötzlich eintretender neuer Bedingungen mit langsam und stetig sich vollziehenden Ver- änderungen der funktionellen Anlagen von vornherein um so wahr-

1) Hugo de Vries, Die Mutationstheorie, Bd. I, I90L

486 Dpi' Lautwandel.

scheinliclier, als sie vermöge ihrer Gebundenheit an die Gemeinschaft ein Beharrungsvermögen besitzt, wie es den rein individuellen Lebens- äußerungen nicht eigen zu sein pflegt. Denn wo diese sich unbeschränkt entfalten können, wird dort durch den Einfluß der Umgebung die individuelle Abweichung unterdrückt, ein Vorgang der Elimi- nation des Individuellen und relativ Zufälligen, der in allen sozialen Entwicklungen wiederkehrt. Die Wirklichkeit steht auch hier im vollen Gegensatze zu jenem Schema, nach welchem sich die individualistische Reflexion völkerpsychologische Vorgänge zurechtlegt. Die rein in- di^dduellen Einflüsse verschwinden, von wenigen Grenzfällen ab- gesehen, infolge der Ungeheuern Macht der überkommenen Lebens- und Denkformen wirkungslos. Die generellen aber können entweder stetig und allmählich mehr oder weniger weitgehende Veränderungen hervorbringen; oder sie können zunächst latent bleiben, bis andere in gleicher Richtung wirkende Bedingungen oder aber irgendwelche überhaupt den vorhandenen Beharrungszustand unterbrechende Wir- kungen hinzutreten, die nun auf jene latenten Anlagen als auslösende Kräfte wirken. Dann kann der reguläre Lautwandel selbst bald als ein stetiger, bald als ein annähernd plötzlicher erscheinen. Für das Vorwalten des ersteren spricht namentlich der Umstand, daß die Lautänderungen, die er erzeugt, auf die individuelle Artikulation über- tragen in der Regel den Charakter eines stetigen Wandels, nicht den eines springenden Wechsels der Laute besitzen. Immerhin ist diese individuelle Bedingung nicht entscheidend, da sie einen generellen stetigen Wandel allerdings allein möglich macht, dabei aber einen mehr oder weniger plötzlichen nicht ganz ausschließt. So kann z. B. a in e oder d in t durch alle möglichen unendlich kleinen Zwischen- stufen der Artikulation übergehen; dieser Wechsel kann aber auch verhältnismäßig plötzlich, d. h. ohne daß die Zwischenstufen in der uns zugänglichen Sprachüberlieferung deutlich fixiert sind, erfolgen. Zugleich rückt die Tatsache, daß manche dieser Formen des Laut- wechsels in nahezu übereinstimmender Weise in Sprachen vorkommen können, die weder genetisch noch historisch irgendwie zusammen- hängen, diese Erscheinungen in die unmittelbare Nähe der ebenfalls über die verschiedensten Sprachgebiete verbreiteten Kontaktwir- kungen der Laute. Nur daß wir hier die Bedingungen der Lautände-

Allgemeine Bedingungen des regulären Lautwandels. 487

rungen selir viel leichter nachweisen können als dort. Dies spricht abermals dafür, daß es zu einem wesentlichen Teil die äußere Kompli- kation der Bedingungen ist, die den regulären Lautwandel auszeichnet. Dadurch werden wir aber zugleich von vornherein darauf hingewiesen, daß wir diese Bedingungen nicht auf einem völlig andern, den Formen des singulären Lautwandels fremden Boden zu suchen haben, sondern daß hier die nächste Aufgabe darin besteht, zu erforschen, ob nicht hier wie dort die nämlichen psychophysischen Ursachen wirksam, nur daß diese infolge der Häufung und der Durchkreuzung der Be- dingungen schwieriger oder in manchen Fällen vielleicht überhaupt nicht mehr aufzufinden sind.

Die Komplikation der Bedingungen, die auf solche "Weise bei den meisten Lautänderungen vorauszusetzen ist, fällt nun vor allem bei dem regulären Lautwandel ins Gewicht. Ist sie auch bei den ein- zelnen Kontakt- und Fernewirkungen sicherlich nicht minder vor- handen, so hat sich hier doch schon in den Erscheinungen selbst ge- wissermaßen eine Auslese wenigstens der zunächst eingreifenden äußeren Ursachen vollzogen. Da sich nämlich bei den Kontaktwir- kungen bestimmte angrenzende Laute, bei den Fernewirkungen nahe- liegende Vorstellungsassoziationen als solche nächste Ursachen er- weisen, so geben diese hier zugleich die leitenden Gesichtspunkte an die Hand, nach denen sich auch die entfernteren physischen und psy- chischen Bedingungen wenigstens mit Wahrscheinlichkeit ermitteln lassen. Das ist anders bei dem regulären Lautwandel. Er dokumen- tiert sich eben durch die relative Unabhängigkeit von solchen un- mittelbar nachweisbaren Kontakt- und Assoziationswirkungen wie nicht minder durch seine Ausdehnung über eine ganze Sprache oder Sprachgruppe als ein Vorgang, dessen entscheidende Bedingungen weiter zurückliegen.

488 I^^r I^utwandel.

2. Einfluß der Naturumgebung.

Unter den obengenannten drei Kategorien mögliclier Ursachen hat man dem Einflüsse der äußeren Naturbedingungen eine besonders wichtige Bedeutung beigemessen^). Zu dieser Annahme führte mit einer gewissen Folgerichtigkeit die Voraussetzung, daß der reguläre Lautwandel physisch bedingt sei, im Gegensatze zu den psychisch bedingten assoziativen Lautänderungen. Aber zunächst ist diese Voraussetzung selbst, wie schon oben bemerkt wurde, eigent- lich eine petitio principii. Ob bei dem regulären Lautwandel das Phy- sische oder das Psychische das Primäre sei, wissen wir nicht; jeden- falls ist das erstere nicht ohne weiteres vorauszusetzen. Gibt es doch eine Menge von Erscheinungen, namentlich alle die, bei denen die willkürliche Einübung bestimmter physischer Leistungen eine Rolle spielt, wo die Ausgangspunkte der physischen Vorgänge auf psychischer Seite liegen. Gerade die Sprache bietet hierfür ein deutliches Bei- spiel in den Rückwirkungen, welche die Sprachfunktionen auf die physische Bildung der Sprachorgane und dadurch indirekt auf den mimischen und physiognomischen Ausdruck ausüben. Es gibt wenige Sprachen, die trotz ihrer genealogischen Verwandtschaft doch so auffallende Verschiedenheiten ihres Lautsystems zeigen und darum eine so abweichende Konfiguration der Sprachorgane erfordern wie das Hochdeutsche und das Englische; und die auf den ersten Blick erkennbaren physischen Rassenunterschiede beider Völker bestehen zu einem großen Teil in den mit der Sprache zusammenhängenden physiognomischen Unterschieden. Man kann aber oft beobachten, daß in England geborene Kinder deutscher Eltern die nämlichen physiognomischen Züge annehmen. Die frühe Einübung der Sprach- organe gewinnt also hier das Übergewicht über die angeborenen Rassen- merkmale. Auch bei dem erwachsenen Deutschen, der nach England auswandert, sind manchmal Spuren dieser Umwandlung zu bemerken. Sie sind aber hier geringer, offenbar weil die große Bildsamkeit der kindlichen Organe bei ihm nicht mehr vorhanden ist. In andern Fällen

1) H. Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment der sprach- lichen Formenbildung, S. 19 ff.

Einfluß der Naturumgebung. 489

haben zwar die klimatischen und die sonstigen Unterschiede der Naturumgebung einen deutlichen Einfluß auf den gesamten physischen Habitus ausgeübt. Doch die nebenhergehenden Einflüsse der Kultur und der Rassenmischung sind so groß, daß es völlig unsicher bleibt, inwieweit eingetretene Lautmodifikationen auf solche Natureinflüsse zurückzuführen sind. So hat besonders der angelsächsische Typus in Amerika wie in Australien charakteristische Umwandlungen er- fahren. Auch ist es bemerkenswert, daß der echte Yankeetypus in Amerika vor allem dann sich ausprägt, wenn Rassenmischungen an- scheinend nicht erfolgt sind. Aber da, wie wir sehen werden, Rassen- berührungen nicht weniger als Rassenmischungen die Sprache beeinflussen können, und da gewisse Besonderheiten des amerika- nischen Englisch, wie die Unterdrückung und Schwächung gewisser Laute, wohl eher zu der Eigenart der amerikanischen Kultur, zu der Hast des Lebens und der sorgloseren Behandlung des überkommenen Sprachguts, in Beziehung gebracht werden können, so bleibt es hier sehr zweifelhaft, ob oder inwieweit die Natur als solche zu den ver- ändernden Bedingungen zu zählen sei.

Von größerer Bedeutung scheinen auf den ersten Blick zwei andere Zeugnisse zu sein, die man denn auch vorzugsweise für einen direkten klimatischen Einfluß auf den Lautbestand der Sprache an- geführt hat. Das eine besteht in der Tatsache, daß die Sprachen von Gebirgs Völkern, welcher Abstammung sie auch seien, ob sie die deutschen Alpen oder den Kaukasus oder die hohen Kordilleren bewohnen, auf- fallend reich an Gutturallauten sind; die andere in der Beobachtung, daß stammesfremde Sprachen nicht selten in ihrem Lautbestand tibereinstimmen, wenn sie in Gebieten von gleichen geographischen Bedingungen gesprochen werden. Die Allgemeingültigkeit der ersten dieser Beobachtungen mag hier dahingestellt bleiben für die Ge- birgsvölker Hochasiens z. B. scheint sie nicht zuzutreffen , sicher ist aber, daß die semitische Rasse, deren Sprachen sich durch einen besonderen Reichtum an Kehllauten auszeichnen, in vielen ihrer Ab- zweigungen seit unvordenklichen Zeiten keine Berggegenden be- wohnt hat. Auf der andern Seite ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß nicht das Gebirgsklima als solches, etwa sein Einfluß auf Lungen und Kehlkopf, sondern die mit dem Gebirgsleben verbundene Lebens-

490 Der Lautwandel.

und Sprechweise, wie z. B. die Gewohnheit an lautes, von Berg zu Berg erschallendes Rufen, zu dem das Leben der Hirten auf einsamer Alm herausfordert, die eigentliche Ursache dieser Anlage der Sprach- organe sei. Noch weniger entscheidend ist das zweite Zeugnis, der übereinstimmende Lautvorrat sonst abweichender Sprachen unter gleichen klimatischen Bedingungen. Gerade da, wo die Behauptung zutrifft, bei den Sprachen des Kaukasus, sind die auf dieser Völker- straße seit uralten Zeiten eingetretenen Mischungen und Berührungen der Rassen ein näherliegender und wahrscheinlicherer Grund für die Ausgleichung der Lautsysteme. Dies gilt um so mehr, als in solchen Fällen, wo die geographischen Verhältnisse diese Einflüsse verhin- dern oder nur in spärlichen Zuzügen möglich machen, trotz über- einstimmenden Klimas und bei sonst großer Verwandtschaft der Sprachen die Lautsysteme wesentlich abweichen können. So finden sich starke Lautunterschiede zwischen den malaiischen und poly- nesischen und wiederum zwischen diesen und den mikronesischen Dialekten, ebenso zwischen den verschiedenen Sprachen der nord- amerikanischen Ureinwohner, darunter solchen, die in benachbarten, klimatisch wenig verschiedenen Gebieten ihre Wohnsitze haben. Im ersten dieser Fälle ist das Meer, im zweiten das Leben in abge- schlossenen Horden dem Verkehr hinderlich gewesen. Nach allem dem wird man schließen können, daß ein direkter Einfluß des Klimas oder sonstiger äußerer Naturbedingungen auf das Lautsystem wohl an sich nicht unmöglich ist, insofern an den Unterschieden des all- gemeinen physischen Habitus, der jedenfalls in einem gewissen Grad einem solchen Einfluß unterworfen ist, auch die Sprachorgane teil- nehmen. Immerhin sind in den Fällen, wo sich hieran denken ließe, regelmäßig auch noch andere Momente, namentlich Sprachmischungen und Kulturbedingungen, wirksam; und vieles spricht dafür, daß diese von überwiegender Bedeutung sind.

3. Einflüsse der Kultur.

Da der Begriff der Kultur zunächst eine Erhebung über den Zu- stand der bloßen Natur bezeichnet, so ent-steht bei jeder Anwendung dieses Begriffs vor allem die Frage nach dem Grade der Kultur, das

Einflüsse der Kultur. 491

heißt nach dem Maß jener Erhebung, sowie die nach der auf- oder absteigenden Richtung der Kulturbewegung. Insofern nun der Natur- zustand, als die der tierischen Existenz sich nähernde untere Grenze, durch körperliche wie geistige Merkmale charakterisiert ist, bezieht sich auch der Begriff der Kultur gleichzeitig auf das körperliche und auf das geistige Sein des Menschen. Da aber allerdings als die Grund- bedingung der Erhebung über den Naturzustand die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten gelten muß, so fällt das Schwergewicht des allgemeinen Kulturbegriffs auf die psychische Seite. In diesem Sinn ist die Kultur in ihrem eigensten Wesen Kulturent Wicklung und als solche die hauptsächlichste Äußerung der in einer bestimmten Kulturgesellschaft vorhandenen geistigen Entwicklung. Vermöge des engen Zusammenhangs physischer und psychischer Funktionen ist sie jedoch stets zugleich von äußeren Lebensbedingungen ab- hängig und wirkt ihrerseits wieder zurück auf die körperliche Organi- sation. So wird denn auch im einzelnen Fall oft kaum mehr zu er- mitteln sein, welcher unter diesen sich wechselseitig steigernden Fak- toren der ursprünglichere gewesen sei.

Indem nun die Veränderungen der Kultur nach ihrer geistigen Seite wesentlich auch in der Entstehung neuer Begriffe und in der Umbildung vorhandener ihren Ausdruck finden, ist es in erster Linie der Wortvorrat der Sprache, der von ihr berührt wird. Wo neue Kulturbestandteile von außen zufließen, da wird mit der Sache meist auch das Wort aufgenommen: darum sind in allen Sprachen Lehn- wörter das nächste Symptom äußerer Kultur ein Wirkungen. Wo anderseits selbständig aus gegebenen Kulturelementen neue ent- stehen, da helfen Wortzusammensetzung und Bedeutungswandel vorhandener Wörter den neu erwachten Bedürfnissen ab. Alles das kann sich ereignen, ohne daß irgendeine Änderung an dem Lautmaterial der Sprache vor sich gehen müßte. Wir dürfen daher wohl schließen, daß die Kultur im allgemeinen weniger direkt als indirekt die Sprachlaute beeinflußt, sei es, daß Ge- wohnheiten imd Sitten auf die Formen der Rede und damit auch auf die Laute der Sprache verändernd einwirken, sei es daß in dem Verlauf der psychischen Vorgänge Änderungen eintreten, die fürTonfall^ Rhythmus und Schnelligkeit der Artikulationen bestimmend sind.

492 Der Lautwandel.

Das erste der hier angedeuteten Momente, die Sitte, scheint vor allem in den Sprachen mancher primitiver Kulturvölker Ände- rungen des Lautsystems erzeugt zu haben. So ist es eine Eigentüm- lichkeit einiger Sprachen nord- und mittelamerikanischer Indianer- stämme, daß in ihnen die Lippenlaute nicht oder nur spurweise vor- kommen. Im Irokesischen fehlen die Laute f^ ph, b, bh, m, w, um vor- zugsweise durch Lingual- und Dentallaute ersetzt zu werden. Im Tscherokesischen finden sich zwar die tönenden Lippenlaute w und m, aber die labialen Explosivlaute mangeln. Die Sprache der Koloschen besitzt den Resonanzlaut m, sonst fehlen auch hier die Labial- laute^). Nun wird man nicht daran denken können, daß diese Laute, die zu den frühesten Lailauten der Kinder gehören, an sich irgendeinem Sprachorgan ursprünglich physische Schwierigkeiten bereitet hätten. Aber es ist so sehr die Sitte dieser Stämme, bei offenem Munde zu artikulieren, daß es der Irokese z. B. für unanständig hält, das Gegen- teil zu tun. Wie diese Sitte entstanden ist, wissen wir nicht mög- licherweise hängt sie mit dem Streben zusammen, die Lautgebärden der Zunge bei gewissen ausdrucksvollen Lauten sichtbar zu machen. Wahrscheinlich ist dieser Ursprung selbst dem Gedächtnis entschwun- den; aber die so erzeugten Lautänderungen mit ihren Rückwirkungen auf die Sprachorgane sind erhalten geblieben^). Auf einer eigentüm- lichen Bevorzugung gewisser Laute, die wohl erst im Laufe der Zeit entstanden sein kann, scheint ferner der auffallend klangvolle Cha- rakter der polynesischen Sprachen zu beruhen. Die Konsonanten dieser Sprachen werden nachlässig gesprochen und oft miteinander verwechselt. Die Vokale, die nur in den fünf einfachen Formen a, e,

1) Vgl. die Lauttabellen bei Fr. Müller, II, 1, S. 206, 223, 239.

2) Nicht direkt hierher zu zählen sind solche Lautmängel, die nicht, wie die obigen infolge gewisser Artikulationsgewohnheiten bei sonst normaler Be- schaffenheit der Sprachorgane vorkommen, sondern durch die Verstümmelung oder Deformation der Teile rein mechanisch bedingt sind: so die mangelnde Aussprache der Dentallaute infolge des Ausbrechens oder Ausfeilens der Schneide- zähne bei manchen australischen und südafrikanischen .Stämmen und die ver- schiedenen Lautdefekte infolge der bei südamerikanischen und afrikanischen Völkern bestehenden Sitten des Lippenpflocks, der Durchbohrung der Lippen oder der Nasenscheidewand.

Einflüsse der Kultur. 493

i, 0, u, nicht in diphthongischen Verbindungen vorkommen, sind daher die Hauptträger des Wortes, auf deren Klangqualität und Quan- tität streng gehalten wird. Ahnlich scheinen die eigentümlichen Tonabstufungen der indochinesischen Sprachen, die hier zumeist dem Ausdruck bestimmter Begriffsänderungen dienen, zu den gleich- zeitig eingetretenen Abschleifungen der Laute in Beziehung zu stehen^). Natürlich ist dabei an eine willkürliche Unterdrückung oder Bevorzugung nicht zu denken. Vielmehr lassen sich diese Ver- änderungen wiederum nur als solche betrachten, die mit innerer Notwendigkeit und zum Teil zugleich in Wechselwirkung mitein- ander erfolgten.

Bei dieser Korrelation der Erscheinungen spielt nun das Ineinan- dergreifen äußerer und innerer Kultureinflüsse sichtlich eine wichtige Rolle. Daß sich aber irgendwelche konstant und gleichförmig wirkende Ursachen feststellen lassen, die auch nur für ein Volk während einer längeren Zeit ausschließlich maßgebend wären, ist ausgeschlossen. Auch ist es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß bestimmte Bedingungen überall wieder genau die gleichen Wirkungen hervor- bringen, da ja die einzelne Ursache voraussichtlich jedesmal mit ab- weichenden Einflüssen sich kompliziert. Wenn z. B. der phonetische Charakter der aus dem Vulgärlateinischen stammenden Wörter in den einzelnen romanischen Sprachen ein vielfach abweichender ge- worden ist, obgleich in den meisten augenscheinlich die Kürzung und wechselseitige Assimilation der Laute vorherrschen, so ist das bei der Ungeheuern Mannigfaltigkeit der sonstigen Bedingungen nicht zu verwundern. Eine Sprache, die eine so ausgeprägte Tonmodu- lation besitzt wie das Französische, und eine andere, die umgekehrt eine stark dynamische Akzentuierung erworben hat wie das Italienische, sie müssen um schon dieses einen Unterschieds willen dem in ihnen beiden lebenden Trieb nach Verkürzung der Lautform, aus welcher Ursache dieser auch immer in ihnen entstanden sein mag, in sehr verschiedener Weise Folge leisten. Angesichts der Abweichungen,

^) Misteli (Steinthal), Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues, 1893, S. 203 ff . Conrady, Eine indochinesische Kausativ-Deno- minativ-Bildung, 1896.

494 Der Lautwandel.

welche zuerst Sprachmiscliimg und Entlehnung und dann in einem weiteren Stadium die Ausgleichung benachbarter Dialektformen ausüben, wird man sich in der Tat das Ineinandergreifen der ver- schiedenen Faktoren, die zusammenwirken mußten, um eine unserer heutigen Literatursprachen zustande zu bringen, nicht kompliziert genug vorstellen können, und man wird hier im allgemeinen nur daran festhalten dürfen, daß die entscheidenden unter diesen Einflüssen genereller Natur waren. Sollen jedoch unter diesen generellen Kultureinflüssen die allgemeinsten hervorgehoben werden, so dürften, abgesehen von den Bedingungen der Sprachmischung, hauptsächlich drei in Betracht kommen: die Veränderungen im Tempo der Rede, der Wechsel der Betonung, insbesondere das Ver- hältnis zwischen Tonmodulation und dynamischem Akzent, und endlich die resultierenden Wirkungen, die aus dem Zusammen- treffen von Kontakt- und Fernewirkungen der Laute hervor- gehen.

4. Sprachmischungen.

An Völkerwanderimgen hat es wohl keiner Zeit gefehlt, mögen sie nun als große Massenbewegungen oder als allmähliche Zuzüge einzelner oder endlich, was wahrscheinlich bei den großen historischen und vorhistorischen Völkerwanderungen die Regel war, als Einwande- rungen kriegerischer Stämme erfolgt sein, denen die Herrschaft über eine numerisch stärkere Urbevölkerung zufiel. Besonders bei dieser mutmaßlich häufigsten Form mußten aber tief eingreifende Sprach- mischungen eintreten, die voraussichtlich nicht zum wenigsten das Lautsystem der Sprachen ergriffen haben. Da die meisten und die für die Ausbildung unserer Kultursprachen wichtigsten dieser Wande- rungen in einer der Sprachgeschichte unzugänglichen Zeit erfolgten, so sind wir freilich hinsichtlich dieser Quelle lautlicher Umgestaltungen vielfach ganz auf Vermutungen angewiesen. Im allgemeinen darf man aber als wahrscheinlich voraussetzen, daß die Tatsachen, die bei der heutigen Entstehung der Mischsprachen beobachtet werden, auch für jene vorgeschichtlichen Sprachmischungen gelten (vgl. oben S. 404 ff.). Danach wird es in der Regel die Rasse der höheren Kultur

Sprachmischungen. 495

gewesen sein, die der niedrigeren ihren Wortvorrat und, wo einiger- maßen das Verhältnis einem numerischen Gleichgewichte nahe kam, auch das grammatische System ihrer Sprache mitteilte, wogegen das Lautsystem, gleich den Merkmalen der physischen Organisation, umgekehrt der Mehrheit ihren vorwiegenden Einfluß sicherte. Dem Verhältnis höherer und niederer Kultur wird bei den ursprünglichen Völkerwanderungen wohl das der physisch stärkeren oder durch kriegerische Organisation überwiegenden zur schwächeren Horde entsprochen haben. Mag demnach der an Zahl zurücktretende, aber herrschende Teil einer Mischbevölkerung mit den sozialen Formen des Lebens und den meisten sittlichen und religiösen Anschauungen auch die sprachliche Form, in die der Mensch seine Vorstellungen und Gefühle kleidet, der Gesamtheit mitteilen, in dem Laut- charakter der Sprache wird, wie in der Haarfarbe, der Körper- größe und den allgemeinen Gemüts- und Charakteranlagen, schließ- lich die unterdrückte Rasse sich geltend machen. Das ist in der Tat in allgemeinen Zügen wohl der Gang der Entwicklung der modernen romanischen Sprachen aus dem Lateinischen oder der des modernen Englisch gewesen, hier nur mit der besonderen Modi- fikation, daß zwei erobernde Stämme, der germanische und der romanische, der Sprache ihre hauptsächlichsten Eigenschaften gaben: der erste den grammatischen Bau und die ursprünglichen Be- standteile des Wortschatzes, der zweite den größten Teil der Be- griffe und Wörter die einer fortgeschrittenen Kultur angehören. In dem eigentümlichen Lautsystem dieser Sprache haben aber allem Anscheine nach die keltischen und sonstigen älteren Bewohner Britanniens, von denen im übrigen Form und Inhalt der Sprache fast unberührt geblieben sind, ihre Spuren zurückgelassen. Ähn- lich hat in einem davon weit entfernten Sprachgebiet die in Süd- afrika eingesessene Buschmannsrasse im wesentlichen die Sprache der, wie man annimmt, aus dem Norden eingewanderten Hottentotten angenommen; aber die merkwürdigen Schnalzlaute der Hottentotten entstammen wahrscheinlich der ursprünglichen Buschmannssprache. Von diesen Gesichtspunkten aus werden die gewaltigen Differen- zierungen, die in den Lautbildungen sonst genealogisch zusammen- hängender Sprachen eingetreten sind, wohl verständlich, wenn sich

496 Der Lautwandel.

auch bei unserer Unkenntnis der vorhistorischen und selbst vieler der in geschichtlicher Zeit erfolgten Völkermischungen Art und Um- fang dieses Einflusses zumeist der Schätzung entziehen.

Mit den Mischungen gehen die Berührungen der Völker und der einzelnen Stammesgruppen, wie sie durch den Grenzverkehr und die Einwanderung bedingt sind, Hand in Hand. Natürlich lassen sich die Wirkungen der Mischung und der Berührung im allgemeinen hier ebensowenig wie diese Vorgänge selbst auseinanderhalten. Immer- hin weisen viele Erscheinungen darauf hin, daß schon der bloße Ver- kehr weitgreifende Einflüsse mit sich führen kann, ohne gleichzeitig mit erheblichen Rassen- oder Stammesmischmigen verbunden zu sein. So besitzen z. B. die konsonantischen Lautvertretungen in denjenigen Zweigen der ural-altaischen Sprachen, deren Träger früh schon in einen Verkehr mit germanischen Stämmen getreten sind, wie beson- ders im Finnischen und Magyarischen, gegenüber den isolierter ge- bliebenen Sprachen der gleichen Völkerfamilie häufig einen der unten zu erwähnenden germanischen Lautverschiebung verwandten Cha- rakter^). Da diese Verschiebungen aber immerhin nicht in gleicher Weise reguläre Erscheinungen sind wie die verwandten Vorgänge auf germanischem Sprachgebiet, so unterstützt dies die Vermutung, daß hier nicht ein originärer Lautwandel, sondern der Einfluß benach- barter germanischer Stämme vorliegt. Der Umstand, daß solche Lautvertretungen durchaus das den finnischen Idiomen ursprünglich eigene Sprachgut ergriffen haben, macht es überdies wahrscheinlich, daß es sich hier mehr um Berührungswirkungen als um Sprachmischun- gen handelt. Einen noch prägnanteren Fall ähnlicher Art bildet eine Erscheinung, die allerdings an sich nicht dem regulären Lautwandel, sondern der Lautassimilation angehört, die aber durch die eigentüm- lichen Verhältnisse ihres Vorkommens auf die Wirkungen der Sprach- berührungen hinweist. Das Rumänische bietet eine große Zahl von Vokalumwandlungen, die nach dem Prinzip der Vokalharmonie er- folgt sind, indem sie in der Angleichung zweier Vokale in zwei auf-

1) Vgl. die Beispiele konsonantischer Vertretungen bei Fi'. Müller, Grund- riß, Bd. 2, II, S. 192 ff.

Tempo und Betonung der Rede. 497

einander folgenden Silben bestellt, wie z. B. rumuneh für lat. roma- nescus u. a. Die Erscheinung ist den übrigen romanischen Sprachen, ebenso wie dem Lateinischen, Deutschen und Slawischen, fremd; sie ist jedoch den ural-altaischen Sprachen und so auch dem an das rumänische Sprachgebiet grenzenden Türkischen und Magyarischen eigen. Vermutlich hat also das Rumänische aus diesen die Neigung zur Vokalharmonie entnommen. Daß aber auch hier wieder die Er- scheinung nicht oder zum geringsten Teil auf Sprachmischung beruht, wird dadurch wahrscheinlich, daß die aus dem Lateinischen und Sla- wischen stammenden Wörter sie vorzugsweise darbieten. Auch hat sie sich darin gewissermaßen dem sonst abweichenden Charakter der Sprache angepaßt, daß sie in progressiver wie regressiver Rich- tung vorkommt, d. h. ebenso als Wirkung des vorangehenden auf den nachfolgenden wie des nachfolgenden auf den vorangehenden Vokal, während sie in ihrer eigentlichen Heimat nur in der ersteren, pro- gressiven Form existiert^).

5. Tempo und Betonung der Rede.

a. Allgemeine Wirkungen der Artikulations- geschwindigkeit.

Unter allen Bedingungen des Lautwandels ist das Tempo der Rede wohl eine der eingreifendsten, obgleich sie bis jetzt von selten der Sprachforscher nur wenig beachtet wurde. Daß mit einem rascheren Wechsel der psychischen Erregungen, wie ihn neben anderem die wachsende Kultur in der Regel hervorbringen wird, auch die Geschwin- digkeit der Rede einigermaßen gleichen Schritt hält, ist ja von vorn- herein nicht unwahrscheinlich. Natürlich brauchen diese Wirkungen weder bei allen Nationen in gleicher Weise, noch brauchen sie gleich- förmig zu erfolgen. Vielmehr wird auch hier gelten, daß solche Ver- änderungen nach dem früher (S. 485) erwähnten Mutationsprinzip zwar stetig sich vorbereiten, daß sie selbst aber infolge irgendeines

^) Ad. Storch, Vokalharmonie im Rumänischen. Diss. Leipzig 1899.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 32

4r98 Der Ijautwandel,

auslösenden Impulses plötzlich zum Durchbruch gelangen können und nun in rapider Entwicklung, von der jüngeren Generation an- fangend, bis zu einem neuen Punkt relativen Stillstandes an wachsen. Mehr als in dem Tempo der Eede selbst, für das uns unmittelbare Nachweise kaum zu Gebote stehen, besitzen wir in dieser Beziehung ein charakteristisches Zeugnis aus einer noch der Gegenwart nahe- liegenden Zeit in einem andern, in mancher Beziehung unmittel- baren Ausdrucksmittel der Gefühle und Affekte, in der Musik. Be- kanntlich hören wir selbst Beethovens Symphonien heute in der Regel in einem schnelleren Tempo vorgetragen, als in dem sie ursprünglich komponiert waren ; und noch größer ist dieser Unterschied bei Meistern wie Haydn oder Mozart, Händel oder Bach, wenn nicht in diesen Fällen der Charakter der Kompositionen auch noch heute zu einem bedächtigeren Tempo zwingt. Die merklich gewordene Erhöhung der Orchesterstimmung der Instrumente ist wahrscheinlich ein hier- mit zusammenhängendes Phänomen, denn der schnellere Schritt der Töne fordert im allgemeinen auch eine höhere Tonlage. Nun ist frei- lich die Stimmung unserer Instrumente konventionell. Aber diese Konvention ist doch aus dem musikalischen Bedürfnis hervorgegangen ; und wir können kaum zweifeln, daß, analog wie sich das musikalische Tempo in den Jahrhunderten geändert hat, so auch das durchschnitt- liche Tempo der Rede ein anderes geworden ist. Obgleich uns dieses Tempo selbst nicht erhalten blieb, so spiegelt sich doch in dem Stil, in der umständlicheren Form der grammatischen Konstruktion deut- lich genug die Veränderung, die bereits seit Gottscheds Zeiten in der gewöhnlichen Form der deutschen Rede vor sich gegangen sein mag. Dabei ist es wiederum für die Wechselbeziehung zwischen Denken und Sprechen bezeichnend, daß zur selben Zeit, da sich der deutsche Stil noch in schwerfällig gravitätischen oder in der vulgären Unter- haltung in plumpen und ungelenken Schritten bewegte, das Fran- zösische schon eine sehr viel größere Geschmeidigkeit und darum sicherlich auch eine größere Geschwindigkeit der Diktion erlangt hatte. Darum kann man sich in solchen Fällen die geistige Organisation der Menschen, die damals in zwei Sprachen zu denken und zu sprechen pflegten, kaum anders denn als eine auch hinsichtlich des Tempos zwiespältige vorstellen. Ein Leibniz und ein Friedrich der Große

Tempo und Betonung der Rede. 499

haben wahrscheinlich französisch schneller gedacht und gesprochen, als wenn sie sich der deutschen Sprache bedienten. Nun wissen wir freilich nicht, wie unsere althochdeutschen Vorfahren oder wie die Goten oder gar die Urgermanen gesprochen haben, abgesehen von den indirekten Zeugnissen, die wir den grammatischen Formen ent- nehmen können. Gerade diese Formen lassen aber auf ein langsameres, sozusagen majestätisch einherschreitendes Tempo der Rede schließen; ja in dieser Beziehung finden sich selbst zwischen dem Gotischen und dem Althochdeutschen und zwischen diesem wieder und dem Mittelhochdeutschen Unterschiede, die überall mit dem volleren Klang auch den langsameren Gang der auf einer früheren Lautstufe stehen gebliebenen Sprachform annehmen lassen. Mit feiner poetischer In- tuition hat das Gustav Freytag in seinen ,, Ahnen" zum Gehör ge- bracht, indem er seine althochdeutschen Helden Ingo und Ingraban in einem Stil reden läßt, der freilich so, wie ihn der Dichter erfindet, sicherlich nirgendwo und nirgendwann vorgekommen ist, der aber doch durch die Art der grammatischen Konstruktion und namentlich durch die Einfügung gewisser regelmäßig wiederkehrender Redeformen, die an den homerischen Stil erinnern, den Eindruck gediegener und schwerfälliger Langsamkeit hervorbringt.

Doch wir besitzen, abgesehen von diesem immerhin etwas un- bestimmten allgemeinen Eindruck von Sprache und Stil, noch ein anderes Zeugnis im Gebiet der Lautformen selbst in jenen Kontakt- wirkungen der Laute, die, wie wir sahen, mit zwingender Gewalt auf den Einfluß einer beschleimigten Rede hinweisen: so vor allem die Erscheinungen der sogenannten ,, regressiven'' und ein nicht un- beträchtlicher Teil auch der ,, progressiven Lautassimilationen". (Vgl. oben S. 431 ff.) Dieses Zeugnis ist um so wertvoller, weil es sich geradezu auf alle uns bekannteren Kultursprachen und auf die ver- schiedensten Perioden der Sprach- und Kulturentwicklung erstreckt. Wenn lat. supmus in summus, sedla in sella, factus in ital. fatto, fluctus in fiotto, deutsch hahte in hatte, entfinden in empfinden, oder auch (pro- gressiv) vulba in vidva, Mimben in klimmen überging usw., so liegt der Beweis für den Zusammenhang dieser Veränderungen mit einer Beschleunigung der Artikulationsbewegimgen schon darin, daß sich alle diese Wörter sehr leicht Von selbst aus der ersten in die zweite

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500 Der Lautwandel.

Lautform umwandeln, sobald wir rascli artikulieren. Allerdings ge- schieht das nicht überall gleich vollständig: entfinden geht z. B. leichter in empfinden über als fluctus in fiotto. Aber hier ist eben auch die Ver- änderung noch durch eine dissimilatorische Vokalbildung kompli- ziert, und sie hat daher mutmaßlich eine längere Zeit gebraucht, um sich vollständig durchzusetzen. Bei allem dem stimmen diese durch den Kontakt der Laute eingetretenen Umwandlungen darin überein, daß sie auf eine irgend einmal eingetretene Beschleunigung in dem Tempo der Rede hinweisen, was natürlich dazwischen liegende Sta- dien des Stillstandes oder einer retrograden Bewegung und neben- hergehende andere Einflüsse, wie Sprach- und Völker mischungen, nicht ausschließt. Darum würde es verkehrt sein, solche Verände- tungen etwa zu einem Maß der Redegeschwindigkeit oder gar der fortgeschritteneren Kultur zu nehmen. Vielmehr liegt darin immer nur ein Zeugnis dafür, daß alle jene Einflüsse auf die jüngere Sprach- form länger und eben darum schließlich stärker eingewirkt haben als auf die ältere, gerade so wie ja auch die jüngere Kultur keines- wegs immer die höhere zu sein braucht. Wohl aber wird aus jenen Veränderungen, die der Kontakt der Laute herbeigeführt hat, zu schließen sein, daß die Beschleunigung der Tempos ein Faktor ist, der zu Zeiten auf jede der Kultur sprachen gewirkt hat; und schwer- lich wird dieser Faktor auf die direkt nachweisbaren Kontaktwir- kungen beschränkt geblieben sein, sondern er wird aller Wahrschein- lichkeit nach schließlich den Lautbestand der Sprache als solchen mehr oder minder eingreifend verändert haben.

b. Vokalkontraktionen und Lautschwächungen.

In der Tat bietet die Sprache eine große Zahl Von Erscheinungen dar, die hierfür eintreten. Vor allem gehört dahin das zum Teil noch in das Gebiet der Lautassimilationen hinüberreichende Phänomen der Vokalkontraktion. Sie vollzieht sich bald in der Form der Verschmelzung zweier aufeinander folgender Vokale in einen einzigen, der einem von ihnen oder beiden ähnlich ist, oder zu einem artikula- torisch zwischen ihnen liegenden Laut, bald in der Auswerfung des

Tempo und Betonung der Rede. 501

einen Vokals, bald endlich auch in einer durch Elision eines zwischen- liegenden Konsonanten vermittelten Verbindung. Zusammenziehungen wie griech. rjQog aus eaQog, cpiXelTS aus (piMexe, q)iXovfi€v aus cpikio/iiev, {.uod-io aus (.nod-oio, eo^ev aus urgriech. eöijAEv u. a. sind hier naheliegende Beispiele^). Eine zweite, ebenfalls weitver- breitete Erscheinung besteht in den in der mannigfaltigsten Weise sich äußernden Lautschwächungen am Ende der Wörter. Man nehme qualitative Übergänge wie im Lateinischen prodtt aus *pro- dat (zu däre), artifex aus '^artifax (zu facio), vivunt aus vivont, oder Kürzungen der Endvokale bei gleich bleibender Qualität wie lego aus "^leyö (gr. leyo)), auctor aus altlat. auctör (auctoris), oder endlich den völligen Silbenschwund im Auslaut, wie in mors aus "^mortis, ager aus "^agros, acer aus agris^). Ahnlich im Deutschen leiten zu ahd. lidan, Bahre zu hdra, Wunder zu wuntar, zeigön zu zeigen, leben zu leben usw. Hier ist überall schon im Mittelhochdeutschen die Schwächung eingetreten. Aber sie ist in diesem, wie manche Erscheinungen schließen lassen, noch nicht so weit wie in der heutigen Sprache fortgeschritten gewesen. So sind Formen wie Tags für Tages, dem Mann für dem Manne erst in verhältnismäßig neuer Zeit allgemein geworden; und diese Kürzimgen sind zum Teil auch da eingedrungen, wo in der Schrift der Vokal noch bewahrt blieb: wir sprechen nicht Tages, sondern Tag^s, und ähnlich inmitten des Wortes, z. B. der andere, nicht der andere, indem der stumme Vokal nur noch als ein fast verschwinden- der Übergangslaut erscheint.

Zu dieser Schwächung und Abwerfung der Vokale bieten nun auch die Änderungen der konsonantischen Laute am Ende des Wortes parallele Erscheinungen. So ist im Lateinischen namentlich der Schwund des Schluß-m, obgleich dasselbe noch geschrieben wird, im poetischen Metrum deutlich zu bemerken; auch in die romanischen

^) Brugmann, Griech. Grammatik,^ S. 58 ff. Auch die romanischen Sprachen sind reich an hierher gehörigen Erscheinungen, die sich nur bei ihnen vielfach zugleich mit dissimilatorischen Elisionen und selbständigen Änderungen des Vokalklangs verbinden. Vgl. Meyer-Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen, Bd. 1, S. 98 ff.

^) Vgl. Ferd. Sommer, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre, 1902, S. 155 ff.

502 Der Lautwandel.

Sprachen hat sich dies fortgesetzt. Doppelkonsonanten sind ferner durchweg zu einfachen zusammengezogen worden, wie lac aus ^lact {lactis), cor aus '^cord (cordis) usw. ^). Im Deutschen besteht die be- merkenswerteste Erscheinung dieser Art darin, daß im Wortschluß die tönende Media in einen kurzen tonlosen Verschlußlaut, eine stimm- lose Tennis, überzugehen pflegt. So schreiben wir zwar aus Rück- sicht auf den grammatischen Zusammenhang Tag, Tages und Land, Länder, wir sprechen aber in Wirklichkeit Tak, Tages, Lant, Länder'^). Zugleich bemerkt man übrigens hierbei, daß diese Unterschiede nicht unbeträchtlich variieren können, und daß darauf namentlich die Länge des vorangehenden Vokals von Einfluß ist. Sprechen wir das Wort Tag kurz und scharf, so tritt der harte Schlußlaut sehr deutlich her- vor; sprechen wir es gedehnt, so ermäßigt er sich und geht in eine tonlose Media oder Spirans über. Die Aussprache variiert also zwischen tak, tag und tax, wenn wir mit g den stimmhaften, mit x den stimm- losen Konsonanten bezeichnen. Entsprechende Unterschiede sind denn auch dialektisch vorhanden, indem der Schlußkonsonant bald mehr nach der stimmlosen Media, bald mehr nach der Spirans hin abweicht, und sie sind zum Teil wenigstens mit entsprechenden Unter- schieden in der Länge des Vokallauts kombiniert.

c. Lautänderungen der Verschlußlaute.

Aus diesen Beobachtungen erhellt zunächst, daß die Scheidung der Formen des sogenannten selbständigen und des kombinatorischen Lautwandels in keiner Weise durchgeführt werden kann. Da in der Sprache kein einziger Laut für sich allein existiert, so ist jede Laut-

^) Nur das »Schluß-.s bildet im Lateinischen eine Ausnahme, indem es zu einer gewissen Zeit ausfiel, wenn ein Wort mit anfangendem Konsonanten folgte, wie in oninibu{s) priuceps. Dieser Fall reicht aber wieder in die Kontaktwirkungen der Laute hinein, und er ist wohl als eine in der Volkssprache eingerissene dissi- milatorische Elision aufzufassen, die dann später von der Schriftsprache unter dem Einflüsse des vor Vokalen stets erhalten gebliebenen Schlußlauts wieder getilgt wurde. Vgl. Sommer a. a. O. S. 302 ff. und über Dissimilationen oben S. 423 ff.

2) Vgl. Sievers, Phonetik,* S. 265 f.

Tempo und Betonung der Rede. 503

änderung in einem gewissen Grade durch die Verbindung mit andern Lauten beeinflußt. Es ergibt sich aber auch weiterhin, daß bei dieser nie fehlenden Verbindung der Laute die Schnelligkeit ihrer Aufeinander- folge eine entscheidende Rolle spielt. Besonders deutlich lassen sich diese Schwankungen bei der willkürlichen experimentellen Variation der Bedingungen nachweisen. Als Beispiele seien hier die Lippen- explosivlaute p, b in ihren Wandlungen verfolgt, da sie bei der ober- flächlichen Lage der Verschlußstelle der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind. Als kombinatorisch verwendeten Vokal wollen wir der Gleichförmigkeit wegen überall das a wählen. Es seien ferner bezeichnet mit p'*, b^ die stark, mit p\ b' die schwach aspirierten Laute, mit p und B die geschärften tonlosen Verschlußlaute (Affricatae), mit b die gewöhnliche tönende Media, und endlich mit p und 6 die tonlosen Lippenlaute. Es treten dann bei wechselnder Stellung und Kombination mit langen und kurzen Vokalen die folgenden Ver- änderungen der beiden Verschlußlaute von selbst ein:

p'% p%y apäj dpa, ap Va, bä, abä ba, äh, ap.

Der Sinn dieser beiden Reihen ergibt sich ohne weiteres aus der obigen Interpretation der Bezeichnungen. Zunächst hat der Unterschied der beiden Anfangsglieder {p^'Ci und b'ä) die Bedeutung, daß die Stärke der Aspiration bei dem weicheren Explosivlaut immer schwächer als bei dem harten, und daß sie dort überhaupt nur bei starker Betonung des kommenden Vokals vorhanden ist, sonst aber ganz schwindet (6'a und bä)» Tritt der Verschlußlaut in die Mitte zweier Vokale, so verschwindet die Aspiration, und es bleibt nur die Neigung zu einer Verschärfung des Lautes. Am Schluß des Wortes weicht endlich, wenn ein langer Vokal vorangeht, die tönende der tonlosen Media, und diese bei verkürztem Vokal dem tonlosen harten Verschlußlaut (ab und o/?).

Die Ursachen dieses durch die Position bewirkten Lautwandels sind nun offenbar wieder keine rein physiologischen, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes psychophysische. Dies gilt vor allem von den Lautänderungen am Ende des Wortes, den Schwächungen

•'* 'T-'-r

504 Der Lautwandel.

und Elisionen der Vokale und dem Übergang der tönenden in kurze und tonlose Verschlußlaute, sowie von den im Gegensatz zu ihnen stehenden Modifikationen der gleichen Laute am Wortanfang. Jedes einigermaßen selbständig zu denkende Wort ist bis zu einem gewissen Grad ein Ganzes für sich. Demnach bildet es einen momentanen Halte- punkt der Rede, so daß sich die Kraft der Artikulation vor allem auf den Wortanfang konzentriert. Umgekehrt verhält sich der Schluß des Wortes. Ist der Anfang intoniert, so ist namentlich bei einem kürzeren Worte für den Redenden der psychische Prozeß der Wortbildimg Vollendet: nur der physische Vorgang der Artikulation folgt noch mechanisch dem zuvor gegebenen Impuls. Darum ist das Ende des Wortes vorzugsweise der Lautschwächung und Lautkürzung aus- gesetzt. Ist der Schlußlaut ein Vokal, so wird dieser kürzer oder seine Klangfarbe dumpfer; bei den Geräuschlauten weicht der leichtere, tönende einem härteren, tonlosen Verschlußlaut. In diese Bedingungen greifen dann noch Akzentuierung und Dauer der inlautenden Vokale wesentlich modifizierend ein, während zugleich physiologische Be- dingungen die hieraus entspringenden begleitenden Veränderungen der Verschlußlaute bestimmen. So ist die Aspiration der harten Ex- plosivlaute am Anfang des Wortes um so mehr eine mechanische Notwendigkeit, je dauernder der folgende Vokal ist {p'a und p^ä)- Die weiteren Veränderungen ergeben sich aus den für An- und Aus- laut geltenden psychophysischen Momenten einerseits und den aus Betonung und Dauer der Laute hervorgehenden mechanischen Vor- und Rückwirkungen anderseits, wie aus den obigen Reihen für den Wandel des p- und &-Lautes hervorgeht.

Unverkennbar haben nun aber diese mit der Aneinanderreihung der Laute zusammenhängenden Lautvariationen noch eine weitere über diesen nächsten Bereich ihrer Wirkungen hinausgehende Be- deutung. Die Veränderungen, die sich innerhalb eines zusammen- hängenden Lautkomplexes als die Folgen der Beschleunigung oder Hemmung der Bewegung einstellen, werden nämlich in einem gewissen Umfang auch als allgemeine Veränderungen mehr oder weniger in jedem Lautzusammenhang wiederkehren, teils weil sich die Ein- stellung auf die neue Artikulationslage überhaupt fester eingeübt hat, teils weil die an bestimmten Punkten durch den Lautzusammen-

Tempo und Betonung der Rede. 505

hang erzeugten Veränderungen assoziativ auf andere Fälle, ganz wie bei den sogenannten ,, Analogiebildungen", herüberwirken. So sind es Kontakt- und Fernewirkungen der Laute, die überall in das Gebiet des sogenannten „selbständigen" Lautwandels eingreifen. Natürlich lassen sich die im letzteren Fall sich ergebenden Wirkungen des häufigen Gebrauchs nicht mehr ohne weiteres mittels einer ex- perimentellen Variation der Bedingungen feststellen. Wohl aber gibt ims hier die geschichtlich eingetretene Veränderung gewisse Hin- weise, falls wir uns nur die experimentell konstatierten Einflüsse der Geschwindigkeit und Betonung über eine längere Zeit ausgedehnt oder durch hinzutretende Bedingungen verstärkt denken. Dieses Prinzip läßt sich namentlich auf gewisse Veränderungen der harten Explosivlaute anwenden. Bei der Betrachtung der obigen beiden Keihen für die Variationen der Lippenlaute f und h fällt ja ohne weiteres auf, daß die Breite der experimentell herzustellenden Schwankungen des weichen Verschlußlauts sehr viel größer als die des harten ist. Jener kann zwischen tönender und tonloser, zwischen aspirierter und unaspirierter Form wechseln, und er kann unter bestimmten Be- dingungen in den tonlosen harten Explosivlaut f übergehen, während der letztere immer nur die Verschiedenen Stufen aspirierter Aussprache mit dem kurzen Verschluß ohne Aspiration als Grenzfall durchwandert. Dennoch gibt es auch hier einen eingreifenden Wechsel, der, wie die Geschichte zeigt, in Verschiedenen Sprachen als Folge eines länger dauernden Gebrauchs eingetreten ist, und der auch sporadisch in der individuellen Beobachtung vorkommt; letzteres freilich nur bei will- kürlichen Experimenten oder aber beim Sprechenlernen des Kindes. Da beobachtet man nämlich, daß ein Lautgebilde wie f^nt mit mehr oder weniger starker Aspiration des harten Anfangslauts gelegent- lich durch dissimilatorische Erleichterung zunächst in ffunt und dann, bei noch weiter beschleunigter Rede, in funt übergeht. Der letztere Übergang läßt sich leicht mechanisch erzwingen, wenn man das Wort mehrmals nacheinander oder in Kombinationen wie fünf pfunt fünf pfunt fünf pfunt . . spricht. Diese verwandeln sich fast unvermeidlich in fünf funt fünf funt fünf funt ... Es besteht also auch für die harten Explosivlaute wenigstens innerhalb einer länger dauernden Reihe von Veränderungen die Möglichkeit einer weiteren Umwandlung,

506 Der Lautwandel.

die auf der im Anlaut stets vorhandenen Verbindung dieser Laute mit einer Aspiration beruht. Denn aus dieser geht nun, unter Ein- schaltung eines dissimilatorischen Zwischenstadiums, das auch dauernd erhalten bleiben kann, eine Spirans hervor, die je nach der Verbin- dung mit andern Lauten bald tonlos (/, w), bald tönend ist {w, v). So spi;echen wir in der Tat das Wort Pfund im Hochdeutschen pfunt; wir finden aber daneben als dialektische Abweichungen sowohl die Form p'unt wie fünf. Auch von diesen Veränderungen können nun wahrscheinlich Assoziationswirkungen ausgehen. Die Umwandlung in die Spirans wirkt auf andere, minder zwingende Fälle hinüber. Dabei kommt dann namentlich in Betracht, daß in einem früheren Stadium der Sprache aspirierte Formen infolge einer langsamen Rede- weise leichter auch im Inlaut der Wörter vorkommen konnten, wo sie jetzt verschwunden sind. So war die ursprüngliche Wortform für den Apfel wahrscheinlich "^aphil, woraus schon im Althochdeutschen nebeneinander die Formen apful und afful (affoUra Apfelbaum), im Neuhochdeutschen Apfel und daneben niederd. Appel hervor- gegangen sind.

Wie hier die geschichtliche Entwicklung der Laute dieselben Änderungen erzeugt hat, die sich unter Umständen unwillkürlich in dem Mechanismus unseres gewöhnlichen Sprechens ereignen, so lassen nun anderseits die in der Sprache anscheinend fixierten Laute deutliche Nuancen der Klangfärbung und Tonhöhe erkennen, so daß ein und dasselbe Lautzeichen, mag man noch so sehr den üblichen ßuchstabenbezeichnungen durch weitere phonetische Symbole zu Hilfe kommen, eigentlich immer eine Fülle individueller Laute unter sich begreift. Diese Lautschwankungen erweisen sich aber durchweg als Kontaktwirkungen, bei denen die Vokale ebenso von den um- gebenden Konsonanten wie diese hinwiederum von den zwischen ihnen liegenden imd besonders von den vorausgehenden Vokalen abhängen. Nehmen wir z. B. eine Reihe von Wörtern wie Dach, Sache, poche, suche, Zeche, Sichel usw., so ist die Spirans ch in keinem dieser Wörter der gleiche Laut, sondern die Verengerungsstelle, die dem Reibungsgeräusch seinen Klangcharakter gibt, richtet sich in erster Linie nach dem vorangehenden Vokalklang, auf den die Artikulations- organe noch eingestellt sind, wenn der Geräuschlaut beginnt; sie

Tempo und Betonung der Rede. 507

richtet sich aber auch etwas nach dem folgenden Laut und ist t, B. eine andere, wenn das Wort mit der Spirans schließt, als wenn dieser wieder ein Vokal nachfolgt. So liegt in Bach die verengerte Stelle weiter zurück als in Sache, und sie rückt dann mit der Erhöhung des vorausgehenden Vokals immer weiter nach vorn. Die gewöhnliche phonetische Unterscheidung dieser palatalen Spirans in eine Vordere yi^^ (ich), und in eine hintere ^^^ (Dach) greift daher nur Grenzfälle heraus, zwischen denen alle möglichen Übergänge stattfinden können. Dabei sind diese Variationen in erster Linie von dem vorausgehenden, in geringerem Grade von dem nachfolgenden Vokal bestimmt. So ziehen die hohen Vokale e, i und ihre Verbindungen, wie eu, ei, ä, ü, die vor- dere Spirans /j^, die tieferen Vokale a, o, u die hintere ^^ ii9,ch sich. Aber indem hierbei jedesmal die Vokaleinstellung auf den folgenden und bis zu einem gewissen Grad auch auf den vorangehenden pala- talen Verschluß herüberwirkt, hat in jedem einzelnen dieser Fälle die Spirans wieder einen etwas abweichenden Charakter. Selbst auf die Stimmbänder wirkt diese Adaptation an den Vokal zurück, indem der Laut 7^ im allgemeinen tonlos, /g ^^^^ ^^^ langsamen tönenden Schwingungen begleitet ist, die zunächst wahrscheinlich in der Mund- höhle, namentlich am Gaumensegel entstehen, dann aber durch Re- sonanz auch dem Kehlkopf sich mitteilen. Wie der Konsonant dem Vokal, so adaptiert sich jedoch umgekehrt dieser jenem. So ist der a-Laut schon ein anderer in Dach als in Sache. Dort ist seine Klang- farbe heller als hier, wo die Einstellung auf das e der folgenden Silbe bereits trübend zurückwirkt. Ähnlich variiert das englische th in laut- lich einander so nahestehenden Wörtern wie ether (Äther) und either (jeder): dort ist es interdental und tonlos, hier postdental und tönend usw.^).

^) Herr Prof. Felix Krüger hatte die Güte, auf meine Bitte die akustischen Eigenschaften solcher Wortgruppen wie der oben erwähnten mit Hilfe eines für die Registrierung der Stimmtonschwingungen konstruierten „Kehltonschreibers" zu untersuchen. Gleichzeitig wurde der Exspirationsdruck durch die direkte Einwirkung des Luftstroms auf eine Mareysche Hebelvorrichtung ermittelt. Dabei lassen sich die oben erwähnten Erscheinungen überaus deutlich objektiv feststellen.

508 Der Lautwandel.

Auf diese Weise ist jeder Sprachlaut eigentlich ein unendlich variables Gebilde. Seine jedesmalige Färbung ist aber abgesehen von andern Bedingungen, die auf ihn wirken mögen, zunächst ein Produkt der Kontaktwirkungen, die durch seine Verbindung mit andern Lauten entstehen, und diese sind, wie die Kontaktwir- kungen überhaupt, stets zugleich von der Geschwindigkeit der Artiku- lation abhängig. Die Kontaktwirkungen an sich reichen demnach weit über jenes engere Gebiet der progressiven und regressiven Assi- milationen und Dissimilationen hinaus, und sie umfassen eine Fülle feinerer Abänderungen der Laute, die von einer Lautverbindimg zur andern wechseln können. Mögen dies nun auch in den unserer unmittelbaren Beobachtung zugänglichen Grenzen nur relativ un- bedeutende Schwankungen sein, so können solche doch zu großen Umwandlungen führen, falls ihnen nur die Gelegenheit gegeben ist allmählich anzuwachsen, indem sich ihre Ursachen häufen. Außer- dem können sich aber, sobald sich durch solche Kontakte eine Laut- änderung in bestimmter Richtung in hinreichend vielen Fällen voll- zogen hat, hieran assoziative Fernewirkungen anschließen, so daß sich nun der gleiche Laut auch in solchen Verbindungen ändert, in denen die entsprechende Kontaktwirkung nicht stattfindet. So ist es eine charakteristische, in hamitischen und Bantusprachen vor- kommende assimilative Kontaktwirkung, daß durch einen voran- gehenden Vokal eine Tenuis zur tönenden Media wird {t zu d, k zu g). Diese Änderung hat aber dann besonders im Somali die gleichen Ver- schlußlaute auch da ergriffen, wo ein solcher Kontakteinfluß nicht vorhanden ist^). Offenbar sind daher, gegenüber diesen notwendig von früh an in der Sprache wirksamen Kontakten, jene unmittel- bar auf diese zurückführenden Erscheinungen der Assimilation, Dissi- milation usw. nur relativ junge und durch die Möglichkeit der Ver- gleichung eines vor und nach eingetretener Lautänderung bestehen- den Zustandes besonders augenfällige Beispiele eines Prozesses, der sich in den mannigfaltigsten Verzweigungen von den Urzeiten der Sprache an bis in die Gegenwart erstreckt.

1) C. Meinhof, Archiv f. Anthropol. Bd. 9, 1910, S. 184.

n

Tempo und Betonung der Rede. 509

Mit den zuletzt betrachteten Vorgängen stehen nun sichtlich die Lautumwandlungen, die man besonders in den germanischen Sprachen in dem Gesetz der Lautverschiebungen zusammen- faßt, zu denen sich aber auch in andern, zum Teil weit entfernten Sprachgebieten analoge Erscheinungen vorfinden, in nahem Zu- sammenhang. Jener Von Jakob Grimm entdeckte regelmäßige Laut- wandel besteht übrigens aus zwei zeitlich weit voneinander abliegen- den Vorgängen. Die erste oder gemeingermanische Laut- verschiebung liegt in der vorhistorischen Zeit. Da sie alle ger- manischen Sprachen erfaßt hat, so läßt sich annehmen, daß zur Zeit, da sie erfolgte, die Germanen noch ein einziges Volk von nicht allzu großer Verbreitung waren. Wesentlich abweichend Verhält sich die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, die in histo-(;i,.yrW) rischer Zeit, etwa in der Periode der Merowinger, entstand, dabei jedoch auf einen Teil der deutschen Stämme, nämlich auf die ober- deutschen und einige benachbarte der Franken und Sachsen, beschränkt blieb. Demnach zeigen, abgesehen von dem Gotischen, das ausgestorben ist, und von dem Nordgermanischen, das sich früher als die andern von dem ürgermanischen geschieden hat, noch heute das Englische, Niederländische und Niederdeutsche im ganzen einen Zustand, der der ersten Lautverschiebung entspricht, während das Althochdeutsche mit seinen Weiterentwicklungen in das Mittel- und Neuhochdeutsche durch die zweite Lautverschiebung beeinflußt ist. Auch bei dieser hat aber der Prozeß nicht stillgehalten, sondern mit den übrigen Lauten sind die Verschlußlaute noch weiteren Veränderungen unterworfen gewesen. So sind denn überhaupt jene beiden Perioden des Laut- wechsels nicht als Zeiten alleinstehender Umwälzungen anzusehen, zwischen denen der Lautbestand unverändert geblieben wäre, sondern sie bezeichnen nur Kulminationspunkte eines Prozesses, wo durch besondere Bedingungen ein ungewöhnlich rascher Wandel eintrat. Wie wenig hier von einem Stillstande die Bede sein kann, das bezeugt besonders die Tatsache, daß in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Lautverschiebung die Spaltung des Urgermanischen in seine Töchtersprachen zum großen Teil eingetreten ist. So sind denn auch die einzelnen Lautumwandlungen, aus denen sich diese Verschiebungen zusammensetzen, keineswegs alle gleichzeitig vor sich gegangen, son-

510 * Der Lautwandel.

dem sie haben teils eine Lautgruppe nach der andern, teils einen und denselben Laut je nach seinem Vorkommen in verschiedenen Wörtern nicht auf einmal ergriffen. Am gleichförmigsten verhalten sich schon innerhalb der ersten Lautverschiebung die harten Verschlußlaute^). Was im Indogermanischen als Tenuis vorausgesetzt werden darf und im Sanskrit, Griechischen und Lateinischen durchweg diesen Laut bewahrt hat, das ist im allgemeinen in den germanischen Sprachen ursprünglich in die Spirans übergegangen: p in f, t in dz (engl, th), k in ch oder in h, z. B. lat. fallidus, engl, falloiv ,,fahl", lat. tuli, to- lerare, got. dzulan ,, dulden", lat. capto, got. hafjan ,, heben". Was im Indogermanischen eine Media war (6, d^ g) und ebenfalls in den klas- sischen Sprachen Media blieb, ist dagegen im Germanischen zu einer Tenuis geworden, z. B. das b in lat. luhricus ,, schlüpfrig", got. sliupan ,, schlüpfen", das d in lat. duo, engl, two ,,zweL", g in gr. yovv, got. hniu ,,Knie". Etwas verwickelter verhielten sich die aspirierten Laute, welche nicht bloß im Germanischen, sondern auch im Grie- chischen und Lateinischen, die in den vorigen Fällen den vorauszu- setzenden Urzustand des Indogermanischen relativ unverändert bewahrt haben, Lautverschiebungen erfuhren. Das Indogermanische enthielt, wie man annehmen muß, zwei Reihen aspirierter Verschluß- laute, die Tenues aspiratae, p^\ t^', h'\ und Mediae aspiratae, y\ d}\ g'', von denen die ersteren in kleinerer, die letzteren in größerer Zahl vertreten waren. Im Griechischen haben sich diese aspirier- ten Laute wohl am längsten gehalten, die Tenues aspiratae unverändert, die Mediae aspiratae, nachdem sie in Tenues aspiratae umgewandelt waren. Später sind aber alle diese aspirierten Verschluß- laute durch Lockerung der Verschlußteile in Spiranten übergegangen. Im Lateinischen ist diese Erweichung der ursprünglichen Aspiratae von früh an vorhanden, ai^ch hat sie sich zuweilen mit einer Verschie- bung der Artikulationsstelle, z. B. mit dem Übergang von labialem

^) Vgl. über die Verschiedenheiten der drei Klassen von Verschlußlauten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, Sievers, Grundzüge der Phone- tik,* S. 127 ff., und hinsichtlich der näheren sprachgeschichtlichen Verhältnisse für die erste Lautverschiebung W. Streitberg, Urgermanische Grammatik, 1896, S. 97 ff., und F. Kluge, in Pauls Grundriß, I,« S. 365 ff., für die zweite 0. Behaghel, ebenda S. 722 ff.

Tempo und Betonung der Rede. 511

in Velaren Verschluß, verbunden. So ist griech. ocpallto urspr. sf' hallo, dann sfallo gesprochen worden, dem altind. dhumas ent- spricht griech. d^ufiog, wo ^ ebenfalls zuerst als aspirierte Tenuis, später, ähnlich dem engl, th, als Spirans gesprochen wurde; ebenso wurde ein indogerm. *ö''' ortos im Griech. zu x^Q^^g, im Lat. zu hortus usw. Diesem Verhalten der beiden klassischen Spra^chen entspricht nun das Germanische durchaus bei der Tenuis aspirata: p^', y\ t^' werden in der Regel zu pf oder /, dz (engl, th), h er- mäßigt, z. B, griech. acpallto, lat. fallo, ahd. fallan „fallen", idg. '^^khahhemi, lat. habeo, ahd. haben ,, haben". Dagegen sind die Mediae aspiratae h'\ d^', g^' wechselnderen Schicksalen unter- worfen gewesen, wobei insbesondere auch die Stellung zu be- nachbarten Lauten eine wichtige Rolle spielte. Im allgemeinen sind sie sämtlich durch ein Zwischenstadium von Media aspirata oder tönender Spirans in die reine tönende Media b, d, g über- gegangen, während der Einfluß der Stellung hauptsächlich in der Verschiedenheit der Laute im An-, In- oder Auslaut des Wortes und in der Abhängigkeit von dem etwa vorausgehenden Vokal hervortritt. Man vergleiche z. B. die Aussprache des g in Gabe imd legen oder in Tag (= (aJc) und Tages, in lagen, legen, liegen, lügen usw. Die gleiche Schreibung, die sich der gewöhnlichen Buchstabenzeichen bedient, birgt hier erhebliche Unterschiede, die bald als verschiedene Stufen, bald auch als verschiedene Differenzierungen des eingetretenen Lautwandels angesehen werden können.

Die zweite, hochdeutsche Lautverschiebung läßt sich nun in einem gewissen Sinn als eine auf bestimmte Dialekte beschränkte Weiterentwicklung der ersten betrachten. Charakteristisch ist in dieser Beziehung, daß die durch diese entstandenen Spiranten an der zweiten keinen Anteil nehmen, so daß sich dieselbe im wesentlichen auf die Verschlußlaute p, t, k und b, d, g beschränkt. Von ihnen gehen die Tenues durchweg in Spiranten über: so entsprechen sich got. sUupan und ahd. sliofan ,, schlüpfen", engl, two und hochd. zwei, got. hniu und ahd. chniu ,,Knie". Die ersteren Formen repräsentieren den durch die erste, die letzteren den durch die zweite Verschiebung hergestellten Zustand. Irregulärer ist wiederum die Veränderung

512

Der Lautwandel.

Temas

AspirxUcL

der Media e. Docli ist hier bei d und g der Übergang in die Tennis vorberrscliend, z. B. got. dags, engl, day, abd. iac ,,Tag", niederl. liggen, abd. liehen (neben ligen) „liegen". Bei der labialen Media ist dieser Übergang nur vorübergebend in einzelnen Fällen eingetreten, und aucb bei den übrigen ist nicbt selten eine Rückwärtsbewegung vorgekommen {ticken in liegen).

Jakob Grimm bat die Vorgänge der germanischen Lautver- schiebungen insgesamt mit einem Rade verglichen, das sich in einer und derselben Richtung um seine Achse drehe. Die drei Lautformen der Media, der Tennis, der Aspirata und Spirans betrachtete er ge- wissermaßen als die drei Speichen dieses Rades (Fig. 35), und in der Media, als dem zwischen den Gegen- sätzen der andern mitteninne liegenden Laute, glaubte er den Ausgangspunkt der gan- zen Bewegung sehen zu können. Das Gesetz lautete dann einfach: ,, Media geht über in Tennis, Tennis in Aspirata und Aspirata wieder in Media" 1). Bei der An- wendung dieses Bildes ist aber nicht bloß keine Rück- sicht darauf genommen, daß die Lautverschiebung kein alle Phasen eines Umlaufs mit einem Mal umfassender Vorgang ist; sondern es sind auch Lautgruppen in eine einzige vereinigt, die in phonetischer Hinsicht ebenso wie nach ihrer Stellung im Prozeß der Lautverschie- bungen eine abweichende Bedeutung haben: so besonders die Tenues

Meciicu

Fig. 35. Schema der germanischen Laut- verschiebungen nach Grimm.

1) Jakob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,^ I, S. 276. Bei Grimm lautet das Bild allerdings etwas anders. Nach dem Vorgang von R. v. Raumer (Über die Aspiration und die Lautverschiebung, 1837) vergleicht er die Laut- verschiebung mit „drei Wagen, die in einem Kreis umlaufen". In der Sache ist natürlich kein Unterschied, aber das seither meist gebrauchte Bild des dreispei- chigen Rades ist einfacher und deutlicher.

Tempo und Betonung der Rede. 513

aspiratae, Mediae aspiratae und Spirantes. Auch ist nicht zu über- sehen, daß das Schema nur die Hauptstationen veranschaulicht und dabei nicht nur von den Zwischenstufen überhaupt, sondern auch davon abstrahiert, daß gerade diese Zwischenstufen wieder in ver- schiedenen Fällen variieren können. Endlich und hauptsächlich bleibt bei jeder solchen abstrakten Formulierung des Verschiebungs- gesetzes der große Einfluß, den benachbarte Laute und die Stellung des Lautes im Wort ausüben, ganz außer Betracht. Dieser modifi- ziert aber das Ergebnis so bedeutend, daß jede einzelne Laut- verschiebung, sobald diese Bedingungen irgendwie wechseln, wieder etwas abweicht.

Überblickt man nun zunächst die allgemeine Richtung der Lautänderungen sowie die Abweichungen, die sie im einzelnen darbieten, so springt in die Augen, daß diese Erscheinungen in beiden Beziehungen im wesentlichen den Modifikationen ent- sprechen, welche die drei Klassen der Verschlußlaute infolge der experimentellen Variationen der Artikulationsbedingungen erfahren. In den Veränderungen, die sich in der auf S. 502 ff. dargestellten Reihenfolge an den labialen Verschlußlauten hervorbringen lassen, wiederholen sich, wenn wir noch die unter bestimmten länger einwirkenden Ursachen oder bei den Sprechversuchen des Kindes zu beobachtenden Übergänge in die Spirans hinzunehmen, bei- nahe Schritt für Schritt einzelne dieser Erscheinungen. Sie ent- sprechen ihnen sowohl in ihrer allgemeinen Richtung wie in der größeren Zahl von Stufen, welche die Media gegenüber der Tenuis durchlaufen kann, ferner in dem Einfluß, den die Stellung im An-, In- oder Auslaut ausübt, endlich in der Wirkung der Qualität, Dauer und Betonung der umgebenden Vokale. So haben sich im Anlaut bei unmittelbar folgendem Vokal noch heute die aspi- rierten Tenues erhalten, während sie im Inlaut in Affricatae oder weiterhin in Spiranten, und endlich im Auslaut in stumme Explosiv- laute übergegangen sind. Die Media aspirata dagegen ist sehr frühe schon im Anlaut zur tönenden Media geworden, während sie im In- laut Affricata blieb oder durch diese in eine tönende Spirans überging, im Auslaut aber dem stimmlosen Explosivlaut zustrebte: Verände- rungen, die im wesentlichen mit den auf S. 503 verzeichneten Reihen

Wundt, Yölkerpsychologie. 1. 4. Aufl. 33

514 Der Lautwandel.

übereinstimmen^). Aus diesem Parallelismus darf man wohl den Schluß ziehen, daß die im Germanischen in besonders weitem Um- fang, in den andern indogermanischen Sprachen in engeren Grenzen, aber im ganzen in übereinstimmendem Sinn eingetretenen Laut- verschiebungen der Konsonanten Prozesse sind, die, ganz wie die vielfach gleichzeitig mit ihnen erfolgten Vokalkontraktionen, Eli- sionen und Lautschwächungen am Ende des Wortes, sowie in Über- einstimmung mit den Kontaktänderungen der Laute, zum größten Teil als Wirkungen der beschleunigten Artikulation zu deuten sind. Außerdem sind aber alle diese Wandlungen nicht überall die näm- lichen für einen gegebenen Laut oder Lautkomplex, sondern sie sind von seiner Stellung im Wort, von der Betonung, Dauer und Klangfarbe der Nachbarlaute abhängig. In diesem Sinne fällt daher jeder reguläre Lautwandel zugleich in das Gebiet der Kon- taktwirkungen. Außerdem werden wir, gemäß den Einflüssen der Laut- wie Begriffsassoziationen, die uns früher in zahlreichen Er- scheinungen begegnet sind, unbedingt voraussetzen dürfen, daß auch bei der Ausbreitung bestimmter Lautänderungen assoziative Fernewirkungen stattfanden, durch die sich eine zuerst im engeren Umkreis begonnene Veränderung auf das weitere Vorkommen der gleichen Laute übertragen konnte. Anderseits können freilich auch durch Fernewirkungen, die von abweichenden Kontakt- erscheinungen ausgehen, die regulären Lautgesetze gelegentlich kompensiert werden (siehe oben S. 486 f.). Solche bald den regulären Lautwandel unterstützende, bald ihm entgegenwirkende

1) Delbrück hat gegen die Darstellung der Lautverschiebungen in der ersten Auflage des vorliegenden Werkes eingewandt, die hier erwähnten Über- gänge seien von mir übersehen worden; auch führt er dieselben als entscheidende Instanz gegen den Zusammenhang der Verschiebungen mit der Artikulations- gesch windigkeit an (Grundfragen der Sprachforschung, S. 103). Offenbar hat Delbrück dabei nur das in Fig. 35 symbolisierte Schema vor Augen gehabt und nicht beachtet, daß ebensowohl auf diese Zwischenstufen wie auf ihre Abhängig- keit von der Stellung im An-, In- oder Auslaut im Text mehrfach hingewiesen ist (vgl. 1. Aufl., S. 408, 415). Prüft man nun aber diese Zwischenstufen näher hinsichtlich ihres Vorkommens und ihrer Artikulationsbedingungen, so sind sie, wie aus der obigen Darlegung zu ersehen ist, nicht Zeugnisse gegen, sondern solche für die vorgetragene Theorie.

Tempo und Betonung der Rede. 515

Einflüsse scheinen namentlich die benachbarten Vokale sowie die exspira torische Betonung auszuüben. Darum gelten die so- genannten Gesetze der Lautverschiebungen so wenig wie andere Lautgesetze ausnahmslos, sondern nur in dem Sinne gesetzmäßig, daß jeder einzelne Lautwandel auf bestimmte Ursachen zurückzu- führen ist. Wohl aber weist der Lautwandel, wo er mit einer relativ großen Gleichförmigkeit erfolgt ist, wie besonders bei der ersten germanischen Lautverschiebung, auf das Übergewicht einer Ursache über andere, mehr sporadisch wirkende hin. Daß diese überwiegende Ursache in der im Laufe der Sprachentwicklung zumeist zunehmenden Geschwindigkeit der Artikulation besteht, wird übrigens schon durch deren Einfluß auf die große Mehrzahl der unmittelbaren Kontaktwirkungen der Laute wahrscheinlich (S. 499)1).

Natürlich lassen nun aber diese allgemeinen Bedingungen hier ebensowenig, wie bei den Assimilations- und Dissimilationswirkungen, irgendeinen Schluß auf die besonderen historischen Anlässe zu, die etwa zu einer solchen Lautänderung geführt haben. Niemand kann den Übergang des Wortes supmus in summus oder brumhen in brummen auf ein bestimmtes geschichtliches Ereignis zurückführen. Mit den einzelnen Akten der germanischen oder irgendeiner andern Lautverschiebung verhält es sich nicht anders. Hier läßt sich immer nur einerseits auf die relativ allmähliche, weder alle Laute auf ein- mal, noch sofort den einzelnen ausnahmslos ergreifende Art des Vor- gangs, anderseits auf jenes Prinzip der Mutation hinweisen, nach dem sich überall im organischen Leben bestimmte Änderungen lang- sam vorbereiten, um dann unter der Wirkung auslösender Kräfte mehr oder minder plötzlich um sich zu greifen, während sich diese Kräfte selbst unserer Nach Weisung leicht entziehen können. Doch dürften die Berührungen verschiedener Sprachen, wie sie im Gefolge

^) Deutlich scheinen besonders in den Bantusprachen, in denen zahlreiche dem Grimmschen Gesetz entsprechende Lautverschiebungen vorkommen, als kompensierende Einflüsse teils Vokalassimilationen teils Betonungsverhältnisse wirksam zu sein. (Vgl. Meinhof, Die moderne Sprachforschung in Afrika, 1910, S. 59 ff.)

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516 I^i" Lautwandel.

des Verkehrs und der Wanderungen der Völker eintreten, vor allem als solche auslösende Kräfte wirken. Auch können sich deren Ein- flüsse weit über die in Wortentlehnungen sich verratenden Mischungs- erscheinungen erstrecken. Insbesondere gewinnt hier wahrscheinlich die Verdrängung der ursprünglichen Tonmodulation durch eine aus fremdem Sprachgebiet herüberwirkende dynamische Betonung eine entscheidende Bedeutmig. Belehrende Beispiele bieten hier nament- lich wieder die afrikanischen Sprachen, wo sich die Sudansprachen mit ihrer fast völlig rein erhaltenen Tonmodulation und die hami- tischen Idiome mit ihrem ausgeprägt dynamischen Akzent gegen- überstehen, und wo nun das aus Elementen beider gemischte Suaheli sich auch darin als eine echte Verkehrssprache dokumen- tiert, daß in ihm die dynamische Betonung völlig die Herr- schaft gewonnen hat, während das Bantu eine Art Zwischenstufe einnimmt^).

Um so wichtiger ist nun aber die Tatsache, daß die Lautver- schiebungen offenbar ebenso wie die Vokalkontraktionen, die Laut- schwächungen und Kontaktwirkungen Erscheinungen sind, die in den verschiedensten Sprachen nicht beliebig variieren können, son- dern daß auch hier eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit herrscht. Ob- gleich die in unabhängigen Sprachgebieten vorkommenden Erschei- nimgen in diesem Falle wiederum niemals völlig identisch sind, so verlaufen sie doch in übereinstimmender Eichtung. Daß hier nur von einer solchen die Rede sein kann, ist ja schon deshalb selbstverständ- lich, weil die Ausgangspunkte der Veränderungen jedesmal abweichende sind, außerdem aber die weiter hinzutretenden Einflüsse in der mannig- faltigsten Weise wechseln. Gegenüber dieser imgeheuern Variabilität der Bedingungen ist die trotzdem zu beobachtende Übereinstimmung, überraschend groß. Dies gilt nicht bloß von den Vokalkon traktionen^ Elisionen und Lautschwächungen, sondern sogar von dem Wandel der Verschlußlaute. Ein merkwürdiges Beispiel bilden hier nach den Ermittelungen C. Meinhofs die Bantusprachen Südafrikas. So finden

1) Meinhof, Ergebnisse der afrikanischen SprachforschiHig, Archiv für AnthropoL, N. F., Bd. 9, S. 187 ff.

Tempo und Betonung der Rede. 517

sich z. B. in dem Peli für die aus den gegenwärtig bestehenden Dialekten zu erschließenden Konsonanten des ,,ür-Bantu" folgende Vertretungen: X für h, f für f, h für ng, nt für rd, mp für mb, nih für nt^). Das sind Vertretungen, die hinsichtlich des Übergangs der Tenuis in die Spirans und in gewissem Umfang auch der Media in die Tenuis, der aspirierten in unaspirierte Laute einigen im Germanischen eingetretenen Ver- schiebungen durchaus entsprechen^). Andere Wandlungen weichen ab, zeigen dafür aber um so charakteristischer den Einfluß der Be- tonung und Dauer der umgebenden Laute. So wird die Tenuis h in betonter Stammsilbe meist zur Aspirata hh. Besonders bemerkens- wert ist endlich noch, daß bei den dem Ackerbau lebenden Stämmen, die, in der Kultur höher stehend, durch einen regeren Verkehr sich auszeichnen, der Lautwandel stärker um sich gegriffen hat als bei den nomadisierenden Völkern.

d. Lautänderungen unter dem Einfluß des Akzent- wechsels.

Zu den auf allgemeinen Kultureinflüssen beruhenden Änderungen der Sprechweise gehören neben dem Tempo der Rede auch die Ver- änderungen der Betonung, deren schon oben mehrfach gedacht wer- den mußte, weil sie oft als komplizierende Nebenbedingungen hin- zutreten. Solcher Veränderungen lassen sich im allgemeinen zwei unterscheiden. Die eine besteht in der früher (S. 272 ff.) erwähnten Verdrängung der Tonmodulation der Sprache durch den dynamischen Akzent, die andere durch den bei dem letzteren vorkommenden Orts-

^) C. Meinhof, Grundriß einer Lautlehre der Bantu- Sprachen,^ 1910, S. 25 ff. und die Tabellen S. 194 ff.

2) Auf diese Analogien hat schon H. Meyer aufmerksam gemacht, Zeitschr. f. deutsches Altertum u. deutsche Literatur, Bd. 54, 1901, S. 108. Gleichzeitig erhebt aber Meyer gegen den Einfluß des Redetempos auf die Lautverschiebungen den Einwand, daß sich zu keiner Zeit im germanischen Altertum ein Anlaß zu einer plötzlichen Beschleunigung nachweisen lasse. Dieses auch noch anderwärts geäußerte Bedenken dürfte durch die oben (S. 483 ff.) hervorgehobenen Einflüsse, die wir hier dem Völkerverkehr und der Sprachmischung t«ils direkt, teils insofern zuschreiben dürfen, als sie auf die bereits vorhandenen Tendenzen als auslösende Kräfte wirken, gehoben werden.

518 Der Lautwandel.

Wechsel der Betonung. Unter diesen Übergängen sind die der ersten Art oben schon als Momente erwähnt worden, die offenbar in hohem Grade durch Vokaländerungen und Elisionen sowie indirekt auch durch Wandlungen der Verschlußlaute auf den Lautcharakter der Sprache einwirken, die aber wegen unserer Unkenntnis der Ausgangs- punkte und des Verlaufs solcher Änderungen zumeist noch der näheren Analyse unzugänglich sind.

Viel deutlicher lassen sich im allgemeinen diejenigen Wirkungen nachweisen, die mit den Verschiebungen der Betonung zusammen- hängen. Sie treten zunächst an den Änderungen hervor, die der Vokal- klang erfährt, je nachdem er einer betonten oder unbetonten Silbe angehört. Dabei durchkreuzt sich aber diese Wirkung wiederum mit einer andern, die von der Qualität der umgebenden Verschlußlaute abhängt. Indem diese die Mundhöhle in verschiedener Weise ver- engern, wirken sie zugleich auf die Klangfarbe der umgebenden Vo- kale ein, und diese Wirkung muß, wie schon W. Scherer hervor- gehoben hat, um so stärker sein, je größer die Geschwindigkeit der Rede ist. Auch wird naturgemäß derjenige Vokal, der zu seiner reinen Intonation die volle Öffnung des Mundraums erfordert, das offene a, von solchen Trübungen am meisten getroffen. Kommt dazu noch, Avie z. B. im modernen Englisch, eine Artikulationsbasis, die an und für sich das volle Ausströmen des Stimmklangs hindert, so verliert die Sprache gänzlich den reinen a-Laut, und auch die übrigen Vokale können an dieser je nach der Einstellung auf die nachfolgenden Ver- schlußlaute wieder variierenden Trübung teilnehmen^). Außerdem ist die dynamische Betonung von einer doppelten Wirkung begleitet: sie erhöht den Vokalklang der betonten, und sie dämpft die Klang- farbe des Vokals der folgenden unbetonten Silbe. Beide Wirkungen geben sich deutlich an den Verschiebungen zu erkennen, die sie beim Ortswechsel des Akzents erfahren. Man nehme z. B. zusammen- gehörige Wortpaare wie griech. iraTegeg und anäuoQogt q)Qiv€g und liqiQOveg, ipevöaq und ipevdog, wo der Kontrast der helleren Klang-

^) Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,^ S. 56 ff. Victor, Ele- mente der Phonetik,^ S. 279.

Tempo und Betonung der Rede. 519

färbe des e und der dumpferen des o regelmäßig den Ortswechsel des dynamischen Akzents bezeichnet^). Daß es sich hier um Erschei- nungen handelt, die zwar durch die Komplikation mit andern Ur- sachen mehr oder minder verdeckt werden können, an sich aber auf allgemeingültigen psychophysischen Bedingungen der Lautgebung beruhen, erhellt wieder daraus, daß sich analoge Wirkungen von selbst einstellen, wenn man experimentell in beliebige Lautgruppen durch willkürlichen Wechsel der Betonung die gleichen Bedingungen ein- führt. Wählt man auch hier Lautgruppen mit überall gleichem Vokal, wie apa, apäy aba^ aha und ähnliche, und registriert man die Schwin- gimgen der tönenden Laute, so ist, obgleich in diesem Falle der Vokal- klang für das Ohr kaum merklich geändert erscheint, doch regelmäßig der betonte Vokal der höhere, was namentlich dann deutlich hervor- tritt, wenn er zugleich gedehnt ist (apa, aha). Augenscheinlich setzt sich diese Wirkung aus einer physischen und einer psychischen Kom- ponente zusammen. Rein physikalisch bedingt nämlich schon die stärkere Bewegung der Stimmbänder nicht bloß durch Beimischung höherer Obertöne eine schärfere Klangfarbe, sondern sie erhöht auch den Grundton. Sodann aber ist jeder Betonungswechsel mit einer psychischen Kontrastwirkung verbunden, die, wie jeder Kontrast, das Moment der Selbstverstärkung in sich trägt: der Kontrast der dynamischen Betonung assoziiert sich also mit einem entsprechen- den Kontrast in der Empfindung der Tonhöhe, worauf die letztere unmittelbar den Stimmton selbst verändert 2). Diese Beobachtungen zeigen, daß dynamischer Akzent und Tonmodulation nicht bloß neben- einander vorkommen, sondern daß sie sich auch beeinflussen können.

^) W. Örtel, Lectures on the Study of Language, 1901, p. 271. Über ent- sprechende Erscheinungen im Altindischen vgl. J. Wackemagel, Altindische Grammatik, I, S. 64 f f .

*^) Auch hier verdanke ich Herrn Prof. F. Krüger mehrere Stimmton- kurven der obigen Lautgruppen, die, mittels der Registrierung der Schildknorpel- schwingungen gewonnen, deutlich die Tonerhöhung der akzentuierten Silbe und die Zunahme dieser Tonerhöhung mit der relativen Stärke der Betonung zeigen. So ist z. B. die Erhöhung des zweiten Vokals in dpa merklich größer als in äbd. Diese Tonerhöhung beträgt in äba durchschnittlich etwas mehr als eine Sekunde, in äpä kann sie ungefähr eine Terz erreichen.

520 Der Lautwandel.

Wenn man der einen Sprache, wie dem Englisclien, dynamische Ak- zente, einer andern, z. B. dem Französischen, Tonakzente zuschreibt, so handelt es sich in der Tat immer nur um ein Mehr oder Minder. Auch ein Wechsel zwischen beiden, wie er in der Geschichte mancher Sprachen eingetreten ist, wird daher niemals in einem sprungweisen Übergang, sondern lediglich darin bestehen, daß von den bei jeder Betonung verbundenen beiden Faktoren der bisher mehr zurücktretende überwiegend wird. Dies kann natürlich so allmählich und stetig ge- schehen, daß ein bestimmter Zeitpunkt des Wechsels nicht anzugeben ist. Abgesehen von den Berührungen mit andern Sprachen können hier allmähliche Änderungen in dem psychischen Charakter des Volkes einen stetig wirkenden Einfluß äußern, da Akzent und Sprechmelodie, wie wir bei der Erörterung der Satzbetonung noch sehen werden, in hohem Grade von dem Affekt abhängen^).

Nun ist der Vokalismus der Sprache solchen durch Tonmodu- lation und dynamische Betonung erzeugten Lautänderungen zunächst ausgesetzt. Denn die Vokale sind es, die ebensowohl die Tonhöhe des Lautes wie die exspira torische Betonung zum Ausdruck bringen. Aber indirekt können diese Momente doch auch auf die angrenzenden Verschlußlaute zurückwirken, ebenso wie umgekehrt die Vokale von den zwischen sie tretenden und namentlich von den ihnen folgenden Konsonanten die Klangfärbung empfangen, die der entsprechenden Mundstellung zukommt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß schon bei der urgermanischen Lautverschiebung solche Veränderungen der Betonung mindestens mitgewirkt haben. Denn, wie Vermutlich in allen Sprachen ursprünglich die Tonmodulation vorherrschte, um erst später durch den exspiratorischen Akzent allmählich zurück- gedrängt zu werden (s. oben S. 273 f.), so dürfen wir wohl auch dem Indogermanischen eine relativ akzentlose Tonmodu- lation zuschreiben, wie sie etwa heute noch das Chinesische und Japanische oder die Sudansprachen besitzen. Sobald nun die exspiratorische Bhythmisierung der Rede zur Vorherrschaft gelangte, mußte aber die hauchlose Tennis in die exspirierte übergehen (p, t.

1) Vgl. Tl. II, Kap. VII, Nr. VIL

Tempo und Betonung der Rede. 521

h in p^', t^', W'), woran sich dann die weiteren Änderungen infolge der BescMeunigung des Tempos der Rede anschlössen^).

Unter die Erscheinungen, die auf ein solches Zusammenwirken verschiedener Faktoren hinweisen, gehören wohl auch die unter dem Namen des sogenannten Vern ersehen Gesetzes zusammengefaßten^). Nach diesem Gesetze sind nämlich die eingetretenen Lautverschiebungen in dem Sinne von der Betonung abhängig, daß die endgültige Ver- schiebung eine andere ist, wenn in der Zeit, da die Differenzierung der Laute erfolgte, die dem Verschlußlaut vorangehende, eine andere, wenn die ihm nachfolgende Silbe betont war. In manchen Fällen konnten dann diese Differenzierungen auch solche der Bedeutung vermitteln. So gehen unsere beiden Wörter zeigen und zeihen (ver- zeihen) wahrscheinlich auf ein und dasselbe indogermanische Wort zurück, von dem auch lat. äico, griech. ö^Uwi^a herstammen. Im Urgermanischen war der k-Laut, gemäß der zwischen Griechisch- Lateinisch und Germanisch geltenden Lautvertretung, in eine Spirans übergegangen. Im Althochdeutschen findet sich dagegen eine Spaltung der Betonungen, der nun auch eine Spaltung der Verschlußlaute pa- rallel geht. Der dem betonten Vokal folgende Konsonant ist tonlose Spirans: dhan (zeihen), der dem betonten Vokal vorausgehende da- gegen ist tönende Media: seigön (zeigen). Zahlreiche Beispiele dieser konsonantischen Lautdifferenzierung infolge der Betonung finden sich auch im Gotischen^). Ihre Entstehung fällt in eine Zeit, wo noch

^) Das Eintreten des exspiratorischen Akzents hat schon H. Hirt (Die Indogermanen, 1905, Bd. 2, S. 616 Anm.) als das primitive Motiv der urgerma- nisohen Lautverschiebung angenommen. Für die sich nunmehr anschließenden weiteren Verschiebungen wird man aber gleichwohl, wie ich glaube, zum Tempo- wechsel der Rede zurückgreifen müssen, während der von Hirt vermutete Einfluß von Sprachmischimgen vorläufig jedenfalls noch in der Luft schwebt. Dieser Einfluß als solcher wird aber offenbar in dem Maße zweifelhafter, als auf weit abliegenden Sprachgebieten, wie z. B. in den afrikanischen Bantusprachen, Laut- wandelvorgänge von gleicher Richtung wie im Germanischen nachzuweisen sind.

2) Vemer, Kuhns Zeitschr. f. vergl. Sprachwiss. XXIII, 1887, S. 97 ff. Vgl. a. H. Paul, in Paul und Braune, Beiträge zur Geschichte der deutscheu Sprache, VI, 1879, S. 538 ff.

3) Vgl. Kluge, Pauls Grundriß,^ I, S. 506 ff.

522 I^^r Lautwandel.

nicht, wie in den späteren germanischen Dialekten, der Akzent auf der Stammsilbe des Wortes fixiert, sondern von wechselnder Lage war. Durchweg induziert dabei der sinkende Ton eine Lockerung des vorangegangenen Verschlusses, also stimmlose Spirans, umgekehrt die steigende Betonung den tönenden Verschlußlaut, der durch den festeren Verschluß die folgende stärkere Exspiration und gleichzeitig durch die bereits in Schwingung versetzten Stimmbänder die nach- folgende lautere Vokalisation vorbereitet. Demnach erscheint es un- zulässig, den Vern ersehen Satz als ein Ausnahmegesetz anzusehen, das die regulären Lautgesetze durchbreche. Könnte man doch ebenso- gut die Tatsache, daß wir die harten Verschlußlaute im Anlaut ziem- lich stark aspiriert sprechen, oder daß in den Umwandlungen der tönenden Media mannigfache, von den umgebenden Lauten und der Stellung im Wort abhängige Schwankungen vorkommen, als Aus- nahmen bezeichnen. Jeder Lautwandel erfolgt unter den Bedingungen, unter denen er steht, ausnahmslos. Diese Bedingungen sind aber für keinen Laut völlig identisch, weil sich mit den relativ gleichför- migeren Wirkungen der Geschwindigkeit der Rede, der äußeren Ein- wirkungen und der Assoziationen verwandter Laute immer noch mannigfach wechselnde Wirkungen des Kontakts und der Betonung verbinden können. Darum bewegt sich jeder reguläre Lautwandel innerhalb eines von der Komplikation der Bedingungen abhängigen, mehr oder minder großen Spielraums, der sich, wie gerade das Ver- nersche Gesetz zeigt, zu einer Divergenz der Laut- und Bedeutungs- änderungen erweitern kann.

6. Zur Theorie des regulären Lautwandels.

a. Physische, psychophysische und psychische Hypothesen.

Die Versuche, den regulären Lautwandel zu erklären, bewegen sich zwischen drei Möglichkeiten. Die erste .Hypothese führt ihn auf allmählich eingetretene Änderungen der physischen Organisation zurück, die entweder aus den eigenen Entwicklungsbedingungen

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 523

des Organismus oder aus äußeren Natureinflüssen hervorgegangen sein sollen. Die zweite stellt die psychophysischen Wirkungen der Sprach- und Völkermischung in den Vordergrund. Eine dritte Gruppe bringt ausschließlich psychische Ursachen, und zwar in der Regel ästhetische und teleologische Motive, zur Geltung. Über die erste physische Hypothese können wir hier kurz hinweggehen. Abgesehen von ihrer Unbestimmtheit und von dem Umstand, daß es kaum mög- lich erscheint, Tatsachen, die auf so abweichenden physischen Be- dingungen beruhen, wie die Vokalkontraktionen und die Lautver- schiebungen der Konsonanten, aus irgendeiner übereinstimmenden physischen Ursache unmittelbar abzuleiten, weisen die Änderungen der körperlichen Organisation, namentlich soweit sie die Artikula- tionsorgane betreffen, überall zugleich auf psychophysische oder psychische Ursachen zurück. Allem Anscheine nach macht sich dem- nach diese Hypothese in den wesentlichsten Punkten einer Umkehrung der Kausalität schuldig: die Sprachorgane haben sich zunächst der Sprache angepaßt, also mutmaßlich auch die Änderungen der ersteren denen der letzteren, und erst infolge der bei allen solchen Erscheinungen stattfindenden Wechselwirkungen sind dann hinwiederum die Organe für die erzeugten Laute bestimmend geworden. Die Hypothese der Sprach- und Völkermischungen dagegen greift zweifellos ein wichtiges Moment aller Sprachentwicklung heraus. Aber sie vermag es nicht im geringsten wahrscheinlich zu machen, daß dieses Moment das ausschließliche, oder daß es auch nur das hauptsächlich maßgebende sei. Vielmehr gehen die wichtigsten und regelmäßigsten Erscheinungen, wie der Wandel der Verschlußlaute, die Kontraktionen und Elisionen am Ende des Wortes, wenigstens in sehr vielen Fällen unabhängig von irgendwie nachweisbaren Mischungseinflüssen vor sich, und die Hypothesen dieser Art operieren daher überall, wo ein direkter Einfluß des Lautsystems einer Sprache auf das einer andern nicht nachzuweisen ist, mit unerweisbaren Vermutungen. So gewinnt es denn durchaus den Anschein, daß eben diese Einflüsse, wo nicht ausgeprägte Fälle der Ent- stehung von Mischsprachen vorliegen, vornehmlich teils als auslösende Ursachen, teils als begünstigende Bedingungen wirken : das erstere, indem sie zu lange vorbereiteten Änderungen den Anstoß geben, das letztere, indem sie die Ausbreitung bereits eingetreten er Änderungen unterstützen.

524 I^J* Lautwandel.

Wesentlicli anders verhält es sich mit den ästhetischen und teleologischen Hypothesen. Sie gehen, ohne Rücksicht auf irgendwelche äußere Bedingungen, auf die Erscheinungen des Lautwandels selbst zurück und suchen der Vergleichung der ge- wandelten Laute mit den ursprünglichen die treibenden Motive der Vorgänge zu entnehmen.

Unter ihnen greift die ästhetische die nächstliegenden subjek- tiven Motive bei der Beurteilung menschlicher Handlungen heraus. AVenn jemand statt einer Sache eine andere bevorzugt, so sind wir geneigt zu urteilen, diese habe ihm besser gefallen als jene. Eine solche Bevorzugung braucht natürlich nicht als eine willkürliche betrachtet zu werden; man kann sie ebensogut, im Hinblick auf die Allgemein- heit der Vorgänge, als ein instinktives Handeln des ,, Volksgeistes'' auffassen. In diesem Sinne hat in der Tat Jakob Grimm das von ihm entdeckte Gesetz der germanischen Lautverschiebung gedeutet. An sich erscheint ihm darin klingen romantische Einflüsse an die Lautverschiebung als eine ,, Barbarei und Verwilderung'', durch die sich die Sprache von ihrer ursprünglichen ,, organischen Lautstufe" losgesagt habe. Aber auf der andern Seite liegt ihm doch in dieser Tat des ,, Sprachgeistes", deren sich „andere, ruhigere Völker ent- hielten", ein bewundernswerter Zug, ,,der mit dem gewaltigen das Mittelalter eröffnenden Vorschritt und dem Freiheitsdrang der Deutschen zusammenhänge"^). Ganz im Geiste dieser Auffassung sah noch G. Curtius in der Richtung jener Lautverschiebung von der Aspirata hinweg zu der Media und Tenuis den Ausdruck der ,, Tatkraft" und der ,, jugendlichen Rüstigkeit" der Germanen^). Doch dieser Versuch scheitert schon an den Tatsachen: jenem vermeintlich mit größerer Energie gepaarten Übergang in die Tenuis steht nicht nur die Um- wandlung der letzteren in die Spirans, sondern auch die der Aspirata

^) J. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache,* I, S. 292.

2) Curtius in Kuhns Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, II, 1853, S. 33L Fast genau mit dieser älteren Curtiusschen Ansicht kommt die neuerdings von James Byrne (General Principles of the Structure of Language,^ II, 1892, p. 187 f.) entwickelte überein; auch sucht dieser Autor die Umwandlung der Aspirata in die Media dem gleichen Gesichtspunkt unt^rzuoixlnen.

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Zur Theorie des regulären Lautwandels. 525

in die Media gegenüber. Hier ist aber im ersten Fall die Ermäßigung des Verschlusses jedenfalls bestimmter ausgeprägt, als die sie etwa begleitende Verstärkung des Atemstroms; vollends im zweiten Fall bestellt die Veränderung in einer Abnahme statt in einer Zunahme der Energie. So hat sich denn auch Curtius selbst später der teleo- logischen Auffassung zugewandt. Ein anderer Versuch ästhetischer Erklärung wurde von W. Scher er, allerdings unter wesentlicher Zu- hilfenahme teleologischer Motive, gemacht. Indem er das Verlassen des bis dahin geltenden Systems der Verschlußlaute als eine lässige Funktionsweise der Sprachorgane deutet, bezieht er diese ,, Lässig- keit" auf eine Abziehung der Aufmerksamkeit nach einer andern Richtung. Eine solche Attraktion habe aber der Vokalklang aus- geübt: „ihn verlangte man, daran ergötzte man sich, das andere war gleichgültig". Diese Poesie der reinen Vokale besitze vor allem das Althochdeutsche. Insbesondere die zweite Lautverschiebung glaubt daher Scherer auf den „musikalischen Sinn" der Oberdeutschen zurück- führen zu sollen ^). Doch der volltönende Klang ist den älteren Formen der Sprache überhaupt eigen, dem Altindischen so gut wie dem Alt- griechischen, und ob das Gotische, das die zweite Lautverschiebung nicht mitgemacht hat, ihn weniger besitze als das Althochdeutsche, darf man wohl bezweifeln. Der gesetzmäßige Lautwandel überhaupt hat in seiner allgemeinen Entwicklung sicherlich nicht dazu geführt, die Sprachen indogermanischer Abkunft musikalischer zu machen wie sich das vielleicht von den polynesischen Sprachen behaupten läßt , sondern eher zum Gegenteil dieses Erfolgs. Die Lautverschie- bungen selbst scheinen aber im allgemeinen außerhalb dieser Ver- änderungen zu stehen, die weit mehr durch die allmähliche Abschlei- fung und Verkürzung der Wortformen, also durch Elimination von Lauten, als durch die Wandlungen der Verschlußlaute herbeigeführt werden.

Hiervon geht nun die teleologische Hypothese aus. Sie führt auf die beiden oben bereits erwähnten angeblichen Triebe bequemer Lautartikulation und Erhaltung bedeutsamer Unterschiede zurück

^) W. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache,* 1878, S. 151 ff.

526 Der Lautwandel.

(S. 376 ff.). Bei der besonderen Anwendung auf die regelmäßigen Lautverschiebungen sind beide wieder von verschiedenem Erklärungs- wert. Der erste, der Trieb nach Bequemlichkeit, ließe sich mit einem gewissen Rechte verteidigen. Wenn nicht bei allen, so trifft es wenig- stens bei mehreren der lautgesetzlichen Veränderungen zu, daß die neuen Artikulationen leichter sind als die vorangegangenen. Aber alle diese Erleichterungen haben doch in doppeltem Sinn eine bloß relative Bedeutung: erstens kommt es überall auf die benachbarten Laute an, in deren unmittelbarer Nähe sich der dem Wandel unter- worfene befindet; und zweitens sind Betonung, Quantität, Rhythmus und Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge auf die größere oder ge- ringere Leichtigkeit einer einzelnen Lautbewegung von entscheiden- dem Einfluß. Wörter wie Tal, Pest, Kind sprechen wir aspiriert, T''al, P^'est, KHnd, und es wird uns sehr schwer, sie unaspiriert zu sprechen ; bei Wörtern wie Sfaß, Traube, Acker gelingt es kaum, die drei Laute f, t, k deutlich zu aspirieren. Nach langem Vokal entsteht leichter die Media, z. B. rab, täd, lag, dem kurz herausgestoßenen folgt die Tenuis : rap, tat, Iah. So gibt es denn auch Laut Verbindungen, in denen offenbar infolge derartiger Verhältnisse Laute unverändert blieben, die sonst verschoben worden sind, wie z. B. die drei Verschlußlaute in sf, st, sie man vergleiche got. standan ahd. stdn ,, stehen", engl. to spare ahd. spar ,, sparen" u. a. Auf diese Weise ist der Eintritt oder Nichteintritt einer Lautverschiebung überall mitbestimmt durch die Kontaktwirkungen der Laute. Insofern aber diese ihrerseits wieder mitbestimmt sind durch die von ihnen bewirkte Erleichterung der Artikulation, wird in der Tat die Annahme nahegelegt, daß diese bei der Lautverschiebung eine wichtige Rolle spielt. Eine andere Frage ist es jedoch, ob diese Erleichterung als Wirkung eines ,, Triebes nach Bequemlichkeit" bezeichnet werden darf. Macht doch der Laut- wandel gerade da, wo er unzweifelhaft die Artikulation erleichtert, den Eindruck eines mit mechanischer Notwendigkeit und nicht unter der Wirkung irgendeines bewußten oder selbst unbewußten ,,Strebens" sich vollziehenden Vorgangs. Dieser Ausdruck schließt eben unver- meidlich irgendein Willensmoment ein, von dem hier nirgends die Rede sein kann. Vollends ist die zur Ergänzung jenes angeblichen Triebes herbeigezogene Hypothese des ,,Strebens nach Erhaltung

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 527

bedeutsamer Unterschiede" unhaltbar. Denn hier ist schon der Aus- gangspunkt unzutreffend, nach welchem ein bestimmter Verschiebungs- vorgang, und zwar derjenige, der dem ursprünglichen Motiv der Be- quemlichkeit am meisten unterworfen war, überall der primäre ge- wesen sei, worauf dann die' weiteren Verschiebungen deshalb eintreten sollen, weil sonst eine allzu große Anhäufung von Lauten einer Klasse entstünde. So meinte Grimm, das erste sei gewesen, daß sich die tö- nende Media zur tonlosen Tennis ,, verdünnt'', worauf sich durch die weiteren Verschiebungen erst wieder das ,, richtige Verhältnis der Laute" habe herstellen müssen. Curtius verlegte jenen ersten Schritt in die Abschwächung der aspirierten Verschlußlaute, um dann die übrigen Verschiebungen dem Gesichtspunkt der zweckmäßigen Laut- verteilung unterzuordnen. Max Müller behauptete, bei den ger- manischen Stämmen sei, als sie in den Verschiebungsprozeß ein- traten, noch eine Erinnerung an die dreifachen Verschlußlaute ihrer arischen Vorfahren erhalten geblieben, und sie seien daher bemüht gewesen, ,,so gut wie möglich diesem dreifachen Anspruch zu genügen"^). Hier wird also gar das Differenzierungsbedürfnis damit motiviert, daß den Urgermanen die Fähigkeit der Ver- gleichung mit dem vor Beginn der Verschiebung vorhandenen Laut- system zugeschrieben wird.

Nun ist jede einzelne Lautverschiebung insofern notwendig ein unabhängiger Vorgang, als es keine geben kann, die erst durch die absichtliche Vergleichung mit andern Veränderungen veranlaßt wäre. Der gesetzmäßige Zusammenhang aller dieser einzelnen Verschiebun^s- akte spricht aber zugleich dafür, daß es wesentlich übereinstimmeade Ursachen Avaren, unter denen sie erfolgten. Doch die eintretende Wirkung ist überall von den begleitenden Bedingungen abhängig. Abweichende Bedingungen ergaben sich nun bei einem und dem- selben Laut je nach seinen Verbindungen mit andern Lauten. So erklärt sich die Reihe der durch den Kontakt der Laute begründeten Variationen. Eine übereinstimmende Natur der Ursachen wird daher

^) „Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache"^ (1866, lt. S. 194), neueste Auflage (1893, IT, S. 224).

528 Der Lautwandel.

trotz solcher Verschiedenheit offenbar dann vorauszusetzen sein, wenn diese Wirkungen gleichwohl übereinstimmende Richtungen erkennen lassen; und den Grund solcher übereinstimmender Rich- tungen wird man wieder am wahrscheinlichsten in Bedingungen suchen dürfen, die uns heute noch fortwährend in gewissen allmählich er- folgenden Lautänderungen entgegentreten. Hier spielen aber, wie ims sowohl die Erscheinungen des Versprechens wie die unserer Beobach- tung erreichbaren singulären Lautänderungen der Sprache gelehrt , haben, ästhetische oder teleologische Motive nirgends eine nennens- werte Rolle, sondern die Erscheinungen sind überall notwendige Folgen psychophysischer Bedingungen, die im allgemeinen gänzlich außerhalb der Sphäre willkürlicher Beurteilung und Beeinflussung liegen.

b. Der reguläre Lautwandel als resultierende Wirkung singulärer Lautänderungen.

Sucht man sich über die Gründe Rechenschaft zu geben, aus denen die ästhetische und teleologische Theorie der regulären Laut- änderungen, jede für sich allein und beide in ihrer Verbindung, ge- scheitert sind und notwendig scheitern mußten, so liegen diese nicht bloß in der mangelhaften Reflexionspsychologie, mit der sie operier- ten, sondern noch in einem allgemeineren erkenntnistheoretischen Fehler, der freilich selbst mit jener Reflexionspsychologie eng ver- bunden ist. Er besteht kurz gesagt darin, daß man generelle Erschei- nungen aus zufälligen individuellen Motiven abzuleiten sucht; und er hängt zugleich mit der oben (S. 408) schon charakterisierten Hypo- these zusammen, nach der jede generelle Erscheinung zuerst einmal in irgendeinem Individuum entstanden sei und sich dann auf dem Wege der Nachahmung weiter verbreitet habe. Demgegenüber liegt jenen Hypothesen, die diese Vorgänge aus Veränderungen der Natur- bedingungen oder aus Völkerwanderungen und Sprachmischungen ableiten wollen, immerhin der richtige Gedanke zugrunde, daß all- gemeine Wirkungen insgemein auch allgemeiiie Ursachen voraus- setzen. Aber obgleich es wahrscheinlich ist, daß die genannten Mo-

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 529

mente nicht selten von mitwirkendem Einfluß sind, so erweisen sie sich doch der Kegelmäßigkeit und allgemeinen Übereinstimmung der Erscheinungen gegenüber als unzulänglich. Dazu kommt, daß man auch hier für die Gesamtheit dieser Phänomene eine einzige Ur- sache oder mindestens eine fest bestimmte Kategorie von Ursachen voraussetzt. Dieses Streben nach einem einzigen, allgemeingültigen Erklärungsgrund hat seine Quelle in einem Vorurteil, das in der häufig gebrauchten Bezeichnung ,, selbständiger Lautwandel" seinen Aus- druck findet. Indem man diesen zu dem ,, abhängigen" oder ,, kom- binatorischen" in einen Gegensatz bringt, verbindet sich damit die Vorstellung einer totalen Verschiedenheit beider Formen, derart, daß von den Ursachen, die den kombinatorischen Wandel bestimmen, bei dem selbständigen nicht die Rede sein könne. Vollends gilt bei diesem die Mitwirkung assoziativer Einflüsse, wie sie in den Fertie- wirkungen hervortreten, um so mehr als ausgeschlossen, weil solche nicht selten die Wirkungen des regelmäßigen Lautwandels aufheben können. So gilt denn dieser als die eigentliche Norm. Der Ausdruck „Lautgesetze" wird nur auf ihn, auf sonstige Lautänderungen höchstens widerstrebend angewandt, um den fatalen Begriff der ,, Ausnahme" zu vermeiden. Jener „selbständige" Lautwandel soll aber, wie das Wort andeutet, den einzelnen Laut als solchen, ganz unabhängig von den Laut Verbindungen, in denen er steht, und natürlich auch von allen assoziativen Einflüssen ergreifen.

Nun kommen Einzellaute, wie sie hier als Objekte einer selb- ständigen Änderung vorausgesetzt werden, in der wirklichen Sprache natürlich nicht vor. Sie sind im Grunde genommen nur Abstrak- tionen des Grammatikers oder Phonetikers. Da jeder Laut nur in mancherlei Verbindungen mit andern Lauten existiert, so kann er auch nur in diesen Verbindungen Wandlungen erfahren. Damit wird es von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß ein solcher Wandel, von allen begleitenden Lauten unabhängig, nur in dem isoliert ge- dachten Einzellaut selbst sein Objekt haben sollte. In der Tat zeigt auch die Beobachtung, daß dies niemals der Fall ist, und daß man nur dadurch zu dem Begriff eines „unabhängigen" Lautwandels ge- langen konnte, weil man von mehr oder minder erheblichen Unter- schieden der Laute, die nachweislich von ihrem Zusammenhang mit

Wo n dt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 34

530 Der Lautwandel.

andern herrühren, abstrahierte. Die Belege hierzu sind uns oben überall begegnet. Nicht anders steht es mit den Vokalen, die wieder teils von den vorangehenden, teils aber und namentlich von den nachfolgen- den Konsonanten, endlich von der Betonung in ihrer Klangfarbe und Tonhöhe bestimmt sind, wobei die letzteren Verhältnisse ebenso mit den Motiven der Affekterregung wie mit denen assoziativer Ein- übung zusammenhängen. Diese Momente in ihrer Vereinigung be- dingen es dann, daß Akzent und Tonfall zu einer gegebenen Zeit, neben fortwährenden leiseren, von der momentanen Gefühlslage und dem spezifischen Inhalt des Gesprochenen abhängigen Schwankungen, eine gewisse Kegelmäßigkeit zeigen, daß sie sich aber innerhalb län- gerer Zeiten oder unter dem Einfluß sonstiger starker Veränderungen der Sprache fortwährend wandeln. Hier erhebt sich eben überall auf der Basis des durch assoziative Gewöhnung stabil gewordenen Besitzes ein Strom beweglicher Einflüsse, die dem Ausdruck seine dem singulären Fall entsprechende Färbung geben.

Nach allem dem ist der reguläre Lautwandel kein Vorgang, der eine fest bestimmte frühere Lautform mit einer ebenso bestimmt zu fixierenden späteren stetig verbindet. Seinen Anfang wie sein Ende bildet, wenn er noch so regulär verläuft, kein einzelner Laut, sondern ein Spielraum von Lautbildungen, wobei die im einzelnen Fall wirklich vorhandene jeweils von den besonderen Bedingungen der Lautumgebung und der Betonung abhängt. Und wie Anfang und Ende, so sind alle zwischenliegenden Stationen durch Lautformen bezeichnet, die sich innerhalb eines mehr oder weniger breiten Inter- valls feinerer Lautwandlungen bewegen. Nun ist jede Variation, die ein Laut innerhalb eines solchen Spielraums erfährt, nachweislich von den singulären Bedingungen abhängig, denen er hierbei begegnet, also vom Kontakt mit andern Lauten, von assoziativen Fernewir- kungen, durch die verwandte oder ähnliche Wort- und Lautformen angleichend aufeinander einwirken, und endlich von den Verhält- nissen der Betonung. Jener Spielraum selbst ist also im einzelnen Fall eine Funktion der Einflüsse, die der singulare Lautwandel mit sich führt; der Laut ist in dieser ihm eigenen Variabilität selbst nichts anderes als ein Produkt der Wirkungen, welche die Ursachen des singulären Lautwandels auf ihn ausüben. Mit dieser Abhängigkeit

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 531

der Schwankungen des regulären Lautwandels vom singulären hängt noch eine weitere, durch die Erfahrung bestätigte Beziehung beider zusammen. Es ist selbstverständlich, daß alle die psychophysischen Einflüsse, die auf die Erscheinungen des singulären Lautwandels ein- wirken, auch den regulären nicht unberührt lassen können. Nun sind jene Einflüsse bei den beiden Hauptformen des ersteren, den Kon- takt- und den Fernewirkungen, wieder von wesentlich abweichender, wenn auch in gewissen Grundmotiven psychophysischer Entwicklung übereinstimmender Art. Bei den Kontaktwirkungen, vor allem bei den innerhalb der bekannteren Kultursprachen eine so große Rolle spielenden regressiven Assimilationen, wirkt als nächstes, seinerseits wieder vornehmlich von psychischen Bedingungen abhängiges Moment die Beschleunigung des Redeflusses. Diese Ursache ist hier deshalb so zwingend, weil wir den ganzen Vorgang in der Regel ohne weiteres experimentell nachahmen können: die meisten Kontaktwirkungen treten sofort ein, wenn wir, von einem ihnen vorausgehenden Laut- stadium ausgehend, die Artikulation beschleunigen. Dazu kommen noch die Wirkungen der Betonung, die sich mit denen der Beschleu- nigung komplizieren. Nun muß natürlich jeder Einfluß, der die Kon- taktwirkungen verändert, auch den Spielraum der Artikulationen, innerhalb deren sich der reguläre Lautwandel bewegt, verändern, und zwar nicht bloß in seinem Umfang, sondern vor allem darin, daß er die Lage des Intervalls verschiebt, in welchem sich die um einen bestimmten mittleren Normallaut gruppierten Variationen bewegen. Der reguläre Lautwandel selbst ist also nicht bloß in den von beson- deren Bedingungen abhängigen Schwankungen, sondern in seiner eigenen Bewegung von den gleichen Ursachen abhängig, die den sin- gulären bestimmen. Nur kommen bei ihm noch die aus dem Verkehr und den Wanderungen der Völker entspringenden äußeren Bedingungen hinzu, die auf den Eintritt der bereits vorbereiteten Wandlungen teils als auslösende Kräfte wirken, teils aber auch in der Aufnahme fremden Sprachguts und in dem durch den Sprachenkontakt ver- mittelten Wechsel der Betonung die andern Wirkungen verstärken, modifizieren oder unter Umständen wohl auch kompensieren können. Wie der Kontakt der Laute, so kann die assoziative Fernewirkung derselben, sobald sie in zahlreichen singulären Fällen übereinstimmende

34*

532 Der Lautwandel.

Lautänderungen herbeiführt, auf den regulären Lautwandel nicht ohne Einfluß bleiben. Doch ist dieser Einfluß, wie in seinen Ausgangs- punkten, so in seinen Erfolgen ein wesentlich anderer. Während bei den Kontaktwirkungen der Mechanismus der Artikulation das nächste, der psychische Mechanismus des Vorstellungs- und Affektverlaufs nur das entferntere Moment abgibt, geht die assoziative Fernewirkung direkt auf diesen Verlauf zurück. Darum nehmen die Assoziations- einflüsse mit wachsender geistiger Beweglichkeit ebenso zu wie die Kontaktwirkungen. Aber sie gehen nach einer andern Richtung. Wirken die Lautkontakte differenzierend, indem sie jeweils die einzelne Lautqualität den spezifischen, durch die Umgebung bestimm- ten Artikulationsbedingungen anpassen, so wirken umgekehrt die Lautassoziationen uniformierend, indem sie solchen Lautgruppen und Einzellauten, die durch häufigen Gebrauch in höherem Maß ein- geübt sind, mehr und mehr das Übergewicht verschaffen über andere, seltenere. Direkt nachweisen läßt sich diese Wirkung da, wo solche Lautangleichungen in die Wortbildung eingreifen und entweder ein- zehie Abweichungen oder, wenn diese sich häufen, schließlich neue Bildungsformen verursachen, wie uns das bei den früher erörterten Beispielen assoziativer Fernewirkungen entgegentrat (S. 453 ff.). Übrigens werden naturgemäß solche Assoziationen und daraus ent- springende Lautangleichungen auch da stattfinden, wo sie sich nicht ohne weiteres in der Umwandlung früher bestandener Flexionsformen oder in der offenkundigen Anlehnung eines bestimmten Wortes an ein anderes zu erkennen geben. Insbesondere können diese Ferne- w^rkungen im Zusammenhange mit den Einflüssen der Lautkontakte in doppeltem Sinne wirksam sein. Erstens muß eine durch Laut- kontakt bewirkte Änderung der Artikulation um so mehr, je häufiger sie sich wiederholt, den gesamten Zustand der Sprachorgane und da- mit die Artikulationsbasis, die jede Lautgebung bestimmt, beeinflussen. Zweitens übt jeder häufig wiederholte Laut eine assoziative Wirkung aus, die zu seiner Wiederholung disponiert, so daß ein anderer, bis dahin verschiedener ihm angeglichen wird. Nimmt man nun diese uniformierende mit jener differenzierenden Wirkung der Lautkontakte und wechselnden Betonungsverhältnisse zusammen, so bietet sich für die Entstehung irgendwelcher mehr oder minder regulärer Laut-

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 533

änderungen das folgende Bild. Unter den Kontaktwirkungen der Laute wirken solche, die sich in einer großen Zahl von Fällen wieder- holen, auf den Artikulationsmechanismus in ihrem Sinn umbildend zurück, und sie wirken außerdem assoziativ auf verwandte Laute, zunächst wenn sich diese in ähnlichen, dann aber auch, wenn sie sich in etwas abweichenden Verbindungen befinden. Auf diese Weise bildet sich allmählich aus einer Reihe von Fällen singulärer Lautänderungen ein regulärer Lautwandel, der in dem Spielraum, den er den Einflüssen von Kontakt und Betonung im einzelnen Falle läßt, immer noch die Spuren seines Ursprungs an sich trägt. Die Richtungen, in denen sich der so entstandene Lautwandel bewegt, sind aber wieder unter sich um so übereinstimmender, je mehr die Ausgangspunkte dieser Ver- änderungen, die einzelnen Kontaktwirkungen, aus einer überein- stimmenden Ursache entspringen. Eine solche ist nun vor allem in der mit wachsender Kultur zunehmenden Sprachübung und in der hiermit zusammenhängenden Beschleunigung der Artikulation gegeben. Für die Art wie, und insbesondere für die Zeitpunkte, wo solche Änderungen hervortreten, ist jedoch stets zugleich eine Fülle äußerer Bedingungen von bestimmendem Einfluß. Hier scheinen teils plötz- liche Völkerbewegungen, teils Berührungen mit andern Dialekten oder Sprachen als auslösende Kräfte zu wirken. Dabei ist es stets die junge, durch festgefügte Assoziationen weniger gebundene Gene- ration, die sich den neuen Einflüssen zugänglicher zeigt.

So stellt sich der Lautwandel überhaupt schließlich als ein in allen seinen Erscheinungen zusammenhängender psycho- physischer Vorgang dar. Wohl steht dieser Vorgang unter einer Fülle mannigfach ineinander greifender Bedingungen, die die Schnellig- keit der Veränderungen, ihre Intermissionen und dann wieder ihre oft plötzlichen Fortschritte veranlassen mögen. Aber die durchgreifenden Ursachen selbst sind nicht für die eine Gruppe von Erscheinungen diese, für eine andere jene, sondern, wie die Sprache selbst ein organisches Ganzes ist, so ist sie auch in allen ihren Teilen, in ihren begrenzteren wie in ihren umfassendsten Wandlungen von dem gleichen Strom der Entwicklung beherrscht, der sie als die nächste Ausdrucksform des geistigen Lebens der Gemeinschaft in ihrem ganzen Sein, nach Laut wie Begriffsinhalt, ergreift. Die entscheidenden Einflüsse sind dabei

534 Der Lautwandel.

die Kultur einflüsse, wie sie sich nicht zum geringsten Teil in der Be- weglichkeit der Vorstellungen und Gefühle und in dem Reichtum und der zunehmenden Erleichterung der Gedankenverbindungen äußern. Diese psychischen Wandlungen wirken naturnotwendig zurück auf das ursprünglichste Organ des psychischen Lebens, auf die Sprache; und sie wirken zunächst auf einzelne, der Veränderung durch geringere Widerstandskraft leichter zugängliche Punkte. Solche Punkte sind jene Verkettungen der Artikulationsbewegungen, die dem über sie weggleitenden Redestrom, sobald sich dieser beschleunigt, besondere Schwierigkeiten bieten, indes zugleich der Lauf der Vorstellungen der Trägheit der Bewegung vorauseilt: hierdurch entstehen als die mutmaßlichen Ausgangspunkte aller Veränderungen die Kontakt- wirkungen der Laute. Sie bilden dann die Herde, von denen aus sich die einmal eingeleiteten Wandlungen durch die allezeit rege assoziative Verkettung der Worte und Laute und durch die langsamer folgende Umbildung der Artikulationsorgane weiter ausbreiten. Daneben greifen dann in diese Vorgänge noch die spezielleren, von Ort zu Ort und Von Zeit zu Zeit veränderlichen Bedingungen ein, unter denen der Wechsel der Betonung, insbesondere die Verdrängung der ur- sprünglich vorwiegenden Tonmodulation durch die dynamische Be- tonung die Hauptrolle spielt. Dieser letztere Vorgang scheint aber auf zwei Einflüsse zurückzugehen: auf einen spontanen, seinerseits vielleicht wieder aus den ursprünglichen Kontakteinflüssen und den Veränderungen des Tempos der Rede hervorgehenden Übergang zu dynamischer Akzentuierung, und auf die Berührung verschiedener Sprachgebiete, bei der durchgängig die dynamische Betonung obsiegt. Indem ein solcher Wechsel der Betonung abermals verändernd auf die Laute einwirkt, kann er neue Lautinduktionen hervorbringen, die infolge der an sie sich anschließenden assoziativen Fernewirkungen eine mehr oder minder weite Ausbreitung gewinnen. So bildet hier, wie überall, nicht das Reguläre, sondern das Singulare den Anfang. Dieses Singulare ist aber kein individueller, an einem Individuum zu- fällig einmal sich ereignender Vorgang, sondern es ist eine einzelne, durch einen bestimmten Lautkontakt oder durch eine spezielle Asso- ziation ausgelöste Veränderung, die, weil die Bedingungen überall zu ihr bereit liegen, in unzähligen Fällen unabhängig sich wieder-

Zur Theorie des regulären Lautwandels. 535

holen kann. Noch weniger ist es eine Ausnahme, die eine über allen einzelnen Erscheinungen schwebende universelle Gesetzmäßigkeit störend unterbricht. Vielmehr ist das Reguläre selbst nichts anderes als eine Reihe übereinstimmender Vorgänge, die aus einer Fülle sin- gulärer Bedingungen als Resultante hervorgeht.

Diese Auffassung bestätigt sich denn auch darin, daß uns die Erscheinungen des regulären Lautwandels in ihrer ausgeprägtesten Gestalt in den Sprachen der Kulturvölker entgegentreten. Bei ihnen haben offenbar die aus den allgemeinen Kultureinflüssen hervor- gehenden psychophysischen Ursachen, abgesehen von den in solchen Entwicklungen überall vorkommenden Intermissionen, am dauernd- sten eingewirkt; und zugleich haben hier die fortwährend dazwischen- tretenden neuen singulären Wirkungen an dem Zusammenhalt der Sprachgemeinschaft eine gewisse Schranke gefunden. Je tiefer die Kulturstufe, um so mehr überwuchern dagegen die singulären über die regulären Lautänderungen, so daß schließlich bei den zersprengt lebenden wilden Stämmen, wie den brasilianischen Waldindianern, fast jede Horde ihre besonderen Lautabweichungen zeigt.

Ist diese Auffassung die richtige, so hat nun freilich diejenige Betrachtungsweise, mit der man zuerst den Erscheinungen des Laut- wandels gegenübertrat, ihre völlige Umkehrung erfahren. Dennoch, so merkwürdig sich diese Umkehrung auf den ersten Blick ausnehmen mag, so leicht verständlich, ja selbstverständlich ist sie. Abgesehen von vereinzelten Fällen assimilativer Kontaktwirkungen relativ späten Ursprungs, die der Aufmerksamkeit nicht leicht entgehen konnten, mußten sich naturgemäß die regulären Erscheinungen des Laut- wandels am frühesten der Beachtung aufdrängen. Sie wurden daher als eine alles beherrschende Gesetzmäßigkeit betrachtet; und wo sich nun Fälle darboten, die sich solcher Gesetzmäßigkeit entzogen > da erschienen sie als Ausnahmen, die jedesmal aus besonderen Ur- sachen abzuleiten seien. So entstand der Begriff der ,, falschen" Ana- logien, nach dem alle diese Fälle gewissermaßen als Entgleisungen erschienen, die aus bösem Beispiel hervorgehen sollten. Nun war es freilich von Anfang an merkwürdig, daß man zwar diese singulären Ausnahmen meist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf be- stimmte psychophysische Ursachen zurückführen konnte, daß dagegen

536 ^^^ Lautwandel.

der Ursprung der regulären Veränderungen völlig im Dunkeln blieb. Wo man sich je einmal in hypothetischer Weise über diesen Ursprung Rechenschaft gab, da waltete dann begreiflicherweise das Streben, sie eben wegen ihrer Regelmäßigkeit auf eine einzige Ursache zurück- zuführen, indes für die singulären Veränderungen bereitwillig eine Komplikation mannigfacher Einflüsse zugestanden wurde. Die nähere Untersuchung hat uns gezeigt, daß gerade das Gegenteil richtig ist. Die Kontakterscheinungen und die assoziativen Fernewirkungen sind nur deshalb der Nachweisung ihrer Ursachen zugänglicher, weil sie unter verhältnismäßig einfacheren Bedingungen stehen. Bei dem regulären Lautwandel ist es dagegen die Komplikation der Bedingungen, die durch die Interferenz zahlreicher bald in gleichem, bald in ab- weichendem Sinne wirkender Ursachen Resultanten erzeugt, die in vielen Fällen trotz einzelner entgegenstehender Sonderwirkungen von im ganzen übereinstimmendem Charakter bleiben. So kommt es, daß die fundamentalen Ursachen des Lautwandels zunächst nicht aus den regulären Erscheinungen, bei denen die Komplikation der Bedingungen viel zu groß ist, sondern mit annähernder Vollständig- keit nur aus den singulären ermittelt werden können.

Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. 537

VII. Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge devS Lautwandels.

Als die neuere Sprachwissenschaft zuerst es unternahm, die Vor- gänge des Lautwandels bestimmten Gesetzen unterzuordnen, da suchte sie, geleitet durch die verbreiteten Vorstellungen von der All- gemeingültigkeit der Naturgesetze und von der Zufälligkeit alles psy- chischen Geschehens, jene Gesetze vor allen Dingen als physische nachzuweisen. So entstanden zwei Voraussetzungen, die für die Inter- pretation der Tatsachen bestimmend wurden. Die erste bestand darin, daß physische und psychische Bedingungen des Lautwandels streng zu sondernden Gebieten angehörten, und daß daher das physisch Bedingte ebensowenig eine psychologische wie umgekehrt das psy- chisch Bedingte eine physiologische Deutung zulasse. Die zweite Voraussetzung war, daß nur auf physischem Gebiet eine strenge und, soweit nicht eben psychische Einflüsse dazwischen kämen, eine aus- nahmslose Gesetzmäßigkeit herrsche, während auf psychischer Seite eine solche nicht zu finden, hier vielmehr alles von Laune und Zufall abhängig sei.

Die zweite dieser Voraussetzungen ist, wie wir sahen, innerhalb der Sprachwissenschaft selbst schon allmählich wankend geworden. In dem Maß, als gerade die psychisch bedingten Lautänderungen die Aufmerksamkeit fesselten, begann die Erkenntnis durchzudringen, daß auch sie auf gewisse Gesetze zurückzuführen seien. Dagegen bleib die erste Annahme im ganzen bestehen, und unter ihrer Herrschaft mußte sich ein Wertunterschied der Vorgänge behaupten. Wie die psychologischen Assoziationsgesetze an bindender Kraft hinter den Naturgesetzen zurückstehen, so meinte man und meint man vielfach noch heute den rein physiologischen Lautänderungen einen gewissen Vorzug einräumen zu müssen.

Dieser ganzen Betrachtungsweise wird nun schon dadurch der Boden entzogen, daß die psychologische Analyse der einzelnen Formen des Lautwandels den Begriff eines rein physisch bedingten, also unter Ausschluß aller und jeder psychischen Momente eintretenden Wechsels überhaupt als einen innerlich unmöglichen zurückweisen

538 D^r Lautwandel.

muß. Der Mensch ist so wenig ein reines Naturobjekt, wie er ein rein geistiges Wesen ist, sondern er ist beides zugleich, ein psychophysischer Organismus; und im Umkreis seiner Funktionen ist es wieder be- sonders die Sprache, die in allen ihren Eigenschaften den Charakter einer doppelseitigen Funktion an sich trägt. Anzunehmen, daß es irgendeinen allgemeineren sprachlichen Vorgang gebe, der aus rein physischen, oder einen andern, der ebenso aus rein psychischen Be- dingungen erfolgt sei, das ist daher eine Vorstellung, die von vorn- herein unter dem Verdacht einer willkürlichen Abstraktion steht. Gewiß kann eine solche unter Umständen nützlich oder für gewisse Zwecke vorübergehend notwendig sein. Nur darf man nicht den aus- nahmsweise zulässigen Standpunkt für die vollständige Auffassung der Sache halten und ihn auch da noch anwenden, wo es sich um eine erschöpfende Ermittelung der Bedingungen handelt. In diesem Fall ist vielmehr daran festzuhalten, daß die Sprache im ganzen wie in allen ihren Bestandteilen eine psychophysische Funktion ist, und daß es daher streng genommen keine einzelne Erscheinung, viel weniger ein ganzes Erscheinungsgebiet in ihr geben kann, das nur physisch oder nur psychisch zu erklären wäre. Hierbei ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß unserer Beobachtung bald die eine Seite der Vor- gänge, bald die andere zugänglicher ist, oder daß wir hier wie dort nicht selten auf mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen angewiesen bleiben.

Ist der Lautwandel im allgemeinen psychophysisch bedingt, so ist aber damit nicht gesagt, daß auch das Verhältnis der physischen zu den psychischen Ursachen bei ihm überall das nämliche sei. Viel- mehr sind es gerade die in dieser Beziehung nachweisbaren Unter- schiede, mit denen die wesentlichen Eigentümlichkeiten der einzelnen Formen des Lautwandels zusammenhängen. Dabei wird jedoch, dem streng empirischen Standpunkt entsprechend, den diesen Problemen gegenüber die sprachgeschichtliche wie die psychologische Betrachtung einzunehmen hat, niemals auf irgendwelche hypothetisch anzunehmende Parallel Vorgänge zurückzugehen sein, sondern wir können hier die Begriffe des Physischen und des Psychischen durchaus nur in dem Sinn anwenden, in dem jeder dieser beiden Beständteile der Erfahrung entweder direkt in der Beobachtung gegeben oder aus empirisch ge-

Allgemeiner Rückblick auf die Vorgänge des Lautwandels. 539

gebenen Tatsachen zu erschließen ist. So betrachtet scheinen sich nun der reguläre stetige Lautwandel oder das Gebiet der gewöhnlich so genannten „Lautgesetze" und jene „assoziativen Fernewirkungen", bei denen sich teils die Laut- teils die Begriffselemente der Wörter beeinflussen, am ehesten als Gegensätze gegenüberzustehen. Bei dem regulären Lautwandel tritt die physische Seite des Prozesses in den Vordergrund, die psychischen Bedingungen bleiben im Dunkeln. Bei den mannigfachen Vorgängen der ,,Angleichung" dagegen er- scheint diese selbst unmittelbar als ein Resultat psychischer Asso- ziationen. Beide Momente durchdringen sich endlich in einer Ver- kettung anscheinend simultaner Wechselwirkungen bei den Kon- taktwirkungen der Laute, die einerseits durch die Regelmäßig- keit, mit der unter ähnlichen Bedingungen der Lautkombination ähnliche Wirkungen eintreten, anderseits durch die sichtliche Be- teiligung von Lautassoziationen eine Art Mittelglied zwischen den andern Formen des Lautwandels bilden. Bei allem dem bleibt aber zu beachten, daß die Bedingungen, die sich für unsere Analyse in eine Sukzession bestimmter Akte auflösen, in der Wirklichkeit wegen der Zusammensetzung der Erscheinungen aus einer Menge elementarer Wirkungen einen einzigen, in jedem Augenblick aus verschieden- artigen Gliedern gebildeten psychophysischen Vorgang bilden. Das zeigt sich schon bei den anscheinend am meisten auf die physische Seite fallenden Wortassimilationen, wo das entstehende Produkt freilich in hohem Maße von den disponiblen Vorstellungselementen, gleichzeitig aber doch auch von der einem bestimmten Lautsystem und bestimmten Wortgebilden angepaßten Artikulationsübung ab- hängig ist. Das zeigt sich dann in anderer Weise vor allem beim re- gulären Lautwandel, in den überall Kontaktwirkungen und Laut- assoziationen modifizierend eingreifen, und der schließlich auch in seinen nicht direkt auf solche zurückzuführenden Erscheinungen mit den nämlichen Bedingungen wie diese, nämlich in erster Linie mit dem Tempo der Rede und den Verhältnissen der Betonung zu- sammenhängt. Damit erweist sich schließlich der reguläre Laut- wandel selbst nicht als ein spezifischer Vorgang, sondern als eine Reihe von Erscheinungen, in denen sich eine Gesamtheit singulärer Be- dingungen zu resultierenden Wirkungen verbindet.

540 Der Lautwandel.

Demnach bilden die verschiedenen Vorgänge des Lautwandels ein einheitliches psycho-physisches Geschehen, das nur je nach der Ordnung und Verknüpfung seiner einzelnen Momente, und je nach- dem diese einer entfernteren Vergangenheit oder einer uns in ihren psychischen Motiven noch zugänglicheren Stufe der Sprachentwick- lung angehören, verschiedene Formen annimmt.

Fünftes Kapitel

Die Wortbildung.

I, Psychophysische Bedingungen der Wortbildung. 1. Zentrale Störungen der Wortbildung.

Die Frage nach der Beteiligung physischer und psychischer Fak- toren an den Funktionen der Sprache, die bei der Betrachtung der Formen des Lautwandels eine so wichtige Rolle gespielt hat, ist auch für das Problem der Wortbildung von hervorragender Bedeutung. Und mehr noch als dort sind hier im Laufe der Zeit Wandlungen der Anschauungen eingetreten, die in diesem Fall um so bemerkenswerter sind, weil sie nicht von irgendwelchen philosophischen Richtungen oder sprachwissenschaftlichen Hypothesen, sondern von Tatsachen der Beobachtung ausgingen. Diese Tatsachen sind zunächst auf dem Gebiete der Pathologie der Sprachstörungen gewonnen worden.

Waren dereinst Sprachwissenschaft und Psychologie dahin über- eingekommen, dem Sprachlaut, als einer ursprünglich unter der Wirkung irgendwelcher Gefühle oder Affekte entstehenden Ausdrucks- bewegung, eine halb physische halb psychische Bedeutung zuzu- schreiben, so verhielt sich dies wesentlich anders mit dem Wort. Dieses, als Ausdruck eines Begriffs, fiel, so schien es, so gut wie der Begriff selber, ganz auf die psychologische Seite. Das Wort bedürfe zwar, so dachte man sich, der physischen Hilfsmittel der Lauterzeugung ; aber das Wort als solches sei doch nicht minder ein geistiges Erzeug- nis, wie Begehren und Wollen psychische, nicht physische Vorgänge sind. Diese Vorstellung, die in reinlicher Sonderung die Sprachfunk- tionen zwischen Körper und Seele verteilte, erhielt einen schweren Stoß, als Broca sein berühmtes ,, Sprachzentrum" auffand^). Wenn es sich in den von ihm und andern beobachteten Fällen zeigte, daß

^) Broca, Sur le siege de la faculte du langage, 1861.

542

Die Wortbildung.

der Besitz der artikulierten Sprache an die Integrität einer bestimmten, wohlumgrenzten Stelle der dritten Frontalwindung (M Fig. 36) der linken in seltenen Fällen und, wie es scheint, vorzugsweise bei linkshändigen Menschen, der rechten Hirnhälfte gebunden ist, so mußte ein solches Zentrum offenbar als ein physiologisches Organ der Wortbildung im eigentlichen Sinne angesehen werden, um so mehr, da die Erzeugung der artikulierten Laute als solcher dabei erhalten sein kann, also nur die Zusammenfügung der Laute zu Worten aufgehoben ist. Aus diesem Grunde pflegt man denn auch die durch

Verletzungen des genannten

Zentrums entstehenden Sprachstörungen nicht als motorische , sondern als ataktische Aphasie zu bezeichnen. Bald zeigte sich jedoch, daß nicht in allen Fällen zentraler Sprachstörungen , die zu dem allgemeinen Sympto- menbild der ,, Aphasie'' gerechnet werden können, eine Affektion der Broca- schen Windung nachzu- weisen ist. Da war es ein wichtiger Fortschritt auf der einmal be- tretenen Bahn, als neben jenem ersten Zentrum ein zweites, senso- risches aufgefunden wurde, dessen Zerstörung nicht die Fähigkeit der Wortartikulation sondern das ,, Wortgedächtnis" aufhebt, so daß zwar ein unmittelbar vorgesprochenes Wort meist nachgesprochen wird, zu einem sinnlich wahrgenommenen oder erinnerten Gegen- stand aber das zugehörige Wort mangelt. Das so entstehende Sym- ptomenbild bezeichnet man als das der amnestischen Aphasie. Als das bei ihr in der Regel affizierte Zentralgebiet erwies sich in einer großen Zahl von Beobachtungen die der Brocaschen Windung gegen- überliegende Region der ersten linken Temporalwindung (S Fig. 36)^).

^) C. Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex, 1874. Das Sym- ptomenbild der „amnestischen Aphasie** hatte übrigens schon bald nach Brocas

Fig. 36. Lage der Sprachzentren im Frontal- und Temporalhirn.

Zentrale Störungen der Wortbildung.

543

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Hiernach lag es nahe, diese Region S ebenso als das zu einer senso- rischen Leitung gehörige Zentrum anzusehen, wie das Brocasche M als Ausgangspunkt einer motorischen Leitung, wobei die letztere, zentrifugale zu den untergeordneten direkten Zentren der Lautartiku- lation gerichtet sei, die erstere, zentripetale aber zunächst von dem allgemeinen Hörzentrum herkomme. Übrigens zeigten die Beobach- tungen, daß bei der ,, ataktischen Aphasie" immer zugleich die Artiku- lationsempfindungen gestört sind, so daß hier, ähnlich wie in den andern motorischen Gebieten der Hirnrinde, die Zentra für die Be- wegungsempfindungen mit denen für die Inner- vationserregungen der Muskeln entweder sich

decken oder nahe zu- ' ^ //,

sammenf allen ; daher man in den von M aus- gehenden Bahnen zen- trifugale und zentripetale Leitungen vereinigt den- ken kann, wie dies die Pfeile in der Schema - tischen Fig. 37 andeu- ten. Zwischen dem Gebiet S und dem direk- ten Hörzentrum, das

man in den weiter rückwärts liegenden Teilen des Schläfelappens vermutet, konnte dann ein analoges Verhältnis vorausgesetzt werden wie zwischen der Brocaschen Region M und den direkten moto- rischen Zentren. Wie in M die Verbindung der einzelnen moto- rischen Impulse zu den regelmäßigen Artikulationsbewegungen, so mochte in S die Kombination der Lauteindrücke zu Wort- vorstellungen erfolgen.

Fig. 37. Lokalisat ionsschema der Sprach - funktionen nach Lichtheim.

Entdeckung W. Ogle (1867) beschrieben, der auch zuerst auf den Zusammen- hang der zuweilen vorkommenden rechtsseitigen Lage der Sprachzentren mit der Linkshändigkeit aufmerksam machte. (Philos. Transactions, vol. XLV, p. 279.)

544 Die Wortbildung.

Die so gewonnene Sonderung schien sich der Mannigfaltigkeit der wirklich vorkommenden Störungen gegenüber schon dadurch nützlich zu erweisen, daß sie nicht bloß solche Formen der Aphasie annehmen ließ, die in je einem der beiden Zentren M oder ß allein, sondern je nach Umständen auch solche, die in beiden zusammen oder in der zwischen ihnen liegenden Leitungsbahn, die im Hinter- grund der Syl vischen Spalte {F S) das Gebiet der sogenannten ,, Insel" durchsetzt, ihren Sitz haben mochten. Dies veranschaulicht das in Fig. 37 durch die ausgezogenen Linien dargestellte Schema, wo 1, 2, 3, 4 und 5 die möglichen Orte der Funktionsstörung andeuten. War einmal der Begriff des ,, Sprachzentrums" dergestalt erweitert und gegliedert, so ließ sich nun -aber auf diesem Wege leicht fort- schreiten, um den mittlerweile sich m.ehrenden Beobachtungen über weitere Sprachstörungen gerecht zu werden, für welche die bloße Unterscheidung eines ,, motorischen" und eines ,, sensorischen" Zentrums nicht zuzureichen schien. Dahin gehörten namentlich die Fälle der „Worttaubheit", der ,, Wortblindheit" (Alexie) und der Unfähigkeit zu schreiben (Agraphie), von denen sich zwar die beiden ersteren als eigentümliche Unterformen der amnestischen, die letztere als eine solche der ataktischen Aphasie betrachten ließen, wobei aber doch jede ihre besondere zentrale Lokalisation zu fordern schien. Denn die Worttaubheit, d. h. die Unfähigkeit Worte zu verstehen bei voll- kommener Fähigkeit Laute zu hören, kann, wie die Beobachtung zeigt, sehr wohl ohne Wortblindheit vorkommen; und ebenso kann diese oder die Unfähigkeit, trotz sonstiger Erhaltung des Sehver- mögens, die Schriftzeichen zu erkennen, ohne gleichzeitige Wort- taubheit bestehen. Diesen Verhältnissen suchte man gerecht zu werden, indem man das Schema der zwei Sprachzentren in der durch die unterbrochenen Linien der Fig. 37 angedeu- teten Weise ergänzte. Das sensorische Zentrum S betrachtete man nun speziell als akustisches Wortzentrum S {A). Ihm trat als sekundäres sensorisches Sprachzentrum das optische 0, und ebenso dem motorischen M das Schreibzentrum E zur Seite (Fig. 37). Für beide ließen sich freilich bestimmte Gebiete in der Hirnrinde nicht mit Sicherheit nachweisen. Höchstens kann man noch nach verschiedenen Beobachtungen annehmen, daß

Zentrale Störungen der Wortbildung. 545

das Zentrum 0 wohl dem in der Rinde des Okzipitalhirns liegenden allgemeinen Sehzentrum benachbart sei, ähnlich wie das akustische Wortzentrum 8 {Ä) dem allgemeinen Hörzentrum. Daneben lag es dann aber natürlich nahe zu vermuten, daß auch noch andere, nament- lich sensorische Zentren in ähnlichen Verbindungen mit den beiden Hauptzentren M und S stehen möchten. In Fig. 37 sind diese weiteren Zentren, denen man zuweilen mit Kußmaul ein allgemeines ,, Begriffszentrum'* substituierte, durch den kleinen Kreis C angedeutet^).

Mit Hilfe des so gewonnenen anatomischen Schemas sah man sich in den Stand gesetzt, alle irgend möglichen Sprachstörungen zen- tralen Ursprungs zu klassifizieren und gewissermaßen a priori voraus- zusagen. Bezeichnen wir die in den Zentren selbst sowie in den Lei- tungsbahnen möglicherweise vorkommenden Unterbrechungen der Funktionen durch die in Fig. 37 mit den Zahlen 1, 2, 3 . . versehenen kleinen Striche, so würden z. B. nach diesem Schema nicht weniger als 13 einzelne Störungen möglich sein, die dann natürlich noch in der verschiedensten Weise kombiniert und abgestuft Vorkommen könnten. Durch die den einzelnen Zentren beigelegte Bedeutung würde aber die Beschaffenheit einer jeden Funktionsstörung von selbst gegeben sein. So müßte z. B. einer Leitungsunterbrechung bei 3 eine Aufhebung der Lautsprache folgen, während das Schreibvermög^i, da die Leitungen M E und 0 E noch bestehen, erhalten bliebe. Auf- hebung der Funktion des Zentrums M bei 1 würde Vollständige Auf- hebung des Sprachvermögens herbeiführen, während, falls der sen- sorische Teil der Zentren und Leitungsbahnen unversehrt bliebe, ge- hörte und geschriebene Worte noch Verstanden werden. Eine Unter- brechung bei 6 würde die Fähigkeit spontan zu sprechen beseitigen, da von dem „Begriffszentrum" C aus die Zuleitung einer motorischen Wortinnervation nicht mehr möglich wäre. Dagegen würden, wenn die Leitungen S M und 0 E erhalten sind, gehörte Worte nachgesprochen und geschriebene oder gedruckte gelesen werden. Wäre endlich bei 2 die Funktion von S aufgehoben, so könnten gehörte Worte weder verstanden noch nachgesprochen werden, während bei Inte-

1) Kußmaul, Die Störungen der Sprache, 1877, S. 182.

Wnndt, YölterpFychologi«. I. 4. Aufl. 35

546 Die Wortbildung.

grität der Leitung CM noch spontanes Sprechen möglich sein müßte, usw. 1).

2. Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung.

Mit den durch das obige Schema ausgedrückten Anschauungen hat die Pathologie der Sprachstörungen noch einige weitere verbun- den, die zuweilen wohl nur als vorläufige Hilfshypothesen betrachtet wurden, denen man aber doch nicht selten einen realen Wert zuschrieb. In der Tat ist zuzugestehen, daß sich diese Hypothesen wenigstens teilweise bei der Verfolgung des in der vorausgesetzten Lokalisation der Sprachzentren eingeschlagenen Weges mit innerer Folgerichtig- keit ergeben. Allerdings mögen dabei außerdem die Traditionen der alten Phrenologie etwas mitgewirkt haben, mit denen man durch jene Annahme besonderer ,, Zentren" für so komplexe psychophysische Tätigkeiten, wie Sprechen, Wortverständnis und Schreiben, wieder in nahe Berührung gekommen war. Ähnlich wie dereinst die Galische Phrenologie die Oberfläche des menschlichen Gehirns in eine Anzahl „innerer Sinne" eingeteilt hatte, deren jedem sie eine den äußeren Sinnen analoge, nur gewissermaßen potenzierte Funktion zuschrieb, so begann man nach der Entdeckung des Brocaschen Sprachzentrums in diesem nicht, was zunächst gefordert schien, ein motorisches oder, mit Rücksicht auf die gleichzeitigen Störungen der Artikulations- empfindungen, ein motorisch-sensorisches Zentrum zu sehen, son-

1) Das in Fig. 37 dargestellte Schema entspricht ini wesentlichen zwei von Lichtheim gegebenen Konstruktionen (On Aphasia, Brain, VII, 1885, p. 437, 443), mit denen übrigens auch das etwas ältere Schema Kußmauls in den Hauptzügen übereinstimmt (Die Störungen der Sprache, S. 183). Beide Autoren lassen die Frage der wirklichen anatomischen Lage der Zentren grundsätzlich beiseite. Einzelne Beobachtungen über die verschie- denen der Aphasie zugezählten Funktionsstörungen finden sich in reicher Menge in neuropathologischen Zeitschriften: so im Brain I, p. 304, II, p. 303, 323 ff. (Hughlings Jackson), XII, p. 82 ff. (Starr), XXI, p. 343 ff. (Bram- well), und in vielen Bänden des Archivs für Psychiatrie. Gute Darstel- lungen des ganzen Gebiets finden sich bei Charltpn Bastian, Über Aphasie und andere Sprachstörungen, deutsch von Urstein, 1902, und, mit Berück- sichtigung der psychologischen Verhältnisse, bei Gust. Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, 1900, S. 127 ff.

Hypothesen über die physischen Substrate der Wortbildung. 547

dern man erklärte es für ein ausscWießlicli sensorisches, also für eine Art von „innerem Sinn*'; und daran änderte aucli die Entdeckung des außerdem für die amnestische Aphasie in Anspruch genommenen Zentrums nichts. Vielmehr fühlte man sich dadurch eher in der all- gemeinen Voraussetzung bestärkt, daß jedes diese'* Gebiete eine be- stimmte Kategorie von Vorstellungen in sich berge. Bei dem gewöhn- lich so genannten motorischen Zentrum (M Fig. 36) sollten dies die Vorstellungen der Sprachbewegungen, bei dem sensorischen Zentrum (*S) die Lautvorstellungen der Wörter sein; und ähnlich wurden den später aufgestellten Zentren 0 und E (Fig. 37) bestimmte Arten von Erinnerungsbildern, jenem die optischen Wortbilder, diesem die Vor- stellungen der Schreibbewegungen, zugeteilt, worauf es nun nahe lag, auch noch die unabhängig von Wort und Schriftbild angenommenen Begriffe in einem besonderen ,,ideagenen Zentrum" nach dem Vor- schlage Kußmauls zu lokalisieren.

Diese Vorstellungen fanden einen lebhaften Widerhall in den Deutungen, die Th. Meynert den Ergebnissen seiner um die gleiche Zeit entstandenen bahnbrechenden Arbeiten über den feineren Bau des Gehirns gab^). Waren auch diese Deutungen selbst schon von der neu gewonnenen Lokalisation der Sprachfunktionen wesentlich beeinflußt, so wirkten sie doch ihrerseits wieder auf die Auffassung der Sprachzentren zurück. Als drittes Glied in dieser Vereinigung erschien endlich noch die experimentelle Gehirnphysiologie, in der namentlich H. Munk die nämlichen Anschauungen der Deutung seiner Ergebnisse zugrunde legte ^).

So bildete sich immer zuversichtlicher die Ansicht aus, die Rinde des großen Gehirns berge in jeder ihrer Zellen irgendeine Vorstellung, und solche Depots von Vorstellungen seien in gesonderten Gebieten massenhaft über die Oberfläche des Gehirns verteilt. In einem be-

^) Vgl. besonders die Bemerkungen zur Physiologie des Gehirns in seiner Psychiatrie, I, 1884, S. 126 ff.

2) H. Munk, Über die Funktionen der Großhirnrinde, gesammelte Abhand- lungen, 1891. Vgl. besonders die Einleitung zu diesem Werk und dazu meine Abhandlung „Zur Frage der Lokalisation der Großhimfunktionen'% Philos. Stud. VI, 1891, S. 1 ff., sowie Physiol. Psychol. » I, S. 341 ff., über die Sprach- «entren ebenda S. 364 ff.

35*

548 Die Wortbildung.

stimmten Bezirk sollten direkte Lauteindrücke aufgenommen, in einem andern ältere Wortvorstellungen abgelagert werden, ein dritter sei durch Gesichtsreize erregbar, ein vierter berge die Gesichtsbilder früherer Eindrücke usw. Dabei sollten die Depots der verschiedenen Arten von Erinnerungsbildern teils durch Vorhandene Vorstellungen bereits ,, besetzt" sein, teils aber auch noch im leeren Zustand ihrer künftigen Insassen warten. Zerstörung einer ein solches Vorstellungs- zentrum einschließenden Rindenregion Vernichte daher die in ihr abgelagerten Vorstellungen; aber diese könnten durch neue ersetzt werden, die in den noch vakanten Zellen Platz fänden. Auf solche Weise glaubte man sich auch die oft zu beobachtende allmähliche Wiederherstellung der Funktionen erklären zu können. Der nämliche Vorgang, der bei der normalen Entwicklung das Gehirn mit den Er- innerungsbildern früherer Eindrücke gefüllt hatte, konnte sich ja wiederholen, solange nur überhaupt unbesetzte Vorstellungszellen vorhanden waren. Wie wenig diese Spekulationen im ganzen als bloß vorläufige Hilfsannahmen gemeint waren, ging deutlich genug daraus hervor, daß man ernstlich die Frage erwog, ob die in der Hirnrinde zu zählenden Pyramidalzellen wirklich für die Bedürfnisse der mensch- lichen Intelligenz ausreichten.

Nun erhellt freilich für jeden, dem die Begriffe Vorstellung, Er- innerungsbild, Eindruck nicht bloße Wörter für unbekannte Begriffe sind, daß die Annahme, ein Erinnerungsbild werde in einer Hirnzelle ,, deponiert", bei dem Problem der erinnerten Vorstellungen genau jener Stufe naiver Interpretation entspricht, auf dem sich der äußeren Sinneswahrnehmung gegenüber dereinst die Physiologie der Alten befand. In den in den Hirnzellen abgelagerten Erinnerungsbildern lassen sich in der Tat unschwer die direkten Abkömmlinge jener Bildchen erkennen, die ein Empedokles und Demokrit von den Gegenständen sich ablösen und in Auge und Ohr eindringen ließen. Daß das Retinabild und die Klangwirkung im äußeren Ohr nicht Gegenstände sind, die von außen ein- wandern, sondern Vergängliche und veränderliche Funktionen, das weiß die Physiologie nachgerade. Das Gehirn ist ihr immer noch unbekannt genug, um sich nach wie vor die ab- gelösten Bildchen in den Hirnzellen eingewandert und abgelagert zu

Unzulänglichkeit der Lokalisatiqnshypothesen. 549

denken. Daß die Erinnerungsvorstellungen so wenig Objekte sind wie die äußeren Wahrnehmungen, und daß sie sich von diesen höch- stens durch ihre noch größere Veränderlichkeit unterscheiden, da zwei Erinnerungsbilder eines und desselben Gegenstandes kaum je übereinstimmen, alles das bleibt hier außer Frage.

3. Unzulänglichkeit der Lokalisationshypothesen.

Was der physiologischen Funktionsanalyse wahrscheinlich schwerer gelungen wäre, das hat sich nun aber allmählich als eine dringende Forderung bei der Untersuchung eben jener Sprachstörungen herausgestellt, von denen die ganze über Anatomie, Physiologie und beinahe auch über die Psychologie sich ausbreitende moderne Lo- kalisationslehre ausgegangen war. Der Schematismus der Sprach- zentren mit ihren leitenden Zwischenbahnen erwies sich um so unzu- länglicher, je mehr man ihn im einzelnen durchzuführen suchte. Mochte man sich auch häufig noch mit der Annahme bloß „funktioneller" Störungen helfen, die unabhängig von lokalen Defekten oder ver- mischt mit solchen vorkommen könnten, bei unbefangener Betrach- tung der Befunde läßt sich nicht mehr verkennen, daß neben der Sonderung gewisser Bestandteile der Sprachfunktion immer deut- licher zugleich bestimmte Zusammenhänge verschiedener Funktions- gebiete hervortreten. Die Erkenntnis dringt durch, daß sich jeder noch so einfach erscheinende sprachliche Vorgang aus einer Fülle elementarer psychophysischer Funktionen verschiedener Art zu- sammensetzt und regelmäßig zugleich bestimmte Hilfsfunktionen in Anspruch nimmt, so daß es völlig unmöglich erscheint, ihn an ein eng begrenztes Hirngebiet oder gar an eine einzelne Hirnzelle binden zu wollen. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß sich die in der Beobachtung gegebenen Sonderungen der Funktionen in irgend- einem Schema festhalten lassen. Aber bei der Konstruktion eines solchen muß man sich immer gegenwärtig halten, daß es nicht bloß den zur Beobachtung kommenden Ausfallserscheinungen, sondern auch den Verbindungen der Funktionen, durch die sie sich imterstützen oder für ausgefallene Ersatz schaffen, Ausdruck gebe. Das leistet

550 I>ie Wortbildung.

offenbar das in Fig. 37 dargestellte Schema nicht, denn es gerät überall in Widerstreit mit den Tatsachen. Es lassen sich aus ihm Störungen der Wortbildung ableiten, die gar nicht vorkommen. Noch mehr aber bietet die Wirklichkeit eine Menge von Störungen isoliert wie in Verbindung mit andern, die aus dem Schema nicht herauszulesen sind, weil sie außerhalb der Voraussetzungen liegen, auf denen es beruht.

So ist es eine der augenfälligsten und durch keine Hilfs- annahme zu vermeidende Folgerung, die sich schon auf Grund der bloßen Unterscheidung eines motorischen und eines senso- rischen Sprachzentrums ergibt, daß eine Aufhebung der Lei- tung zwischen diesen beiden Zentren (in 3 Fig. 37) die Fähig- keit gehörte Worte nachzusprechen aufheben müßte, während die Fähigkeit spontan zu reden erhalten bliebe. Ein solcher Zustand kommt aber nicht vor. Statt dessen hat man Fälle so- genannter ,, Paraphasie" hierher bezogen (s. unten 5). Da jedoch bei dieser eine gewisse Fähigkeit des Nachsprechens immer besteht, während nur gelegentlich falsche Worte für die richtigen eingesetzt werden, und da femer dieses Symptomenbild bei den verschiedensten sonstigen zentralen Störungen beobachtet wird, so ist das sichtlich nur ein Notbehelf: eine Störung, die genau der Leitungsunterbrechung bei 3 entspricht, gibt es nicht ^). Dies ist um so auffallender, als das zwischen den Zentren M und S (Fig. 36) gelegene Gebiet der ,, Insel" gar nicht so selten für sich allein, ohne daß die Stellen M und S selbst betroffen sind, Läsionen darbietet. Überhaupt müßten nach dem Schema viel häufiger gesonderte motorische oder sensorische Ano- malien beobachtet werden, als es der Fall ist, und es müßte ungefähr ebenso leicht eine sensorische Störung bei intakter motorischer Wort- bildung, wie umgekehrt eine motorische bei erhalten gebliebenem Wortgedächtnis vorkommen können. Das trifft aber wieder nicht zu: Störungen rein motorischer Art sind sehr häufig; mit amne- stischen Zuständen pflegen dagegen nicht selten auch mehr oder minder beträchtliche Störungen der Wortartikulation verbunden zu sein.

^) 8. Freund, Zur Auffassung der Aphasien, 1891, S. 11.

Phj'siologische und pathologische Amnesie. 551

liäßt so die Annahme einer strengen Lokalisation der Wort- bildungsfunktionen Symptomenbilder erschließen, die tatsächlich nicht vorkommen, so gibt sie aber auf der andern Seite über eine große Menge von Störungen, und namentlich von Verbindungen, Begleit- erscheinungen und nachträglichen Kompensationen derselben gar keinen Aufschluß. So besteht die Schriftblindheit häufig zusammen mit gewöhnlicher motorischer Aphasie, eine funktionelle Beziehung, für die nur die Annahme einer zufällig gleichzeitigen Affektion der Zentren M und O übrigbliebe. Ferner ist es eine bei den verschie- densten Störungen vorkommende Erscheinung, daß das Nachsprechen erhalten bleibt, während die spontane Wortbildung, das Erkennen von Wörtern und das Lesen von solchen unmöglich ist. Von allen unter den unbestimmten und für viele Fälle ungenauen Begriff der ,, Aphasie" zusammengefaßten Erscheinungen sind es endlich ganz besonders diejenigen, die man den spezielleren Symptomengruppen der „Amnesie'' und der ,, Paraphasie" zuzählt, die durch ihren Ver- lauf, durch ihr Ineinandergreifen und durch die eigentümlichen kom- pensatorischen Vorgänge, die bei ihnen beobachtet werden, dem Ver- such sie in eines der üblichen Lokalisationsschemata einzuordnen widerstreben, während gerade sie psychologisch von besonderem Interesse sind. Aus diesem Grunde bedürfen sie hier einer eingehen- deren Betrachtung.

4. Physiologische und pathologische Amnesie.

Unter der „amnestischen Aphasie" pflegt man, um dem in dem Wort Aphasie liegenden Begriff einigermaßen treu zu bleiben, solche Sprachstörungen zu verstehen, bei denen das Wortgedächtnis ent- weder ganz oder bis auf geringe Reste aufgehoben ist. Da nun von diesen schwersten Formen der Störung an bis zu den leichteren einer noch tief in das normale Leben hereinreichenden Schwäche des Wort- gedächtnisses alle möglichen Übergangsstufen vorkommen, so sieht man sich genötigt, jenem Begriff den allgemeineren der „Amnesie" gegenüberzustellen. Er ist um so unentbehrlicher, als in diesem Fall ebensosehr die leichteren Symptome durch die schwereren, wie nicht

552 Die Wortbildung.

selten diese durch jene erläutert werden. Die „Amnesie*' in diesem Sinne ist eine lediglich negative Störung: sie besteht in einem Ver- sagen der Assoziationen zwischen Begriff und Wort. Während die Vorstellungen und Begriffe, sofern nicht gleichzeitig anderweitige Störungen vorhanden sind, in normaler Weise gebildet werden können, unterbleibt die Assoziation, die von dem Begriff zu dem ihn bezeich- nenden "Worte führt, entweder völlig, oder sie spricht schwieriger an, so daß das Wort nur mit Mühe und meist unter Mitwirkung von Asso- ziationshilfen gefunden werden kann.

Die Wirksamkeit solcher Assoziationshilfen sogar bei Gedächt- nismängeln infolge grober Gehirnläsionen zeigt schlagend ein zuerst Von Grashey beobachteter Fall hochgradiger pathologischer Amnesie^). Der Patient hatte infolge einer Kopfverletzung sein Wortgedächtnis fast völlig verloren; er besann sich a^er auf den Namen eines Objekts, indem er ihn „schreibend fand", d. h. indem er das Schriftbild des Wortes durch Fingerbewegungen oder, wenn er daran gehindert war, durch Bewegungen einer Zehe, im Notfalle selbst der Zunge hervor- brachte. Darauf stellte sich dann auch die Lautvorstellung ein^). Offenbar war also in diesem Falle das Gedächtnis für optische W^ort- bilder sowie das für Schreibbewegungen erhalten, aber das für akustische Wortvorstellungen aufgehoben: so weit würde die Erscheinung als eine Läsion des Zentrums S (A) bei intakter Beschaffenheit von 0 und E (Fig. 37) zu deuten sein. Doch was sich dadurch nicht erklären läßt, ist die Tatsache, daß die Funktion von E auch das insuffizient gewordene Zentrum S (A) wieder zur Funktion anregt, daß also die

1) Grashey, Archiv für Psychiatrie, XVI, 1885, S. 654 ff. Vgl. auch die weiteren eingehenden Untersuchungen des gleichen Patienten von R. Sommer, Zeitschr. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, II, 1891, S. 143 ff., und Gustav Wolff, ebenda XV, 1897, S. 1 ff.

2) ÄhnUche Hilfswirkungen von Seiten der Schreibbewegungen sind auch in Fällen von Amnesie, die mit „Agraphie'* verbunden waren, beobachtet worden. So konnte ein von Hans Gudden untersuchter amnestischer Patient bekannte Wörter nicht schreiben, weder wenn man sie ihm diktierte, noch wenn man ihm die von ihm selbst geschriebenen zum Abschreiben vorlegte. Er schrieb sie aber sofort nach, wenn man sie ihm vor seinen Augen vorschrieb. (Neurologisches Zentralblatt, 1900, Nr. 1, S. 13.)

Physiologische und pathologische Amnesie. 553

Unterbrechung dieser Funktion keine absolute ist, sondern sich teils bei unmittelbarer Einwirkung des Wortes der Patient vermochte unmittelbar gehörte Worte nachzusprechen teils durch das will- kürlich erzeugte Schriftbild desselben, das der amnestischen Störung nicht unterlag, momentan wiederherstellen kann. Diese Mithilfe begleitender Vorstellungen zeigte sich bei dem gleichen Patienten auch noch in manchen andern Erscheinungen. Auf die Frage: ,, welche Farbe hat das Blut?" vermochte er z. B. keine Antwort zu finden, obgleich er, wie seine Handlungen verrieten, den Sinn der Worte verstand. Er vermochte es selbst dann nicht, als man ihm irgendein anderes rotes Objekt Vorzeigte. Aber das Wort kam ihm sofort, als er, um es zu finden, absichtlich eine kleine Pustel an seiner Hand öffnete und den Blutstropfen her- vorquellen sah. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie der Patient mit Überlegung und nicht ohne Aufwand eines gewissen Scharfsinns bemüht war, dem Defekt seines Wortgedächtnisses abzuhelfen und ihn gelegentlich zu verbergen wußte. Wollte man allen diesen Verhältnissen in einem Lokalisa tionsschema Ausdruck geben, so müßte daher in diesem nicht bloß den besonderen Assoziations- bedingungen der Verschiedenen Zentren untereinander, sondern auch den Einflüssen Rechnung getragen sein, die bei solcher Aushilfe der Funktionen von höheren Zentralgebieten, in denen wir uns die Ele- mente der Apperzeptions- und Aufmerksamkeitsvorgänge lokalisiert denken können, ausgehen. Und zu dem allem müßte man, um der notwendig anzunehmenden Verbindung einfacher Funktionen zu komplexen Resultanten zu genügen, die in der üblichen Schemati- sierung der Sprachzentren festgehaltene Voraussetzung aufgeben, Laut und Wort seien bei der Bildung und Erkennung der Worte ge- trennt existierende Vorstellungen. Demnach wird man an ,, Wort- zentren" höchstens in dem Sinne denken können, daß die in den Wort- vorstellungen durch gemeinsame Funktionsübung Verbundenen Ge- hörsempfindungen weiteren, dem direkten Hör- und Sehzentrum bei- gegebenen Zentralgebieten zugeleitet werden, deren Leistungen aber durchaus an die gleichzeitige Funktion jener unmittelbaren Sinnes- zentren gebunden sind. Damit verschwindet dann von selbst die un- mögliche Annahme irgendeiner „Ablagerung von Wörtern" im Ge-

554 Die Wortbildung.

hirn. Denn in jener Forderung eines funktionellen Zusammen- hangs von Zentren verschiedener Ordnung ist schon die Vor- aussetzung enthalten, daß jede Wortvorstellung auch nach ihrer physiologischen Seite ein komplexer Vorgang ist, der das Zusammenwirken zahlloser zentraler Elemente umfaßt und daher von Fall zu Fall in unendlich mannigfaltiger Weise variieren kann.

Selbst nach dieser wesentlichen Modifikation der Lokalisations- vorstellungen bleibt aber noch eine Menge einzelner Verhältnisse übrig, die Von besonderem Wert für die funktionelle Charakteristik der Sprachstörungen sind, und die sich gleichwohl jedem Versuch einer Lokalisation der verwickeiteren Funktionen in besonderen räum- lich zu trennenden Gebieten entziehen. Dahin gehört namentlich die bei allen Erscheinungen der Amnesie beobachtete Tatsache, daß die einzelnen Wörter je nach der Kategorie der Vor- stellungen und Begriffe ein außerordentlich verschie- denes Beharrungsvermögen besitzen. Schon bei den noch dem normalen Vergessen angehörenden Erscheinungen bemerken wir regelmäßig, daß nicht, wie man denken könnte, die abstraktesten. Redeteile, Bejahung, Verneinung, Präpositionen, Konjunktionen und abstrakte Adverbien, am schnellsten vergessen werden, sondern um- gekehrt diejenigen Wörter, die am unmittelbarsten konkrete sinn- liche Gegenstände bezeichnen: die Eigennamen bestimmter Personen, dann die konkreten Substantiva. An sie schließen sich die Adjektiva, und unter ihnen gehen wieder solche voran, die von sinnlich anschau- licher Bedeutung sind. Fester haften die abstrakten Adjektiva und die Verba, und am festesten endlich neben den Interjektionen die abstrakten Partikeln. Diese Reihenfolge wiederholt sich allerdings in den pathologischen Fällen nicht immer in gleich deutlicher Weise. Sie wird hier bald von einer teilweisen Wiederherstellung der Funk- tionen, bald von andern Störungen durchkreuzt, die auf bestimmter lokalisierte Unterbrechungen der Leitung zurückzuführen sind. Den- noch sind die Spuren jener Regelmäßigkeit häufig selbst bei der mo- torischen Aphasie anzutreffen. Daß aber die Erscheinung aus irgend- einer Lokalisation der Erinnerungsbilder nicht erklärt werden kann, ist einleuchtend. Müßte man doch nicht bloß voraussetzen, die Wörter

Erscheinungen der Paraphasie. 555

seien nach grammatischen Kategorien in den Hirnzellen abgelagert, sondern auch die Zerstörung der Erinnerungszentren gehe immer in der entsprechenden Reihenfolge vor sich.

5. Erscheinungen der Paraphasie.

Gegenüber der Amnesie als einer Gruppe reiner Ausfallserschei- nungen bezeichnet die „Paraphasie" ein positives Symptomenbild. Wir verstehen nämlich unter diesem Ausdruck diejenigen Störungen, bei denen die Wortbildung als solche beeinträchtigt ist, indem ent- weder verschiedene Wörter miteinander verwechselt oder ganz neue Wörter gebildet und den der Sprache geläufigen substituiert werden. Diese Wortfehler sind wohl zu unterscheiden von den früher (S. 393 ff.) besprochenen Lautvermengungen oder „Paralalien", mit denen sie häufig zusammengeworfen werden. Bei der ,,Paralalie" wird das richtige Wort gewählt, aber es wird infolge abnormer Assimilationen, Dissimilationen, Auslassungen von Lauten usw. unrichtig aus- gesprochen. Bei der „Paraphasie" wird von vornherein ein unrich- tiges Wort gewählt, während namentlich bei den geringeren, bloß in einzelnen Wortverwechslungen bestehenden Graden dieser Störung jedes einzelne Wort richtig gesprochen wird. In der Mitte zwischen den Paralalien und den Paraphasien steht die „Wortvermengung" (Onomatomixie S. 398), in die daher auch die Symptome der Para- phasie ohne scharfe Grenze übergehen können. Im allgemeinen rechnen wir aber eine Erscheinung zur ,, Onomatomixie", solange es sich bloß um eine lautliche Veränderung handelt, die ein bestimmtes Wort durch die assoziative Einwirkung eines andern erfährt, indes das ursprüng- liche Wort immer noch deutlich erkennbar bleibt. Wir reden dagegen von „Paraphasie", wenn das Wort in seinen wesentlichen Bestand- teilen durch assoziative Einwirkungen völlig unkenntlich, oder wenn es durch ein ganz anderes Wort oder wortähnliches Gebilde ersetzt wird. Aus diesen Gründen schließt sich trotz der Verwandtschaft beider Erscheinungen die Onomatomixie noch den Lautstörungen der Sprache an, während die Paraphasie zu den Störungen der Wort- bildung gerechnet werden muß. Damit hängt zusammen, daß die

556 Die Wortbildung.

Paraphasie im allgemeinen ein schwereres Symptom ist, und daß sie daher bei dem gewöhnlichen „Versprechen" nur selten, um so häufiger dagegen als pathologische Erscheinung vorkommt. Als solche ist sie wohl stets mit einer Rindenaffektion des Gehirns verbunden. Doch läßt sie sich weder in einem hypothetischen Lokalisationsschema unterbringen noch tatsächlich auf eine fest bestimmte örtliche Störung zurückführen. Gleichwohl kann sie sich mit den verschiedensten andern Sprachstörungen verbinden sowie als Vorläuferin tieferer Defekte auftreten.

Vor allem finden sich die Erscheinungen der Wortverwechslung und der Einschaltung von Wörtern, die außerhalb des Zusammen- hangs der Rede liegen, als Begleiterinnen der pathologischen Amnesie. Aber auch bei höheren Graden seniler Gedächtnisschwäche beobachtet man namentlich die Wortverwechslungen nicht selten. Dieser Zu- sammenhang erklärt sich ohne weiteres daraus, daß gerade in den Momenten, wo die richtige Assoziation zwischen Vorstellung und Wort versagt, der Zufluß solcher Vorstellungen, die durch irgend- welche andere Assoziationsbedingungen gehoben werden, relativ erleichtert ist. Anderseits zeigt jedoch das Vorkommen parapha tischer Erscheinungen bei ganz intaktem Wortgedächtnis, sowohl bei der Gedankenflucht der Irren wie bei geistig gesunden Menschen infolge hochgradiger Zerstreutheit, daß es sich hier um direkte assoziative Ursachen handelt, zu denen die Amnesie nur als begünstigendes Moment hinzutreten kann.

Die stärksten, freilich auch irregulärsten Beispiele der Para- phasie bietet in vielen Fällen die Sprache der Geisteskranken: irregu- lär deshalb, weil es hier meist zufällig eingeübte Wortvorstellungen, manchmal auch ganz willkürliche Wortgebilde oder mindestens will- kürliche Wortzusammensetzungen sind, die den Redestrom unter- brechen, ohne Rücksicht darauf, ob sie an der betreffenden Stelle ein anderes ausfallendes Wort vertreten oder die Rolle sinnloser Klang- bilder spielen, denen aber der Kranke nicht selten eine besondere Be- deutung beilegt ^). Viel regelmäßiger gestalten sich die Wortvertretungen

^) Liebmaiin und Edel, Die Sprache der Geisteskranken, 1903. Kraepelin, Psychiatrie, I, » 1909, S. 415 ff.

Erscheinungen der Paraphasie. 557

bei den höheren Graden der Amnesie. Besonders beobachtet man das bei jenen Erscheinungen des Gedächtnisschwundes, wo im all- gemeinen konkretere Wortklassen fehlen, aber abstraktere noch ver- fügbar sind (S. 554). Hier pflegt bald ein nahe verwandtes abstraktes Wort substituiert, bald auch gerade das fehlende definierend um- schrieben zu werden: z. B., wenn die konkreten Substantiva Versagen, die entsprechenden Verba aber noch geläufig sind, die ,, Schere" als ,,das womit man schneidet", das ,, Fenster" als ,,das wodurch man sieht" u. dgl. 1). Kommen die Wortverwechslungen bei irregulärer Amnesie vor, so treten sie meist in der Form auf, daß die Wörter in der gleichen Kategorie bleiben, so daß also Wörter wie Tisch und Stuhl, stehen und hängen, gehen und fahren miteinander verwechselt werden.

Auch in sonst normalen Zuständen können ähnliche Wortver- tauschungen als gelegentliche Begleiterscheinungen oder Steigerungen der Laut- und Wortvermengungen vorkommen. Von den eigent- lich pathologischen Fällen unterscheiden sich diese noch dem nor- malen Leben angehörigen Erscheinungen dadurch, daß sich die Asso- ziationen innerhalb eines engeren Gebiets verwandter oder sich be- rührender Vorstellungen bewegen^). Manchmal wechseln dabei auch nur bestimmte Begriffe ihre Stellen, oder es wird aus einer begrifflich verwandten Redeweise ein Wort oder eine Wortgruppe herübergenommen, Fälle, die sich als assoziative Substitution, Permutation und Konta- mination unterscheiden lassen. So in den Beispielen: ,, Maximilian I. hatte die Hopnung, den Thron auf seinem Haupte zu sehen" (Sub- stitution von ,, Thron" für „Krone"), „In Neapel geht man des Abends auf dem Hause seines Daches spazieren" (Permutation), ,,Er setzt sich auf den Hinterkopf" (kontaminiert aus ,,er setzt es sich in den

^) Kußmaul, Störungen der Sprache, S. 163.

2) Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in der Sammlung „Gallet- tiana" (Berlin ^ 1876). Sie enthält Aussprüche eines 1750 1828 in Gotha lebenden, an hochgradiger Zerstreutheit leidenden Schulmonarchen. Dieselben gehören, abgesehen von wenigen Beispielen von Onomatomixie, sämtlich in das Gebiet der „Paraphasie*', während kein einziger Fall einer „Paralalie" darunter vorkommt ein Beweis für die oben (S. 555) hervorgehobene Wesensverschiedenheit dieser Erscheinungen.

558 Die Wortbildung.

Kopf" und „er stellt sich auf die Hinterbeine"). Dagegen nähert es tsicli schon der Grenze des Pathologischen, wenn ein Wort durch Asso- ziation ein anderes wachruft, das aus dem Gedankenzusammenhang herausfällt, eine assoziative Einschaltung, die sich am nächsten an die Substitution anschließt und manchmal mit ihr verbimden sein kann. So in dem Beispiel: ,, Elisabeth erschien nach der Hinrichtung der Maria Stuart im Parlament in der einen Hand das Schnupftuch, in der andern eine Träne" (Gallettiana), wo durch Assoziation mit der ,, einen Hand" die ,, andere" interponiert und zugleich dem „Auge" substituiert ist.

6. Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung.

Da die zentralen Störungen der Sprache, wie ihr Zusammenhang mit Verletzungen und krankhaften Veränderungen bestimmter Hirn- gebiete beweist, physisch bedingte, an sich selbst aber psychische Symptome sind, so fordern sie eine doppelte Funktionsanalyse heraus: eine physiologische und eine psychologische. Dabei wird die letztere der ersteren immer als Führerin dienen müssen, nicht nur weil die psychische Seite der Sprachstörungen unserer Beobachtung zugänglicher, sondern weil auch bei den mannigfachen Erscheinungen ihrer Korrelation und Kompensation die psychologische Deutung die näherliegende ist. Bei dem gegenwärtigen Zustande der Gehirn- physiologie ist jedoch überhaupt eine tiefer eindringende physio- logische Funktionsanalyse völlig ausgeschlossen; und es ist nicht wahrscheinlich, daß sich dieser Zustand in absehbarer Zeit wesentlich ändern werde. Was die physiologische hier der psychologischen Be- trachtungsweise zu bieten vermag, beschränkt sich vorläufig auf einen allgemeinen Gesichtspunkt, der, weil er sich in gleicher Weise für die physische wie für die psychische Seite der Erscheinungen bewährt, zugleich eine allgemeinere psychophysische Bedeutung besitzt. Er besteht in dem Prinzip der Funktionsübung. Dieses Prinzip sagt aus, daß jede Funktion, mag sie nun eine physische oder eine psychische oder beides zugleich sein, durch ihre Ausübung ge- steigert, durch ihre Unterlassung verniindert und schließ- lich aufgehoben wird.

Der Begriff der Übung ist an und für sich ein gemischter, der

Psychophysisches Prinzip der Funktionsübung. 559

ebenso physiologische wie psychologische Erscheinungen umfaßt. Auch wo uns ein Übergangsvorgang unmittelbar nur als psychischer Tatbestand gegeben ist, da weist aber dieser regelmäßig auf gleich- zeitige physische Übungsvorgänge hin. Diese gemischte Anwendung des Begriffs zeigt schon, daß er ein symptomatischer ist, der an sich einen nur provisorischen Wert besitzt. Sobald man ihm einen be- stimmten Inhalt zu geben sucht, so wandelt er sich von selbst in eine psychologische oder in eine physiologische Gesetzmäßigkeit um. So hat der Begriff der psychologischen Übung seine Unterlage in der Befestigung der Assoziationen durch Wiederholung, die zugleich die beiden Hauptfälle der unmittelbaren Übung und der Mitübung einschließt. Die erstere besteht in der durch oft wiederholte Asso- ziation zunehmenden Bereitschaft eines vorangegangenen Bewußt- seinsinhaltes zu seiner Erneuerung; die letztere in der Übertragung einer solchen Bereitschaft von einem gegebenen Bewußtseinsinhalt auf einen andern, der mit jenem häufig verbunden war. Dem stehen die mannigfaltigsten Vorgänge rein physiologischer Art gegenüber, die wir ebenfalls nach dem allgemeinen Charakter ihrer Wirkungen der Übung und Mitübung unterordnen. So wird eine Muskelgruppe geübt, wenn ihre Leistungsfähigkeit durch wiederholte Arbeit zu- nimmt; und eine andere wird mitgeübt, wenn sie, ohne direkt an jener Leistung beteiligt zu sein, infolge der mechanischen oder der nervösen Verbindungen des Muskelsystems in Mitbewegungen gerät. Bei der Übung peripherer Organe können wir über die Bedingungen dieser Veränderungen einigermaßen Rechenschaft geben, indem wir sie auf die durch die Arbeitsleistung gesteigerte Ernährung und die so bewirkte Zunahme latenter Energie zurückführen. Dunkler ist der Vorgang bei den für die psychophysischen Funktionen maßgebenden Übungs Vorgängen im Nervensystem. Hier ist es, abgesehen von den in gleicher Weise anzunehmenden Ernährungseinflüssen, hauptsäch- lich eine Tatsache, die auf den eigentümlichen Charakter der Übungs- vorgänge Licht wirft: das ist die schon bei den einfachsten Reizver- suchen an motorischen oder sensibeln Nerven zu beobachtende Zu- nahme der Reizbarkeit durch die Reizung^). Sie macht es

1) Vgl. oben Kap. I, S. 88.

560 Die Wortbildung.

begreif Hell, daß jede Bahn, die irgendwo im Nervensystem häufiger von einem Erregungsvorgange durchflössen wird, für künftige Reize zugänglicher wird. Daraus ergibt sich in der Anwendung auf die un- endlich vielgestaltigen Leitungs- wie Erregungsbedingungen der Nerven- zentren die Folgerung, daß die Wege, die ein Erregungsvorgang ein- schlägt, in letzter Instanz zwar von den überhaupt vorhandenen und in der vererbten Organisation gegebenen zentralen Elementen und Nervenleitungen abhängen, daß aber zugleich die Bedingungen der Erregbarkeit und der Leitung fortwährend durch die wirklich statt- findenden Erregungen, gemäß jenem Prinzip der Zunahme der Reiz- barkeit durch die Reizung, verändert werden. Die Leitungsbahnen in einem individuellen Gehirn sind also zu einem sehr wesentlichen Teile selbst schon Produkte dessen, was wir ,,Ubergangsvorgänge" nennen. Die Substrate der Nerven erregungen sind nichts Beharren- des, sondern in ihrer physiologischen Anlage zum Teil Erzeugnisse ihrer Funktionen. Hiermit ist eigentlich eine feste Lokalisation dieser Funktionen bereits ausgeschlossen. Bedenken wir aber vollends, auf welch verwickeltem Zusammenwirken elementarer physischer Vorgänge die Entstehung einer einfachen Sinneswahrnehmung, z. B. eines zusammengesetzten Klanges oder einer ausgedehnten Fläche, schon innerhalb der peripheren Anhangsapparate des Nerven- systems beruht, so werden wir die Annahme, daß die Er- regungszustände einer abgegrenzten Rindenstelle als physische Substrate einer bestimmten Klasse von Vorstellungen, z. B. von Laut- oder von optischen Bildern der Worte, anzusehen seien, als unmöglich zurückweisen. Leider fehlen uns jedoch, abgesehen von jenen allgemeinen Gesetzen der Erregung und Erregungsleitung, auf physiologischer Seite alle Hilfsmittel einer exakteren Funktions- analyse.

Dagegen bewährt es sich gerade bei der Sprache, daß die zu- fälligen Störungen im Zusammenhang der Gehirnteile ein außer- ordentlich wertvolles Hilfsmittel für die psychologische Analyse selbst sind. Zerlegen sich uns doch bei solchen Störungen Vorgänge, die im normalen Bewußtsein fast nur in ihrem ungeteilten Zusammen- hang vorkommen, deutlich in ihre psychischen Komponenten; und durch die Art der Ausgleichung der Störungen gewähren sie einen oft

Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 561

überraschenden Einblick in die Wechselbeziehungen der psychischen Funktionen. Abgesehen von dieser Hilfe, die sie der Psychologie leisten, ergibt sich aber aus der Beziehung der Störungen zu bestimmten Gehirnläsionen nur das allgemeine Resultat, daß wie schon der Sprach- laut so das Wort im eigentlichsten Sinn ein psychophysisches Gebilde ist, ein psychophysisches auch in der Bedeutung, daß wir die gesamten physiologischen Begleiterscheinungen der Sprachfunk- tion weder als Ursachen noch als Wirkungen, sondern nur als Parallel- vorgänge der psychischen Prozesse ansehen können. Denn die voraus- zusetzenden physischen Anlagen lassen sich gerade so gut nur aus den physischen Eigenschaften der Nervensubstanz ableiten, wie um- gekehrt die psychischen Vorgänge der Wortbildung nur aus den Assoziations- und Apperzeptionsprozessen zu begreifen sind. Als psychisches Erzeugnis steht das Wort inmitten der gesamten seelischen Entwicklungen, aus denen die Sprache hervorgeht; als physisches ist es ein integrierender Bestandteil der auf ererbten und erworbenen Anlagen beruhenden Funktionen des Nervensystems und seiner Hilfsorgane.

7. Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen.

Vermag uns die Physiologie, abgesehen von dem allgemeinen psychophysischen Prinzip der Funktionsübung und seiner letzten Zurückführung auf gewisse elementare Eigenschaften der Nerven- erregung, über den Zusammenhang der zentralen Sprachstörungen, über ihre Korrelationen und Kompensationen nicht die allergeringste Auskunft zu geben, so verhält sich das wesentlich anders mit der psychologischen Deutung der Erscheinungen. Hier bieten diese, wie oben bemerkt, ein überaus wichtiges, durch kein anderes ersetzbares Hilfsmittel für die psychologische Analyse der Wortbildungsvorgänge. Die Natur hat in diesem Falle selbst für uns an einem Objekt, dem menschlichen Gehirn, experimentiert, das sonst mehr als irgendein anderes willkürlichen Eingriffen entzogen bleibt. Die Sprachstörimgen können aber natürlich diese Hilfe nur deshalb leisten, weil sie selbst einer nahezu vollständigen psychologischen Deutung zugänglich sind.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 36

562 Die Wortbildung.

Die üblichen Lokalisationshypothesen pflegen, wie oben (S. 550) erwähnt, schon an der Tatsache zu scheitern, daß mit tieferen Stö- rungen des Wortgedächtnisses beinahe regelmäßig Störungen der Artikulationsfähigkeit verbunden sind. Psychologisch betrachtet ist diese Wechselbeziehung nicht bloß begreiflich, sondern nahezu selbstverständlich. Ist doch das akustische oder optische Wortbild so eng mit den Sprachbewegungen assoziiert, daß bei dem Natur- menschen, bei dem nicht willkürliche Hemmungen diese Assoziation teilweise gelöst haben, das gedachte oder gelesene Wort unvermeid- lich in das gesprochene übergeht. Das Denken in Worten ist zugleich leises Sprechen, und auch wenn die sichtbaren Bewegungen der Sprach- organe unterdrückt werden, bleibt es dies in dem Sinne, daß schwache Impulse zu denselben samt den sie begleitenden leisen Empfindungen zurückbleiben. Werden nun durch irgendeine zentrale Störung die Artikulationsbewegungen vmmöglich, so Versagt damit die Asso- ziationshilfe, die sie den akustischen Wortvorstellungen gewähren. Aber da die normale Wortassoziation Von den akustischen oder op- tischen Wortvorstellungen zu den Artikulationsbewegungen geht, nicht umgekehrt, so werden Störungen in der Bildung jener Vor- stellungen immer auch mehr oder weniger die motorische Seite der Sprachfunktion beeinträchtigen, während direkte Störungen der Sprachbewegungen selbst nicht notwenig auf die akustischen oder optischen Bestandteile der Wortkomplikationen übergreifen müssen. Übrigens widerlegt diese vorwiegende Richtung der Assoziation auch die auf die alte Lehre von den ,, inneren Sinnen" gegründete Annahme, das motorische Sprachzentrum sei an sich nur ein Zentrum der ,, Bewegungsvorstellungen" (S. 547). Denn jene Rich- tung läßt sich offenbar am einfachsten erklären, wenn man annimmt, die akustische oder optische Wortvorstellung löse ursprünglich zunächst durch die Übertragung auf das mo- torische Zentrum eine Artikulationsbewegung aus, und dann erst entstehe konsekutiv die Artikulationsempfindung, nicht aber umgekehrt aus den Bewegungsvorstellungen die wirkliche Be- wegung.

Ähnlich erklärt sich psychologisch aus jener Richtung der Asso- ziation von den sensorischen zu den motorischen Gebieten der Sprach-

Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 563

funktion die nicht seltene Kombination der Schriftblindheit mit Be- wegungsstörungen, während auch hier wieder sehr wohl die letzteren ohne eine Spur von Alexie vorkommen können. Bei einem an das Lesen gewöhnten Menschen bilden natürlich die optischen Wortbilder wichtige assoziative Anregungen für die Wortartikulation, so daß ihr Wegfall leicht an dieser bemerklich wird. Auch die oft vorkommen- den Erscheinungen, daß Worte nachgesprochen, aber nicht für eine längere Zeit festgehalten, oder daß falsche Worte substituiert oder die Wortbestandteile falsch kombiniert werden, sind psychologisch ohne weiteres aus den Abweichungen zu erklären, die man allgemein bei einer Lockerung eingeübter Assoziationen beobachtet. Ehe eine Assoziation ganz versagt, gestattet sie immer noch eine Erneuerung für sehr kurze Zeit; und wenn eine bestimmte einzelne Assoziation unsicher geworden ist, so pflegt zunächst noch ihre allgemeine Assö- ziationsrichtung fortzuwirken. Das erstere erklärt die ,, Echosprache'*, das letztere viele Erscheinungen der ,, Paraphasie". Für dieses Fort- wirken bestimmter Assoziationsrichtungen ist es insbesondere kenn- zeichnend, daß die Wortverwechslungen immer innerhalb der gleichen Wortkategorie, und daß sie in den meisten Fällen sogar innerhalb einer Gruppe irgendwie begrifflich verwandter Wörter bleiben. Nie wird etwa ein Substantiv mit einem Verbum verwechselt; aber sehr häufig vertauscht der Parapha tische Wörter wie ,, stehen" und ,, hängen", ,, gehen" und ,, fahren", ,, Tisch" und ,, Stuhl" u. dgl. Diese Vertauschungen erklären sich unmittelbar aus Assoziationen, die durch jene übereinstimmenden Begriffs- gefühle zustande kommen, durch die Wörter gleicher Gattung Verbunden sind, und die ihrerseits mit gewissen übereinstimmen- den Begriffselementen zusammenhängen. So kann man sich z. B. die Verwechslung zwischen „gehen" und ,, fahren" durch ein an das identische Element der Fortbewegung gebundenes Gefühl Vermittelt denken. In andern Fällen partieller amnestischer Aphasie sieht man nicht minder die Assoziationen der Berührungs- elemente eine große Rolle spielen. So ereignet es sich häufig, daß ein Gegenstand für sich allein nicht genannt werden kann, daß aber sein Name sofort aufsteigt, wenn ein anderes Wort gesprochen wird, mit dem er häufig verbunden vorkommt. Ein Patient hatte seinen eigenen

36*

564 Die Wortbildung.

Namen total vergessen. Nannte man seinen Vornamen, so geriet er in heftige Aufregmig, ohne daß jedoch sein verzweifeltes Suchen Er> folg hatte: die gewohnte Berührung der Namen erweckte offenbar ein gewisses Bekanntheitsgefühl, vermochte aber noch nicht das Wort selbst ins Bewußtsein zu heben. Dies geschah erst in dem Augen- blick, wo auch der Anfangsbuchstabe des Zunamens genannt wurde ^). Analoge Erscheinungen begegnen uns sehr oft bei den noch in die Breite des normalen Lebens fallenden Gedächtnisdefekten.

Ganz und gar in der Richtung überall wiederkehrender Assozia- tionserscheinungen bewegt sich ferner der in vielen Beobachtungen amnestischer Aphasie zutage tretende Einfluß der Komplika- tionen der Vorstellungen. Eine Vergessene Wortvorstellung kann wiedererweckt werden, wenn irgendeine ihr assoziierte eines andern Sinnesgebiets in das Bewußtsein tritt. Eine besonders wich- tige Rolle spielen dabei die Komplikationen der akustischen, und der optischen Wortvorstellungen sowie beider mit den Artikulations- empfindungen des Sprechens und Schreibens. So konnte, wie oben bemerkt, der Kranke Grasheys (S. 552) die Worte „schreibend finden": die Assoziation des Wortes mit dem Schriftbild sowie die des letzteren mit den Schreibbewegungen und den Von ihnen ausgelösten Emp- findungen war also erhalten geblieben, und mittelst dieser Empfin- dungen konnte sich dann auch für einen Augenblick die Assoziation mit dem Worte wiederherstellen. Zu seinen Schreibbewegungen ver- hielt sich hierbei der Kranke ebenso wie zu den unmittelbar gehörten Worten, die er nachzusprechen vermochte. Infolge besonderer Kompli- kationsbedingungen konnte aber statt des dominierenden Gesichts- sinnes auch ein anderes Sinnesgebiet die Assoziationshilfe leisten: so konnte er zwar die Uhr benennen, wenn er sie sah, aber eine glatte Fläche oder die Spitze einer Nadel wurde von ihm nur als ,, glatt" oder ,, spitz" bezeichnet, wenn er sie nicht bloß sah, sondern auch betastete^). Bei der Aufstellung dieser Eigenschaften ist eben der Tasteindruck so sehr der vorherrschende, daß er sich auch noch bei

1) H. Gudden, Neurologisches Zentralblatt, 1900, Nr. 1, S. 11. ^) G. Wolff, Zeitschr. für Psycho!, und Physiol. der Sinnesorg., Bd. 15, S. 29.

Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 565

dem Kranken als die mächtigere Assoziationshilfe erwies. Zugleich spielt hier wohl der Umstand eine Kolle, daß das Eigenschafts- wort überhaupt zu seiner deutlichen Vergegenwärtigung die Assoziation mit einer bestimmten Gegenstandsvorstellung nötig hat, und daß es daher stärkere Assoziationshilfen durch gleich- zeitiges Sehen und Tasten fordert. Diese Anlehnung an den Gegenstand wird besonders auch durch jene weitere Beobach- tung belegt, daß dieser Kranke die Frage ,, welche Farbe hat das Blut?" erst beim Anblick eines Blutstropfens beant- worten konnte. Die Assoziation zwischen dem Wort ,,Blut" und dem Wort ,,rot" war ihm verloren gegangen; ebenso war die zwischen dem Wort ,,Blut" und dem Erinnerungsbild des Blutes so schwach geworden, daß er sich zwar der allgemeinen Bedeutung des Wortes wahrscheinlich infolge weiterer Assozia- tionen mit bluthaltigen Organen u. dgl. erinnerte, daß aber das sinnliche Erinnerungsbild des Blutes selbst nicht mit zu- reichender Deutlichkeit erweckt wurde. Auch der Anblick anderer roter Gegenstände genügte nicht: hier fehlte wieder die Assoziation dieser Gegenstände mit der Vorstellung des Blutes; erst diese Vorstellung selbst, wenn sie in der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben war, vermochte das Wort wachzurufen. Indem hier der ganze normalerweise vorhandene Komplex von Assoziationen mit einer einzigen zerstört ist, erweist sich deutlich eben diese zurückbleibende Assoziation der sinnlichen Eigenschaft mit dem anschaulich gegebenen Träger derselben als die stärkste von allen. Zugleich ist in diesem Falle, ebenso wie in vielen andern mit relativ stabil bleibenden oder allmählich sich ausgleichenden Störungen, die intellektuelle Arbeit bemerkenswert, durch die sich der Kranke Hilfsassoziationen zu Verschaffen suchte. Ähnlich beobach- tet man wohl auch, daß Kranke mit Erfolg bemüht sind, das Verlorene durch neue Einprägung wiederzugewinnen. Das sind immer solche Fälle, in denen sich die Störung auf die Lösung gewisser mechanisch eingeübter Assoziationen beschränkt, während die intellektuellen Funktionen relativ ungestört bleiben. Sollten also auch, wie wir an- gesichts des Einflusses der Erfahrungseindrücke auf die Willens- entwicklung annehmen müssen, die ursprünglichen Willensrichtungen

566 Die Wortbildung.

selbst unter der Wirkung der Assoziationen entstanden sein, so muß doch auf Grund jener Ausgleichung der Assoziationsstörungen durcli willkürliche Anstrengung angenommen werden, daß, nachdem einmal bestimmte Willensrichtungen vorhanden sind, diese unabhängig von ihrer Assoziationsgrundlage fortdauern und regulierend und wieder- herstellend in die Assoziationsvorgänge eingreifen können. So ent- hüllt sich hier ein Kreislauf der Vorgänge, der im normalen Seelen- leben wegen des gleichförmigen Fortschritts aller Entwicklimgen verborgener bleibt. Die höheren intellektuellen Prozesse sind gleich- zeitig Wirkungen und Ursachen der niederen, assoziativen. Einer- seits entstehen sie aus den Verflechtungen und Verdichtungen, die diese in der Seele eingehen und zurücklassen; anderseits aber regu- lieren sie, einmal entstanden, den Strom der Assoziationen und können demzufolge auch unter günstigen Umständen verloren gegangene von neuem erzeugen oder durch andere stellvertretende ersetzen.

Besonders naheliegend erscheint eine psychologische Deutung endlich bei jenen Erscheinungen, die eine regelmäßige Beziehung der Abnahme des Wortgedächtnisses zu der grammatischen Stellung der Wörter erkennen lassen. Was den entscheidenden Einfluß aus- übt, kann hier natürlich nicht die grammatische Kategorie als solche, sondern nur der psychologische Charakter des Wortes sein, der wiederum in dem Bewußtsein selbst direkt nur durch das begleitende Begriffs- gefühl sich verrät und hierdurch erst indirekt mit dem für den gram- matischen Wert des Wortes entscheidenden Vorstellungsinhalt des Begriffs zusammenhängt. Wenn die Reihenfolge, in der die Wörter vergessen werden, im allgemeinen von solchen mit konkreter sinnlicher Bedeutung zu denen mit abstrakterer fortschreitet, so erklärt sich aber dies aus der Wirksamkeit der Komplikationen. Je fester ein Wort mit einer bestimmten sinnlichen Vorstellung assoziiert ist, um so leichter kann es aus dem Bewußtsein verschwinden, da es nun ganz und gar durch diese Vorstellung ersetzt werden kann. So vergessen wir Eigennamen uns persönlich bekannter Personen am leichtesten, weil uns, wenn wir an solche Personen denken, zunächst das Bild des Menschen selbst im Bewußtsein steht. Den Eigennamen am nächsten kommen die konkreten Substantiva: auch der Tisch, der Stuhl, der

Psychologische Deutung der zentralen Sprachstörungen. 567

Baum sind mir sofort in ihrer gegenständlichen Beschaffenheit gegen- wärtig, und ich kann mir daher diese Gegenstände vorstellen, ohne mich ihrer Namen zu erinnern. Etwas weiter in der Richtung der Abstrakta entfernen sich schon die konkreteren Adjektiva, und noch mehr die konkreten Verba. Eigenschaften wie rot, blau, groß, klein usw. können an sehr vielen Objekten und darum in außerordentlich mannigfachen einzelnen Nuancen vorkommen, sie bedürfen also schon in höherem Maße des Wortes, um sie in ihrer allgemeinen Natur fest- zuhalten. Vollends die konkreten Verbalbegriffe können zu den ver- schiedensten sinnlichen Wahrnehmungsbildern gehören. Man über- zeugt sich Von ihrer abstrakteren Natur am leichtesten, wenn man sie mit entsprechenden Substantiven vergleicht: da ist ,, schneiden" abstrakter als „Schere", „schlagen" als „Hammer" usw. Hier kann daher schon viel weniger das Wort durch die Vorstellung selbst ver- drängt werden. Das steigert sich endlich noch bei den eigentlich ab- strakten Begriffen, welcher Wortkategorie sie angehören mögen, und besonders bei den Partikeln, bei denen meist das Wort allein den Be- griff vertritt, und wo daher dieser gar nicht gedacht werden kann, ohne daß das Wort sich einstellt. Dazu kommt bei den Inter- jektionen der Gefühlswert der Worte, und bei vielen Partikeln, wie bei den meisten Präpositionen und Konjunktionen, neben dem Einfluß des bei ihnen stark ausgeprägten ,, Begriffsgefühls", die Häufigkeit des Gebrauchs, die ihnen, den selbständigeren Bestand- teilen der Rede gegenüber, den Vorteil der größeren Einübung verschafft^).

Wie der Einfluß der Einübung bei diesen häufig gebrauchten Redeteilen neben andern mit der Bildmig der Wortkomplikationen

^) Auf den psychologischen Zusammenhang der bei der amnestischen Aphasie, ebenso wie bei dem gewöhnlichen Vergessen, beobachteten Bevorzugung bestimmter Wortklassen mit der Stellvertretung der Wörter durch assoziierte Vorstellungen habe ich schon vor langer Zeit verschiedentlich hingewiesen („Gehirn und Seele", Deutsche Rundschau, XXV, 1880, S. 6 ff., wieder abgedruckt Essays, 1885, S. 112 ff. Grundzüge der Physiol. Psychol.^ I, S. 223, 1880, I«, S. 372). Ohne diese Arbeiten zu kennen, hat auch B. Delbrück (Jenaische Zeitschr. für Naturwiss., XX, 1886) eine ähnhche Erklärung gegeben. Über die Natur des ,, Begriffsgefühls'* und des mit ihm verwandten „Bekanntheitsgefühls" vgl. Physiol. Psychol. III«, S. 336, 546 f.

568 Die Wortbildung.

zusammenliängenden Motiven sicli geltend macht, so spielt er übrigens noch sonst bei den Erscheinungen der Amnesie eine wichtige Rolle. So ist, wenn das zu einem Gregenstand gehörige Wort vergessen ist, damit keineswegs immer auch die umgekehrte Assoziation aufgehoben, sondern bei etwas geringeren Graden der Störung wird zu dem gehörten Wort in der Regel Vollkommen sicher der Begriff reproduziert. Dies hat nach den Assoziationsgesetzen seinen guten Grund darin, daß wir zu einem Wort, sobald uns überhaupt seine Bedeutung bekannt ist, immer die zugehörige Vorstellung, daß wir aber keineswegs immer zu einer Vorstellung das sie bezeichnende Wort assoziieren. Jene Asso- ziationsrichtung ist also die eingeübtere: sie ist gegenüber der ent- gegengesetzten ähnlich bevorzugt wie etwa die Assoziation der Buchstaben in der von a bis z gerichteten Reihenfolge vor der umgekehrten.

IL Psychologie der Wortvorstellungen. 1. Psychische Struktur der Wortvorstellungen.

Der psychologischen Untersuchung der Wortvorstellungen tritt als nächstes Problem die Frage nach der Zusammensetzung dieser besonderen Gattung von Vorstellungen gegenüber, an welche Frage sich unmittelbar die andere nach der Verbindungsweise ihrer Bestand- teile anschließt. Da es Vorzugsweise die zentralen Störungen der Wort- bildung sind, in denen sich die Sprachfunktion deutlich in ihre Ver- schiedenen Bestandteile zerlegt und zugleich die funktionellen Wechsel- beziehungen derselben erkennen läßt, so bilden jene auch für die Unter- suchung der psychischen Struktur der Wortvorstellungen die sicherste Grundlage.

Was sich nun bei den pathologischen Sprachstörungen im all- gemeinen sofort der psychologischen Betrachtung aufdrängt, das ist die Tatsache, daß das Wort ein sehr zusammengesetztes psy- chisches Gebilde ist, das zugleich durch diese seine komplexe Be- schaffenheit in hohem Grade befähigt wird, nach den verschiedensten Richtungen Assoziationsbeziehungen zu vermitteln, sowie sich selbst

Psychische Struktur der Wortvorstellungen. 569

durch die Verbindungen seiner Teile gegen störende Einwirkungen zu erhalten. So bilden neben den Sprachlauten vor allem die Artiku- lationsempfindungen einen wobl niemals ganz fehlenden, namentlich aber bei der Hemmung anderer Elemente sehr lebhaft hervortreten- den Bestandteil. Daneben können dann noch die gewohnheitsmäßig gebrauchten Schriftzeichen des Wortbildes in die Verbindung ein- geben, und an diese optischen Elemente endlich die Artikulations- empfindungen der Tastorgane geknüpft sein, welche die Schreib- bewegungen begleiten. Sind gleich diese optischen und graphischen Bestandteile in der besonderen Ausprägung, in der wir sie in unserem Bewußtsein vorfinden, selbstverständlich ein spezifisches Produkt der Kultur, das schon bei den des Lesens wenig gewohnten Mitgliedern der gleichen Kulturgesellschaft zurücktritt, so haben wir doch allen Grund anzunehmen, daß es selbst in dem Bewußtsein des Wilden an Äquivalenten derselben nicht fehlt. Denn je geringer die Fähig- keit wird, das Wort in Lautzeichen graphisch zu fixieren, um so leb- hafter pflegt statt dessen die Rede von Gebärden begleitet zu sein, in deren pantomimischen Bestandteilen die Assoziationen unserer Schriftsymbole in entgegengesetzter Richtung wiederkehren , ent- gegengesetzt deshalb, weil bei ihnen die Bewegungsempfindung das Primäre, das Gesichtsbild der Bewegung aber das Sekundäre ist, ganz wie bei der eigenen Hervorbringung der Sprachlaute, wo sich eben- falls erst beim Nachsprechen gehörter Laute die Ordnung umkehrt. In dieser erweiterten Bedeutung wird man demnach in jenen panto- mimischen Bestandteilen wieder annähernd regelmäßige, in ihrer be- sonderen Gestaltung und in ihrer Intensität freilich weit Veränder- lichere Elemente der Wortkomplikationen sehen dürfen. Nennen wir diese wechselnderen Elemente den graphischen, die beiden kon- stanteren dagegen den Laut- und den Begriffsbestandteil des Wortes, und deuten wir diese drei Glieder durch die Symbole Z, L und B an, so sind hiernach zunächst L und Z aus zwei Untergliedern zusammengesetzt, L aus dem akustischen a der Lautvorstellung und dem motorischen m der Artikulationsempfindung, Z aus dem optischen o des Wortzeichens und dem motorischen m' der zeichnenden Bewegungs- empfindung. Nach den allgemeinen Eigenschaften der Begriffsvor- stellungen ist aber B ebenfalls aus zwei Bestandteilen gebildet: aus

570 I^ie Wortbildung.

der objektiven Vorstellung v und dem diese begleitenden Gefühls- ton g. Die vollständige Wortvorstellung erscheint so als eine drei- teilige Komplikation mit je binärer Zusammensetzung ihrer Glieder:

a m o m v g.

Innerhalb dieser Komplikation müssen wir uns nun im allgemeinen jedes Glied mit jedem andern verbimden denken, so daß es teils direkt teils indirekt als Assoziationshilfe wirksam werden kann. Ferner kann jeder Bestandteil entweder aller seiner Verbindungen oder bloß einzelner verlustig gehen; und endlich kann eine Verbindung total aufgehoben oder bloß gestört werden, in welchem letzteren, sehr häufigen Falle sich eben der Ausfall durch Assoziationshilfen, die durch Einübung allmählich wirksamer werden, ausgleichen kamu

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Fig, 38. Schema der sprachlichen Assoziationen.

Dabei lehren aber schon die gewöhnlichen Erfahrungen und zeigen noch vollständiger die Sprachstörungen, daß die Festigkeit dieser einzelneli Assoziationen eine erheblich verschiedene ist, indem sie teils von der normalen Übung, teils, bei vorhandenem Ausfall, von der kompensatorischen Energie der Hilfsassoziationen abhängt. Ab- gesehen von der hierdurch verursachten Veränderlichkeit der Ver- bindungen dürfte das folgende Schema die regelmäßigeren Erschei- nungen mit einiger Vollständigkeit erläutern (Fig. 38). In. ihm sind die zwischen den einzelnen Gliedern der Wortvorstellung bestehenden Assoziationen durch verbindende Linien dargestellt. Die Dicke der- selben versinnlicht die Festigkeit der Assoziation, die daneben an- gebrachten Pfeile geben deren Richtungen an. Die rechts stehenden

Psychische Struktur der Wortvorstellungeii. 571

Symbole v g bedeuten irgendeine andere Begriffsvorstellung, die eventuell mit v g assoziiert ist: sie soll die gelegentlich vorkommen- den Einwirkungen äußerer Assoziationen, namentlich auch solcher mit Erinnerungsbildern, veranschaulichen, wobei zu beachten ist, daß ein Erinnerungsbild nach allgemeiner psychologischer Erfahrung gegenüber dem Eindruck, auf den es zurückbezogen wird, ebenfalls eine intensiv wie qualitativ abweichende Vorstellmig ist.

Als die festesten Verbindungen treten uns in diesem Schema, wenn wir durch die Stellung der Buchstaben die Richtung der Ver- bindungen andeuten, am, m a, ga und mm entgegen; die zu der letzteren entgegengesetzte Assoziationsrichtung m m' ist dagegen sehr schwach: wir können nicht leicht graphische Wortsymbole her- vorbringen, ohne sie sofort mit Bewegungen der Sprachorgane zu assoziieren, während wir leicht Worte artikulieren, ohne sie mit gra- phischen oder Gebärdezeichen zu verbinden. Sehr innig sind auch die Verbindungen a g und g a : das eine Vorstellung begleitende Be- griff sgefühl macht sich deutlich auch dann noch geltend, wenn der Vorstellungsbestandteil wirkungslos geworden ist, und ebenso er- weckt der Laut ein Begriffsgefühl, wenn er die zu ihm gehörige Vor- stellung nicht mehr zu erregen Vermag. Etwas schwächer sind die Verbindungen a v und o v, und gegenüber ihnen stehen die umgekehrten Richtungen v a und v o, sowie diejenigen zwischen o und den beiden Formen der Bewegungsempfindungen m' und m endlich 7n m' (im Gegensatz zu der sehr festen Assoziation m' m) noch weiter zurück; zugleich ist die Verbindung o m in der Regel eine einseitige : wir asso- ziieren zu Schriftbildern Artikulationsbewegungen, nicht oder doch nur unter besonders günstigen Bedingungen der Übung umgekehrt jene zu diesen, während die graphischen Empfindungen {tn) ebenso- wohl durch Wortbilder erweckt werden wie selbst solche anregen können (o m' und m' o). Einen durch die Vielheit der Verknüpfungen begünstigten Fall bildet schließlich die Assoziation o a (optisches Wortbild und Laut) : ist aucli die direkte Verbindung o a relativ schwach, so wird sie doch durch die Zwischenglieder o m und m a wesentlich unterstützt; daher denn auch das Schriftzeichen kaum anders als unter gleichzeitigen Artikulationsbewegungen die Laut- bildung anregt.

572 Die Wortbildung.

Hinsichtlich der einzelnen Formen der Sprachstörungen ergibt sich aus diesem Assoziationsschema folgendes: 1) Aufhebung der Ver- bindung a m ist die Grundlage der gewöhnlichen „ataktischen Aphasie" : diese Störung kann erfahrungsgemäß bestehen, ohne daß die andern Assoziationen wesentlich beeinträchtigt sind. 2) Aufhebung der Asso- ziation V a bewirkt die Symptome der gewöhnlichen „amnestischen Aphasie". Da die Verbindungen v a und a m beim Sprechen fort- während zu koordinierter Funktion eingeübt werden, so leidet mit V a in der Regel auch a m : mit amnestischer ist ataktische Aphasie in irgendeinem Grade verbunden. 3) Auf analogen, aber von den vorigen relativ unabhängigen Assoziationsunter- brechungen 0 m oder v o und o m beruhen die Symptome der ,,Agraphie" sowie der ,,Alexie", bei welcher letzteren ebenfalls Agraphie als Folgestörung zu bestehen pflegt. 4) Motorische Aphasie kann ohne Schriftblindheit existieren, diese aber pflegt umgekehrt mit jener verbunden zu sein; dies wird durch die ein- seitige Verbindung o m ausgedrückt, die der eingeübten Assoziation von Sehen und Artikulieren beim Lesen entspricht. Auf der Ein- übung dieser Verbindung sowie der an sich schwächeren o m beruht auch die pädagogisch wichtige Tatsache, daß Schreibbewegungen die Worte exakter wiedergeben, wenn Laut und Schriftbild gleich- zeitig, als wenn bloß eines von beiden einwirkt; im letzteren Fall sind eben bloß Assoziationen a m\ m m oder o m, im ersteren sind beide gleichzeitig wirksam i). 5) Erhaltung der Assoziation am beim Hin- wegfallen aller andern Verbindungen begründet das Phänomen der „Echosprache". Die nur durch besondere pathologische Ursachen zu störende Festigkeit dieser Assoziation entspricht dem hohen Grade der Einübung in dieser Richtung. 6) Eine unter beschränkteren Übungs- bedingungen stehende, dann aber nicht minder feste Verbindung ist m m. Ihre Erhaltung sowie die ihrer Ergänzungen v o, om und ihrer Fortsetzung m a kann beim Ausfall der gewöhnlichen Verbin- dung V a als Assoziationshilfe funktionieren : in diesem Fall erweckt

1) Vgl. W. A. Lay, Führer durch den Rechtschreibunterricht, 1897, S. 170. H. Schiller, Studien und Versuche zur Erlernung der Orthographie, S. 54 ff. Abhandl. zur pädagog. Psychol. von Schiller und Ziehen, II, 1898.

Psychische Struktur der Wortvorstellungen. 573

die grapMsclie Bewegung zuerst die Mitbewegung der Artikulations- organe, und diese die akustische Wortvorstellung (Fall Grashey). 7) Die an sich schwächere umgekehrte Assoziation m m kann sich, wenn Unterbrechungen derselben eintreten, in analogen Störungen der Funktion des Schreibens bemerklich machen: ataktische Aphasie ist daher zuweilen mit völliger Agraphie oder, wenn die Assoziationen o m und a m kompensierend eingreifen, mindestens mit Schreib- störungen verbunden; ebenso werden bei Stotternden nicht selten die Artikulationsstörungen auf die graphischen Bewegungen über- tragen. 8) Für die Assoziationen x) a und v o können Assoziationen mit ähnlichen Vorstellungen, v g a und v g o, zu welchen letzteren auch die bloßen Erinnerungsbilder der direkt durch äußere Eindrücke erweckten Vorstellung v gezählt werden müssen, nur mangelhaft Ersatz leisten, da diese Assoziationen im allgemeinen die geringste Wirkungsfähigkeit besitzen. Umgekehrt kann aber das durch eine erinnerte Vorstellung nicht ausgelöste Wort durch die Assoziation mit einem direkten Sinneseindruck reproduziert werden. 9) Die Asso- ziation in der Richtung a v ist erheblich fester als die umgekehrte va, entsprechend der konstanteren Übung: ein bekanntes Wort kann nicht gehört oder gesprochen werden, ohne die Vorstellung des Gegen- standes zu erwecken, während diese im Bewußtsein eventuell für sich allein vorkommen kann. Gegenüber der verhältnismäßig schwachen Assoziation v a ist jedoch die von der Gefühlskomponente der Vor- stellung ausgehende Assoziation g a relativ stark. Dies erklärt einer- seits die bei paraphatischen Zuständen Vorkommenden Entgleisungen innerhalb der gleichen, durch das Begriffsgefühl zusammenhängen- den Wortkategorie, anderseits. Verbunden mit den allgemeinen Ge- setzen der Übung und Mitübung, die Erscheinungen des progressiven Schwundes der Wortkategorien bei fortschreitender Amnesie, indem dabei im allgemeinen die Gefühlskomponente um so mehr hervor- tritt, je unbestimmter die Vorstellungskomponente ist, bis endlich die letztere durch das Wort selbst ersetzt wird: daher die Interjektionen einerseits und die abstrakten Partikeln anderseits am längsten be- harren.

Lassen sich hiernach die wesentlichen Störungen der Sprache ohne Schwierigkeit aus den allgemeinen Assoziationsbedingungen

574 Die Wortbildung.

ableiten, so ersieht man docli ohne weiteres, daß es unmöglich sein würde, etwa das oben gegebene Assoziationsschema in ein Schema von Zentren und Leitungsbahnen umgewandelt zu denken. Einem solchen Versuch steht schon die Tatsache im Wege, daß die hier dar- gestellten Verhältnisse durchweg als Produkte einer assoziativen Übung zu deuten sind, die individuell erheblich variieren kann. Außerdem weisen aber die mannigfaltigen Gradabstufungen der Störungen sowie nicht minder die Erscheinungen der Korrelation und der funktionellen Aushilfe überall auf verwickelte Ver- bindungen elementarer Funktionen hin, die noch dazu fortwähren- den Veränderungen durch die Ausübung der Funktionen unter- worfen sind.

Diese Abhängigkeit der Wortkomplikation von der Funktion selbst sowie von den Assoziationshilfen, die durch den Ausfall be- stimmter Funktionsrichtungen entstehen und durch Einübung be- festigt werden, bringt es nun natürlich mit sich, daß die einzelnen Verbindungen, aus denen sich eine vollständige Wortvorstellung zu- sammensetzt, von Fall zu Fall wechselnde Verhältnisse darbieten. Auch wird man infolgedessen die in dem obigen Schema ausgedrückten Eigenschaften der vollständigen Wortkomplikation nur mit der Ein- schränkung auf das normale Bewußtsein übertragen dürfen, daß solche Assoziationen, zu deren besonderer Einübung in den individuellen Lebensverhältnissen kein Anlaß vorliegt, latent bleiben oder nur unter speziellen, sie begünstigenden Bedingungen gelegentlich aktuell werden.

Außerdem steht das Wort, wie jede andere Vorstellung, infolge der Assoziationsbeziehungen zu früheren Erlebnissen in jedem indi- viduellen Bewußtsein in bestimmten, wiederum nach Zeitbedingungen wechselnden Verbindungen, die, sobald sie wirksam werden, einen verändernden Einfluß auf die Wortvorstellung ausüben können. Dieser Einfluß macht sich bei der Wortbildung, ebenso wie bei der Ent- stehung anderer Vorstellungen, besonders deutlich dann geltend, wenn von außen einwirkende Sinnesreize die Vorstellung er- wecken. Denn bei der Einwirkung eines Sinneseindrucks sind wir im allgemeinen leicht in den Stand gesetzt, diejenigen Bestandteile der Vorstellung, die unmittelbar durch den Eindruck erregt werden

Tachistoskopische Methode. 575

von solchen zu scheiden, die nicht auf jenen zurückzuführen sind, die sich aber aus reproduktiven Elementen ableiten lassen. Hier fordern daher zahlreiche auffallende Beispiele einer Inkongruenz von Vorstellung und Eindruck von selbst zu Beobachtungen heraus, die darauf gerichtet sind, diese bei jeder Vorstellungsbildung wirksamen Assoziationen zu analysieren.

2. Tachistoskopische Methode.

Da die vollständige Wortvorstellung eine Komplikation aus jenen drei bzw. sechs Gliedern ist, die wir oben symbolisch mit a m o m V g bezeichnet haben, so steht es frei, welchen der beiden auf äußere Eindrücke zurückgehenden Bestandteile a und o dieser Komplikation man zur willkürlichen Erregung einer Wortvorstellung bevorzugt. Doch ist hier natürlich derjenige Eindruck der geeignetste, der am leichtesten die sämtlichen andern Bestandteile wachruft: dies ist aber vermöge der oben entwickelten Assoziationsbedingungen bei solchen Menschen, denen die akustischen und optischen Elemente der Wortvorstellungen gleich geläufig sind, das Schriftbild, nicht der Schalleindruck. Allerdings steht in einer Beziehung der Gesichts- sinn hinter dem Gehörssinn zurück. Bei diesem gibt es keine Gebiete, die Von viel geringerer Unterscheidungsschärfe sind, wie beim Auge die peripheren im Verhältnis zu den zentralen Teilen des Sehfeldes. Doch kommt dieser Nachteil im vorliegenden Falle nicht in Betracht. Denn derjenige Teil der Netzhaut, mit dem wir wegen der dichteren Anhäufung der Zapfenelemente deutlich genug sehen, um Wörter vollkommen simultan zu lesen, ist groß genug, um bei geeigneter Versuchseinrichtung den Umfang der Objekte, die wir gleichzeitig mit der Aufmerksamkeit erfassen können, noch erheblich zu über- treffen. Während nämlich genau in der Mitte der Netzhaut zwei Punkte unter einem Gesichtswinkel von 60 90 Winkelsekunden oder, in Objektgrößen ausgedrückt, bei 1 Millimeter Abstand von- einander in 2% 3^2 Meter Entfernung vom Sehenden noch deut- lich bei normaler Sehschärfe unterschieden werden, ist diese Raum- scTiwelle zwar 2% Grade von der Netzhautmitte schon auf etwa 3 Winkelminuten, also auf das Zwei- bis Dreifache jenes Schwellen-

576

Die Wortbildung.

Werts im Zentrum, gestiegen. Diese Größe ist aber immer nocli klein genug, um z. B. das Lesen einer größeren Drucksclirift in angemessener Nälie möglicli zu machen. Erst jenseits dieser Grenze sinkt die Unterscheidungsscliärfe selir rasch, wie dies die Fig. 39 ver- anschaulicht. In ihr bedeutet die gerade Linie n n einen durch

das Sehzentrum c ge- legten,^ horizontal auf- gerollt gedachten Netz- hautdurchschnitt. Die senkrechten Ordina- ten versinnlichen den Grad der Sehschärfe an jedem Punkt. Die Kurve, die diese Ordi- naten verbindet, fällt demnach im ganzen sehr rasch von ihrem der Netzhautmitte entsprechenden Maxi- mum, so jedoch, daß in einem etwa 4 ^5^ umfassenden zentra- len Gebiet a h die Sehschärfe zureichend groß für die Unter- scheidung kleinerer Objekte von der Größe unserer Schriftsymbo- le bleibt. Diese ganze Region a h bezeichnet man daher gewöhnlich als die des zentralen oder direkten, die übrige Netzhaut von a bis n und von h bis n als die des peripheren oder indirekten Sehens. In die letztere fällt, als ein Gebiet von etwa 6^ im Durch- messer auf der Nasenseite der Netzhaut der blinde Fleck, d. h. diejenige Stelle, die, dem Eintritt des Sehnerven entsprechend, wegen

Scliläfenseite

Ifasenseitc

-Tl'

1 . 1 1 \ 1 I I -i-

60 50 W 30 20 10 " C^ 70 20 30 W SO 60

Fig. 39. Graphische Darstellung der Sehschärfe im direkten und indirekten Sehen.

Tachistoskopische Methode. 577

ihres Mangels an Stäbchen- und Zapfenelementen ganz unempfindlich ist: sie ist in Fig. 39 durch den plötzlichen steilen Abfall der Ordinaten auf Null angedeutet^). Hiernach ist die Region des zentralen Sehens groß genug, daß auf ihr leicht 6 8 Wörter von mäßiger Länge, die man über- und nebeneinander auf einem in richtiger Sehweite befind- lichen Blatt anbringt, sämtlich gelesen werden können, wenn man eine bestimmte auf dem Blatt angebrachte Marke fixiert. Dabei ist es natürlich nur möglich, die einzelnen Wörter sukzessiv zu lesen, nidem die Aufmerksamkeit von einem Worte zum andern wandert. Zugleich beobachtet man, daß, während ein Wort gelesen wird, die übrigen Wörter undeutlicher gegenwärtig sind. Es treten aus ihnen zuweilen einige Buchstaben hervor, aber die nicht apperzipierten Wortvorstellungen selbst bleiben dunkel: sie werden perzipiert, nicht apperzipiert. Übrigens lassen auch sie in ihrer Deutlichkeit Grade erkennen, die dadurch bedingt zu sein scheinen, daß es im Zu- stande der Perzeption noch Abstufungen der Klarheit gibt. Diese Abstufungen sind aber keineswegs bloß durch die Lage des Bildes auf den mehr oder minder zentralen Sehregionen, sondern sie sind bei diesen Beobachtungen, wo überhaupt nur ein beschränkter zentraler Teil des Sehfeldes verwendet wird, fast ausschließlich von dem will- kürlichen Wechsel der Apperzeption abhängig. Wenn man z. B. die Mitte der Tafel fixierend ein seitlich gelegenes Wort liest, so hat man von dem zentral gesehenen nur eine dunkle Vorstellung. Bei un- gezwungener Aufnahme der Wortbilder pflegen wir jedoch infolge der fest eingeübten Beziehung zwischen Apperzeption und Fixation der Objekte regelmäßig das gelesene Wort auch in das Zentrum der Netzhaut zu bringen.

Aus diesen psychophysischen Bedingungen und aus den sonstigen durch physiologische Untersuchungen bekannten Eigentümlich- keiten der Netzhauterregung ergeben sich nun die für die experimen- telle Untersuchung der Entstehung von Wortvorstellungen geeigneten Methoden ohne Schwierigkeit. Um den im Augenblick der Einwirkung der Wortbilder eintretenden Apperzeptionsvorgang von den in der

1) Vgl. A. E. Fick, Archiv für Ophthalmologie, Bd. 44, 1898, S. 349. N. Poschoga, Psychol. Stud., Bd. 6, 1910, S. 384 fi

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. '''

578

Die Wortbildung.

Zeit nachfolgenden, durcli Wanderungen der Aufmerksamkeit und Augenbewegungen vermittelten Auffassungen zu sondern, bedient

man sich am besten einer Vorrichtung, die es gestattet, das aufzu- nehmende Wortbild ge- rade so lange, aber auch nicht länger einwirken zu lassen, als zu einer einmaligen Apperzep- tion erforderlich ist. Die Zeit der Einwir- kung darf daher weder unter der Grenze der hierzu überhaupt not- wendigen Zeit liegen, noch darf sie über die Grenze gehen, wo eine Wanderung der Auf- merksamkeit eintreten könnte. Ferner muß das ganze Wortbild oder die Reihe der Wortbilder, die man einwirken läßt, dem Bewußtsein simultan, nicht in einer merk- baren Aufeinanderfolge gegeben werden. Diese Anforderungen erfüllt das in Fig. 40 abgebil- dete Fall-Tachistoskop. Es besteht im wesent- lichen aus einem auf einem Fußbrett senk-

^. ,^ T. ,1 rt. , . . , recht stehenden starken

Flg. 40. Fall-Tachistoskop.

Tachistoskopische Methode. 579

Messingrahmen von 1 Meter Höhe, zwischen dessen vertikalen Säulen sich in zwei Rinnen möglichst reibungslos ein Schlitten S von geschwärztem Eisenblech bewegt. In diesem als Fallschirm dienen- den Blech befindet sich eine rechteckige, der Exposition des Objekts bestimmte Öffnung, deren Höhe durch einen Schieber von annähernd 10 cm Querdurchmesser beliebig von Null an auf etwa 50 cm verstellt werden kann. Vor Beginn jedes einzelnen Versuchs ist der Fallschirm in die Höhe geschoben, so daß der oben an ihm be- findliche eiserne Anker A von den zwei kleinen Elektromagneten E festgehalten wird. Das Sehobjekt, welches in der Figur aus einem auf einem Karton gedruckten Wort (Empfindung) besteht, und welches zwischen zwei dicht hinter den Schirmvorrichtungen befindlichen Federn festgehalten wird, ist in jener Ausgangslage durch ein eben- falls geschwärztes Schutzblech B verdeckt, das in seiner Mitte, genau der Mitte des Sehobjekts entsprechend, eine kleine weiße Fixiermarke hat, und das ebenfalls durch Federn, aber nur lose, festgehalten wird. Im Augenblick, wo der Schirm S beim Herabfallen auf den oberen Rand von B trifft, wird dieses daher in ein unten befindliches Fangschild F geschoben, das sich dicht Vor den zur Aufnahme des Schirmes S bestimmten Fangfedern C befindet. In Fig. 40 ist der Augenblick dargestellt, wo der Schirm S so weit gefallen ist, daß seine Öffnung 0 gerade vor dem Sehobjekt steht und das Schutzblech B im Herabgleiten begriffen ist. Weiterhin ist noch, um die Geschwindigkeit der Fallbewegung früher oder später, namentlich aber gegen Ende der Fallzeit vermindern zu können, mit dem Schirm S eine Atwoodsche Einrichtung ver- bunden. Der an S befestigte Faden / ist nämlich über ein mög- lichst reibungslos zwischen Spitzen laufendes Rad R geschlungen, um auf der andern Seite in einem kleinen Gewichte p zu endigen. Dieses hebt, sobald es den an einer Skala verschiebbaren und fest- zuschraubenden Ring t passiert, ein auf diesem befindliches zweites Gewicht q in die Höhe. Durch geeignete Variation der Öffnung 0 und der Gewichte f und q läßt sich nun leicht die Zeit der Exposition des Sehobjekts zwischen 0,005 und 0,050 Sek. variieren. Zur Beobach- tung dient ein schwach oder gar nicht vergrößerndes astronomisches Femrohr mit Fadenkreuz, welches letztere man bei Beginn des Ver-

37*

580 Die Wortbildung.

suchs auf den Fixierpunkt des Scliirmes B einstellt. Wegen der durch das Femrohr erzeugten Umkehrung der Bilder müssen auch die Seh- objekte, wie die Figur zeigt, in umgekehrter Stellung eingesetzt wer- den. Die Geschwindigkeit der Bewegung wählt man am zweck- mäßigsten so, daß die Sehobjekte etwa während einer Zeit von 0,01 Sek. sichtbar sind. Bei dieser Geschwindigkeit kann man sicher sein, daß ebenso jede Bewegung des Auges wie jedes Wan- dern der Aufmerksamkeit unmöglich ist^). Wählt man die Zeit des Eindrucks wesentlich kürzer, so ist das Bild zu flüchtig, um überhaupt ein Erkennen irgendwelcher Teile des Gegenstandes zu ermöglichen. Wählt man sie länger, so erhält man nicht mehr einen annähernd momentanen, sondern einen länger dauernden Eindruck, und die Bedingungen gehen daher in die des gewöhnlichen Lesens über 2).

3. Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildern.

Bietet man in der angegebenen Weise im Tachistoskop die op- tischen Wortbilder der Sprache und ihre Bestandteile, die Buch- staben, in den durch unsere Lesegewohnheiten bevorzugten Formen dem Auge, so beobachtet man die folgenden, zuerst von Cattell be- schriebenen Erscheinungen. Bei den ersten Versuchen, die ein Beobach- ter ausführt, vermag er in der Regel nur Fragmente eines Wortes auf- zufassen. Ist aber die geeignete Versuchsübung eingetreten, so apper- zipiert er ein kürzeres Wort nicht selten ohne Schwierigkeit mit einem Mal entweder schon bei der ersten Darbietung oder bei mehrmaliger

^) Diese Zeitbestimmung gilt für normale Sehschärfe. Ist diese vermindert, so ist es notwendig, mit der Expositionszeit auf 0,015 0,020" zu steigen.

*) Wahrscheinlich ist dieser Grenzfall bereits erreicht in den von B. Erd- mann und R. Dodge ausgeführten tachistoskopischen Versuchen (Psychologische Untersuchungen über das Lesen, 1889, S. 94 ff.). Die Verff. bedienten sich näm- lich erstens künstlicher Lichtquellen, nicht des wegen seiner günstigen Adaptions- verhältnisse und der relativ kürzesten Dauer der Nachbilder unbedingt zu bevor- zugenden Tageslichts; und sie wählten durchgängig die sehr lange Einwirkungs- zeit von 0,1'*. Es ist daher begreif hch, daß ihnen die meisten der unten zu er- wähnenden Assimilationserscheinungen entgangen sind.

Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbildem. 581

Wiederholung des Eindrucks. Dabei spielt jedoch der Umstand, ob das Wort mehr oder minder geläufig ist, eine sehr große Rolle. Während ein geläufiges Wort leicht beim ersten Male gelesen wird, bedarf ein vmgewohntes oder unbekanntes stets einer öfteren Wiederholung. Noch mehr gilt dies von sinnlosen Buchstabenkombinationen. Richtet man endlich den Versuch so ein, daß man bei einem gegebenen Objekt die Einwirkungszeit so lange von Null an zunehmen läßt, bis dasselbe erkannt wird, so ergibt sich, daß die kürzeste Zeit, die nötig ist, für einen Buchstaben geläufiger Druckschrift mindestens ebenso lange dauert wie für ein bekanntes kürzeres Wort, ja daß das letztere in der Regel leichter und fehlerloser gelesen wird als der erste. Substi- tuiert man ferner in einem Wort einzelne falsche den richtigen Buch- staben, so wird der Fehler nicht nur sehr häufig nicht bemerkt, son- dern man hat sogar den Eindruck, die nicht existierenden, durch an- dere ersetzten Buchstaben ebenso deutlich zu sehen wie die wirklich vorhandenen^).

Diese allgemeinen Ergebnisse gewinnen nun weiterhin in den im Verlaufe der Versuche zu machenden Beobachtungen über die Art, wie das zuerst imvoUkommen gesehene Bild allmählich in ein deut- liches übergeht, eine wichtige Ergänzung^). Wird ein zwischen den geläufigsten und den ganz ungewohnten Wortbildern imgefähr in der Mitte stehendes Wort dargeboten, so bemerkt in der Regel auch der geübte Beobachter beim ersten Versuch nur vereinzelte Teile des Bildes, etwa 3—4 Buchstaben, deutlich; von den übrigen hat er den Eindruck, daß irgendwelche Buchstaben vorhanden seien, er vermag sie aber nicht zu erkennen. Von einem Worte wie z. B. Aprikose er- hält man, wenn wir die undeutlich perzipierten Teile des Bildes durch Punktierung andeuten, etwa ein Bild wie Äp . . ä; . ., Ap , ik . . ., Ap , , k . , e u. dgl., wobei sich zumeist die durch besondere Merkmale ausgezeichneten Buchstaben, z. B. die großen Anfangsbuchstaben,

1) J. M. Cattell, Philos. Stud., Bd. 3, 1886, S. 95 ff. Vgl. bes. S. 111 f., 123 f.

2) Das Folgende hau^sächlich nach den Versuchen von Jul. Zeitler, Tachi- stoskopische Untersuchungen über das Lesen, Phil. Studien, Bd. 16, 1900, S. 380 ff. Physiol PsychoL, III«, S. 573 ff.

582 Die Wortbildung.

die ober- und un terzeiligen Typen, vorzugsweise zur Apperzeption drängen. Wiederholt man dann den Versucli, so treten ein zweites Mal nocli weitere Elemente hinzu, oder es wird auch sofort das ganze Wort, wie beim gewöhnlichen Lesen, als ein simultan gegebenes Ganzes wahrgenommen. Jedenfalls tritt dies aber bei einer der folgenden Darbietungen ein. Wählt man dagegen oft gebrauchte "Wörter, so kann es sich, namentlich bei kürzeren Wortbildungen, leicht ereignen, daß sofort bei der ersten Ein- wirkung das ganze Wort vollkommen klar gesehen wird. Das nämliche kann sogar bei längeren Wörtern eintreten, falls sie nur sehr geläufig sind, etwa mit dem gewohnten Vorstellungs- kreis des Beobachters oder den Gegenständen der unmittelbaren Beschäftigung in naher Beziehung stehen, wie z. B. ,, Aufmerk- samkeit", ,, Bewußtseinszustand'* u. dgl. Wendet man umgekehrt ganz unbekannte oder sinnlose Buchstabenverbindungen an, so ist die Grenze des überhaupt erreichbaren Apperzeptionsumfangs weit enger gesteckt, und es kommen überaus leicht Verlesungen vor, namentlich in der Weise, daß irgendein bekannteres Wort, das einige Buchstaben mit dem unbekannten gemein hat, diesem substituiert wird. Dabei steht nicht nur bei kürzeren Wörtern das falsch gelesene genau ebenso deutlich vor dem Bewußtsein und also scheinbar vor dem äußeren Auge wie das richtig gelesene, sondern dies gilt bei größeren Wortbildern auch von solchen Teilen des Wortes, die jen- seits der Region des direkten Sehens liegen: hier erweitert sich also das Gebiet der scheinbar deutlichen Wahrnehmung über die durch die Struktur der Netzhaut gesetzten Grenzen des Sehens hinaus. Besonders leicht werden aber Verlesungen hervorgerufen, wenn man nur einzelne willkürliche Abweichungen von einem geläufigen Wort- ganzen einführt: dann ist die Substitution richtiger für falsche Sym- bole die Regel, falls man nicht gerade solche Buchstaben vertauscht, die eine hervortretende Rolle als Merkmale des Wortes spielen. Eine beachtenswerte, namentlich bei bekannteren Wörtern zuweilen auf- tretende Erscheinung ist endlich noch die, daß man bei der ersten Einwirkung nur einzelne Zeichen deutlich sieht, die übrigen dunkel, hierauf aber einen Moment nachher, wenn das Sehobjekt selbst schon verdeckt ist, plötzlich das Wort vor dem

Erscheinungen bei kurz dauernder Einwirkung von Wortbiidem. 583

Bewußtsein steht. Auch in diesem Fall erscheint es jedoch nicht wie ein bloßes Erinnerungsbild, sondern deutlich wie ein wirklicher Eindruck.

Diese Beobachtungen zeigen, daß es bei irgendwie zusammen- gesetzteren Sehobjekten niemals der äußere Eindruck allein ist, den wir apperzipieren, sondern daß dieser stets mit reproduk- tiven Elementen zusammenwirkt, die sich mit ihm zu einer einheitlichen, in ihren direkten und reproduktiven Teilen gar nicht zu unterscheidenden Wort vor Stellung verbinden. Was dem Eindruck entnommen wird, das sind zunächst gewisse domi- nierende Elemente, die ihre Bevorzugung meist äußeren Eigen- schaften, zuweilen aber auch subjektiven Bedingungen, sei es ihrer größeren Geläufigkeit, sei es der zufälligen Richtung der Aufmerksamkeit, verdanken. Diese dominierenden Elemente wer- den deutlich apperzipiert, alle übrigen Teile des Gegenstandes werden nur dunkel perzipiert. Augenscheinlich gewährt jedoch diesen letzteren die Gruppe der dominierenden Elemente eine wirksame Assoziationshilfe: sie verbinden sich daher nun mit reproduktiven, die durch jene dominierenden Teile in das Be- wußtsein gehoben werden. So ist die endlich zustande kommende Wortvorstellung das Produkt einer Assimilation der dar- gebotenen Eindrücke durch die disponibeln Reproduk- tionselemente, wobei aber, wie besonders die Erscheinungen des Verlesens zeigen, ebenso die direkten auf die reproduktiven Elemente wie diese auf jene einwirken: die direkten erwecken die reproduktiven, und diese verdrängen die ihnen ungleichen Bestandteile des Emp- findungseindrucks, deren Stellen sie einnehmen. Jede Wortapper- zeption erfolgt also immer erst auf Grund einer assoziativen Wechsel- wirkung direkter und reproduktiver Elemente, und je nach den be- sonderen Bedingungen können bald jene, bald diese in dem entstehen- den Endprodukt überwiegen. Dieser Vorgang der Assimilation und Apperzeption erfolgt ferner im allgemeinen simultan, d. h. in einer für uns un wahrnehmbaren Zeitfolge. Doch kann in besonderen Fällen, wo die Assimilationsprozesse ungewöhnliche Hemmungen erfahren, für einzelne Teile des Vorgangs eine Zeitfolge bemerkbar werden.

584 Die Wortbildung.

4. Das Wort als simultane Vorstellung.

Abgesehen von diesen durch besondere Verhältnisse herbei- geführten Hemmungen ergibt sich aus den obigen Beobachtungen, daß ein bekanntes Wort in der Regel unmittelbar als ein einheit- liches Ganzes simultan apperzipiert, nicht erst aus seinen Bestandteilen, den Buchstaben oder Lauten, in unserer Vorstellung zusammengefügt wird. Vielmehr fassen wir diese Bestandteile zumeist überhaupt nicht als Teile, sondern als Merkmale des Ganzen auf. Nur wenn das Wort ein größeres, selbst wieder aus mehreren Wörtern zusammengesetztes Gebilde ist, das die Grenzen des Umfangs der Apperzeption überschreitet, wird es Gegenstand einer sukzessiven Apperzeption. Immer ist aber dabei das einzeln Apperzipierte ein bis zu einem gewissen Grade selbständiges Wortgebilde, das für sich schon Assoziationen einzugehen vermag. Ein ähnliches Verhältnis, %vie der einzelne Laut oder sein optisches Zeichen zum Wort, zeigt dann wiederum das Wort zum Satze. Auch der Satz kann, falls er nicht durch seinen Umfang die Grenzen der simultanen Apperzeption überschreitet, als ein Ganzes aufgefaßt werden. Aber dieses um- fassendere Ganze hat einen loseren Zusammenhang als das einzeln aufgefaßte Wort, und der Umfang, um den die Verbindung der Wörter zum Satze das Gebiet der simultanen Apperzeption erweitert, ist daher ein relativ kleiner.

Es könnte scheinen, als wenn mit diesen Ergebnissen der Ver- suche über momentane Apperzeption zwei bekannte Tatsachen im Widerspruch stünden: erstens, daß der Lauteindruck eines Wortes in der Regel, namentlich bei allen mehrsilbigen Wörtern, kein simul- taner, sondern ein sukzessiver ist; und zweitens, daß wir zur Hervor- bringung optischer Wortbilder, nicht bloß bei den Formen der Laut- schrift, sondern auch bei der primitiveren Bilderschrift, einer Suk- zession Von Bewegungen bedürfen, da ja das Bild, ebenso wie die ihm verwandte zeichnende Gebärde, nur allmählich entstehen kann. Auf diesen beiden Tatsachen beruht denn wohl auch die verbreitete Meinung, Sprechen wie Hören, Schreiben wie Lesen seien für unsere psychische Tätigkeit in ganz derselben Weise sukzes- sive Vorgänge, wie die äußeren Artikulations- und Schreibe-

Das Wort als simultane Vorstellung. 585

bewegungen solclie sind. Nichtsdestoweniger ist dies, wenn man von gewissen Fällen des verständnislosen Nachsprechens und des absichtlichen oder angelernten lautierenden und buchstabieren- den Lesens absieht, ein Irrtum. Bei der Auffassung eines Wortes gelangen zwar die Laute in einer bestimmten Aufeinanderfolge zu unserem Ohr; doch das Wort als solches, in seiner unmittel- baren Assoziation mit einer bestimmten Begriffsvorstellung, apper- zipieren wir in einem einzigen simultanen Akt. Bereitet die Auffassung Schwierigkeiten, z. B. bei einer fremden Sprache oder einem ungewohnten Worte, so kann dieser zwar dem sukzessiven Hören aller Wortbestandteile nachfolgen, bei der Auffassung eines wohlbekannten Wortes ist er aber entweder mit dem letzten ge- hörten Laut gleichzeitig oder er tritt, bei längeren Wörtern, schon etwas früher ein. Letzteres geschieht besonders dann, wenn die Verbindung der EinzelVorstellung des Wortes mit der im Satze ruhenden Gesamtvorstellung auf den Begriff hinweist, der im Wort ausgedrückt ist. Ebenso ist beim Sprechen die Wort- vorstellung als solche ein simultaner Akt, nur daß dieser nicht, wie beim Hören, nachfolgt, sondern den Artikulationsbewegungen vorangeht. Dabei finden sich dann freilich hier wie dort die einzelnen Bestandteile der Wortkomplikation nicht in gleicher Weise simultan im Bewußtsein, sondern der eigentliche Akt der momentanen Apperzeption trifft vor allem die Bedeutungs- komponente, den an das Wort gebundenen Begriff. Mit dieser zugleich wird aber einer der Lautbestandteile, im allgemeinen derjenige, der im Moment jener Begriffsapperzeption gerade aus- gesprochen oder gehört wird, apperzipiert. Die übrigen befinden sich in einem etwas verdunkelten, wenn auch immer noch hin- reichend deutlichen Zustande, daß das ganze Wort selbst nach seinem Lautgehalt als simultan aufgefaßt erscheint. Genau wie der Sprechende Verhält sich endlich der Schreibende, sobald ihm das Schreiben eine eingeübte, auf festen Assoziationen beruhende Tätig- keit geworden ist: die Wortvorstellung geht der schreibenden Re- produktion des Wortbildes voraus. Da sie aber dieser im allgemeinen als Lautvorstellung vorausgeht und die Lautartikulationen weit schneller ablaufen als die Schreibbewegungen, so halten beide meist

586 Die Wortbildung.

nicht gleichen Schritt. Der Schreibende muß seine vorauseilenden Wortvorstellungen gewaltsam hemmen, oder es widerfährt ihm, daß im Schriftbilde später kommende Wortbestandteile oder selbst ganze Worte antizipiert werden. Das begegnet begreiflicherweise am leich- testen teils solchen Personen, denen das Schreiben eine wenig ge- wohnte Tätigkeit ist, teils aber auch solchen, die in hohem Grad an die freie Rede gewöhnt sind. Nächst den des Schreibens wenig Kun- digen und den Imbezillen sind daher die Redner die schlechtesten Abschreiber. In jeder Beziehimg am günstigsten verhält sich hin- sichtlich der möglichst vollkommenen Gleichzeitigkeit aller bei der Wortapperzeption beteiligten Funktionen das geübte Lesen. Hier ist der Gesichtssinn dem Gehör wie den Lautartikulationen dadurch überlegen, daß er eine Anzahl simultan im Raum gegebener Vor- stellungsobjekte auch simultan zur Empfindung bringt. Bei ihm kann daher mit der entscheidenden Begriffsapperzeption jedesmal die Auf- fassung des zugehörigen optischen Wortbildes zusammenfallen. Von dem Lesen gilt deshalb, wenn diese Bedingung Vollkommener Übung erfüllt ist, mehr als von irgendeiner andern Art der Sprachfunktion, daß bei ihm die Apperzeption von Wort und Begriff einen einzigen Akt bildet^). Deshalb bietet er auch am häufigsten diejenige Erschei- nung dar, welche die simultane, aus direkten und reproduktiven Ele- menten gemischte Bildung der Wortvorstellungen deutlich zur An- schauung bringt: die falsche Assimilation und Apperzeption der Worte. Diese besteht aber, wie die tachistoskopischen Versuche lehren, keineswegs etwa darin, daß ein Teil des gelesenen Wortes ungenau wahrgenommen und, wie man unter Anwendung der bekannten vul- gärpsychologischen Interpretation gemeint hat, durch eine „Ver- mutung" ergänzt wird, sondern der falsch gelesene Bestandteil wird

^) Die hiermit eng zusammenhängende Tatsache, daß zu Wörtern ver- bundene Schriftzeilen in so viel größerer Zahl als unverbundene simultan apper- zipiert werden können, hat man aus der bekannten Erfahrung zu erklären gesucht, das wir Wörter leichter im Gedächtnis bewahren als sinnlose Buchstabenver- bindungen. Nun können die letzteren natürlich auch schneller vergessen werden. Aber vor allen Dingen werden sie unvollkommener oder gar nicht apperzipiert, weil, wie die oben erörterten tachistoskopischen Versuche zeigen, die ihre Assi- milation vermittelnden reproduktiven Elemente unwirksam bleiben.

Das Wort als simultane Vorstellung. 587

wirklich anders gesehen. Bei der Substitution von Worte für Warte, von Fliege für Folge z. B. sieht man dort das o, hier das i, Buchstaben, die im wirklichen Eindruck gar nicht vor- kommen, ganz so unmittelbar wie die übrigen, und wenn man über den Fehler aufgeklärt wird, so erinnert man sich nicht selten gerade dieser falsch gelesenen Buchstaben besonders deut- lich. Ähnlich verhält es sich, wenn das nicht existierende Symbol in die Region des indirekten Sehens oder in eine völlig leere Stelle des Sehfeldes projiziert wird. Daß übrigens eine ähnliche Sub- stitution bei der akustischen Auffassung der Worte dieselbe Rolle spielt, lehren die häufigen Erfahrungen über das ,, Verhören", das dem Verlesen offenbar in allen diesen Beziehungen analog ist, nur daß sich diese Ergänzungen meist nicht in ebenso greifbarer Form nachweisen lassen.

Noch bei andern Erscheinungen im Gebiete der optischen Wort- bilder, die man ohne jede künstliche Versuchsvorrichtung beobachten kann, tritt endlich die simultane Natur des Vorgangs der Wortapper- zeption oft überraschend hervor. Die moderne Typographie bringt es gelegentlich zustande, namentlich auf Büchertiteln die Wörter durch die Unregelmäßigkeit der Linienführung und durch umgebende Arabesken gleichsam künstlich dem Auge zu verheimlichen. Dabei kann man nun wahrnehmen, daß das Wort, nachdem es zuerst un- erkannt geblieben, plötzlich und fast blitzartig vor dem Auge auf- leuchtet. Diese Beobachtung entspricht ganz den Erscheinungen der bekannten Vexierbilder, bei denen die Umrißzeichnung eines Gegenstandes, z. B. einer Katze, in irgendeinem Bild, etwa in dem Baumschlag einer Landschaft, angebracht ist. Auch solche Vexier- bilder leuchten in dem Augenblick, wo sie erkannt werden, plötzlich auf. Dabei sind aber, da es sich um eine Betrachtung dauernder Ob- jekte handelt, Augenbewegungen, die bei den tachistoskopischen Ver- suchen wegen der sehr kurzen Dauer der Einwirkung ausgeschlossen sind, von Einfluß; imd man kann zuweilen beobachten, daß die zu- fällige Bewegung entlang einer Umrißlinie des Vexierbildes dieses sofort erscheinen läßt. Bei den Beobachtungen mit einer Vexierschrift kann man ferner nicht selten auch den Einfluß wahrnehmen, den die besondere, unter Umständen willkürlich herbeizuführende Disposi-

588 Die Wortbildung.

tion des Bewußtseins auf die Erscheinung ausübt. So habe ich mich jahrelang an einem jetzt leider durch ein anderes ersetzten Firmen- schild erfreut, auf welchem ein Name mit so dicken Goldbuchstaben auf schwarzem Grunde geschrieben stand, daß man sich leicht ein- bilden konnte, man habe ein mit schwarzen Buchstaben auf Gold- grund geschriebenes Wort vor sich. Machte man sich nun willkürlich diese Vorstellung, so verschwand das Wort spurlos aus der Apper- zeption, die Schrift wurde zum sinnlosen Ornament, um sofort wieder deutlich aufzutauchen, wenn man zur umgekehrten Vorstellung, daß der Grund schwarz und die Schrift golden sei, überging. Auch hier schien der Vorstellungswechsel durch Augenbewegungen, die den wirklichen oder vermeintlichen Buchstaben entlang liefen, eingeleitet zu werden.

Indem nun die Tatsache, daß das Wort im allgemeinen simul- tan apperzipiert wird, ohne weiteres die Verschiedenheiten in der Auffassung isolierter und zu Worten verbundener Schriftzeichen erklärt, beweist sie zugleich, daß die Schriftzeichen oder Laute eines Wortes Merkmale dieses einheitlichen Ganzen sind. Sie sind aber Merkmale im psychologischen, nicht im logischen Sinne: sie sind nicht Eigenschaften, nach denen das Objekt begrifflich in eine Klasse bekannter Gegenstände eingeordnet wird, sondern sie sind Gruppen von Empfindungselementen, die durch Assoziation mit reproduktiven Elementen das immittelbare Wahrnehmungsbild des Objekts hervor- rufen. Für unsere Auffassung ist demnach ein Wort ebenso eine ein- zelne Vorstellung wie der einzelne Buchstabe. Von beiden Arten der Vorstellung können deshalb auch annähernd gleich viele gleichzeitig apperzipiert werden. Wenn hier meist ein kurzes Wort noch ein wenig schneller aufgefaßt wird, so beruht dies vermutlich darauf, daß die einzelnen Teile desselben als wechselseitige Assoziations- imd Assi- milationshilfen wirksam sind. Dem entspricht denn auch die weitere, bei zeitmessenden Versuchen gefundene Tatsache, daß die Zeit, in der auf die Erkennung eines einzelnen Buchstabens durch eine verab- redete Bewegimg reagiert wird, durchschnittlich ebenso groß oder eher etwas größer ist als die Zeit, in welcher die Reaktion auf die Erkennung eines einfacheren, wohlbekannten Wortes erfolgt; und soweit ein Unter- schied besteht, beruht er nicht auf der verschiedenen Zahl, sondern

Psychologische Analyse der Wortassimilationen. 589

auf der verschiedenen Verwicklung der verglichenen Vorstellungen, d. h. auf der größeren oder geringeren Mannigfaltigkeit ihrer Merk- male^). Natürlich ändern sich aber diese Bedingungen, wenn Worte und Buch stabensym hole beide noch relativ unbekannte Objekte sind. So bedarf das Kind beim Lesenlernen vor allem der Kenntnis der ein- zelnen Buchstaben, um die ganzen Worte lesen zu können, daher denn auch die Pädagogik, obgleich sie der Buchstabiermethode ent- sagt hat, doch wohlweislich daran festhält, mit einzeln deutlich wahr- zunehmenden Buchstaben das Lesen beginnen zu lassen und dann erst allmählich zu den kleineren Schriftformen überzugehen. Für das lesenlernende Kind ist ein einzelner Buchstabe zunächst noch nicht Merkmal, sondern Teil des Wortbildes. Bei wachsender Übung ver- ändert sich dann die Sukzession der Apperzeptionen nur wenig in ihrer Geschwindigkeit, um so mehr aber in bezug auf den Umfang der Einzel Vorstellungen, die in einem einzelnen Akt verbunden wer- den. Dies kann allein dadurch geschehen, daß immer und immer wieder die nämlichen Wortbilder einwirken, und daß so ganz allmäh- lich das, was ursprünglich selbständiger Bestandteil einer zusammen- gesetzteren Vorstellung war, in ein Merkmal derselben übergeht. Hierin ist dann von selbst die Aufforderung gelegen, auch die Größe der zusammengesetzten Objekte zu vermindern, damit sie leichter simultan aufgefaßt werden können, um so mehr, da, sobald nur eine zureichende Anzahl von Merkmalen gegeben ist, die in der Wahr- nehmung ausfallenden derart ergänzt werden, daß sie sich von den direkt empfundenen nicht unterscheiden.

5. Psychologische Analyse der Wortassimilationen.

Für die psychologische Analyse der Wortvorstellungen sind vor allem die Erscheinungen der Ergänzung der gesehenen oder gehörten Eindrücke und die damit untrennbar verbundenen der Verdrängung direkter durch reproduktive Elemente von wegweisender Bedeutung.

1) E. B. Titchener, Philos. Stud., Bd. 8, 1893, S. 138 ff. Phyeiol. Psycho!., III,« S. 430.

590 Die Wortbildung.

Nun kann man unmöglicli annehmen, daß solclie Reproduktions- wirkungen auf die ergänzten Elemente, bei denen sie zur unmittel- baren Anscbauung kommen, beschränkt seien. Vielmehr nur deshalb, weil auch die andern Teile der Wortvorstellung an ihnen teilnehmen, sind jene Substitutionen überhaupt möglich. Damit ist zugleich die Frage nach dem Übergang der Teile eines komplexen Vorstellungs- ganzen in Merkmale einer einheitlich aufgefaßten Einzelvorstellung, wie er z. B. beim Lesenlernen stattfindet, beantwortet. Je häufiger €in Wortbild einwirkt, eine um so stärkere Disposition zu seiner Wieder- erneuerimg bleibt zurück. In dem Augenblick, wo durch direkte Sinnes- eindrücke ein Komplex von Empfindungen entsteht, der diesen Dispo- sitionen oder auch nur einem größeren Teile derselben gleich ist, wer- den daher die Dispositionen selbst zu aktuellen Empfindungen, die mit den durch den äußeren Eindruck erweckten in eine einheitliche Vorstellung zusammenfließen. Nun stehen aber die als Dispositionen von früheren Eindrücken her zurückgebliebenen Elemente ebenso in mannigfachen Verbindungen wie die direkten Empfindungen, und sie werden in denjenigen Verbindungen am leichtesten reproduziert, in denen sie am häufigsten vorkamen. Darum reproduziert jedes Wortbild durch direkte Assoziation die entsprechenden Elemente früherer Wortbilder und durch indirekte, nämlich infolge der zwischen den reproduktiven Elementen selbst bestehenden Assoziationen, die mit ihnen in früheren Vorstellimgen häufig verbunden ge- wesen. Ist die letztere Assoziation der im neuen Eindruck ge- botenen analog, so wird sie verstärkt, und es wird durch die so in immer gleicher Weise sich wiederholende Verbindung die Aus- sonderung des Wortgebildes von andern zufällig begleitenden mehr und mehr gesichert. Mengen sich dagegen infolge der sekun- dären Assoziationen reproduktive Elemente ein, die nicht dem direkten Eindruck angehören, so entstehen nun Substitutionen, die zu Sinnestäuschungen, sogenannten ,, Illusionen", im Vorliegen- den Fall zu den Erscheinungen des Verhörens und Verlesens führen.

Besitzen demnach die einzelnen Wort Vorstellungen durchaus den Charakter jener Assimilationsgebilde, wie sie uns bereits in den mannigfachen Formen reproduktiver Lautwirkungen im vorigen

Psychologische Analyse der Wortassimilationen. 591

Kapitel begegnet sind, so sind nun aber gerade diese die Bildung der Wortvorstellungen begleitenden Assimilationen wegen der zu Gebote stellenden experimentellen Beeinflussung der Bedingungen besonders günstige Objekte für die psycbologisclie Analyse der Assimilations- vorgänge überhaupt^). Wir betrachten es als einen überall für diese Analyse maßgebenden Grundsatz, daß nur Bewußtseinsvorgänge als wirklicbe psycbisclie Vorgänge gelten können. Der Begriff der „Disposition" ist daher lediglich ein Hilfsbegriff, der irgendeine uns nur in ihren Wirkungen auf die tatsächlich beobachteten Vorgänge gegebene, abgesehen Von dieser Wirkung aber völlig unbekannte Be- dingung zur Entstehung gewisser psychischer Erlebnisse oder zur Abänderung anderer bezeichnet. Hiernach kann eine Assimilation, insofern dieser Ausdruck eine Wirkung andeutet, die zwischen direkt erregten Empfindungen und Dispositionen aus früheren Eindrücken stattfindet, natürlich selbst kein in der Form der Disposition oder kein im ,, Unbewußten" sich ereignender Vorgang sein; wie denn über- haupt der Ausdruck „unbewußte Vorgänge" einen inneren Wider- spruch in sich schließt, da der Begriff des Unbewußten psychologisch notwendig eben mit jenem Begriff der „Disposition" zusammenfällt, die Disposition aber ihre empirisch berechtigte Bedeutung nur darin hat, daß sie selbst kein wirklicher psychischer Vorgang, sondern bloß die Anlage zu einem solchen ist. Demnach können auch die Assimi- lationen nur als Verbindungsprozesse betrachtet werden zwischen Empfindungen, die direkt durch äußere Eindrücke erregt werden, und solchen, die unter dem Einfluß jener Dispositionen entstehen. Da die Disposition nicht selbst ein psychischer Vorgang, sondern eine Bedingung zu dessen Entstehung ist, so vollzieht sich aber natür- lich auch eine Assimilation zwischen der reproduktiven und der direkt erregten Empfindung immer erst in dem Moment, wo die Dis- position zur aktuellen Empfindung wird, gerade so wie

^) Es stehen ihnen in dieser Beziehung, was die allgemeine psychologische Verwertung angeht, nur noch die schon früher (S. 458) in diesem Sinn erwähnten „umkehrbaren geometrisch-optischen Täuschungen" zur Seite, deren Studium auch hier wieder als ein einem ganz andern Gebiet entnommenes, aber eben darum für die allgemeine Natur der Vorgänge lehrreiches Beispiel empfohlen werden kann.

592 Die Wortbildung.

der äußere Eindruck niclit als physischer Reiz, sondern ebenfalls erst als Empfindung assoziationsfällig wird. Wir nennen diese Assoziation eine „Assimilation", weil ihr in doppeltem Sinne der allgemeine Cha- rakter der ,,Verähnlichung" zugeschrieben werden kann: erstens, insofern die direkt erregten Empfindungen ihnen ähnliche oder oft mit ihnen verbunden gewesene wieder erwecken, und zweitens, weil diese aus Dispositionen hervorgegangenen reproduktiven Elemente selbst verähnlichend auf die direkten Empfindungen zurückwirken. Die Assimilation als Assoziationsvorgang ist also stets eine wechsel- seitige: die direkten Empfindungen wirken assimilativ auf die re- produktiven, und diese wirken ebenso auf die direkten. Indem dabei weiterhin auch noch, wie oben erwähnt, sekundäre Assoziationen der reproduktiven Elemente mit andern eintreten, die mit ihnen häufig verbunden waren, während sie zu den direkten ursprünglich außer Beziehung standen, ist im allgemeinen jede einzelne Wortvor- stellung eine Resultante aus unabsehbar vielen Ele- menten.

Der nächste und entscheidende Charakter der Assimilation be- steht hiernach darin, daß sie eine simultane Assoziation ist. Sie ist simultan, weil die als ihr Produkt entstehende Einzel Vorstellung in allen ihren Teilen gleichzeitig aufgefaßt wird, wodurch von selbst die Teile zu psychologischen Merkmalen in dem oben bezeichneten Sinne werden. Sie ist ferner eine Assoziation, da bei ihr keine Ver- bindungen anderer Art stattfinden, als sie bei irgendwelchen sonstigen Assoziationen vorkommen. Das Charakteristische des Vorgangs be- steht bei ihnen, wie bei allen Assoziationen, darin, daß sie Elemen- tarvorgänge, nicht Massen Vorgänge sind. Wenn Herbart und die an ihn sich anschließenden Sprachpsychologen solche Assimilationen als Wirkungen von ,, Apperzeptionsmassen" bezeichnen, so ist daher dieser Ausdruck in doppelter Weise irreführend: erstens, weil er diese Erscheinungen überhaupt von den Assoziationen trennt, denen sie ihrem ganzen Wesen nach zugehören; und zweitens, weil der ganze Vorgang das gerade Gegenteil einer ,, Massenwirkung" ist. Wollen wir ihn uns irgendwie aus seinen deutlich gegebenen Komponenten verständlich machen, so müssen wir vielmehr notwendig annehmen, daß zu einer geläufigen Wortvorstellung eine- unbestimmte Zahl

Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung. 593

elementarer Dispositionen sowohl in den gleichen wie in andern, irgend- wie ähnlichen Verbindungen vorhanden ist, und daß von diesen Dispo- sitionen eine größere Anzahl teils direkt, durch übereinstimmende Empfindungselemente des Eindrucks, teils indirekt, durch ihre äußere Verbindung mit solchen, erweckt wird. Zwischen den so in Wirksam- keit tretenden Elementen entsteht dann aber eine Wechselwirkung, infolge deren sich die übereinstimmenden Elemente assimilieren und die widerstreitenden vollständig eliminiert werden. Auf diese Weise besteht jede Assimilation auch im Gebiet der Wortvorstellungen aus einer unabsehbaren Menge elementarer Grleichheits- und Berührungsassoziationen.

6. Apperzeption des Wortes als Einzelvorstellung.

Nachdem so die Bildung der Wortvorstellung in allen ihren wesent- lichen Eigenschaften durch den Assimilationsprozeß eingeleitet ist, wird sie mm aber erst abgeschlossen durch einen daran sich anschließen- den weiteren Vorgang; durch die Heraushebung der durch jene assoziativen Prozesse gebildeten Einzelvorstellung aus dem gesamten Vorstellungsverlauf. Diesen letzten entscheidenden Akt nennen wir die Apperzeption des Wortes. Die Wortapperzeption, wie sie sich im Laufe der natürlichen Gedankenbildung vollzieht, besteht demnach nicht in jenen assimilativen Assoziationen selbst, denen die psychische Konstitution des Wortes ihren Ursprung verdankt; son- dern durch diese Assoziationen wird immer nur das Objekt gegeben, welches apperzipiert werden kann, nicht der Akt der Apperzeption. Dieser vollzieht sich einerseits als ein Unterscheidungsakt, der unter der Wirkung mannigfaltiger und zum Teil weit zurückreichen- der Vorerlebnisse des Bewußtseins entsteht. Anderseits ist er von eigenartigen subjektiven wie objektiven Symptomen begleitet. Sub- jektiv wird das durch assimilative Assoziationen entstandene Pro- dukt unter den für die Willensvorgänge charakteristischen Spannungs- und Erregungsgefühlen Objekt der Aufmerksamkeit. Dabei be- zeichnet dieser Ausdruck ,, Aufmerksamkeit" subjektiv wiederum nichts anderes als eben den Komplex der Gefühle selber, während

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. «'ö

594 Die Wortbildung.

er objektiv auf die größere Klarheit und Deutlichkeit der Einzel- vorstellung hinweist, die Inhalt der Apperzeption ist. Beide objek- tive Eigenschaften ergänzen sich insofern, als die „Klarheit" die Her- vorhebung der einzelnen Vorstellung nach ihrem spezifischen Inhalt, die ,, Deutlichkeit" die Sonderung von andern Bewußtseinsinhalten andeutet. Beide Eigenschaften werden gewöhnlich als ,, Wirkungen" der Aufmerksamkeit betrachtet, obgleich sie nur die objektiven Merk- male der Aufmerksamkeit sind, ebenso wie die Spannungs- und Er- regungsgefühle deren subjektive Symptome.

Hat auf diese Weise die Apperzeption des Wortes die assoziativ vorbereitete Bildung der Worteinheit vollendet, so wirkt sie nun ihrer- seits wieder auf die Assimilationsprozesse zurück, indem auch sie Dispositionen hinterläßt, welche die Wiedererneuerung einer bestimm- ten Worteinheit in künftigen Fällen unterstützen und diese zu be- stimmten Gesamtrichtungen des Bewußtseins in Beziehung setzen. So greifen hier, wie überall im geistigen Leben, die einzelnen Vor- gänge auf das mannigfaltigste und in hin- und rückläufigen Bewegungen wechselseitig fördernd ineinander ein. Die höheren Stufen dieser Vorgänge, die apperzeptiven, sind aber durch die vorangehenden, die assoziativen, so vollständig Vorbereitet, daß sie ganz und gar als

„psychische Resultanten" derselben erscheinen^).

/

III. Stellung des ^A/'o^tes in der Sprache.

1. Grund- und Beziehungselemente des Wortes.

In dem Verlauf der Rede ist das Wort eine natürliche Einheit, die zwar mit andern ähnlichen Einheiten in Beziehungen und Ver- bindungen steht, dabei aber doch, wie das Glied einer Kette, ein Ganzes für sich bildet, das allein schon einen bestimmten Begriff zum Aus- druck bringen kann. Bei dieser Aussonderung der Wortvorstellungen aus dem Zusammenhang der Rede gewinnt nun der schon bei dem Lautwandel hervorgetretene funktionelle Unterschied der Grund- elemente und der Beziehungselemente eine entscheidende Bedeutung (Kap. IV, S. 462).

1) Vgl. oben Kap. II, S. 256.

Grund- und Beziehungselemente des Wortes. 595

Grundelemente nennen wir hier wieder diejenigen LautBestan- teile, die für den innerhalb einer bestimmten Wortgruppe konstant bleibenden Begriff charakteristisch sind, während die Beziehungs- elemente solche Bestandteile umfassen, durch die jener Begriff irgend- wie modifiziert und dadurch zugleich zu andern in die Rede eingehen- den Worten in Beziehung gebracht wird. Da diese Beziehungselemente mit ähnlich sinnmodifizierender Wirkung in den Abwandlungsformen anderer Wörter ebenfalls vorkommen, so besitzen auch sie eine relativ konstante Bedeutung. Nur besteht diese hier nicht in einem selbstän- dig zu denkenden Begriff, sondern in einer begrifflichen Beziehung, die zu ihrer realen Vergegenwärtigung im Bewußtsein immer der Ver- bindung mit Grundelementen bedarf. Zugleich erweist sich aber, wie schon früher bemerkt, nicht selten die Grenze zwischen Grund- und Beziehungselementen als eine fließende, indem an dem Prozeß der sinnmodifizierenden Änderungen auch solche Elemente teilnehmen, die nach ihrer ursprünglichen Bedeutung zu den Grundelementen gehören. So scheiden sich in einer zusammengehörigen Reihe von Wörtern, wie stehe, stehst, steht, stand, gestanden usw., ohne weiteres die angefügten Suffixe sowie das Präfix des Perfektums als reine Be- ziehungsbestandteile; dem steht der konsonantische Anlaut st des Verbalstamms als ein bei allen Abwandlungen unberührt bleibender Grundbestandteil gegenüber, während der Stammvokal innerhalb beschränkterer Gruppen die Bedeutung eines Grundelements hat, das aber für andere Wortgruppen zu den Beziehungselementen hin- übergezogen wird. An diesen fließenden Elementen offenbart es sich aber deutlich, daß für das sprachbildende Bewußtsein selbst das Wort eine Einheit bleibt, die sich durch die im Zusammenhang der Rede liegenden natürlichen Bedingungen in stabilere und va- riablere Elemente zerlegt, ohne daß sich zunächst der Redende dessen bewußt, und ohne daß daher eine absolute Trennung beider möglich ist.

Da das Verhältnis der Grund- und Beziehungselemente eines Wortes ein wechselndes sein kann, so ergeben sich hieraus zugleich für die Konstitution der Wortvorstellung zwei Grenzfälle, deren Vor- kommen und Verbreitung mit charakteristischen Eigentümlich- keiten des Baues der Einzelsprachen zusammenhängen, und auf die

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596 Die Wortbildung

darum hier nur im allgemeinen hingewiesen werden kann. Der eine dieser Grenzfälle wird durch Wortgebilde repräsentiert, die nur aus Grundelementen, der andere aus solchen, die nur aus Beziehungs- elementen bestehen. Im ersten Fall enthält das Wort bloß einen selbständigen, für sich vorstellbaren Begriff; im zweiten Fall, der bei unsern abstrakten Partikeln verwirklicht ist, enthält es nur eine unbestimmte Beziehung, die isoliert nicht vorgestellt werden kann. Hier wird das Wort im allgemeinen bloß als Wort vorgestellt, als geläufiger Lautkomplex, der sich aber vermöge der gewohnten begrifflichen Anwendung mit einem Gefühl verbindet, das wahr- scheinlich von andern, häufig mit ihm verbundenen Wortvorstellungen ausgeht, die sich assoziativ zum Bewußtsein drängen. Wegen der großen Zahl solcher Assoziationen kommt in der Regel keine einzige mit ihrem objektiven Inhalt zur Geltung. Bei der Einwirkung iso- lierter Wörter ist daher der Bewußtseinszustand, wie er sich nament- lich an den Assoziations- und Gefühlskomponenten zu erkennen gibt, ein wesentlich abweichender, je nachdem es sich um ein selbständiges Begriffswort oder um ein reines Beziehungswort handelt. Jenes er- weckt, falls seine Bedeutung bekannt ist, neben der Lautvorstellung immer auch eine mit den Grundelementen assoziierte inhaltlich be- stimmte Begriffs Vor Stellung, die um so anschaulicher ist, eine je kon- kretere Bedeutung das Wort hat. Das reine Beziehungswort dagegen erweckt zunächst nur eine Lautvorstellung, an die irgendein Gefühls- eindruck geknüpft ist, der gelegentlich durch wechselnde äußere Wort- assoziationen abgelöst werden kann.

2. Wurzeln der Sprache.

Die Tatsache, daß im allgemeinen jedes Wort nach Laut wie Bedeutung mit einer größeren oder kleineren Anzahl anderer Wörter zusammenhängt, hat auf die Betrachtung der Sprache frühe schon einen wichtigen Einfluß ausgeübt. Jenen Lautbestandteil, in dem die Bedeutungsgemeinschaft der Glieder einer Wortsippe ihren Aus- druck findet, betrachteten bereits die alten" Sanskritgrammatiker als das ursprünglich ,, Gesetzte" dhätu (^ejna), das nicht weiter Ab- zuleitende oder das ,, Element" der Wortbildung. Dem Vorbild der

Wurzeln der Sprache. 597

griechischen Naturphilosophie folgend, welche die Prinzipien oder Elemente der Dinge bildlich deren Wurzeln (SiCtoj-iaTa) nannte, be- zeichneten dann die römischen Philologen diese Grundbestandteile als die ,, Wurzeln der Sprache''. An diesen Ausdruck, der seitdem stehen geblieben ist, hat sich endlich jenes System botanischer Bilder angeschlossen, das die in dem Begriff der Wurzel angedeutete Vor- stellung der Sprache als eines lebendigen Organismus weiterführte. Aus der Wurzel ließ man durch den Hinzutritt anderer Elemente den ,, Wortstamm" entspringen, aus dem durch gewisse näher deter- minierende Bestandteile die wirklichen Wörter als dessen Verzwei- gungen hervorgehen sollten. Die geschichtliche Betrachtung übertrug diese Bilder auch noch auf das Verhältnis verschiedener Sprachen zueinander. Die Einzelsprache wurde als der Zweig eines allgemeineren Sprachstam_mes bezeichnet, der schließlich abermals eine ihm voraus- gehende hypothetische Ursprache als seine ,, Wurzel" forderte. Dieses dem organischen Leben entnommene Begriffssystem wurde freilich bei der Schilderung der weiteren Schicksale der Wörter meist wieder verlassen, indem man jetzt einen Prozeß der ,, Verwitterung" ein- treten ließ, so daß das Gefüge der Sprache nun eigentlich unter dem Bild einer Gesteinsmasse gedacht wurde ^).

Bei dieser Vorstellung, daß jedes Wort eine seinen Grundbegriff ausdrückende Wurzel und weitere, zu ihr hinzutretende formale Ele- mente enthalte, konnte man nun aber nicht wohl stehen bleiben, da die formalen Elemente doch mutmaßlich ebenfalls auf irgendwelche ,, Wurzeln" zurückführen mußten. So gelangte man zur Unterschei- dung zweier Klassen von Wurzeln, der Stoff- und Formwurzeln oder der prädikativen und demonstrativen (Nenn- und Deute- wurzeln), wie sie wohl treffender G. Curtius nannte. An der Stoff- oder prädikativen Wurzel sollte der einer Wortsippe gemeinsame

^) Curtius, Griech. Etymologie,^ S. 23. Wenn Bopp und Jakob Grimm statt dessen solche Ausdrücke wie „Entartung", „Verwilderung'' der Sprache gebrauchen, so bleiben sie zwar mehr im Bilde, der Widerspruch, daß eine normale und von frühe an in die Entwicklung eingreifende Reihe von Erscheinungen als etwas Pathologisches angesehen wird, ist aber um so auffälliger. Max Müller spricht in gleichem Sinne sogar von der ,,Pest der lautlichen Korruption''. (Die Wissenschaft der Sprache. Neue Bearbeitung, 1892, I, S. 49.)

598 Die Wortbildung.

Grundbegriff haften, auf die Formwurzeln sollten die Formelemente zurückführen, die dem Wort seine bestimmte grammatische Stellung anweisen: „demonstrativ" wurden sie genannt, weil man annahm, in ihnen sei stets ein Hinweis auf eine Person, einen Ort oder eine Richtung im Raum enthalten^).

3. Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie.

War auf diese Weise erst der gesamte Bestand eines Wortes auf eine Verbindung ursprünglich bedeutsamer, nicht weiter zerlegbarer Lautgebilde von bestimmtem begrifflichem Werte zurückgeführt, so lag es nun nahe genug, der hierbei wahrzunehmenden oder zu er- schließenden abweichenden Bildungsweise der Wörter die Gesichts- punkte für die Beurteilung der Verschiedenheiten des Sprachbaues überhaupt zu entnehmen. So gelangte man zu einem weiteren, ur- sprünglich dem biologischen Gebiet entlehnten Begriff: zu dem des „Sprachtypus". Wie eine gewisse Anordnung und Entwicklungs- weise der eine Pflanze zusammensetzenden Elementargebilde, der Zellen, einen Pflanzentypus ausmacht, dem eine größere oder kleinere Zahl einzelner Pflanzenarten zugeteilt werden kann, so soll eine be- stimmte Art der Verbindung und der Entwicklung der Sprachwurzeln den ,, Sprachtypus" konstituieren, der natürlich, da es sich in diesem Falle bloß um die Art der Ordnung und der Veränderung der Ele- mente, nicht um ihre Lautbeschaffenheit handelt, auch für Sprachen, die ihrem gesamten Wortschatze nach voneinander abweichen, doch ein übereinstimmender sein kann. So entstanden die Begriffe des „isolierenden" oder des ,, reinen Wurzeltypus", der im Chinesischen annähernd verwirklicht sein sollte, des „agglutinativen", wie ihn

^) G. Curtius, Zur Chronologie der indogermanischen Sprachforschung,^ 1873, S. 21. W. von Humboldt (Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, Werke, VI, S. 116) hatte beide als „objektive" und „subjektive" Wurzeln unterschieden, weil die letzteren, die formgebenden Bestandteile des Wortes, nicht von dem zu benennenden Objekt, sondern von dem subjektiven Standpunkt des Redenden bestimmt seien.

Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. 599

z. B. die ural-altaisclien Spraclien darbieten, des „polysynthetisclien*' oder „einverleibenden", den man dem Baskiscben und den ameri- kaniscben Sprachen zuschrieb, und bald als eine Unterart der agglu- tinativen, bald als eine selbständige Form ansah, endlich des ,, flek- tierenden" Typus, der wieder in einen solchen der einsilbigen Wur- zeln (das Indogermanische) und in einen der vorwiegend zweisilbigen (das Semitische) gegliedert wurde ^). Diese ,, Typen" bilden, abgesehen von manchen außerhalb des Schemas stehenden Unterschieden, eine Entwicklungsreihe, in der die reine Wurzelsprache als der Urzustand erscheint. Aus ihr soll als eine nächste Weiterbildung der aggluti- nierende Typus entstanden sein, der dann durch eine innigere orga- nische Verbindung der Stoff- und Formwurzeln in den flektierenden überging. Der letztere soll endlich durch den alsbald sich anschließen- den Prozeß der ,, Verwitterung" wieder einer Rückbildung Platz machen, bei der die Wörter abermals dem reinen Wurzelzustand nahe- kommen: so in vielen modernen Sprachen, am meisten im Englischen, das nur noch einen kleinen Rest seiner Flexionselemente bewahrt hat 2).

Durch diese Anwendung der Wurzelzerlegung der Wörter glaubte man die Voraussetzung bestätigt zu sehen, daß die Wurzeln nicht bloß Produkte der Analyse des Wortes, sondern daß sie ursprüng- lich selbständige Bestandteile seien, aus denen sich das Wort durch eine zuerst losere Aggregation und dann durch eine immer

^) Übrigens werden für das Semitische meist ebenfalls ursprünglich ein- silbige, sei es zwei-, sei es dreikonsonantige Wurzeln, wie qat, har oder qafl, hrak postuliert, aus denen sich erst die zweisilbigen Wortstämme, wie qatal, haraJc, entwickelt hätten (Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach- baues, Werke, VI, S. 403 ff. ). Besonders die unverkennbaren Beziehungen der semitischen zu den auf einsilbige Wurzeln zurückzuführenden hamitischen Sprachen (Ägyptisch, Koptisch, GaUa, Somali usw. ) legten diese Annahme nahe.

2) Stein thal, Die Klassifikation der Sprachen, 1850, S. 7. Der erste, der diese weitverbreitete Einteilung aufgestellt hat, ist nach Steinthals Angabe Pott (in den Jahrbüchern der freien deutschen Akademie, 1. Heft, 1848). Wesentlich vorgebildet ist sie aber schon bei Humboldt, der namentlich auch den an sich sehr fruchtbaren Begriff der „Agglutination" einführte und im Zusammenhang damit die Ansicht entwickelte, daß ein monosyllabischer Zustand den Ausgangs- punkt aller Sprachentwicklung gebildet habe. (Über die Verschiedenheit des menschl. Sprachbaues, § 25, Werke, VI, S. 382 ff.)

600 Die Wortbildung.

fester werdende Verbindung gebildet habe. Dem Begriff des ,, Typus" sind jedoch in dieser Anwendung auf die Genealogie der Sprachen die Schicksale nicht erspart geblieben, die ihm auf andern Gebieten widerfuhren^). So wenig es für die wirklichen Entstehungsbedingungen einer chemischen Verbindung einen er- klärenden Wert hat, wenn man diese auf den Typus des Sumpf- gases (CH4) zurückführt, gerade so wenig gibt natürlich der Be- griff des ,, Sprach typus" wirklichen Aufschluß über die Wort- bildung in einer Sprache. Ein übereinstimmender Typus kann möglicherweise auf übereinstimmende Gesetze der Wortbildung hinweisen; diese Gesetze zu finden ist aber in jedem einzelnen Fall eine besondere Aufgabe. Ob eine Sprache in der Stufenleiter der Wortbildungsprozesse dem Anfang oder einem späteren Stadium angehört, das ist daher immer nur aus der umfassenden Kennt- nis ihrer Vorgeschichte mit Sicherheit zu erschließen. Sonst könnte z. B. das Englische beinahe ebensogut wie das Chinesische dem Typus einer Wurzelsprache zugezählt werden. In der Tat gilt bei den Kennern der chinesischen Sprachgeschichte das Dogma von der primitiven Wurzelsprache gegenwärtig als unhaltbar, da diese Sprache ebenso- wohl die Spuren ursprünglicher und wieder verloren gegangener For- menbildung wie in der Umgangssprache die Neigung zu zusammen- gesetzten Wortbildungen zeigt ^). Der Gedanke, daß eine einzelne Sprache Jahrtausende hindurch auf einer primitiven Entwicklungs- stufe stehen geblieben sei, hatte ohnehin von vornherein nur geringe psychologische Wahrscheinlichkeit, am wenigsten für eine Sprache von so hoher begrifflicher Ausbildung wie das Chinesische. Nicht minder begegnet aber die Typentheorie in ihrer Anwendung auf die sogenann- ten agglutinativen Sprachen berechtigten Bedenken. Deren Ab- grenzung von den Flexionssprachen erweist sich als willkürlich, da sich entscheidende Merkmale nicht auffinden lassen: der wesentliche

1) Vgl. meine Logik,^ II, S. 55 ff.

2) W. Grube, Die sprachgeschichtliche Stellung des Chinesischen, 1881, S. 18. Dasselbe gilt für die andern in ihrer Struktur dem Chinesischen verwandten monosyllabischen Sprachen Ostasiens. Vgl. Conrady, Eine indochinesische Kausativ-Denominativbildung, 1896, Einl.

Unterscheidung von Sprachtypen auf Grund der Wurzeltheorie. 601

Unterscliied beider scheint schließlicli darin zu bestehen, daß die ag- glutinierenden Sprachen reichere und zusammengesetztere Flexions- formen besitzen, weil sie die einzelnen Begriffe konkreter, ausgestattet mit einer Menge einzelner Nebenbestimmungen denken^).

Noch undurchführbarer erweist sich ein anderer Gesichtspunkt, der, an die Unterscheidung von Stoff- und Formelementen anknüpfend, in der klaren Sonderung dieser Elemente einen Maßstab sieht, an dem die Entwicklung einer Sprache gemessen werden könne. Wo eine solche Sonderung überhaupt nicht zu bestehen scheint, wo also die Sprache den gleichen Bestandteilen bald einen selbständigen Begriffs- inhalt gibt, bald sie bloß zum Ausdruck von Begriffsbeziehungen gebraucht, da gelten die Sprachen als ,, völlig formlos". Ihnen werden dann die zu einer durchgängigen Scheidung jener Elemente hindurch- gedrungenen eigentlichen Flexionssprachen, das Indogermanische imd Semitische, als die ,, reinen Formsprachen" gegenübergestellt. Zwischen diesen beiden Extremen sollen sich die andern Sprachen, z. B. die ,,agglutinativen", als solche bewegen, die der Formlosigkeit noch nicht entsagt haben, in denen aber doch ein gewisses Streben nach Formbildung erkennbar sei. Neben diesem formalen Gesichts- punkt wird übrigens auch ein innerer, begrifflicher zur Geltung ge- bracht, indem man ,, formlos" eine Sprache nennt, wenn in ihr die konkrete sinnliche Anschauung vorwaltet und abstrakte Begriffs- verhältnisse nicht zum Ausdruck kommen. Diese beiden Merkmale werden endlich dadurch zueinander in Beziehung gesetzt, daß man die begrifflichen Eigenschaften der ,, inneren", die formalen der ,, äußeren Sprachform" zuweist, wobei sich äußere und innere Sprachform ungefähr wie Leib und Seele zueinander Verhalten sollen.

Den ersten Anstoß zur Entwicklung dieser eigentümlichen Ideen hat W. von Humboldt durch seine Unterscheidung von ,, Stoff-" und ,, Formelementen" der Sprache gegeben, Ihre Anwendung auf die

^) Vgl. O. Böthlingk, Über die Sprache der Jakuten. (Middendorfs Reise in den äußersten Norden und Osten Sibiriens, III.) 1851, Einleitung, Für die amerikanischen Sprachen weist aus ähnlichen Gründen Fr. Lieber die Ausdrücke „agglutinativ" und „polysynthetisch'' zurück (American Languages, in School- craft, Ethnological Researches, 1851, II, p. 346 ff.).

602 Die Wortbildung.

Untersclieidung der Spraclitypen ist hauptsächlich das Werk Stein- thals ^). Daß dadurch das Verständnis der genetischen Verhältnisse der Sprachen gefördert worden sei, läßt sich kaum behaupten. Wohl aber ist der schablonenhafte Gegensatz von Form und Formlosig- keit schon bei Steinthal selbst und mehr noch bei seinen Nachfolgern zu einer leeren Formel geworden, mit der man über die wirklichen psychologischen Unterschiede der Erscheinungen hinwegging. Die ganze Auffassung erregt schon dadurch Bedenken, daß dabei der Begriff der „Form" in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen auf- tritt, die durchaus willkürlich in Beziehung gesetzt sind. Einmal soll die Formlosigkeit gewisser Sprachen darin bestehen, daß sich in ihnen Form und Stoff nicht geschieden haben; sodann aber darin, daß sie nicht zu einer deutlichen Ausbildung der grammatischen Begriffs- verhältnisse gelangt sind. Nun entsprechen die Stoff bestandteile des Wortes nach ihrer begrifflichen Bedeutung dem, was wir oben „Grundelemente", die grammatische Form entspricht dem, was wir „Beziehungselemente" genannt haben. Dabei hat sich jedoch gezeigt, daß, sobald man von der durchaus hypothetischen realen Existenz von ,, Wurzeln" Verschiedener Gattung absieht und lediglich die tat- sächlich gegebenen Wortgebilde ins Auge faßt, die Scheidung zwischen jenen Grund- und Beziehungselementen auch in den sogenannten Formsprachen eine fließende ist (S. 595). Auf der andern Seite gibt es überhaupt keine Sprache, wo dies Verhältnis nicht in den vor- handenen Wortbildungen zum Ausdruck käme. Vollends der Grad der begrifflichen Ausbildung einer Sprache steht im allgemeinen zu der Zahl der in ihr verwendeten formalen Elemente insofern in einem gegensätzlichen Verhältnis, als eine konkretere Form des Denkens natürlich mannigfaltigere Beziehungsformen der Begriffe verlangt als eine abstraktere, in der sie auf wenige Grundverhältnisse redu- ziert sind. Für diese allgemeineren Grund Verhältnisse pflegen dann hinwiederum in der konkreteren Sprachform keine besonderen Aus- drucksmittel vorhanden zu sein. So kommt es, daß man nach diesen

1) Vgl. besonders Klassifikation der Sprachen, S. 72 ff., Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des menschlichen Sprachbaues, 1860, S. 312 ff., und an vielen andern Orten.

Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 603

Kennzeichen der ,, inneren Sprachform" eine Sprache bald deshalb „formlos" nennt, weil sie an Formen reicher, bald aber auch deshalb, weil sie an Formen ärmer ist als eine sogenannte Formsprache. In Wahrheit gibt es eben eine formlose Sprache überhaupt nicht, und der Begriff einer solchen steht psychologisch auf gleicher Linie wie der einer Sprache, die bloß aus Wörtern, nicht aus Sätzen bestehe, eine Annahme, die nicht einmal für die Gebärdensprache zutrifft^). Die charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Sprachformen stehen aber in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aufbau des Satzes, daß die Formen der Wortbildung immer nur er- gänzende Kriterien abgeben können; noch weniger lassen sich solche aus der Unterscheidung der ohnehin hypothetischen Wurzeln entnehmen.

4. Reale Bedeutung der Sprachwurzeln.

Wie sich die Anwendung der Wurzeltheorie zur Erklärung der Verschiedenheiten des Sprachbaues als undurchführbar erweist, so begegnet nun auch innerhalb der einzelnen Sprachgebiete die An- nahme, daß die Wurzeln die ursprünglichen, noch unverbundenen oder unentwickelten Wortgebilde selbst seien, unüberwindlichen Schwierigkeiten. Zunächst gibt es ja nicht bloß Wurzeln, die bis zu der einer ganzen Sprachfamilie gemeinsamen hypothetischen Grund- sprache zurückgehen, sondern auch andere, die jedem der aus ihr hervorgegangenen Sprachzweige für sich eigen sind, also z. B. neben den indogermanischen indische, griechische, lateinische, germanische. Wollte man diesen Sonderwurzeln ebenfalls eine einstmalige reale Existenz zugestehen, so müßte man entweder voraussetzen, die so- genannte „Wurzelperiode" sei bei der Trennung in Einzelsprachen noch nicht vorüber gewesen, was mit der Tatsache, daß nicht bloß Wurzeln, sondern auch Wortformen aus der gemeinsamen Grund- sprache in ihre Töchtersprachen übergingen, unvereinbar ist; oder man müßte annehmen, der Trieb neue Wurzeln zu bilden habe auch

1) Vgl. oben Kap. II, S. 216 ff.

604 Die Wortbildung.

nach der ursprünglichen Wurzelperiode partiell noch eine längere Zeit fortgedauert^). Nun ist klar, daß eine solche inmitten bereits bestehen- der Wortbildungen eingetretene Neuschöpfung unmöglich in der Produktion isolierter Wurzeln bestehen könnte, sondern daß sie nur in derselben Form denkbar wäre, in der noch gegenwärtig in der Sprache Neuschöpfungen vorkommen: also in der Form neuer Wörter, wobei die Wurzel von Anfang an bloß als Bestandteil eines wirk- lichen Wortes existierte. Dann ist aber wieder nicht einzusehen, warum nicht in ähnlicher Weise in der Ursprache die Wurzeln entstanden sein sollten. So hat denn auch die Mehrzahl der Sprachforscher jene Annahme einer Identität der Wurzeln mit dem Wort auf die Ursprache, also z. B. die indogermanische Grundsprache, eingeschränkt, womit freilich, da es nun einmal Wörter gibt, die auf Sonderwurzeln zurück- führen, die Schwierigkeit entsteht, daß man eigentlich zweierlei Wur- zeln annehmen müßte, solche von realer Bedeutung, und andere, die bloß als Resultate grammatischer Analyse anzusehen sind. Eine letzte, psychologisch betrachtet nicht die kleinste Schwierigkeit be- reitet endlich die logische Stellung der durch die Wurzelanalyse gefundenen Begriffe. Diese Analyse ergibt nämlich fast durchgängig für die Wurzeln solche Begriffe, die eine Tätigkeit, einen Vorgang oder Zustand ausdrücken, also Verbalbegriffe. Als bloßes Ergebnis logisch-grammatischer Analyse betrachtet ist dies Resultat begreif- lich. Denn es ist selbstverständlich, daß die einer Wurzel zukommende begriffliche Bedeutung allgemeiner sein muß als die aller der Wörter, in die sie eingeht. Zustands- und Eigenschaftsbegriffe sind aber stets allgemeiner als Gegenstandsbegriffe, und zugleich stehen die beiden ersteren wieder in dem Verhältnis zueinander, daß die Eigenschafts- immer leicht in Zustandsbegriffe übergeführt werden können, während das Umgekehrte nicht zutrifft. So kann man den Eigenschaften ,,grün", „groß", „gut" usw. Begriffe wie „grün sein", ,,groß sein", „gut sein" usw. substituieren; bei ,, gehen", ,, laufen", ,, liegen" u. dgl. ist aber der umgekehrte Ersatz nicht möglich. Stellt man daher die Frage, welcher Begriff der einer bestimmten Wortsippe gemeinsame sei, so muß sich mit innerer Notwendigkeit in der Mehrzahl der Fälle ein

^) Vgl. G. Curtius, Griechische Etymologie,^ S. 45 ff.

Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 605

Verbalbegriff ergeben. Sind die Wurzeln ursprüngliche Wörter, nicht bloß Produkte der Analyse und Abstraktion, so muß aber dieses lo- gische Ergebnis ebenfalls eine reale Bedeutung haben. Eine solche ist jedoch im vorliegenden Falle kaum begreiflich. Denn man kann sich unmöglich denken, der Mensch habe irgendeinmal bloß in Verbal- begriffen gedacht. Das Umgekehrte, daß er bloß in gegenständlichen Vorstellungen gedacht habe, könnte man nach den psychologischen Eigenschaften dieser eher verstehen; und in der Tat finden sich deut- liche Spuren eines solchen Zustandes nicht nur in der Sprechweise des Kindes, sondern auch in zahlreichen Volkssprachen, die einen ursprünglicheren Zustand begrifflicher Entwicklung bewahrt haben ^). Nichtsdestoweniger haben schon die alten Sanskritgrammatiker den Schritt getan, von jenem Ergebnis der Wortanalyse auf die verbale Natur der Urwörter zu schließen; und die neuere Sprachwissenschaft ist ihnen in der Mehrzahl ihrer Vertreter gefolgt, wenngleich dieser Bestandteil der Wurzeltheorie eine weniger allgemeine Aufnahme fand, da vielfach neben den Verbal- auch reine Nominalwurzeln an- erkannt werden. Immerhin bleibt das Ergebnis bestehen, daß auch dann, wie die Durchsicht eines jeden auf Wurzeln zurückgehenden etymologischen Wörterbuchs zeigt, die Verbalwurzeln eine enorme Majorität bilden.

Da man sich allen diesen Bedenken wohl nicht ganz verschließen kann, so ist in der Sprachwissenschaft allmählich ein zwiespältiger Zustand eingetreten. Man bedient sich der Wurzeln, um den gemein- samen Ursprung einer Wortsippe aufzuzeigen oder auf den gemein- samen Wortschatz der zu einer Sprachfamilie vorauszusetzenden Grundsprache zurückzuschließen. Aber die Frage ihrer realen Existenz bleibt in der Regel unberührt; 2).

1) Vgl. unten Kap. VI und VII, und bes. Kap. VII, Nr. VIII.

2) Dem skeptischen Standpunkt der heutigen Sprachwissenschaft hin- sichtlich der Wurzeln geben die Betrachtungen, mit denen Brugmann die Ein- leitung seines Grundrisses schließt, einen bezeichnenden Ausdruck (Grundriß der vergl. Grammatik der indogerm. Sprachen, I, S. 17 f.). Noch charakteristischer ist "es wohl, daß in H. Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" das Wort „Wurzel" überhaupt kaum vorkommt. Nicht unerwähnt darf übrigens bleiben, daß schon

606 Die Wortbildung.

Gleichwolil steht diese Frage im engsten Zusammenhang mit einer weiteren, die psychologisch von hoher Bedeutung ist: mit der nach dem Verhältnis des Wortes zum Satze. Ist das Wort früher als der Satz, ist dieser, ebenso wie wir ihn in der gegenwärtigen Sprache aus Wörtern zusammensetzen, von Anfang an eine Verbin- dimg von Wörtern, so wird der Annahme kaum zu entgehen sein, daß ,, Wurzeln" irgendwelcher Art, seien es diejenigen, die heute die Wortanalyse nachweist, seien es andere, die ihnen Vorausgingen, die Urwörter gewesen seien. Denn dies kann auf Grund der Wortanalyse nicht bezweifelt werden, daß im allgemeinen das Wort ein zusammen- gesetztes Gebilde ist. Ist also das Wort ursprünglich ein isoliertes Gebilde, das sich erst nachher mit andern Wörtern zum Aufbau von Sätzen Verbindet, so ist der Schluß kaum zu umgehen, daß auch die Bestandteile des Wortes ursprünglich isoliert existiert haben. Ist dagegen der Satz früher als das Wort, ist demnach dieses erst aus der Zerlegung des Satzes in seine Bestandteile hervorgegangen, dann sind auch die Elemente des Wortes keine ursprünglich isolierten Ge- bilde, und es lassen sich mannigfache Wege denken, auf denen sich durch Wechselwirkung verschiedener Satzteile und durch den Ein- fluß verschiedener Sätze aufeinander das Wort als relativ selbständig gewordener Teil der Rede ausgeschieden hat. (Vgl. unten 5.)

Für den Standpunkt der Wortanalyse reduziert sich aber der Begriff der Wurzel, wenn wir von allen an ihn geknüpften geschicht- lich unerweisbaren und psychologisch unwalj.rscheinlichen Hypo- thesen absehen, auf die Tatsache, daß es Lautkomplexe gibt, die unverändert durch eine Eeihe von Wörtern verfolgt werden können. Dieser reine Konstitutionsbegriff ist natürlich sehr wohl mit der Voraussetzung vereinbar, daß isolierte Wurzeln überhaupt niemals in der Sprache Vorhanden waren, da Wortreihen, die einen übereinstimmenden Lautkomplex enthalten, immer dann entstehen werden, wenn ein übereinstimmender Grundbegriff die

vor langer Zeit A. F. Pott die Auffassung vertreten hat, die Wurzeln seien bloße grammatische Abstraktionen, ohne dabei freilich der' Annahme einer realen Be- deutung der Wurzeln ganz zu entsagen (Pott, Etymologische Forschungen,^ II, 1, 1861, S. 193 ff.).

Reale Bedeutung der Sprachwurzeln. 607

Reilie verbindet, ähnlicli wie wir das noch heute bei neuen Wort- schöpfungen und bei der Entstehung von Lautanalogien beobachten. Dabei mag es geschehen, daß ein einzelnes Wort früher ist als andere, die durch gleichzeitige Begriffs- und Lautassoziation nach ihm sich bildeten; es kann aber auch sein, daß Wörter von übereinstimmen- dem Lautcharakter unabhängig Voneinander aus den nämlichen ur- sprünglichen Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung heraus ent- standen. Überall, wo es sich um ursprüngliche Wortschöpfungen handelt, sind selbstverständlich nur Vermutungen darüber möglich, ob das eine oder andere wirklich stattgefunden habe. Bei der Un- geheuern Bedeutung, die, wie die Erscheinungen des Lautwandels gezeigt haben, den Lautassoziationen von frühe an in der Sprache zukommt, und bei der großen Übereinstimmung der als Wur- zeln betrachteten Lautkomplexe wird man aber als die Regel annehmen dürfen, daß die Bildung einer Gruppe verwandter Wörter zunächst von einem einzelnen Wort ausging; worauf dann, nachdem erst eine geringe Anzahl weiterer Wortbildungen entstanden war, jedes der so gebildeten neuen Wörter selbst wieder zum Mittelpunkt von Assoziationen werden konnte, durch die sich der Geltungsbereich einer und derselben Wurzel er- weiterte^).

^) Gegenüber den hier geäußerten Einwänden gegen die Annahme einer Wurzelperiode der Sprache ist neuerdings von Delbrück (Grundfragen der Sprach- forschung, S. 113 f.), Sütterlin (Das Wesen der sprachlichen Gebilde, S. 56 ff.) und P. W. Schmidt (Mitteilungen der Anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903, S. 373) der Versuch gemacht worden, sie als eine berechtigte nachzuweisen. Zu- nächst beruhen aber die Gründe dieser Forscher auf dem bekanntlich nicht ein- wandfreien methodologischen Grundsatz: eine Annahme, deren Unrichtigkeit nicht mit absoluter Sicherheit nachzuweisen sei, könne als erlaubt zugelassen werden. Nun läßt sich über vorhistorische Zustände der Sprache natürlich über- haupt nichts mit absoluter Sicherheit aussagen. Von diesem Standpunkt aus würde sich also jede beliebige Hypothese rechtfertigen lassen. An die Stelle jenes Grundsatzes sollte vielmehr, wie ich meine, der andere treten: zulässig ist eine Annahme, wenn sie sowohl geschichtlich wie psychologisch wahrscheinlich ist. Nun kann man möglicherweise über die geschichtliche WahrscheinUchkeit einer Wurzelperiode streiten. Nur steht freilich selbst geschichtlich diese Hypothese deshalb in der Luft, weil man zugeben muß, daß die heute nachzuweisenden Wurzeln möglicherweise gar nicht die ursprünglichen sind, sondern, wie Brugmann

608 Die Wortbildung

Nacli allem dem ist klar, daß der Begriff des ,, Elements" eigent- lich dasjenige ist, was das Wort ,, Wurzel" mit einem irreführenden Bilde bezeichnet. Die Wurzeln sind Wortelemente, letzte Bestand- teile, zu denen die Wortanalyse führt, die aber unmittelbar nur in den aus solchen Elementen zusammengesetzten Wortgebilden nach- weisbar sind. Sie sind, im Unterschiede von den Lautelementen, diejenigen Lautbestandteile, welche den in einer Reihe bedeutungs- verwandter Wörter vorkommenden Begriffselementen entsprechen. Da es nun eine doppelte Art der Bedeutungsverwandtschaft gibt, die zwei Wörter verbinden kann, eine solche, die auf den eigentlichen Begriffsinhalt geht, und eine andere, welche die Beziehungen zu den sonst in der Rede vorkommenden Begriffen hervorhebt, so sind zwei Arten Von Wortelementen möglich: Grundelemente und Beziehungselemente. Die so definierten Wortelemente sind aber selbstverständlich nur Elemente der ge- gebenen Wortvorstellungen; die Frage, wie das Wort ent- standen sei, bleibt davon unberührt. Die Annahme einer ,, Wurzel- periode" ist daher eine Fiktion, die weder in den Erscheinungen

andeutet, vielleicht samt und sonders sogleich in Wortzusammensetzungen ent- standen, die sich nach Analogie vor ihnen dagewesener Zusammensetzungen bildeten (Brugmann, Grundriß,^ I, S. 32 f.). Damit ist natürlich der Einwand der einzelsprachlichen Wurzeln aus der Welt geschafft. Aber es ist auch jeder historische Grund hinfällig geworden, der überhaupt noch für eine Wurzel- periode der Sprache eintreten könnte. Doch ist die Frage zugleich vom histo- rischen auf das psychologische Gebiet verwiesen. Denn wenn die angeblichen realen Urwurzeln historisch nicht mehr nachweisbar sind, so ist der Beweis für eine ursprüngliche Wurzelperiode nur noch dadurch zu führen, daß man sie als psychologisch wahrscheinlich nachweist. Davon trifft aber, wie oben gezeigt wurde, das Gegenteil zu. Auch geben sich die Sprachforscher, die für die primitive Wurzelperiode eintreten, nicht einmal die Mühe, eine solche Wahrscheinlichkeit zu begründen, sondern sie begnügen sich in der Regel mit der Versicherung, daß diese Annahme eine ,, bequeme" oder mindestens eine „unschädliche" sei. (Del- brück a. a. 0. S. 120.) Doch abgesehen davon, daß wissenschaftliche Hypothesen nicht an dem Maßstabe der Bequemlichkeit, sondern an dem der Wahrscheinlich- keit gemessen werden sollten, scheint es mir mindestens unschädlicher, wenn man den Wurzeln auch in der Geschichte der Sprache keine andere Bedeutung beimißt als diejenige, die sie, soweit sie sich überhaupt verfolgen lassen, immer besessen haben, nämlich den von bedeutsamen Wortbestandteilen.

Wort und Satz. 609

der wirklichen Sprache eine Stütze findet, noch mit dem, was uns sonst die psychologische Entwicklung lehrt, in Einklang zu bringen ist.

5. Wort und Satz.

Die alte Vorstellung, der Satz werde aus ursprünglich selbständig existierenden Wörtern zusammengesetzt, kann heute wohl in der wissenschaftlichen Grammatik als beseitigt gelten. Sie ist hier der ihr verwandten Ansicht der alten Stoiker, das Wort selbst sei eine Ver- bindung von Silben und Buchstaben, allmählich nachgefolgt. In der lebendigen Sprache existieren, wie H. Paul mit Recht hervor- hebt, noch jetzt vielfach die Grenzen nicht, welche die Schrift- sprache zwischen den einzelnen Wörtern festsetzt^). Vollends wo die literarische Fixierung mangelt, da beruht die Scheidung Von Wort und Satz vielfach erst auf der Willkür des Sprachforschers. Bei den Sprachen, die dem sogenannten ,,agglutinativen'' Typus angehören, scheitert nicht selten eine solche Scheidung tatsächlich daran, daß ein Ganzes nach dem Zusammenhang seiner Teile als ein einziges Wort aufgefaßt werden kann, während es doch nach seinem Gedankeninhalt auf den vollen Wert eines Satzes An- spruch machen darf. So drückt das türkische Verbum nicht bloß Aktivum, Passivum und Zeitbestimmungen der Handlung, sondern auch reflexive, kausative, iterative Beziehungen durch cha- rakteristische Lautelemente aus, die mit dem Verbalstamm ver- bunden werden. Wenn z. B. der Gedanke ,,ich veranlasse euch, euch gegenseitig zu lieben" durch eine einzige Verbalform wieder- gegeben werden kann, so sehen wir hier die Grenzen der Worteinheit mindestens viel weiter gezogen, als es in unseren europäischen Kultur- sprachen möglich ist. Oder wenn ein Delaware-Indianer den Satz „er kommt mit dem Kahn und holt uns über den Fluß" in einer Wort- verbindung ausdrückt, die mit dem Verbalstamm beginnt und mit dem zugehörigen Personalpronomen endet, so dokumentiert sich da- durch wiederum ein solches Gebilde als ein einziges Wort. Dennoch

^) H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte,^ S. 121 ff.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. ^"

610 Die Wortbildung.

enthält es den in einem Satz auszudrückenden Gedanken mit allen seinen Nebenbestimmimgen. Worteinheit und Satzeinheit fallen also hier vollständig zusammen. In einem allerdings sehr viel geringeren Grade besteht ein analoger Unterschied, wie wir ihn zwischen solchen ,,agglutinativen'' Sprachformen und unseren Flexionssprachen beob- achten, auch noch zwischen den älteren und jüngeren Formen der letzteren. Naijientlich das Sanskrit, bis zu einem gewissen Grad aber auch das Griechische, Lateinische, Gotische vermögen mannig- fache Beziehungen der Begriffe durch Suffixe des Nomens und Ver- bums auszudrücken, für die wir besonderer Wörter, der Präpo- sitionen, Personalpronomina und Hilfszeitwörter, bedürfen. Dadurch e*rscheint der Satz beim Übergang von den älteren zu den jüngeren Sprachformen weit mehr in Einzelwörter gegliedert, und die dem Verbum dereinst innewohnende Fähigkeit, Ausdruck eines einzigen Gedankens, also Wort und Satz zugleich zu sein, ist allmählich Verloren gegangen. Das lateinische amavi ist Wort und Satz zu- gleich. Der Romane löst diesen Gedanken in die drei Wörter auf: ego habeo amatum, fai aime. Wenn wir demnach einerseits Sprachen von einer sichtlich primitiveren Entwicklungsform mit ausgebil- deteren Sprachen, und wenn wir anderseits die früheren Stufen einer und derselben Sprache mit ihren späteren vergleichen, so erweist sich überall die Scheidung der Redeteile als derjenige Vor- gang, der das Wort aus dem Ganzen, zu dem es gehört, dem Satz, allmählich loslöst, ihm eine relativ größere Selbständigkeit ver- leiht und mit seiner selbständigen Bedeutung zugleich seine gram- matische Form fixiert.

Diesem Verhältnis des Wortes zum Satz entspricht nun durch- aus die Stellung, die beide nach der unmittelbaren psychologischen Beobachtung in dem Verlauf unserer Vorstellungen einnehmen. Wenn uns oben die Versuche über Wort- und Satzapperzeption gelehrt haben, daß zunächst das einzelne Wort als ein Ganzes aufgefaßt wird, so ist nicht zu vergessen, daß sich solche Experimente immer nur auf Individuen beziehen, die an ein das Ganze des Satzes in seine Be- standteile gliederndes Denken und an isolierte Wortvorstellungen gewöhnt sind. Die Art, wie sich hier das Wort als Einzel Vorstellung aus dem Satze abhebt, ist daher von diesen durch Tradition und früh

Wort und Satz. 611

erworbene Übung längst gewonnenen Scheidungen bestimmt. Anders bei dem Naturmenschen, in dessen Denken das Wort überhaupt kein fest sich abgrenzendes Gebilde ist, sondern nur der Satz durch den sicher ausgeprägten Abschluß des Gedankeninhalts als eine bestimmte Einheit erscheint. Bei ihm dominiert dieses Ganze. Von den Einzel- vorstellungen, die in dasselbe eingehen, mögen einzelne, namentlich solche, die sich auf in der Wahrnehmung gegebene Gegenstände be- ziehen, bereits fester umgrenzt sein, andere, besonders Raum- und Zeitbestimmungen, die Arten der Tätigkeit und des Verhaltens der Gegenstände, bleiben eng mit den sie tragenden Hauptvorstellungen verbunden. Aber auch bei jenen relativ isolierbareren gegenständ- lichen Inhalten bleibt die Beziehung zu dem Ganzen, dem sie an- gehören, eine so unmittelbare, daß jeweils das Einzelne nur in seiner konkreten Verbindung mit dem Ganzen dem Bewußtsein gegenwärtig ist. Auf solche Weise ist der Satz gegenüber dem Wort insofern die ursprünglichere Vorstellungseinheit, als der in dem Satz ausgedrückte Inhalt auf jeder Stufe des Denkens gegenüber andern ähnlichen In- halten ein relativ abgeschlossenes Ganzes ist. Bezeichnen wir den dem Satz entsprechenden Bewußtseinsinhalt als eine Gesamtvor- stellung, so bildet demnach jedes Wort des Satzes eine Einzel- vorstellung, der in jener eine bestimmte Stellung zukommt, in- dem sie mit den übrigen in die gleiche Gesamtvorstellung ein- gehenden Einzelvorstellungen in Beziehungen und Verbindungen gesetzt ist. Dieses Verhältnis an sich ist ein der Sprache auf allen Stufen und in allen Formen ihrer Entwicklung imausbleiblich zukommendes. Nur die Festigkeit der Verbindungen ist eine außer- ordentlich abweichende, so daß dadurch bald Wort- und Satz- einheit fast ununterscheidbar zusammenfließen, bald scharf ge- gliedert einander gegenüberstehen. Aber selbst diese Unter- schiede der Sprachformen ermäßigen sich in der lebendigen Rede, indem hier die Verbindung zu einem Ganzen, die dem natür- lichen Primat des Satzes entspricht, immer wieder zur Vorherrschaft gelangt.

Leicht kann man sich übrigens von diesem Verhältnis der die Satzinhalte bildenden Gesamtvorstellungen zu den durch die Worte repräsentierten Einzelvorstellungen bei aufmerksamer Selbstbeobach-

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612 Die Wortbildung.

tung während der Rede überzeugen. In dem Moment, wo ich einen Satz beginne, steht das Ganze bereits als eine Gesamtvorstellung in meinem Bewußtsein. Dabei pflegt diese aber nur in ihren Haupt- umrissen einigermaßen fester geformt zu sein; alle ihre Bestandteile sind zunächst noch dunkel und heben sich erst in dem Maße, als sie sich zu klaren Vorstellungen verdichten, als Einzelworte ab. Der Vorgang gleicht ungefähr dem bei der plötzlichen Erleuchtung eines zusammengesetzten Bildes, wo man zuerst nur einen ungefähren Ein- druck vom Ganzen hat, dann aber sukzessiv die einzelnen Teile, immer in ihrer Beziehung zum Ganzen, ins Auge faßt. Übrigens ist die all- tägliche Erfahrung, daß der Redende einen zusammengesetzten Satz richtig von Anfang bis zu Ende durchführen kann, ohne vorher über ihn irgendwie reflektiert zu haben, offenbar nur aus diesem Verhält- nis erklärlich. Diese Tatsache würde absolut unverständlich sein, wenn wir mosaikartig aus einzelnen zuerst isolierten Wortgebilden den Satz zusammenfügen müßten.

6. Ursachen der Wortsonderung.

Wenn wir das Wort als eine ,, Einzel Vorstellung" bezeichnen und diese dem Satz als einer sie enthaltenden Gesamtvorstellung gegenüberstellen, so gewinnt dieses Verhältnis seine Bedeutung für die Entwicklung des sprechenden Denkens wesentlich dadurch, daß hierbei notwendig das beschränktere und abhängige aus dem um- fassenderen und bestimmenden Gebilde hervorgehen mußte. Noch erhebt sich jedoch die Frage nach dem Wie dieses Geschehens, nach den Bedingungen, die dem einzelnen Wort allmählich eine größere Selbständigkeit und für sich allein schon einen Begriffswert sichern. Nur einer dieser Bedingungen wurde bereits gedacht: nämlich der Assoziationen, in die ein einzelnes Wort mit dem gleichen, in irgend- einem andern Satzganzen vorkommenden treten muß, sobald die ent- sprechenden Gesamtvorstellungen infolge der Er inn er ungs Vorgänge in hinreichende Berührung kommen um aufeinander einwirken zu können (S. 590 f.). Hiermit ist aber doch nur die vorbereitende Be- dingung zur Isolierung des Wortes gegeben; die tiefer liegenden Ur-

Ursachen der Wortsondernng. 613

Sachen des Vorgangs sind dadurch noch nicht aufgedeckt. Denn es ist allerdings selbstverständlich, daß sich irgendeine Vorstellung nur dann von andern isolieren kann, wenn sie in wechselnden Verbin- dungen mit diesen vorkommt, gerade so wie ein Gegenstand im Raum erst durch seine Bewegung als ein von seiner Umgebung trennbarer erscheint. Diese allgemeine Assoziationsursache kann jedoch ihre Wirkungen nur zustande bringen, weil der einzelnen Wortvorstellimg von vornherein gewisse Eigenschaften anhaften, vermöge deren sie überhaupt isolierbar ist. Dies aber beruht auf Bedingungen, die mit der Konstitution der Gesamtvorstellungen sowohl wie der Einzel- vorstellungen zusammenhängen müssen. Nun ist das Denken und seine Äußerung in der Sprache keine bloße assoziative Aneinander- reihung. Solches würde allenfalls denkbar sein, vC^enn der Satz eine bloße Verbindung von Wörtern wäre und nicht vielmehr das Wort selbst aus dem Satze seinen Ursprung nähme. Da aber das Ganze des Gedankens das Primäre ist, so kann auch das primum movens für die Isolierung der einzelnen Wortvorstellungen nur in den psychischen Kräften liegen, die eine Zerlegung jener Gesamt- vorstellung in ihre Teile herbeiführen. Diese Kräfte müssen mit denen der Konstitution der Gesamtvorstellung selbst zusammen- hängen; sie können ihr nicht durch äußere zufällige Einwirkungen, z. B. durch die Assoziation ihrer einzelnen Wortbestandteile mit denen anderer ähnlicher Gebilde, zufließen. Vielmehr wird letzteres immer nur eine äußere Bedingung bleiben, durch welche die in der Natur der Gesamtvorstellung als eines einheitlichen, aber zusammengesetzten Gedankens liegenden inneren Bedingungen zur Wirkung kommen. Gerade diese Einheit einer Gesamt- vorstellung ist es nun, die sich auf keine Weise als eine bloße Summe von Assoziationen begreifen läßt. Sicherlich haben diese erst das Material bereit stellen müssen, das zur Entstehung auch der einfachsten, in einem Satz auszusprechenden Gesamtvor- stellung erforderlich ist. Gleichwohl ist die Verbindung der in der Sinneswahrnehmung nur äußerlich assoziierten Objekte zu einem Ganzen, dessen einzelne Teile in bestimmte Beziehungen wechsel- seitiger Zugehörigkeit oder Abhängigkeit gesetzt werden, ebenso- wenig ein bloßer Assoziationsakt, wie die willkürliche Richtung der

614 Die Wortbildung.

Aufmerksamkeit auf irgendwelche Gegenstände der Wahrnelimung, unter absichtlicher Vernachlässigung anderer, oder die willkürliche, aus einem bestimmten bevorzugten Motiv entspringende äußere Hand- lung eine bloße Assoziation ist. Alle diese Vorgänge würden ohne die mannigfachsten Assoziationen nicht möglich sein. Sie setzen aber außerdem resultierende psychische Wirkungen voraus, welche die gesamte psychische Anlage und Vergangenheit des Subjekts zu ihrer Grundlage haben. Infolgedessen erfolgt jede Apperzeption einer Gesamtvorstellung sowohl wie der aus dieser sich ablösenden Einzel- vorstellungen auf Grund bestimmter Willensmotive, die aus der Wechselwirkung der zunächst sich bietenden Assoziationen mit jener psychischen Anlage hervorgehen.

Dieses Verhältnis bringt für die Analyse der Vorgänge des Denkens und Sprechens die doppelte Aufgabe mit sich: einerseits die Assoziationsbedingungen nachzuweisen, die einem gegebenen Gedankenzusammenhang zugrunde liegen; anderseits die Apper- zeptionsmotive aufzufinden, die in Verbindung mit den Assozia- tionen die wirkliche Konstitution der Denkakte erklären.

Diese doppelte Aufgabe erledigt sich nun bei dem vorliegenden Problem wegen des engen Zusammenhangs, in dem hier die Asso- ziations- und die Apperzeptionsbedingungen stehen, in der denkbar einfachsten Weise. Assoziativ wird die Isolierung des einzelnen Wortes dadurch vermittelt, daß das gleiche Wort auch in andern Gesamt- vorstellungen in veränderten Umgebungen vorkommt. Daß dies der Fall ist, hat aber wieder seinen Grund in den apperzeptiven Be- ziehungen, in die in jedem einzelnen Fall die Teile des Gedankens zueinander treten, Beziehungen, die, assoziativ vorbereitet, erst in hinzutretenden Akten willkürlicher Verknüpfung endgültig voll- zogen werden. Hiernach läßt sich der ganze Vorgang der Wortiso- lierung auf eine Reihenfolge von vier Prozessen zurückführen. Voran steht eine Assoziation von direkten Empfindungs- und von Erinne- rungselementen: das ursprüngliche Vorstellungssubstrat des Gedankens. Aus ihm entsteht auf zweiter Stufe durch einen Apper- zeptionsakt, der gewisse Wahrnehmungsmotive vor andern bevor- zugt und das Ganze gegen , andere Bewußtseinsinhalte abschließt, die Bildung der Gesamtvorstellung. Darauf folgt in dritter Linie

Volkstümliche Neubildungen. 615

eine Reihe sekundärer Assoziationen übereinstimmender Bestandteile verschiedener Gesamtvorstellungen, infolge deren sich solche übereinstimmende Teile deutlicher von andern abheben, mit denen sie wechselnder verbunden sind. Hierzu kommt endlich als letzter Apperzeptionsakt die willkürliche Isolierung dieser durch Gleichheitsassoziationen gehobenen Elemente zu selbständigen Einzel- vorstellungen.

Von diesen vier Prozessen gehört der erste, die Assoziation der Wahrnehmungs- und Erinnerimgselemente, einer der Sprache vor- ausgehenden Bewußtseinsentwicklung an. Der zweite, die Apper- zeption der Gesamtvorstellung, kann zwar auch als ein Akt sprach- losen Denkens vorkommen, und es geschieht dies tatsächlich fort- während in den Vorgängen sogenannter Phantasietätigkeit. Überall aber, wo der Trieb nach Mitteilung des selbsttätig Erfaßten an Andere hinzutritt, da entsteht notwendig irgendeine äußere Reaktion, welche diese Apperzeption als natürliche Ausdrucksbewegung begleitet. Eine solche Reaktion besteht, sobald die Gesamtvorstellung verwickelter wird, in einer Folge von Bewegungen, also, falls die Bedingungen zur Entstehung der Lautsprache gegeben sind, in einer Folge von Laut- artikulationen. Hiermit wird die Gesamtvorstellung selbst, und in weiterer Folge jede aus ihr durch die anschließenden Assoziations- und Apperzeptionsprozesse sich loslösende Einzelvorstellung zu einer mehrfachen Komplikation. Zunächst verbindet sich der kon- krete Anschauungsinhalt mit der akustischen sowie mit der moto- rischen Wortvorstellung, wobei die erstere beim Hören des Gesproche- nen, die letztere beim eigenen Sprechen überwiegt; und dazu kommen dann als inkonstantere und qualitativ wechselndere die optischen und graphischen Bestandteile der Komplikation. (Vgl. oben S. 568 ff.)

IV. Neubildung von Wörtern.

1. Volkstümliche Neubildungen.

Wenn die psychischen Kräfte, die in irgendeiner entlegenen Ur- periode der Sprache artikulierte Laute zu Wörtern vereinigt haben, keine andern sind als diejenigen, die heute noch das Leben der Sprache

616 Die Wortbildung.

behierrsclien, so erscheint es als eine naheliegende Folgerung, daß auch die Urschöpfung der Wörter kein seit langer Zeit zum Stillstand gekommener, sondern daß er ein sich fortwährend in der lebenden Sprache wiederholender Prozeß sei, gerade so wie sich in den Fort- pflanzungsvorgängen der Organismen immer wieder unter unsern Augen deren Schöpfung erneuert. Immerhin muß ebendiese Ana- logie zur Vorsicht vor einer etwaigen Unter Schätzung der jedenfalls abweichenden Bedingungen ursprünglicher Neuschöpfung mahnen. Ist auch die Kraft fortwährender Wiedererneuerung und zweckmäßiger Umwandlung in der organischen Natur unzerstörbar, solange das Leben selbst besteht, so sind doch allem Anscheine nach die Be- dingungen einer ersten Erzeugung organischer Wesen auf unserer Erde entweder für immer dahin oder in Grenzen eingeschränkt, die bis jetzt ihre sichere Nachweisung unmöglich gemacht haben. Gerade so wird man erwarten dürfen, daß die Neuschöpfung von Wörtern in späteren Perioden der Sprache nicht dasselbe Phänomen mehr ist wie die ursprüngliche, da auf jene alles, was bis dahin in der Sprache schon feste Gestalt gewonnen hat, bestimmend einwirkt. Darum ist nun aber auch die Analogie mit der organischen Natur in diesem Falle höchstens für den End erfolg, nicht für dessen nähere Ursachen zutreffend. In der organischen Welt sind, soviel wir vermuten dürfen, die äußeren Bedingungen einer „generatio spontanea" wesentlich andere ge- worden. Bei der Sprache haben sich die inneren Bedingungen verändert, die dem nie erlöschenden Trieb der Wortbildung seine Richtung geben. Namentlich hat hier die Ausbildung der vor- handenen Sprache die wortbildenden Prozesse für alle Folgezeit auf ein verhältnismäßig enges Gebiet von Ergänzungen des Wortschatzes eingeschränkt naturgemäß auf ein um so engeres, je vollständiger die überlieferte Sprache allen Bedürfnissen bereits entgegenkommt. Darum ist hier allerdings zu erwarten, daß mit fortschreitender Ent- wicklung die Quellen der Neubildung mehr versiegen, nipht weil es an den Kräften fehlte, die sie aus dem Mutterboden der Sprache hervorlocken könnten, wohl aber, weil die Anlässe, die zur Äuße- rung dieser Kräfte treiben, seltener werden. Gleichwohl ist es für das Problem der Wortbildung von Interesse, jenen verein-

Volkstümliche Neubildungen. 617

zelten Fällen einer wirklichen Neuschöpfung, die sich noch in der heutigen Sprache ereignen, nachzugehen. So beschränkt sie sein mögen, so bieten sie doch den einzigen Fall, wo der Vorgang der Wortschöpfung der unmittelbaren Beobachtung einigermaßen zu- gänglich ist.

Viele Neubildungen gehen von frühe an in den allgemeinen Sprach- schatz, wenn auch zunächst nur in den eines beschränkten Bevölke- rungskreises, über. Sie mögen individuellen Ursprungs sein; aber ihr Urheber verbirgt sich unserer Nachforschung^ denn rasch, wie sie entstanden, werden sie von der Gemeinschaft aufgenommen und weiter getragen. Solche ,, volkstümliche Neubildungen" kommen in jeder Sprache vor, wenn sie auch in den Kultursprachen hinter den ,, gelehrten Neubildungen" und den aus dem gleichen Trieb nach Erweiterung des Wortschatzes hervorgehenden Entlehnungen stark zurücktreten^). Schon um dieser Beschränkung willen wird man von vornherein nicht erwarten dürfen, daß diese Erscheinungen für das Problem der Wortbildung überhaupt von entscheidender Bedeu- tung seien. Nichtsdestoweniger sind sie geeignet, auf gewisse Seiten dieses Problems, namentlich auf die Abhängigkeit neu sich bildender Wörter voneinander und von dem schon vorhandenen Wortschatz einiges Licht zu werfen.

Wir können Wohl am ehesten die volkstümliche Neubildung zu ihrer Quelle verfolgen, wenn wir der Art und Weise nachgehen, wie sich jene Arten von „Slang" oder ,, Jargon" 2) bilden, die überall da entstehen, wo eine Anzahl von Menschen im täglichen Beisammen- sein besonderen Lieblingsinteressen oder fortwährend geübten Be-

^) Charakteristisch hierfür ist es, daß z. B. in dem Werke von A. Darme- steter. De la cr6ation de mots nouveaux de la langue fran^aise, 1877, volkstüm- liche Neubildungen eine ganz verschwindende Rolle spielen, gegenüber den ge- lehrten Neubildungen und den zur Neubildimg in dem hier gemeinten Sinne gar nicht zu rechnenden Entlehnungen, Ableitimgen und Bedeutungsübertragun- gen, die in jenem weitesten Umfang, in dem Darmesteter den Begriff faßt, sämt- lich als „mots nouveaux** bezeichnet werden.

2) Pie deutsche Sprache hat dafür keinen bezeichnenden Ausdruck, ab- gesehen von dem ausschheßUch für die Gaunersprache gebrauchten Kompositum „Rotwelsch^* und dem analogen, jede unverständliche Sprechweise bezeichnenden „Kauderwelsch".

&

618 Die Wortbildung.

schäftigungen nachgeht. Diese Bedingung führt von selbst die Neigung mit sich, die Objekte der besonderen Interessensphäre auch dadurch nach außen abzuschließen, daß für sie neue, von den sonst gebrauchten abweichende Wörter geschaffen werden. Tritt das Streben hinzu, die Gegenstände der Unterhaltung vor andern zu verhüllen, so kann dadurch die Ausbildung einer solchen Sondersprache noch mehr ge- fördert werden; immerhin ist das ein sekundäres Motiv, das in sehr vielen Fällen gar nicht in Betracht kommt. Mögen nun auch solche Sondersprachen vielfach mit der Neuentstehung irgendwelcher ge- selliger Kreise aufkommen und mit ihnen wieder verschwinden, so haben sie es doch in einzelnen Fällen, wo die Bedingungen ihrer Be- festigung und Verbreitung günstig waren, zu größerer räumlicher und zeitlicher Ausdehnung gebracht: so in der Gaunersprache, der Soldatensprache, der Studentensprache, der Handwerksburschen - spräche. Daran schließen sich als beschränktere Erscheinungen die Jargons gewisser anderer Berufskreise, wie der Kutscher, der Küfer, der Kellner usw., oder bestimmter Geselligkeitskreise, wie der Spieler, der Kegler und in neuester Zeit besonders der Kadler. Manche dieser Sondersprachen entlehnen voneinander, und viele ihrer Ausdrücke sind verstümmelte Lehnwörter. So hat die Gaunersprache vieles dem Hebräischen, die Studentensprache manches dem Lateinischen entnommen oder diesem und den ihm entlehnten Fremdwörtern an- geglichen. Einzelne Ausdrücke endlich sind aus dem einen dieser Idiome in das andere übergegangen: namentlich das verbreitetste und älteste derselben, die Gaunersprache, hat so die Kellner-, Sol- daten- und Studentensprache mit Wörtern versorgt. In allen diesen Sondersprachen kommen übrigens auch zahlreiche Bestandteile vor, die nicht wirkliche Neubildungen, sondern bloße Bedeutungsüber- tragungen sind. Stark wirkt in solchen Fällen außerdem die absicht- liche Erfindung mit, so daß dadurch die Erscheinungen für die vor- liegende Frage im allgemeinen belanglos werden^).

^) Über die Gaunersprache vgl. Ave-Lallemant, Das deutsche Gaunertum, III, 1862, über die Studentensprache F. Kluge, Deutsche Studentensprache, 1895, Seemannssprache, 1901. Über die Gesamtheit dieser Sondersprachen bandelt F. Kluge, Rotwelsch- Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und

Volkstümliche Neubildungen. 619

Wie aus diesen Sondersprachen einzelne Wörter in die Volks- sprache übergehen können, so sind nun ohne Zweifel überall Neu- bildungen ursprünglich in irgendeinem beschränkten Kreise ent- standen, um dann zuerst in den nächsten Dialekt und endlich aus diesem durch mündliche Mitteilung oder durch die Literatur in weitere Kreise zu dringen. In der Eegel ist aber die Existenz einer Neubil- dung erst festzustellen, nachdem diese Ausbreitung bereits eingetreten ist. So zeigt die deutsche Schriftsprache in jeder ihrer Perioden zahl- reiche Neubildungen. In der älteren Zeit sind sie von dialektischen Übertragungen und assimilierten Fremdwörtern nicht immer zu scheiden. In der neuhochdeutschen Periode besitzen wir aber ein ziemlich sicheres Kennzeichen ihres Ursprungs in ihrem lautlichen Zusammenhang mit andern, altüberkommenen oder mindestens vor- her eingebürgerten Wortbildungen. Darin liegt zugleich ein Beweis dafür, daß solche Neubildungen nicht außer allem Zusammenhang mit dem sonstigen Wortschatz entstehen, sondern daß sie sich an diesen und dabei fast immer an ganz bestimmte laut- und bedeutungs- verwandte Wörter anlehnen. Ferner sind die neugebildeten Wörter, wenigstens soweit sie jüngeren Ursprungs sind, in ihrer Mehrzahl Verba. Dies hängt mit der andern Eigenschaft zusammen, daß sie meist den Charakter der ,, Lautgebärden" und ,, Lautmetaphern" besitzen. Als solche sind diese Neubildungen bereits an einer früheren Stelle als Zeugnisse unmittelbarer Beziehungen zwischen Laut und Bedeutung besprochen worden^). Die gleiche Beziehung ist es nun natürlich auch, die für den nämlichen Vorgang, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt eines Wortbildungsprozesses betrachtet, in vor- derster Linie steht. Gerade die ,, Grundelemente" des Wortes sind es, die auf solche Weise durch eine unmittelbare Assoziation der Verteilung mit der Lautbewegung zustande kommen, und die dem Wort um so mehr den Charakter der Neubildung ver-

der verwandten Geheimsprachen, 1901. Gauner- und Studentensprache können als Vertreterinnen verschiedener Typen gelten, insofern die erstere den Charakter einer Geheimsprache, die letztere zum großen Teil den einer scherzhaften Ver- welschung der gewöhnlichen Sprache hat. 1) Vgl. Kap. III, S. 329 ff.

620 I>ie Wortbildung.

leihen, je weniger jene Assoziation mit schon vorhandenen, die nämlichen oder verwandte Begriffe ausdrückenden Lautgebilden mitwirkt.

Hier kommen nun aber zu der Beziehung zwischen Laut und Vorstellung zwei weitere Momente hinzu, die eigentlich erst den Prozeß in den Bereich der Wortbildung erheben. Das erste ist die Assoziation der Grundelemente des Wortes mit denen anderer Wörter, die jenem nach Laut wie Bedeutung verwandt sind; das zweite die Assoziation der Beziehungselemente mit den in andern Wortgebilden von übereinstimmender Stellung ent- haltenen und die assoziative Angleichung an diese. Vermöge der ersten Assoziation läßt sich beinahe jede Neubildung in eine Keihe verwandter Wortbildungen eingliedern, unter denen ein- zelne meist nachweislich älteren Ursprungs sind als andere, so daß mit größter Wahrscheinlichkeit eine Art Attraktion der älteren Form auf die jüngere, zugleich aber eine durch die neben- hergehende onomatopoetische Assoziation bedingte Variation des Lautes, die den Unterschied von jenem attrahierenden Wort- gebilde herbeiführte, zustande kam. In vielen Fällen mögen es aber auch mehrere Wörter von verwandtem Lautinhalt gewesen sein, welche die attrahierende Wirkung ausübten. Solche Wortreihen durchweg neueren Ursprungs, jedoch meist von etwas verschiedenem Alter der einzelnen Glieder, sind z. B. haumein, bammeln, bimmeln, bummeln, bambeln, famfein, bangein, ferner: flattern, flittern (häufiger als Sub- stantiv Flitter), flirren, flintern, flisfern, flunkern, flüstern; sodann: knarren, knurren, hnirren, knirschen, knattern, knittern usw. Wie man sieht, sind die Verwandtschaften bald enger bald weiter, und es läßt sich daher kaum die Grenze bestimmen, wo zwischen Wörtern einer solchen Eeihe noch mit Sicherheit eine Assoziation angenommen werden darf, und wo nicht mehr. So ist es wohl sicher, daß z. B. bau- meln, bammeln, bimmeln, bummeln zusammenhängen, während man es zweifelhaft lassen muß, ab bangein und andere ähnliche noch zur selben Gruppe gehören. Wo aber ein Zusammenhang anzunehmen ist, da fällt auch jedesmal die doppelseitige Wirkung einerseits des vorhandenen Wortes, anderseits der neuen Vorstellung, die auf jenes modifizierend einwirkt, in die Augen. So ist nach den literarischen

Volkstümliche Neubildungen. 621

Befunden unter den Wörtern der ersten der obigen Reihen baumeln das älteste. Es läßt sich als eine Lautgebärde für eine hin- und her- schwingende Bewegung deuten, auf deren Gestaltung außerdem wohl die Assoziation mit dem Worte Baum eingewirkt hat: ein an einem Baum aufgehängter Gegenstand „baumelt"^). Auf die schwingende Bewegung der Glocke übertragen trat sodann die Vorstellung des Baumes zurück, während zugleich der Besonderheit des Glocken tons der Doppelvokal widerstrebte: so entstand durch onomatopoetische Lautvariation das Wort hammein, und dieses modifizierte sich wieder auf den Klang eines kleinen Glöckchens übertragen, zu himmeln. Als ein letztes Gebilde dieser Wortreihe ist endlich, sei es direkt aus baumeln oder aus bammeln, in der Studentensprache das Wort bum- meln entstanden, als onomatopoetisches Wort für ,, Spazierengehen", und in weiterer Übertragung für ,, müßiggehen".

Hiernach sind derartige Neubildungen im allgemeinen die Er- zeugnisse einer dreifachen Assoziation. Erstens wirkt meist ein be- reits vorhandenes Wort, mag es nun selbst schon onomatopoetisch sein oder nicht, assimilierend auf das neu entstehende. Zweitens wird dieses durch eine Assoziation zwischen der Vorstellung, die es bedeutet, und einer dieser entsprechenden Lautgebärde onomatopoetisch be- einflußt. Drittens reiht es sich durch eine von verwandten Wort- formen ausgehende Massenassoziation, eine ,, äußere grammatische Angleichung" (S. 445), einer bestimmten, seiner Stellung im Satz entsprechenden Wortklasse an. Von diesen drei Assoziationen, die sich sämtlich im allgemeinen simultan, also wieder in der Form der Assimilation vollziehen, kann die erste möglicherweise ganz fehlen: dann liegt eine Urschöpfung im engeren Sinne vor, eine solche, bei der die Grundelemente des Wortes nur durch die direkte Wirkung des Gegenstandes auf die Lautgebärde entstehen. Durch die dritte der genannten Assoziationen, aus der die Bildung der Beziehungs- elemente hervorgeht, wird aber ein solches, losgelöst von allen bereits vorhandenen Wortstämmen entstandenes Wort dem allgemeinen

^) Vgl. die in dieser (übrigens hypothetischen) Ableitung von Baum über- einstimmenden Bemerkungen von Grimm, Kluge und Paul in ihren Wörter- büchern.

622 I>ie Wortbildung.

Organismus der Sprache eingegliedert und dadurch fähig, seiner- seits neue Bildungen teils durch Ableitungen, teils durch die oben erörterten Variationen der onomatopoetischen Wirkung hervorzu- rufen. Durch solche Variationen stehen zugleich diese Neubildungen in unmittelbarer Beziehung zu Erscheinungen, die in die Urzeiten der Wortbildung zurückreichen, und deren wir früher bei der soge- nannten „Wurzel Variation" als ältester geschichtlicher Zeugnisse der Sprache für eine innere Beziehung zwischen Laut imd Bedeutung gedacht haben ^).

2. Gelehrte Neubildungen.

Von den volkstümlichen unterscheiden sich die gelehrten Neu- bildungen schon nach ihrem äußeren Eindruck dadurch, daß sie den Charakter willkürlicher Erfindungen an sich tragen imd daher viel bestimmter auf einen individuellen Ursprung hinweisen. In der Tat ist hier der Schöpfer eines neuen Wortes in sehr vielen Fällen in einer bestimmten literarischen Persönlichkeit direkt aufzufinden. Jenes Merkmal der willkürlichen Erfindung entsteht aber hauptsächlich deshalb, weil die gelehrte Neubildung ohne gelehrte Beschäftigung, speziell ohne die Kenntnis einer fremden Literatur und Sprache ganz undenkbar ist. Hieraus entspringt ein wesentlicher Unterschied gegen- über der volkstümlichen Neubildung. Diese schöpft nur aus der eigenen Muttersprache, jene betätigt sich in der Übertragung fremden Sprach- guts in die Muttersprache. Eine solche Übertragung kann nun aber auf zwei Wegen geschehen: durch die in anderem Zusammenhang schon besprochene Assimilation der Fremdwörter 2), und durch wört- liche Übersetzung. Die Assimilation der Fremdwörter kann so- wohl auf dem volkstümlichen wie auf dem gelehrten Wege statt- finden. Das erstere pflegt in den älteren, das letztere in den jüngeren Perioden der Sprache zu geschehen. Zur Vermehrung des Wort- schatzes trägt sie natürlich sehr vieles, und im allgemeinen wohl mehr

1) Vgl oben Kap. III, S. 359 ff.

2) Vgl. Kap. IV, S. 469 ff. '

Gelehrte Neubildungen. 623

bei als die Übersetzung. Doch eine eigentliche Neubildung ist sie nicht. Ihrem psychologischen Charakter nach fällt sie vielmehr durch- aus mit der Dialektübertragung oder mit der Aufnahme eines einem beschränkten Berufskreis entstammenden Wortes in den allgemeinen Sprachschatz zusammen.

Jedes Kulturvolk, das seine Wissenschaft imd Kunst nicht zum wesentlichsten Teil, namentlich soweit eine Vermittlung durch lite- rarische Denkmäler in Frage kommt, aus sich selbst erzeugte, son- dern gewisse Grundlagen von andern in der Kultur vorangegangenen Völkern überkam, hat nun aber durch die willkürliche sprachbildende Tätigkeit einzelner Schriftsteller den für das wissenschaftliche Denken imd seine einzelnen Gebiete erforderlichen Wort Vorrat bereichert. Diese Tätigkeit ist im wesentlichen überall von übereinstimmender Art. Die römischen Autoren, die in Anlehnung an die Griechen eine philosophische Terminologie aus rein lateinischen Wörtern herstellten, sind dabei nicht anders verfahren als die Deutschen, als sie von den Zeiten des Notker Labeo und des sprachgewaltigen Meisters Eck- hardt an bis herab auf Leibniz und Christian Wolff den lateinischen Sprachschatz zu neuen deutschen Wortbildungen verwerteten. Unter ihnen nimmt Leibniz eine führende Stellung ein. Hatten die Früheren von Fall zu Fall dem Bedürfnis, das fremde Wort in einem ihren Volks- genossen verständlichen Ausdruck wiederzugeben, zu genügen ge- sucht, so war es Leibniz, der in seinen ,,Un vorgreif liehen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache" (1697) zum ersten Male mit klarer Besonnenheit über die Grund- sätze, nach denen solche Neubildungen auszuführen seien, Rechen- schaft gab^). Das Verdienst der Durchführung des von ihm aufge- stellten Programms gebührt Wolff und seiner Schule: hier, auf dem Boden der willkürlich planmäßigen Erfindung und Bereicherung der Sprache, lag das Feld, auf dem das Zeitalter der Verstandesauf- klärung zum Teil sein Bestes geleistet hat^). Der Philosophie sind

*) Leibniz' Deutsche Schriften, herausg. von G. E. Guhrauer, I, 1838, S. 440 ff.

2) Vgl. hierzu H. Rückert, Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, 1875, II, S. 308 ff.

624 Die Wortbildung.

die andern Wissenschaften langsamer gefolgt, mit zwei Ausnahmen: der Jurisprudenz und der Medizin. In der Medizin fehlten hinreichend präzise Ausdrücke für die neueingeführten Begriffe in dem heimischen Sprachschatze gänzlich. Eher kann man sich wundern, daß die Rechtswissenschaft die reiche alt- deutsche Rechtssprache der Vergessenheit überantwortete, um, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, ihr gesamtes Be- griffssystem aus Fremdwörtern aufzubauen. Die deutsche Juris- prudenz bildet dadurch einen merkwürdigen Gegensatz zur deut- schen Philosophie. Diese hat zunächst zu ihrem eigenen, dann aber mehr und mehr zum allgemeinen Gebrauch der deutschen Sprache eine Fülle neuer Wörter für Begriffe zugeführt, für die es ur- sprünglich ganz an geeigneten Ausdrücken fehlte. Die Rechtswissen- schaft hat umgekehrt die deutsche Sprache einer Fülle eigenartiger Wortbildungen beraubt, um ihr dafür ein fremdes, großenteils der Hasse des Volkes unverständlich bleibendes Sprachgut mitzuteilen. An sich war das keine notwendige Folge der Aufnahme des fremden Rechtes. War doch umgekehrt in der Philosophie gerade durch die Aufnahme fremder Ideen das Bedürfnis erwacht, den Schatz der eigenen Muttersprache durch Neubildungen zu vermehren. Es mußten besondere Bedingungen hinzukommen, der erbitterte Kampf gegen das alte Recht, die geflissentliche Abschließmig des gelehrten Juristen- standes, um diesen Erfolg herbeizuführen. Im Gegensatze hierzu waren Leibniz und die Aufklärungsphilosophen, denen wir die letzte große Bereicherung unserer Sprache durch gelehrte Neubildungen verdanken, vielmehr eifrig bemüht, die Errungenschaften der in der wissenschaftlichen Kultur fortgeschritteneren Nationen dem eigenen Volke nutzbar zu machen. Diese Verhältnisse zeigen zugleich deut- lich, daß zu der nie erlöschenden Regsamkeit des sprachschöpferischen Triebes doch noch besondere Ursachen hinzutreten müssen, um der gelehrten Sprachschöpfung ein so reiches und fruchtbares Feld zu eröffnen, wie es in der Zeit von der Mitte des 17. bis zu der des 18. Jahr- hunderts geschah. Solche Ursachen lagen eben hier in der Aufnahme zahlreicher neuer Begriffe in eine für die Zwecke der Wissenschaft noch wenig ausgebildete Sprache, verbunden mit dem Streben, jene Begriffe allgemein zugänglich zu machen. Daß dieses Streben von

Gelehrte Neubildungen. 625

der Philosophie als der allgemeinsten Wissenschaft ausging, war von besonderer Bedeutung. Denn die von ihr geprägten Begriffe stellten sich gerade um ihrer Allgemeinheit willen sofort auch dem gewöhn- lichen Sprachgebrauch zur Verfügung. So gingen Wörter wie Ge- wissen, Bewußtsein, Vorstellung, Entwicklung, Folgerung, Mitleid, Selbstgefühl, Selbstsucht und viele andere mit oft wunderbarer Schnelligkeit aus der wissenschaftlichen in die allgemeine Sprache über.

Der Vorgang dieser gelehrten Neubildung besteht nun überall in dem nämlichen Prozeß einer bald vollkommen wortgetreuen, bald etwas freieren, dem Geist der eigenen Sprache und eingeübter Sprach- gewohnheiten Kechnung tragenden Übersetzung. In dieser Be- ziehung ist es bezeichnend, daß durchweg die Neubildungen um so treuere Übersetzimgen sind, einer je älteren Zeit sie angehören. Die noch wenig ausgebildete Sprache läßt sich leichter einem von außen auf sie geübten Zwang unterwerfen, und fremdartige Neubildungen üben sich leichter ein, Weil sie geringere aus dem vorhandenen Wort- bestand ihnen erwachsende Widerstände zu überwinden haben. Man nehme z. B. einige der Übertragungen Notkers wie Gewissen für conscientia, unendlich für infinitus, hegreifen (umbegreifen = um- greifen) für comprehendere, sinnig für sensibilis. Unteres für Subjec- tum u. a., gegenüber den freien Übertragungen Wolffs, wie conscientia in Bewußtsein, idea in Vorstellung, proportio in Ver- hältnis, propositio major und minor (im Schluß) in Obersatz und Untersatz u. a.

Gelehrte Neubildungen dieser Art erfolgen, wie schon diese Bei- spiele zeigen, fast allgemein auf dem Wege der Wortzusammensetzung. Wo das nicht der Fall ist, wo etwa irgendein einfaches Wort der eigenen Sprache auf einen neuen Begriff angewandt wird, wie Grund für ratio, Kraft für vis. Recht für jus usw., da handelt es sich nicht mehr um wahre Neubildungen, sondern um spezielle Fälle des Bedeutungs- wandels, die aber allerdings gerade hier, wo sie auf willkürlichen und sehr weitgehenden Begriffsänderungen beruhen, in ihrem Erfolg oft nahe an eine Neubildung angrenzen können^). Die eigentliche, auf

1) Vgl. Kap. VIII, Nr. V (Singulärer Bedeutungswandel).

W n n d t, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^^

626 I>ie Wortbildung.

der Zusammensetzung des neuen Wortes aus bereits vorhandenen Wortbestandteilen beruhende Neubildung erscheint nun um so mehr als eine gebundene Tätigkeit, je mehr sie sich bemüht, eine vollkommen treue Übersetzung zu sein. Schöpferisch ist diese Tätigkeit nur in dem Sinne, daß sie überhaupt die bisher in der eigenen Sprache selb- ständig existierenden Wörter zu einem Ganzen zusammensetzt. Als Cicero, der in der römischen Literatur durch seine Bemühungen um die philosophische Terminologie ungefähr eine ähnliche Stellung ein- nimmt wie in der unseren Leibniz und Wolff, das in der stoischen Philosophie entstandene Wort övveidrjoig in conscientia übertrug, substituierte er Silbe für Silbe dem griechischen das entsprechende lateinische Wort; und als Notker wiederum conscientia in das deutsche Gewissen (gewizeda) übersetzte, verfuhr er genau ebenso: denn zu seiner Zeit wurde das Präfix ge- noch ganz im Sinne des Zusammen- seins, Gewissen also = Mitwissen, empfunden. Als dann aber Wolff später nach einem Ausdruck suchte, der den allgemeineren Begriff der conscientia frei von der moralischen Nebenbedeutung wieder- gebe, da erfand er die freiere Übersetzung Bewußtsein, auf die wohl die Assoziation mit dem Präfix des verwandten "Wortes Begriff von Einfluß war, und diese Scheidung wirkte nun derart auf die ursprüng- liche Übertragung zurück, daß das Wort Gewissen ausschließlich die moralische, Bewußtsein ebenso ausschließlich die allgemeinere psy- chologische Bedeutung annahm. So hatte hier die zweimalige Über- tragung der entlehnenden Sprache einen Vorzug vor ihrem Vorbild und vor den aus ihr schöpfenden Töchtersprachen gegeben, in denen eine solche Differenzierung noch heute nicht eingetreten ist^).

Der allgemeine Charakter der gelehrten Neubildung, als einer willkürlich und planmäßig und dabei doch an ein fremdes Vorbild gebundenen Tätigkeit, bringt es mit sich, daß sie uns über die Vor- gänge der natürlichen Wortbildung keine näheren Aufschlüsse zu geben vermag. Was sie mit dieser verbindet, das ist nur der Vorgang

^) Viele Einzelheiten zur Geschichte dieser Neubildungen bietet R. Eucken in seiner verdienstlichen Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß, 1879, manche Ergänzungen dazu für das deutsche Sprachgebiet das Grimmsche Wörterbuch.

Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 627

der Wortzusammensetzung, bei dem sie aber wieder nur den allge- meinen Gesetzen folgt, die auch für die außerhalb ihres Gebiets statt- findenden analogen Verbindungsprozesse gelten. Diese Analogie wird, abgesehen von den sonst geläufigen Zusammensetzungen, äußer- lich schon dadurch bedingt, daß die Vorlage, nach der die Neubildung erfolgt, selbst ein zusammengesetztes Wortgebilde zu sein pflegt. Dabei ist diese Vorlage entweder eine gelehrte Neubildung gleicher Art, wie in dem obigen Beispiel das zwischen der owelörjoig und dem Gewissen in der Mitte liegende conscientia; oder sie stimmt mit den allgemeinen Wortzusammensetzungen der Sprache überein, sei es daß sie als solche in der Volkssprache sich gebildet hat, oder daß sie wiederum eine gelehrte Neubildung ist, die jedoch im Geiste der all- gemeinen Verbindungsgesetze erfolgte und sich darum enger als bei den Übertragungen auf ein fremdes Sprachgebiet an die sonstigen Erscheinungen der Wortkomposition anlehnt. So ist das Wort Gvvel- ÖTjoig selbst zwar wahrcheinlich die Erfindung eines einzelnen Philo- sophen; aber es steht mit andern ähnlichen, der allgemeinen Sprache geläufigen Zusammensetzungen, speziell mit ovvoidcc (conscius sum mitwissen), in enger Verbindung. So fließen hier an ihrem Ursprung die gelehrten Neubildungen und die allgemeinen Vorgänge der Wort- bildung durch Zusammensetzung gegebener Wörter ganz und gar ineinander. Darum sind aber die Neubildungen zugleich sprechende Zeugnisse für den Einfluß, den fortwährend die individuelle Sprach- schöpfung auf die Gemeinschaft ausübt, einen Einfluß, der sonst leicht der Beobachtung entgeht, hier jedoch durch seinen Zusammen- hang mit Bedürfnissen, die ursprünglich auf dem engeren Gebiet der wissenschaftlichen Sprache erwachsen sind, in bestimmten Literatur- denkmälern erhalten blieb.

V. Wortbildung durch Lautverdoppelung.

1. Allgemeine Formen der Laut Verdoppelung.

Der einfachste Fall einer Verbindung artikulierter Laute zu einem Ganzen, das durch diese Verbindung eine ihm eigene, den Teilen selbst noch nicht oder mindestens nicht in dieser Begriffs-

40*

628 Die Wortbildung.

färbung zukommende Bedeutung gewinnt, ist die Lautwieder- holung. Sie läßt sich einerseits als die primitivste Form der Wortbildung überhaupt auffassen, als eine Form, die eben erst an der Grenze liegt, wo der artikulierte Laut in das Wort über- geht, und die mit den einfachsten Mitteln zustande kommt. Anderseits gehört aber doch auch dieser Vorgang schon den Er- scheinungen der Wortbildimg durch Zusammensetzung an, und er geht in eine wirkliche Wortzusammensetzung über, wenn die Laut- zur Wortwiederholung wird. Nun treten im allgemeinen solche Wortwiederholungen auf einer späteren Stufe sprachlicher Entwicklung für die nämlichen Begriffsmodifikationen ein, die imter andern Bedingungen auch durch die bloße Lautwieder- holung ausgedrückt werden können, so daß sich also beide als gleichartige Vorgänge zu erkennen geben. Nur gehört die Laut- wiederholung den ersten Anfängen der Wortbildimg an, während die Wortwiederholung eine bereits vollendete Wortbildung voraus- setzt. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen zwei andern Formen der gleichen Erscheinung: zwischen der vollen Wiederholung oder „Ge- mination" und der bloß partiellen oder ,, Reduplikation"^). Die erstere ist hier wieder die ursprünglichere Form, die direkt in die ab- gekürzte der Reduplikation unter dem Einfluß der Beschleimigimg des Redeflusses und infolge der durch diese sich einstellenden Assimi- lationen und Dissimilationen der Laute übergehen kann. Außerdem ist es aber auch möglich, daß, nachdem erst einmal überhaupt redu- plizierte Formen entstanden sind, solche nun durch gleichgerichtete Laut- und Bedeutungsassimilationen auf andere Wörter übertragen werden. Durch diese Einflüsse kann die Reduplikation schließlich bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden. So findet sich im Lat. in Wörtern wie pupitgi, spopondi, momordi, murmurare noch die volle Wiederholung, in andern wie reppuli (für *repepuli), repperi (für *re- peperi) ist sie fast völlig verloren gegangen ; in der Mitte stehen die im Indogermanischen weitverbreiteten Reduplikationsformen wie dldtofÄi,

^) Weitere Einteilungen dieser Formen, namentlich der Reduplikation, gibt A. F. Pott, Doppelung (Reduplikation, Gemination), 1862, S. 16 ff.

Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 629

dedi, cecidi, credtdi usw.^). Für die psychologisclie Betrachtung der Verdoppelungserscheinungen haben diese laufcgeschichtlichen Modi- fikationen im allgemeinen keine Bedeutung. Dagegen ist die Frage, ob es sich in einem gegebenen Fall um eine Laut- oder um eine Wort- wiederholung handelt, insofern von erheblichem Interesse, als nur diejenige Wiederholung eines Lautes, die diesem überhaupt erst einen Begriffsinhalt verleiht, ein Wortbildungsprozeß im eigent- lichen Sinne zu nennen ist, während die volle Wortwiederholung immer nur einen schon vorhandenen Begriff in seiner Bedeutung modifizieren kann.

Daß nun die Lautwiederholung als ein Vorgang ursprünglicher Wortbildung möglich ist, das bezeugt schon die Sprache des Kindes. Sowohl die aus Naturlauten gebildeten Wörter wie Papa und Mama, wie zumeist auch die gewöhnlichen Onomatopoetica, wauwau, hop- hop u. a., haben nur als Wiederholungsformen die Bedeutimg voll- ständiger Wörter. Pa und Ma oder wau und hop empfinden wir nicht als die ursprünglicheren Wörter, aus denen jene gebildet sind, son- dern höchstens als abgekürzte Formen, als welche sie von größer ge- wordenen Kindern oder von Erwachsenen gelegentlich gebraucht werden. Schwierig läßt sich bei den ausgebildeten Formen der Laut- sprache entscheiden, ob eine Verdoppelimgserscheinung eine ur- sprüngliche, wortbildende Lautwiederholung, oder ob sie eine Wort- wiederholung ist. Denn wenngleich Sprachen, die, wie die ozeanischen und das Japanische, besonders reich an Verdoppelungen sind, unter diesen immer auch solche darbieten, bei denen das einfache Laut- gebilde selbst, aus dessen Wiederholung ein Wort von bestimmter Bedeutung entsteht, nicht als Wort vorkommt, so ist natürlich die Möglichkeit, daß es dereinst einmal als solches existiert habe und

^) Die Lautassimilation kann übrigens auch, wie gerade das Lateinische lehrt, durch Angleichung der Vokallaute (regressive Assimilation) eine abge- schwächte Reduplikation der vollen Wiederholung näher bringen: dahin gehören unter den obigen Beispielen pupugi, spopondi, momordi, denen im Altlateinischen pepugi, spepondi, memordi gegenüberstehen. Hier scheint also, wenn wir die volle Wiederholung aus allgemeinen Gründen als das Primäre ansehen, eine Art rück- läufiger Bewegung unter dem Einfluß der Klangassoziation eingetreten zu sein. Vgl. Lindsay, Die lateinische Sprache, 1897, S. 570, 578.

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630 Die Wortbildung.

erst unter dem Einflüsse jener Neigung zur Reduplikation verloren gegangen sei, niemals mit Sicherheit auszuschließen. Immerhin wird man da, wo der onomatopoetische Charakter eines Wortes seine Be- deutung eng mit der Lautwiederholung verbindet, in dieser eine ur- sprüngliche Form vermuten dürfen. In der Sprachwissenschaft ist man allerdings geneigt, auch solche mutmaßlich ursprüngliche Ver- doppelungsformen als ,, Wurzel Wiederholungen'* aufzufassen, also die Grundbedeutung in die nicht wiederholte Form zu verlegen^). Doch gründet sich diese Annahme bloß auf die allgemeine Hypothese einer realen Präexistenz der Wurzeln sowie auf die Tatsache, daß in an- dern Fällen die Wiederholung Lautgebilde trifft, die selbst schon eine bestimmte Wortbedeutung besitzen. Hieraus läßt sich aber kein Schluß auf alle andern Fälle ziehen, und da in jenen Sprachen ohnehin zwei- silbige Wortstämme, die nicht weiter zerlegbar sind, nicht selten auf- treten, so ist es durchaus nicht unmöglich, daß sich unter den letz- teren auch Reduplikationsformen vorfinden. Dies ist namentlich bei den der Kindersprache analogen Erscheinungen wahrscheinlich, wie bei der Bezeichnung von Vater und Mutter oder bei onomato- poetischen Bildungen. Ebenso spricht hierfür die Tatsache, daß in diesen Fällen, wie besonders für das Japanische feststeht, zwischen der Kindersprache und der allgemeinen Sprache eine ziemUch um- fangreiche Gemeinschaft des Wortschatzes vorhanden ist. Im Hin- blick auf diese Verhältnisse hat man wohl auch die Verdoppelungs- formen überhaupt als ursprüngliche Entlehnungen aus der Kinder- sprache angesehen. Die Verfolgung dieser Erscheinungen in solchen Sprachgebieten, in denen sie eine weitere Verbreitung besitzen, macht aber diese Annahme unhaltbar. Hier sind die psychologischen Mo- tive, die zur Bildung der Verdoppelungsformen führen, offenbar von allgemeingültiger Art. Wortbildungen wie lat. volvo, griech. 7Tl[.i7TXrjf.ii, hebr. galal u. a. für ein ursprüngliches Eigentum der Kindersprache zu halten, dazu liegt offenbar kein Grund vor. Nur in solchen Fällen, wo in der allgemeinen Sprache nur spärliche Reste von Verdoppe-

^) Vgl. H. C. von der Gabelentz, Die melanesischen Sprachen, I, S. 19, II, S. 15. (Abh. der kgl. säche. Ges. der Wiss., Phil.-hist. Kl. III, 1861, und VII, 1879.)

Allgemeine Formen der Lautverdoppelung. 631

lungen existieren, wie z. B. im Deutschen, gehören solche wohl vor- zugsweise der Kinder spräche an^). Wie man nun aber auch im ein- zelnen Fall die Erscheinungen deuten möge, ob als Übergang aus der Sprache des Kindes in die seiner Umgebung oder als eine ursprüng- liche Eigenschaft der Volkssprache, die mit ihrem Reichtum an ono- matopoetischen Wörtern zusammenhängt, jedenfalls ist die weitere Analogie nicht abzuweisen, daß die Verdoppelungsform in vielen Fällen nicht das abgeleitete, sondern das ursprüngliche Wort ist2).

Wo nun die Lautwiederholung als eine relativ ursprüngliche Wortbildung erscheint, da können die aus ihr hervorgehenden Wörter den verschiedensten Begriffsgebieten angehören, wie sich das nament- lich in den an Reduplikationsformen reicheren Sprachen zeigt. Eine gewisse Bevorzugung scheint aber allerdings auch hier, wie in der Kindersprache, teils den Gegenständen der häufigsten und vertrau- testen Umgebung, teils allen den Vorstellungen zuteil zu werden, die durch ihre Beschaffenheit zu einer Wiederholung des Lautes heraus- fordern. In ersterer Beziehung ist bemerkenswert, daß in den Sprachen der Naturvölker nicht bloß Vater und Mutter, sondern sehr häufig auch die Teile des eigenen Leibes, wie Hand, Fuß, Auge, durch Doppel- wörter ausgedrückt werden, wobei freilich wohl der Umstand mit- gewirkt hat, daß diese Organe doppelt vorhanden sind. Dies ist aber

1) Vgl. Ed. Wölfflin, Zeitschr. f. deutsche Wortforschung, Bd. 1, 1901, S. 263 ff.

2) Zu den nur in Wiederholungsformen vorkommenden Wörtern gehören, neben den in Kap. II, S. 310 Anm. angeführten Beispielen aus dem Japanischen, die zumeist der Kindersprache und der allgemeinen Sprache gemeinsam sind, aus melanesischen Dialekten Wörter wie rere fürchten, caca hassen, rairai sehen u. a. (v. d. Gabelentz a.a. 0. 1, S. 17 ff., Fidschisprache). In andern Fällen kommen freiUch in diesen Sprachen auch einfache Formen vor, aus deren Wiederholmig wohl erst die reduplizierten entstanden sind, z. B. Tonga Bein, Maori wätvä, oder Tahiti toio Blut wahrscheinHch redupl. von to dem Namen eines saftreichen Baumes von Banksisland (P. W. Schmidt, Mitteil, der Anthropol. Ges. in Wien, Bd. 33, 1903, S. 371 f.). Doch hat in vielen dieser Sprachen, zunächst wohl durch einzelne onomatopoetische Bildungen und durch die affektvolle Rede begünstigt, die Lautwiederholung so überhandgenommen, daß sich die ursprünglich ein- fachen Formen meist überhaupt nicht mehr nachweisen lassen.

632 Die Wortbildung.

ein Motiv, das bereits in den Umkreis der auch bei der Wortwieder- holung und Reduplikation wirksamen Bedingimgen fällt. Hier näm- lich kann als der allgemeine, alle späteren und jedenfalls auch einen großen Teil der ursprünglichen Verdoppelungserscheinungen erzeu- gende Antrieb die Wiederholung oder Verstärkung des Ein- drucks angesehen werden, die entweder direkt aus den Eigenschaften des Wahrnehmungsinhalts entspringt oder diesem durch das sub- jektive gehobene Gefühl des Sprechenden beigelegt wird. Beide Mo- tive fließen insofern zusammen, als der objektive Eindruck die in seiner Benennung sich ausdrückende Reaktion immer erst durch das Medium irgendeiner Gefühlserregung auslöst. Aber diese wird doch im allgemeinen da eine geringere Rolle spielen, wo der Eindruck schon durch seine eigene Beschaffenheit zur Lautwiederholung heraus- fordert. In der Tat haben sich daher auch nur für solche objektiv motivierte Begriffsmodifikationen die Verdoppelungen als allgemeine und imter analogen Bedingungen oft wiederkehrende Erscheinungen der Sprache durchgesetzt, während die bloß durch das subjektive Gefühl erregten unregelmäßiger vorkommen^).

2. Bedeutungsarten der Lautverdoppelung.

a. Verdoppelung zum Ausdruck sich wiederholender

Vorgänge.

Das nächste, durcih den Eindruck selbst am unmittelbarsten sich aufdrängende Motiv zur Lautwiederholung ist offenbar da ge- geben, wo das Wort Schalleindrücke wiedergibt, die sich selbst wiederholen. Diese direkte onomatopoetische Verwendung

^) Daß Laut- und Wortwiederholungen irgendeine Art von Verstärkung des Eindrucks hervorbringen, ist schon den alten Grammatikern und Rhetorikern begreiflicherweise nicht entgangen. Ebenso hat Pott dieses Moment als das ent- scheidende hervorgehoben (a. a. O. S. 22); und unter dem gleichen Gesichtspunkt wurden von Fr. Müller die Verdoppelungserscheinungen in den polynesischen und malaiischen Sprachen in gewisse Gruppen geordnet (Reise der Fregatte Novara, Linguist. Teil, 1867, S. 300, 325 ff., und Grundriß der Sprachwissenschaft, II, 2, S. 12, 101 ff.). Doch ist von diesen Autoren weder auf die psychologische Inter- pretation noch auf die Frage der genetischen Beziehungen der einzelnen Fälle näher eingegangen worden.

Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 633

der Verdoppelung ist zugleich diejenige, die mit dem geringsten Maß subjektiver Gefühlssteigerung möglicli ist, weil es einer solchen gar nicht bedarf, um in der Wiederholung eine unmittelbare Wiedergabe des Eindrucks zu erkennen. Die direkte onomatopoetische Verdoppe- lung ist daher gleichzeitig eine der frühesten und der spätesten unter diesen Erscheinungen, so daß die hierher zu zählenden Wörter zum Teil in die Anfänge der Wortbildung zurückreichen, ebenso aber auch zu dem jüngsten Sprachgut gehören, das unter seinen durchweg ono- matopoetischen Bildungen, wo immer sich die Gelegenheit bietet, Lautverdoppelungen enthält. Darum ist diese Form selbst in den Kultursprachen verhältnismäßig noch am reichlichsten vertreten geblieben. Hierher gehört zunächst die Bezeichnung gewisser Tiere nach ihrer Stimme, die jedoch, abgesehen von der Kindersprache, wo sie in weiterem Umfange vorkommt, in der Regel auf Vogelnamen beschränkt ist: so in Wörtern wie turtur Turteltaube, ulula Eule, cucuUus Kuckuck, sanskr. kiki Holzhäher, pers. hülhül Nachtigall usw. Daran schließen sich als eine zweite, noch verbreiteteie Klasse von Wörtern solche für Geräusche, die sich wiederholen, wie mur- murare murmeln, aXaXaCeiv laut schreien, laXayfj Geschwätz, XaXelv lallen usw.^).

Von der direkten onomatopoetischen Verdoppelung führt nur ein kleiner Schritt zu solchen Lautwiederholungen, die irgendeinen andern, nicht vom Gehör, sondern meist vom Gesichtssinn wahr- genommenen, sich wiederholenden Vorgang ausdrücken. Da- hin gehört eine große Zahl jener in anderm Zusammenhang ebenfalls schon betrachteten Fälle indirekter Onomatopöie, die sich daraus erklären, daß die letztere in Wahrheit niemals Lautnachahmung, sondern eine durch den wahrgenommenen Vorgang oder Gegenstand erregte Lautgebärde ist. Man denke an Wörter wie volvo wälze, 7ii^7iXr](.u fülle, f.iL(iio(.iai ahme nach u. a., denen sich eine Fülle ana- loger Bildungen in den Sprachen anderer Kulturvölker und besonders der Naturvölker anschließt. In den zweisilbigen Verbalstämmen der semitischen Sprachen erscheint diese Reduplikationsform als Wieder-

1) Vgl. oben Kap. III, S. 298 ff.

634 Die Wortbildung.

holung des zweiten Stammkonsonanten, eine Laut Variation, die meist den ursprüngliclien Verbalbegriff so verändert, daß dadurch die Vor- stellung einer Wiederholung der in jenem ausgedrückten Tätigkei entsteht. So im Hebräischen in Wortpaaren wie den folgenden: gasah schneiden und gasas scheren, galah wegziehen und galal wälzen, gar ah ziehen und garar sägen, salah sich beugen und salal schwanken, lakah ergreifen und lahah lecken^). Analoge Beispiele finden sich in andern Sprachen, namentlich in denen der Naturvölker, häufig als vollständige Laut- oder Wort Wiederholungen, z. B. im Mpongwe (westafrik.) tyotyo hüpfen, sazasaza hin und her überlegen, im Fid- schi Tcacikaci öfter rufen, ridorido hüpfen, Icerekere betteln (Verdoppe- lung von kere bitten), im Japanischen pozupozu es regnet, hatabata er läuft usw. Eine charakteristische Modifikation kann diese im wei- teren Sinn onomatopoetische Reduplikation erfahren, wenn der sich wiederholende Vorgang einen Wechsel darbietet, der nun in einer analogen Lautvariation seinen Ausdruck findet. Dahin zählen viele sprachliche Neubildungen, die sich in der Regel an irgendwelche be- kannte Wörter anlehnen, z. B. im Deutschen Zickzack, Wirrwarr (franz. pele-mele), Schnickschnack, Krimskrams, Wischiwaschi, Kling- klang, Mischmasch, Schurrmurr, Holterpolter, Larifari, Hokuspokus (letzteres in Anlehnung an die Formel des Meßopfers hoc est corpus wahrscheinlich zuerst als Mönchswitz entstanden). Dem reihen sich an aus fremden Sprachgebieten: Mandschu debadaha durcheinander, schorschar Geräusch des Windes, pektepakta im Gehen wanken, ja- panisch kamhagamba Unsinn schwatzen u. ä. Eine besondere Form solcher Reduplikation mit Lautänderung findet sich in den ozeanischen Sprachen, darin bestehend, daß ein Wort unverändert, aber mit stär- kerer Betonung wiederholt wird, z. B. im Dajak tendä-tendä zuweilen anhalten. Daneben kommen dann aber in analogem Sinn auch quali- tative Lautvariationen vor, z. B. in der gleichen Sprache bilang-ba- lang überallhin zerstreut sein, galang-gilang sich hin- und herdrehen. Besonders bezeichnend sind diese mit Akzent- oder Lautänderung er- folgenden Wiederholungen da, wo neben ihnen die unveränderte Wie- derholung vorkommt, und wo nun beide meist gegensätzliche Varia-

1) Vgl. Kap. III, S. 361 ff.

Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 635

tionen der Bedeutung ausdrücken. So im Dajak neben tendä-tendä zuweilen anhalten tendä-tendä oft anhalten. Auch in den oben- erwähnten volkstümlichen Neubildungen unserer Kultursprachen findet sich zu solchen Variationen von Laut und Bedeutung man- ches Analoge. Aber während sie hier nur sporadisch in die all- gemeine Sprache eindringen, gehören sie in den Sprachen vieler Völker zu den regelmäßigen Ausdrucksmitteln ^).

b. Verdoppelung bei Kollektiv- und Mehrheits-

begri f f en.

An die Verwendimg der Verdoppelung zum Ausdruck eines sich wiederholenden Vorgangs schließen sich verschiedene andere Bedeu- tungen der gleichen Bildung an, deren psychologische Verwandt- schaft mit jenem natürlichen onomatopoetischen Ausgangspunkt im allgemeinen unschwer zu erkennen ist. Den nächsten Übergang bietet hier die Bezeichnimg einer Mehrheit von Gegenständen. Besonders verbreitet ist diese kollektive Bedeutung der Reduplika- tion in den malaiischen, polynesischen und den ostasiatischen, aber auch in den amerikanischen Sprachen. So bedeutet im Malaiischen poehon Baum, poehon-poehon Wald, im Dakota runa Mann, runa- runa Volk. Im Chinesischen werden die unbestimmten Kollektiva, im Japanischen außerdem auch die Plurale des Personenbegriffs durch ebensolche Wiederholungen ausgedrückt: so chines. zu Tag, zit-zit täglich, si-si allezeit, gin-gin jeder Mensch, jen-jen viele Schwalben, Japan, ono einer, ono-ono mehrere. Analoge kollektive wechseln mit exklusiven Begiffsänderungen in den ozeanischen Sprachen bei der Wiederholung der Zahlwörter: so im Fidschi aus tolu drei tolu-tolu alle drei, dagegen aus dua eins dua-dua der einzige, einer allein. An die erstere Form schließt sich unmittelbar die Wiederholung als all- gemeiner Ausdruck des Plurals. Sie findet sich teils als volle Wieder-

^) Die obigen wie die folgenden Beispiele sind großenteils dem erwähnten Werke .von Pott über Doppelung (vgl. bes. S. 131 ff.), sowie den Ar- beiten von Fr. Müller, H. C. von der Gabelentz und Humboldts Kawi-Werk entnommen.

636 Die Wortbildung.

holung teils als bloße Reduplikation zuweilen in den ural-altaischen, in einigen ozeanischen und amerikanischen Sprachen, jedoch im ganzen selten, da meist, wo sich spezifische Pluralsuffixe nicht ausgebildet haben, die Mehrzahl entweder ganz unbezeichnet bleibt oder durch den Zusatz eines besonderen Wortes von der Bedeutung „viel" oder ,, Menge" ausgedrückt wird. Viel spärlicher ist die Wiederholung in dieser Anwendung auf Gegenstandsbegriffe in den indogermanischen und semitischen Sprachen, und wo sie vorkommt, da scheint sie eine sekundäre, durch Lautassimilation oder durch verbale Ableitung entstandene Erscheinung zu sein. So ist lat. mamma (franz. mamelle) aus ^madmä, zusammengesetzt aus dem Stamm mad~ (zu madeo feucht sein) und dem Suffix -mä, entstanden. Deutsch Zitze, ahd. tutta, xnhd. tüttel, franz. (aus dem German. entlehnt) tette, sind wahrscheinlich ebenfalls verbale Ableitungen.

Von dem Substantivum geht die Verdoppelung in der gleichen Bedeutung auf das Adjektivum um so leichter über, je weniger beide Formen des Nomens auf primitiveren Sprachstufen sicher geschieden werden. Diesem Stadium des Ineinanderf Heßens der Begriffe ent- spricht eine in den polynesischen Sprachen vorkommende Verdoppe- lungsform der Adjektiva, die sich unmittelbar an den Gebrauch zur Bezeichnung eines Kollektivbegriffs oder einer Mehrheit anschließt: sie besteht darin, daß das einem Substantiv beigefügte Adjektiv eine reduplizierte Form annimmt, um dem Substantiv selbst eine plurale Bedeutung zu geben, z. B. im Tahit. e taata maitai ein guter Mann, e taata maitatai einige gute Männer. Indem hier der Gegenstand und seine Eigenschaft in enger Verbindung gedacht sind, kann die Reduplikation zunächst als Ausdruck der Mehrheit für das Ad- jektiv selbst angesehen werden. Es ist die mehrmals wahr- genommene Eigenschaft, die vor allem apperzipiert, und mit der dann unmittelbar auch die Vorstellung einer Mehrheit von Gegen- ständen assoziiert wird.

Bedeutungsarten der Laut Verdoppelung. 637

c. Verdoppelung zur Steigerung von Eigen schafts-

begriffen.

In der Anwendung auf den Eigenschaftsbegriff liegt nun zugleich das Motiv für eine weitere Variation der Bedeutung: die Verdoppe- lung gibt den verstärkten Eindruck wieder, den die Wahrnehmung der Eigenschaft auf den Redenden macht, und damit wird sie zum Ausdruck einer auch objektiv größeren Intensität der Eigenschaft selbst. Was bei dem Mehrheitsausdruck als sinnliches Bild eines ex- tensiven Wachstums gilt, das wandelt sich also nun in ein solches für eine intensive Steigerung um. Dabei spielt aber offenbar der Gefühlsfaktor eine größere Rolle. Denn während die Unterschei- dung von Einheit und Mehrheit, Einzelbegriff und Kollektivum wesent- lich Sache der objektiven Anschauung ist, beruht die Wert abstuf ung der Eigenschaften nicht bloß auf dem Gegenstand selbst, sondern mehr noch auf dem subjektiven Eindruck, den er hervorbringt. Dies spricht sich auch darin aus, daß solche komparative und Superlative Verwendungen der Verdoppelung am allermeisten bei Eigenschaften vorkommen, die mit irgendeiner subjektiven Gefühlserregung ver- bimden sind. Neben ,,groß" und ,, klein" sind es daher hauptsächlich die moralischen und ästhetischen Qualitäten „gut", ,, schlecht", ,, schön" u. dgl., für die sich diese Art der Steigerung teils von frühe an findet, teils aber auch in den Kultur sprachen erhalten bleibt. So gebraucht noch heute die naive Erzählung, wie sie etwa das Märchen anwendet, mit Vorliebe die sinnlich lebendigere Steigerung durch die Wiederholung des Eigenschaftsworts: ,,ein reicher reicher Mann'* u. dgl. Sodann ist diese Form der natürliche Ausdruck verstärkter Affektbetonung, und bei Völkern von lebhaftem Temperament ist sie daher häufig zu finden: so im Italienischen in Ausdrücken wie alto altOj tutti tutti, hello hellissimo^). In den Sprachen mancher Natur- völker haben sich aber die Verdoppelungsformen über alle möglichen

^) Überhaupt sind die romanischen Sprachen reich an Verdoppelungen, die wohl teils von Eigenschaftsbegriffen ausgegangen, teils aber auch aus der Kinder- sprache aufgenommen sind, wie franz. honbon (von bon), joujou Spielzeug (von jouer), cocotte (von coq, also eigentl. „Hühnchen**), und viele Kosewörter.

638 Die Wortbildung.

Eigenschaftsbegriffe ausgedehnt. So sind sie besonders im Poly- nesiscben, unterstützt durch die allgemeine Neigung zur Lautwieder- holung, in den Ausdruck zahlreicher Eigenschaften übergegangen. Immerhin bleiben auch hier solche bevorzugt, die sich in bestimmten Gegensätzen entwickelt haben: z. B. im Hawaii ele-ele schwarz, Jceo- heo weiß, Wörter, die überhaupt nur als Lautwiederholungen vor- kommen. Wo die Verdoppelung in einen Gegensatz zu dem einfachen Worte tritt, da kann sie dann bald eine Steigerung, bald irgendeine durch stärkere Gefühlswirkung ausgezeichnete qualitative Modifi- kation der Eigenschaft ausdrücken. So bedeutet ebenfalls im Ha- waii ula rot, ula-ula purpurrot. Endlich können aber auch neben- einander verschiedene derartige Modifikationen einer Eigenschaft durch wechselnde Betonung des einen Wiederholungswortes bezeichnet werden, nach Analogie der onomatopoetischen Bildungen mit Laut- variationen. So bedeutet für den Dajaken gila-güa (mit ausschließ- licher Betonung des zweiten Wortes) ein wenig dumm, gila-güa (mit doppelter Betonung) sehr dumm, ganz mit den in der gleichen Sprache vorhandenen Variationen des iterativen Verbalbegriffs überein- stimmend (s. oben S. 635).

d. Verdoppelung als Steigerungsform der Verbal- begriffe.

Ähnliche Anwendungen der Verdoppelung, wie sie im Gebiet der Nominalbegriffe unter dem Einflüsse der Grad- und Wertabstufung vorkommen, finden sich schließlich beim Verbum, von dessen ono-# matopoetischen Reduplikationen wir oben als den einfachsten Bei- spielen dieser ganzen Erscheinung ausgegangen sind. Der stärkeren Betonung der Eigenschaft liegt hier am nächsten der Ausdruck der gesteigerten Tätigkeit durch vollständige oder verkürzte Ver- doppelung des Verbalstamms. Auch er findet sich als einfache Wort- wiederholung in der Erzählung, im imperativen Zuruf, wie ,,eile eile", ,,komm komm", wo er sich zugleich an die iterative Verwendung der gleichen Redeform anlehnt und nicht selten wohl ein Intensivum und Iterativum zugleich ist. Im Indogermanischen sind in den älteren, formenreicheren Sprachen gerade bei den am häufigsten gebrauchten Tätigkeitsbegriffen reduplizierte Formen allgemeingültig geworden:

Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 639

so im Griecli. Tid^rjfXL stelle, ölöcojlu gebe, Wortbildungen, die wohl als ursprüngliche Intensiva aufzufassen sind, welche durch den häu- figen Gebrauch allmählich den ihnen anhaftenden gesteigerten Ge- fühlston eingebüßt haben. Weitverbreitet und zum Teil als noch- malige verstärkende Verdoppelungen schon vorhandener Wieder- holungsformen finden sich aber solche Intensiva in den malaio-poly- nesischen und andern durch ihre Neigung zur Lautverdoppelung aus- gezeichneten Sprachen. So bedeutet im Samoa taha sprechen, taha- taba schreien, Maori Jcai essen, kalcai fressen. Malaiisch tanis weinen, tanis menänis heftig weinen, her-rtjäla brennen, ber-njala-njäla stark brennen. Dabei treten zugleich an die Stelle der intensiven Bedeu- tung, wahrscheinlich unter Anwendung von Betonungsdifferenzen, andere Modifikationen des Begriffs, die durchaus den im gleichen Sprachgebiet vorkommenden Variationen bei der Verdoppelung des Nomens analog sind, wie z. B. im Dajak mamukul schlagen, mamuhu- muJcul heftig schlagei^ Eine eigentümliche, für das Ineinanderfließen der Nominal- und Verbalbegriffe charakteristische Anwendung zeigen endlich die polynesischen Sprachen, indem an die Stelle der intensiven eine simultane Bedeutung tritt, die Verdoppe- lung also eine von mehreren gemeinschaftlich vollführte Hand- lung bezeichnet: so Samoa moe schlafen, momoe mit jemand zu- sammenschlafen, Tong. horo rennen, hohoro mit jemand um die Wette rennen.

In einer gewissen Beziehung zu den intensiven Steigerungen des Verbalbegriffs durch Reduplikation stehen vielleicht auch die in manchen Sprachen vorkommenden intensiven Lautsteigerungen, in denen die energischere Tätigkeit, manchmal mit noch andern, be- sonders kausativen Begriffsmodifikationen, durch eine Lautver- stärkung ausgedrückt wird. Hierher gehören Formen wie im Deutschen schmücken aus schmiegen, bücken aus biegen, stecken aus stechen u. a. Man pflegt diese Formen als Produkte einer Lautassimilation des n- Suffixes an den Wurzelauslaut anzusehen, wodurch Stämme auf pp, kk, tt entstanden seien ^). Aber diese Lautassimilation schließt

^) Wilmanns, Deutsche Grammatik, II, 1899, S. 86 f. Dazu Brugmann, Grundriß, I,^ S. 817 f., und II, S. 978.

640 Die WortbilduDg.

offenbar niclit aus, daß auf ihre Richtung zugleich die Bedeutungs- änderung des Grundbegriffs von Einfluß gewesen sei. In der Tat spricht hierfür nicht bloß der Umstand, daß hier Laut- und Begriffs- verstärkung überall einander parallel gegangen sind, sondern beson- ders auch die Tatsache, daß sich dieser Vorgang dann auf andere Stämme übertragen hat, bei denen jene Lautassimilation nicht mit- wirkte, und wo nun wiederum Intensiva und Iterativa aus solcher Lautverstärkung hervorgegangen sind. So ist zu dem aus einem Fremdwort, dem lat. flaga ,, Schlag" = Plage, übernommenen Verbum plagen erst in neuhochdeutscher Zeit das Intensivum placken ent- standen, bei dem doch wohl der Gefühlston des gesteigerten Explosiv- lauts wirksamer gewesen sein wird als die etwaigen entfernten Laut- assoziationen zu hucken, stecken u. dgl. Wenn aber die Lautverstär- kung in jenem Falle für sich allein schon diesen Effekt hat, so ist nicht einzusehen, warum sie ihn nicht auch da äußern sollte, wo ihr außerdem noch eine assimilative Kontaktwirkung der Laute zu Hilfe kommt.

Dem Ausdruck der intensiven Steigerung durch reduplizierte Verbalformen geht endlich noch eine analoge extensive Bedeutung der gleichen Formen parallel. Diese können nämlich in gewissen Sprach- gebieten auch einen kontinuativen oder durativen Sinn an- nehmen. Hierher gehören Verba wie gigno erzeuge, sisto mache stehen, rafxcpaivco leuchte, oder auf semitischem Gebiet kalal umgeben zu kalah ein Ende machen, schließen, damam stumm sein zu da- mah schweigen u. a., Formen, die den Begriff einer dauernden Handlung oder eines bleibenden Zustandes mehr oder minder deutlich enthalten. Es ist bemerkenswert, daß diese kontinuative Bedeutung, so nahe sie auch begrifflich der überall verbreiteten iterativen zu liegen scheint, doch in ihrer Ausbreitung beschränkt ist, da sie außerhalb der indogermanischen und der semitischen Sprachen kaum vorkommt. Von diesen beiden Gebieten ist es wieder besonders das semitische, welches neben den iterativen kon- tinuative Verbalstämme mit Wiederholungen der Endkonsonanten ausgebildet hat. Im Indogermanischen aber hat sich wahr- scheinlich an diese intensiven und kontinuativen Formen eine Ausdehnimg der Verdoppelungserscheinungen angeschlossen, die,

Bedeutungsarten der Lautverdoppelung. 641

abgesehen von ihrer weit engeren Begrenzung, mit dem verschwen- derischen Gebrauch solcher Bildungen innerhalb der malaio-poly- nesischen Sprachen eine gewisse Ähnlichkeit hat, indem in einer größeren Anzahl von Verbalstämmen Lautverdoppelungen vorkommen, die nach ihrer Bedeutung zu keinem der bisher erörterten Anwen- dungsgebiete gehören^). Hier mögen teils Lautassoziationen (Ana- logiebildungen) wirksam gewesen sein, teils mögen auch gelegent- liche Motive subjektiver Gefühlsbetonung einen Einfluß ausgeübt haben. Von allen diesen in einer früheren Periode der Sprachent- wicklung sichtlich reicheren Wiederholungsformen hat sich im Lado- germanischen eine noch erhalten, die wiederum vollständig dem psycho- logischen Zusammenhang dieser Bildungen sich einfügt. Dies ist die Reduplikation als Ausdruck der vollendeten Handlung. So in den Perfektformen ykyova^ li%qoL(f(Xy XeXoi(pa, cecidi, credidi, me- mini, dedi, got. haihait zu haitan heißen, lailaik zu laikan springen u. a. Gewiß ist diese den indogermanischen Sprachen eigentümliche Verwendung der Reduplikation nicht als eine besondere, innerhalb dieser Sprachen entstandene ,, Erfindung" zu deuten. Ebensowenig wird man sie aber wegen der Spuren früher vorhandener, dem Ver- balstamm als solchen eigener Reduplikationen bloß als einen zu- fälligen Rest einer dereinst allgemeineren Ausdrucksform ansehen dürfen. Vielmehr ist es unverkennbar, daß diese besondere Bedeu- tung der Verdoppelung durchaus der allgemeinen Richtung angehört, in der sich überhaupt Laut- und Wortwiederholungen in der Sprache entwickelt haben. Liegt auch diese letzte Modifikation dem ursprüng- lichen, ohne weiteres verständlichen sinnlichen Ausgangspunkt ferner, so ist doch bei der Würdigung dieses Umstandes nicht zu vergessen, daß die Verbalform, für die hier schließlich die Verdoppelung kenn- zeichnend wurde, selbst allmählich ihre Bedeutung verändert hat. Wie die Verbalformen überhaupt ursprünglich mehr die objektiven zeitlichen Eigenschaften der Vorgänge und Zustände als das sub- jektive Verhältnis des Redenden zu ihnen ausdrücken, so liegt ins-

^) VgL die Übersicht solcher reduplizierter Formen auf indogermanischem Sprachgebiet bei Brugmann, Grundriß, II, S. 845 ff.

Wandt, Völkerpsychologie. I. 4. Anfl. 41

642 Die Wortbildung.

besondere aucli die Bedeutung des Perfektums darin, daß es den aus einer vorangegangenen Handlung folgenden dauernden Zustand be- zeichnet^). Dadurch erscheint es aber von der Vorstellung der ste- tigen Dauer nur noch durch eine schmale Linie geschieden. Nach- dem nun durch eine weitere Begriffs Verschiebung in dem Perfektum selbst jene ursprünglich nur als Neben Vorstellung enthaltene Be- ziehung auf die Vergangenheit zum Hauptbegriff geworden, ist aller- dings gerade diese Anwendung der Lautwiederholung von ihren sonstigen Formen am weitesten entfernt und eben deshalb wieder von beschränkter Verbreitung.

3. Psychologisches Schema der Verdoppelungsformen.

Blicken wir hiernach auf die ganze Reihe der Verdoppelungs- formen zurück, so scheiden sich zunächst solche Anwendungen, die allen Stufen und Richtungen des Denkens gemeinsam angehören, von andern, die Produkte einer spezifisch gearteten, nicht allgemein gewordenen Denkweise sind. Zu den ersteren gehören zwei Erschei- nungen, die sich wohl in allen Sprachen der Erde, und die sich von den ältesten Formen bis zu den jüngsten Neuschöpfungen vorfinden. Die eine ist der Ausdruck sich wiederholender Schalleindrücke und anderer äußerer Vorgänge durch sich wiederholende Laute: sie fällt augenscheinlich mehr der Vorstellungsseite der Wortverbin- dung zu. Die andere ist die stärkere Betonung einer Eigenschaft oder einer Handlung durch Laut- und Wortwiederholung: in ihr kommt offenbar mehr die Gefühlsseite des Bewußtseins zum Aus- druck. Von diesen ursprünglich gemeinsamen und fortan gemein- sam bleibenden Ausgangspunkten aus sondern sich nun die weiteren Anwendungen nach verschiedenen Richtungen. Auf der einen Seite tritt uns in einer großen Anzahl von Sprachen die Neigung entgegen, die Lautwiederholung zur Bezeichnung von Gegenständen anzu- wenden, die sich in der Wahrnehmung wiederholen, also zur Bildung von Kollektiv- und Mehrheitsbegriffen. Von diesen ist wieder der Ausdruck von Kollektivbegriffen der verbreitetere und wahr-

1) Vgl. Kap. VI, Nr. V.

Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 643

scheinlicli auch der ursprünglichere. Auf der andern Seite überträgt sich das Ausdrucksmittel der Wiederholung von der Vorstellung eines sich wiederholenden auf die eines dauernden Vorgangs, und von diesem endlich innerhalb eines engeren Sprachgebiets auf die einer abgeschlossenen Handlimg. In der ersten dieser beiden Keihen bewegt sich demnach die Anwendung der Verdoppelungsformen im Gebiet der Nominal-, in der zweiten in dem der Verbalbegriffe. Die erste Reihe umfaßt die ungeheure Mehrzahl der allerverschiedensten Sprachen, die zweite scheint sich auf das semitische und indoger- manische Sprachgebiet zu beschränken. Dabei ist aber im Semi- tischen die Lautwiederholung nur bis zum Ausdruck des dauernden Vorgangs gelangt. Den Schritt von da zur vollendeten Handlung, für welche das Semitische andere, seinem allgemeinen Charakter konforme Ausdrucksmittel besitzt, haben nur die indogermanischen Sprachen zurückgelegt. Die ganze Entwicklung läßt sich demnach in dem folgenden Schema übersehen. Die mittlere Reihe desselben enthält die allgemeingültigen Anwendungsformen. Links und rechts befinden sich die beiden Sonderentwicklungen, die sich übrigens nach dem früher Bemerkten nicht völlig ausschließend zueinander ver- halten, da sich namentlich die Anwendung der Reduplikation auf Kollektivbegriffe in vereinzelten Spuren auch auf indogermanischem und semitischem Gebiet vorfindet.

Sich wiederholende Vorgänge (Wiederholung als objektive Ausdrucksform)

Steigerung der Eigenschaften und Tätigkeiten

(Wiederholung als Ausdruck der subjektiven Gefühlserregung)

Kollektive Mehrheit Dauernder Vorgang

Plurale Mehrheit Vollendeter Vorgang

4. Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen.

Das zuletzt entworfene Schema gibt zunächst nur über die größere oder geringere Allgemeingültigkeit der einzelnen Verdoppelungs- erschein^ngen sowie über ihre abweichende Ausbreitung Rechen chaft. Gleichwohl legt es unmittelbar die Frage nahe, inwieweit die in ihm

41*

644 Die Wortbildung.

angedeutete nähere Beziehung einzelner Formen von beschränkterer zu andern von weiterer Verbreitung auf eine genetische Beziehung zurückzuführen sei. Ist etwa die Lautwiederholung als Ausdruck des sich wiederholenden Vorgangs, wie sie extensiv die allgemeinste ist, die neben allen andern Formen immer wiederkehrt, zugleich deren gemeinsame Wurzel? Oder, wenn sich dies nicht bestätigen sollte, lassen sich wenigstens zwischen einzelnen Gliedern der durch das Schema veranschaulichten drei Entwicklimgsreihen irgendwelche Ver- bindungen auffinden ?

Auf geschichtlichem Wege ist diese Frage nicht zu beantworten. Zwar sind in einzelnen Fällen gewisse Reduplikationserscheinungen in der Sprache im Laufe ihrer Entwicklung geschwunden, und an- dere, namentlich solche, die dem Gebiet der Wortwiederholung an- gehören, sind neu entstanden. Aber so weit wir auch in einer bestimm- ten Sprache mittels der historischen Zeugnisse zurückgehen mögen, die ihr eigentümlichen Verdoppelungsarten scheinen von Anfang an vorhanden zu sein, darunter selbst diejenigen vom beschränk- testen Vorkommen, wie z. B. die Anwendung für die Bezeichnung des Plurals in den polynesischen und manchen amerikanischen, und die andere für den Ausdruck der vergangenen Zeit in den indoger- manischen Sprachen. Unsere Vermutungen über etwaige genetische Zusammenhänge sind darum hier ganz auf den Weg der psycholo- gischen Untersuchung hingewiesen. Eine bestimmte Anwendungs- form wird immer dann als eine später entstandene und aus einer an- dern hervorgegangene anzusehen sein, wenn sie diese als die Vor- bedingung der ihr eigentümli*chen Bedeutungsentwicklung voraus- setzt.

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheinen zimächst die beiden, durch ihre Ausbreitung über alle möglichen Sprachgebiete ausgezeichneten, die Mittelreihe obigen Schemas einnehmenden Formen als zwei genetisch voneinander unabhängige Erscheinungen, die auf gleich ursprüngliche Eigenschaften des menschlichen Be- wußtseins zurückweisen, und von denen es sich deshalb kaum mit Sicherheit bestimmen läßt, ob die eine vor der andern gewesen sei. Um so deutlicher tritt in den psychologischen Bedingungen ein be- stimmter Gegensatz hervor. Die Lautwiederholung als Ausdruck

Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 645

sich wiederholender Vorgänge ist eine so unmittelbar in den Beziehungen des objektiven Eindrucks zu der ihn nachbildenden Lautgebärde begründete Erscheinung, daß diese onomatopoetische Verdoppelung begreiflicherweise nicht nur die größte Verbreitung hat, sondern daß sie Auch allem Anscheine nach die ursprünglichste Form der soge- nannten Lautnachahmung selbst ist. Sie ist aber als Lautgebärde zu- nächst objektiv bedingt: der Beschaffenheit des Eindrucks folgt immittelbar die ihn nachbildende Lautbewegung, ohne daß dazu eine andere Gefühlserregung, als wie sie bei jeder Sprachäußerung statt- findet, vorauszusetzen wäre. Für ihre Ursprünglichkeit spricht auch der Umstand, daß gerade diese Anwendungsform am häufigsten als reine Lautwiederholung vorkommt, demnach als ein Vorgang, der selbst erst ein Wortgebilde hervorbringt. Bezeichnen wir den einzelnen Laut mit n, den Einzelvorgang, aus dessen Wiederholung sich eine irgendwie rhythmische Reihe zusammensetzt, mit v, so wer- den die Vorgänge v und die ihnen folgenden Lautgebärden n zunächst derart sich assoziieren, daß sie eine Komplikation nnnn . . {vvv..) von imbestimmter Begrenzung bilden. Zu diesem rein assoziativen Prozeß tritt dann als entscheidendes, den Übergang in die eigent- liche Sprachgebärde bezeichnendes Moment die jene verschiedenen Bewegungsakte zusammenfassende Apperzeption, die wesentlich da- durch ermöglicht wird, daß die Reihe v als eine Folge von Zustands- änderungen eines und desselben Gegenstandes o sich abspielt, daher auch diese zusammenfassende Apperzeption an die Vorstellung o gebunden bleibt. Die Apperzeption von o als dominierender Vor- stellung wirkt nun aber derartig hemmend auf die Reihe der Laut- assoziationen nnnn . ., daß die einfache Wiederholung n n, die sich dann eventuell noch zu verkürzten Formen verdichten kann, als ein- ziger Lautinhalt der Wortkomplikation zurückbleibt. Diese gewinnt so die endgültige Form:

nno (vvv . .).

Anders verhält es sich mit der zweiten allgemeinen Anwendung der Verdoppelung, mit dem Ausdruck intensiv gesteigerter Eigenschaften oder Tätigkeiten. Hier ist in dem objektiven

646 Die Wortbildung.

Eindruck als solchem niclits enthalten, was unmittelbar zu einer zeitlichen Wiederholung des Lautes herausfordern könnte. Dieser Mangel einer direkten objektiven Beziehung spricht sich auch darin aus, daß diese Form der Eeduplikation ebensowohl durch bleibende Eigenschaften der Dinge wie durch Vorgänge oder Handlungen ausgelöst wird. Es ist daher augenfäüig, daß hier nur das subjektive Gefühl das Mittelglied bilden kann, das die Intensitätssteigerung in diese extensive Form überträgt. Wiederum gehört nun schon innerhalb der bloßen Affektäußerungen die Wiederholung der Bewegung zu den geläufigsten Ausdrucks- mitteln der gesteigerten Gefühlserregung. Sie wird zu dem natür- lichsten Ausdrucksmittel insbesondere dann, wenn sich, wie das beim Übergang in die Sprachäußerung regelmäßig geschieht, die Ausdrucksbewegungen ermäßigen, so daß die direkteste Aus- drucksform des erhöhten Gefühls, die durch einfache Steigerung der Bewegungsintensität, hinwegfällt. Immerhin bleibt es für diese indirektere Beziehimg der Wiederholungsform zum Gefühls- ausdruck bezeichnend, daß, im Unterschiede von der vorigen objek- tiven Entstehungsform, noch andere Arten der verstärkten Betonung des Lautes für die Gefühlssteigerung eintreten können: so namentlich die in manchen Sprachen entstandenen Intensivbildungen. Bezeichnen wir demnach irgendeinen Eindruck, der in der Vorstellung ebenso- wohl an einen äußeren Vorgang wie an eine wahrgenommene Eigen- schaft gebunden sein kann, mit e, so wird, wenn mit diesem relativ gefühlsfreien Eindruck e eine Lautbezeichnung n zu einer Wortkompli- kation n e verbunden war, der gefühlsstarke Eindruck g e nun eine reagierende Lautgebärde herausfordern, die in irgendeiner Steige- rung des Lautes n besteht. Von den hierbei möglichen und zum Teil wirklich vorkommenden Formen der Lautverstärkung gewinnt dann unter dem Einfluß der die sprachlichen Vorgänge begleitenden Affekt- ermäßigung die Verdoppelung vor den andern, wie Lautverstärkung, Tonerhöhung oder Ton Verlängerung, das Übergewicht. Dazu mag die bereits geläufige Anwendung in sonstigen, durch den objektiven Eindruck selbst geforderten Bedeutungen, wie Wiederholung von Vorgängen, Mehrheit von Gegenständen, durch assoziative Über- tragung mitwirken. Dies läßt sich um so mehr mit Wahrscheinlich-

Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 647

keit annehmen, als bei dem Ausdruck der Steigerung der Laut n, schon ehe er verdoppelt wird, im allgemeinen eine bestimmte Wort- bedeutung besitzen muß. Der sich wiederholende Vorgang kann ja eventuell primär als ein solcher gegeben sein; die gesteigerte Eigen- schaft ist aber nicht wohl möglich, ohne daß die einfache Eigenschaft schon zuvor unterschieden wurde. Dem entspricht es, daß in der Tat diese auf die subjektive Gefühlsbetonimg zurückgehenden Verdoppe- lungserscheinungen in der Regel als Wortverdoppelungen, nicht, wie die vorige Klasse, als bloße Lautwiederholungen vorkommen. In diesem Sinne wird man daher immerhin diese Anwendungsform als die relativ spätere und in bedingter Weise, nämlich eben mit Rück- sicht auf den assoziativen Einfluß der schon vorhandenen Wieder- holungsformen, auch als eine abhängige Erscheinung betrachten dürfen. Diese Abhängigkeit erstreckt sich aber nicht auf die Grundbedingungen des Vorgangs, die vielmehr hier ebenso selbständig und eigenartig sind, wie bei der frequentativen Bedeutung der Verdoppelung. Be- zeichnen wir, wie oben, mit n e die ursprüngliche Wortkomplikation, so wird daher, sobald der intensive Gefühlston g hinzutritt, zunächst wiederum mit Rücksicht auf das einheitliche Objekt o, auf das der Eindruck wie die von ihm ausgehende Gefühlserregung zurückbezogen wird, das Produkt g e mit diesem Objekt durch die Apperzeption zu- sammengefaßt, während das hinzugetretene Element g zur Wieder- holung von n antreibt, so daß die ganze Wortkomplikation die Form annimmt :

nno (g e).

Die beiden durch die linke und rechte Seite des Schemas (S. 643) dargestellten Sonderentwicklungen schließen sich nun an diese^ all- gemeingültigen Grundformen an, jede aber wieder in wesentlich ver- schiedener Weise. So sind die fast durchweg den Sprachen primi- tiver Kulturvölker angehörenden nominalen Verdoppelungs- formen dem ersten, objektiven Typus verwandt. Dennoch kann auch hier aus dieser Verwandtschaft noch nicht geschlossen werden, daß sie aus ihm hervorgegangen seien, sondern man wird nur annehmen können, daß die Motive der Entstehmig teilweise übereinstimmen. Diese Übereinstimmung liegt eben darin, daß es sich in beiden Fällen

648 Die Wortbildung.

um eine objektive Wiederholung handelt: dort um eine Wie- derholung eines Vorgangs, hier um die Wiederholung mehrerer Objekte der Apperzeption von übereinstimmender Be- schaffenheit. Darin ist aber auch bereits der Unterschied beider Fälle ausgesprochen: dort beruht die Wiederholung auf dem objek- tiven Vorgang selbst, hier auf der subjektiven Aufeinander- folge mehrerer Apperzeptionen des gleichen Gegenstandes. Die nächstliegende und verbreitetste Art einer solchen Zusammen- fassung ist die einer Zweiheit regelmäßig verbundener Objekte, wie sie vor allem der menschliche Körper selbst bietet: der Augen, Hände, Brüste usw. Es ist diejenige Form der innerhalb dieser objektiv gerichteten Keihe entstandenen Ausdrucksweisen eines Kollektivbegriffs, die allein, wie es scheint, auch auf die der rechten Seite unseres Schemas angehörigen Sprachen in gewissem Grad übergegriffen hat. Der duale Kollektivbegriff wird hier einfach durch die in ihrem Laut- wie Begriffsbestandteil zwei- gliedrige Komplikation nn {oo) ausgedrückt. In diesem von vornherein die einfache Reduplikation herausfordernden Ausgangs- punkt liegt, neben dem Übergang vom Objekt auf die subjektive Wiederholung der Apperzeption, zugleich der wesentliche Unter- schied von der allgemeinen onomatopoetischen Wiederholungsform; und da diese Anwendung auf Objekte gerade in den durch reich- liche Anwendung von Laut- und Wortwiederholungen ausgezeich- neten Sprachen vorkommt, so mag diesem Umstände wohl ein mit- wirkender Einfluß auf die Bildung zweigliedriger Formen in andern Fällen zukommen. Außerdem konnte aber auch der so gebildete zwei- gliedrige Kollektivausdruck durch eine Ausdehnung des objektiven Gliedes der Komplikation auf mehrgliedrige Begriffe übergehen, Wobei sich dann freilich, um die Vorstellung der Einheit zu bewahren, noch eine weitere Veränderung vollziehen mußte, die jedenfalls bei den dualen Begriffen schon vorgebildet ist, jedoch wegen der leichten Vereinigung der Zweiheit zu einer Einheit zurücktritt. Dieser Vor- gang besteht darin, daß, je mehr Glieder das Kollektivum umfaßt, um so mehr ein einzelnes dieser Glieder als repräsentative Vor- stellung über die andern dominiert, während diese in dem unbe- stimmten Eindruck der Vielheit nur dunkler vorgestellt werden:

Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 649

SO z. B. wenn der Begriff „Baum" durch Verdoppelung in das un- bestimmte Kollektivum „Wald" umgewandelt wird. Wir können uns demnach die Konstitution der einem solchen Allgemeinbegriff ent- sprechenden Wortkomplikation symbolisch veranschaulichen durch die Form:

nno (o 0 0 0 . . .),

wo die fest assoziierten, aber dunkler vorgestellten Objekte o in der Klammer enthalten sind, während das deutlich apperzipierte repräsen- tative Objekt direkt mit dem Lautbilde n n verbunden ist. Das psy- chologische Verhältnis dieser pluralen zu den dualen Kollektivbegriffen macht es zugleich in hohem Maße wahrscheinlich, daß hier die ver- wickeitere aus der einfacheren Form wirklich hervorgegangen ist, d. h. daß sich die Anwendung der Reduplikation auf umfassendere KoUektiva in den betreffenden Sprachgebieten erst unter dem asso- ziativen Einflüsse der dualen Formen entwickelt hat. Analog scheint sich dann der in seltenen Fällen zur Ausbildung gelangte Ausdruck des reinen Plurals durch Wortverdoppelung an die so entstandenen umfassenderen KoUektiva angelehnt zu haben. Der Übergang konnte hier leicht erfolgen, sobald sich die bei dem Kollektivum vorherrschende repräsentative Vorstellung verdunkelte. Dies würde eine Art Rück- bildimg der vollständigeren Wortkomplikation nno {ooo , ,) zu nn(ooo . .) bedeuten. Doch bleibt auch die Möglichkeit, daß sich die duale Form nn{po) direkt durch Vermehrung der objektiven Assoziationsglieder zur pluralen erweitert habe, oder daß an verschie- denen Orten beide Vorgänge, die Rückbildung des zusammengesetzten KoUektivums zum Plural imd die Erweitermig des dualen zum Plural, stattfanden.

Eine ähnliche Beziehung, wie nach der Seite der Gegenstands- begriffe zwischen dem sich objektiv wiederholenden Vorgang und der subjektiven Wiederholung der Apperzeption von Objekten, findet sich nun auf der Seite der Verbalbegriffe zwischen jenem imd dem dauernden Vorgang. Auch hier haben wir keinen Anlaß anzunehmen, die zweite sei aus der ersten, verbreiteteren Form hervorgegangen, oder diese habe auf jene anders als durch die Macht der assoziativen Formübertragimg eingewirkt, vermöge

650 Die Wortbildung.

deren eine häufig gebrauchte Form durch ihre Einübung über- haupt vor andern möglichen Ausdrucksweisen der gleichen Vor- stellung begünstigt ist. Dies schließt aber natürlich nicht aus, daß die vom Vorstellungsinhalt ausgehenden Motive hier so gut wie bei der Entwicklung der Reduplikation zu einer rein inten- siven Ausdrucksform vollkommen selbständige gewesen sind. In der Tat fordert der dauernde Zustand, ganz abgesehen von einer möglichen Anlehnung an rhythmisch sich wiederholende Vorgänge, schon durch die Eigenschaft der Dauer, gegenüber der rasch vorübergehenden Bewegung, zu einer Verstärkung des Ausdrucks heraus, die in der Lautwiederholung ihren einfachsten sprach- lichen Ausdruck findet. Ein objektives imd ein subjektives Moment können sodann zusammenwirken, um dies zu unterstützen. Objektiv ist es, wie bei den Mehrheitsbegriffen, die Wiederholung der Apper- zeption des gleichen Geschehens, welche der sich fortsetzende Vor- gang veranlaßt. Subjektiv erzeugt der dauernde Vorgang im all- gemeinen eine stärkere Gefühlserregung. Fassen wir demnach alle diese Momente in der symbolischen Formel

nng (dv)

zusammen, in der n und v wieder im gleichen Sinne wie oben an- gewandt sind, d aber die Eigenschaft der Dauer und g die durch d v bewirkte Gefühlsbetonung bedeutet, so ist die Beziehung dieser Kom- plikation zu den intensiven und kollektiven Verdoppelungsformen augenfällig. Zugleich erkennt man jedoch die Eigenart derselben, die es durchaus verbietet, sie etwa mittels einer hier so verführerisch winkenden logischen Interpretation aus der iterativen Form ableiten zu wollen. Letzteres ist schon deshalb unmöglich, weil von Verglei- chungen, Verallgemeinerungen und ähnlichen intellektuellen Prozessen selbstverständlich nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist die Ent- wicklung einer Form aus einer andern immer nur insoweit möglich, als sie durch einfache und vollkommen unwillkürlich wirkende asso- ziative und apperzeptive Bedingungen herbeigeführt wird.

Anders verhält es sich mit der letzten in diese Reihe gehörigen Anwendung der Reduplikation: mit dem den indogermanischen

Psychologische Theorie der Verdoppelungserscheinungen. 651

Sprachen eigenen Ausdruck der vergangenen Zeit. Hier ließe sich kaum einsehen, in welcher Weise eine solche Beziehung durch ur- sprüngliche Apperzeptions- oder Gefühlsmotive entstanden sein könnte. Dagegen wird diese Form ohne weiteres verständlich, wenn wir von der durativen Bedeutung der Verdoppelung ausgehen. In der die letztere bezeichnenden Verbindung nn g (dv) wird sich zunächst, wie überall, wo nicht besondere Motive zu seiner Erhaltung gegeben sind, das Gefühlselement g durch häufigen Gebrauch abschwächen. Dafür kann sich aber in der Vorstellungsverbindung (c^ v) als ein neuer Bestandteil die in d nur dunkel vorgestellte Beziehung auf den An- fang des wahrgenommenen objektiven Vorgangs aussondern. Dies wird um so eher geschehen, je mehr sich überhaupt die Zeitvorstellungen ausbilden und infolgedessen die verschiedenen zeitlich vorgestellten Ereignisse nach den Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft orientiert werden. Heftet sich so an die dauernde Handlung die in ihr bereits vorgebildete Nebenvorstellung eines teilweise in der Ver- gangenheit liegenden Vorgangs, so kann nun die weitere Entwick- lung in der gewöhnlichen Form assoziativer Verschiebungen erfolgen, indem diese Nebenvorstellung immer mehr in den Blickpunkt des Bewußtseins tritt, indes die anfängliche Hauptvorstellung dunkler wird und schließlich ganz verschwindet. Deuten wir das Element der Vergangenheit durch p an, so vollzieht sich also die Reihe der Wandlungen von nng (dv) durch nn{dpv), nn (pdv) in nn (p v).

Hiernach sind die in dem obigen Schema (S. 643) auseinander- gehenden Entwicklungsreihen in ihren beiden Ausgangspunkten, in dem Ausdruck einer Zweiheit verbundener Vorstellungen einer- seits und eines dauernden Vorgangs anderseits, aller psychologischen Wahrscheinlichkeit nach selbständige, jedesmal durch eigenartige psychische Motive entstandene Formen, wenn auch in beiden Fällen der bereits geläufige Gebrauch der Reduplikation in den allgemein- gültigen Erscheinungen der mittleren Reihe begünstigend eingewirkt haben mag. Dagegen ist nicht minder wahrscheinlich die plurale Ver- doppelung aus der dualen, die perfektive aus der durativen hervor- gegangen. Wenn dann weiterhin diese beiden Reihen durchgängig sich ausschließen, so daß bei den Völkern, bei denen die durative und

652 Die Wortbildung.

die perfektive Bedeutung zur Entwicklung gelangte, die duale bis auf spärliche Keste und die plurale ganz fehlt, während umgekehrt da, wo die letzteren eine hervorragende Kolle spielen, jene ersteren nicht vorkommen, so ist dieser Unterschied sichtlich auf verschiedene Richtungen des Denkens zurückzuführen. Wo die Verdoppelungs- erscheinungen hauptsächlich auf Nominalformen übergreifen, da herrscht eine gegenständliche Form des Denkens. Bewegen sich dagegen jene vorwiegend innerhalb der Verbalbildungen, so tritt eine zuständliche Form desselben hervor. Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, daß der tiefgreifende Unterschied dieser Richtungen noch in zahlreichen andern Erscheinungen bei der Bildung der Wort- formen sowie in der Satzbildung zutage tritt ^).

VI. Wortbildung durch Zusammensetzung. 1. Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung.

Kann auch die Wortwiederholung ihrer allgemeinen Natur nach als der besondere Fall von Wortzusammensetzung betrachtet wer- den, wo sich ein Wort mit sich selber verbindet, so pflegt man doch unter einem ,, Kompositum" in der Kegel nur eine Wortverbindung aus ungleichen Bestandteilen zu verstehen. Diese Scheidung ist insofern gerechtfertigt, als durch die Lautwiederholung selbst erst ein einfaches Wort entsteht und die volle Wortwiederholung nur die stärkere Hervorhebung eines schon vorhandenen Wortes ist, also keine neue Wortbildung darstellt. Überdies umfaßt die Verbindung ungleicher Bestandteile nicht nur ein viel weiteres Gebiet von Er- scheinungen, sondern sie besitzt auch eine ungleich tiefer in das ge- samte Leben der Sprache eingreifende Bedeutung.

Jede Wortzusammensetzung entspringt aus Motiven, die der Zusammenhang der Rede mit sich führt. Aus der äußeren Berührung der Wörter im Satze kann jedoch eine engere Verbindimg nur dann hervorgehen, wenn zugleich eine innere Affinität die Wörter zusam-

1) Vgl Kap. VI und VII.

Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 653

menführt. Demnach durchkreuzen sich bei der Bildung eines Kom- positums ein analytischer imd ein synthetischer Vorgang. Analy- tisch entsteht ein zusammengesetztes Wort, indem es als syntak- tisches Gefüge aus dem Ganzen eines Satzes sich aussondert. Syn- thetisch bildet es sich, indem seine Bestandteile eine festere Ver- bindimg miteinander eingehen und dadurch von den übrigen Wörtern des Satzes als ein neues Wortganzes sich scheiden. Diese Verhält- nisse machen es begreiflich, daß man bald das analytische, bald das synthetische Moment in den Vordergrund stellte, je nachdem ent- weder der Satz oder das Wort als das ursprünglichere sprachliche Gebilde betrachtet wurde. Da die Sprachwissenschaft in der Regel dem Worte den Vorzug einräumt, so ist in ihr der synthetische Gesichtspunkt der vorherrschende. Demgemäß wird das Kom- positum meist als ein durch willkürliche Vereinigung seiner Teile entstandenes Gebilde behandelt, nach dessen psychologischen Entstehungsbedingungen nicht weiter gefragt wird. Vielmehr be- gnügt man sich mit der Feststellung der zwischen den Gliedern des Kompositums bestehenden logischen und grammatischen Verhältnisse, um dann darauf etwa eine Klassifikation der Wortzusammensetzungen zu gründen. So werden denn Verbin- dungen der Koordination, der Über- und Unterordnung, der attri- butiven, adverbialen, objektiven Bestimmung, der Kasusverhält- nisse usw. unterschieden^).

^) Vgl. L. Tobler, Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, V, 1868, S. 205 ff. A. Darmesteter, Trait^ de la formation des raots compos^s dans la lahgue fran^aise, 1875. (Bibl. de l'ecole des hautes 6tudes, Fase. 19.) Auch bei Paul (Prinzipien,* S. 325 ff.) ist für die Gruppierung der Beispiele das logisch -grammatische Schema maßgebend. Dagegen hebt Brugmann mit Rücksicht auf die Entstehung des Kompositums durch syntaktische Isolierung mit Recht hervor, für diese Frage sei das Verhältm's der Glieder ohne Bedeutung, überhaupt aber seien die Grenzen zwischen syntaktischer Verbindung und Wort- zusammensetzung, ebenso wie die zwischen Kompositum und Simplex, fließende (Grundriß II, S. 4 f.). Einen Versuch, die logische Klassifikation der Kompo- sita durch eine psychologische Betrachtung zu ergänzen, hat wohl zuerst Tobler gemacht. Aber er ist selbst von dem Versuch, seine logische Klassifikation mit seinem psychologischen Schema in Beziehung zu setzen, wenig befriedigt (a. a. O. S. 220 f.).

654 Die Wortbildung.

Wenn nun die Bildung eines jeden Kompositums im all- gemeinen einen analytisclien und einen synthetisclien Vorgang voraussetzt, so ist damit ebenso eine rein willkürliche wie eine zufällige Entstellung ausgeschlossen. Willkürlich kann es nicht zusammengefügt sein, da es aus dem syntaktischen Gefüge, in dem es einem größeren Vorstellungszusammenhang angehörte, von selbst vermöge der Beziehung seiner Glieder sich ausschied. Zu- fällig kann es nicht entstanden sein, da zu jener Zerlegung der Gesamtvorstellung eine durch die Affinität der Bestandteile ver- mittelte engere Verbindung hinzutreten mußte. Beides, der ana- lytische und der synthetische Prozeß, setzt also psychische Motive voraus, die den Erscheinungen selbst immanent sind: Motive der Sonderung von der im ganzen Inhalt des Satzes ausgedrückten Gesamtvorstellung einerseits, und Motive der Verbindung der sich aussondernden Bestandteile anderseits. Wird als ein Motiv der letzteren Art gelegentlich dies angeführt, daß Wörter, die ursprüng- lich mit gesonderten Akzenten gesprochen wurden, einen gemein- samen Akzent erhielten, so ist aber dies offenbar nur eine äußere Wir- kung der bereits eingetretenen Verbindung, nicht deren Ursache, wie denn ja auch das allmähliche Schwinden des Akzents von dem in der Betonung sich unterordnenden Wortbestandteil die verschie- densten Gradabstufungen zeigt, die der zunehmenden Innigkeit der Verbindung parallel gehen. Können die wirklichen Motive der Ver- bindung nicht in dem die Wörter umfassenden Satzganzen, sondern nur in den Bestandteilen selbst, die sich verbinden, gesucht werden, so kann ferner die Feststellung des logischen Verhältnisses, in dem die Kompositionsglieder zueinander stehen, zu einer solchen Erkennt- nis nicht das geringste beitragen. Irgendwelche Wörter, die einander nicht völlig disparat gegenüberstehen, lassen sich natürlich immer in eine logische Beziehung bringen. Die Verhältnisse der Über-, Unter-, Nebenordnung, der Beziehung des Subjekts zu seiner Eigenschaft oder Tätigkeit, sie sind überall anwendbar, mögen nun solche Wörter unabhängig nebeneinander vorkommen oder Bestandteile eines Kompositums bilden. Eben darum aber sagen sie über die psychologischen Motive, die diese Verbindung zustande brachten, nichts aus.

Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 655

Wollen wir uns die Entstehungsbedingungen der Wortzusam- mensetzung näher vergegenwärtigen, so werden wir daher besser tun, solche Verschiedenheiten der einzelnen Erscheinungen ins Auge zu fassen, die direkt auf besondere Eigentümlichkeiten jener analy- tischen und synthetischen Vorgänge hinweisen. Hier zeigt sich nun vor allem, daß diese Vorgänge von anscheinend entgegengesetzter, aber doch sich ergänzender Richtung in den einzelnen Fällen in sehr verschiedenem Grad an der Entstehimg eines gegebenen Produkts beteiligt sein können. Auf der einen Seite begegnen uns Komposita, die unmittelbar so wie sie sind aus einem Satze losgelöst scheinen, so daß sie uns fast als reine Produkte syntaktischer Gliederung mit verhältnismäßig geringer Begleitwirkung verbindender psychischer Kräfte entgegentreten. Auf der andern Seite finden sich nicht minder häufig Komposita, deren Teile so, wie sie in das neu- gebildete Wort eingehen, unmöglich als ursprünglich selbständige Wortgebilde in einem Satze vorgekommen sein können, wo also diese Teile mehr oder minder starke Dislokationen und Form- veränderungen durch die zwischen ihnen tätige psychische Affi- nität erfahren haben müssen: hier handelt es sich daher offenbar um Erscheinungen, bei denen der synthetische Teil des Prozesses weit über den analytischen überwiegt. Dazu kommt endlich noch eine dritte Reihe von Formen, bei denen die Entstehungs- orte der Teile des Kompositums sichtlich noch weiter entfernt liegen, indem aller Wahrscheinlichkeit nach einer dieser Teile ursprünglich gar nicht der Gesamtvorstellung angehörte, aus der sich der den Hauptbegriff tragende ausgesondert hat, sondern irgendwelchen ganz andern Satzverbindungen, aus denen er infolge gewisser Assoziationsmotive von jenem Hauptbegriff attrahiert wurde. Hier überwiegt also der synthetische Teil des Prozesses noch mehr als im vorigen Fall, während sich der analytische ganz und gar auf die Ausscheidung eines einfachen Wortes beschränkt, darüber hinaus aber gar nichts zur Bildung der zusammengesetzten Form beiträgt. Wir können uns diese drei Fälle durch das folgende Schema veran- schaulichen, in welchem, um den Erörterungen der folgenden Kapitel über die Gesetze der Satzgliederung nicht vorzugreifen, die durch die Zerlegung der Gesamtvorstellimg G entstehenden einzelnen Wort-

656 Die Wortbildung.

bestandteile a, h, c^ d . . . des Satzes vorläufig einander einfach ko- ordiniert werden sollen. Das resultierende Kompositum ist jedesmal durch C angedeutet.

Typus I Typus II Typus III

G G G' G

I I I I ! I I I I I I I I I irt I I I I I I i

a h c d f g a b e d e f g m a b c d e f g

u

c ^ c c

Hiernach läßt sich, nach Analogie der bei den Lautinduktionen (Kap. IV, S. 415 f.) eingeführten Benennungen der Typus I kurz als eine Komposition durch assoziative Kontaktwirkung, der Typus II als eine solche durch assoziative Nahewirkung, der Typus III als eine solche durch assoziative Fernewirkung bezeichnen.

Als Beispiele für das Verhältnis der Typen I und II können das französische Wort pourhoire und das den gleichen Begriff ausdrückende deutsche Trinkgeld dienen. Beide weisen nicht nur grammatisch, sondern vor allem auch psychologisch auf einen abweichenden Ur- sprung hin. Zugleich können aber die psychologischen Unterschiede aus den grammatischen nicht abgeleitet, sondern höchstens indirekt erschlossen werden. Das deutsche Kompositum hat sich hier offenbar unter der assimilierenden Wirkung anderer, älterer Komposita ähn- licher Art, wie Wergeid, Handgeld, Mietgeld, Pachtgeld usw., gebildet, Assoziationen, die unter dem Einfluß der Verbindung der Vorstellungen ,,Geld" mid ,, trinken" wirksam wurden. Diese Verbindung selbst ist aber durchaus keine unmittelbare, wie das schon die grammatische Umbildung des attributiven Bestandteils verrät. Auch gibt es keine Satzfügung, in der diese Verbindung vorkommen könnte: in solchen ist allenfalls ein „Geld zum Trinken", aber kein ,, Trinkgeld" mög- lich. Wesentlich anders verhält sich das französische pourhoire. Zwar sind auch hier Assoziationen mit andern aus der Präposition pour gebildeten Zusammensetzungen, wie pourpoint, pourprendre, pour- suivre u. a., denkbar. Doch da diese Komposita nicht nur in den hin-

Begriff und Hauptformen der Wortzusammensetzung. 657

zugefügten Wortbestandteilen, sondern auch in den Bedeutungen der Präposition selbst weit auseinandergehen, so können solche Wörter kaum anders als durch Lautassoziation, nicht, wie bei dem deutschen Worte, durch einen gemeinsamen Hauptbegriff auf die Verbindung gewirkt haben. Wohl aber trägt das französische Kompositum deut- lich die Spuren der unmittelbaren Entstehung aus dem Satze an sich; ja vielleicht ist es selbst ursprünglich nichts anderes als ein lücken- hafter Satz gewesen. Nachdem hmiderte von Malen der Geber, der eine Dienstleistung vergüten wollte, dem Beschenkten durch ein ,,pour boire" den Zweck der Gabe angedeutet hatte, wurde dieser unvollständige Satz, der in der Handlimg des Gebens seine pantomimische Ergänzung fand, in dem Augenblicke zum Wort, wo er als selbständiges Ganzes in irgendeinen andern Satz als dessen Subjekt oder Objekt eintrat. Dieser Ursprung bringt es dann auch mit sich, daß das Ganze noch fortan ebenso- wohl als eine Verbindung zweier Wörter in einem beliebigen andern Zusammenhang wie als ein einziges substantivisches Wort vor- kommen kann.

Beispiele für das Verhältnis der Typen II und III zueinander sind einerseits Komposita wie Trinkgeld oder die ihm ähnlichen Dorn- strauch, Apfelbaum, Kirchturm usw. und anderseits solche wie Hirsch- käfer, Leberfleck, Blutbuche, Rittersporn. Jede Zusammensetzung der ersteren Art enthält zwei Vorstellungen, die der Wahrnehmung des Gegenstandes oder der Handlung gleichzeitig angehören, und die daher beide in der ursprünglichen Gesamtvorstellung und ihrer Zer- legung im Satze gegeben waren. Die Entstehung des Kompositums beruht also hier ganz auf einer unmittelbaren Wahrnehmungsasso- ziation. Der Hirschkäfer dagegen war zunächst nur als Käfer mit einigen nicht benannten spezifischen Merkmalen in der Anschauung gegeben. Diese Merkmale aber, die hornigen Mandibeln mit ihren zweizinkigen Spitzen, erweckten das einer Keihe anderer Gesamt- vorstellungen zugehörige Bild des Hirsches, das nun sekundär mit der Vorstellung des Käfers assoziiert wurde. Hier also liegt der Bil- dung des Kompositums zugleich eine Erinnerungsassoziation zu- grunde. Ist es in diesen wie in den andern angeführten Beispielen eine dem Hauptbegriff hinzugefügte, ihn näher determinierende Neben-

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. 42

658 Die Wortbildung.

Vorstellung, die aus einer außerhalb liegenden Vorstellungs Verbin- dung attrahiert wird, so kann nun aber auch das Verhältnis sich um- kehren, indem der assoziativ hinzutretende Bestandteil zur Haupt- vorstellung und der direkte Wahrnehmungsinhalt zur Nebenvor- stellung wird : so in dem in der gleichen Bedeutung gebrauchten franz. cerf Volant, wo die Vorstellung des Hirsches als assimilative Erinne- rungsassoziation im Vordergrund steht, an die nun das in der Wahr- nehmung gegebene Bild der Flügel als Nebenvorstellung sich an- schließt i).

2. Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung.

Gegenüber den soeben erörterten drei Haupttypen der Wort- komposition, die auf innere Motive der Assoziation und Apperzeption zurückführen, dabei aber mit den verschiedensten grammatischen Formen der Wortverbindung zusammenbestehen können, besitzen nun diese äußeren Formen selbst zwar ein grammatisches, jedoch nur indirekt ein psychologisches Interesse: insofern nämlich, als die sprachliche Form immerhin unter Umständen auf die psychischen Motive zurückschließen läßt. Namentlich pflegen die Verschieden- heiten der Verbindungsweise für das Vorwalten bald mehr des ana- lytischen bald mehr des synthetischen Teiles dieser Wortbildungs- prozesse kennzeichnend zu sein 2).

^) Auf die eigentümlichen Verschiedenheiten der hier zugrunde liegenden Assoziationsweisen hat zuerst O. Dittrich aufmerksam gemacht (Gröbers Zeit- schrift für romanische Philologie, Bd. 22, 1898, S. 441) und darauf die Haupt- einteilungen seiner Übersicht der neufranzösischen Komposita gegründet, indem er die Komposita überhaupt in „Erkennungsnamen" und „Erinnerungsnamen*' unterscheidet. Einen mehr logischen Charakter trägt dagegen seine weitere Unterscheidung von ,,Übereinstimmungs-'* und „Abweichungsnamen" an sich. Nach ihr würde z. B. ein Wort wie ,, Hirschkäfer" als ein Übereinstimmungs-, ,,cerf Volant" dagegen als ein Abweichungsname zu bezeichnen sein.

2) Über die grammatischen Verhältnisse der Wortzusammensetzung und die hieraus sich ergebenden Unterformen dieses Prozesses, die „Worteinung" und „Univerbierung", vgl. Brugmann, Kurze vergl. Grammatik, S. 287 ff. Die „Worteinung" besteht darin, daß sich ein syntaktischer Verband bildet, dessen Bestandteile durch die einheitliche Gesamtvorstellung, in die sie eintreten, be- grifflich modifiziert werden, z. B. Landesverrat, Erstgeborner, auslesen, abkaufen

Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 659

Hierher gehört vor allem die Erscheinung, daß es einerseits Kom- posita gibt, in denen sowohl die Teilbegriffe selbst wie die Beziehungen, in denen sie stehen, in einer Form ausgedrückt sind, in der sie schon vor ihrer Verbindung zu einem Kompositum in einem Satze vor- kommen können; während in andern Fällen irgend etwas, sei es auch nur ein Flexionselement, hinzugefügt werden muß, um die Art der Verbindung der Einzelbegriffe vollständig zum Ausdruck zu bringen. Im ersten Fall kann also das Kompositum einfach durch festere Ver- bindung zweier aus der Satzzerlegung entstandener Worte entstehen: so in ^loaxovQoi, respuhlica, quamobrem, bienheureux, Gottesgericht usw. Im zweiten Fall gehen gewisse Wortelemente verloren, oder es finden Umstellungen der Worte statt, lauter Erscheinungen, die auf hinzutretende synthetische Vorgänge hinweisen: so in (DiliTtnog für q>LX(jjv %n7tov^, timbre-poste für timbre de poste, Vaterhaus für Vaters Haus, Trinkgeld für Geld zum Trinken usw. Indem man in dieser Hinweglassung grammatischer Verbindungsglieder ein wesent- liches Merkmal dafür sah, daß aus der Zusammensetzung ein neues Wort hervorgehe, wurde das Vorhandensein einer solchen ,, Ellipse" geradezu als das Kriterium der eigentlichen Wortkomposition und jeder Fall, wo jene fehlt, als eine bloße ,,Juxtaposition" angesehen^). Dabei wird aber nicht beachtet, daß die Festigkeit der Verbindung und das durch diese erzeugte Gefühl der Worteinheit hier genau im selben Maße vorhanden sein kann wie dort. Dem gegenüber ist die etwaige grammatische Umbildung um so mehr ein relativ gleichgültiger Umstand, als in beiden Fällen die in dem Ganzen enthaltenen Ein- zelvorstellungen, solange nicht weiter greifende Laut- und Begriffs- umwandlungen eintreten, gleich deutlich unterschieden werden: in timbre-poste ebensogut wie in timbre de poste, in Vaterhaus wie in

u. ä. „Univerbienmg** wird es genannt, wenn Worte gewohnheitsmäßig ver- bunden sind, ohne aber eine Begriffseinheit zu bilden, z. B. homer. 6ixöv-ds „nach Hause", e-tpsgov „ich trug" u. a. Psychologisch gehen diese Formen ohne scharfe Grenze ineinander über, da sich an die einmal gebildete Verschmelzung leicht auch im zweiten Fall Laut- oder Akzentänderungen sowie Bedeutungsänderungen anschließen. Vgl. hierzu noch Brugmann, Ber. der sächs. Ges. 1900, S. 359 ff., und H. Paul, Indogermanische Forschungen, Bd. 14, S. 250 ff. ^) Darmesteter, Formation des mots compos6s, p. 10.

42*

660 Die Wortbildung.

Vaters Haus. Aucli zeigen Beispiele wie chef d'oeuvre, Gottesgericht und ähnliclie, daß die Beibehaltung der selbständigen grammatischen Form häufig wohl nur die Wirkung einer durch den Fluß der Rede herbeigeführten Lautdissimilation, nicht ein Produkt geringerer Festig- keit der Verbindung ist. Vollends nichtssagend und irreführend ist es, wenn man jene den synthetischen Prozeß der Wortkomposition begleitende Einschmelzung von Wortelementen als ,, elliptische" Redeform bezeichnet. Die Übertragung rhetorischer Figuren auf die natürliche Sprachbildung ist immer eines der unglücklichsten Inter- pretationsmittel, weil es sich in allen solchen Fällen nur um eine zu- fällige äußere Ähnlichkeit handelt, die aus ganz verschiedenen inneren Ursachen hervorgeht. Die rhetorische Bedeutung der ,, Ellipse" liegt bekanntlich in der Hinweglassung solcher Teile der Rede, die in dem gewöhnlichen Ausdruck der Gedanken unentbehrlich sind. Bei den sogenannten Ellipsen der Wortkomposition ist aber umgekehrt gerade das durch Zusammenziehung der Laute und der grammatischen Form- elemente gewonnene Ganze in der Weise stellvertretend für den Be- griff geworden, daß im Ausdruck keine Lücke empfunden wird. Wollte man als vollständiges Wort nur ein solches anerkennen, das den ganzen Begriff unverkürzt enthielte, so müßte man auch jedes Simplex eine ,, Ellipse" nennen. Ist es doch immer nur ein einzelnes dominierendes Merkmal, von dem die Benennung des Gegenstandes ausgeht. Diese ursprünglichen sprachbildenden Vorgänge mit den sekundären Er- scheinungen, wie sie in der Kunstform der Rede beobachtet werden und erst auf Grimd jener vorangegangenen Entwicklungen möglich sind, zusammenzuwerfen, kann daher nur zu einer Verwirrung der psychologischen Tatsachen führen.

Wie es für den allgemeinen Charakter eines Wortkompositums gleichgültig ist, ob ein die Teile verknüpfender Beziehungsausdruck mit in dasselbe eingeht oder nicht, so können nun auch die Vorstellungen selbst, die miteinander verbunden werden, nach ihrer logischen Be- deutung den verschiedensten Begriffsformen angehören, ohne daß dadurch die psychologische Natur der Verbindungsvorgänge wesent- lich alteriert wird. Ob z. B. eine Eigenschaft durch eine gegenständ- liche Vorstellung determiniert ist, wie in vogelfrei, steinreich, ehrgeizig, lehrreich, oder ob ein Gegenstands- durch einen Eigenschaftsbegriff

Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 661

ergänzt wird, wie in Festland, Freigeist, Großvater, Rotkehlchen, oder ob statt dessen zwei Adjektiva oder zwei Substantiva sieb wechsel- seitig ergänzen oder beschränken, wie in schwarzweiß, dunJcelrot, lau- warm, Hausmann, Schneeberg, Fingerhut, Windmühle, alle diese und ähnliche Unterschiede sind für die psychologische Seite der Er- scheinung ohne Bedeutung; oder soweit es sich hier um psycholo- gische Unterschiede handelt, greifen diese direkt in die Verhältnisse der allgemeinen Begriffsformen ein, ohne daß andere Gesichtspunkte als die überhaupt für die Kategorien und ihre Umwandlungen maß- gebenden in Betracht kommen^).

Weitere Fragen, die bei der üblichen logischen Behandlung ge- wöhnlich in den Vordergrund gestellt werden, ob z. B. das in dem Kompositum gegebene Begriffsverhältnis als ein einfach attributives oder als ein solches von Art und Gattung aufzufassen sei, ob es räum- liche, zeitliche," objektive, possessive Bestimmungen, den Gedanken an einen Grund, einen Zweck, ein Mittel, einen Grad usw. enthalte diese Fragen sind schon logisch von verhältnismäßig geringem, psychologisch aber von gar keinem Wert. Denn logisch betrachtet sind natürlich alle überhaupt möglichen Begriffsverhältnisse und Beziehungsformen der Begriffe auch zwischen den Gliedern eines Kompositums möglich; und psychologisch bietet wiederum keines dieser Verhältnisse irgendwelche Eigentümlichkeiten, wie denn ja auch die logische Beziehung der Begriffe niemals eine direkte Ursache der Verbindung ist. Vielmehr beruht diese stets nur auf der Asso- ziation, die sich zwischen den in den Bestandteilen des Kompositums ausgedrückten Vorstellungen gebildet hat, und auf Grund deren dieses Assoziationsprodukt in der Apperzeption zu einem einzigen Vor- stellungsinhalt verbunden wird. Ein unmittelbares Zeugnis für diese

^) Das Allgemeine über diese Verhältnisse der Begriffsformen und über die auch bei der Wortzusammensetzung eine Rolle spielenden kategorialen Um- wandlungen der Begriffe wird bei dem Bedeutungswandel (Kap. VIII) erörtert werden. Die nähere Anwendung auf die Erscheinungen der Wortkompositicn muß aber hier außer Betracht bleiben, da dieses Problem mit den besonderen Ausdrucksformen der einzelnen Sprachen zusammenhängt. Vgl. über das Fran- zösische 0. Dittrich in Gröbers Zeitschrift für romanische Philologie, Bd. 22, 1898, S. 305 ff., Bd. 23, 1899, S. 288 ff.

662 Die Wortbildung.

Unabhängigkeit der psydiologischen Entstehung von dem logischen Verhältnis der Begriffe ist die Tatsache, daß in verschiedenen Sprachen ein und derselbe Begriff durch Komposita ausgedrückt sein kann, die nach ihrer grammatischen Bildung wie nach ihrer psychischen Entwicklung völlig voneinander abweichen, während beiderlei Unter- schiede in gar keiner direkten Beziehung zueinander stehen. Einen Beleg hierzu bilden die oben bereits erläuterten gleichbedeutenden Wörter Trinkgeld und pourhoire. Gerade im Gebiet der Komposita zeigt es sich eben klar, daß ein Begriff nicht bloß in außerordentlich verschiedener Weise ausgedrückt werden kann, sondern daß auch die Art dieses Ausdrucks jedesmal sowohl von der eigentümlichen Richtung des Denkens wie von der Beschaffenheit der vorhandenen Ausdrucksmittel abhängt. Die deutsche Sprache, die eine große Frei- heit in der Erzeugung der Wortkomposita überhaupt und nament- lich auch in der Verbindung solcher Wörter besitzt, die der gleichen Begriffsklasse angehören, ist fähig, einen neuen Gegenstandsnamen einfach dadurch zu bilden, daß sie zwei schon vorhandene Substan- tiva, die sich in dem neuen Begriff irgendwie begegnen, aneinander fügt, oder auch daß sie einen Eigenschafts- mit dem geeigneten Gegen- standsnamen unmittelbar vereinigt. Ähnlich bildet sie neue Eigen- schaftswörter durch Verbindung bereits vorhandener mit Gegen- standsbegriffen, mit denen die Eigenschaft in irgendeiner Beziehung steht. Dadurch gewinnt das deutsche Kompositum den Charakter eines frei nach den jedesmaligen Zwecken zusammengesetzten Ganzen, dessen Teile aus beliebigen unabhängigen Sätzen ausgesondert und neu verbunden sein können, oder, wenn sie in einem und demselben Satze vorkamen, durch andere Satzbestandteile voneinander ge- sondert waren. Ähnliche Eigenschaften wie die deutschen zeigen auch die griechischen Komposita. Anders verhalten sich die der ro- manischen Sprachen, denen schon das Lateinische darin vorausging, daß in ihm viele Verbindungen aus einer einfachen Folge von Wörtern entstanden, die sich durch häufiges Zusammentreffen im Satze in dieser Verbindung befestigt hatten, wie respublica, senatusconsuUum, jusjurandum und ähnliche. Diesen Charakter einer bloßen Ausschei- dimg aus dem Satze haben in überwiegendem Maß auch die fran- zösischen Komposita wie chef d'oeuvre, plafond, toujours (wobei ja die

Sprachliche Formen der Wortzusammensetzung. 663

Unterscheidung von flat fond und tous jours bloß in der Schrift, nicht in der Aussprache existiert), maltraiter, malheureux, pourhoire usw. Wo das nicht der Fall ist, da gehört die Verbindung in der Regel einer früheren Stufe der Sprachentwicklung an, und die so entstandenen Wörter fallen für das heutige Sprachbewußtsein dem Gebiet ursprüng- licher Wortbildung zu^). Bei der Bildung des deutschen Komposi- tums, wie sie noch fortwährend beobachtet werden kann, überwiegt also das synthetische, bei der Bildung des neufranzösischen Kom- positums das analytische Moment. In Wahrheit sind aber beide Vorgänge, die Ausscheidung aus dem Ganzen des Satzes und die selb- ständige Verbindung der Teile, zwei Faktoren des Prozesses, die nie- mals fehlen, und von denen nur je nach den besonderen Bedingungen bald der eine, bald der andere überwiegend zum Ausdruck kommt. Ekie eigentümliche Nachwirkung des analytischen Ursprungs der Komposita hat sich übrigens auch die deutsche Sprache darin be- wahrt, daß sie die mit Präpositionen gebildeten verbalen Zusammen- setzungen im Satze selbst wieder je nach den Bedingungen der syn- taktischen Verbindung in ihre Bestandteile sondert, sofern überhaupt die in das Kompositum eingehende Präposition noch in ihrem selb- ständigen Begriffswert erhalten geblieben ist: so in aufstehen und ich stehe auf, ablegen und ich lege ab, vortragen und ich trage vor usw. Mag aber auch durch diese Eigenschaft das Bewußtsein der besonderen Bedeutung der Teile mehr erhalten bleiben als in den Fällen unver- rückbarer Zusammenfügung: an der Tatsache, daß solche Wörter im vollen Sinne des W^ortes Komposita sind, kann diese Eigenschaft nichts ändern. Sie geht auch da in den Wortverbindungen nicht ver- loren, wo jene Sonderung erfolgt, weil dieser Vorgang vielmehr als eine Einschaltung anderer Satzbestandteile in den Zusammenhang des Wortes denn als eine wirkliche Zerlegung des letzteren emp- funden wird.

1) Vgl. unten Nr. VII, 2.

664 Die Wortbildung.

3. Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita.

Ungleicli wichtiger als diese äußeren sprachliclien Unterscliiede, die den psychischen Prozeß der Vorstellungs Verbindung nicht wesent- lich berühren, sind für diesen die Laut- und die sie begleitenden Be- griff sumwandlungen der Wortzusammensetzungen. Hier greifen beide Momente, Laut- und Begriffswandel, durchweg derart ineinan- der ein, daß sie sich wechselseitig verstärken, und daß daher meist schwer zu entscheiden ist, welches das primäre gewesen sei. Dabei folgen natürlich Laut- und Begriffswandel den für sie gültigen all- gemeinen Gesetzen, deren Erörterung nicht hierher gehört^). Hier ist nur hervorzuheben, daß die Wortzusammensetzung ein Vorgang ist, der bei den in sein Bereich fallenden Wortgebilden die Laut- wie Bedeutungsänderungen nicht selten zu beschleunigen scheint. In- dem sich die Bestandteile des Kompositums zu einer neuen Wortein- heit verbinden, kann ihnen der Zusammenhang mit den selbständigen Wörtern, aus denen sie ursprünglich bestehen, nach Laut wie Begriff abhanden kommen; oder es kann auch ein Wort in einem Kompo- situm fortdauern, das für sich allein außer Gebrauch gekommen ist. Auf diese Weise ist die Entwicklung der Wortzusammensetzung all- gemein dahin gerichtet, daß sich die zuerst loser verbundenen und in ihrer isolierten Bedeutung noch leicht erkennbaren Bestandteile des Kompositums immer fester vereinigen, bis sie schließlich zu einer Worteinheit zusammengeflossen sind, die unmittelbar überhaupt nicht mehr als Kompositum erkennbar, sondern erst auf Grund der Sprachgeschichte als ein solches nachzuweisen ist. Dieser Prozeß kann sich aber an den verschiedenen Wortzusammensetzungen einer Sprache in sehr verschiedener Zeit vollziehen, da er von mancherlei inneren wie äußeren Bedingungen abhängt: von der Einheitlichkeit der durch die Verbindung entstehenden Vorstellung einerseits, und von den Vorgängen des Laut- und Begriffswandels sowie von der Erhaltung und der relativen Geläufigkeit der einzelnen Wortbestand- teile anderseits.

^) Rücksichtlich des Lautwandels vgl. Kap. IV, über den Bedeutungs- wandel Kap. VIII.

Laut- und Bedeutungsänderungen der Komposita. 665

Überblickt man die ganze Reihe der Veränderungen, die auf solche Weise das einzelne Kompositum von seiner ersten Bildung als Niederschlag aus dem Satze an bis zum völligen Untergang seiner Bestandteile in der neuen Worteinheit erfahren kann, so lassen sich dieselben nach der Wirkung der angedeuteten Bedingungen in die drei Stadien der Agglutination, der partiellen Verschmelzung und der totalen Verschmelzung unterscheiden. Natürlich sind aber diese Stadien nicht scharf geschieden, sondern es finden sich die mannigfachsten Übergänge zwischen ihnen. Auch läßt sich nur in verhältnismäßig seltenen Fällen an einem einzelnen Kompositum der Entwicklungsprozeß durch alle drei Stadien gleichmäßig ver- folgen. Dagegen treten uns unter den gleichzeitig vorhandenen Kom- positis einer Sprache Repräsentanten einer jeden Gruppe imd ihrer Übergangsstufen entgegen^).

So begegnen uns in jenen zahlreichen Kompositis der deutschen Sprache, die sich fortwährend neu bilden, um dem Bedürfnis irgend neuer Begriffsverbindungen zu genügen, ausgeprägte Beispiele der Agglutination. Man denke an Wörter wie Landrecht, Eisenhahn, Dampfschiff, Tauf stein, Regierungsrat, Reichsgericht usw. Partielle Verschmelzungen können sodann in verschiedenen Formen vor- kommen. In der einfachsten Weise gehen sie aus den Agglutinationen dann hervor, wenn der Lautbestand eines Wortes ungeändert bleibt.

^) Vielleicht ist es nicht unnütz, ausdrückhch zu bemerken, daß man bei der „Agglutination der Wortvorstellungen" in dem hier gebrauchten Sinn eben- sowenig an die sogenannten „agglutinativen Sprachen", wie bei der partiellen oder totalen Verschmelzung an den Verschmelzungsbegriff der Herbartschen Psychologie zu denken hat. Was das erstere betrifft, so wird das hier obwaltende Verhältnis wohl zureichend durch die Bemerkung gekennzeichnet, daß die Wörter einer „agglutinativen Sprache" überhaupt nicht Agglutinationen von Vorstel- lungen, sondern ursprüngliche Wortbildungen, also aller Wahrscheinlichkeit nach früh eingetretene Wortverschmelzungen sind, gerade so wie die Wortformen unserer Flexionssprachen, von denen sie sich überhaupt nur durch ihren in vielen Fällen kompüzierten Aufbau unterscheiden. Der Herbartsche Verschmelzungs- begriff endlich gehört ganz und gar der transzendenten VorsteUungsmechanik seiner Psychologie an und hat daher mit dem hier angewandten empirischen Begriff keine andern Berührungen als diejenigen, die aus der allgemeinen Bedeutung des Wortes „Verschmelzung" hervorgehen.

666 Die Wortbildung.

die Bedeutung des Kompositums sich aber derart gegenüber derjenigen seiner Bestandteile geändert hat,- daß die begriff lieben Inhalte der letzteren durch den völlig abweichenden Begriff des Kompositums verdunkelt werden, so daß dieses nun als ein einheitliches Wort auf- gefaßt wird, bei dem die Vorstellungen der Teile nur noch schwach, nicht anders als dies bei zufälligen Lautähnlichkeiten der Wörter geschieht, anklingen. Dahin gehören Beispiele wie fahrlässig urspr. = ,, fahren lassend", ausfielen eigtl. ,,den Anfang im Spiel machen", Vorgang „was vorher geht" u. a. Mehr noch nähert sich die Verbin- dung einer totalen Verschmelzung, wenn der eine Bestandteil des Kompositums entweder vollständig aus der lebenden Sprache ver- schwunden oder lautlich derart verändert ist, daß dadurch seine selb- ständige Bedeutung verdunkelt wurde: so in Wörtern wie Vormund, wo das Wort ,,Mund" im Sinne von Schutz außer Gebrauch gekommen, Junker = mhd. ,,jungherre", wo das Teilwort ,,Herr" zu einem suffix- ähnlichen Bestandteil geworden ist, ferner Herzog aus „her" = Heer und ,,zoge" (zusammenhängend mit ,, ziehen") = Führer, ein Wort, dessen beide Teile sich in ihrer Bedeutung verdunkelt haben. Am häufigsten kommen endlich solche partielle Verschmelzungen in der Form vor, daß ein einzelner Bestandteil seine Selbständigkeit ganz verliert und zu einem Ableitungssuffix oder -präfix wird. Hier fließen dann einstige Wortzusammensetzung und spätere Wortableitung oft ununterscheidbar zusammen, und indem die Anwendung solcher Elemente zu Ableitungen weitere Kreise zieht, wird deren ursprüng- liche Bedeutung vollends verflüchtigt. Dahin gehören im Deutschen unsere zahlreichen Wortbildungen auf -heit, ahd. hell, agot. haidus ,,Art und Weise", wie Schönheit, Klugheit, Tapferkeit usw., ferner die Präfixbildungen mit ver- = vor-, er- = ur-, ge- = ga- (laut- und begriffsverwandt mit dem lat. con-), he- = umhe- (um), also Wörter wie verstehen, erblicken, Gemahl, Begriff u. a. In solchen partiellen Verschmelzungen und sie begleitenden Prozessen der Laut- und Be- deutungsänderung bereitet sich die letzte Stufe dieser Verbindungen, die totale Verschmelzung, vor. Bei ihr angelangt ist das Wort ein vollkommen einheitliches geworden und von einem Simplex nicht mehr zu unterscheiden. Dahin gehören Wörter wie Heirat, einst ein Kompositum aus ahd. Mwa, hiivo (Gatte, Gattin) und rat, welches

Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 667

letztere in einem an den Begriff des „Zusammenlesens'*, ,,Verbindens" erinnernden Sinne sich noch in Wörtern wie „Vorrat", ,, Hausrat" erhalten hat; ferner Leichnam mhd. Uchname ahd. lihhinamo aus Hilihin= Körper und hämo = Gewand (noch erhalten in „Hemd"); Gesinde von mhd. sint Weg, also urspr. im Sinne von ,, Gefolgschaft" (eines Fürsten), und viele andrere.

4. Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung.

Die allgemeinen Vorgänge der Wortkomposition, wie sie unab- hängig von besonderen, in der überlieferten Form der Sprache be- gründeten Bedingungen überall wiederkehren, lassen sich haupt- sächlich aus zwei Reihen von Tatsachen erschließen: erstens aus den konstanten Bedingungen, die jede Bildung eines zusammengesetzten Wortes begleiten; und zweitens aus den psychischen Eigenschaften, die ein Kompositum im Verhältnis zu seinen Bestandteilen darbietet. In ersterer Beziehung bildet die Entstehung der Wortzusammen- setzung nur einen Spezialfall der Wortbildung überhaupt. Von den Neuschöpfungen unterscheidet sich aber die Wortzusammens^^tzung in dem Bedeutungsinhalt der Wortkomplikation dadurch, daß zunächst nicht ein einziger Begriff, sondern mindestens eine Zwei- heit von Begriffen in den Blickpunkt des Bewußtseins tritt; hin- sichtlich der Lautbestandteile darin, daß nicht ein neues Laut- zeichen den Eindruck des Objekts wiedergibt, sondern daß der vor- handene Wortvorrat hierzu verwendet wird. Dabei können dann die verbundenen Begriffe entweder beide dem Gegenstande selbst entstammen: so bei dem ersten und zweiten Typus der Wortbildung; oder einer derselben kann durch die Assoziation mit einer fernliegen- den, aber irgendwie ähnlichen Vorstellimg erzeugt werden: so bei dem dritten der oben (S. 656) unterschiedenen Typen. Unter ihnen steht der erste Typus vermöge seines unmittelbaren Ursprungs aus einer syntaktischen Verbindung dem einfachen Wort näher als der zweite und dritte. Dies kommt in der Struktur des Kompositums darin zum Ausdruck, daß der eine Wortbestandteil eine für den Be- griff relativ gleichgültige Neben vor Stellung sein kann, die dann erst

668 Die Wortbildung.

durch ihre Assoziation mit weiteren begleitenden Vorstellungen den Begriff determiniert. In solchen Fällen gehört dann das eine der do- minierenden Merkmale eigentlich immer einer solchen stillschweigend assoziierten Vorstellung an, und der betreffende Bestandteil des Kom- positums hat nur die Funktion einer Assoziationshilfe zur Erweckung dieser Vorstellung. So ist in dem fr^nz. pourhoire die Vorstellung des Geldstücks, die zu den Begriffsbestandteilen gehört, in der Präposition four durch eine nur andeutend vorhandene Hin- weisung auf die Handlung des Gebens ersetzt. In dem Ausdruck „un vive-la-joie" für einen immer vergnügten Menschen genügt der Artikel, um der ganzen Phrase die Beziehung auf eine Person mitzuteilen usw.^).

Dem gegenüber bieten nun die Verbindungen des zweiten Typus insofern die einfachsten Verhältnisse dar, als sich hier die bei der Bil- dung des zusammengesetzten Wortes stattfindenden Assoziationen ganz innerhalb der unmittelbar gegebenen Wahrnehmungs- inhalte bewegen. Sieht jemand einen Strauch, der nach einem vor- herrschenden Merkmal bereits den Namen Dorn führt, und bemerkt er außerdem, daß dieser Strauch weiße Blüten trägt, so verbinden sich durch eine direkte Wahrnehmimgsassoziation die beiden Merk- male in dem neuen Namen Weißdorn, Oder sieht jemand einen Baum und erkennt dessen Früchte als Äpfel, so bildet er unmittelbar aus beiden Teilvorstellungen den Namen Äpfelbaum, usw. Dagegen ge- stalten sich bei dem dritten Typus die Verhältnisse wiederum durch hinzutretende assoziative Bedingungen verwickelter. Nur schließen sich hier die Hilfsassoziationen nicht erst an einen gegebenen Bestand- teil des Kompositums an, sondern sie gehen der Bildung des letzteren voraus. Ist die Hilfsassoziation im ersten Fall eine Berührungsasso- ziation, durch welche Vorstellungen geweckt werden, die innerhalb der gleichen Gesamtvorstellung liegen, selbst aber unbenannt bleiben, so ist sie im zweiten Fall eine im allgemeinen aus gleichen und sich berührenden Elementen zusammengesetzte Erinnerungsassoziation.

^) Darmesteter verzeichnet zahlreiche diesem ähnliche Beispiele, vgl. besonders p. 206, 210.

Theorie der Wortzusammensetzung und Wortverschmelzung. 669

Indem durch diese ein in eine ganz andere Gesamtvorstellung gehören- der Begriff reproduziert wird, geht nun der letztere zusammen mit der ihm zugehörenden Lautvorstellung in das Kompositum ein. So kann ein Weib durch sein Aussehen oder durch sein Betragen an männ- liche Eigenschaften erinnern, und die Wirkung dieser Assoziation kann in dem Wort Mannweib ihren Ausdruck finden. Eine Mutter, die ihre Kinder mißhandelt, erinnert an die dem Raben nachgesagte Vernachlässigung seiner Jungen, und es entsteht durch die Asso- ziation des gegenwärtigen Eindrucks mit jenem Erinnerungsbilde das Wort Rabenmutter usw.^). Auf diese Weise können sich durch die Erinnenmgsassoziationen Komposita bilden, die ganz verschieden- artige Gegenstände, falls sie eben nur in irgendeinem Merkmal eine Beziehung bieten, in Verbindung bringen. Hier ist daher speziell für die Komposita der Ort des Ursprungs sogenannter ,, Metaphern der Sprache", bei denen man sich freilich stets gegenwärtig halten muß, daß sie unmittelbar in der Regel nicht als Metaphern, sondern als wirkliche Ähnlichkeiten empfunden werden 2). Abgesehen von den abweichenden Assoziationsmotiven, die so die drei typischen Formen der Wortzusammensetzung auszeichnen, gestaltet sich nun aber jener weitere Verlauf der Vorgänge, bei dem die gebildete Verbindung die einzelnen, oben unterschiedenen Stufen der Agglutination, der partiellen und der totalen Verschmelzung durchläuft, im wesent- lichen in übereinstimmender Weise. Wenden wir die früher (S. 569 f.) gebrauchten symbolischen Bezeichnungen für die Wortkomplika- tionen im allgemeinen auch auf den speziellen Fall der Wortkom- position an, so besteht von vornherein die Eigentümlichkeit dieser in der Wirksamkeit zweier Vorstellungen v^ und V2, die entweder von vornherein zu einer einzigen Vorstellung C gehören (2, Typus), oder durch angeregte Hilfsassoziationen in verschiedener Weise in dieselbe aufgenommen werden (1. und 3. Typus). Mit v^^ und Vg kom- plizieren sich sodann die ihnen assoziierten Wortgebilde n^ und Wg^ daher die gesamte Wortkomplikation des Kompositums, wenn wir

' ) Vgl. dazu auch die oben S. 657 angeführten Beispiele. 2) Vgl. in Kap. VIII, Nr. V die allgemeinen Bemerkungen über die Meta» phem.

670 I>ie Wortbildung.

von den Elementen m und o, die hier keine wesentliche Kolle spielen, absehen, ausgedrückt werden kann durch die symbolische Formel :

Der Inhalt dieser Komplikation erfährt dann stetige Veränderungen, indem zunächst v^ v^ gegenüber C zurücktritt, während sich gleich- zeitig n-^ Wg fester verbinden, so daß die Komplexion (n^ ^2) C übrig- bleibt. Davon führt ein letzter Schritt zu einer Verschmelzung der Wortgebilde n^ und n^ selbst, so daß der Endpunkt der ganzen Ent- wicklung in einem Produkt n C besteht, d. h. in einem Wort, das ganz und gar den psychologischen Charakter eines Simplex angenommen hat. Nennen wir diesen Vorgang, um die Rolle anzudeuten, die bei ihm der die Einzel vor Stellungen in ein Ganzes zusammenfassenden Apperzeption zukommt, eine apperzeptive Synthese, so bezeichnen demnach Assoziation, Agglutination und Verschmelzung die drei Stufen dieses apperzeptiven Prozesses. Dabei macht sich nun zugleich eine formale Gesetzmäßigkeit geltend, durch die sich dieser Vorgang wesentlich von den bloßen Assoziations Vorgängen unterscheidet. Diese Gesetzmäßigkeit besteht darin, daß jedes Pro- dukt der Agglutination als ein zweigliedriges Ganzes erscheint. Dies bewährt sich auch noch da, wo drei- oder mehrgliedrige Kompo- sita gebildet werden, indem sich solche stets als zweigliedrige Ver- bindungen höherer Stufe darstellen, in denen zuerst zwei Teile a und b aneinander gebunden sind, dann an diese zusammen ein drittes Glied c oder eine Verbindung zweier weiterer Glieder cd usw., also nach dem Schema:

(a h c) oder {ab cd) oder {ab cd) usw.

So in Verbindungen wie Großvater stuhl, Reichsgerichtssenatspräsi- dent, Stadtverordnetensitzungssaal u. dgl. Es gibt schlechthin keine Wortzusammensetzung, die sich diesem formalen Gesetz apperzep- tiver Vorstellungsverbindungen entzieht. Selbst die komplizierten und künstlichen Wortgebilde der chemischen Terminologie ordnen

Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 671

sich ihm unter. Mag man sich auch im Räume die chemischen Mole- küle nach drei Dimensionen zusammengefügt vorstellen, die Sprache und das Denken, die in der einen Dimension der Zeit die Teile des Wortes verbinden, können eine solche Zusammenfügung immer nur in einer einzigen fortschreitenden Richtung erzeugen; und das Wort kann nur dadurch ein Ganzes bilden, daß jeder Teil mit jedem andern verbunden ist, was eben durch jene Gliederung erreicht wird. Hierin zeigt aber das Kompositum die nämliche Abhängigkeit von den Be- dingungen der zusammenhängenden Rede und infolgedessen die näm- liche Gesetzmäßigkeit der Struktur, die wir als bestimmend für den Aufbau des Satzes kennen lernen werden. Es bewährt so in seiner synthetischen Struktur die nämliche Beziehung zum Ganzen des Satzes, die sich in seiner analytischen Entstehungsweise aus diesem zu erkennen gab.

VII. Ursprüngliche Wortbildung.

1. Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären

Wortbildungen.

Ursprüngliche Wortbildung und Neuschöpfung von Wörtern sind wesentlich verschiedene und in mancher Beziehung einander entgegengesetzte Vorgänge. Die Neuschöpfung gehört der Gegenwart oder einer nahen Vergangenheit an; die ursprüngliche Wortbildung ist der erste überhaupt auffindbare Anfang des Wortes in den unserer Beobachtung gegebenen Sprachen und Sprachfamilien. Die Neu- bildung steht also unter dem Einfluß einer bereits ausgebildeten Sprache, und es sind überdies stets besondere, wegen ihrer eigenartigen Beschaffenheit in der Regel leicht nachweisbare Motive, die zu ihr geführt haben. Die Bedingungen der ursprünglichen Wortbildungen sind uns dagegen vollkommen dunkel: ob diese aus den Trümmern anderer vor ihr dagewesener Sprachformen, ob sie ganz oder teilweise aus der Mischung verschiedener Idiome entstanden, ob sie völlige Neuschöpfungen waren, alles dies ist uns unbekannt. Und auch wenn wir mehr von der Urgeschichte der Wörter wüßten, würde es schwer- lich ausreichen, um darauf begründete Vermutungen über die psychi-

672 Die Wortbildung.

sehen Motive jener im Anfang der Sprachgeschichte liegenden Vor- gänge zu gründen. Dies ist zugleich der Punkt, in welchem sich die ursprüngliche Wortbildung von der Wortbildung durch Zusammen- setzung unterscheidet. Da diese überall in der Komposition bereits vorhandener Wörter besteht, so sind im allgemeinen in den sprach- lichen Erscheinungen selbst schon zureichende Hinweise auf ihre psychischen Bedingungen enthalten; und da überdies die Bildung solcher Formen durchweg einer späteren Zeit angehört, so sind auch die äußeren kulturhistorischen Momente, die sie veranlaßt haben, leichter zu ergründen. Nur die Lautwiederholungen machen davon eine Ausnahme, insofern sie vielfach schon dem Gebiet der ursprüng- lichen Wortbildung zugehören. Hier ist aber wiederum der Vorgang selbst so offenkundig, und auch die Motive, die bei ihm wirksam sein können, sind von so einfacher und allgemeingültiger Art, daß dies eben als ein Fall betrachtet werden kann, wo sich uns das Geheimnis ursprünglicher Wortbildung infolge der seltenen Einfachheit der Form wie der Bedingungen des Vorgangs ausnahmsweise deutlich enthüllt.

In allen andern Fällen scheinen bei der ursprünglichen Wort- bildung zwei wesentlich verschiedene, bald ineinander eingreifende, bald getrennt voneinander stattfindende Prozesse beteiligt gewesen zu sein, die aber beide bereits die Existenz bedeutsamer Lautkomplexe voraussetzen. Der eine besteht in einer den ältesten Sprachformen bereits angehörenden Wortzusammensetzung, die in ihrer Bil- dungsweise im ganzen der noch in der heutigen Sprache vor sich gehen- den Bildung der Komposita entsprach. Der zweite, wenigstens in seinen ausgeprägteren Formen auf engere Sprachgebiete beschränkte, besteht in Klangvariationen eines in bestimmter Bedeutung ge- brauchten Lautgebildes mit der Wirkung einer entsprechenden Va- riation der Bedeutung. Diese zweite Form nähert sich in ihrer un- mittelbaren sinnlichen Bedeutsamkeit einigermaßen der Lautwieder- holung und den sonstigen onomatopoetischen Bildungen. Hierher gehören die früher als Beispiele solcher Erscheinungen erwähnten Klangvariationen des semitischen Verbums, sowie die besonders in den monosyllabischen Sprachen Ostasiens vorkommenden Abstufungen der Tonhöhe oder des sogenannten „Tonakzents", die möglicher-

Verhältnis der ursprünglichen zu den sekundären Wortbildungen. 673

weise aus einer weitgehenden, namentlich die sinnmodifizierenden Elemente der Wörter ergreifenden Lautverschmelzung hervorge- gangen sind^). Von beiden Formen ist die Wortkomposition jeden- falls die weitaus allgemeinere; vielleicht ist sie auch die ältere. Doch über die Vorgänge der ursprünglichen Wortkomposition ist es nur selten möglich mit zureichender Wahrscheinlichkeit Rechenschaft zu geben. Mag es auch ziemlich sicher sein, daß Wörter wie Ti&rifiL, öidcDfÄi dereinst Komposita aus dem Verbalstamm und einem Pro- nominalelement (.u gewesen sind, und daß dieses Element mit den selbständigen Pronominalformen der ersten Person (.lovy /.loif (.li zu- sammenhängt, so führt doch selbst in Sprachen von so großem, eine ursprünglichere Stufe der Wortbildung verratendem Formenreich- tum wie dem Sanskrit und dem Griechischen der Versuch einer ana- logen Analyse der sonstigen Wortformen auf das Gebiet unsicherer Hypothesen, die natürlich nicht zu Grundlagen psychologischer Fol- gerungen genommen werden dürfen. Daß in Wörtern wie Ivoi^u, hooai^i, XvöoifXL usw. der an gleicher Stelle wiederkehrende ^-Laut eine konstante Beziehung zu dem in diesen Formen ruhenden Begriff des Wunsches hat, ist ja zweifellos. Doch welchen Ursprung dieses i haben mag, das wird vielleicht niemals mehr mit Sicherheit zu er- mitteln sein. Jedenfalls aber geht diese Frage als solche nicht die Psychologie an, sondern die Sprachgeschichte; und erst wenn die letz- tere zu einem hinreichend sicheren Resultat gelangt wäre, würde es auch an der Zeit sein, die psychischen Prozesse zu untersuchen, die bei der Bildung eines solchen Wortes wirksam waren.

Hier trennen sich demnach, wie überall, wo es sich um Probleme der Urgeschichte handelt, die psychologischen und die historischen Aufgaben; und nahezu verhält es sich so, daß die Probleme des Psy- chologen da beginnen, wo die des Historikers aufhören. Diese Lage würde vielleicht schlimmer sein, als sie wirklich ist, wenn nicht die Psychologie ihrerseits, im Gegensatz zu den teilweise nach entgegen- gesetzter Richtung gehenden Tendenzen der Sprachhistoriker, auch

^) L. Ewald, Grammatik der T'ai oder Siamesischen Sprache, 1881, S. 20 ff. Vgl. oben Kap. IV, S. 492, und hinsichtlich der Kllang Variationen des Semitischen Kap. III, S. 361 ff.

Wundt, Völkerpsychologie. I. 4. Aufl. ^3

674 Die Wortbildung.

hier den Gesichtspunkt zur Geltung bringen müßte, daß die Grund- eigenschaften der menschlichen Natur die gleichen geblieben sind, solange der Mensch überhaupt im sprachfähigen Zustand existiert hat. Sowenig die Gesetze der Blutbildung und Blutbewegung im heu- tigen menschlichen Körper andere sind als in dem des Urmenschen, gerade so wenig werden auch die allgemeinen Gesetze der Bildung der Vorstellungen, der Gefühle und Willens Vorgänge andere geworden sein, seit solche psychische Inhalte überhaupt durch Sprachlaute oder Gebärden geäußert werden. Nicht als ob in der Beschaffenheit der Vorgänge und in der Art sie zu äußern nicht gewaltige Umwandlungen vor sich gegangen wären. Aber diese müssen sich doch innerhalb der Grenzen bewegen, in denen dies die allgemeinen Eigenschaften des Menschen und die Entwicklung, die das menschliche Bewußtsein tatsächlich erkennen läßt, psychologisch verständlich machen. Darum ist nie zu vergessen, daß es neben der unhistorischen Anschauung der Aufklärimgszeit, die den Menschen für absolut unveränderlich hielt, noch eine zweite, entgegengesetzte Art unhistorischer Auf- fassung gibt: die der Romantik, die gerade der Sprachwissenschaft aus der Zeit ihres Ursprungs vielfach noch anhaftet, die Meinung nämlich, daß der Mensch irgend einmal seine Natur gänzlich ge- ändert habe.

2. Wortbildungen bei der Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen.

Ist es auch unmöglich, über die inneren und äußeren geschicht- lichen Bedingungen Rechenschaft zu geben, unter denen die ursprüng- liche Wortbildung dereinst in den großen Sprachfamilien, die wir heute unterscheiden, und in denen sich ein gemeinsamer Wortschatz nachweisen läßt, erfolgt ist, so gibt es doch ein Gebiet von Erschei- nungen, das gewissermaßen ein mittleres genannt werden kann zwischen jenen beiden Vorgängen, die entgegengesetzten Perioden der Sprachgeschichte angehören: zwischen der ursprünglichen Wort- bildung und der gegenwärtigen Neuschöpfung. Das sind die Wort- bildungen, die in die Periode der Entstehung einer solchen Sprache fallen, die selbst aus einer vorangegangenen die Grundlagen ihres

Wortbildungen bei Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 675

Wortschatzes übernommen hat. Die schlagendsten Beispiele bieten hier die heutigen romanischenn Sprachen. Ihre Wörter stehen zwischen Neubildungen xmd Umwandlungen in gewissem Sinne mitten - inne. Sprachgeschichtlich betrachtet sind sie freilich ebensogut laut- gesetzliche Änderungen lateinischer oder teilweise auch germanischer Wörter und Wortverbindungen, wie die neuhochdeutschen Wörter, wo sie nicht neu entstanden oder entlehnt wurden, aus althochdeutschen hervorgegangen sind. Aber der Prozeß hat bei den romanischen Sprachen dadurch sein besonderes Gepräge empfangen, daß sich die neue Sprache aus Volksdialekten entwickelte, die durch Sprach- mischungen starke Veränderungen erfuhren und sich längere Zeit ohne literarische Überlief erimg fortbildeten. Nun ist es durchaus nicht unmöglich, daß, wo in älterer Zeit Trennungen verwandter Sprachen stattfanden, z. B. der verschiedenen Zweige der indoger- manischen Familie, ähnliche Bedingungen obgewaltet haben; ja es bleibt nicht ausgeschlossen, daß das Indogermanische selbst dereinst in einer noch graueren Vorzeit auf dieselbe Weise auf der Grundlage irgendwelcher vorher vorhandener Sprachen entstanden sei. Doch von der Nachweisung eines solchen Vorgangs oder gar von der Ab- leitung einzelner sprachlicher Erscheinungen aus ihm kann niemals die Rede sein, weil jene Annahme einer indogermanischen Ursprache selbst die Grenze bezeichnet, bis zu der äußerstenfalls die prähistorische Forschung mit ihren Rückschlüssen vordringen kann.

Dagegen besteht der Wortschatz der romanischen Sprachen, soweit er sich auf das Lateinische zurückführen läßt, teils aus direkten Derivaten lateinischer Wörter, die sich mehr oder minder stark in ihrem Lautbestand verändert haben, teils aus Wörtern, welche sich etjnnologisch als ehemalige Komposita erweisen, die zu vollkommen einheitlichen Bildungen verschmolzen sind. Lautveränderung und Wortverschmelzung haben also hier zusammengewirkt, um das neue Wort von seinem ursprünglichen Zustande so weit zu entfernen, daß es wie ein vollkommen einfaches und ursprüngliches erscheint. So in Wörtern wie franz. pröne von präconium, benir von henedicere, coucher von collocare, ruser von recusare, precher von prädicare, chacun von quisque unus, ferner in zahlreichen Partikeln wie tot von tot cito, ici von ecöe hie, dans von de intus, sehn von suh longum, ainsi von ckeque

43*

676 Die Wortbildung.

sie, dont von de unde, comme von quomodo, or von ad hora usw.^). Nicht selten kann so die mit dem Lautwandel zusammenwirkende Laut- verstümmelung eine Grenze erreichen, bei der der Ursprung des Wortes unsicher wird. Namentlich gilt dies in solchen Fällen, wo die Wort- kompositionen offenbar syntaktische Verbindungen waren, die sich allmählich durch häufiges Zusammentreffen befestigten und dadurch in der Volkssprache zu unlösbaren Einheiten verschmolzen. Dahin gehören die aus zwei selbständigen Wörtern zusammengewachsenen Partikeln, gelegentlich aber auch Wörter, die in der modernen Sprache zu Substantiven geworden sind, wie das italien. noja, franz. ennui, aus in odio, das seine charakteristische Bedeutung wohl erst in dem Zusammenhang der Phrase ,,€st mihi in odio^^ im Sinne von taedet me „es verdrießt mich" gewonnen hat 2). In andern Fällen liegt jedoch der Wortbildung ein bereits vorhandenes Wort zugrunde, das in seiner Ursprungsform noch deutlich aus mehreren Wörtern zusammen- gesetzt, in seinem Endprodukt aber zu einer völlig unzerlegbaren Worteinheit verschmolzen ist. Die beiden Formen der Entstehung zusammengesetzter Wörter, die aus den syntaktischen Gliedern eines Satzes, und die aus der Assoziation mit außerhalb liegenden Vor- stellungen, welche uns bei der Neubildung der Komposita begegnet sind, kehren also auch hier wieder {S. 656). Wo immer aber solche Wörter, die der Zusammensetzung ihren Ursprimg verdanken, in der Sprache zu einheitlichen Laut- und Begriffsgebilden verschmelzen, überall folgt die Wortkomposition denselben Gesetzen, die wir heute noch in der Sprache beobachten. Die Glieder, die das Kompositum bilden, lösen infolge der festeren Verbindung, in die sie treten, aus dem Ganzen des Satzes sich ab, um dann in der gleichen Verbindung in andere syn- taktische Fügungen einzugehen; und sie schließen sich daher nach dem nämlichen Gesetze dualer Gliederung aneinander, das die syn- taktische Verbindung der Teile des Satzes selber beherrscht.

Hiernach liegt nicht die geringste Wahrscheinlichkeit vor an- zunehmen, daß in irgendeiner Periode der Sprache die Wortbildung

^) Vgl. Diez, Etymolog. Wörterb. der roman. Sprachen.* Darmesteter, Formation des mots composi^s. Meyer- Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen, I, S. 620 ff. und an andern Stellen.

>) Diez a. a. 0. S. 224.

Wortbildungen bei Entstehung neuer Sprachen aus vorangegangenen. 677

auf wesentlich anderen Wegen erfolgt sei, als auf denen wir sie noch heute vor sich gehen sehen. Dieser Wege gibt es nach allem Voran- gegangenen hauptsächlich zwei: die Neuschöpfung von Wörtern und die Verbindung vorhandener Wörter zu neuen, immer fester verschmelzenden Worteinheiten. Die Neuschöpfung wird durch die Eigenart des Eindrucks in ihrer Abweichung vom Vorhandenen und zugleich durch Assoziationen mit bereits bestehenden Wort- gebilden im Sinne der Angleichung an dieselben bestimmt. Bei der Wortkomposition ist die Verbindung der Bestandteile im Satze und die unter dem Einfluß der oben geschilderten Assoziations- und Apperzeptionsbedingungen immer fester werdende, durch den gleich- zeitigen Laut- und Bedeutungswandel begünstigte Verschmelzung maßgebend. Beide Vorgänge setzen aber bereits vorhandene Wort- bildungen voraus. Auch die prähistorische Untersuchung, die aus den Zeugnissen der überlieferten Sprache ihre Rückschlüsse macht, kann daher immer nur bis zu Anfangszuständen zurückgehen, für die jene Voraussetzung gilt. Die Frage, wie etwa der Mensch sich ver- halten mochte, als es noch keine Vorbilder gab, nach denen er Neu- schöpfungen vornehmen, und keine Wortgebilde, aus denen er neue Verbindungen zusammenfügen konnte, gehört deshalb ebensowenig in die Sprachgeschichte, wie der erste Ursprung des Menschen in die allgemeine Geschichte der Menschheit. Die psychologische Betrach- tung der Sprache kann allerdings dieser Frage nicht ganz aus dem Wege gehen. Aber auch sie wird dieselbe erst am Schluß aller der Untersuchungen erheben können, die ihre eigentliche Aufgabe aus- machen, und die sich selbstverständlich immer nur auf Tatsachen beziehen, die andere, ihnen im allgemeinen gleichartige Tatsachen zu ihrer Voraussetzung haben ^).

^) Auf das Ursprungsproblem wird demnach das Schlußkapitel dieses Werkes über die Sprache (Kap. IX) zurückkommen.

Register.

(Bearbeitet von H. Lindau.)

Abhängigkeit, logische und anschau- liche (zeitliche und räumliche) A. und Syntax der Gebärdensprache 226, 229.

Abstrakte Begriffe sinnlich veranschau- licht 165, a. Vorstellungen (Piderit) 94.

Adaptation 443, 507, 580 (vgl. An- passung).

Adjektivum 2191, 230, 359, 423, 450, 554, 567, 636.

Adverbium 207, 220 f., 325, 554, 653.

Affekte 43, 45, 51, 531, 56 fl, 81, 124 fl, 164, 1771, 188, 227, 2431, 2541, 259 fl, 360, 530, 541, 631, 646, Zukunftsa. 64, A. von ge- mischtem und kontrastierendem Charakter 102 f., sthenische und asthenische, exzitierende imd de- primierende A.e 631, 106, 320, Gefühlsverlauf 57 ff., A. und Ge- fühl 661, 108, 2801, A. und Vor- stellung 98, 131 fl, 2321, 244, A. und Wille 651, 138, A. und Akzent 2781, 281, 520, Lautsteige- rung 278, A.betonung 230, 322 fl, 637, A.entladung 271.

Agglutination 598 f., 601, 609 f., 665, 6691

Agraphie 544, 552, 572 f.

Aktivum 365, 609.

Akzent (vgl. Betonung) 273 f., 356, 530, Tona. 273, 672, Tona. und

dynamischer A. 273, 277, Tonmo- dulation und dyn. A. 279 fl, 4931, 516 fl, 534, A. und Affekt 2781, 281, 520, exspiratorischer A. 2781, A. im Vokativ 322, interjektionaler A. 324 f., A. auf der Stammsilbe 522, A. Wechsel 517 fl, A. und Wie- derholung 634 f., A. im Kompo- situm 654.

Alexie 544, 563, 572.

Amnesie 542 fl, 547, 550 fl, 5631, 568, A. und Wortkategorien 5541, 557, 5661, 573.

Analogiebildung als Angleichung durch femewirkende Assoziation 442, A. durch stoffliche und formale Aus- gleichungen 4421, A. und Laut- gesetze 376 fl, A. und Wortent- lehnung 469, A. und Assoziation 382, 4421, 4541, A. und Onoma- tomixie 453.

Angleichung 434, 437 f., 539, asso- ziative A. 401, grammatische 442 fl, 463 fl, 483, innere 442 fl, 483, äußere 442, 445 fl, 483, 621, be- griffliche 4421, 448 fl, 4631, 466, 470, 483, durch Ähnlichkeit 442, 4481, 468, durch Kontrast 442, 449 1, 468, Wortassimilationen 470 fl, 589 ff., A. als simultane Assoziation 457, assoziative A. 437, progressive Lauta. 3961, 427.

Anlagen (vgl. Dispositionen) 111, 124 fl,

Register

679

151, 241, 305, 307, 432, 591, funk- tionelle A. 85, 87, 461, 485, geistige 17, physische 561, erworbene und ererbte 561, nationale 278 f., latente 486.

Anpassung (vgl. Adaptation) 74, 90, 408, 410, 437, A. an den Fluß der Rede 428, A. an die Artikulations- bedingungen 532.

Antizipation (vgl. Vorausnahme) 395 ff., 403, 424, 426 f., 586.

Antlitzmuskehi (vgl. Mimik) 82 ff., 102, 108 ff.

Aphäresis 424.

Aphasie 391, anmestische 542 ff., 547, 550 ff., 563 ff., 567, 572, atak- tische 542 ff., 572 f., motorische 551, 572.

Apokope 424.

Apperzeption 37 f., 223, 229, 308 ff., 371, 397, 430, 458, 477, 553, 561, 577 f., 589, 636, 645, 647 ff., A.s- zentrum 69, 72 f., 74, 90, A.sbe- dingungen 197 f., Entwicklung 309 f., apperzeptive Verbindung 309 f., un- vollkommene A. des Kindes 315, willkürlicher Wechsel 577, A. und Fixation 577, Umfang 582, 584, simultane A. 583 ff., sukzessive 584, Begriffsa. 585 f., Worta. 593 f., A. einer Gesamtvorstellung 6141, Be- ziehung zur Phantasietätigkeit 615, apperzeptive Synthese bei der Wort- verschmelzung und Wortzusammen- setzung 670 ff.

Arbeit und Rhythmus 282 f., A.sge- sänge 282.

Artikulation 264 ff., 270, 272 ff., 283, 286, 290 f., 293, 304 ff., 386 ff., 615, individuelle A. 23, 486, Substitu- tionen 314 f., Nachahmung 315 ff., 328, rasche A. 428, A. des Kindes (vgl. Kündersprache) 351, 402, A. bei offenem Munde 492, Wortanfang und -Schluß 503 f.

Artikulationsbasis 532 f.

Artikulationsbewegungen 273, 279, 309,

339, 342 ff., 364, 371, 407, 409, 419 f., 4251, 435, 438, 4991, 543, 562, 571, 585.

Artikulationsempfindungen 1501, 282, 316, 345, 366, 409, 438, 473, 543, 546, 562, 564, 569.

Artikulationsfehler 3871, 390 fl, 415.

Artikulationsgeschwindigkeit vgl. Tempo.

Artikulationsorgane vgl. Sprachor- gane.

Artikulationsspielraum 387 ff., 530 f.

Arzneimittel, volkstümliche Namen 4781

Aspiration 503 fl, 5101, 526.

Assimilation, psychische 267, 393, 4061, 420, 4251, 442 fl, 457 fl, 496, 515, 591 fl, 619, 6211, 6281, physiologische 393, 4061, 420, 4251, regressive 3171, 414, 420 fl, 426 fl, 432 fl, 499, 508, 531, 629, pro- gressive 3171, 414, 420 fl, 426 fl, 432 fl, 440, 499, 508, vokalische (Vokalharmonie) 432 fl, 437, 4961, 518.

Assoziation 371, 53, 78 fl, 93, 112, 124 fl, 130, 133, 138, 140, 149 fl, 161, 178, 182 fl, 197, 204, 2091, 2121, 234 fl, 245, 256, 260, 299 fl, 308 fl, 3171, 330, 333, 335, 340, 3441, 349, 358, 361, 365 fl, 370, 375, 379, 382 fl, 388, 397 fl, 409, 428, 4331, 436, 439 fl, 4441, 447, 451 fl, 506, 514, 522, 529, 532 fl, 537, 552, 555 fl, 561 fl, 583, 585, 588, 5931, 596, 612 fl, 619 fl, 645, 650, 655 fl, zweckmäßig asso- ziierte Gewohnheiten 86 f f., asso- ziative Femewirkungen der Laute s. Femewirkungen, Spielraum der A.en 403, Kontaktwirkungen 415 f f., simultane A. 434, 592, psychische 539, wiederholte 559, A. und Assi- milation 5921, direkte und in- direkte A. 590, Gleichheitsa. 308, 434, 593, 615, Berührungsa. 302, 308, 455, 593, Lauta. 379, 384,

680

Register

402 ff., 415, 418, 436, 469 ff., 474 f., 479, 514, 522, 532 f., 539, 607, 641, 645, 657, Bedeutungs- und Lauta. 435 f., Begriff sa. 379, 384, 404, 418, 451 f., 469 ff., 474 ff., 514, 607.

Assoziationsgesetze 568.

Assoziationsmomente, innere und äußere 443.

Assoziationspsychologie 455, 458.

Ästhetik 93, 95, 133 f., 156, ästhe- tische Motive 425, Hypothesen 523 ff.

Atmung 56, Innervationen 56, 66, 69, A.smuskeln 102.

Attraktion 426, 433 f., 440, 446 f., 452, 460 ff., 471, 620.

Attribut 219, 221, 225, 2291, 653, 656.

Aufmerksamkeit 48, 58, 84, 128, 1771, 181, 192, 234, 255, 2901, 308, 309, 328, 365, 458, 471, 553, 575, 5771, 5931, 6131, Ablen- kung 394, 525, schweifende A. 402, zufällige Richtung 583, A. und Augenbewegungen 578, 580, 587 f., Wanderung 578, Wirkungen 594.

Ausdrucksbewegungen 43 fl, 140 f., 144, 231 fl, 241, 243, 365, 396, 541, 615, sensorische Rückwirkung 77 ff., A. und Affekt, psychophy- sisch ein Vorgang 96, psychophy- sisches Prinzip 97 f., A. imd Laut- bewegungen 258 ff., 369 f., Ermäßi- gung der Intensität 90, 646.

Ausgleichung, formale 443, A. der Störungen 5601, 566.

Aushilfe, fimktionelle 574.

Auslassung von Lauten 394 f., 414, 4241 (vgl. Lautvermengung).

Ausnahme 529, 535, grammatische A.n 332.

Aussage 216.

Ausschaltung von Abweichungen 414, A. von Lauten 424 f.

Aussprache (vgl. Artikulation) 484.

Ausstoßung 427 f.

Automatische Bewegungen 44 ff., 77, 82, 88 f., a. Verbindungen 369, 382.

Bahnung 88.

Bedeutung 94, 144, 153, 585, Viel- deutigkeit 208 fl, 218, B. und Bild 235, B. und Laut 312, 330 fl, 3361, 357, 470, 485, 6191, 622, korre- spondierende Variationen der B. 359 fl, B. und Tonfall 278, Gegen- satz der B. 442, Ähnlichkeit 448 f.

Bedeutungsassoziation und Lautasso- ziation 436.

Bedeutungswandel 21, 28, 37 f., 163, 169, 191, 200 fl, 208 fl, 231, 244, 360, 384, 416, 491, 625, 661, 664, 677.

Bedingungen, Komplikation 353, 413, 485, 487, Häufung und Durch- kreuzung 487, Variation 461 (vgl. Experiment).

Begehrungslaute 343.

Begriff 181, 184, 186, 2341, 5411, komplexe B.e 29, B. und Laut 3681 (vgl. Bedeutung), B. und Wort 4691, 596, Versinnlichungen 217, Angleichung 442 f., 448 fl, 4631, 466, 468, 470, 4821, Neben- wirkungen 475 ff., Kategorien beim Vergessen 5541, 557, 5661, 573.

Begriffsapperzeption 585 f.

Begriffsassoziation 379, 384, 404, 418, 4511, 469 fl, 474 fl, 514, 607.

Begriffsbestandteile des Wortes 569.

Begriffsbeziehungen 200 fl, 206 fl, 216.

Begriffsbildung 298 f., 302.

Begriffselemente 608, B. und Laut- elemente 464 ff.

Begriffsgefühle 563, 566 f., 571, 573.

Begriffsgegensatz 466.

Begriffsmodifikationen 463.

Begriffsverschiebung 642.

Begriffsverstärkung 640.

Register

681

Begriffsverwandtschaft 443, Anglei- chung durch B. 448 f., 466, 468.

Begriffsvorstellung 569 f., B. und Wort 585.

Begriffszentrum 545.

Beharrungsvermögen der Wörter 554 ff., 557, 566 f., 573.

Bejahung 188 f., 190.

Bekanntheitsgefühl 564, 567.

Benennung 283, 288 f., 297 f., 302, 308, 312, 479.

Bequemlichkeit 376 ff., 425, 426, 525 f., 608.

Berufskreise und Sprache 618, 623.

Beruhigung 50, 53, 58 f., 62 ff., 105, 107, 118, 129.

Berührungsassoziation 302, 308, 455, 593.

Beschleunigung der Artikulations- bewegungen 432, 435, 499 f., 504.

Betonung, (vgl. Akzent) 422, 484, 497 ff., 526, 639, 642, 646, relative Dauer und relativer Grad 389, ex- spiratorische B. 279, Wechsel 494, 517 ff., 532, 534 f., B. und Laut 607, B. der Nachbarlaute 514, 517, dynamische B. und Tonmodulation 277 ff., 493 f., 516 ff., 534.

Bevölkerungslehre 6.

Bewegungsempfindungen 270 f., 308, 409, 438, 543, 569, 571.

Bewußtsein, Schwelle 459 f., individu- elles B. 574, Vorerlebnisse 593, Gesamtrichtungen 594, (conscien- tia) 625 f., B. und Übung, allmäh- liche Verdunkelung der Willenshand- lungen 88 f.

Bewußtseinsenge 429 ff. (vgl. Apper- zeption).

Bewußtseinsvorgänge, Analyse 35, B. imd Dispositionen 591 ff.

Beziehungselemente 471, 483, 594 ff., 602, 608, 620 f., B. und Grundele- mente 462 ff., 469 f.

Beziehungs- imd Begriffsworte 596.

Bilderschrift 143, 161, 177, 179, 187, 199, 238, 240 ff., 584.

Büdung 25, 390, 408.

Biographie 3, 36.

Bitter 112 ff., 116 ff., 120, 124, 127,

130. Brief 247 f., 251. Brocasche Windung 541 f., 546. Buchstaben 580, 588 f., 609. Buchstabenbezeichnung 506, 511. Buchstabenkombinationen 581 f., 586. Buchstabieren 585, 589.

Charakterologie 2, 8, 495.

Darstellende Gebärden 164, 170 ff., 2311, 238, d. Zeichen 242, 246.

Dauer (vgl. Durativ) 642, D. der Be- tonung 389.

Demonstration vgl. Hinweisung, de- monstrative Wurzeln 597 f.

Demonstrativlaut 294 f.

Demonstrativpronomen 350, 355 ff.

Demonstrativzeichen 170.

Demut 87, 91, Demütigimg 158.

Denken (vgl. Apperzeption) 30, 125, 459, D. und Sprechen 427, 429, 433, 472 f., 498, 562, 614 f. (vgl. Begriff, Artikulation usw.).

Dentallaute 492.

Depression 63 f., 70, 106, 108, 119, 122, 124, 130, 132, 136, 320, 365.

Determination durch Gebärden (Hilfs- gebärden) 201 ff.

Deutebewegung 137.

Deutewurzeln 597.

Deutlichkeit 577, 581 f., 594.

Dialekt 144, 146, 153, 162 f., 335, 382, 393, 407, 409, 446, 448, 450, 473, 490, 494, 511, 517, 522, 533, 619, 623, 631, 675, D. imd Schrift- spräche 399, D.mischung 482.

Diminutivbildungen 400.

Disposition 459 f., 588, 590 ff.

Dissimilation der Laute 318, 414, 420, 434 ff., 451, 506, 508, 515, 628, eigentliche D. (Lautwechsel

682

Register

ohne Lautverlust) 435 ff., voka- lische und konsonantische D. 437, regressive und progressive D. 420 f., 423 f., Hauchd. 423.

Dual 648 f.

Durativ 640, 651 f.

Dynamische Betonung und Tonmodu- lation 278 ff., 493 f., 516 ff., 534.

Dyslalien 391, 393 (vgl. Artikulations- fehler).

Echosprache 287, 293, 298, 307, 312, 316, 328, 339, 563, 572.

Eigennamen 554, 566.

Eigenschaft (vgl. Adjektivum) 201, 205, 219, 229 f., 565, 567, 604, 636 ff., 661, 662, Lautabstufung 359 f., Stei- gerung 643, 645.

Einschaltung von Lauten (vgl. Dis- similation, Lautvermengimg) 394 f., 402 f., 414, 420, 424, 427, 437, E. von Wörtern 556, assoziative E. 558.

Einzellaute 529.

Einzelvorstellung 592 ff., 619 ff.

Elision 421, 424, 435 ff., 501 ff., 514, 516, 518, 523.

Ellipse 659 f.

Empfindung 48, 70, 73, 79, 81, 83, 124 ff., 290 f., 341, 364, 562, 564, 583, Laute, und Artikulationse. 316, E.selemente 588, 590, E. und Dispositionen 591 f., E. xmd Reiz 592.

Entfernung, Lautabstufung zur Be- zeichnung der E. 350, 355, 358.

Entlehnung s. Wortentlehnung.

Entschlüsse 124.

Entwicklung, individuelle 126, gene- relle 47, 126, geistige 20, 491, so- ziale 485, E. der Sprache 533 f., E.s- gesetze 4.

Epos 276 f.

Erfindung 17, 19, 143, 148, 161, 191, 199 f., 234, 2411, 253, 256 f., 290 ff.,

298 ff., 303, 310, 313, 339 f., 369,

379, 618, 622 f., 641. Erinnerung 58 f., 145, 147, 236, 456,

586, 612, 614 f. (vgl. Vergessen). Erinnerungsassoziation 379, 657 f.,

668. Erinnerungsbild 79, 94, 126, 131,

140, 178, 238, 243 ff., 456, 547 ff.,

565, 571, 573, 583. Erinnerungsnamen 658. Erkennen, Zeit 580 f., 588 f. Erkennungsgefühle 59. Erkennungsnamen 658. Erregung 50 f., 53 f., 58 ff., 70 ff.,

80, 84, 104 ff., 118, 121, 124, 128 ff.,

132, 136, 2691, 286, 343, 365,

Zimahme 81 fl, tonische E. 73 fl,

99, 101, 119, E. und hohe Vokal- klänge 320. Erregungsgefühle 5931 Erregimgsinnervation 99. Erregungssymptome 99 f f., 104 ff. Erstaunen 103. Erwartung 541, 57 fl, 64, 1061, 121,

1281, 286. Erzählung 166, 2051, 323, 637. Essen, Bezeichnung für E. 294 fl,

3461 Ethnologie 2, 4, 6, 8, 35, 223. Etymologie 135, 162 fl, 377, 436,

475, 605, Volkse. 4701, 474 fl Experiment 341, 52, 4031, 4291,

443, 461, 503, 505, 513, 519, 531,

561, 577, 580, 587, 591, 610, Übung

580. Explosivlaute 492, 503 ff., 513. Expositionszeit des Sehobjekts 579 fl,

587. Exspirationsdruck 507. Exzitierende Affekte (vgl. Erregung)

631, 106, 108, 119.

Falltachistoskop 578 f.

Farben, Gefühlseigenschaften 53, 271.

Femewirkimg, assoziative 415, 418,

Register

683

4361, 439, 441 ff., 468 f., 481 ff.,

487, 494, 505, 508, 514, 529 ff.,

534 f., 539, 656. Fixation und Apperzeption 577. Fleck, blinder 576. Flektierender Wurzeltypus 599. Flexion 659, F.ssprachen 600 f., 610. Form- und Stoffelemente der Sprache

601 f. Formgesetze 454.

Formlose und Formsprachen 601 ff. Formwurzeln 597 ff. Frage 278, Fremdwort 399, 409 f., 423 f., 437,

471, 473, 482, 618 f., 622, 624, 640. Furcht 64, 121, 269, 360.

Gaunersprache 157 f., 161, 251 f., 617 ff.

Gebärden, hinweisende 135 ff., nach- bildende 164 ff., symbolische 164 ff., zeichnende 157 ff., mitbezeichnende 164 ff., plastische 170 ff.

Gebärdenfolge 216 ff.

Gebärdensprache 43 f., 143 ff., 383, Syntax 216 ff., 603, G. und Laut- sprache 135, 143 f.

Gebet 158, 276, 321.

Gedankenflucht 556.

Gefäßinnervation 56, 66, 69, 81, 104, 106.

Gefühle 18, 26, 37 f., 43, 48, 50 ff., 81, 86, 89 f., 92, 97 f., 107 ff., 123 ff., 177, 303, 312 f., 337, 341 ff., 541, 647, 651, Symptomatik 56, G., Affekt und Willenshandlung 66, G. und Wille (Hughes) 97, Zentral- organ 67 ff., 73, Intensität imd Qualität 98, beschleunigter Verlauf 100, Hemmung 101, G. und Affekt 255, 281, Differenzierung der G. 261, Ausdrucksmittel 498, Beweg- lichkeit 534, Begriff sg. 563, 566 f., 571, 573, G. und Aufmerksamkeit 593 f., G. und Vorstellung 60, 98, 348 ff., 366 f., 573 (vgl. Gefühls- ton), G. und Wort 596.

Gefühlsassoziationen 349, 366, 370 f.

Gefühlsbetonung 356, 366, 641 (vgl. Gefühlston).

Gefühlsfärbung der Wörter 330, 567, 573.

Gefühlslage 530, Indifferenzpunkt 50 f., 61 f., 75, 99, G. und Rede 273, G. und dunkler Bewußtes 430.

Gefühlslaute 259 ff., 289, 304, 307, 315, 319 f., 326 f., 343.

Gefühlston 362, 364 f., 570, 639 ff., G. und Affekt 259, 261, G. und Vorstellung und Laut 348 ff.

Gefühlswert der Farben 53, 271, der Laute 336, der Vokale 330, der Worte 567, 573.

Gegensatz (vgl. Kontrast) 87 f., 90 f., 99, 104 ff., 108, 359 f., 362, 365, 442 f., 447, 449 f., G. der Gefühls- symptome 70 f., qualitativer G. 420, G. der Begriffe 466.

Gegenstandsbegriffe 201, 203 f., 219, 221, 228 ff., 324, 565, 604 f., 636, 649, 660 ff.

Geheimschrift 252.

Geheimsprache 157 f., 167, 253, 619.

Gehirn 67 ff., 561, G.läsionen 561, G. Physiologie 547, 558.

Gehör 575, 586.

Gehörsempfindungen 473, 553.

Geist imd Seele 7 ff.

Geisteskranke, Sprache 393, 395, 398, 402, 404, 556.

Geisteswissenschaften 7 f., 26, 27 ff., 33.

Gemeinempfindungen 85.

Gemeinschaft 533 f., G. und Indivi- duum 4, 11, 15 ff., 19 ff., 385, 389, G. der Sprache 382, 389, 404 f., 411, 415, 453, 473, 485, 535, G. und individuelle Sprachschöpfung 627.

Gemination (vgl. Verdoppelung) 628, G. eines Konsonanten im Vokativ 323.

Gemütsbewegungen vgl. Affekte.

Genitiv 221, 450 f.

684

Register

Geräuscheharakter des Sprachlauts 389.

Geräuschlaute 504, 506.

Geruch, Reaktionen 115, G.sempfin- dungen 126 ff.

Gesamtbegriff 478.

Gesamtvorstellung 324, 585, 611 ff., 654 ff.

Gesang, Vögel 260 f., Mensch 272, 274 ff., 390, G. und Sprache 281 f.

Geschichte (vgl. Sprachgeschichte) 3, 5 f., 11 ff., 19 f., 33, 36 f., 39, 241, geschichtliche Veränderiuigen und Experiment 505.

Geschichtsphilosophie 5 f., 18, 32 ff.

Geschmack 441, 111 ff., 124 ff., 291, 304.

Gesetze, soziologische 21, empirische 3741

Gesetzmäßigkeit 3, 252, 332 f., 3731, 516, 5351, 559.

Gesichtsmuskehi 1021, 109 ff., 240.

Gesichtssinn 1271, 1501, 564, 575, 586.

Gewissen (conscientia) 625 ff.

Gewohnheit 38, 88, 118, 147, 383, 395, 4021 491, 569, 5801, zweck- mäßig assoziierte G.en 86 ff.

Gewöhnung 24, 386, 530.

Gleichheitsassoziation 308, 434, 593, 615.

Gleichklang 476, 478.

Grammatik 18, 331, 374, 376, 380, 383, 417, 424, 461, 529, 596, 602, 604 ff., 632, G. und Gebärdensprache 171, 2001, 216 fl, Angleichungen 442 fl, 463 fl

Greif bewegungen 136 f., 231, 242, Hin- weisimg und G. 137, 231.

Greiforgane 238.

Grundbegriff und Wurzel 597 f.

Grund elemente und Beziehungsele- mente 462 fl, 469 f., 483, 594 fl, 602, 608, 619 ff.

Grundsprache, hypothetische 603 ff.

Gruß 1891

Gutturallaute 489.

Handeln, willkürliches 16, 77, 261 zwecktätiges 426, 433.

Handlung vgl. Verbum.

Handwerksburschensprache 618.

Harmonie 269, 274 f.

Harpokrates 179.

Hauchdissimilation 423.

Hauptvorstellung 476, 479.

Hautempfindungen 92 f.

Hemmung 70 ff., 80, 101, 569, durch den Willen 396 f., 402, 403, 562, H. der Artikulationsbewegungen 504, der Assimilationen 583, der Wort- vorstellungen beim Schreiben 586.

Hemmungserscheinimgen 89.

Hemmungsgefühle 60, 63 f.

Hemmungsinnervation 83, 99 ff.

Hemmungsnerven 72.

Hemmungssymptome 98 ff., 104 ff., 130.

Herzbewegungen 56, 99 f.

Herzinnervationen 66, 69, 71, 731, 81, 103 fl

Hieroglyphen 179, 245 f.

Hilfsgebärden und Hauptgebärden 201 fl, 226.

Hilfszeitwörter 610.

Hmweisende Gebärden 135, 137, 141, 1571, 164, 166 fl, 184, 207, 215, 220, 224, 2311, 2351, 2381, 2411, 245 f., 249, 369, h. Lautgebärden 348, 364 fl, 369, 371, Greifbewe- gungen und h. G. 1361, 231.

Hiphil 362 f., 365.

Hirnzellen 547 f., 555.

Historismus 333, 336, 674.

Hitpael 362 ff.

Hochmut 119 f., 129, 194.

Hoffnung 64, 87, 121, 124.

Höflichkeit 156.

Hophal 362 ff., 365.

Hören 584 f., H. imd Sprechen 409, 473, sukzessives H. 585.

Hörstummheit 316.

Hörzentrum 543, 545.

Hypothesen 9, 81 fl, 429 fl, 522 fl, 538, 607, teleologische H. 367 ff., I 523 ff.

Register

685

Illusionen 458, 590. Imitative Bewegungen s. Nachah- mung. Imperativ 324. Indianer 179, 187, 196 ff., 223 ff.,

247 ff., 492.^ Indifferenzpunkt der Gefühlslage 50 f.,

61 f., 75, 99. Individualismus 19 f., 24, 31 f., 486. Individualpsychologie 1 f., 18 ff., 25 f.,

31 ff., 458. Individuum und Gemeinschaft 4, 11, 15 ff., 18 ff., 385, 389, indiv. Ein- flüsse 453 f., indiv. Abweichungen 387 f., 486, indiv. Sprachschöpfung und Gemeinschaft 627. Induktion der Laute s. Lautinduk- tion. Innervation der Ausdrucks bewegun - gen 66 ff., klonische und tonische L 99. Innervationsänderungen 52, 56, 66. Innervationsstörungen 391 f. Instinktäußerungen 138. Instrumente, musikalische 283, Stim- mung 498. Intellektualismus 18 ff., 28 f., 30, 64. Intensivbildungen 646. Intensivum 638 ff., 650. Interferenzerscheinungen 89, 334, 452,

457. Interjektionen 343, 567, 573, primäre 319 ff., 326 f., 365, sekundäre 319, 321 f. Isolierender Wurzeltypus 598. Iterativ 362 f., 365, 609, 638, 640, 650 (vgl. Wiederholung).

Judendeutsch 406. Jurisprudenz 5, Sprache 624. Juxtaposition 659.

Kampfgesang 283.

Kasus 653, K. formen, Reduktion 444, 461.

Kategorien, logische 200 f., 204 f., 207 ff., 218, grammatikalische 217 ff., gramm. K. imd Gedächtnis 554 f., 557, 566 f., 573.

Kauderwelsch 617.

Kausalität, psychische 375, Umkehrung der K. 523.

Kausativum 362 ff., 609, 639.

Kehllaute 489.

Kehltonschreiber 507.

Kennzinken 161, 251.

Kind, Greif bewegimgen 136 f., 231, 242, Ausdrucksbewegungen 138, 165 f., 242, Artikulation 272 f., Re- zitation 274, Sprachlaute 283 ff., Lautbildimg 283 ff., Sprechenlemen 393, Lesenlemen 589 f.

Kindersprache 31, 288 ff., 397, 399 ff., 406 ff., 427, 432 f., 437, 473, 492, 505, 513, 605, 629 ff., 633, pro- gressive Lautangleichungen 397, falsche Wortbildung 399 f.

Klangassoziation 629.

Klangfarbe 359, 504, 506 f., 530, K. der Nachbarlaute 514, 518, K. und Tempo 518 f.

Klangqualität 493.

Klangvariation 672 f.

lOangverbindung 349.

KoUektiva 635 ff.

Kollektivbegriff 648 f., K. und Laut- wiederholung 642 f.

Kombinatorischer Lautwandel 416, 426, 432, 502 f., 529.

Komparativ 451, 460, 637.

Komplikation 615, 647 ff., K. der Bedingungen 353, 413, 487, 536, K. der Ursachen 403, 417, 485, 519, K. der Angleichungsvor- gänge 450, K. der Vorstellungen 564.

Komposita 451, 652 ff.

Konjugationsformen 362 f.

Konjunktionen 222, 228, 554, 567.

Kontaktwirkungen der Laute 315 ff., 332, 415 ff., 425 ff., 441, 451, 453 f., 457, 486 f., 494, 499 f., 502, 505,

686

Register

506, 508, 514 ff., 526, 528, 530 ff., 535 f., 539, 640, 656, differenzie- rende Wirkung 532 f.

Kontamination 394, 557.

Kontinuativ 640.

Kontraktion 424 f., 427 f., 523.

Kontrast (vgl. Gegensatz) 87 f., 90 f., 359 f., 362 f., 466, 468, K.bedeu- tungen 159, Angleichung durch K. 442, Grenzfall der Verwandtschaft 449, K.wirkung und Selbstverstär- kung 519.

Konvention 160 f., 182, 191, 199, 204, 208, 222, 234, 238, 369, 498.

Koordination 653 f.

Körper und Seele 49, 541.

Kultlied 282.

Kulttanz 276, 282 f.

Kultur 7, 36 f., 39, 245, 251 f., 276, 432 f., 439, 482, 485, 488, 490 ff., 569, 623 f., Ermäßigung der Affekte 89, höhere und niedrigere K. 494 f., K. imd Artikulationsgeschwindig- keit 497, 533, ältere und jüngere, höhere und niedrigere K. 500.

Kultureinflüsse 517, 534 f.

Kultur- und Sprachentwicklung 499.

Kulturfortschritt, Maß 500.

Kulturgeschichte 3, 241 f.

Kultursprachen 494 f., 499, 531.

Kulturvölker 13 f., 535, 623, Inter- jektionen 320, Vater- imd Mutter- namen 327 ff., Lautsteigerung 354 f.

Kultus 276 f., 282 f.

Kunst 24, 36 f., 39, 183, 187, 238 ff., 2421, 245, 275 ff., 281, 623, nach- ahmende Künste 164, künstliche Gebärdensprache 161, 162, 199, 205.

Kunstgesang 266, 272 f.

Kunstgeschichte 3, 241.

Kunstwerk 20.

Kuß 190.

Lachen 91, 114 ff., 127, 138. Lähmimg 45, 75, 83, 102.

Lakonismus 401.

Langsamkeit der Zeichenfolge 226, 228 ff., L. der Rede 498 f.

Lärminstrumente 283.

Lässigkeit 525.

Latein, Literjektionen 320, L. und romanische Sprachen 495.

Laut, Gefühlston 348 ff., 354, L. und Bedeutung 312, 329 ff., 336 f., 356, 383 f., 470, 485, 619 f., 622, kor- respondierende Variationen 359 ff., Divergenz 522, Verbindung der L.e und Tempo 502 f., L. und Betontmg 607.

Lautabschwächungen 414.

Lautabstufung und Entfernung 350, 355, 358.

Lautanalogien 607 (vgl. Analogie).

Lautänderungen, Verschlußlaute 502 ff., L. imd Akzentwechsel 517 ff., sin- gulare L. 528 ff.

Lautangleichung (vgl. Angleichung) 406 ff., 476, 478, 532, Hauptfor- men 462 ff., progressive L. 397, 427, physiologische Einflüsse 467 f.

Lautartikulation (vgl. Artikulation) 264 ff., 272 ff., 293, 585 f., 615.

Lautassimilation vgl. Assimilation.

Lautassoziation 379, 384, 402 ff., 415, 418, 435 f., 469 ff., 474 ff., 479, 514, 522, 532 f., 539, 607, 640 f., 645, 657.

Lautattraktion s. Attraktion.

Lautauslassung s. Lautvermengung (b).

Lautausstoßung 427 f.

Lautbestandteile des Wortes 569, 571 f.

Lautbild 329 ff., 338 f., 344 f., 347, 354, 409.

Lautbildung, Stadien beim Kinde 283 ff., individuelle Abweichungen 387 f., Störungen 390 ff.

Lautdauer, zeitl. Variation 389, 413.

Lautdifferenzierung 353, konsonan- tische L. 521.

Lautdissimilation vgl. Dissimilation.

Register

687

Lauteinschaltung vgl. Lautvermen- gung (a).

Lautelemente 463 ff., 608 (vgl. Ele- mente).

Lauterschwenmgen 391 ff.

Lautgebärden 343 ff., 361 ff., 369, 370 f., 383, 619, 621, 633, 645, nach- bildende L. 3471, 364, 366 f., 369, 370 f., hinweisende 347 f., 364 ff., 369, 370 f.

Lautgesetze, Ausnahmslosigkeit 334, 373 ff., 412, 416 f., 454, 514, 522, 529, 537, 539.

Lautinduktion 457, 463 f., 534, 656, regressive und progressive Assimi- lation 419 ff., regressive imd pro- gressive Dissimilation 419 ff., L. und verwandte Änderungen der Lautgestalt (Weglassung, Zufti- gung, Umstellung, Zusammen - Ziehung) 424 f., psychophysische Theo- rie 431 ff.

Lautintensität s. Lautstärke.

Lautmetaphem 344, 383 f., 619, na- türliche 348 ff., künstliche 348 f.

Lautnachahmung 288, 307 f., 328, 363 f., 633, 645, L.en in der Sprache 329 ff., L. und Lautmetapher 348 f., 354, L. von Geräuschen 360.

Lautschrift 584.

Lautschwächungen 500 ff., 503 f., 514, 516.

Lautschwankungen 506.

Ijaut spräche und Gebärdensprache 135, 143 f.

Lautstärke, Variationen 389 f., 413.

Lautsteigerung und Entfernung 350, 355, 358.

Lautsymbole 344, 370.

Lautsystem 307, 313, Änderungen 491, L. und grammatisches System 494 f.

Lautumgebung 530.

Lautumstellung s. Laut vermengung (c).

Laut- und Begriffsumwandlung (vgl. Lautwandel, Bedeutungswandel) 481.

Laut Variationen 634, L. zur Bezeich- nung von Modifikationen 350 f., L. und Aneinanderreihung der Laute 504.

Lautverdoppelung 627 ff. (vgl. Laut- wiederholung).

Lautverlust und Lautwechsel 434.

Lautvermehrung und Lautwechsel 434.

Lautvermengung 388, 391, 393 ff., 414, 427, 453, 555, 457, a) Ein- schaltungen 394 f., 402 f., 414, 420, 424, 427, 437, b) Auslassungen 394 f., 414, 424 f., c) Umstellungen 394 ff., 4241

Lautverschärfung 503.

Lautverschiebung 496, 509 fl, 523, erste gemeingermanische 509 ff. , 515, 5201, 524, 527, zweite hoch- deutsche 509, 5111, 525, Bantu- sprachen 515 fl, 521.

Lautverschmelzimg 673.

Lautverstärkung 639 f., (vgl. Laut- steigerung).

Lautverstümmelung 314 ff., 437, 676.

Lautvertauschungen, Kindersprache 314 fl

Lautvertretungen 3921, 406, 496.

Lautvorstellung 569, 585.

Lautwandel 21 fl, 346, 356 f., 372 fl, 594, 664, 6761, L. und Laut- wechsel 385 fl, 413, Grundformen des generellen L.s 412 ff. , regulärer L. 412 fl, 484 fl, 539 f., singulärer 4131, 416 fl, 487, 530 fl, selbstän- diger und abhängiger (kombina- torischer) L. 4161, 426, 432, 5021, 505, 529, L. und Bedeutungswandel, Wechselwirkung 416.

Lautwechsel 385 fl, 413, 469, 486, 509, L., Lautverlust und Lautver- mehrung 434.

Lautwiederholung 2861, 311, 313, 319, 422 fl, 432, 435, 627 fl, 632 fl, 645, 672.

Lehnwörter 404, 406, 491, 618.

Leiden (Pual) 362, L. und Tätigkeit 360, 365.

688

Register

Lesen 576, 580 ff., L. und Sprechen 562 f., L. und Artikulation 572, sukzessives L. 577, Gewohnheit 580 ff., buchstabierendes L. 585, Kiemen 589 f.

Lied 2761, 2811

Linguallaute 492, 503, 505.

Linguistik 331 fl

Linkshändigkeit und Lage der Sprachzentren 543.

Lippenlaute 492, 503, 505.

Literatur 13, 20, 36, 241, 453, 484, L.- geschichte 3, 20, 241, L. spräche 494.

Lockrufe 259 fl, 2741

Logische Abhängigkeit 226, 1. Zwecke 228.

Logizismus 18.

Lokalisationshypothesen, Unzulänglich- keit 549 ff., 562.

Lösung 501, 541, 57, 59 fl, 64, 70, 1071, 117, 118, 1211, 128 fl, 271, 282.

Lust und Unlust 50 fl, 57 fl, 70, 72, 94, 106, 107, 111 fl, 118, 1231, 1271, 130, 243, 260, 2631, 270, 282, 285 fl, 291, 293, 304, 308, L.äußerungen 285.

Magyarisch, Volksharmonie 497.

Märchen 13, 637.

Mechanismus 24, 380, 425 f., 429,

4541, 468, 475, 504 fl, 5321 Medizm 624. Medizinmann 240. Mehrheitsbegriffe und Reduplikation

6421 Melodie 268, 272, 277, 279 ff. Messingisch 399. Metaphern 941, 1241, 127, 3441,

348 fl, 3651, 369, 394, 669. Metathesis 424. Metrum, poetisches 501. Mienenspiel (vgl. Mimik) 75, 155, 343. Mimik 691, 75 fl, 84, 91 fl, 1021,

108 fl, 136, 1771, 1811, 192 fl,

209, 217, 220, 240, 243 f., 258, 288,

304, 344 fl, 488, mimische Reflexe

112. Mischbevölkerung 495. Mischsprachen 404 fl, 494 f., 523 (vgl.

Sprachmischimg ). Mischung und Berührung der Völker

496, M. der Sprachen s. Sprach- mischung. Mitbewegungen 44 fl, 77, 138, 14Ö,

243, 316, 343, 402, 559, 573, M.

und Antwort 254 ff. Mitbezeichnende Gebärden 164, 171,

178 fl, 1841, 207, 209, 233. Miterregungen 80. Mitgefühl 138.

Mitübung 440, 467, 559, 573. Modulation vgl. Tonmodulation. Motive, Wandel 18, Vervielfältigung

45 f., Wahl 59, Streit 90, 255, 375,

Wechsel 255. Mund 3461, Muskehi 103, 109 fl,

120, 123, Artikulation mit offenem

M.e 383. Mundbewegungen 111, 127. Musik 265 fl, 274 fl, Tempo 498,

musikalischer Sinn 525. Musikinstrumente 283. Muskelbewegungen 44. Muskelempfindungen 126. Mutation 485, 497, 515. Mutter, Bezeichnung 327 fl, 334, 345,

350 fl Mythologie 20, 241, 271, 29, 33,

276, 331. Mythologisches Denken 7, 9, 171,

38, 383. Mythus 3, 7, 121, 17, 19, 24, 26,

28, 36.

Nachahmung 211, 24, 135, 137 fl, 238, 244, 245, 248, 266, 2731, 277, 2881, 2931, 298, 3071, 310, 312, 344, 383, nachahmende Gebärden 1641, 167, 170, 231 fl, 270, 290, zeichnende und plastische 170 fl, 183, 209, N. und Antwort 256,

Register

689

N. und deutliches Sehen 313, nachahmende Sprachbewegungen 315 ff., N. der Lautartikulation 328, N. des Lautes durch den Laut 337, willkürliche N. 339 f., 343, nach- ahmende Lautgebärden 347 f., 364, 366 f., 369, 371.

Nachbildende Gebärden 164 ff., 170 ff., 185, 187, 196, 208 ff., 215, 232, 235, 2381, 241, 245, 255, 330, 339, 344 f., 347, 364, 3661, 369, 371, 645.

Nachbilder 580.

Nachsprechen 3151, 329, 5501, 553, 5631, 569, 585.

Nachwirkung 427, 4311, 457, N. und Vorausnahme 3971, 415.

Nahewirkung (vgl. Kontaktwirkung) 419, 441, 451, 656.

Namengebung 339.

Nase 492, Muskehi 109 fl, 114 fl

Nasengruß 190.

Naturgesetze 374, 376, Allgemeingül- tigkeit 537.

Naturlaute 365, 629, N. der Sprache 319 fl

Naturvölker 12 fl, 152 fl, 252, 314, 320, 406, 484, 631, 6371, Interjek- tionen 320, Vater- und Mutter- namen 327 fl, Lautabstufung 3551

Neapolitaner, Gebärdenspr. 154 fl, 162, 1731, 176, 1801, 189, 192 fl, 2041, 208, 211 1, 215, 253.

Nebenordnung 653 f.

Nebenvorstellung 476, 479 f., 6571

Nebenwirkimgen 483, begriffliche N. 475 fl

Nennwurzeln 597.

Nervensystem 81, 881, 105, 5601

Netzhaut 575 fl, 582.

Neubildungen 4461, 6741, 677, volks- tümliche 615 fl, gelehrte 617, 622 fl

Neutrum, Kindersprache 400.

Niedergeschlagenheit 53, 270.

Niphal 3621

Nomen 610.

Nominalbegriff 639.

Nominalwurzeln 605.

Wtindt, Völkerepychologie. I. 4. Aufl.

Objekt imd Verbum 229 f., objek- tive Wurzeln 598, obj. Bestimmung 653.

Onomatomixie 391, 394, 399, 453, 555, 557 (vgl. Wortvermengung).

Onomatopöie 2931, 310, 312 f., 329 fl, 333, 337, 340 fl, 3531, 361, 3631, 371, 620 ff., 638, onomatopoetische Verben 326, Tiemamen 329, 3341, Verdoppelung 645, 648.

Opferkultus 276.

Optativ 384.

Ortsadverbien 350, 3541

■ri ^.t

Palpel 363 1^

Pantomimische Bewegungen 691, 761,

1021, 133 fl, 155, 181, 198, 211,

221, 2431, 279, 288, 569. Paralalien s. Lautvermengung. Parallelismus, psychophysischer 67,

538, 561. Paralyse 403. Paraphasie 391, 394, 550 f., 555 fl,

563, 573. Partikel 567, 573, 596, 675 f. Pasilalie 213. Passivum 362 fl, 609. Perfektum 640, 652. Personalpronomina 350, 3561, 6091 Personifikation, mythologische 14. Perzeption 59, 577, 581, 583. Phantasie 30, 371, 79, 94, 124, 165,

2381, 243, 615. Philologie 26, 241. Phonetik 507, 512, 529. Phonetische Schrift 388 f., ph. Sym- bole 506. Phonoautograph 484. Phrenologie 546. Physiognomik 93, 118, 123, 130, 306,

488. Piel 362. Plastische Gebärden 170 fl, 183, 185,

192, 1961, 198, 204, 2081, 215,

2331, 239.

44

690

Register

Plural 635 f., 644, 649, plurale und kollektive Mehrheit 643.

Pluralsuffixe 636.

Poesie 276, 283, 499, 501, poetische Redeweise 444.

Polysynthetischer Wurzeltypus 599, 601.

Postposition und Antizipation 396 f.

Prädikat 2221, 226 ff., 325, prädika- tive Wurzeln 597 f.

Präfixe 324, 362 ff., 371, 595, 626, 666.

Präpositionen 207, 225, 450, 554, 567, 610, 657, 663.

Präteritum 447.

Progressive Vokalharmonie 497, p. Lautassimilation 3181, 414, 420 fl, 426 fl, 432 fl, 440, 499, 508.

Pronomen 350, 354 fl, 6091, 673.

Psychologie 17, 20, 27, 29 ff., 240. 541, 549, 561, 673, Individual- und Völkerps. 1 f., experimentelle Ps. 7, 34 fl, empirische 9, angewandte 25, physiologische 34.

Pual 362 ff.

Radebrechen 399, 409.

Rassen 306, 4891, R.mischung 485, 488 fl

Rechtswissenschaft, Sprache 624.

Rede, Rhythmus 273 fl, 281, 336, 484, 520, Tempo 484, 534, 539, Maß dafür 500, Beschleunigung 432, 435, Tempo und Betonung 497 f f., Redestrom und Lauf der Vorstellungen 3961, 426, 429, 433, 435, 534.

Redeteile, Scheidung 6101

Redeweise, poetische 444.

Reduplikation und vollendete Hand- lung 641, 643.

Reflex 73, 90, 115, 125, 254 (Darwin) 871

Reflexbewegung 44 fl, 77, 129, 341 fl

Reflexerregungen 80.

Reflexion 234, 256, 2901, 298, 300 f., 312.

Reflexionspsychologie 18, 28 f., 291, 299, 483, 486, 528.

Reflexive Beziehung 362 ff., 609.

Refrain 2821

Regeln und Ausnahmen 332 f., 417.

Regressive Lautassimilation 318 f., 414, 420 fl, 426 fl, 432 fl, 499, 508, 531, 629, r. Vokalharmonie 497.

Regulärer Lautwandel 412 ff., 484 ff., 5391, Reguläres und Singuläres 412 fl, 487, 530 fl, 5351, 539.

Reiz 574, R. und Gefühle 52, R. und Empfindungen 592.

Relativpronomen 222.

Religion 7, 171, 20, 24, 26, 361, 39, 495.

Reproduktion 254, 456 f., 472, 573, 575, R. des Wortbildes 585, repro- duktive Elemente 474, 583, 586, 588 fl, r. Lautwirkimgen 591.

Resonanzlaute 357, 492.

Resultanten, psychische 256, 594.

Rhythmus 55, 58, 73, 242, 243, 262, 263, 2681, 271, 287, 31^, 3481, 406, 491, 526, 650, Rh. und Rede 273 fl, 281, 336, 484, exspirato- rische Rhythmisierung der Rede 520, R. und Körperbewegungen 2761, R. und Arbeit 2821, indi- viduelle Eigentümlichkeiten 389.

Rituelle Gebärden .158 f.

Romantik 24, 331 f., 524, 674.

Rotwelsch 617 fl

Ruf formen 259 f., 3231

Sandhi 383.

Sanskrit 596, 605, -610.

Satz 216 fl, 431, S. und Wort 584, 603, 606, 609 fl, 653, Aufbau 671, S.akzent 2801, S.apperzeption 610, S.äquivalente 3231, S.betonung 520, S.bildung 652, S.fügung 314, 373, 458.

Register

691

Schallnachahmung 329 ff., 344, 348, 358, 371.

Schaltlaute 395.

Schmerz 87, 1201, 177, 319, 322, 368, S.ensschrei 260 ff., 272, Inter- jektion 320.

Schnalzlaute 495.

Schnelligkeit (vgl. Tempo) der Rede 484, 534, 539, Maß dafür 500, zu- nehmende S. 432, 435, S. der Ar- tikulation 428, 491, 497 ff., S. der Aufeinanderfolge 526.

Schrei 262 ff., 270, 275.

Schreibbewegungen 547, 552, 564, 569, 572, 585, S.Störungen 573, S. Zentrum 544 f.. Schreiben 584 ff., S. und Sprechen 564, 586.

SchreUaute 2831, 286, 293, 304, 314, 319, 352.

Schrift 143, 1451, 2401, 245, 501, 584 fl, phonetische S. 388, S. und Rede 564, 586.

Schriftbild 547, 569, 5711, 575 f., S. und Wort 564.

Schriftblindheit 551, 562 f.

Schriftsprache 335, 399, 471, 502, S. imd Wortgrenzen 609.

Sehschärfe 5751, normale S. 580, Sehweite 577, Sehzentrum 576 f.

Siegesgesänge 276.

Silben 609, S.schwund 501, S.stol- pem 931 f., 396, S. Wiederholung 395.

Singvögel 2601, 265 fl, 274.

Singulärer Lautwandel 4131, 416 fl, 487, 530 f f., Singuläres und Regu- läres 412 fl, 487, 530 fl, 5351, 539.

Sinn, innerer 5461, 562.

Sinnestäuschungen 458, 461, 5901

Sinneswahmehmung 83, 124, 458, 459 fl 560, 565, 567, 613 fl, 668.

Sinneszentren 90.

Sitte 7, 121, 17 fl, 24, 26, 36 fl, 383, 4911

Slang 617.

Soldatensprache 618.

Sondersprachen 6181

Soziologie 2, 4fl, 211, 36, soziolo- gische Auslese 414 f., s. Bedingungen 414.

Spannung 50, 541, 57 fl, 70, 84, 119 fl, 128 fl, 269, 286.

Spannungsempfindungen 78, 80.

Spannungsgefühle 106 fl, 117, 1191, 5931

Spiel 283.

Spielraum der Artikulation 387 f f., 5301, S. der Assoziationen 403.

Spott 156, 1931, 215.

Sprache 3, 7, 121, 18 fl, 36 fl, Ur- sprung 27, Unterscheidung der Affekte 64, Vorstufe 260 f., S. und Gesang 281 f., fremde S. und indi- viduelles Sprachorgan 388, indi- viduelle Nuancierung 389, Form- losigkeit imd Form 601 fl, S. und Berufskreise 618, 623, S. des Kin- des s. Kindersprache; S. und Zeit- dimension 671.

Sprachfehler 415, 453.

Sprachform, innere und äußere 601 ff.

Sprachgemeinschaft 382, 389, 4041, 411, 415, 453, 473, 485, 535.

Sprachgeschichte 334 ff., 494 f., 505, 538, 6711, 674, 677.

Sprachlaut 258 fl, 283 fl, 293, 541,

561, 569, S. und Gegenstand 3091 Sprachmischung 13, 23, 388, 404 fl,

415, 448, 469, 471, 482, 490, 4941, 5161, 521 fl, 528, S. und Tempo 500. Sprachorgane 429, 492, 523, 532 ff.,

562, Lautbewegung 342, Benen- nungen 345 fl, individuelle S. 387 f., fehlerhafte Bildung 391.

Sprachphilosophie 27.

Sprachpsychologie 27.

Sprachreflex 342.

Sprachstörungen 541 ff.

Sprachwissenschaft 21, 18, 201, 25, 27, 31 fl, 144, 330 fl, 373 fl, 384, 442, 537, 541, 605, 630, 653, 674.

Sprachwurzeln 596 fl, reale Bedeutmig 603 ff.

44*

692

Register

Sprachzentrum 541 ff., 562.

Sprechmelodie 281, S. und Affekt 520.

Sprechrhythmus 337.

Sprechtakt 371.

Sprechweise, Unterschiede 390, in- dividuelle S. 411.

Sprichwort 211, 475, 478, 481.

Stammehi 391 f.

Stammsilbe und Akzent 522.

Steigerung 643, 645, S. und Verdoppe- lung 637 f.

Steigerungsformen der Ortsadverbien 355 f.

Sthenische Affekte 63 f., 105.

Stil und Tempo 498 f., althochdeutscher S. 499.

Stimmlaute 258 ff., 271 f., 319, Ent- wicklung der S. und Kindersprache 314.

Stimmungen 60, 119, 1231, 128, 131.

Stoiker 609, 626.

Stoffwurzehi 597 ff.

Störungen, funktionelle 549, Aus- gleichung 560 f., 566.

Stottern 392, 573.

Studentensprache 618 f., 621.

Subjekt 222 ff.

Subjektbegriff, psychologischer 219.

Subjektive Wurzeln 598.

Substantivum 220 f., 2291, 461, 554, 557, 563, 5661, 636.

Substitution 557 f., 563, 582, 587, 590, S. richtiger für falsche Symbole 582.

Subsumtion 301.

Suffix 324, 371, 422, 433, 451, 595, 610, 636, 639, 666.

Superlativ 637.

Symbol 93 fl, 143, 153, 156 fl, 163, 182, 204, 230, 242, 246 fl, 345, natürliche und künstliche S.e 2341, symbolische Gebärden 165, 170, 179, 182 fl, 209 fl, 234 fl, 250, 3691, primäre und sekundäre 1861, 2101

Synonyma 208.

Syntax, Gebärdensprache 216 ff., 603.

Synthese, schöpferische 256, apper- zeptive 670.

Tachistoskop 575 fl, 5861

Tanz 243, 2761, 2811

Tastempfindungen 78, 80, 112, 124, 1261, 271, 5641

Tastorgan 130, 569, T.reize 129 ff.

Tätigkeitsbegriffe 639, Lautabstufung

Tätigkeitsgefühl 256. [359, 361.

Taubstummenbildung imd Gebär- densprache 1341, 145 fl, 159, 162, 166 fl, 170 fl, 178 fl, 1861, 1961, 199, 201 fl, 206 fl, 214, 216 fl, 227.

Täuschungen, geometrisch - optische 458, 461, 591.

Tausch verkehr 2501

Teleologie 28, teleologische Hypo- thesen 376 fl, 523 fl, t. Deutung der Kontaktwirkungen 424 f., t. Interpretation 454.

Tempo der Rede 494, 497 fl, 521, 534, 539, T. der Musik 498, Be- schleunigung, Stillstand und retro- grade Bewegung 500.

Tiere, Ausdrucksbewegungen 231, Stimmlaute 258 fl, 319.

Tierlaute, Nachahmung 339.

Tiemamen, onomatopoetische 329, 334 f.

Tierzeichnung 244 f.

Tonabstufungen 493, T.akzent 672, T.bewegung der Rede 484, T.er- höhung 646; T.erhöhung der ak- zentuierten Silbe 519.

Tonfall 278, 336, 491, 530, indivi- duelle Eigentümlichkeiten 389, T.höhe 269, 359, 506, 519 f., 530, qualitative Variation 389 f., 413, T.melodie 371, T.modulation 264 fl 287, 305, 322, 356, 4931, 516 fl, 534, T.Verlängerung 646, T. Wechsel 333, T.Wiederholung 268 f.

Trieb 16 fl, 37, 48, 86, 132, 2321, 239, 241, 2431, 257, 259, 2611, 282, 3121, 340, 349, 365, 3761, 380, 383, 5251, 6151

Triebbewegungen 44fl, 77, 114, 129, 139, 141, 342 fl, T.handlungen 50, 59, 90, 2541, 343.

Register

693

Übung 46, 47 f., 88 f., 118, 123, 173, 305, 309, 3171, 382, 392, 397, 399 ff., 402 f., 409 f., 438 ff., 4671, 472, 477, 488, 530, 5321, 5581, 5671, 570 fl, 581, 5851, 589, 6101, 650.

Umstellung der Laute 394 fl, 4241 (vgl. Lautvermengung).

Unabhängiger Lautwandel 416 f., 426, 432, 505, 529.

Universalsprache 144, 157, 208, 310.

Urgeschichte 3, 333, 337.

Ursprache 144, 1631, 332, 415, 603 fl,

Urwörter 331 1, 606.

Vater, Bezeichnung 327 ff., 334, 345,

350 fl Verbum 217, 219 fl, 227 fl, 3241,

461, 554, 557, 563, 567, 6041,

6091, 619, 6411, V. und Ver- doppelung 638 ff. Verdoppelung 311, 312, 329, 422,

627 f 1 Vererbung 47, 85 fl, 291, 3041, 5601 Verfall 377 f.

Vergangenheit 168, 235, 644, 651. Vergessen 5631, 586, Ordnung der

Kategorien 5541, 557, 5661,

573. Vergleichung 256, 291, 3001, 527. Verhören 587, 590. Verkehr 2511, 390, 515 fl, 531. Verkehrssprache 516. Verlesen 5821, 587, 590. Verneinung 188 f., 190, 194. Vemersches Gesetz 521 f. Verschlußlaute, Wandlungen 502 ff.,

518, 523, 525, Wirkung auf die V.

520, Spaltung 521. Verschmelzung 439, V. von Vokalen

500, partielle V. 6651, 6691, totale

6651, 6691 Verschreiben 435. Versprechen 394 ff., 402, 426, 428,

435, 453, 528, 556. Verwandtschaft der Begriffe 448 f., - Kontrast als Grenzfall 449.

Verwunderung 103, 285, 322, Tonfall 278.

Vögel, Gesang 259 ff., 274, Tonmodu- lationen 286 f.

Vokal, Schwächung und Abwerfung 501, 503, V.harmonie 432 fl, 4961, V.klang und Betonung 5181, V.- kontraktionen 500 ff., 514, 516, 523, V.Steigerung 356, V. Verschmelzung 500.

Vokativ 322 ff., 424.

Völkermischung 485, 495, 5231, V. imd Tempo der Rede 500.

Völker- und Individualpsychologie 11, 6, 18 fl, 251, 31 fl, V. und Geschichte 2fl, 11, 181

Völkerverkehr 515 fl, 531.

Völkerwanderungen 494 f., 5161, 528, 531.

Volksdialekte 675 (vgl. Dialekt).

Volksetymologie 470, 4741, 4821

Volksgeist 7fl, 32 f., 524, V.gemein- schaft 11, 10, 18, V.glaube 7, 211, V.Ued 2821, V.seele 7fl, 201, V. sprachen 605.

Voluntarismus 97.

Vorausnahme (vgl. Antizipation) 396 f., 403, 457, V. und Nachwirkung 3971

Vorsätze 124.

Vorstellungen 18, 20, 26, 371, 43, 81, 891, 124, 1261, 131, 261, 2831, 303, 573 fl, V. und Gefühle 60, 98, 348 fl, 3661, 573 (vgl. Gefühlston), abstrakte V. 94, beschleunigter Verlauf 991, Hemmung 1001, 586, selbständige und abhängige V. 229, affektbetonte V. 230, 322 ff., 637, V. und Affekt 98, 131 fl, 232 1, 243, Austausch 232, stellvertretende V. 234, 236, Mitteilung 254, Wie- dererzeugung 254 (vgl. Reproduk- tion), Erfolg 262, mythologische V. 7, 9, 171, 38, 383, V. im Bewußt- sein 428, schwingende V. 429 f., Vorauseilen 427, 438, Beweglich- keit 534, Kategorien beim Ver-

694

Register

gössen 554 f., 557, 5661, 573, Kom- plikation 564, sinnliche V. 566, V. und Wort 568 ff., V. und Eindruck 575, dunkle V. 577, V.slauf und Lautbewegung 396 f., 426, V. und Redefluß 429, 433, 435, 534, V.s- residuen 473. Vulgärpsychologie 27 ff., 92, 586.

Wahrnehmung 83, 124, 457, 459 ff., 560, 565, 567, 613 ff., 668.

Wahrscheinlichkeit, empirische 333, 337, historische und psychologische W. 607 f.

Wanderungen der Völker 4941, 5161, 528, 531.

Wangenmuskeln 103, 117, 1191, 122, 128 ff.

Wiedererkennen 58 f., 79.

Wiederholung (vgl. Iterativ, Verdop- pelung) 3631, 468, 5321, 535, 559, 581, 590, 641 fl, Lust, Neigung zur W. 3121, 440, W. von Silben 395, von Worten 399, 433, 6281, 632, 641, 644, 6471, von Lauten 2871, 311, 313, 319, 422 fl, 432, 435, 627 fl, 632, 645, 672, volle und partielle W. 628, W. und Verstär- kung 632.

Wille 48, 97, 458, 526, 541, W. und Affekt 65 f., 138, W. und Gefühle (Hughes) 97, Hemmmung des W.ns 396 f., 402, 403, 562, W.nsbewe- gungen 44, 65, W.nsentwicklung 256, 565, W.nshandlungen 18, 371, 45 fl, 58 fl, 77, 82, 861, 89, 124, 1321, 2901, 312, 341, 455, W.ns- motive 383, 614.

Wort 182, 200, 541 f., W. und Begriff 469 f., 596, W. ein psychophysi- sches Gebilde 561, W. und Vor- stellung 568 ff., W. als simultane Vorstellung 584 ff., W. und Satz 584, 603, 606, 609 fl, 653, W. und Laut 584, 588, W. und optisches Zeichen 584, 586 fl, W. und Be-

griffs Vorstellung 5851, Grund- und Beziehungselemente 594 ff., 602, 608, 619 fl, W. als Einzelvorstellung 6101, Neubildung 615 fl, Urge- schichte 671.

Wortanfang und Artikulation 504 f.

Wortapperzeption 586 1, 593 1, 610.

Wortassimilation 471 fl, 539, psycho- logische Analyse 589 fl

Wortassoziation 402 fl, 453.

Wortbild, akustisches 562, optisches 5621, 569, 571, 580.

Wortbildung (vgl. Kindersprache) 293 1, 373, 391, 448, 458, 504, 532, 541 fl, W. durch Zusammensetzung s. Wort- zusammensetzung ; zentrale Störun- gen der W. 541 ff.

Wortblindheit 544.

Worteinung 658.

Wortelemente 608.

Wortentlehnung 415 f., 418, 469 fl, 516.

Worterfindung 290 fl

Wortfehler 555.

Wortfügung 314.

Wortgedächtnis 542, 550 ff., 562, Ab- nahme des W.es imd grammati- kalische Stellung der Wörter 5541, 557, 5661, 573.

Wortgrenzen und Schriftsprache 609.

Wortklassen des Vergessens 5541, 557, 5661, 573.

Wortkomplikation 562, 567 f., 569, 574, 585, 646 fl, 669 f., graphischer Bestandteil 569, 5711, Lautbe- standteil 569, 5711, Begriffsbe- standteil 569, W.komposition 463, W.schluß 5011, 504, W.sonderung 612 fl, W.taubheit 544, W. ver- mengung 388, 391, 394, 398 fl, W.Verschmelzung 667 ff., 675, W.- verwechslung 556 f., W. Vorrat und Kultur 491, 4941, W. Vorstellungen 608, reproduktive Elemente 4731, akustische W. 562, 564, optische W. 562, 564 (vgl. Wortkompli-

Register

695

kation), akustische und optische Ele- mente 575, direkte und reprodu- zierte Teile 583, 586, Resultante aus vielen Elementen 592, W.wie- derholung 399, 433, 628 f., 6471, W. Zentren 553, akustisches W.- zentium 553, W.Zusammensetzung 435, 461, 491, 556, 625, 627, 652 ff.

Wurzehi 331 f., 596 ff., reale Bedeu- tung 603 ff., 630.

Wurzelperiode 6031, 6081

Wurzeltheorie 327 f., W. und Sprach- typen 598 fl

Wurzeltypus, isolierender, reiner 598, agglutinativer 598 f., 601, 6091, polysynthetischer (einverleibender) 5981, flektierender 599.

Wurzelvariation 360 f., 362, 622.

Zahlgebärden 195 f., Z.symbole 236. Zaubergebärden 159, Z. glauben 17, Z.kultus 2391, 243, 282.

Zeichenschrift 143, Z.prache 155, Z.- system 146, 159 f., 245.

Zeichnende Gebärden 157 f., 170 fl, 1781, 183, 1981, 204, 206, 2081, 2331, 2391, 245, 584.

Zeitbestimmungen der Handlung 609, 611.

Zentrum, Sprachz. 541 ff., motorisches 544, 5461, 550, 554, 562, senso- risches 542, 5441, 547, 550, moto- risch-sensorisches 546 f., ideagenes 547, Hörz. 543, 545, Schreibz. 5441, Begriffsz. 545.

Zinken 161, 252.

Zisterziensermönche, Gebärdensprache 159 fl, 1681, 1711, 179, 188.

Zunge 1121, 258, 3451, 492.

Zuordnung, psychophysische 48 f.

Zusammenziehung von Lauten 424 f., 4271, 5001

Zustandsbegriffe 201, 204 f., 604.

Zweckmäßigkeit der Bewegungen 47 ff., Zweckmotive 261, 376.

Zweifel 64, 278.

Druck von Bär & Herrmann, Leipzig.

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